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| author | Roger Frank <rfrank@pglaf.org> | 2025-10-15 05:32:46 -0700 |
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If you are not located in the United States, you'll have +to check the laws of the country where you are located before using this ebook. + +Title: Die Erziehung des Menschengeschlechts + +Author: Gotthold Ephraim Lessing + +Posting Date: October 12, 2014 [EBook #9160] +Release Date: October, 2005 +First Posted: September 9, 2003 + +Language: German + +Character set encoding: ISO-8859-1 + +*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE ERZIEHUNG DES *** + + + + +Produced by Delphine Lettau, from files obtained from +Gutenberg Projekt-DE. + + + + + + + + + + +Die Erziehung des Menschengeschlechts + +Gotthold Ephraim Lessing + + +Haec omnia inde esse quibusdam vera, + unde in quibusdam falsa sunt. +Augustinus. + + + + +Herausgegeben von Gotthold Ephraim Lessing +Berlin, 1780 + + + + +Vorbericht des Herausgebers. + +Ich habe die erste Hälfte dieses Aufsatzes in meinen Beyträgen bekannt +gemacht. Itzt bin ich im Stande, das Uebrige nachfolgen zu lassen. + +Der Verfasser hat sich darum auf einen Hügel gestellt, von welchem er +etwas mehr, als den vorgeschriebenen Weg seines heutigen Tages zu +übersehen glaubt. + +Aber er ruft keinen eilfertigen Wanderer, der nur das Nachtlager bald +zu erreichen wünscht, von seinem Pfade. Er verlangt nicht, daß die +Aussicht, die ihn entzücket, auch jedes andere Auge entzücken müsse. + +Und so, dächte ich, könnte man ihn ja wohl stehen und staunen lassen, +wo er steht und staunt! + +Wenn er aus der unermeßlichen Ferne, die ein sanftes Abendroth seinem +Blicke weder ganz verhüllt noch ganz entdeckt, nun gar einen +Fingerzeig mitbrachte, um den ich oft verlegen gewesen! + +Ich meyne diesen.--Warum wollen wir in allen positiven Religionen +nicht lieber weiter nichts, als den Gang erblicken, nach welchem sich +der menschliche Verstand jedes Orts einzig und allein entwickeln +können, und noch ferner entwickeln soll; als über eine derselben +entweder lächeln, oder zürnen? Diesen unsern Hohn, diesen unsern +Unwillen, verdiente in der besten Welt nichts: und nur die Religionen +sollten ihn verdienen? Gott hätte seine Hand bey allem im Spiele: nur +bey unsern Irrthümern nicht? + + + + + +§. 1. + +Was die Erziehung bey dem einzeln Menschen ist, ist die Offenbarung +bey dem ganzen Menschengeschlechte. + +§. 2. + +Erziehung ist Offenbarung, die dem einzeln Menschen geschieht: und +Offenbarung ist Erziehung, die dem Menschengeschlechte geschehen ist, +und noch geschieht. + +§. 3. + +Ob die Erziehung aus diesem Gesichtspunkte zu betrachten, in der +Pädagogik Nutzen haben kann, will ich hier nicht untersuchen. Aber in +der Theologie kann es gewiß sehr großen Nutzen haben, und viele +Schwierigkeiten heben, wenn man sich die Offenbarung als eine +Erziehung des Menschengeschlechts vorstellet. + +§. 4. + +Erziehung giebt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst +haben könnte: sie giebt ihm das, was er aus sich selber haben könnte, +nur geschwinder und leichter. Also giebt auch die Offenbarung dem +Menschengeschlechte nichts, worauf die menschliche Vernunft, sich +selbst überlassen, nicht auch kommen würde: sondern sie gab und giebt +ihm die wichtigsten dieser Dinge nur früher. + +§ 5. + +Und so wie es der Erziehung nicht gleichgültig ist, in welcher Ordnung +sie die Kräfte des Menschen entwickelt; wie sie dem Menschen nicht +alles auf einmal beibringen kann: eben so hat auch Gott bey seiner +Offenbarung eine gewisse Ordnung, ein gewisses Maaß halten müssen. + +§. 6. + +Wenn auch der erste Mensch mit einem Begriffe von einem Einigen Gotte +sofort ausgestattet wurde: so konnte doch dieser mitgetheilte, und +nicht erworbene Begriff, unmöglich lange in seiner Lauterkeit bestehen. +Sobald ihn die sich selbst überlassene menschliche Vernunft zu +bearbeiten anfing, zerlegte sie den Einzigen Unermeßlichen in mehrere +Ermeßlichere, und gab jedem dieser Theile ein Merkzeichen. + +§. 7. + +So entstand natürlicher Weise Vielgötterey und Abgötterey. Und wer +weiß, wie viele Millionen Jahre sich die menschliche Vernunft noch in +diesen Irrwegen würde herumgetrieben haben; ohngeachtet überall und zu +allen Zeiten einzelne Menschen erkannten, daß es Irrwege waren: wenn +es Gott nicht gefallen hätte, ihr durch einen neuen Stoß eine bessere +Richtung zu geben. + +§. 8. + +Da er aber einem jeden einzeln Menschen sich nicht mehr offenbaren +konnte, noch wollte: so wählte er sich ein einzelnes Volk zu seiner +besondern Erziehung; und eben das ungeschliffenste, das verwildertste, +um mit ihm ganz von vorne anfangen zu können. + +§. 9. + +Dieß war das Israelitische Volk, von welchem man gar nicht einmal weiß, +was es für einen Gottesdienst in Aegypten hatte. Denn an dem +Gottesdienste der Aegyptier durften so verachtete Sklaven nicht Theil +nehmen: und der Gott seiner Väter war ihm gänzlich unbekannt geworden. + +§. 10. + +Vielleicht, daß ihm die Aegyptier allen Gott, alle Götter ausdrücklich +untersagt hatten; es in den Glauben gestürzt hatten, es habe gar +keinen Gott, gar keine Götter; Gott, Götter haben, sey nur ein +Vorrecht der bessern Aegyptier: und das, um es mit so viel größerm +Anscheine von Billigkeit tyrannisiren zu dürfen.--Machen Christen es +mit ihren Sklaven noch itzt viel anders?-- + +§. 11. + +Diesem rohen Volke also ließ sich Gott anfangs blos als den Gott +seiner Väter ankündigen, um es nur erst mit der Idee eines auch ihm +zustehenden Gottes bekannt und vertraut zu machen. + +§. 12. + +Durch die Wunder, mit welchen er es aus Aegypten führte, und in Kanaan +einsetzte, bezeugte er sich ihm gleich darauf als einen Gott, der +mächtiger sey, als irgend ein andrer Gott. + +§. 13. + +Und indem er fortfuhr, sich ihm als den Mächtigsten von allen zu +bezeugen--welches doch nur einer seyn kann,--gewöhnte er es allmälig +zu dem Begriffe des Einigen. + +§. 14. + +Aber wie weit war dieser Begriff des Einigen, noch unter dem wahren +transcendentalen Begriffe des Einigen, welchen die Vernunft so spät +erst aus dem Begriffe des Unendlichen mit Sicherheit schließen lernen! + +§. 15. + +Zu dem wahren Begriffe des Einigen--wenn sich ihm auch schon die +Besserern des Volks mehr oder weniger näherten--konnte sich doch das +Volk lange nicht erheben: und dieses war die einzige wahre Ursache, +warum es so oft seinen Einigen Gott verließ, und den Einigen, d. i. +Mächtigsten, in irgend einem andern Gotte eines andern Volks zu finden +glaubte. + +§. 16. + +Ein Volk aber, das so roh, so ungeschickt zu abgezognen Gedanken war, +noch so völlig in seiner Kindheit war, was war es für einer +moralischen Erziehung fähig? Keiner andern, als die dem Alter der +Kindheit entspricht. Der Erziehung durch unmittelbare sinnliche +Strafen und Belohnungen. + +§. 17. + +Auch hier also treffen Erziehung und Offenbarung zusammen. Noch konnte +Gott seinem Volke keine andere Religion, kein anders Gesetz geben, als +eines, durch dessen Beobachtung oder Nichtbeobachtung es hier auf +Erden glücklich oder unglücklich zu werden hoffte oder fürchtete. Denn +weiter als auf dieses Leben gingen noch seine Blicke nicht. Es wußte +von keiner Unsterblichkeit der Seele; es sehnte sich nach keinem +künftigen Leben. Ihm aber nun schon diese Dinge zu offenbaren, welchen +seine Vernunft noch so wenig gewachsen war: was würde es bey Gott +anders gewesen seyn, als der Fehler des eiteln Pädagogen, der sein +Kind lieber übereilen und mit ihm prahlen, als gründlich unterrichten +will. + +§. 18. + +Allein wozu, wird man fragen, diese Erziehung eines so rohen Volkes, +eines Volkes, mit welchem Gott so ganz von vorne anfangen mußte? Ich +antworte: um in der Folge der Zeit einzelne Glieder desselben so viel +sichrer zu Erziehern aller übrigen Völker brauchen zu können. Er erzog +in ihm die künftigen Erzieher des Menschengeschlechts. Das wurden +Juden, das konnten nur Juden werden, nur Männer aus einem so erzogenen +Volke. + +§. 19. + +Denn weiter. Als das Kind unter Schlägen und Liebkosungen aufgewachsen +und nun zu Jahren des Verstandes gekommen war, stieß es der Vater auf +einmal in die Fremde; und hier erkannte es auf einmal das Gute, das es +in seines Vaters Hause gehabt und nicht erkannt hatte. + +§. 20. + +Während daß Gott sein erwähltes Volk durch alle Staffeln einer +kindischen Erziehung führte: waren die andern Völker des Erdbodens bey +dem Lichte der Vernunft ihren Weg fortgegangen. Die meisten derselben +waren weit hinter dem erwählten Volke zurückgeblieben: nur einige +waren ihm zuvorgekommen. Und auch das geschieht bey Kindern, die man +für sich aufwachsen läßt; viele bleiben ganz roh; einige bilden sich +zum Erstaunen selbst. + +§. 21. + +Wie aber diese glücklichern Einige nichts gegen den Nutzen und die +Nothwendigkeit der Erziehung beweisen: so beweisen die wenigen +heidnischen Völker, die selbst in der Erkenntniß Gottes vor dem +erwählten Volke noch bis itzt einen Vorsprung zu haben schienen, +nichts gegen die Offenbarung. Das Kind der Erziehung fängt mit +langsamen aber sichern Schritten an; es hohlt manches glücklicher +organisirte Kind der Natur spät ein; aber es hohlt es doch ein, und +ist alsdann nie wieder von ihm einzuholen. + +§. 22. + +Auf gleiche Weise. Daß,--die Lehre von der Einheit Gottes bey Seite +gesetzt, welche in den Büchern des Alten Testaments sich findet, und +sich nicht findet--daß, sage ich, wenigstens die Lehre von der +Unsterblichkeit der Seele, und die damit verbundene Lehre von Strafe +und Belohnung in einem künftigen Leben, darum völlig fremd sind: +beweiset eben so wenig wider den göttlichen Ursprung dieser Bücher. Es +kann dem ohngeachtet mit allen darinn enthaltenen Wundern und +Prophezeyungen seine gute Richtigkeit haben. Denn laßt uns setzen, +jene Lehren würden nicht allein darinn vermißt, jene Lehren wären auch +sogar nicht einmal wahr, laßt uns setzen, es wäre wirklich für die +Menschen in diesem Leben alles aus: wäre darum das Daseyn Gottes +minder erwiesen? stünde es darum Gotte minder frey, würde es darum +Gotte minder ziemen, sich der zeitlichen Schicksale irgend eines Volks +aus diesem vergänglichen Geschlechte unmittelbar anzunehmen? Die +Wunder, die er für die Juden that, die Prophezeyungen, die er durch +sie aufzeichnen ließ, waren ja nicht blos für die wenigen sterblichen +Juden, zu deren Zeiten sie geschahen und aufgezeichnet wurden: er +hatte seine Absichten damit auf das ganze jüdische Volk, auf das ganze +Menschengeschlecht, die hier auf Erden vielleicht ewig dauern sollen, +wenn schon jeder einzelne Jude, jeder einzelne Mensch auf immer dahin +stirbt. + +§. 23. + +Noch einmal. Der Mangel jener Lehren in den Schriften des Alten +Testaments beweiset wider ihre Göttlichkeit nichts. Moses war doch von +Gott gesandt, obschon die Sanktion seines Gesetzes sich nur auf dieses +Leben erstreckte. Denn warum weiter? Er war ja nur an das +Israelitische Volk, an das damalige Israelitische Volk gesandt: und +sein Auftrag war den Kenntnissen, den Fähigkeiten, den Neigungen +dieses damaligen israelitischen Volks, so wie der Bestimmung des +künftigen, vollkommen angemessen. Das ist genug. + +§. 24. + +So weit hätte Warburton auch nur gehen müssen, und nicht weiter. Aber +der gelehrte Mann überspannte den Bogen. Nicht zufrieden, daß der +Mangel jener Lehren der göttlichen Sendung Mosis nichts schade: er +sollte ihm die göttliche Sendung Mosis sogar beweisen. Und wenn er +diesen Beweis noch aus der Schicklichkeit eines solchen Gesetzes für +ein solches Volk zu führen gesucht hätte! Aber er nahm seine Zuflucht +zu einem von Mose bis auf Christum ununterbrochen fortdaurenden Wunder, +nach welchem Gott einen jeden einzeln Juden gerade so glücklich oder +unglücklich gemacht habe, als es dessen Gehorsam oder Ungehorsam gegen +das Gesetz verdiente. Dieses Wunder habe den Mangel jener Lehren, ohne +welche kein Staat bestehen könne, ersetzt; und eine solche Ersetzung +eben beweise, was jener Mangel, auf den ersten Anblick, zu verneinen +scheine. + +§. 25. + +Wie gut war es, daß Warburton dieses anhaltende Wunder, in welches er +das Wesentliche der Israelitischen Theokratie setzte, durch nichts +erhärten, durch nichts wahrscheinlich machen konnte. Denn hätte er das +gekonnt; wahrlich--alsdenn erst hätte er die Schwierigkeit +unauflöslich gemacht.--Mir wenigstens.--Denn was die Göttlichkeit +der Sendung Mosis wieder herstellen sollte, würde an der Sache selbst +zweifelhaft gemacht haben, die Gott zwar damals nicht mittheilen, aber +doch gewiß auch nicht erschweren wollte. + +§. 26. + +Ich erkläre mich an dem Gegenbilde der Offenbarung. Ein Elementarbuch +für Kinder, darf gar wohl dieses oder jenes wichtige Stück der +Wissenschaft oder Kunst, die es vorträgt, mit Stillschweigen übergehen, +von dem der Pädagog urtheilte, daß es den Fähigkeiten der Kinder, für +die er schrieb, noch nicht angemessen sey. Aber es darf +schlechterdings nichts enthalten, was den Kindern den Weg zu den +zurückbehaltnen wichtigen Stücken versperre oder verlege. Vielmehr +müssen ihnen alle Zugänge zu denselben sorgfältig offen gelassen +werden: und sie nur von einem einzigen dieser Zugänge ableiten, oder +verursachen, daß sie denselben später betreten, würde allein die +Unvollständigkeit des Elementarbuchs zu einem wesentlichen Fehler +desselben machen. + +§ 27. + +Also auch konnten in den Schriften des Alten Testaments, in diesen +Elementarbüchern für das rohe und im Denken ungeübte Israelitische +Volk, die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele und künftigen +Vergeltung gar wohl mangeln: aber enthalten durften sie +schlechterdings nichts, was das Volk, für das sie geschrieben waren, +auf dem Wege zu dieser großen Wahrheit auch nur verspätet hätte. Und +was hätte es, wenig zu sagen, mehr dahin verspätet, als wenn jene +wunderbare Vergeltung in diesem Leben darinn wäre versprochen, und von +dem wäre versprochen worden, der nichts verspricht, was er nicht hält? + +§. 28. + +Denn wenn schon aus der ungleichen Austheilung der Güter dieses Lebens, +bey der auf Tugend und Laster so wenig Rücksicht genommen zu seyn +scheinet, eben nicht der strengste Beweis für die Unsterblichkeit der +Seele und für ein anders Leben, in welchem jener Knoten sich auflöse, +zu führen: so ist doch wohl gewiß, daß der menschliche Verstand ohne +jenem Knoten noch lange nicht--und vielleicht auch nie--auf bessere +und strengere Beweise gekommen wäre. Denn was sollte ihn antreiben +können, diese bessern Beweise zu suchen? Die blosse Neugierde? + +§. 29. + +Der und jener Israelite mochte freylich wohl die göttlichen +Versprechungen und Androhungen, die sich auf den gesammten Staat +bezogen, auf jedes einzelne Glied desselben erstrecken, und in dem +festen Glauben stehen, daß wer fromm sey auch glücklich seyn müsse, +und wer unglücklich sey, oder werde, die Strafe seiner Missethat trage, +welche sich sofort wieder in Segen verkehre, sobald er von seiner +Missethat ablasse.--Ein solcher scheinet den Hiob geschrieben zu +haben; denn der Plan desselben ist ganz in diesem Geiste.-- + +§. 30. + +Aber unmöglich durfte die tägliche Erfahrung diesen Glauben bestärken: +oder es war auf immer bey dem Volke, das diese Erfahrung hatte, auf +immer um die Erkennung und Aufnahme der ihm noch ungeläufigen Wahrheit +geschehen. Denn wenn der Fromme schlechterdings glücklich war, und es +zu seinem Glücke doch wohl auch mit gehörte, daß seine Zufriedenheit +keine schrecklichen Gedanken des Todes unterbrachen, daß er alt und +lebenssatt starb: wie konnte er sich nach einem andern Leben sehnen? +wie konnte er über etwas nachdenken, wornach er sich nicht sehnte? +Wenn aber der Fromme darüber nicht nachdachte: wer sollte es denn? Der +Bösewicht? der die Strafe seiner Missethat fühlte, und wenn er dieses +Leben verwünschte, so gern auf jedes andere Leben Verzicht that? + +§. 31. + +Weit weniger verschlug es, daß der und jener Israelite die +Unsterblichkeit der Seele und künftige Vergeltung, weil sich das +Gesetz nicht darauf bezog, gerade zu und ausdrücklich leugnete. Das +Leugnen eines Einzeln--wäre es auch ein Salomo gewesen,--hielt den +Fortgang des gemeinen Verstandes nicht auf, und war an und für sich +selbst schon ein Beweis, daß das Volk nun einen großen Schritt der +Wahrheit näher gekommen war. Denn Einzelne leugnen nur, was Mehrere in +Ueberlegung ziehen; und in Ueberlegung ziehen, warum man sich vorher +ganz und gar nicht bekümmerte, ist der halbe Weg zur Erkenntniß. + +§. 32. + +Laßt uns auch bekennen, daß es ein heroischer Gehorsam ist, die +Gesetze Gottes beobachten, blos weil es Gottes Gesetze sind, und nicht, +weil er die Beobachter derselben hier und dort zu belohnen verheissen +hat; sie beobachten, ob man schon an der künftigen Belohnung ganz +verzweifelt, und der zeitlichen auch nicht so ganz gewiß ist. + +§. 33. + +Ein Volk, in diesem heroischen Gehorsame gegen Gott erzogen, sollte es +nicht bestimmt, sollte es nicht vor allen andern fähig seyn, ganz +besondere göttliche Absichten auszuführen?--Laßt den Soldaten, der +seinem Führer blinden Gehorsam leistet, nun auch von der Klugheit +seines Führers überzeugt werden, und sagt, was dieser Führer mit ihm +auszuführen sich nicht unterstehen darf?-- + +§. 34. + +Noch hatte das jüdische Volk in seinem Jehova mehr den Mächtigsten, +als den Weisesten aller Götter verehrt; noch hatte es ihn als einen +eifrigen Gott mehr gefürchtet, als geliebt: auch dieses zum Beweise, +daß die Begriffe, die es von seinem höchsten einigen Gott hatte, nicht +eben die rechten Begriffe waren, die wir von Gott haben müssen. Doch +nun war die Zeit da, daß diese seine Begriffe erweitert, veredelt, +berichtiget werden sollten, wozu sich Gott eines ganz natürlichen +Mittels bediente; eines bessern richtigern Maaßstabes, nach welchem es +ihn zu schätzen Gelegenheit bekam. + +§. 35. + +Anstatt daß es ihn bisher nur gegen die armseligen Götzen der kleinen +benachbarten rohen Völkerschaften geschützt hatte, mit welchen es in +beständiger Eifersucht lebte: fing es in der Gefangenschaft unter dem +weisen Perser an, ihn gegen das Wesen aller Wesen zu messen, wie das +eine geübtere Vernunft erkannte und verehrte. + +§. 36. + +Die Offenbarung hatte seine Vernunft geleitet, und nun erhellte die +Vernunft auf einmal seine Offenbarung. + +§. 37. + +Das war der erste wechselseitige Dienst, den beyde einander leisteten; +und dem Urheber beyder ist ein solcher gegenseitiger Einfluß so wenig +unanständig, daß ohne ihm eines von beyden überflüssig seyn würde. + +§. 38. + +Das in die Fremde geschickte Kind sahe andere Kinder, die mehr wußten; +die anständiger lebten, und fragte sich beschämt: warum weiß ich das +nicht auch? warum lebe ich nicht auch so? Hätte in meines Vaters Hause +man mir das nicht auch beibringen; dazu mich nicht auch anhalten +sollen? Da sucht es seine Elementarbücher wieder vor, die ihm längst +zum Ekel geworden, um die Schuld auf die Elementarbücher zu schieben. +Aber siehe! es erkennet, daß die Schuld nicht an den Büchern liege, +daß die Schuld ledig sein eigen sey, warum es nicht längst eben das +wisse, eben so lebe. + +§. 39. + +Da die Juden nunmehr, auf Veranlassung der reinern Persischen Lehre, +in ihrem Jehova nicht blos den größten aller Nationalgötter, sondern +Gott erkannten; da sie ihn als solchen in ihren wieder hervorgesuchten +heiligen Schriften um so eher finden und andern zeigen konnten, als er +wirklich darinn war; da sie vor allen sinnlichen Vorstellungen +desselben einen eben so großen Abscheu bezeugten, oder doch in diesen +Schriften zu haben angewiesen wurden, als die Perser nur immer hatten: +was Wunder, daß sie vor den Augen des Cyrus mit einem Gottesdienste +Gnade fanden, den er zwar noch weit unter dem reinen Sabeismus, aber +doch auch weit über die groben Abgöttereyen zu seyn erkannte, die sich +dafür des verlaßnen Landes der Juden bemächtiget hatten? + +§. 40. + +So erleuchtet über ihre eignen unerkannten Schätze kamen sie zurück, +und wurden ein ganz andres Volk, dessen erste Sorge es war, diese +Erleuchtung unter sich dauerhaft zu machen. Bald war an Abfall und +Abgötterey unter ihm nicht mehr zu denken. Denn man kann einem +Nationalgott wohl untreu werden, aber nie Gott, so bald man ihn einmal +erkannt hat. + +§. 41. + +Die Gottesgelehrten haben diese gänzliche Veränderung des jüdischen +Volks verschiedentlich zu erklären gesucht; und Einer, der die +Unzulänglichkeit aller dieser verschiednen Erklärungen sehr wohl +gezeigt hat, wollte endlich "die augenscheinliche Erfüllung der über +die Babylonische Gefangenschaft und die Wiederherstellung aus +derselben ausgesprochnen und aufgeschriebnen Weissagungen," für die +wahre Ursache derselben angeben. Aber auch diese Ursache kann nur in +so fern die wahre seyn, als sie die nun erst vereitelten Begriffe von +Gott voraus setzt. Die Juden mußten nun erst erkannt haben, daß +Wunderthun und das Künftige vorhersagen, nur Gott zukomme; welches +beydes sie sonst auch den falschen Götzen beygeleget hatten, wodurch +eben Wunder und Weissagungen bisher nur einen so schwachen, +vergänglichen Eindruck auf sie gemacht hatten. + +§. 42. + +Ohne Zweifel waren die Juden unter den Chaldäern und Persern auch mit +der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele bekannter geworden. +Vertrauter mit ihr wurden sie in den Schulen der Griechischen +Philosophen in Aegypten. + +§. 43. + +Doch da es mit dieser Lehre, in Ansehung ihrer heiligen Schriften, die +Bewandniß nicht hatte, die es mit der Lehre von der Einheit und den +Eigenschaften Gottes gehabt hatte; da jene von dem sinnlichen Volke +darum war gröblich übersehen worden, diese aber gesucht seyn wollte; +da auf diese noch Vorübungen nöthig gewesen waren, und also nur +Anspielungen und Fingerzeige Statt gehabt hatten: so konnte der Glaube +an die Unsterblichkeit der Seele natürlicher Weise nie der Glaube des +gesammten Volks werden. Er war und blieb nur der Glaube einer gewissen +Sekte desselben. + +§. 44. + +Eine Vorübung auf die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, nenne +ich z. E. die göttliche Androhung, die Missethat des Vaters an seinen +Kindern bis ins dritte und vierte Glied zu strafen. Dieß gewöhnte die +Väter in Gedanken mit ihren spätesten Nachkommen zu leben, und das +Unglück, welches sie über diese Unschuldige gebracht hatten, voraus zu +fühlen. + +§. 45. + +Eine Anspielung nenne ich, was blos die Neugierde reizen und eine +Frage veranlassen sollte. Als die oft vorkommende Redensart, zu seinen +Vätern versammlet werden, für sterben. + +§. 46. + +Einen Fingerzeig nenne ich, was schon irgend einen Keim enthält, aus +welchem sich die noch zurückgehaltne Wahrheit entwickeln läßt. +Dergleichen war Christi Schluß aus der Benennung Gott Abrahams, Isaacs +und Jacobs. Dieser Fingerzeig scheint mir allerdings in einen strengen +Beweis ausgebildet werden zu können. + +§. 47. + +In solchen Vorübungen, Anspielungen, Fingerzeigen besteht die positive +Vollkommenheit eines Elementarbuchs; so wie die oben erwähnte +Eigenschaft, daß es den Weg zu den noch zurückgehaltenen Wahrheiten +nicht erschwere, oder versperre, die negative Vollkommenheit desselben +war. + +§. 48. + +Setzt hierzu noch die Einkleidung und den Stil--1) die Einkleidung +der nicht wohl zu übergehenden abstrakten Wahrheiten in Allegorieen +und lehrreiche einzelne Fälle, die als wirklich geschehen erzählet +werden. Dergleichen sind die Schöpfung, unter dem Bilde des werdenden +Tages; die Quelle des moralischen Bösen, in der Erzählung vom +verbotnen Baume; der Ursprung der mancherlei Sprachen, in der +Geschichte vom Thurmbaue zu Babel, u. s. w. + +§. 49. + +2) den Stil--bald plan und einfältig, bald poetisch, durchaus voll +Tavtologieen, aber solchen, die den Scharfsinn üben, indem sie bald +etwas anders zu sagen scheinen, und doch das nehmliche sagen, bald das +nehmliche zu sagen scheinen, und im Grunde etwas anders bedeuten oder +bedeuten können:-- + +§. 50. + +Und ihr habt alle gute Eigenschaften eines Elementarbuchs sowol für +Kinder, als für ein kindisches Volk. + +§. 51. + +Aber jedes Elementarbuch ist nur für ein gewisses Alter. Das ihm +entwachsene Kind länger, als die Meinung gewesen, dabey zu verweilen, +ist schädlich. Denn um dieses auf eine nur einigermaassen nützliche +Art thun zu können, muß man mehr hineinlegen, als darum liegt; mehr +hineintragen, als es fassen kann. Man muß der Anspielungen und +Fingerzeige zu viel suchen und machen, die Allegorieen zu genau +ausschütteln, die Beyspiele zu umständlich deuten, die Worte zu stark +pressen. Das giebt dem Kinde einen kleinlichen, schiefen, +spitzfindigen Verstand; das macht es geheimnißreich, abergläubisch, +voll Verachtung gegen alles Faßliche und Leichte. + +§. 52. + +Die nehmliche Weise, wie die Rabbinen ihre heiligen Bücher behandelten! +Der nehmliche Charakter, den sie dem Geiste ihres Volks dadurch +ertheilten! + +§. 53. + +Ein bessrer Pädagog muß kommen, und dem Kinde das erschöpfte +Elementarbuch aus den Händen reißen.--Christus kam. + +§. 54. + +Der Theil des Menschengeschlechts, den Gott in Einen Erziehungsplan +hatte fassen wollen--Er hatte aber nur denjenigen in Einen fassen +wollen, der durch Sprache, durch Handlung, durch Regierung, durch +andere natürliche und politische Verhältnisse in sich bereits +verbunden war--war zu dem zweyten großen Schritte der Erziehung reif. + +§. 55. + +Das ist: dieser Theil des Menschengeschlechts war in der Ausübung +seiner Vernunft so weit gekommen, daß er zu seinen moralischen +Handlungen edlere, würdigere Bewegungsgründe bedurfte und brauchen +konnte, als zeitliche Belohnung und Strafen waren, die ihn bisher +geleitet hatten. Das Kind wird Knabe. Leckerey und Spielwerk weicht +der aufkeimenden Begierde, eben so frey, eben so geehrt, eben so +glücklich zu werden, als es sein älteres Geschwister sieht. + +§. 56. + +Schon längst waren die Bessern von jenem Theile des +Menschengeschlechts gewohnt, sich durch einen Schatten solcher edlern +Bewegungsgründe regieren zu lassen. Um nach diesem Leben auch nur in +dem Andenken seiner Mitbürger fortzuleben, that der Grieche und Römer +alles. + +§. 57. + +Es war Zeit, daß ein andres wahres nach diesem Leben zu gewärtigendes +Leben Einfluß auf seine Handlungen gewönne. + +§. 58. + +Und so ward Christus der erste zuverlässige, praktische Lehrer der +Unsterblichkeit der Seele. + +§. 59. + +Der erste zuverlässige Lehrer.--Zuverlässig durch die Weissagungen, +die in ihm erfüllt schienen; zuverlässig durch die Wunder, die er +verrichtete; zuverlässig durch seine eigene Wiederbelebung nach einem +Tode, durch den er seine Lehre versiegelt hatte. Ob wir noch itzt +diese Wiederbelebung, diese Wunder beweisen können: das lasse ich +dahin gestellt seyn. So, wie ich es dahin gestellt seyn lasse, wer die +Person dieses Christus gewesen. Alles das kann damals zur Annehmung +seiner Lehre wichtig gewesen seyn: itzt ist es zur Erkennung der +Wahrheit dieser Lehre so wichtig nicht mehr. + +§. 60. + +Der erste praktische Lehrer.--Denn ein anders ist die Unsterblichkeit +der Seele, als eine philosophische Speculation, vermuthen, wünschen, +glauben: ein anders, seine innern und äussern Handlungen darnach +einrichten. + +§. 61. + +Und dieses wenigstens lehrte Christus zuerst. Denn ob es gleich bey +manchen Völkern auch schon vor ihm eingeführter Glaube war, daß böse +Handlungen noch in jenem Leben bestraft würden: so waren es doch nur +solche, die der bürgerlichen Gesellschaft Nachtheil brachten, und +daher auch schon in der bürgerlichen Gesellschaft ihre Strafe hatten. +Eine innere Reinigkeit des Herzens in Hinsicht auf ein andres Leben zu +empfehlen, war ihm allein vorbehalten. + +§. 62. + +Seine Jünger haben diese Lehre getreulich fortgepflanzt. Und wenn sie +auch kein ander Verdienst hätten, als daß sie einer Wahrheit, die +Christus nur allein für die Juden bestimmt zu haben schien, einen +allgemeinem Umlauf unter mehrern Völkern verschaft hätten: so wären +sie schon darum unter die Pfleger und Wohlthäter des +Menschengeschlechts zu rechnen. + +§. 63. + +Daß sie aber diese Eine große Lehre noch mit andern Lehren versetzten, +deren Wahrheit weniger einleuchtend, deren Nutzen weniger erheblich +war: wie konnte das anders seyn? Laßt uns sie darum nicht schelten, +sondern vielmehr mit Ernst untersuchen: ob nicht selbst diese +beygemischten Lehren ein neuer Richtungsstoß für die menschliche +Vernunft geworden. + +§. 64. + +Wenigstens ist es schon aus der Erfahrung klar, daß die +Neutestamentlichen Schriften, in welchen sich diese Lehren nach +einiger Zeit aufbewahret fanden, das zweyte beßre Elementarbuch für +das Menschengeschlecht abgegeben haben, und noch abgeben. + +§. 65. + +Sie haben seit siebzehnhundert Jahren den menschlichen Verstand mehr +als alle andere Bücher beschäftiget; mehr als alle andere Bücher +erleuchtet, sollte es auch nur das Licht seyn, welches der menschliche +Verstand selbst hineintrug. + +§. 66. + +Unmöglich hätte irgend ein ander Buch unter so verschiednen Völkern so +allgemein bekannt werden können: und unstreitig hat das, daß so ganz +ungleiche Denkungsarten sich mit diesem nehmlichen Buche beschäftigten, +den menschlichen Verstand mehr fortgeholfen, als wenn jedes Volk für +sich besonders sein eignes Elementarbuch gehabt hätte. + +§. 67. + +Auch war es höchst nöthig, daß jedes Volk dieses Buch eine Zeit lang +für das Non plus ultra seiner Erkenntnisse halten mußte. Denn dafür +muß auch der Knabe sein Elementarbuch vors erste ansehen; damit die +Ungeduld, nur fertig zu werden, ihn nicht zu Dingen fortreißt, zu +welchen er noch keinen Grund gelegt hat. + +§. 68. + +Und was noch itzt höchst wichtig ist:--Hüte dich, du fähigeres +Individuum, der du an dem letzten Blatte dieses Elementarbuches +stampfest und glühest, hüte dich, es deine schwächere Mitschüler +merken zu lassen, was du witterst, oder schon zu sehn beginnest. + +§. 69. + +Bis sie dir nach sind, diese schwächere Mitschüler;--kehre lieber +noch einmal selbst in dieses Elementarbuch zurück, und untersuche, ob +das, was du nur für Wendungen der Methode, für Lückenbüsser der +Didaktik hältst, auch wohl nicht etwas Mehrers ist. + +§. 70. + +Du hast in der Kindheit des Menschengeschlechts an der Lehre von der +Einheit Gottes gesehen, daß Gott auch bloße Vernunftswahrheiten +unmittelbar offenbaret; oder verstattet und einleitet, daß bloße +Vernunftswahrheiten als unmittelbar geoffenbarte Wahrheiten eine Zeit +lang gelehret werden: um sie geschwinder zu verbreiten, und sie fester +zu gründen. + +§. 71. + +Du erfährst, in dem Knabenalter des Menschengeschlechts, an der Lehre +von der Unsterblichkeit der Seele, das Nehmliche. Sie wird in dem +zweyten bessern Elementarbuche als Offenbarung geprediget, nicht als +Resultat menschlicher Schlüsse gelehret. + +§. 72. + +So wie wir zur Lehre von der Einheit Gottes nunmehr des Alten +Testaments entbehren können; so wie wir allmälig, zur Lehre von der +Unsterblichkeit der Seele, auch des Neuen Testaments entbehren zu +können anfangen: könnten in diesem nicht noch mehr dergleichen +Wahrheiten vorgespiegelt werden, die wir als Offenbarungen so lange +anstaunen sollen, bis sie die Vernunft aus ihren andern ausgemachten +Wahrheiten herleiten und mit ihnen verbinden lernen? + +§. 73. + +Z. E. die Lehre von der Dreyeinigkeit.--Wie, wenn diese Lehre den +menschlichen Verstand, nach unendlichen Verirrungen rechts und links, +nur endlich auf den Weg bringen sollte, zu erkennen, daß Gott in dem +Verstande, in welchem endliche Dinge eins sind, unmöglich eins seyn +könne; daß auch seine Einheit eine transcendentale Einheit seyn müsse, +welche eine Art von Mehrheit nicht ausschließt?--Muß Gott wenigstens +nicht die vollständigste Vorstellung von sich selbst haben? d. i. eine +Vorstellung, in der sich alles befindet, was in ihm selbst ist. Würde +sich aber alles in ihr finden, was in ihm selbst ist, wenn auch von +seiner nothwendigen Wirklichkeit, so wie von seinen übrigen +Eigenschaften, sich blos eine Vorstellung, sich blos eine Möglichkeit +fände? Diese Möglichkeit erschöpft das Wesen seiner übrigen +Eigenschaften: aber auch seiner nothwendigen Wirklichkeit? Mich dünkt +nicht.--Folglich kann entweder Gott gar keine vollständige +Vorstellung von sich selbst haben: oder diese vollständige Vorstellung +ist eben so nothwendig wirklich, als er es selbst ist & c.--Freylich +ist das Bild von mir im Spiegel nichts als eine leere Vorstellung von +mir, weil es nur das von mir hat, wovon Lichtstrahlen auf seine Fläche +fallen. Aber wenn denn nun dieses Bild alles, alles ohne Ausnahme +hätte, was ich selbst habe: würde es sodann auch noch eine leere +Vorstellung, oder nicht vielmehr eine wahre Verdopplung meines Selbst +seyn?--Wenn ich eine ähnliche Verdopplung in Gott zu erkennen glaube: +so irre ich mich vielleicht nicht so wohl, als daß die Sprache meinen +Begriffen unterliegt; und so viel bleibt doch immer unwidersprechlich, +daß diejenigen, welche die Idee davon populär machen wollen, sich +schwerlich faßlicher und schicklicher hätten ausdrücken können, als +durch die Benennung eines Sohnes, den Gott von Ewigkeit zeugt. + +§. 74. + +Und die Lehre von der Erbsünde.--Wie, wenn uns endlich alles +überführte, daß der Mensch auf der ersten und niedrigsten Stufe seiner +Menschheit, schlechterdings so Herr seiner Handlungen nicht sey, daß +er moralischen Gesetzen folgen könne? + +§. 75. + +Und die Lehre von der Genugthuung des Sohnes.--Wie, wenn uns endlich +alles nöthigte, anzunehmen: daß Gott, ungeachtet jener ursprünglichen +Unvermögenheit des Menschen, ihm dennoch moralische Gesetze lieber +geben, und ihm alle Uebertretungen, in Rücksicht auf seinen Sohn, d. i. +in Rücksicht auf den selbstständigen Umfang aller seiner +Vollkommenheiten, gegen den und in dem jede Unvollkommenheit des +Einzeln verschwindet, lieber verzeihen wollen; als daß er sie ihm +nicht geben, und ihn von aller moralischen Glückseligkeit +ausschliessen wollen, die sich ohne moralische Gesetze nicht denken +läßt? + +§. 76. + +Man wende nicht ein, daß dergleichen Vernünfteleyen über die +Geheimnisse der Religion untersagt sind.--Das Wort Geheimniß +bedeutete, in den ersten Zeiten des Christenthums, ganz etwas anders, +als wir itzt darunter verstehen; und die Ausbildung geoffenbarter +Wahrheiten in Vernunftswahrheiten ist schlechterdings nothwendig, wenn +dem menschlichen Geschlechte damit geholfen seyn soll. Als sie +geoffenbaret wurden, waren sie freylich noch keine Vernunftswahrheiten; +aber sie wurden geoffenbaret, um es zu werden. Sie waren gleichsam +das Facit, welches der Rechenmeister seinen Schülern voraus sagt, +damit sie sich im Rechnen einigermaassen darnach richten können. +Wollten sich die Schüler an dem voraus gesagten Facit begnügen: so +würden sie nie rechnen lernen, und die Absicht, in welcher der gute +Meister ihnen bey ihrer Arbeit einen Leitfaden gab, schlecht erfüllen. + +§. 77. + +Und warum sollten wir nicht auch durch eine Religion, mit deren +historischen Wahrheit, wenn man will, es so mißlich aussieht, +gleichwohl auf nähere und bessere Begriffe vom göttlichen Wesen, von +unsrer Natur, von unsern Verhältnissen zu Gott, geleitet werden können, +auf welche die menschliche Vernunft von selbst nimmermehr gekommen +wäre? + +§. 78. + +Es ist nicht wahr, daß Speculationen über diese Dinge jemals Unheil +gestiftet, und der bürgerlichen Gesellschaft nachtheilig geworden.-- +Nicht den Speculationen: dem Unsinne, der Tyranney, diesen +Speculationen zu steuern; Menschen, die ihre eigenen hatten, nicht +ihre eigenen zu gönnen, ist dieser Vorwurf zu machen. + +§. 79. + +Vielmehr sind dergleichen Speculationen--mögen sie im Einzeln doch +ausfallen, wie sie wollen--unstreitig die schicklichsten Uebungen des +menschlichen Verstandes überhaupt, so lange das menschliche Herz +überhaupt, höchstens nur vermögend ist, die Tugend wegen ihrer ewigen +glückseligen Folgen zu lieben. + +§. 80. + +Denn bey dieser Eigennützigkeit des menschlichen Herzens, auch den +Verstand nur allein an dem üben wollen, was unsere körperlichen +Bedürfnisse betrift, würde ihn mehr stumpfen, als wetzen heissen. Er +will schlechterdings an geistigen Gegenständen geübt seyn, wenn er zu +seiner völligen Aufklärung gelangen, und diejenige Reinigkeit des +Herzens hervorbringen soll, die uns, die Tugend um ihrer selbst willen +zu lieben, fähig macht. + +§. 81. + +Oder soll das menschliche Geschlecht auf diese höchste Stufen der +Aufklärung und Reinigkeit nie kommen? Nie? + +§. 82. + +Nie?--Laß mich diese Lästerung nicht denken, Allgütiger!--Die +Erziehung hat ihr Ziel; bey dem Geschlechte nicht weniger als bey dem +Einzeln. Was erzogen wird, wird zu Etwas erzogen. + +§. 83. + +Die schmeichelnden Aussichten, die man dem Jünglinge eröfnet; die Ehre, +der Wohlstand, die man ihm vorspiegelt: was sind sie mehr, als Mittel, +ihn zum Manne zu erziehen, der auch dann, wenn diese Aussichten der +Ehre und des Wohlstandes wegfallen, seine Pflicht zu thun vermögend +sey. + +§. 84. + +Darauf zwecke die menschliche Erziehung ab: und die göttliche reiche +dahin nicht? Was der Kunst mit dem Einzeln gelingt, sollte der Natur +nicht auch mit dem Ganzen gelingen? Lästerung! Lästerung! + +§. 85. + +Nein; sie wird kommen, sie wird gewiß kommen, die Zeit der Vollendung, +da der Mensch, je überzeugter sein Verstand einer immer bessern +Zukunft sich fühlet, von dieser Zukunft gleichwohl Bewegungsgründe zu +seinen Handlungen zu erborgen, nicht nöthig haben wird; da er das Gute +thun wird, weil es das Gute ist, nicht weil willkührliche Belohnungen +darauf gesetzt sind, die seinen flatterhaften Blick ehedem blos heften +und stärken sollten, die innern bessern Belohnungen desselben zu +erkennen. + +§. 86. + +Sie wird gewiß kommen, die Zeit eines neuen ewigen Evangeliums, die +uns selbst in den Elementarbüchern des Neuen Bundes versprochen wird. + +§. 87. + +Vielleicht, daß selbst gewisse Schwärmer des dreizehnten und +vierzehnten Jahrhunderts einen Strahl dieses neuen ewigen Evangeliums +aufgefangen hatten; und nur darum irrten, daß sie den Ausbruch +desselben so nahe verkündigten. + +§. 88. + +Vielleicht war ihr dreyfaches Alter der Welt keine so leere Grille; +und gewiß hatten sie keine schlimme Absichten, wenn sie lehrten, daß +der Neue Bund eben so wohl antiquiret werden müsse, als es der Alte +geworden. Es blieb auch bey ihnen immer die nehmliche Oekonomie des +nehmlichen Gottes. Immer--sie meine Sprache sprechen zu lassen--der +nehmliche Plan der allgemeinen Erziehung des Menschengeschlechts. + +§. 89. + +Nur daß sie ihn übereilten; nur daß sie ihre Zeitgenossen, die noch +kaum der Kindheit entwachsen waren, ohne Aufklärung, ohne Vorbereitung, +mit Eins zu Männern machen zu können glaubten, die ihres dritten +Zeitalters würdig wären. + +§. 90. + +Und eben das machte sie zu Schwärmern. Der Schwärmer thut oft sehr +richtige Blicke in die Zukunft: aber er kann diese Zukunft nur nicht +erwarten. Er wünscht diese Zukunft beschleuniget; und wünscht, daß sie +durch ihn beschleuniget werde. Wozu sich die Natur Jahrtausende Zeit +nimmt, soll in dem Augenblicke seines Daseyns reifen. Denn was hat er +davon, wenn das, was er für das Bessere erkennt, nicht noch bey seinen +Lebzeiten das Bessere wird? Kömmt er wieder? Glaubt er wieder zu +kommen?--Sonderbar, daß diese Schwärmerey allein unter den Schwärmern +nicht mehr Mode werden will! + +§.91. + +Geh deinen unmerklichen Schritt, ewige Vorsehung! Nur laß mich dieser +Unmerklichkeit wegen an dir nicht verzweifeln.--Laß mich an dir nicht +verzweifeln, wenn selbst deine Schritte mir scheinen sollten, zurück +zu gehen!--Es ist nicht wahr, daß die kürzeste Linie immer die gerade +ist. + +§. 92. + +Du hast auf deinem ewigen Wege so viel mitzunehmen! so viel +Seitenschritte zu thun!--Und wie? wenn es nun gar so gut als +ausgemacht wäre, daß das große langsame Rad, welches das Geschlecht +seiner Vollkommenheit näher bringt, nur durch kleinere schnellere +Räder in Bewegung gesetzt würde, deren jedes sein Einzelnes eben dahin +liefert? + +§. 93. + +Nicht anders! Eben die Bahn, auf welcher das Geschlecht zu seiner +Vollkommenheit gelangt, muß jeder einzelne Mensch (der früher, der +später) erst durchlaufen haben.--"In einem und eben demselben Leben +durchlaufen haben? Kann er in eben demselben Leben ein sinnlicher Jude +und ein geistiger Christ gewesen seyn? Kann er in eben demselben Leben +beyde überhohlet haben?" + +§. 94. + +Das wohl nun nicht!--Aber warum könnte jeder einzelne Mensch auch +nicht mehr als einmal auf dieser Welt vorhanden gewesen seyn? + +§. 95. + +Ist diese Hypothese darum so lächerlich, weil sie die älteste ist? +weil der menschliche Verstand, ehe ihn die Sophisterey der Schule +zerstreut und geschwächt hatte, sogleich darauf verfiel? + +§. 96. + +Warum könnte auch Ich nicht hier bereits einmal alle die Schritte zu +meiner Vervollkommung gethan haben, welche blos zeitliche Strafen und +Belohnungen den Menschen bringen können? + +§. 97. + +Und warum nicht ein andermal alle die, welche zu thun, uns die +Aussichten in ewige Belohnungen, so mächtig helfen? + +§. 98. + +Warum sollte ich nicht so oft wiederkommen, als ich neue Kenntnisse, +neue Fertigkeiten zu erlangen geschickt bin? Bringe ich auf Einmal so +viel weg, daß es der Mühe wieder zu kommen etwa nicht lohnet? + +§. 99. + +Darum nicht?--Oder, weil ich es vergesse, daß ich schon da gewesen? +Wohl mir, daß ich das vergesse. Die Erinnerung meiner vorigen Zustände, +würde mir nur einen schlechten Gebrauch des gegenwärtigen zu machen +erlauben. Und was ich auf itzt vergessen muß, habe ich denn das auf +ewig vergessen? + +§. 100. + +Oder, weil so zu viel Zeit für mich verloren gehen würde?--Verloren? +--Und was habe ich denn zu versäumen? Ist nicht die ganze Ewigkeit +mein? + + +Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes Die Erziehung des +Menschengeschlechts, von Gotthold Ephraim Lessing. + + + + + + + + + + +End of the Project Gutenberg EBook of Die Erziehung des Menschengeschlechts, by +Gotthold Ephraim Lessing + +*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE ERZIEHUNG DES *** + +***** This file should be named 9160-8.txt or 9160-8.zip ***** +This and all associated files of various formats will be found in: + http://www.gutenberg.org/9/1/6/9160/ + +Produced by Delphine Lettau, from files obtained from +Gutenberg Projekt-DE. + +Updated editions will replace the previous one--the old editions will +be renamed. + +Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright +law means that no one owns a United States copyright in these works, +so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United +States without permission and without paying copyright +royalties. 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The book content was graciously +contributed by the Gutenberg Projekt-DE. + + + + +This book content was graciously contributed by the Gutenberg Projekt-DE. +That project is reachable at the web site http://gutenberg.spiegel.de/. + +Dieses Buch wurde uns freundlicherweise vom "Gutenberg Projekt-DE" +zur Verfuegung gestellt. Das Projekt ist unter der Internet-Adresse +http://gutenberg.spiegel.de/ erreichbar. + + + + +Die Erziehung des Menschengeschlechts + +Gotthold Ephraim Lessing + + +Haec omnia inde esse quibusdam vera, + unde in quibusdam falsa sunt. +Augustinus. + + + + +Herausgegeben von Gotthold Ephraim Lessing +Berlin, 1780 + + + + +Vorbericht des Herausgebers. + +Ich habe die erste Haelfte dieses Aufsatzes in meinen Beytraegen bekannt +gemacht. Itzt bin ich im Stande, das Uebrige nachfolgen zu lassen. + +Der Verfasser hat sich darum auf einen Huegel gestellt, von welchem er +etwas mehr, als den vorgeschriebenen Weg seines heutigen Tages zu +uebersehen glaubt. + +Aber er ruft keinen eilfertigen Wanderer, der nur das Nachtlager bald +zu erreichen wuenscht, von seinem Pfade. Er verlangt nicht, dass die +Aussicht, die ihn entzuecket, auch jedes andere Auge entzuecken muesse. + +Und so, daechte ich, koennte man ihn ja wohl stehen und staunen lassen, +wo er steht und staunt! + +Wenn er aus der unermesslichen Ferne, die ein sanftes Abendroth seinem +Blicke weder ganz verhuellt noch ganz entdeckt, nun gar einen +Fingerzeig mitbrachte, um den ich oft verlegen gewesen! + +Ich meyne diesen.--Warum wollen wir in allen positiven Religionen +nicht lieber weiter nichts, als den Gang erblicken, nach welchem sich +der menschliche Verstand jedes Orts einzig und allein entwickeln +koennen, und noch ferner entwickeln soll; als ueber eine derselben +entweder laecheln, oder zuernen? Diesen unsern Hohn, diesen unsern +Unwillen, verdiente in der besten Welt nichts: und nur die Religionen +sollten ihn verdienen? Gott haette seine Hand bey allem im Spiele: nur +bey unsern Irrthuemern nicht? + + + + + +Sec.. 1. + +Was die Erziehung bey dem einzeln Menschen ist, ist die Offenbarung +bey dem ganzen Menschengeschlechte. + +Sec.. 2. + +Erziehung ist Offenbarung, die dem einzeln Menschen geschieht: und +Offenbarung ist Erziehung, die dem Menschengeschlechte geschehen ist, +und noch geschieht. + +Sec.. 3. + +Ob die Erziehung aus diesem Gesichtspunkte zu betrachten, in der +Paedagogik Nutzen haben kann, will ich hier nicht untersuchen. Aber in +der Theologie kann es gewiss sehr grossen Nutzen haben, und viele +Schwierigkeiten heben, wenn man sich die Offenbarung als eine +Erziehung des Menschengeschlechts vorstellet. + +Sec.. 4. + +Erziehung giebt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst +haben koennte: sie giebt ihm das, was er aus sich selber haben koennte, +nur geschwinder und leichter. Also giebt auch die Offenbarung dem +Menschengeschlechte nichts, worauf die menschliche Vernunft, sich +selbst ueberlassen, nicht auch kommen wuerde: sondern sie gab und giebt +ihm die wichtigsten dieser Dinge nur frueher. + +Sec. 5. + +Und so wie es der Erziehung nicht gleichgueltig ist, in welcher Ordnung +sie die Kraefte des Menschen entwickelt; wie sie dem Menschen nicht +alles auf einmal beibringen kann: eben so hat auch Gott bey seiner +Offenbarung eine gewisse Ordnung, ein gewisses Maass halten muessen. + +Sec.. 6. + +Wenn auch der erste Mensch mit einem Begriffe von einem Einigen Gotte +sofort ausgestattet wurde: so konnte doch dieser mitgetheilte, und +nicht erworbene Begriff, unmoeglich lange in seiner Lauterkeit bestehen. +Sobald ihn die sich selbst ueberlassene menschliche Vernunft zu +bearbeiten anfing, zerlegte sie den Einzigen Unermesslichen in mehrere +Ermesslichere, und gab jedem dieser Theile ein Merkzeichen. + +Sec.. 7. + +So entstand natuerlicher Weise Vielgoetterey und Abgoetterey. Und wer +weiss, wie viele Millionen Jahre sich die menschliche Vernunft noch in +diesen Irrwegen wuerde herumgetrieben haben; ohngeachtet ueberall und zu +allen Zeiten einzelne Menschen erkannten, dass es Irrwege waren: wenn +es Gott nicht gefallen haette, ihr durch einen neuen Stoss eine bessere +Richtung zu geben. + +Sec.. 8. + +Da er aber einem jeden einzeln Menschen sich nicht mehr offenbaren +konnte, noch wollte: so waehlte er sich ein einzelnes Volk zu seiner +besondern Erziehung; und eben das ungeschliffenste, das verwildertste, +um mit ihm ganz von vorne anfangen zu koennen. + +Sec.. 9. + +Diess war das Israelitische Volk, von welchem man gar nicht einmal weiss, +was es fuer einen Gottesdienst in Aegypten hatte. Denn an dem +Gottesdienste der Aegyptier durften so verachtete Sklaven nicht Theil +nehmen: und der Gott seiner Vaeter war ihm gaenzlich unbekannt geworden. + +Sec.. 10. + +Vielleicht, dass ihm die Aegyptier allen Gott, alle Goetter ausdruecklich +untersagt hatten; es in den Glauben gestuerzt hatten, es habe gar +keinen Gott, gar keine Goetter; Gott, Goetter haben, sey nur ein +Vorrecht der bessern Aegyptier: und das, um es mit so viel groesserm +Anscheine von Billigkeit tyrannisiren zu duerfen.--Machen Christen es +mit ihren Sklaven noch itzt viel anders?-- + +Sec.. 11. + +Diesem rohen Volke also liess sich Gott anfangs blos als den Gott +seiner Vaeter ankuendigen, um es nur erst mit der Idee eines auch ihm +zustehenden Gottes bekannt und vertraut zu machen. + +Sec.. 12. + +Durch die Wunder, mit welchen er es aus Aegypten fuehrte, und in Kanaan +einsetzte, bezeugte er sich ihm gleich darauf als einen Gott, der +maechtiger sey, als irgend ein andrer Gott. + +Sec.. 13. + +Und indem er fortfuhr, sich ihm als den Maechtigsten von allen zu +bezeugen--welches doch nur einer seyn kann,--gewoehnte er es allmaelig +zu dem Begriffe des Einigen. + +Sec.. 14. + +Aber wie weit war dieser Begriff des Einigen, noch unter dem wahren +transcendentalen Begriffe des Einigen, welchen die Vernunft so spaet +erst aus dem Begriffe des Unendlichen mit Sicherheit schliessen lernen! + +Sec.. 15. + +Zu dem wahren Begriffe des Einigen--wenn sich ihm auch schon die +Besserern des Volks mehr oder weniger naeherten--konnte sich doch das +Volk lange nicht erheben: und dieses war die einzige wahre Ursache, +warum es so oft seinen Einigen Gott verliess, und den Einigen, d. i. +Maechtigsten, in irgend einem andern Gotte eines andern Volks zu finden +glaubte. + +Sec.. 16. + +Ein Volk aber, das so roh, so ungeschickt zu abgezognen Gedanken war, +noch so voellig in seiner Kindheit war, was war es fuer einer +moralischen Erziehung faehig? Keiner andern, als die dem Alter der +Kindheit entspricht. Der Erziehung durch unmittelbare sinnliche +Strafen und Belohnungen. + +Sec.. 17. + +Auch hier also treffen Erziehung und Offenbarung zusammen. Noch konnte +Gott seinem Volke keine andere Religion, kein anders Gesetz geben, als +eines, durch dessen Beobachtung oder Nichtbeobachtung es hier auf +Erden gluecklich oder ungluecklich zu werden hoffte oder fuerchtete. Denn +weiter als auf dieses Leben gingen noch seine Blicke nicht. Es wusste +von keiner Unsterblichkeit der Seele; es sehnte sich nach keinem +kuenftigen Leben. Ihm aber nun schon diese Dinge zu offenbaren, welchen +seine Vernunft noch so wenig gewachsen war: was wuerde es bey Gott +anders gewesen seyn, als der Fehler des eiteln Paedagogen, der sein +Kind lieber uebereilen und mit ihm prahlen, als gruendlich unterrichten +will. + +Sec.. 18. + +Allein wozu, wird man fragen, diese Erziehung eines so rohen Volkes, +eines Volkes, mit welchem Gott so ganz von vorne anfangen musste? Ich +antworte: um in der Folge der Zeit einzelne Glieder desselben so viel +sichrer zu Erziehern aller uebrigen Voelker brauchen zu koennen. Er erzog +in ihm die kuenftigen Erzieher des Menschengeschlechts. Das wurden +Juden, das konnten nur Juden werden, nur Maenner aus einem so erzogenen +Volke. + +Sec.. 19. + +Denn weiter. Als das Kind unter Schlaegen und Liebkosungen aufgewachsen +und nun zu Jahren des Verstandes gekommen war, stiess es der Vater auf +einmal in die Fremde; und hier erkannte es auf einmal das Gute, das es +in seines Vaters Hause gehabt und nicht erkannt hatte. + +Sec.. 20. + +Waehrend dass Gott sein erwaehltes Volk durch alle Staffeln einer +kindischen Erziehung fuehrte: waren die andern Voelker des Erdbodens bey +dem Lichte der Vernunft ihren Weg fortgegangen. Die meisten derselben +waren weit hinter dem erwaehlten Volke zurueckgeblieben: nur einige +waren ihm zuvorgekommen. Und auch das geschieht bey Kindern, die man +fuer sich aufwachsen laesst; viele bleiben ganz roh; einige bilden sich +zum Erstaunen selbst. + +Sec.. 21. + +Wie aber diese gluecklichern Einige nichts gegen den Nutzen und die +Nothwendigkeit der Erziehung beweisen: so beweisen die wenigen +heidnischen Voelker, die selbst in der Erkenntniss Gottes vor dem +erwaehlten Volke noch bis itzt einen Vorsprung zu haben schienen, +nichts gegen die Offenbarung. Das Kind der Erziehung faengt mit +langsamen aber sichern Schritten an; es hohlt manches gluecklicher +organisirte Kind der Natur spaet ein; aber es hohlt es doch ein, und +ist alsdann nie wieder von ihm einzuholen. + +Sec.. 22. + +Auf gleiche Weise. Dass,--die Lehre von der Einheit Gottes bey Seite +gesetzt, welche in den Buechern des Alten Testaments sich findet, und +sich nicht findet--dass, sage ich, wenigstens die Lehre von der +Unsterblichkeit der Seele, und die damit verbundene Lehre von Strafe +und Belohnung in einem kuenftigen Leben, darum voellig fremd sind: +beweiset eben so wenig wider den goettlichen Ursprung dieser Buecher. Es +kann dem ohngeachtet mit allen darinn enthaltenen Wundern und +Prophezeyungen seine gute Richtigkeit haben. Denn lasst uns setzen, +jene Lehren wuerden nicht allein darinn vermisst, jene Lehren waeren auch +sogar nicht einmal wahr, lasst uns setzen, es waere wirklich fuer die +Menschen in diesem Leben alles aus: waere darum das Daseyn Gottes +minder erwiesen? stuende es darum Gotte minder frey, wuerde es darum +Gotte minder ziemen, sich der zeitlichen Schicksale irgend eines Volks +aus diesem vergaenglichen Geschlechte unmittelbar anzunehmen? Die +Wunder, die er fuer die Juden that, die Prophezeyungen, die er durch +sie aufzeichnen liess, waren ja nicht blos fuer die wenigen sterblichen +Juden, zu deren Zeiten sie geschahen und aufgezeichnet wurden: er +hatte seine Absichten damit auf das ganze juedische Volk, auf das ganze +Menschengeschlecht, die hier auf Erden vielleicht ewig dauern sollen, +wenn schon jeder einzelne Jude, jeder einzelne Mensch auf immer dahin +stirbt. + +Sec.. 23. + +Noch einmal. Der Mangel jener Lehren in den Schriften des Alten +Testaments beweiset wider ihre Goettlichkeit nichts. Moses war doch von +Gott gesandt, obschon die Sanktion seines Gesetzes sich nur auf dieses +Leben erstreckte. Denn warum weiter? Er war ja nur an das +Israelitische Volk, an das damalige Israelitische Volk gesandt: und +sein Auftrag war den Kenntnissen, den Faehigkeiten, den Neigungen +dieses damaligen israelitischen Volks, so wie der Bestimmung des +kuenftigen, vollkommen angemessen. Das ist genug. + +Sec.. 24. + +So weit haette Warburton auch nur gehen muessen, und nicht weiter. Aber +der gelehrte Mann ueberspannte den Bogen. Nicht zufrieden, dass der +Mangel jener Lehren der goettlichen Sendung Mosis nichts schade: er +sollte ihm die goettliche Sendung Mosis sogar beweisen. Und wenn er +diesen Beweis noch aus der Schicklichkeit eines solchen Gesetzes fuer +ein solches Volk zu fuehren gesucht haette! Aber er nahm seine Zuflucht +zu einem von Mose bis auf Christum ununterbrochen fortdaurenden Wunder, +nach welchem Gott einen jeden einzeln Juden gerade so gluecklich oder +ungluecklich gemacht habe, als es dessen Gehorsam oder Ungehorsam gegen +das Gesetz verdiente. Dieses Wunder habe den Mangel jener Lehren, ohne +welche kein Staat bestehen koenne, ersetzt; und eine solche Ersetzung +eben beweise, was jener Mangel, auf den ersten Anblick, zu verneinen +scheine. + +Sec.. 25. + +Wie gut war es, dass Warburton dieses anhaltende Wunder, in welches er +das Wesentliche der Israelitischen Theokratie setzte, durch nichts +erhaerten, durch nichts wahrscheinlich machen konnte. Denn haette er das +gekonnt; wahrlich--alsdenn erst haette er die Schwierigkeit +unaufloeslich gemacht.--Mir wenigstens.--Denn was die Goettlichkeit +der Sendung Mosis wieder herstellen sollte, wuerde an der Sache selbst +zweifelhaft gemacht haben, die Gott zwar damals nicht mittheilen, aber +doch gewiss auch nicht erschweren wollte. + +Sec.. 26. + +Ich erklaere mich an dem Gegenbilde der Offenbarung. Ein Elementarbuch +fuer Kinder, darf gar wohl dieses oder jenes wichtige Stueck der +Wissenschaft oder Kunst, die es vortraegt, mit Stillschweigen uebergehen, +von dem der Paedagog urtheilte, dass es den Faehigkeiten der Kinder, fuer +die er schrieb, noch nicht angemessen sey. Aber es darf +schlechterdings nichts enthalten, was den Kindern den Weg zu den +zurueckbehaltnen wichtigen Stuecken versperre oder verlege. Vielmehr +muessen ihnen alle Zugaenge zu denselben sorgfaeltig offen gelassen +werden: und sie nur von einem einzigen dieser Zugaenge ableiten, oder +verursachen, dass sie denselben spaeter betreten, wuerde allein die +Unvollstaendigkeit des Elementarbuchs zu einem wesentlichen Fehler +desselben machen. + +Sec. 27. + +Also auch konnten in den Schriften des Alten Testaments, in diesen +Elementarbuechern fuer das rohe und im Denken ungeuebte Israelitische +Volk, die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele und kuenftigen +Vergeltung gar wohl mangeln: aber enthalten durften sie +schlechterdings nichts, was das Volk, fuer das sie geschrieben waren, +auf dem Wege zu dieser grossen Wahrheit auch nur verspaetet haette. Und +was haette es, wenig zu sagen, mehr dahin verspaetet, als wenn jene +wunderbare Vergeltung in diesem Leben darinn waere versprochen, und von +dem waere versprochen worden, der nichts verspricht, was er nicht haelt? + +Sec.. 28. + +Denn wenn schon aus der ungleichen Austheilung der Gueter dieses Lebens, +bey der auf Tugend und Laster so wenig Ruecksicht genommen zu seyn +scheinet, eben nicht der strengste Beweis fuer die Unsterblichkeit der +Seele und fuer ein anders Leben, in welchem jener Knoten sich aufloese, +zu fuehren: so ist doch wohl gewiss, dass der menschliche Verstand ohne +jenem Knoten noch lange nicht--und vielleicht auch nie--auf bessere +und strengere Beweise gekommen waere. Denn was sollte ihn antreiben +koennen, diese bessern Beweise zu suchen? Die blosse Neugierde? + +Sec.. 29. + +Der und jener Israelite mochte freylich wohl die goettlichen +Versprechungen und Androhungen, die sich auf den gesammten Staat +bezogen, auf jedes einzelne Glied desselben erstrecken, und in dem +festen Glauben stehen, dass wer fromm sey auch gluecklich seyn muesse, +und wer ungluecklich sey, oder werde, die Strafe seiner Missethat trage, +welche sich sofort wieder in Segen verkehre, sobald er von seiner +Missethat ablasse.--Ein solcher scheinet den Hiob geschrieben zu +haben; denn der Plan desselben ist ganz in diesem Geiste.-- + +Sec.. 30. + +Aber unmoeglich durfte die taegliche Erfahrung diesen Glauben bestaerken: +oder es war auf immer bey dem Volke, das diese Erfahrung hatte, auf +immer um die Erkennung und Aufnahme der ihm noch ungelaeufigen Wahrheit +geschehen. Denn wenn der Fromme schlechterdings gluecklich war, und es +zu seinem Gluecke doch wohl auch mit gehoerte, dass seine Zufriedenheit +keine schrecklichen Gedanken des Todes unterbrachen, dass er alt und +lebenssatt starb: wie konnte er sich nach einem andern Leben sehnen? +wie konnte er ueber etwas nachdenken, wornach er sich nicht sehnte? +Wenn aber der Fromme darueber nicht nachdachte: wer sollte es denn? Der +Boesewicht? der die Strafe seiner Missethat fuehlte, und wenn er dieses +Leben verwuenschte, so gern auf jedes andere Leben Verzicht that? + +Sec.. 31. + +Weit weniger verschlug es, dass der und jener Israelite die +Unsterblichkeit der Seele und kuenftige Vergeltung, weil sich das +Gesetz nicht darauf bezog, gerade zu und ausdruecklich leugnete. Das +Leugnen eines Einzeln--waere es auch ein Salomo gewesen,--hielt den +Fortgang des gemeinen Verstandes nicht auf, und war an und fuer sich +selbst schon ein Beweis, dass das Volk nun einen grossen Schritt der +Wahrheit naeher gekommen war. Denn Einzelne leugnen nur, was Mehrere in +Ueberlegung ziehen; und in Ueberlegung ziehen, warum man sich vorher +ganz und gar nicht bekuemmerte, ist der halbe Weg zur Erkenntniss. + +Sec.. 32. + +Lasst uns auch bekennen, dass es ein heroischer Gehorsam ist, die +Gesetze Gottes beobachten, blos weil es Gottes Gesetze sind, und nicht, +weil er die Beobachter derselben hier und dort zu belohnen verheissen +hat; sie beobachten, ob man schon an der kuenftigen Belohnung ganz +verzweifelt, und der zeitlichen auch nicht so ganz gewiss ist. + +Sec.. 33. + +Ein Volk, in diesem heroischen Gehorsame gegen Gott erzogen, sollte es +nicht bestimmt, sollte es nicht vor allen andern faehig seyn, ganz +besondere goettliche Absichten auszufuehren?--Lasst den Soldaten, der +seinem Fuehrer blinden Gehorsam leistet, nun auch von der Klugheit +seines Fuehrers ueberzeugt werden, und sagt, was dieser Fuehrer mit ihm +auszufuehren sich nicht unterstehen darf?-- + +Sec.. 34. + +Noch hatte das juedische Volk in seinem Jehova mehr den Maechtigsten, +als den Weisesten aller Goetter verehrt; noch hatte es ihn als einen +eifrigen Gott mehr gefuerchtet, als geliebt: auch dieses zum Beweise, +dass die Begriffe, die es von seinem hoechsten einigen Gott hatte, nicht +eben die rechten Begriffe waren, die wir von Gott haben muessen. Doch +nun war die Zeit da, dass diese seine Begriffe erweitert, veredelt, +berichtiget werden sollten, wozu sich Gott eines ganz natuerlichen +Mittels bediente; eines bessern richtigern Maassstabes, nach welchem es +ihn zu schaetzen Gelegenheit bekam. + +Sec.. 35. + +Anstatt dass es ihn bisher nur gegen die armseligen Goetzen der kleinen +benachbarten rohen Voelkerschaften geschuetzt hatte, mit welchen es in +bestaendiger Eifersucht lebte: fing es in der Gefangenschaft unter dem +weisen Perser an, ihn gegen das Wesen aller Wesen zu messen, wie das +eine geuebtere Vernunft erkannte und verehrte. + +Sec.. 36. + +Die Offenbarung hatte seine Vernunft geleitet, und nun erhellte die +Vernunft auf einmal seine Offenbarung. + +Sec.. 37. + +Das war der erste wechselseitige Dienst, den beyde einander leisteten; +und dem Urheber beyder ist ein solcher gegenseitiger Einfluss so wenig +unanstaendig, dass ohne ihm eines von beyden ueberfluessig seyn wuerde. + +Sec.. 38. + +Das in die Fremde geschickte Kind sahe andere Kinder, die mehr wussten; +die anstaendiger lebten, und fragte sich beschaemt: warum weiss ich das +nicht auch? warum lebe ich nicht auch so? Haette in meines Vaters Hause +man mir das nicht auch beibringen; dazu mich nicht auch anhalten +sollen? Da sucht es seine Elementarbuecher wieder vor, die ihm laengst +zum Ekel geworden, um die Schuld auf die Elementarbuecher zu schieben. +Aber siehe! es erkennet, dass die Schuld nicht an den Buechern liege, +dass die Schuld ledig sein eigen sey, warum es nicht laengst eben das +wisse, eben so lebe. + +Sec.. 39. + +Da die Juden nunmehr, auf Veranlassung der reinern Persischen Lehre, +in ihrem Jehova nicht blos den groessten aller Nationalgoetter, sondern +Gott erkannten; da sie ihn als solchen in ihren wieder hervorgesuchten +heiligen Schriften um so eher finden und andern zeigen konnten, als er +wirklich darinn war; da sie vor allen sinnlichen Vorstellungen +desselben einen eben so grossen Abscheu bezeugten, oder doch in diesen +Schriften zu haben angewiesen wurden, als die Perser nur immer hatten: +was Wunder, dass sie vor den Augen des Cyrus mit einem Gottesdienste +Gnade fanden, den er zwar noch weit unter dem reinen Sabeismus, aber +doch auch weit ueber die groben Abgoettereyen zu seyn erkannte, die sich +dafuer des verlassnen Landes der Juden bemaechtiget hatten? + +Sec.. 40. + +So erleuchtet ueber ihre eignen unerkannten Schaetze kamen sie zurueck, +und wurden ein ganz andres Volk, dessen erste Sorge es war, diese +Erleuchtung unter sich dauerhaft zu machen. Bald war an Abfall und +Abgoetterey unter ihm nicht mehr zu denken. Denn man kann einem +Nationalgott wohl untreu werden, aber nie Gott, so bald man ihn einmal +erkannt hat. + +Sec.. 41. + +Die Gottesgelehrten haben diese gaenzliche Veraenderung des juedischen +Volks verschiedentlich zu erklaeren gesucht; und Einer, der die +Unzulaenglichkeit aller dieser verschiednen Erklaerungen sehr wohl +gezeigt hat, wollte endlich "die augenscheinliche Erfuellung der ueber +die Babylonische Gefangenschaft und die Wiederherstellung aus +derselben ausgesprochnen und aufgeschriebnen Weissagungen," fuer die +wahre Ursache derselben angeben. Aber auch diese Ursache kann nur in +so fern die wahre seyn, als sie die nun erst vereitelten Begriffe von +Gott voraus setzt. Die Juden mussten nun erst erkannt haben, dass +Wunderthun und das Kuenftige vorhersagen, nur Gott zukomme; welches +beydes sie sonst auch den falschen Goetzen beygeleget hatten, wodurch +eben Wunder und Weissagungen bisher nur einen so schwachen, +vergaenglichen Eindruck auf sie gemacht hatten. + +Sec.. 42. + +Ohne Zweifel waren die Juden unter den Chaldaeern und Persern auch mit +der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele bekannter geworden. +Vertrauter mit ihr wurden sie in den Schulen der Griechischen +Philosophen in Aegypten. + +Sec.. 43. + +Doch da es mit dieser Lehre, in Ansehung ihrer heiligen Schriften, die +Bewandniss nicht hatte, die es mit der Lehre von der Einheit und den +Eigenschaften Gottes gehabt hatte; da jene von dem sinnlichen Volke +darum war groeblich uebersehen worden, diese aber gesucht seyn wollte; +da auf diese noch Voruebungen noethig gewesen waren, und also nur +Anspielungen und Fingerzeige Statt gehabt hatten: so konnte der Glaube +an die Unsterblichkeit der Seele natuerlicher Weise nie der Glaube des +gesammten Volks werden. Er war und blieb nur der Glaube einer gewissen +Sekte desselben. + +Sec.. 44. + +Eine Voruebung auf die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, nenne +ich z. E. die goettliche Androhung, die Missethat des Vaters an seinen +Kindern bis ins dritte und vierte Glied zu strafen. Diess gewoehnte die +Vaeter in Gedanken mit ihren spaetesten Nachkommen zu leben, und das +Unglueck, welches sie ueber diese Unschuldige gebracht hatten, voraus zu +fuehlen. + +Sec.. 45. + +Eine Anspielung nenne ich, was blos die Neugierde reizen und eine +Frage veranlassen sollte. Als die oft vorkommende Redensart, zu seinen +Vaetern versammlet werden, fuer sterben. + +Sec.. 46. + +Einen Fingerzeig nenne ich, was schon irgend einen Keim enthaelt, aus +welchem sich die noch zurueckgehaltne Wahrheit entwickeln laesst. +Dergleichen war Christi Schluss aus der Benennung Gott Abrahams, Isaacs +und Jacobs. Dieser Fingerzeig scheint mir allerdings in einen strengen +Beweis ausgebildet werden zu koennen. + +Sec.. 47. + +In solchen Voruebungen, Anspielungen, Fingerzeigen besteht die positive +Vollkommenheit eines Elementarbuchs; so wie die oben erwaehnte +Eigenschaft, dass es den Weg zu den noch zurueckgehaltenen Wahrheiten +nicht erschwere, oder versperre, die negative Vollkommenheit desselben +war. + +Sec.. 48. + +Setzt hierzu noch die Einkleidung und den Stil--1) die Einkleidung +der nicht wohl zu uebergehenden abstrakten Wahrheiten in Allegorieen +und lehrreiche einzelne Faelle, die als wirklich geschehen erzaehlet +werden. Dergleichen sind die Schoepfung, unter dem Bilde des werdenden +Tages; die Quelle des moralischen Boesen, in der Erzaehlung vom +verbotnen Baume; der Ursprung der mancherlei Sprachen, in der +Geschichte vom Thurmbaue zu Babel, u. s. w. + +Sec.. 49. + +2) den Stil--bald plan und einfaeltig, bald poetisch, durchaus voll +Tavtologieen, aber solchen, die den Scharfsinn ueben, indem sie bald +etwas anders zu sagen scheinen, und doch das nehmliche sagen, bald das +nehmliche zu sagen scheinen, und im Grunde etwas anders bedeuten oder +bedeuten koennen:-- + +Sec.. 50. + +Und ihr habt alle gute Eigenschaften eines Elementarbuchs sowol fuer +Kinder, als fuer ein kindisches Volk. + +Sec.. 51. + +Aber jedes Elementarbuch ist nur fuer ein gewisses Alter. Das ihm +entwachsene Kind laenger, als die Meinung gewesen, dabey zu verweilen, +ist schaedlich. Denn um dieses auf eine nur einigermaassen nuetzliche +Art thun zu koennen, muss man mehr hineinlegen, als darum liegt; mehr +hineintragen, als es fassen kann. Man muss der Anspielungen und +Fingerzeige zu viel suchen und machen, die Allegorieen zu genau +ausschuetteln, die Beyspiele zu umstaendlich deuten, die Worte zu stark +pressen. Das giebt dem Kinde einen kleinlichen, schiefen, +spitzfindigen Verstand; das macht es geheimnissreich, aberglaeubisch, +voll Verachtung gegen alles Fassliche und Leichte. + +Sec.. 52. + +Die nehmliche Weise, wie die Rabbinen ihre heiligen Buecher behandelten! +Der nehmliche Charakter, den sie dem Geiste ihres Volks dadurch +ertheilten! + +Sec.. 53. + +Ein bessrer Paedagog muss kommen, und dem Kinde das erschoepfte +Elementarbuch aus den Haenden reissen.--Christus kam. + +Sec.. 54. + +Der Theil des Menschengeschlechts, den Gott in Einen Erziehungsplan +hatte fassen wollen--Er hatte aber nur denjenigen in Einen fassen +wollen, der durch Sprache, durch Handlung, durch Regierung, durch +andere natuerliche und politische Verhaeltnisse in sich bereits +verbunden war--war zu dem zweyten grossen Schritte der Erziehung reif. + +Sec.. 55. + +Das ist: dieser Theil des Menschengeschlechts war in der Ausuebung +seiner Vernunft so weit gekommen, dass er zu seinen moralischen +Handlungen edlere, wuerdigere Bewegungsgruende bedurfte und brauchen +konnte, als zeitliche Belohnung und Strafen waren, die ihn bisher +geleitet hatten. Das Kind wird Knabe. Leckerey und Spielwerk weicht +der aufkeimenden Begierde, eben so frey, eben so geehrt, eben so +gluecklich zu werden, als es sein aelteres Geschwister sieht. + +Sec.. 56. + +Schon laengst waren die Bessern von jenem Theile des +Menschengeschlechts gewohnt, sich durch einen Schatten solcher edlern +Bewegungsgruende regieren zu lassen. Um nach diesem Leben auch nur in +dem Andenken seiner Mitbuerger fortzuleben, that der Grieche und Roemer +alles. + +Sec.. 57. + +Es war Zeit, dass ein andres wahres nach diesem Leben zu gewaertigendes +Leben Einfluss auf seine Handlungen gewoenne. + +Sec.. 58. + +Und so ward Christus der erste zuverlaessige, praktische Lehrer der +Unsterblichkeit der Seele. + +Sec.. 59. + +Der erste zuverlaessige Lehrer.--Zuverlaessig durch die Weissagungen, +die in ihm erfuellt schienen; zuverlaessig durch die Wunder, die er +verrichtete; zuverlaessig durch seine eigene Wiederbelebung nach einem +Tode, durch den er seine Lehre versiegelt hatte. Ob wir noch itzt +diese Wiederbelebung, diese Wunder beweisen koennen: das lasse ich +dahin gestellt seyn. So, wie ich es dahin gestellt seyn lasse, wer die +Person dieses Christus gewesen. Alles das kann damals zur Annehmung +seiner Lehre wichtig gewesen seyn: itzt ist es zur Erkennung der +Wahrheit dieser Lehre so wichtig nicht mehr. + +Sec.. 60. + +Der erste praktische Lehrer.--Denn ein anders ist die Unsterblichkeit +der Seele, als eine philosophische Speculation, vermuthen, wuenschen, +glauben: ein anders, seine innern und aeussern Handlungen darnach +einrichten. + +Sec.. 61. + +Und dieses wenigstens lehrte Christus zuerst. Denn ob es gleich bey +manchen Voelkern auch schon vor ihm eingefuehrter Glaube war, dass boese +Handlungen noch in jenem Leben bestraft wuerden: so waren es doch nur +solche, die der buergerlichen Gesellschaft Nachtheil brachten, und +daher auch schon in der buergerlichen Gesellschaft ihre Strafe hatten. +Eine innere Reinigkeit des Herzens in Hinsicht auf ein andres Leben zu +empfehlen, war ihm allein vorbehalten. + +Sec.. 62. + +Seine Juenger haben diese Lehre getreulich fortgepflanzt. Und wenn sie +auch kein ander Verdienst haetten, als dass sie einer Wahrheit, die +Christus nur allein fuer die Juden bestimmt zu haben schien, einen +allgemeinem Umlauf unter mehrern Voelkern verschaft haetten: so waeren +sie schon darum unter die Pfleger und Wohlthaeter des +Menschengeschlechts zu rechnen. + +Sec.. 63. + +Dass sie aber diese Eine grosse Lehre noch mit andern Lehren versetzten, +deren Wahrheit weniger einleuchtend, deren Nutzen weniger erheblich +war: wie konnte das anders seyn? Lasst uns sie darum nicht schelten, +sondern vielmehr mit Ernst untersuchen: ob nicht selbst diese +beygemischten Lehren ein neuer Richtungsstoss fuer die menschliche +Vernunft geworden. + +Sec.. 64. + +Wenigstens ist es schon aus der Erfahrung klar, dass die +Neutestamentlichen Schriften, in welchen sich diese Lehren nach +einiger Zeit aufbewahret fanden, das zweyte bessre Elementarbuch fuer +das Menschengeschlecht abgegeben haben, und noch abgeben. + +Sec.. 65. + +Sie haben seit siebzehnhundert Jahren den menschlichen Verstand mehr +als alle andere Buecher beschaeftiget; mehr als alle andere Buecher +erleuchtet, sollte es auch nur das Licht seyn, welches der menschliche +Verstand selbst hineintrug. + +Sec.. 66. + +Unmoeglich haette irgend ein ander Buch unter so verschiednen Voelkern so +allgemein bekannt werden koennen: und unstreitig hat das, dass so ganz +ungleiche Denkungsarten sich mit diesem nehmlichen Buche beschaeftigten, +den menschlichen Verstand mehr fortgeholfen, als wenn jedes Volk fuer +sich besonders sein eignes Elementarbuch gehabt haette. + +Sec.. 67. + +Auch war es hoechst noethig, dass jedes Volk dieses Buch eine Zeit lang +fuer das Non plus ultra seiner Erkenntnisse halten musste. Denn dafuer +muss auch der Knabe sein Elementarbuch vors erste ansehen; damit die +Ungeduld, nur fertig zu werden, ihn nicht zu Dingen fortreisst, zu +welchen er noch keinen Grund gelegt hat. + +Sec.. 68. + +Und was noch itzt hoechst wichtig ist:--Huete dich, du faehigeres +Individuum, der du an dem letzten Blatte dieses Elementarbuches +stampfest und gluehest, huete dich, es deine schwaechere Mitschueler +merken zu lassen, was du witterst, oder schon zu sehn beginnest. + +Sec.. 69. + +Bis sie dir nach sind, diese schwaechere Mitschueler;--kehre lieber +noch einmal selbst in dieses Elementarbuch zurueck, und untersuche, ob +das, was du nur fuer Wendungen der Methode, fuer Lueckenbuesser der +Didaktik haeltst, auch wohl nicht etwas Mehrers ist. + +Sec.. 70. + +Du hast in der Kindheit des Menschengeschlechts an der Lehre von der +Einheit Gottes gesehen, dass Gott auch blosse Vernunftswahrheiten +unmittelbar offenbaret; oder verstattet und einleitet, dass blosse +Vernunftswahrheiten als unmittelbar geoffenbarte Wahrheiten eine Zeit +lang gelehret werden: um sie geschwinder zu verbreiten, und sie fester +zu gruenden. + +Sec.. 71. + +Du erfaehrst, in dem Knabenalter des Menschengeschlechts, an der Lehre +von der Unsterblichkeit der Seele, das Nehmliche. Sie wird in dem +zweyten bessern Elementarbuche als Offenbarung geprediget, nicht als +Resultat menschlicher Schluesse gelehret. + +Sec.. 72. + +So wie wir zur Lehre von der Einheit Gottes nunmehr des Alten +Testaments entbehren koennen; so wie wir allmaelig, zur Lehre von der +Unsterblichkeit der Seele, auch des Neuen Testaments entbehren zu +koennen anfangen: koennten in diesem nicht noch mehr dergleichen +Wahrheiten vorgespiegelt werden, die wir als Offenbarungen so lange +anstaunen sollen, bis sie die Vernunft aus ihren andern ausgemachten +Wahrheiten herleiten und mit ihnen verbinden lernen? + +Sec.. 73. + +Z. E. die Lehre von der Dreyeinigkeit.--Wie, wenn diese Lehre den +menschlichen Verstand, nach unendlichen Verirrungen rechts und links, +nur endlich auf den Weg bringen sollte, zu erkennen, dass Gott in dem +Verstande, in welchem endliche Dinge eins sind, unmoeglich eins seyn +koenne; dass auch seine Einheit eine transcendentale Einheit seyn muesse, +welche eine Art von Mehrheit nicht ausschliesst?--Muss Gott wenigstens +nicht die vollstaendigste Vorstellung von sich selbst haben? d. i. eine +Vorstellung, in der sich alles befindet, was in ihm selbst ist. Wuerde +sich aber alles in ihr finden, was in ihm selbst ist, wenn auch von +seiner nothwendigen Wirklichkeit, so wie von seinen uebrigen +Eigenschaften, sich blos eine Vorstellung, sich blos eine Moeglichkeit +faende? Diese Moeglichkeit erschoepft das Wesen seiner uebrigen +Eigenschaften: aber auch seiner nothwendigen Wirklichkeit? Mich duenkt +nicht.--Folglich kann entweder Gott gar keine vollstaendige +Vorstellung von sich selbst haben: oder diese vollstaendige Vorstellung +ist eben so nothwendig wirklich, als er es selbst ist & c.--Freylich +ist das Bild von mir im Spiegel nichts als eine leere Vorstellung von +mir, weil es nur das von mir hat, wovon Lichtstrahlen auf seine Flaeche +fallen. Aber wenn denn nun dieses Bild alles, alles ohne Ausnahme +haette, was ich selbst habe: wuerde es sodann auch noch eine leere +Vorstellung, oder nicht vielmehr eine wahre Verdopplung meines Selbst +seyn?--Wenn ich eine aehnliche Verdopplung in Gott zu erkennen glaube: +so irre ich mich vielleicht nicht so wohl, als dass die Sprache meinen +Begriffen unterliegt; und so viel bleibt doch immer unwidersprechlich, +dass diejenigen, welche die Idee davon populaer machen wollen, sich +schwerlich fasslicher und schicklicher haetten ausdruecken koennen, als +durch die Benennung eines Sohnes, den Gott von Ewigkeit zeugt. + +Sec.. 74. + +Und die Lehre von der Erbsuende.--Wie, wenn uns endlich alles +ueberfuehrte, dass der Mensch auf der ersten und niedrigsten Stufe seiner +Menschheit, schlechterdings so Herr seiner Handlungen nicht sey, dass +er moralischen Gesetzen folgen koenne? + +Sec.. 75. + +Und die Lehre von der Genugthuung des Sohnes.--Wie, wenn uns endlich +alles noethigte, anzunehmen: dass Gott, ungeachtet jener urspruenglichen +Unvermoegenheit des Menschen, ihm dennoch moralische Gesetze lieber +geben, und ihm alle Uebertretungen, in Ruecksicht auf seinen Sohn, d. i. +in Ruecksicht auf den selbststaendigen Umfang aller seiner +Vollkommenheiten, gegen den und in dem jede Unvollkommenheit des +Einzeln verschwindet, lieber verzeihen wollen; als dass er sie ihm +nicht geben, und ihn von aller moralischen Glueckseligkeit +ausschliessen wollen, die sich ohne moralische Gesetze nicht denken +laesst? + +Sec.. 76. + +Man wende nicht ein, dass dergleichen Vernuenfteleyen ueber die +Geheimnisse der Religion untersagt sind.--Das Wort Geheimniss +bedeutete, in den ersten Zeiten des Christenthums, ganz etwas anders, +als wir itzt darunter verstehen; und die Ausbildung geoffenbarter +Wahrheiten in Vernunftswahrheiten ist schlechterdings nothwendig, wenn +dem menschlichen Geschlechte damit geholfen seyn soll. Als sie +geoffenbaret wurden, waren sie freylich noch keine Vernunftswahrheiten; +aber sie wurden geoffenbaret, um es zu werden. Sie waren gleichsam +das Facit, welches der Rechenmeister seinen Schuelern voraus sagt, +damit sie sich im Rechnen einigermaassen darnach richten koennen. +Wollten sich die Schueler an dem voraus gesagten Facit begnuegen: so +wuerden sie nie rechnen lernen, und die Absicht, in welcher der gute +Meister ihnen bey ihrer Arbeit einen Leitfaden gab, schlecht erfuellen. + +Sec.. 77. + +Und warum sollten wir nicht auch durch eine Religion, mit deren +historischen Wahrheit, wenn man will, es so misslich aussieht, +gleichwohl auf naehere und bessere Begriffe vom goettlichen Wesen, von +unsrer Natur, von unsern Verhaeltnissen zu Gott, geleitet werden koennen, +auf welche die menschliche Vernunft von selbst nimmermehr gekommen +waere? + +Sec.. 78. + +Es ist nicht wahr, dass Speculationen ueber diese Dinge jemals Unheil +gestiftet, und der buergerlichen Gesellschaft nachtheilig geworden.-- +Nicht den Speculationen: dem Unsinne, der Tyranney, diesen +Speculationen zu steuern; Menschen, die ihre eigenen hatten, nicht +ihre eigenen zu goennen, ist dieser Vorwurf zu machen. + +Sec.. 79. + +Vielmehr sind dergleichen Speculationen--moegen sie im Einzeln doch +ausfallen, wie sie wollen--unstreitig die schicklichsten Uebungen des +menschlichen Verstandes ueberhaupt, so lange das menschliche Herz +ueberhaupt, hoechstens nur vermoegend ist, die Tugend wegen ihrer ewigen +glueckseligen Folgen zu lieben. + +Sec.. 80. + +Denn bey dieser Eigennuetzigkeit des menschlichen Herzens, auch den +Verstand nur allein an dem ueben wollen, was unsere koerperlichen +Beduerfnisse betrift, wuerde ihn mehr stumpfen, als wetzen heissen. Er +will schlechterdings an geistigen Gegenstaenden geuebt seyn, wenn er zu +seiner voelligen Aufklaerung gelangen, und diejenige Reinigkeit des +Herzens hervorbringen soll, die uns, die Tugend um ihrer selbst willen +zu lieben, faehig macht. + +Sec.. 81. + +Oder soll das menschliche Geschlecht auf diese hoechste Stufen der +Aufklaerung und Reinigkeit nie kommen? Nie? + +Sec.. 82. + +Nie?--Lass mich diese Laesterung nicht denken, Allguetiger!--Die +Erziehung hat ihr Ziel; bey dem Geschlechte nicht weniger als bey dem +Einzeln. Was erzogen wird, wird zu Etwas erzogen. + +Sec.. 83. + +Die schmeichelnden Aussichten, die man dem Juenglinge eroefnet; die Ehre, +der Wohlstand, die man ihm vorspiegelt: was sind sie mehr, als Mittel, +ihn zum Manne zu erziehen, der auch dann, wenn diese Aussichten der +Ehre und des Wohlstandes wegfallen, seine Pflicht zu thun vermoegend +sey. + +Sec.. 84. + +Darauf zwecke die menschliche Erziehung ab: und die goettliche reiche +dahin nicht? Was der Kunst mit dem Einzeln gelingt, sollte der Natur +nicht auch mit dem Ganzen gelingen? Laesterung! Laesterung! + +Sec.. 85. + +Nein; sie wird kommen, sie wird gewiss kommen, die Zeit der Vollendung, +da der Mensch, je ueberzeugter sein Verstand einer immer bessern +Zukunft sich fuehlet, von dieser Zukunft gleichwohl Bewegungsgruende zu +seinen Handlungen zu erborgen, nicht noethig haben wird; da er das Gute +thun wird, weil es das Gute ist, nicht weil willkuehrliche Belohnungen +darauf gesetzt sind, die seinen flatterhaften Blick ehedem blos heften +und staerken sollten, die innern bessern Belohnungen desselben zu +erkennen. + +Sec.. 86. + +Sie wird gewiss kommen, die Zeit eines neuen ewigen Evangeliums, die +uns selbst in den Elementarbuechern des Neuen Bundes versprochen wird. + +Sec.. 87. + +Vielleicht, dass selbst gewisse Schwaermer des dreizehnten und +vierzehnten Jahrhunderts einen Strahl dieses neuen ewigen Evangeliums +aufgefangen hatten; und nur darum irrten, dass sie den Ausbruch +desselben so nahe verkuendigten. + +Sec.. 88. + +Vielleicht war ihr dreyfaches Alter der Welt keine so leere Grille; +und gewiss hatten sie keine schlimme Absichten, wenn sie lehrten, dass +der Neue Bund eben so wohl antiquiret werden muesse, als es der Alte +geworden. Es blieb auch bey ihnen immer die nehmliche Oekonomie des +nehmlichen Gottes. Immer--sie meine Sprache sprechen zu lassen--der +nehmliche Plan der allgemeinen Erziehung des Menschengeschlechts. + +Sec.. 89. + +Nur dass sie ihn uebereilten; nur dass sie ihre Zeitgenossen, die noch +kaum der Kindheit entwachsen waren, ohne Aufklaerung, ohne Vorbereitung, +mit Eins zu Maennern machen zu koennen glaubten, die ihres dritten +Zeitalters wuerdig waeren. + +Sec.. 90. + +Und eben das machte sie zu Schwaermern. Der Schwaermer thut oft sehr +richtige Blicke in die Zukunft: aber er kann diese Zukunft nur nicht +erwarten. Er wuenscht diese Zukunft beschleuniget; und wuenscht, dass sie +durch ihn beschleuniget werde. Wozu sich die Natur Jahrtausende Zeit +nimmt, soll in dem Augenblicke seines Daseyns reifen. Denn was hat er +davon, wenn das, was er fuer das Bessere erkennt, nicht noch bey seinen +Lebzeiten das Bessere wird? Koemmt er wieder? Glaubt er wieder zu +kommen?--Sonderbar, dass diese Schwaermerey allein unter den Schwaermern +nicht mehr Mode werden will! + +Sec..91. + +Geh deinen unmerklichen Schritt, ewige Vorsehung! Nur lass mich dieser +Unmerklichkeit wegen an dir nicht verzweifeln.--Lass mich an dir nicht +verzweifeln, wenn selbst deine Schritte mir scheinen sollten, zurueck +zu gehen!--Es ist nicht wahr, dass die kuerzeste Linie immer die gerade +ist. + +Sec.. 92. + +Du hast auf deinem ewigen Wege so viel mitzunehmen! so viel +Seitenschritte zu thun!--Und wie? wenn es nun gar so gut als +ausgemacht waere, dass das grosse langsame Rad, welches das Geschlecht +seiner Vollkommenheit naeher bringt, nur durch kleinere schnellere +Raeder in Bewegung gesetzt wuerde, deren jedes sein Einzelnes eben dahin +liefert? + +Sec.. 93. + +Nicht anders! Eben die Bahn, auf welcher das Geschlecht zu seiner +Vollkommenheit gelangt, muss jeder einzelne Mensch (der frueher, der +spaeter) erst durchlaufen haben.--"In einem und eben demselben Leben +durchlaufen haben? Kann er in eben demselben Leben ein sinnlicher Jude +und ein geistiger Christ gewesen seyn? Kann er in eben demselben Leben +beyde ueberhohlet haben?" + +Sec.. 94. + +Das wohl nun nicht!--Aber warum koennte jeder einzelne Mensch auch +nicht mehr als einmal auf dieser Welt vorhanden gewesen seyn? + +Sec.. 95. + +Ist diese Hypothese darum so laecherlich, weil sie die aelteste ist? +weil der menschliche Verstand, ehe ihn die Sophisterey der Schule +zerstreut und geschwaecht hatte, sogleich darauf verfiel? + +Sec.. 96. + +Warum koennte auch Ich nicht hier bereits einmal alle die Schritte zu +meiner Vervollkommung gethan haben, welche blos zeitliche Strafen und +Belohnungen den Menschen bringen koennen? + +Sec.. 97. + +Und warum nicht ein andermal alle die, welche zu thun, uns die +Aussichten in ewige Belohnungen, so maechtig helfen? + +Sec.. 98. + +Warum sollte ich nicht so oft wiederkommen, als ich neue Kenntnisse, +neue Fertigkeiten zu erlangen geschickt bin? Bringe ich auf Einmal so +viel weg, dass es der Muehe wieder zu kommen etwa nicht lohnet? + +Sec.. 99. + +Darum nicht?--Oder, weil ich es vergesse, dass ich schon da gewesen? +Wohl mir, dass ich das vergesse. Die Erinnerung meiner vorigen Zustaende, +wuerde mir nur einen schlechten Gebrauch des gegenwaertigen zu machen +erlauben. Und was ich auf itzt vergessen muss, habe ich denn das auf +ewig vergessen? + +Sec.. 100. + +Oder, weil so zu viel Zeit fuer mich verloren gehen wuerde?--Verloren? +--Und was habe ich denn zu versaeumen? Ist nicht die ganze Ewigkeit +mein? + + +Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes Die Erziehung des +Menschengeschlechts, von Gotthold Ephraim Lessing. + + + + + +End of the Project Gutenberg EBook of Die Erziehung des Menschengeschlechts +by Gotthold Ephraim Lessing + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE ERZIEHUNG DES *** + +This file should be named 7mens10.txt or 7mens10.zip +Corrected EDITIONS of our eBooks get a new NUMBER, 7mens11.txt +VERSIONS based on separate sources get new LETTER, 7mens10a.txt + +Produced by Delphine Letttau. The book content was graciously +contributed by the Gutenberg Projekt-DE. + +Project Gutenberg eBooks are often created from several printed +editions, all of which are confirmed as Public Domain in the US +unless a copyright notice is included. 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The book content was graciously +contributed by the Gutenberg Projekt-DE. + + + + +This book content was graciously contributed by the Gutenberg Projekt-DE. +That project is reachable at the web site http://gutenberg.spiegel.de/. + +Dieses Buch wurde uns freundlicherweise vom "Gutenberg Projekt-DE" +zur Verfügung gestellt. Das Projekt ist unter der Internet-Adresse +http://gutenberg.spiegel.de/ erreichbar. + + + + +Die Erziehung des Menschengeschlechts + +Gotthold Ephraim Lessing + + +Haec omnia inde esse quibusdam vera, + unde in quibusdam falsa sunt. +Augustinus. + + + + +Herausgegeben von Gotthold Ephraim Lessing +Berlin, 1780 + + + + +Vorbericht des Herausgebers. + +Ich habe die erste Hälfte dieses Aufsatzes in meinen Beyträgen bekannt +gemacht. Itzt bin ich im Stande, das Uebrige nachfolgen zu lassen. + +Der Verfasser hat sich darum auf einen Hügel gestellt, von welchem er +etwas mehr, als den vorgeschriebenen Weg seines heutigen Tages zu +übersehen glaubt. + +Aber er ruft keinen eilfertigen Wanderer, der nur das Nachtlager bald +zu erreichen wünscht, von seinem Pfade. Er verlangt nicht, daß die +Aussicht, die ihn entzücket, auch jedes andere Auge entzücken müsse. + +Und so, dächte ich, könnte man ihn ja wohl stehen und staunen lassen, +wo er steht und staunt! + +Wenn er aus der unermeßlichen Ferne, die ein sanftes Abendroth seinem +Blicke weder ganz verhüllt noch ganz entdeckt, nun gar einen +Fingerzeig mitbrachte, um den ich oft verlegen gewesen! + +Ich meyne diesen.--Warum wollen wir in allen positiven Religionen +nicht lieber weiter nichts, als den Gang erblicken, nach welchem sich +der menschliche Verstand jedes Orts einzig und allein entwickeln +können, und noch ferner entwickeln soll; als über eine derselben +entweder lächeln, oder zürnen? Diesen unsern Hohn, diesen unsern +Unwillen, verdiente in der besten Welt nichts: und nur die Religionen +sollten ihn verdienen? Gott hätte seine Hand bey allem im Spiele: nur +bey unsern Irrthümern nicht? + + + + + +§. 1. + +Was die Erziehung bey dem einzeln Menschen ist, ist die Offenbarung +bey dem ganzen Menschengeschlechte. + +§. 2. + +Erziehung ist Offenbarung, die dem einzeln Menschen geschieht: und +Offenbarung ist Erziehung, die dem Menschengeschlechte geschehen ist, +und noch geschieht. + +§. 3. + +Ob die Erziehung aus diesem Gesichtspunkte zu betrachten, in der +Pädagogik Nutzen haben kann, will ich hier nicht untersuchen. Aber in +der Theologie kann es gewiß sehr großen Nutzen haben, und viele +Schwierigkeiten heben, wenn man sich die Offenbarung als eine +Erziehung des Menschengeschlechts vorstellet. + +§. 4. + +Erziehung giebt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst +haben könnte: sie giebt ihm das, was er aus sich selber haben könnte, +nur geschwinder und leichter. Also giebt auch die Offenbarung dem +Menschengeschlechte nichts, worauf die menschliche Vernunft, sich +selbst überlassen, nicht auch kommen würde: sondern sie gab und giebt +ihm die wichtigsten dieser Dinge nur früher. + +§ 5. + +Und so wie es der Erziehung nicht gleichgültig ist, in welcher Ordnung +sie die Kräfte des Menschen entwickelt; wie sie dem Menschen nicht +alles auf einmal beibringen kann: eben so hat auch Gott bey seiner +Offenbarung eine gewisse Ordnung, ein gewisses Maaß halten müssen. + +§. 6. + +Wenn auch der erste Mensch mit einem Begriffe von einem Einigen Gotte +sofort ausgestattet wurde: so konnte doch dieser mitgetheilte, und +nicht erworbene Begriff, unmöglich lange in seiner Lauterkeit bestehen. +Sobald ihn die sich selbst überlassene menschliche Vernunft zu +bearbeiten anfing, zerlegte sie den Einzigen Unermeßlichen in mehrere +Ermeßlichere, und gab jedem dieser Theile ein Merkzeichen. + +§. 7. + +So entstand natürlicher Weise Vielgötterey und Abgötterey. Und wer +weiß, wie viele Millionen Jahre sich die menschliche Vernunft noch in +diesen Irrwegen würde herumgetrieben haben; ohngeachtet überall und zu +allen Zeiten einzelne Menschen erkannten, daß es Irrwege waren: wenn +es Gott nicht gefallen hätte, ihr durch einen neuen Stoß eine bessere +Richtung zu geben. + +§. 8. + +Da er aber einem jeden einzeln Menschen sich nicht mehr offenbaren +konnte, noch wollte: so wählte er sich ein einzelnes Volk zu seiner +besondern Erziehung; und eben das ungeschliffenste, das verwildertste, +um mit ihm ganz von vorne anfangen zu können. + +§. 9. + +Dieß war das Israelitische Volk, von welchem man gar nicht einmal weiß, +was es für einen Gottesdienst in Aegypten hatte. Denn an dem +Gottesdienste der Aegyptier durften so verachtete Sklaven nicht Theil +nehmen: und der Gott seiner Väter war ihm gänzlich unbekannt geworden. + +§. 10. + +Vielleicht, daß ihm die Aegyptier allen Gott, alle Götter ausdrücklich +untersagt hatten; es in den Glauben gestürzt hatten, es habe gar +keinen Gott, gar keine Götter; Gott, Götter haben, sey nur ein +Vorrecht der bessern Aegyptier: und das, um es mit so viel größerm +Anscheine von Billigkeit tyrannisiren zu dürfen.--Machen Christen es +mit ihren Sklaven noch itzt viel anders?-- + +§. 11. + +Diesem rohen Volke also ließ sich Gott anfangs blos als den Gott +seiner Väter ankündigen, um es nur erst mit der Idee eines auch ihm +zustehenden Gottes bekannt und vertraut zu machen. + +§. 12. + +Durch die Wunder, mit welchen er es aus Aegypten führte, und in Kanaan +einsetzte, bezeugte er sich ihm gleich darauf als einen Gott, der +mächtiger sey, als irgend ein andrer Gott. + +§. 13. + +Und indem er fortfuhr, sich ihm als den Mächtigsten von allen zu +bezeugen--welches doch nur einer seyn kann,--gewöhnte er es allmälig +zu dem Begriffe des Einigen. + +§. 14. + +Aber wie weit war dieser Begriff des Einigen, noch unter dem wahren +transcendentalen Begriffe des Einigen, welchen die Vernunft so spät +erst aus dem Begriffe des Unendlichen mit Sicherheit schließen lernen! + +§. 15. + +Zu dem wahren Begriffe des Einigen--wenn sich ihm auch schon die +Besserern des Volks mehr oder weniger näherten--konnte sich doch das +Volk lange nicht erheben: und dieses war die einzige wahre Ursache, +warum es so oft seinen Einigen Gott verließ, und den Einigen, d. i. +Mächtigsten, in irgend einem andern Gotte eines andern Volks zu finden +glaubte. + +§. 16. + +Ein Volk aber, das so roh, so ungeschickt zu abgezognen Gedanken war, +noch so völlig in seiner Kindheit war, was war es für einer +moralischen Erziehung fähig? Keiner andern, als die dem Alter der +Kindheit entspricht. Der Erziehung durch unmittelbare sinnliche +Strafen und Belohnungen. + +§. 17. + +Auch hier also treffen Erziehung und Offenbarung zusammen. Noch konnte +Gott seinem Volke keine andere Religion, kein anders Gesetz geben, als +eines, durch dessen Beobachtung oder Nichtbeobachtung es hier auf +Erden glücklich oder unglücklich zu werden hoffte oder fürchtete. Denn +weiter als auf dieses Leben gingen noch seine Blicke nicht. Es wußte +von keiner Unsterblichkeit der Seele; es sehnte sich nach keinem +künftigen Leben. Ihm aber nun schon diese Dinge zu offenbaren, welchen +seine Vernunft noch so wenig gewachsen war: was würde es bey Gott +anders gewesen seyn, als der Fehler des eiteln Pädagogen, der sein +Kind lieber übereilen und mit ihm prahlen, als gründlich unterrichten +will. + +§. 18. + +Allein wozu, wird man fragen, diese Erziehung eines so rohen Volkes, +eines Volkes, mit welchem Gott so ganz von vorne anfangen mußte? Ich +antworte: um in der Folge der Zeit einzelne Glieder desselben so viel +sichrer zu Erziehern aller übrigen Völker brauchen zu können. Er erzog +in ihm die künftigen Erzieher des Menschengeschlechts. Das wurden +Juden, das konnten nur Juden werden, nur Männer aus einem so erzogenen +Volke. + +§. 19. + +Denn weiter. Als das Kind unter Schlägen und Liebkosungen aufgewachsen +und nun zu Jahren des Verstandes gekommen war, stieß es der Vater auf +einmal in die Fremde; und hier erkannte es auf einmal das Gute, das es +in seines Vaters Hause gehabt und nicht erkannt hatte. + +§. 20. + +Während daß Gott sein erwähltes Volk durch alle Staffeln einer +kindischen Erziehung führte: waren die andern Völker des Erdbodens bey +dem Lichte der Vernunft ihren Weg fortgegangen. Die meisten derselben +waren weit hinter dem erwählten Volke zurückgeblieben: nur einige +waren ihm zuvorgekommen. Und auch das geschieht bey Kindern, die man +für sich aufwachsen läßt; viele bleiben ganz roh; einige bilden sich +zum Erstaunen selbst. + +§. 21. + +Wie aber diese glücklichern Einige nichts gegen den Nutzen und die +Nothwendigkeit der Erziehung beweisen: so beweisen die wenigen +heidnischen Völker, die selbst in der Erkenntniß Gottes vor dem +erwählten Volke noch bis itzt einen Vorsprung zu haben schienen, +nichts gegen die Offenbarung. Das Kind der Erziehung fängt mit +langsamen aber sichern Schritten an; es hohlt manches glücklicher +organisirte Kind der Natur spät ein; aber es hohlt es doch ein, und +ist alsdann nie wieder von ihm einzuholen. + +§. 22. + +Auf gleiche Weise. Daß,--die Lehre von der Einheit Gottes bey Seite +gesetzt, welche in den Büchern des Alten Testaments sich findet, und +sich nicht findet--daß, sage ich, wenigstens die Lehre von der +Unsterblichkeit der Seele, und die damit verbundene Lehre von Strafe +und Belohnung in einem künftigen Leben, darum völlig fremd sind: +beweiset eben so wenig wider den göttlichen Ursprung dieser Bücher. Es +kann dem ohngeachtet mit allen darinn enthaltenen Wundern und +Prophezeyungen seine gute Richtigkeit haben. Denn laßt uns setzen, +jene Lehren würden nicht allein darinn vermißt, jene Lehren wären auch +sogar nicht einmal wahr, laßt uns setzen, es wäre wirklich für die +Menschen in diesem Leben alles aus: wäre darum das Daseyn Gottes +minder erwiesen? stünde es darum Gotte minder frey, würde es darum +Gotte minder ziemen, sich der zeitlichen Schicksale irgend eines Volks +aus diesem vergänglichen Geschlechte unmittelbar anzunehmen? Die +Wunder, die er für die Juden that, die Prophezeyungen, die er durch +sie aufzeichnen ließ, waren ja nicht blos für die wenigen sterblichen +Juden, zu deren Zeiten sie geschahen und aufgezeichnet wurden: er +hatte seine Absichten damit auf das ganze jüdische Volk, auf das ganze +Menschengeschlecht, die hier auf Erden vielleicht ewig dauern sollen, +wenn schon jeder einzelne Jude, jeder einzelne Mensch auf immer dahin +stirbt. + +§. 23. + +Noch einmal. Der Mangel jener Lehren in den Schriften des Alten +Testaments beweiset wider ihre Göttlichkeit nichts. Moses war doch von +Gott gesandt, obschon die Sanktion seines Gesetzes sich nur auf dieses +Leben erstreckte. Denn warum weiter? Er war ja nur an das +Israelitische Volk, an das damalige Israelitische Volk gesandt: und +sein Auftrag war den Kenntnissen, den Fähigkeiten, den Neigungen +dieses damaligen israelitischen Volks, so wie der Bestimmung des +künftigen, vollkommen angemessen. Das ist genug. + +§. 24. + +So weit hätte Warburton auch nur gehen müssen, und nicht weiter. Aber +der gelehrte Mann überspannte den Bogen. Nicht zufrieden, daß der +Mangel jener Lehren der göttlichen Sendung Mosis nichts schade: er +sollte ihm die göttliche Sendung Mosis sogar beweisen. Und wenn er +diesen Beweis noch aus der Schicklichkeit eines solchen Gesetzes für +ein solches Volk zu führen gesucht hätte! Aber er nahm seine Zuflucht +zu einem von Mose bis auf Christum ununterbrochen fortdaurenden Wunder, +nach welchem Gott einen jeden einzeln Juden gerade so glücklich oder +unglücklich gemacht habe, als es dessen Gehorsam oder Ungehorsam gegen +das Gesetz verdiente. Dieses Wunder habe den Mangel jener Lehren, ohne +welche kein Staat bestehen könne, ersetzt; und eine solche Ersetzung +eben beweise, was jener Mangel, auf den ersten Anblick, zu verneinen +scheine. + +§. 25. + +Wie gut war es, daß Warburton dieses anhaltende Wunder, in welches er +das Wesentliche der Israelitischen Theokratie setzte, durch nichts +erhärten, durch nichts wahrscheinlich machen konnte. Denn hätte er das +gekonnt; wahrlich--alsdenn erst hätte er die Schwierigkeit +unauflöslich gemacht.--Mir wenigstens.--Denn was die Göttlichkeit +der Sendung Mosis wieder herstellen sollte, würde an der Sache selbst +zweifelhaft gemacht haben, die Gott zwar damals nicht mittheilen, aber +doch gewiß auch nicht erschweren wollte. + +§. 26. + +Ich erkläre mich an dem Gegenbilde der Offenbarung. Ein Elementarbuch +für Kinder, darf gar wohl dieses oder jenes wichtige Stück der +Wissenschaft oder Kunst, die es vorträgt, mit Stillschweigen übergehen, +von dem der Pädagog urtheilte, daß es den Fähigkeiten der Kinder, für +die er schrieb, noch nicht angemessen sey. Aber es darf +schlechterdings nichts enthalten, was den Kindern den Weg zu den +zurückbehaltnen wichtigen Stücken versperre oder verlege. Vielmehr +müssen ihnen alle Zugänge zu denselben sorgfältig offen gelassen +werden: und sie nur von einem einzigen dieser Zugänge ableiten, oder +verursachen, daß sie denselben später betreten, würde allein die +Unvollständigkeit des Elementarbuchs zu einem wesentlichen Fehler +desselben machen. + +§ 27. + +Also auch konnten in den Schriften des Alten Testaments, in diesen +Elementarbüchern für das rohe und im Denken ungeübte Israelitische +Volk, die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele und künftigen +Vergeltung gar wohl mangeln: aber enthalten durften sie +schlechterdings nichts, was das Volk, für das sie geschrieben waren, +auf dem Wege zu dieser großen Wahrheit auch nur verspätet hätte. Und +was hätte es, wenig zu sagen, mehr dahin verspätet, als wenn jene +wunderbare Vergeltung in diesem Leben darinn wäre versprochen, und von +dem wäre versprochen worden, der nichts verspricht, was er nicht hält? + +§. 28. + +Denn wenn schon aus der ungleichen Austheilung der Güter dieses Lebens, +bey der auf Tugend und Laster so wenig Rücksicht genommen zu seyn +scheinet, eben nicht der strengste Beweis für die Unsterblichkeit der +Seele und für ein anders Leben, in welchem jener Knoten sich auflöse, +zu führen: so ist doch wohl gewiß, daß der menschliche Verstand ohne +jenem Knoten noch lange nicht--und vielleicht auch nie--auf bessere +und strengere Beweise gekommen wäre. Denn was sollte ihn antreiben +können, diese bessern Beweise zu suchen? Die blosse Neugierde? + +§. 29. + +Der und jener Israelite mochte freylich wohl die göttlichen +Versprechungen und Androhungen, die sich auf den gesammten Staat +bezogen, auf jedes einzelne Glied desselben erstrecken, und in dem +festen Glauben stehen, daß wer fromm sey auch glücklich seyn müsse, +und wer unglücklich sey, oder werde, die Strafe seiner Missethat trage, +welche sich sofort wieder in Segen verkehre, sobald er von seiner +Missethat ablasse.--Ein solcher scheinet den Hiob geschrieben zu +haben; denn der Plan desselben ist ganz in diesem Geiste.-- + +§. 30. + +Aber unmöglich durfte die tägliche Erfahrung diesen Glauben bestärken: +oder es war auf immer bey dem Volke, das diese Erfahrung hatte, auf +immer um die Erkennung und Aufnahme der ihm noch ungeläufigen Wahrheit +geschehen. Denn wenn der Fromme schlechterdings glücklich war, und es +zu seinem Glücke doch wohl auch mit gehörte, daß seine Zufriedenheit +keine schrecklichen Gedanken des Todes unterbrachen, daß er alt und +lebenssatt starb: wie konnte er sich nach einem andern Leben sehnen? +wie konnte er über etwas nachdenken, wornach er sich nicht sehnte? +Wenn aber der Fromme darüber nicht nachdachte: wer sollte es denn? Der +Bösewicht? der die Strafe seiner Missethat fühlte, und wenn er dieses +Leben verwünschte, so gern auf jedes andere Leben Verzicht that? + +§. 31. + +Weit weniger verschlug es, daß der und jener Israelite die +Unsterblichkeit der Seele und künftige Vergeltung, weil sich das +Gesetz nicht darauf bezog, gerade zu und ausdrücklich leugnete. Das +Leugnen eines Einzeln--wäre es auch ein Salomo gewesen,--hielt den +Fortgang des gemeinen Verstandes nicht auf, und war an und für sich +selbst schon ein Beweis, daß das Volk nun einen großen Schritt der +Wahrheit näher gekommen war. Denn Einzelne leugnen nur, was Mehrere in +Ueberlegung ziehen; und in Ueberlegung ziehen, warum man sich vorher +ganz und gar nicht bekümmerte, ist der halbe Weg zur Erkenntniß. + +§. 32. + +Laßt uns auch bekennen, daß es ein heroischer Gehorsam ist, die +Gesetze Gottes beobachten, blos weil es Gottes Gesetze sind, und nicht, +weil er die Beobachter derselben hier und dort zu belohnen verheissen +hat; sie beobachten, ob man schon an der künftigen Belohnung ganz +verzweifelt, und der zeitlichen auch nicht so ganz gewiß ist. + +§. 33. + +Ein Volk, in diesem heroischen Gehorsame gegen Gott erzogen, sollte es +nicht bestimmt, sollte es nicht vor allen andern fähig seyn, ganz +besondere göttliche Absichten auszuführen?--Laßt den Soldaten, der +seinem Führer blinden Gehorsam leistet, nun auch von der Klugheit +seines Führers überzeugt werden, und sagt, was dieser Führer mit ihm +auszuführen sich nicht unterstehen darf?-- + +§. 34. + +Noch hatte das jüdische Volk in seinem Jehova mehr den Mächtigsten, +als den Weisesten aller Götter verehrt; noch hatte es ihn als einen +eifrigen Gott mehr gefürchtet, als geliebt: auch dieses zum Beweise, +daß die Begriffe, die es von seinem höchsten einigen Gott hatte, nicht +eben die rechten Begriffe waren, die wir von Gott haben müssen. Doch +nun war die Zeit da, daß diese seine Begriffe erweitert, veredelt, +berichtiget werden sollten, wozu sich Gott eines ganz natürlichen +Mittels bediente; eines bessern richtigern Maaßstabes, nach welchem es +ihn zu schätzen Gelegenheit bekam. + +§. 35. + +Anstatt daß es ihn bisher nur gegen die armseligen Götzen der kleinen +benachbarten rohen Völkerschaften geschützt hatte, mit welchen es in +beständiger Eifersucht lebte: fing es in der Gefangenschaft unter dem +weisen Perser an, ihn gegen das Wesen aller Wesen zu messen, wie das +eine geübtere Vernunft erkannte und verehrte. + +§. 36. + +Die Offenbarung hatte seine Vernunft geleitet, und nun erhellte die +Vernunft auf einmal seine Offenbarung. + +§. 37. + +Das war der erste wechselseitige Dienst, den beyde einander leisteten; +und dem Urheber beyder ist ein solcher gegenseitiger Einfluß so wenig +unanständig, daß ohne ihm eines von beyden überflüssig seyn würde. + +§. 38. + +Das in die Fremde geschickte Kind sahe andere Kinder, die mehr wußten; +die anständiger lebten, und fragte sich beschämt: warum weiß ich das +nicht auch? warum lebe ich nicht auch so? Hätte in meines Vaters Hause +man mir das nicht auch beibringen; dazu mich nicht auch anhalten +sollen? Da sucht es seine Elementarbücher wieder vor, die ihm längst +zum Ekel geworden, um die Schuld auf die Elementarbücher zu schieben. +Aber siehe! es erkennet, daß die Schuld nicht an den Büchern liege, +daß die Schuld ledig sein eigen sey, warum es nicht längst eben das +wisse, eben so lebe. + +§. 39. + +Da die Juden nunmehr, auf Veranlassung der reinern Persischen Lehre, +in ihrem Jehova nicht blos den größten aller Nationalgötter, sondern +Gott erkannten; da sie ihn als solchen in ihren wieder hervorgesuchten +heiligen Schriften um so eher finden und andern zeigen konnten, als er +wirklich darinn war; da sie vor allen sinnlichen Vorstellungen +desselben einen eben so großen Abscheu bezeugten, oder doch in diesen +Schriften zu haben angewiesen wurden, als die Perser nur immer hatten: +was Wunder, daß sie vor den Augen des Cyrus mit einem Gottesdienste +Gnade fanden, den er zwar noch weit unter dem reinen Sabeismus, aber +doch auch weit über die groben Abgöttereyen zu seyn erkannte, die sich +dafür des verlaßnen Landes der Juden bemächtiget hatten? + +§. 40. + +So erleuchtet über ihre eignen unerkannten Schätze kamen sie zurück, +und wurden ein ganz andres Volk, dessen erste Sorge es war, diese +Erleuchtung unter sich dauerhaft zu machen. Bald war an Abfall und +Abgötterey unter ihm nicht mehr zu denken. Denn man kann einem +Nationalgott wohl untreu werden, aber nie Gott, so bald man ihn einmal +erkannt hat. + +§. 41. + +Die Gottesgelehrten haben diese gänzliche Veränderung des jüdischen +Volks verschiedentlich zu erklären gesucht; und Einer, der die +Unzulänglichkeit aller dieser verschiednen Erklärungen sehr wohl +gezeigt hat, wollte endlich "die augenscheinliche Erfüllung der über +die Babylonische Gefangenschaft und die Wiederherstellung aus +derselben ausgesprochnen und aufgeschriebnen Weissagungen," für die +wahre Ursache derselben angeben. Aber auch diese Ursache kann nur in +so fern die wahre seyn, als sie die nun erst vereitelten Begriffe von +Gott voraus setzt. Die Juden mußten nun erst erkannt haben, daß +Wunderthun und das Künftige vorhersagen, nur Gott zukomme; welches +beydes sie sonst auch den falschen Götzen beygeleget hatten, wodurch +eben Wunder und Weissagungen bisher nur einen so schwachen, +vergänglichen Eindruck auf sie gemacht hatten. + +§. 42. + +Ohne Zweifel waren die Juden unter den Chaldäern und Persern auch mit +der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele bekannter geworden. +Vertrauter mit ihr wurden sie in den Schulen der Griechischen +Philosophen in Aegypten. + +§. 43. + +Doch da es mit dieser Lehre, in Ansehung ihrer heiligen Schriften, die +Bewandniß nicht hatte, die es mit der Lehre von der Einheit und den +Eigenschaften Gottes gehabt hatte; da jene von dem sinnlichen Volke +darum war gröblich übersehen worden, diese aber gesucht seyn wollte; +da auf diese noch Vorübungen nöthig gewesen waren, und also nur +Anspielungen und Fingerzeige Statt gehabt hatten: so konnte der Glaube +an die Unsterblichkeit der Seele natürlicher Weise nie der Glaube des +gesammten Volks werden. Er war und blieb nur der Glaube einer gewissen +Sekte desselben. + +§. 44. + +Eine Vorübung auf die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, nenne +ich z. E. die göttliche Androhung, die Missethat des Vaters an seinen +Kindern bis ins dritte und vierte Glied zu strafen. Dieß gewöhnte die +Väter in Gedanken mit ihren spätesten Nachkommen zu leben, und das +Unglück, welches sie über diese Unschuldige gebracht hatten, voraus zu +fühlen. + +§. 45. + +Eine Anspielung nenne ich, was blos die Neugierde reizen und eine +Frage veranlassen sollte. Als die oft vorkommende Redensart, zu seinen +Vätern versammlet werden, für sterben. + +§. 46. + +Einen Fingerzeig nenne ich, was schon irgend einen Keim enthält, aus +welchem sich die noch zurückgehaltne Wahrheit entwickeln läßt. +Dergleichen war Christi Schluß aus der Benennung Gott Abrahams, Isaacs +und Jacobs. Dieser Fingerzeig scheint mir allerdings in einen strengen +Beweis ausgebildet werden zu können. + +§. 47. + +In solchen Vorübungen, Anspielungen, Fingerzeigen besteht die positive +Vollkommenheit eines Elementarbuchs; so wie die oben erwähnte +Eigenschaft, daß es den Weg zu den noch zurückgehaltenen Wahrheiten +nicht erschwere, oder versperre, die negative Vollkommenheit desselben +war. + +§. 48. + +Setzt hierzu noch die Einkleidung und den Stil--1) die Einkleidung +der nicht wohl zu übergehenden abstrakten Wahrheiten in Allegorieen +und lehrreiche einzelne Fälle, die als wirklich geschehen erzählet +werden. Dergleichen sind die Schöpfung, unter dem Bilde des werdenden +Tages; die Quelle des moralischen Bösen, in der Erzählung vom +verbotnen Baume; der Ursprung der mancherlei Sprachen, in der +Geschichte vom Thurmbaue zu Babel, u. s. w. + +§. 49. + +2) den Stil--bald plan und einfältig, bald poetisch, durchaus voll +Tavtologieen, aber solchen, die den Scharfsinn üben, indem sie bald +etwas anders zu sagen scheinen, und doch das nehmliche sagen, bald das +nehmliche zu sagen scheinen, und im Grunde etwas anders bedeuten oder +bedeuten können:-- + +§. 50. + +Und ihr habt alle gute Eigenschaften eines Elementarbuchs sowol für +Kinder, als für ein kindisches Volk. + +§. 51. + +Aber jedes Elementarbuch ist nur für ein gewisses Alter. Das ihm +entwachsene Kind länger, als die Meinung gewesen, dabey zu verweilen, +ist schädlich. Denn um dieses auf eine nur einigermaassen nützliche +Art thun zu können, muß man mehr hineinlegen, als darum liegt; mehr +hineintragen, als es fassen kann. Man muß der Anspielungen und +Fingerzeige zu viel suchen und machen, die Allegorieen zu genau +ausschütteln, die Beyspiele zu umständlich deuten, die Worte zu stark +pressen. Das giebt dem Kinde einen kleinlichen, schiefen, +spitzfindigen Verstand; das macht es geheimnißreich, abergläubisch, +voll Verachtung gegen alles Faßliche und Leichte. + +§. 52. + +Die nehmliche Weise, wie die Rabbinen ihre heiligen Bücher behandelten! +Der nehmliche Charakter, den sie dem Geiste ihres Volks dadurch +ertheilten! + +§. 53. + +Ein bessrer Pädagog muß kommen, und dem Kinde das erschöpfte +Elementarbuch aus den Händen reißen.--Christus kam. + +§. 54. + +Der Theil des Menschengeschlechts, den Gott in Einen Erziehungsplan +hatte fassen wollen--Er hatte aber nur denjenigen in Einen fassen +wollen, der durch Sprache, durch Handlung, durch Regierung, durch +andere natürliche und politische Verhältnisse in sich bereits +verbunden war--war zu dem zweyten großen Schritte der Erziehung reif. + +§. 55. + +Das ist: dieser Theil des Menschengeschlechts war in der Ausübung +seiner Vernunft so weit gekommen, daß er zu seinen moralischen +Handlungen edlere, würdigere Bewegungsgründe bedurfte und brauchen +konnte, als zeitliche Belohnung und Strafen waren, die ihn bisher +geleitet hatten. Das Kind wird Knabe. Leckerey und Spielwerk weicht +der aufkeimenden Begierde, eben so frey, eben so geehrt, eben so +glücklich zu werden, als es sein älteres Geschwister sieht. + +§. 56. + +Schon längst waren die Bessern von jenem Theile des +Menschengeschlechts gewohnt, sich durch einen Schatten solcher edlern +Bewegungsgründe regieren zu lassen. Um nach diesem Leben auch nur in +dem Andenken seiner Mitbürger fortzuleben, that der Grieche und Römer +alles. + +§. 57. + +Es war Zeit, daß ein andres wahres nach diesem Leben zu gewärtigendes +Leben Einfluß auf seine Handlungen gewönne. + +§. 58. + +Und so ward Christus der erste zuverlässige, praktische Lehrer der +Unsterblichkeit der Seele. + +§. 59. + +Der erste zuverlässige Lehrer.--Zuverlässig durch die Weissagungen, +die in ihm erfüllt schienen; zuverlässig durch die Wunder, die er +verrichtete; zuverlässig durch seine eigene Wiederbelebung nach einem +Tode, durch den er seine Lehre versiegelt hatte. Ob wir noch itzt +diese Wiederbelebung, diese Wunder beweisen können: das lasse ich +dahin gestellt seyn. So, wie ich es dahin gestellt seyn lasse, wer die +Person dieses Christus gewesen. Alles das kann damals zur Annehmung +seiner Lehre wichtig gewesen seyn: itzt ist es zur Erkennung der +Wahrheit dieser Lehre so wichtig nicht mehr. + +§. 60. + +Der erste praktische Lehrer.--Denn ein anders ist die Unsterblichkeit +der Seele, als eine philosophische Speculation, vermuthen, wünschen, +glauben: ein anders, seine innern und äussern Handlungen darnach +einrichten. + +§. 61. + +Und dieses wenigstens lehrte Christus zuerst. Denn ob es gleich bey +manchen Völkern auch schon vor ihm eingeführter Glaube war, daß böse +Handlungen noch in jenem Leben bestraft würden: so waren es doch nur +solche, die der bürgerlichen Gesellschaft Nachtheil brachten, und +daher auch schon in der bürgerlichen Gesellschaft ihre Strafe hatten. +Eine innere Reinigkeit des Herzens in Hinsicht auf ein andres Leben zu +empfehlen, war ihm allein vorbehalten. + +§. 62. + +Seine Jünger haben diese Lehre getreulich fortgepflanzt. Und wenn sie +auch kein ander Verdienst hätten, als daß sie einer Wahrheit, die +Christus nur allein für die Juden bestimmt zu haben schien, einen +allgemeinem Umlauf unter mehrern Völkern verschaft hätten: so wären +sie schon darum unter die Pfleger und Wohlthäter des +Menschengeschlechts zu rechnen. + +§. 63. + +Daß sie aber diese Eine große Lehre noch mit andern Lehren versetzten, +deren Wahrheit weniger einleuchtend, deren Nutzen weniger erheblich +war: wie konnte das anders seyn? Laßt uns sie darum nicht schelten, +sondern vielmehr mit Ernst untersuchen: ob nicht selbst diese +beygemischten Lehren ein neuer Richtungsstoß für die menschliche +Vernunft geworden. + +§. 64. + +Wenigstens ist es schon aus der Erfahrung klar, daß die +Neutestamentlichen Schriften, in welchen sich diese Lehren nach +einiger Zeit aufbewahret fanden, das zweyte beßre Elementarbuch für +das Menschengeschlecht abgegeben haben, und noch abgeben. + +§. 65. + +Sie haben seit siebzehnhundert Jahren den menschlichen Verstand mehr +als alle andere Bücher beschäftiget; mehr als alle andere Bücher +erleuchtet, sollte es auch nur das Licht seyn, welches der menschliche +Verstand selbst hineintrug. + +§. 66. + +Unmöglich hätte irgend ein ander Buch unter so verschiednen Völkern so +allgemein bekannt werden können: und unstreitig hat das, daß so ganz +ungleiche Denkungsarten sich mit diesem nehmlichen Buche beschäftigten, +den menschlichen Verstand mehr fortgeholfen, als wenn jedes Volk für +sich besonders sein eignes Elementarbuch gehabt hätte. + +§. 67. + +Auch war es höchst nöthig, daß jedes Volk dieses Buch eine Zeit lang +für das Non plus ultra seiner Erkenntnisse halten mußte. Denn dafür +muß auch der Knabe sein Elementarbuch vors erste ansehen; damit die +Ungeduld, nur fertig zu werden, ihn nicht zu Dingen fortreißt, zu +welchen er noch keinen Grund gelegt hat. + +§. 68. + +Und was noch itzt höchst wichtig ist:--Hüte dich, du fähigeres +Individuum, der du an dem letzten Blatte dieses Elementarbuches +stampfest und glühest, hüte dich, es deine schwächere Mitschüler +merken zu lassen, was du witterst, oder schon zu sehn beginnest. + +§. 69. + +Bis sie dir nach sind, diese schwächere Mitschüler;--kehre lieber +noch einmal selbst in dieses Elementarbuch zurück, und untersuche, ob +das, was du nur für Wendungen der Methode, für Lückenbüsser der +Didaktik hältst, auch wohl nicht etwas Mehrers ist. + +§. 70. + +Du hast in der Kindheit des Menschengeschlechts an der Lehre von der +Einheit Gottes gesehen, daß Gott auch bloße Vernunftswahrheiten +unmittelbar offenbaret; oder verstattet und einleitet, daß bloße +Vernunftswahrheiten als unmittelbar geoffenbarte Wahrheiten eine Zeit +lang gelehret werden: um sie geschwinder zu verbreiten, und sie fester +zu gründen. + +§. 71. + +Du erfährst, in dem Knabenalter des Menschengeschlechts, an der Lehre +von der Unsterblichkeit der Seele, das Nehmliche. Sie wird in dem +zweyten bessern Elementarbuche als Offenbarung geprediget, nicht als +Resultat menschlicher Schlüsse gelehret. + +§. 72. + +So wie wir zur Lehre von der Einheit Gottes nunmehr des Alten +Testaments entbehren können; so wie wir allmälig, zur Lehre von der +Unsterblichkeit der Seele, auch des Neuen Testaments entbehren zu +können anfangen: könnten in diesem nicht noch mehr dergleichen +Wahrheiten vorgespiegelt werden, die wir als Offenbarungen so lange +anstaunen sollen, bis sie die Vernunft aus ihren andern ausgemachten +Wahrheiten herleiten und mit ihnen verbinden lernen? + +§. 73. + +Z. E. die Lehre von der Dreyeinigkeit.--Wie, wenn diese Lehre den +menschlichen Verstand, nach unendlichen Verirrungen rechts und links, +nur endlich auf den Weg bringen sollte, zu erkennen, daß Gott in dem +Verstande, in welchem endliche Dinge eins sind, unmöglich eins seyn +könne; daß auch seine Einheit eine transcendentale Einheit seyn müsse, +welche eine Art von Mehrheit nicht ausschließt?--Muß Gott wenigstens +nicht die vollständigste Vorstellung von sich selbst haben? d. i. eine +Vorstellung, in der sich alles befindet, was in ihm selbst ist. Würde +sich aber alles in ihr finden, was in ihm selbst ist, wenn auch von +seiner nothwendigen Wirklichkeit, so wie von seinen übrigen +Eigenschaften, sich blos eine Vorstellung, sich blos eine Möglichkeit +fände? Diese Möglichkeit erschöpft das Wesen seiner übrigen +Eigenschaften: aber auch seiner nothwendigen Wirklichkeit? Mich dünkt +nicht.--Folglich kann entweder Gott gar keine vollständige +Vorstellung von sich selbst haben: oder diese vollständige Vorstellung +ist eben so nothwendig wirklich, als er es selbst ist & c.--Freylich +ist das Bild von mir im Spiegel nichts als eine leere Vorstellung von +mir, weil es nur das von mir hat, wovon Lichtstrahlen auf seine Fläche +fallen. Aber wenn denn nun dieses Bild alles, alles ohne Ausnahme +hätte, was ich selbst habe: würde es sodann auch noch eine leere +Vorstellung, oder nicht vielmehr eine wahre Verdopplung meines Selbst +seyn?--Wenn ich eine ähnliche Verdopplung in Gott zu erkennen glaube: +so irre ich mich vielleicht nicht so wohl, als daß die Sprache meinen +Begriffen unterliegt; und so viel bleibt doch immer unwidersprechlich, +daß diejenigen, welche die Idee davon populär machen wollen, sich +schwerlich faßlicher und schicklicher hätten ausdrücken können, als +durch die Benennung eines Sohnes, den Gott von Ewigkeit zeugt. + +§. 74. + +Und die Lehre von der Erbsünde.--Wie, wenn uns endlich alles +überführte, daß der Mensch auf der ersten und niedrigsten Stufe seiner +Menschheit, schlechterdings so Herr seiner Handlungen nicht sey, daß +er moralischen Gesetzen folgen könne? + +§. 75. + +Und die Lehre von der Genugthuung des Sohnes.--Wie, wenn uns endlich +alles nöthigte, anzunehmen: daß Gott, ungeachtet jener ursprünglichen +Unvermögenheit des Menschen, ihm dennoch moralische Gesetze lieber +geben, und ihm alle Uebertretungen, in Rücksicht auf seinen Sohn, d. i. +in Rücksicht auf den selbstständigen Umfang aller seiner +Vollkommenheiten, gegen den und in dem jede Unvollkommenheit des +Einzeln verschwindet, lieber verzeihen wollen; als daß er sie ihm +nicht geben, und ihn von aller moralischen Glückseligkeit +ausschliessen wollen, die sich ohne moralische Gesetze nicht denken +läßt? + +§. 76. + +Man wende nicht ein, daß dergleichen Vernünfteleyen über die +Geheimnisse der Religion untersagt sind.--Das Wort Geheimniß +bedeutete, in den ersten Zeiten des Christenthums, ganz etwas anders, +als wir itzt darunter verstehen; und die Ausbildung geoffenbarter +Wahrheiten in Vernunftswahrheiten ist schlechterdings nothwendig, wenn +dem menschlichen Geschlechte damit geholfen seyn soll. Als sie +geoffenbaret wurden, waren sie freylich noch keine Vernunftswahrheiten; +aber sie wurden geoffenbaret, um es zu werden. Sie waren gleichsam +das Facit, welches der Rechenmeister seinen Schülern voraus sagt, +damit sie sich im Rechnen einigermaassen darnach richten können. +Wollten sich die Schüler an dem voraus gesagten Facit begnügen: so +würden sie nie rechnen lernen, und die Absicht, in welcher der gute +Meister ihnen bey ihrer Arbeit einen Leitfaden gab, schlecht erfüllen. + +§. 77. + +Und warum sollten wir nicht auch durch eine Religion, mit deren +historischen Wahrheit, wenn man will, es so mißlich aussieht, +gleichwohl auf nähere und bessere Begriffe vom göttlichen Wesen, von +unsrer Natur, von unsern Verhältnissen zu Gott, geleitet werden können, +auf welche die menschliche Vernunft von selbst nimmermehr gekommen +wäre? + +§. 78. + +Es ist nicht wahr, daß Speculationen über diese Dinge jemals Unheil +gestiftet, und der bürgerlichen Gesellschaft nachtheilig geworden.-- +Nicht den Speculationen: dem Unsinne, der Tyranney, diesen +Speculationen zu steuern; Menschen, die ihre eigenen hatten, nicht +ihre eigenen zu gönnen, ist dieser Vorwurf zu machen. + +§. 79. + +Vielmehr sind dergleichen Speculationen--mögen sie im Einzeln doch +ausfallen, wie sie wollen--unstreitig die schicklichsten Uebungen des +menschlichen Verstandes überhaupt, so lange das menschliche Herz +überhaupt, höchstens nur vermögend ist, die Tugend wegen ihrer ewigen +glückseligen Folgen zu lieben. + +§. 80. + +Denn bey dieser Eigennützigkeit des menschlichen Herzens, auch den +Verstand nur allein an dem üben wollen, was unsere körperlichen +Bedürfnisse betrift, würde ihn mehr stumpfen, als wetzen heissen. Er +will schlechterdings an geistigen Gegenständen geübt seyn, wenn er zu +seiner völligen Aufklärung gelangen, und diejenige Reinigkeit des +Herzens hervorbringen soll, die uns, die Tugend um ihrer selbst willen +zu lieben, fähig macht. + +§. 81. + +Oder soll das menschliche Geschlecht auf diese höchste Stufen der +Aufklärung und Reinigkeit nie kommen? Nie? + +§. 82. + +Nie?--Laß mich diese Lästerung nicht denken, Allgütiger!--Die +Erziehung hat ihr Ziel; bey dem Geschlechte nicht weniger als bey dem +Einzeln. Was erzogen wird, wird zu Etwas erzogen. + +§. 83. + +Die schmeichelnden Aussichten, die man dem Jünglinge eröfnet; die Ehre, +der Wohlstand, die man ihm vorspiegelt: was sind sie mehr, als Mittel, +ihn zum Manne zu erziehen, der auch dann, wenn diese Aussichten der +Ehre und des Wohlstandes wegfallen, seine Pflicht zu thun vermögend +sey. + +§. 84. + +Darauf zwecke die menschliche Erziehung ab: und die göttliche reiche +dahin nicht? Was der Kunst mit dem Einzeln gelingt, sollte der Natur +nicht auch mit dem Ganzen gelingen? Lästerung! Lästerung! + +§. 85. + +Nein; sie wird kommen, sie wird gewiß kommen, die Zeit der Vollendung, +da der Mensch, je überzeugter sein Verstand einer immer bessern +Zukunft sich fühlet, von dieser Zukunft gleichwohl Bewegungsgründe zu +seinen Handlungen zu erborgen, nicht nöthig haben wird; da er das Gute +thun wird, weil es das Gute ist, nicht weil willkührliche Belohnungen +darauf gesetzt sind, die seinen flatterhaften Blick ehedem blos heften +und stärken sollten, die innern bessern Belohnungen desselben zu +erkennen. + +§. 86. + +Sie wird gewiß kommen, die Zeit eines neuen ewigen Evangeliums, die +uns selbst in den Elementarbüchern des Neuen Bundes versprochen wird. + +§. 87. + +Vielleicht, daß selbst gewisse Schwärmer des dreizehnten und +vierzehnten Jahrhunderts einen Strahl dieses neuen ewigen Evangeliums +aufgefangen hatten; und nur darum irrten, daß sie den Ausbruch +desselben so nahe verkündigten. + +§. 88. + +Vielleicht war ihr dreyfaches Alter der Welt keine so leere Grille; +und gewiß hatten sie keine schlimme Absichten, wenn sie lehrten, daß +der Neue Bund eben so wohl antiquiret werden müsse, als es der Alte +geworden. Es blieb auch bey ihnen immer die nehmliche Oekonomie des +nehmlichen Gottes. Immer--sie meine Sprache sprechen zu lassen--der +nehmliche Plan der allgemeinen Erziehung des Menschengeschlechts. + +§. 89. + +Nur daß sie ihn übereilten; nur daß sie ihre Zeitgenossen, die noch +kaum der Kindheit entwachsen waren, ohne Aufklärung, ohne Vorbereitung, +mit Eins zu Männern machen zu können glaubten, die ihres dritten +Zeitalters würdig wären. + +§. 90. + +Und eben das machte sie zu Schwärmern. Der Schwärmer thut oft sehr +richtige Blicke in die Zukunft: aber er kann diese Zukunft nur nicht +erwarten. Er wünscht diese Zukunft beschleuniget; und wünscht, daß sie +durch ihn beschleuniget werde. Wozu sich die Natur Jahrtausende Zeit +nimmt, soll in dem Augenblicke seines Daseyns reifen. Denn was hat er +davon, wenn das, was er für das Bessere erkennt, nicht noch bey seinen +Lebzeiten das Bessere wird? Kömmt er wieder? Glaubt er wieder zu +kommen?--Sonderbar, daß diese Schwärmerey allein unter den Schwärmern +nicht mehr Mode werden will! + +§.91. + +Geh deinen unmerklichen Schritt, ewige Vorsehung! Nur laß mich dieser +Unmerklichkeit wegen an dir nicht verzweifeln.--Laß mich an dir nicht +verzweifeln, wenn selbst deine Schritte mir scheinen sollten, zurück +zu gehen!--Es ist nicht wahr, daß die kürzeste Linie immer die gerade +ist. + +§. 92. + +Du hast auf deinem ewigen Wege so viel mitzunehmen! so viel +Seitenschritte zu thun!--Und wie? wenn es nun gar so gut als +ausgemacht wäre, daß das große langsame Rad, welches das Geschlecht +seiner Vollkommenheit näher bringt, nur durch kleinere schnellere +Räder in Bewegung gesetzt würde, deren jedes sein Einzelnes eben dahin +liefert? + +§. 93. + +Nicht anders! Eben die Bahn, auf welcher das Geschlecht zu seiner +Vollkommenheit gelangt, muß jeder einzelne Mensch (der früher, der +später) erst durchlaufen haben.--"In einem und eben demselben Leben +durchlaufen haben? Kann er in eben demselben Leben ein sinnlicher Jude +und ein geistiger Christ gewesen seyn? Kann er in eben demselben Leben +beyde überhohlet haben?" + +§. 94. + +Das wohl nun nicht!--Aber warum könnte jeder einzelne Mensch auch +nicht mehr als einmal auf dieser Welt vorhanden gewesen seyn? + +§. 95. + +Ist diese Hypothese darum so lächerlich, weil sie die älteste ist? +weil der menschliche Verstand, ehe ihn die Sophisterey der Schule +zerstreut und geschwächt hatte, sogleich darauf verfiel? + +§. 96. + +Warum könnte auch Ich nicht hier bereits einmal alle die Schritte zu +meiner Vervollkommung gethan haben, welche blos zeitliche Strafen und +Belohnungen den Menschen bringen können? + +§. 97. + +Und warum nicht ein andermal alle die, welche zu thun, uns die +Aussichten in ewige Belohnungen, so mächtig helfen? + +§. 98. + +Warum sollte ich nicht so oft wiederkommen, als ich neue Kenntnisse, +neue Fertigkeiten zu erlangen geschickt bin? Bringe ich auf Einmal so +viel weg, daß es der Mühe wieder zu kommen etwa nicht lohnet? + +§. 99. + +Darum nicht?--Oder, weil ich es vergesse, daß ich schon da gewesen? +Wohl mir, daß ich das vergesse. Die Erinnerung meiner vorigen Zustände, +würde mir nur einen schlechten Gebrauch des gegenwärtigen zu machen +erlauben. Und was ich auf itzt vergessen muß, habe ich denn das auf +ewig vergessen? + +§. 100. + +Oder, weil so zu viel Zeit für mich verloren gehen würde?--Verloren? +--Und was habe ich denn zu versäumen? Ist nicht die ganze Ewigkeit +mein? + + +Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes Die Erziehung des +Menschengeschlechts, von Gotthold Ephraim Lessing. + + + + + +End of the Project Gutenberg EBook of Die Erziehung des Menschengeschlechts +by Gotthold Ephraim Lessing + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE ERZIEHUNG DES *** + +This file should be named 8mens10.txt or 8mens10.zip +Corrected EDITIONS of our eBooks get a new NUMBER, 8mens11.txt +VERSIONS based on separate sources get new LETTER, 8mens10a.txt + +Produced by Delphine Letttau. The book content was graciously +contributed by the Gutenberg Projekt-DE. + +Project Gutenberg eBooks are often created from several printed +editions, all of which are confirmed as Public Domain in the US +unless a copyright notice is included. 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