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diff --git a/.gitattributes b/.gitattributes new file mode 100644 index 0000000..d7b82bc --- /dev/null +++ b/.gitattributes @@ -0,0 +1,4 @@ +*.txt text eol=lf +*.htm text eol=lf +*.html text eol=lf +*.md text eol=lf diff --git a/75397-0.txt b/75397-0.txt new file mode 100644 index 0000000..7b64bc1 --- /dev/null +++ b/75397-0.txt @@ -0,0 +1,8400 @@ + +*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75397 *** + + + Der Skorpion + I + + + Alle Rechte vorbehalten + Copyright by Askanischer Verlag + Berlin 1919 + + + Druck von Herrosé & Ziemsen, G. m. b. H., Wittenberg + Einband von C. Albert Kindle, Berlin SW + + + Anna Elisabet Weirauch + + + + + Der Skorpion + + + Ein Roman + + + Qui vivens laedit + Morte medetur + + + Erster Band + + Askanischer Verlag Berlin + 1919 + + + + + «Vous que dans votre enfer mon âme a poursuivies, + Pauvres sœurs, je vous aime autant que je vous plains, + Pour vos mornes douleurs, vos soifs inassouvies, + Et les urnes d’amour dont vos grands cœurs sont pleins!» + + Baudelaire. + + + + +Wenn ich ehrlich sein soll – daß ich durchaus Melitta Rudloffs +Bekanntschaft machen wollte, geschah ihres schlechten Rufes wegen. Die +geraden, gesunden und reinlichen Durchschnittsmenschen hatten für mich +keine Bedeutung. Ich suchte die Kranken, die Verlorenen, die +Ausgestoßenen. – Ich suchte sie mit geteiltem Gefühl, und – seltsam, wie +wir Menschen nun einmal sind – ich bin stolz darauf, daß ich sie suchte +mit der klaren und kalten Freude des Forschers, daß ich sie suchte, um +sie zu vivisezieren, zu analysieren, sie in Systeme einzuschachteln – +und ich schäme mich ein bißchen, zu gestehen, daß ich sie suchte in dem +überheblichen Wahn, helfen zu können, bessern zu können – sie mit reinen +und gütigen Händen hellere Wege zu führen. + +Es geschah durch Tante Antonie, daß ich zuerst von Melitta Rudloff +erzählen hörte. Tante Antonie war eine sehr fromme und ehrenwerte Frau, +und Lüge und Verleumdung lagen ihr fern. Sie sah die Dinge mit scharfen +Augen, aber sie sah sie von ihrem unverrückbaren Standpunkt aus. + +Nach diesen Erzählungen hatte Melitta – oder Mette, wie sie genannt +wurde – als Kind schon einen sonderbaren Hang zum Lügen und Stehlen +gezeigt. Auf der Schule galt sie als dumm und faul. Als junges Mädchen +lief sie einer merkwürdigen Frau nach, einer Hochstaplerin mit +ausgesprochen männlichem Gebaren. Vielleicht verführt von dieser +Freundin, von der sie nebenbei späterhin hinausgeworfen wurde – stahl +sie im väterlichen Hause das Silberzeug und trug es aufs Leihamt. Nach +einem Tobsuchtsanfall, bei dem sie ihre Tante, die treue Pflegerin ihrer +mutterlosen Kindheit, erwürgen wollte, wurde sie zu ihrem Onkel nach +einer kleinen Stadt gebracht. Dort stahl sie, was im Hause nicht niet- +und nagelfest war, erbrach schließlich auf raffinierteste Weise den +Schreibtisch, entwendete eine größere Summe Geldes und entfloh. + +Ihr Vater, eine feinsinnige Gelehrtennatur, überlebte die Nachricht von +diesen Geschehnissen nicht lange – er wurde vom Schlage getroffen. + +Mettens Mutter war bei ihrer Geburt gestorben. Wie Jürgen von Seyblitz +stets bitter zu sagen pflegte: „Zum Glück“. + +Mette war nicht dieser Meinung. Sie hatte eine phantastische Vorstellung +von der Wesenheit einer Mutter und glaubte immer, daß der frühe Tod der +ihren alles Unheil ihres Lebens verursacht hätte. + +Ich meinesteils weiß nicht, welcher Ansicht ich mich anschließen soll. +Ganz sicher hätte Mette nicht eine so trübe und freudlose Kindheit +gehabt, wie unter Tante Emiliens knochigen Fingern – aber selbst die +weichste Mutterhand hätte die schwersten Kämpfe ihres Lebens nicht von +ihr fernhalten können. Und wenn ich an diese Zeiten denke, begreife ich +Onkel Jürgens „Zum Glück“ recht wohl. Vielleicht hatte er ein besseres +Bild von seiner Schwester, als Mette es von ihrer Mutter haben konnte. + +Wenn ich nun versuchen will, zu erzählen, was ich von Mette Rudloff und +von ihren Beziehungen zu Olga Radó weiß, so muß ich fürchten, falsch +gedeutet zu werden. Ich habe keinerlei Ähnlichkeit mit Peterchen, +unserem gemeinsamen kleinen Freund, den Olga Metten gegenüber in +herzlichem Spott „Unser Baudelairechen“ zu nennen pflegte. Peterchen war +bei allem, was seine Freunde betraf, mit überschwenglichem Gefühl +beteiligt. Ich sehe ihn noch immer mit seinen aufgeregten Schrittchen +durch sein Zimmer hin und her laufen und flammende Reden führen. Er +machte Welt und Vorwelt verantwortlich für Olgas Tod und Mettens Leben. +Wenn es nach ihm gegangen wäre – er hätte ein Gemälde entworfen, auf dem +er Olga und Mette mit schimmernder Gloriole umgeben und Jürgen von +Seyblitz und Tante Emilie und Frau Flesch und noch einige andere, die er +nicht leiden konnte, an den Pranger gestellt hätte. Er hätte sich mit +dem Stock des Ausrufers auf den Markt begeben und auf seine Heiligen +gedeutet und geschrien: Seht her, so sind sie, die Verfemten, die +Verworfenen, die ihr haßt und verachtet und fürchtet – und nicht kennt! + +Nach allem, was ich von Olga Radó weiß, hätte er ihr damit einen +schlechten Dienst erwiesen. Was ihr die meiste und glühendste +Feindschaft eingetragen hat, war nicht ihr lasterhaftes Leben, ihre +Verschwendungssucht, ihre unnatürlichen Leidenschaften – nicht einmal +ihr Geist oder ihre Schönheit – nein, es war ihr grenzenloser Hochmut. + +Sie haßte es, verallgemeinert zu werden. Und wir alle, die wir sie +kannten, haben hundertmal aus ihrem Munde das Wort gehört – so oft, daß +es zur scherzhaften Redensart bei uns wurde: + +„Bitte! Nix ihr, nix euch!“ + +Ich habe keine Ähnlichkeit mit Peterchen. Ich bin nicht dazu geschaffen, +zu verteidigen oder anzuklagen. Ich verfolge keinen Zweck, wenn ich +etwas erzähle. Ich habe keine Ziele und keine Absichten, nicht einmal +eine Meinung oder ein Urteil, und kaum ein Gefühl. Keine andere Absicht, +als Bilder und Worte, die unendlich flüchtig vorüberrauschen, mit allen +Sinnen festzuhalten, und sie in Form zu bannen, und kein ander Gefühl, +als die weltabgewandte, weltaufsaugende Hingabe, mit der der Zeichner +den Silberstift über das Papier führt. + + + + +Einmal war Mette einen Sommer lang bei ihren Großeltern auf dem Gut. +Vielleicht war es dieser Sommer, der ihr den irrsinnigen Hang zum Leben +ins Blut goß. Woher hätte sie sonst auch wissen sollen, daß das Leben +mitunter schön sein konnte? Immer, wenn sie in späteren Jahren sich nach +Glück sehnte, hatte sie die qualvoll-süße Vorstellung von einem +Glücksgefühl, das sie ganz erfüllt hatte, als sie auf einer blühenden +Wiese lag und das Blau des Himmels zwischen säulenhohen Grashalmen sah, +als der heuduftende Wind über ihr sonneglühendes Gesicht blies, und +Tausende von Bienen und Hummeln und Wespen in der Luft läuteten, wie +tiefe und hohe, ferne und nahe Glockenstimmen. Wann hätte das sein +können, wenn es nicht in jenem Sommer war? + +Oh, es war so viel Herrliches in jenem Sommer gewesen. + +Da war ein Gartenhäuschen gewesen, aus Birkenstämmen und borkebenagelten +Brettern. Und von der Birkenrinde konnte man eine dünne, durchsichtige +Haut abziehen. Sie zerriß leicht, und es war sehr schwer, aber auch sehr +ehrenvoll, ein großes Stück unversehrt loszulösen. + +Dies Gartenhäuschen hatte Glasfenster nach allen Seiten. Und jedes +Fenster hatte einen Rand, einen Rahmen gleichsam, von kleinen Vierecken +aus Buntglas. Da konnte man die Welt in allen Farben sehen. + +Immer sah Mette zuerst durch das blaue Glas. Da lag alles in einem +geheimnisvollen Dunkel, alles wurde still und weit, die Sonne stand +strahlenlos am Himmel wie der Mond – es war wie eine Nacht aus dem +Märchen, und über die blauen Wiesen, unter den blauen Bäumen, hätten +Elfen mit wehenden Schleiern tanzen müssen. + +Dann kam das grüne. + +Da leuchteten die Bäume und Wiesen wie von innerem Licht. Aber die +apfelgrüne Luft war voll Unheil geladen, und die schweren dunkelgrünen +Wolken waren zum Bersten belastet mit furchtbaren Dingen. + +Dann war ein goldgelbes. + +Man muß nicht etwa denken, daß der Garten hell und heiter aussah im +goldfarbenen Licht. Das Grün war fahl und wie verbrannt, die Luft schien +gewitterig. Es war so, wie es ganz gewiß am jüngsten Tag aussehen mußte, +wenn die Erzengel in die Posaune stießen, wenn Teufel mit +Fledermausflügeln durch die Luft schwirrten, und die Gräber sich +auftaten. + +Zuletzt kam das rote, weil es das schönste war. Es war so schön und so +schrecklich, daß Mette jedesmal Herzklopfen bekam. Wenn es nach ihr +gegangen wäre, hätte die Welt ganz gewiß immer so ausgesehen. Die Bäume +so dunkel wie Blutbuchen, und die Wiesen so glührot, der Himmel so +brennend mit tiefpurpurnen Wolken. + +Wenn man dann wieder durch das klare Glas sah, war alles unsagbar fad +und nüchtern und blaßfarbig. Trotzdem – man konnte erleichtert aufatmen. +Alles Unheimliche war geschwunden – in einer Welt, die so hell und +harmlos und ein bißchen langweilig aussah, wo es keine blauen Wiesen und +keine purpurnen Bäume gab – da gab es auch keine Feen und Teufel, da gab +es nichts, wovor man sich zu fürchten hatte. + +Manchmal, in späteren Jahren, dachte Mette darüber nach, ob sie dies +alles damals schon in klar ausgesprochenen Gedanken gedacht hatte. Und +dann rechnete sie nach, und es schien ihr, als wäre sie damals noch viel +zu klein gewesen. Aber später hat sie ja nie mehr durch die bunten +Glasscheiben in dem Birkenhäuschen sehen können; denn in dem Winter, der +auf jenen Sommer folgte, starb der Großvater, das Majorat ging auf den +Erben über, und die Großmutter zog zu ihrem Bruder nach Güstrow. + +Die Großmutter schwankte damals lange Zeit. Trotz ihrer Abneigung gegen +die große Stadt wäre sie damals gern zu ihrem Schwiegersohn gezogen, um +der kleinen Mette nahe zu sein. Aber sie wagte es nicht, den Kampf mit +Tante Emilie aufzunehmen. + +Tante Emilie war viel zu musterhaft, als daß nicht jeder andere sich +überflüssig gefühlt hätte. Und Tante Emilie von ihrem Posten vertreiben +– um Gottes willen! Dazu gehörte eine kampflustigere Persönlichkeit als +es Conrad von Seyblitz’ arme, kleine Witwe jemals war. + +Die Großmutter zog nach Güstrow, wo sie die paar Jahre bis zu ihrem Tode +lebte – und Tante Emilie blieb – blieb unumschränkte Herrscherin des +Hauses. + +Das heißt, daß Mette nicht in die Schule gehen sollte, das ordnete Franz +Rudloff selber an. Er hatte eine fast krankhafte Scheu vor allem, was +„Masse“ und „Gemeinschaft“ hieß. Es schien ihm, als müßten die kühlen, +hohen Räume seiner Wohnung sich mit dem Dunst schlecht gelüfteter +Klassenzimmer füllen, als müßten die stillen Wände hallen von hundert +hohen Stimmen, von hundert trappelnden Füßen, wenn er sein Kind in eine +Schule schickte. + +Und also kam das „Fräulein“ ins Haus. + +Tante Emilie war innerlich von vornherein dagegen. Sie selbst war in die +Schule gegangen, und die Schule hatte ihr nicht geschadet. Im Gegenteil. + +Sie war absolut nicht dafür, daß irgend jemand auf der Welt es in irgend +etwas besser haben sollte, als sie es selbst hatte oder gehabt hatte. Zu +den wenigen Freuden, die sie im Leben hatte, gehörte die Freude an der +„ausgleichenden Gerechtigkeit“, wie sie es nannte: Wenn nämlich jemand, +dem es ganz ohne Würdigkeit sehr gut ging, sein unverdientes Glück durch +einen schweren Schicksalsschlag abbüßen mußte. + +Andere Leute haben für diese Art Freude eine andere Bezeichnung. + +Tante Emilie war gegen das Fräulein. Aber Tante Emilie war viel zu +musterhaft, um zu widersprechen, wenn der Herr des Hauses einen Wunsch +äußerte. Sie wußte, daß sie sich in solchen Fällen schweigend zu fügen +hatte. Nicht etwa, daß der arme Franz das von ihr verlangt hätte, o +nein! Aber so war es vorbildlich und musterhaft. Und also kniff sie die +Mundwinkel noch etwas fester zusammen und fügte sich schweigend. + +Das Fräulein hatte so krauses, widerspenstiges Haar, daß die braunen +Löckchen sich in keinen Scheitel fügen wollten und ihr immer ums Gesicht +tanzten. Sie hatte auch den Sinn, den das Sprichwort mit solchem Haar +verbindet. Alle die Männer, die in ihrem Leben eine längere oder kürzere +Rolle gespielt hatten, sagten, sie wäre eine entzückende Geliebte +gewesen. Zur Erziehung eines kleinen Mädchens eignete sie sich weniger +gut. + +Tante Emilie hatte sie nicht ausgesucht. Das hatten Franz Rudloff und +Mette ganz allein besorgt. Eins hatten Vater und Tochter gemeinsam: all +ihre Sinne dursteten nach Schönheit und Harmonie. Sie gaben was aufs +Äußerliche, wie Tante Emilie das nannte. + +Das Fräulein hatte ein so liebliches Jung-Mädchengesicht, so weiche +Bewegungen, eine so schöne klingende Stimme. + +Es war nicht die geringste persönliche Sympathie, die Franz Rudloff zu +diesem Fräulein hinzog. Nur, wenn er schon einen fremden Menschen ins +Haus nehmen mußte, so war ihm lieber, wenn es ein angenehmes Wesen war. +Vielleicht hatte er – uneingestandenermaßen – an _einem_ unangenehmen +genug. + +Bei Mette war es etwas anders. Sie hatte noch nie einen Menschen +gesehen, der ihr so gefiel. Ihr ganzes sehnsüchtiges Kinderherz, das +noch niemals Liebe oder Zärtlichkeit gefühlt hatte, flog dieser Fremden +entgegen, dieser Fremden, die sie in den Arm nahm, ihr mit weichen +Händen das Haar aus der Stirn strich, sie mit kosender Stimme „Mädi“ und +„Herzblatt“ nannte. Die Aussicht, diesen Menschen immer um sich zu +haben, erschien ihr wie ein unfaßbares, berauschendes Glück. + +Sie bat ihren Vater nicht. Sie konnte nicht bitten, Mette Rudloff, nie, +und wenn es um ihr Leben ging, nicht. + +Aber als ihr Vater sie fragte, ob das Fräulein kommen sollte, sagte sie: +„Ja.“ + +Und das Fräulein kam. + +Tante Emilie aber kniff die Mundwinkel zusammen und fügte sich +schweigend. + +In den nun folgenden drei oder vier Jahren, die das Fräulein im Hause +blieb, durchlebte Mette Rudloff das ganze Martyrium einer unglücklichen +Liebe. + +Die ersten Monate ging alles herrlich. Das ist ja eben das Unglück einer +unglücklichen Liebe, daß sie immer mit einem überschwenglichen Glück +anfängt. + +Das Fräulein hatte Mette sehr lieb, und Mette hatte das Fräulein sehr +lieb, und sie lernten miteinander und spielten miteinander und gingen +miteinander spazieren. Es war eine wundervolle Zeit. Aber wie alle +wundervollen Zeiten nur von kurzer Dauer. + +Es war sicher der Teufel, der den früheren Husarenleutnant von Hanstein +plötzlich in den Weg warf; den Husarenleutnant, den das Fräulein glühend +geliebt hatte, als sie noch kein Fräulein war, sondern Friedel +Eggebrecht hieß und aufs Seminar ging und in ihrer Vaterstadt auf ihren +ersten Jung-Mädchen-Bällen tanzte. + +Dieser frühere Husarenleutnant hatte keine ganz saubere Karriere hinter +sich. Er hatte schuldenhalber den Dienst quittieren müssen, hatte sich +in allen möglichen Berufen herumgetrieben und sprach sich über seine +jeweilige Beschäftigung immer nur in sehr unklaren, aber hochtönenden +Worten aus. + +Das hinderte nicht, daß in dem Fräulein sehr bald die alte, nicht +rostende Liebe erwachte, und daß Mette, die kleine, süße, goldige Mette, +jetzt überall lästig und im Wege war. + +Zuerst war Mette nur ärgerlich, wenn das Fräulein Besuch von ihrem +„Bruder“ bekam und Mette ins Schlafzimmer geschickt wurde, weil das +Fräulein Herrenbesuch nicht in einem Raum empfangen konnte, in dem ein +Bett stand. (Späterhin wurde das anders.) + +Im Schlafzimmer war es kalt und langweilig. Mette stand am Fenster und +sah den Spatzen zu, die auf dem kahlen Baum im Hofe lärmten. Nebenan +waren ihre Bücher, ihre Puppen, ihre Spielsachen. Aber sie durfte nicht +hinein, solange der Besuch da war, und der Besuch dachte nicht daran, +wegzugehen. + +Es war recht ärgerlich. Und wenn es so weitergegangen wäre mit Besuchen +und Eingesperrtwerden und dem kalten und unfreundlichen Ton, den das +Fräulein jetzt meistens hatte, so wäre Mettes glühende Liebe vielleicht +bald in Haß umgeschlagen – und es wäre alles gut gewesen. + +Aber mochte der Teufel wissen – derselbe Teufel, der den Herrn von +Hanstein eines Vormittags auf den Viktoria-Luise-Platz warf – was diesem +Herrn von Hanstein gerade über die Leber lief. Hatte er Sorgen oder +Schulden oder irgendeine andere Liebelei – kurz – das Fräulein fing an, +sich gekränkt zu fühlen, sich zu grämen, des Nachts zu weinen. + +Das war zuviel für Mette. + +Mette Rudloff weinte schwer. Sie begriff nicht, daß ein Mensch weinen +konnte, ohne bis an die Grenzen des Wahnsinns zu leiden. Darum hätte sie +sich das Herz aus der Brust herausreißen mögen, um einen Weinenden zu +trösten. + +Wenn Friedel Eggebrecht um ihren Husarenleutnant weinte, so litt Mette +alle Qualen der Hölle. + +Im Anfang, als das Fräulein das Kind nicht wecken wollte, weinte sie +leise und weinte sich nach einer Viertelstunde in den Schlaf. Aber als +sie merkte, daß Mette doch aufwachte oder vielleicht auch nicht +einzuschlafen wagte, sich mühsam wach hielt, um auf jeden Atemzug zu +lauschen, da war es ihr ganz bequem, sich einem lauten Schmerz +hinzugeben und sich trösten zu lassen. + +Beim ersten Aufschluchzen sprang Mette aus dem Bettchen und kam auf +bloßen Füßen über die Dielen gelaufen. Dann kauerte sie auf dem Bettrand +und weinte und zitterte und tröstete mit ihrem süßen, zärtlichen +Stimmchen, mit ihren weichen, guten Kinderhänden. + +Und das Fräulein ließ sich streicheln und trösten und stieß mit den +Füßen gegen die Bettkante, warf den Kopf nach hinten, krallte die Nägel +in die Kissen und schrie: + +„Der Hund! Der Schuft! Ich ertrage es nicht mehr. Ich sterbe! Er mordet +mich!“ + +Zu der Zeit, als diese Szenen sich abspielten, wußte Mette schon längst, +daß diese Ausbrüche dem Bruder galten, und daß dieser Bruder kein Bruder +war. + +Sie empfand einen so wütenden, qualvollen Haß gegen diesen Mann, daß sie +oft angestrengt darüber nachdachte, wie sie es bewerkstelligen könnte, +ihn zu ermorden. + +Diese durchweinten, durchwachten Nächte waren schlimm. Aber sie waren +nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war, wenn am nächsten Tage der Herr +Bruder wieder ankam und empfangen wurde zwischen Lachen und Weinen, mit +offenen Vorwürfen und kaum verhehlter Zärtlichkeit, und Mette ins +Schlafzimmer geschickt wurde. + +Dann rieb Mette die Zähne aufeinander und bohrte die Nägel in die +Handflächen, und zerpeinte sich in schmerzlicher Wut. + +Bei solchen Anlässen konnte Mette auch sehr ungezogen werden. Es lag ihr +nicht, Traurigkeit zu zeigen, wenn sie litt. Sie zog es vor, ungezogen +zu werden. Es war mitunter ganz begreiflich, daß das Fräulein eine +maßlose Wut auf sie hatte. + +Wenn Mette hätte zeigen können, wie es in ihr aussah, so hätte sie +geweint und gesagt: „Ich liebe dich, und ich bin eifersüchtig, doppelt +eifersüchtig, weil deine Liebe einem Mann gehört, der dich quält, und +den zu verachten du vorgibst. Ich leide, daß ich einen Menschen lieben +muß, der so wenig Stolz und Charakter besitzt.“ + +Wenn die kleine Mette ihre unklaren Gefühle in Worten hätte ausdrücken +können, so würden diese Worte ungefähr so gelautet haben. + +Wer von uns, die wir reife und kluge Menschen sein wollen, die wir +gelernt haben, die Worte zu wählen, zu wägen, zu setzen, vermag das +auszusprechen, was er empfindet? Selten wollen wir es tun. Und die +wenigen Male, die wir uns bemühen, können wir es nicht und werden +mißverstanden. + +Mette wollte es nicht und konnte es nicht. Sie verlangte Liebe. Aber die +konnte sie nicht erbetteln, da beanspruchte sie ihr Recht. + +Haben nicht ältere und vernünftigere Leute manchmal so gehandelt? + +Mette ging hinein in das Zimmer, in _ihr_ Zimmer, das sie nicht betreten +durfte, solange der verhaßte „Kerl“ dasaß. (Mette nannte ihn so in +Gedanken, und das war kein Wunder, sie hatte ihn zu oft so nennen hören, +wenn das Fräulein in Wut war.) Sie ging hinein, ohne anzuklopfen, sie +reckte den Kopf sehr hoch und setzte die schmalen Füße sehr fest auf. + +Sie legte die Bücher und Hefte auf den Tisch, klappte den Deckel vom +Tintenfaß auf, tat, als ob sie nach der Uhr sähe (sie tat so; denn in +Wirklichkeit wurde es ihr schwer, die richtige Zeit festzustellen, so +klein war sie noch) und sagte: + +„Ich habe jetzt Stunde!“ + +Der „Kerl“ grinste höhnisch und empfahl sich. Das Fräulein fauchte sie +an, wie sie sich unterstehen könne ...? + +Mette bemühte sich, etwas sehr Häßliches zu sagen. Und es gelang ihr. + +„Bloß, daß der ‚Kerl‘ hier immerfort sitzt, dafür bezahlt Sie mein Vater +nicht!“ sagte sie. + +Das Fräulein wollte sie schlagen. Aber sie schrak zurück vor dem +drohenden Ernst in dem blassen Kindergesicht. + +Niemals hat jemand gewagt, Mette Rudloff zu schlagen, obgleich +vielleicht manch einer die Lust dazu verspürte. + +Das Fräulein packte sie am Arm und rüttelte sie. So fest packte sie, daß +noch nach Tagen der Abdruck ihrer Finger in bläulichen Flecken auf der +zarten Haut zu sehen war. + +Es geschah nicht einmal, es geschah hundertmal, daß Mette blaue Flecken +am Arm hatte, oder Striemen über der Schulter, oder Kratzwunden an den +Händen. + +Wenn sie sich hätte beklagen wollen, so wäre ihr Hilfe sicher gewesen. +Wenn sie einmal Tante Emilien die Spuren einer solchen Szene gezeigt +hätte, statt sie angstvoll zu verbergen, so wäre die „Person“ geflogen. +Das wußte Mette, aber das wollte sie nicht. Darum mußte sie diesen Kampf +ganz allein auskämpfen. + +Als die Eggebrecht einsah, daß das Kind ihr überlegen war, änderte sie +ihre Taktik. Es ging nicht mehr an, Mette als Feindin zu behandeln, +darum wurde sie zur Vertrauten gemacht. In Mettes kleines verschwiegenes +Herz wurde alles ausgeschüttet, alle Freuden und Kümmernisse dieses +Verhältnisses und eine ganze Masse Unrat dazu. + +Mette mußte Horchposten stehen, Mette mußte Briefe befördern und +Telephongespräche führen, und Mette wurde mit Liebkosungen und +Süßigkeiten überschüttet. + +Vielleicht hätte ein anderes Kind sich in diesem Zustand sehr wohl +befunden. Mette fuhr fort zu leiden. + +Es lag wohl auch daran, daß ihr der Mann so widerwärtig war. Wenn es +jemand gewesen wäre, der ihr gefallen hätte, hätte sie sich vielleicht +eher in die Sachlage gefunden. + +Manchmal, wenn das Fräulein in der Laune war, ihren Liebsten zu +beschimpfen, dann warf das Kind sich vor ihr auf die Knie und beschwor +sie, von diesem schrecklichen Manne zu lassen. Dann wurde unter Tränen +und Eiden alles versprochen. + +„... ja, mein Süßes, ja, mein Engel, er betritt mir die Schwelle nicht +mehr, der verfluchte Hund, ich habe ja dich, mein Süßes, mein Trost, ich +will nur noch für dich leben!“ + +Das waren für Mette Momente qualvoller Seligkeit. + +Aber es waren immer nur Momente; denn wenn das Telephon klingelte, oder +wenn ein Brief kam, oder wenn man dem Herrn „zufällig“ im Tiergarten +begegnete, dann war alles wieder vergessen. + +Mette begriff, daß da etwas war, wogegen sie nicht ankonnte. + +Sie begriff dunkel, daß sie nicht das Recht hatte, einen Menschen ganz +für sich zu verlangen, weil sie noch ein Kind war. Und sie wünschte sich +glühend, schnell, schnell erwachsen zu sein, um das, was sie liebte, +ganz und ungeteilt zu besitzen. + +Es kam noch eins dazu, das Leben zu erschweren. Das Fräulein hatte nicht +viel Zeit und Lust, mit Mette zu arbeiten. Es war so unendlich viel +anderes zu tun. Das Fräulein mußte Briefe schreiben, oder spannende +Bücher lesen – oder Handarbeiten machen. Das Fräulein machte gern +Handarbeiten und hatte flinke und geschickte Hände. Sie nähte sich +allerliebste Blusen und stickte sich zierliche Hemdpassen – oder sie +häkelte Schlipse und stopfte seidene Herrensocken. Von alledem hatte +Mette weiter keinen Nutzen. + +Sie war nicht böse, daß sie mit dem langweiligen Lernen ziemlich +verschont blieb. Aber Tante Emilie kam bald dahinter. Es war ein so +ernster Fall, daß der Vater zugezogen wurde. In solchen Dingen, und nur +in solchen Dingen konnte man mit Franz Rudloffs Anteilnahme rechnen. Er +stellte eine eingehende Prüfung mit seiner Tochter an. Das Ergebnis war +derart, daß er allen Ernstes erschrak. + +Er rechnete nach, daß er im selben Alter ein fehlerfreies _Dicté_ +geschrieben, _verba irregularia_ auswendig gelernt und Schillers Don +Carlos mit Begeisterung verschlungen hatte. + +Mette las lateinische Druckschrift mühsam und stockend. + +Von dem Tage an ließ sich Franz Rudloff die schmerzliche Überzeugung +nicht nehmen, daß sein armes Kind geistig zurückgeblieben sei. Damit +zerbrach das letzte Brett, das zu einer Brücke zwischen ihnen hätte +werden können. Er hörte nicht auf, seine Tochter mit Zartheit und +Höflichkeit zu behandeln. Im Gegenteil. Aber sie war ihm so fremd, daß +sie ihm mitunter beinah unheimlich erschien. + +Obgleich Tante Emilie Metten gern alle nur mögliche Trägheit und +Unbegabung zugetraut hätte, wußte sie doch, daß sie nicht die +Alleinschuldige sein konnte. Das Fräulein mußte verschiedentlich recht +scharfe Bemerkungen hören, die sie veranlaßten, einige Tränen zu +vergießen und Metten bitterliche Vorwürfe zu machen. + +„Ich gehe,“ das war der ständige Schluß ihrer Rede. Und das war das, was +Metten jedesmal mit tödlichem Schrecken erfüllte. Sie fühlte zu gut, daß +die Drohung Wahrheit werden konnte, Wahrheit werden mußte, wenn Tante +Emilie bei einer nächsten Prüfung wieder auf so „krasse Unwissenheit“ +stieß. + +Also fing Mette mit zähem und verbissenem Eifer an zu lernen. Das +Fräulein half ihr nicht oft dabei, sie störte sie höchstens. + +Aber sie streichelte ihr manchmal das Haar, oder preßte sie an sich, +oder küßte sie fast leidenschaftlich auf den Mund. + +Und um sich diese flüchtigen Liebkosungen zu erhalten, mußte Mette +lernen. + +Sie war zu begabt, als daß sie nicht bald am Lernen und Lesen selbst +Freude gehabt hätte. Aber das wußte sie nicht. Sie bildete sich ein, daß +sie nur um des geliebten Fräuleins willen mit so fanatischer Inbrunst +über den Büchern saß. + +Sie fing an zu lügen. Etwas, was sie in dieser Weise auch in späteren +Jahren mit wahrer Leidenschaft tat. Wenn die Rede – dem Vater, der Tante +oder Gästen gegenüber – einmal auf irgend etwas kam, was Mette in ihren +Büchern gefunden hatte – in Büchern, in die das Fräulein niemals ihr +hübsches Näschen steckte – und Mette ein wenig erstaunt gefragt wurde: +„Wo hast du denn die Weisheit her?“ dann war sie sehr stolz darauf, zu +antworten: „Von Fräulein!“ + +Und Fräulein widersprach nie. Mette glaubte, jedesmal zu sehen, daß sie +rot wurde. Und sie liebte sie doppelt, weil sie ihr leid tat. Aber es +war ein Irrtum. Sie wurde nicht rot. Sie hörte meistens gar nicht danach +hin. Sie hatte so viel andere Gedanken im Kopf ... + +Und dann kam die merkwürdige Angelegenheit mit dem Silberzeug. + +Eines Nachts gab das Fräulein Metten die Schlüssel zum Silberschrank und +einem flachen, lederbezogenen Kasten. Mette sollte den Kasten in den +Schrank zurücktragen. Das Fräulein hatte ihn sich heimlich ausgeliehen, +weil ihr Bräutigam das Silber gern einmal sehen wollte. + +Mette wollte auch gern einmal sehen. Sie drängelte so lange, bis das +Fräulein den Kasten öffnete. Da lagen die dicken, blanken Löffel in Reih +und Glied, jeder auf seinem Einschnitt im dunkelblauen Samt. Keiner +fehlte. + +Es machte Metten ein unbändiges Vergnügen, unhörbar wie auf +Katzenpfötchen durch den langen Korridor zu schleichen, sich im +Speisezimmer zurechtzutasten, ohne Licht anzumachen, behutsam den +Schrank aufzuschließen, ohne daß die Schlüssel klirrten oder die Tür +knarrte, den Kasten an seinen Platz zu stellen, abzusperren – und dann +mit mühsam unterdrücktem Jubel in Fräuleins Arm zu fliegen und sich +beloben zu lassen. + +Dieses erste Mal war nur eine Einleitung. + +Mette lernte mit staunender Bewunderung die schätzenswerte Einrichtung +eines Leihamtes kennen. Es war eine ganz fabelhafte Angelegenheit, daß +man Silber oder Schmuckstücke nur zu verleihen brauchte, um eine Menge +Geld dafür zu bekommen. Nach einiger Zeit bekam man seine Sachen +unversehrt zurück. Ja, sie wurden nicht einmal benutzt in der Zeit, wie +Fräulein auf Mettens Fragen lachend versicherte. Es war eine schöne, +aber merkwürdige Einrichtung. + +Immerhin! Es gab so viele merkwürdige Einrichtungen. Zum Beispiel: daß +man Geld auf eine Bank legte – daß es nicht irgendeine beliebige +Gartenbank sein durfte, das hatte Mette unterdessen schon gelernt – daß +man dann immerfort Geld geschickt bekam, von dem man leben konnte, und +das Geld auf dieser seltsamen Bank doch niemals weniger wurde – das war +auch so eine merkwürdige Tatsache. So ähnlich würde es sich wohl mit dem +Leihamt auch verhalten. Es lohnte nicht, sich darüber den Kopf zu +zerbrechen. Man begriff es doch nicht. + +Also wanderte das Silberzeug aufs Leihamt. Und bei Gelegenheit wanderte +es wieder zurück in den Schrank. + +Es war so lustig, abends im Bett zu liegen und zu schwatzen und Konfekt +zu knabbern. Aber das Konfekt kostete so rasend viel Geld. Darum wurde +von Zeit zu Zeit das Silber „verliehen“. Es schadete ihm ja nichts. Und +die Heimlichkeit, mit der es geholt und wieder zurückgebracht werden +mußte, machte einen Heidenspaß. + +Aber einmal war der große Kasten fort und kam und kam nicht wieder. So +ewig lange war er schon fort, es dachte kaum mehr ein Mensch an ihn. + +Da verfiel Tante Emilie eines Tages beim Reinmachen auf die Idee, das +ganze Silber nachsehen und putzen zu lassen. Tante Emilie wußte ganz +genau, wieviel Silber im Haushalt vorhanden war. Sie wußte sogar, von +welcher Großmutter oder Schwiegermutter oder Tante jedes einzelne Stück +stammte. Aber Tante Emilie war viel zu musterhaft, um sich in so +wichtigen Dingen auf ihr Gedächtnis zu verlassen. + +Auf der Innenseite jeder Büfettür war mit vier Reißnägeln ein Papier +befestigt, auf dem in Tante Emiliens sehr deutlicher und leserlicher +Schrift stand: + + Inhalt: + + Ein Lederetui mit 12 Suppenlöffeln, gezeichnet L. R. + + Ein Holzkasten mit 12 Dessertlöffeln, gezeichnet G. v. S. + + Ein Kasten mit 12 Mokkalöffeln, vergoldet. + + Ein brauner Pappkarton mit 9 großen Gabeln, Alfenid. + + Usw. usw. + +Ja, und an der Hand dieses Zettels ließ es sich mit unfehlbarer +Sicherheit feststellen, daß da ein Kasten fehlte. + +Mette erschrak gar nicht, als sie Tante Emiliens scharfe, empörte Stimme +hörte und das Aufweinen des gekränkten Hausmädchens. + +Sie war nur froh, die Sache richtigstellen zu können. Gott sei Dank. +Sonst wäre die arme Berta womöglich in den Verdacht des Diebstahls +gekommen! Mette trat ins Zimmer und sagte sehr kühl und ein wenig +hochmütig: + +„Du brauchst dich nicht aufregen, Tante. Das Silber ist da. Ich hab’ es +nur verliehen!“ – + +Aus dem, was sich in den nächsten Tagen ereignete, wurde Metten +allmählich klar, daß sie etwas getan hatte, wozu sie nach Ansicht der +anderen nicht berechtigt war. + +Das Hausmädchen erzählte jedem, der es hören wollte, daß in diesem Hause +ehrliche Leute verdächtigt würden, weil das „Quack“ das Silber „klaue“ +und zum Juden trage. + +Die alte dicke Köchin weinte und schlug jammernd die Hände zusammen. + +Die Tante ging umher, als hätte das Entsetzen sie versteinert. Dem Vater +traten die Tränen in die Augen, wenn er sein unseliges Kind ansah. Sogar +ein Kinderarzt erschien auf der Bildfläche, der den grauenerregenden und +unheimlichen Titel „Psychiater“ führte und ein langes Examen mit ihr +anstellte. + +Und das Fräulein tobte und weinte und schrie und schimpfte sie +„idiotisch“ und „blödsinnig“ und stieß und kratzte sie und fiel dann +wieder vor ihr auf die Knie und nannte sie „kleine Heilige“ und flehte +sie an, zu schweigen. + +Und Mette schwieg. Da sie aber nicht wußte, was sie verschweigen sollte, +so schwieg sie auf alles. Sie ließ sich fragen, in Ruhe, im Zorn, in +stundenlangem Verhör, sie ließ sich rütteln, sie ließ sich anflehen, sie +ließ sich einsperren – und schwieg. Das Schweigen wuchs wie eine Mauer +um sie herum. Sie hätte nun nicht mehr hindurch gekonnt, auch wenn sie +gewollt hätte. + +Dennoch mußte das Fräulein aus dem Hause. Ob sie nun beteiligt war oder +gänzlich ahnungslos – es war klar, daß ein Kind nicht so verwahrlosen +konnte, wenn die Erziehung in den richtigen Händen lag. + +Das Fräulein ging. Und Mette litt alle Todesqualen der Trennung und +Einsamkeit. + +Ich möchte über Friedel Eggebrecht kein Urteil sprechen. Wenn ich die +Geschichte ihres Lebens schreiben sollte, würde ich versuchen, alles zu +verstehen, was sie getan hat. Sie liebte – und immer ist Liebe gut und +schön und edel. So liebte sie, daß sie fähig war, um ihrer Liebe willen +ihre Pflichten zu vergessen und zu lügen, zu stehlen, zu betrügen. Wer +von uns kann sich rühmen, dessen fähig zu sein? + +Immer, wo Liebe ist, ist Leid. Und fast immer, wo zwei sich lieben, +leidet ein Dritter. + +Es wäre unsinnig, deswegen zu klagen oder anzuklagen. + +Nur Kinder sollten nicht darunter leiden müssen. + +Es ist genug, wenn man sie mit Frühaufstehen peinigt und mit +Schularbeiten und mit langweiligen Sonntags-Spaziergängen. + +Aber von Haß und Liebe und Eifersucht, von solchen Dingen sollten Kinder +nicht zu leiden haben. – – – + + * * * * * + +Mette wurde in die Schule geschickt. + +Dafür, daß man ihr das Fräulein genommen hatte, rächte sie sich nun, +indem sie sich dagegen wehrte, irgend etwas zu lernen. + +Während der Schulstunden schickte sie ihre Gedanken auf Wanderschaft. +Manchmal schlug irgend etwas an ihr Ohr, das ihr Interesse weckte. Dann +war die Versuchung da, hinzuhören, und man mußte eine gewisse +Kraftanstrengung anwenden, um an etwas anderes zu denken. + +Aber diese Versuchung kam nicht oft. + +Es dauerte über ein Jahr, bis dieser trotzige Widerstand nach und nach +zerbröckelte. + +Da war es zu spät, nachzuholen. Sie wollte auch nicht. Gott bewahre! Sie +wendete nicht die geringste Mühe an, um vorwärts zu kommen. Aber es +lohnte auch nicht mehr, sich zur Wehr zu setzen. Sie tat, was man von +ihr verlangte. Sie tat es darum, weil es weniger störend war, das +unsagbar Geringfügige zu lernen, als immer lange Straf- und +Ermahnpredigten stehend anzuhören. + +Sie wuchs unglaublich rasch in dieser Zeit und war immer müde. – – – + + * * * * * + +Als sie mit der Schule fertig war, saß sie ein paar Jahr im Hause herum +und langweilte sich. Sie nahm den üblichen Klavierunterricht und übte +die vorgeschriebene Zeit. Aber sie hatte keine anererbte musikalische +Begabung, dagegen eine übertriebene Empfindsamkeit, so, daß sie litt +unter der Unzulänglichkeit ihres eigenen Spiels, ohne die Fähigkeit oder +auch nur das Streben zu haben, sich selbst Genüge zu tun. + +In diesen Jahren wechselten ihre Stimmungen wie Sonne und Regen im +April. + +Sie sehnte sich danach, tot zu sein, oder mündig, in einem andern +Jahrhundert zu leben, oder in einem andern Erdteil, Nonne zu werden, +oder schön genug zu sein, um alle Menschen der Welt zu berücken. + +Es kamen Märztage, wo sie meinte, zerspringen zu müssen in ungeduldiger +Erwartung des unendlichen Glücks, dem sie an der nächsten Straßenecke in +die Arme laufen konnte – und es kamen Juninächte, wo sie aus dem Fenster +springen wollte, um sich zu lösen von den schnürenden Fesseln einer +quälenden Leiblichkeit, um aufzustrahlen gegen das sternhelle Firmament, +um sich auszubreiten, zu zerfließen im unendlichen Äther, groß zu +werden, gewaltig, grenzenlos, allumfassend. + +Es kamen Tage, an denen sie sich vornahm, wie ein Heiland durch die Welt +zu gehen und alle Menschen zu lieben – an denen sie mit Tante Emilie in +einem Ton so leidenschaftlicher Demut sprach, wie Griseldis zu ihrem +Herrn – und es kamen Tage, da alle Menschen ihr so verhaßt waren, daß +sie körperlich Qualen ausstand, wenn sie bei Tisch ihrem Vater gegenüber +saß und ihn essen sah. + +An Ereignissen waren diese Jahre arm. So arm, daß Mette selten in ihrem +Leben daran zurückdachte, und wenn die Rede auf etwas kam, was in diesen +Jahren geschehen war – eine Reise, eine Geburt oder Trauerfall im +Bekanntenkreis, ein öffentliches Begebnis – sie immer erst lange +nachrechnen mußte, wann sich das zugetragen haben könne und wie alt sie +gewesen sei, während sie sonst ein auffallendes Gedächtnis hatte für den +Zeitpunkt, an dem Menschen oder Dinge flüchtig an ihr vorübergestreift +waren, weil sie alles in Verbindung brachte mit den Tagen, die wie +Denksteine in ihr aufgemauert waren – vor oder nach Olgas Tod – als sie +mit Olga zusammen oder von ihr getrennt war. + +Es ist unwichtig, von diesen Jahren zu sprechen – es wäre auch nicht +nötig gewesen, von Friedel Eggebrecht des Längeren und Breiteren zu +reden, aber Mette sagte selbst so oft in späteren Jahren, wenn sie auf +das „Fräulein“ zu sprechen kam, sagte es mit einem etwas bitteren +Lächeln: „Es war der Auftakt zu meinem Leben!“ + +Als ihr Leben wirklich einsetzte, mit hundert brausenden Stimmen, mit +einem vollen, klingenden und singenden Motiv, das nie wieder stumm +wurde, das in Dur, in Moll, bald von allen Geigen und Celli, bald von +einer einzigen klagenden Hoboe, in tausend Verschlingungen, aus tausend +Verschleierungen immer wieder durchklang und durchklingen wird bis zum +Schlußakkord – das war in derselben Minute, da bei Konsul Möbius die Tür +aufging und Olga Radó ins Zimmer trat. + +Gegen Konsul Möbius war im allgemeinen nichts einzuwenden. Es war der +Verkehr, den Tante Emilie selbst ausgesucht hatte. Die Familie stammte +irgendwoher aus Lübeck oder Bremen, und sie sprachen ein spitzes „st“, +was ihren ohnehin manierlichen Umgangsformen noch einen leisen +besonderen Duft von kühler Vornehmheit verlieh. + +Es waren zwei Töchter da, Fanni und Emmi, beide jünger als Mette, beide +rotblond und sehr ordentlich in Anzug und Haartracht, dabei beide so +merkwürdig belanglos, daß man nach wochenlangem Umgang noch nicht wußte, +ob sie eigentlich hübsch oder häßlich waren. + +Wie es sich mit der Verwandtschaft zu Olga Radó verhielt, wird sich wohl +jetzt mit Sicherheit nicht mehr feststellen lassen. Als Olga damals in +Berlin auftauchte und alle Welt von ihr begeistert war, hieß es immer: +„Unsere Cousine.“ Später – zu der Zeit, als Jürgen von Seyblitz schon +das Wort von der „kriminellen Hochstaplerin“ auf sie geprägt hatte – da +war in Frau Konsul Möbius’ Gedächtnis jede Erinnerung an eine +Verwandtschaft völlig erloschen. Ihr Schwager, der Mann ihrer +verstorbenen Schwester, hatte eine Preßburgerin geheiratet, diese hatte +einen Vetter in Budapest, der eine Schwester der Olga Radó zur Frau +hatte ... oder so ähnlich. + +Olga selbst hat nebenbei von dieser „Verwandtschaft“ mit Konsul Möbius +nie viel Gebrauch gemacht, weder in guten noch in schlechten Zeiten. Es +ist nicht vorgekommen, daß sie das Haus betreten hat, wenn sie nicht +dreimal darum gebeten wurde. + +Mette hatte mit den Möbiusschen Mädchen und Erika Hannemann ein +Kränzchen. Einmal in der Woche kamen sie zusammen und machten +Handarbeiten und lasen französische Theaterstücke mit verteilten Rollen. + +Mette langweilte sich wahnsinnig dabei, sie hörte nie danach hin, wenn +die anderen lasen und versäumte immer, zur rechten Zeit einzufallen. Am +schlimmsten aber war es, wenn sie selber einen langen Absatz zu lesen +hatte. Dann mußte sie bei jeder Zeile ein Gähnen unterdrücken, so, daß +sie nachher immer förmlich einen Kinnbackenkrampf hatte. + +Und an einem solchen Mittwochnachmittag im April, als die vier wieder in +den weißlackierten Stühlen des zierlichen Mädchenzimmers saßen, an einem +Nachmittag, an dem Fliegen nicht mehr herumschwirrten, sondern träge +über die Kuchenschüsseln krochen, weil ihnen die Langeweile in der Luft +wie ein Bleigewicht auf den Flügeln lastete, in dem Augenblick, da Fanni +Möbius – sie war die einzige, die eine gewisse Leidenschaft für die +Sache hatte und den Ehrgeiz besaß, immer die dankbarsten Rollen zu lesen +– mit überschwenglichem Pathos und miserabler Aussprache die Worte las: + + „_Impitoyable honneur, mortel à mes plaisirs,_ + _que tu me vas coûter de pleurs et de soupirs!_“ + +in dem Augenblick ging die Tür auf, und Olga Radó kam herein. + +Es mußte durch einen Zufall irgendwo eine Tür offenstehen – mit Olga +zugleich kam ein Luftzug, frisch wie ein Windstoß, ins Zimmer. Das +angelehnte Fenster sprang auf, die weiße Mullgardine blähte sich und +flog in die Höhe, die Seiten der Bücher blätterten sich knisternd um, +die Fliegen schwirrten aufgestört um die Lampe, eine Hand am Himmel riß +einen Wolkenfetzen von der Sonne – blendende Helligkeit und wehende Luft +füllte das Zimmer bis in seinen letzten Winkel. + +Dann schloß sich die Tür mit einem harten Krachen, die Fensterflügel +bewegten sich knarrend, die Gardine fiel schwer wie ein Sack herunter, +eine neue dunklere Wolke schob sich vor die Sonne – aber dies alles +bemerkte Mette Rudloff nicht – denn sie hatte vollauf zu tun, Olga Radó +zu betrachten und konnte ihre Sinne und ihre Gedanken nicht wieder von +ihr abwenden – für lange Zeit nicht. + +Olga war sehr groß und sehr schlank. Ihr Gesicht war schön und kühn +geschnitten. Das schlichte, dunkle, reiche Haar ließ viel von der hohen +und wundervoll durchgebildeten Stirne frei, die schmalen, schwarzen +Brauen flossen über der Nasenwurzel zusammen, was den scharfen, +metallisch-grauschimmernden Augen einen fast drohenden Ausdruck gab. +Ihre Sprache war scharf und hart. Aber ihre Stimme hatte einen tiefen, +weichen Celloklang. Das gab einen sonderbaren Kontrast. + +Es war etwas in ihrer Art, sich zu kleiden, was Mette gefiel, ohne daß +sie sagen konnte, warum. Man konnte es mit einem Wort wie +„geschmackvoll“ oder gar „elegant“ oder „adrett“ nicht abtun. Mette +empfand dunkel: so möchte ich angezogen gehen. + +Woran das lag, das wurde ihr erst viel später klar. Olga Radó hatte eine +fast krankhafte Abneigung gegen alles, was billig war. Ein billiger +Stoff, ein billiger Schneider waren ihr ein Greuel. + +Außerdem hatte sie – wie sie Mette viel später einmal mit ihrem +bezauberndsten Lächeln sagte – „das sehr ehrenwerte Prinzip, lieber +einem Millionär etwas schuldig zu bleiben, als einer armen kleinen, +hungernden Schneiderin“ – also ließ sie nur in den teuersten Geschäften +arbeiten. + +Als sie hineinkam, machte Emmi Möbius den mißglückten Versuch einer +feierlichen Vorstellung, den Olga mit einem kurzen „Ja, ja, schon gut – +und so weiter und so weiter –“ abschnitt, worauf sie jedem flüchtig ihre +große, schmale, kühle Hand reichte, sich mit einem: + +„Bitte, laßt euch nicht stören“ – ein wenig abseits in den Schaukelstuhl +setzte, Fannis kleinen, schwarzen dicken Hund, der sie wie unsinnig +anblaffte und anwedelte, am Genick packte und auf ihre Knie setzte. + +Fanni fuhr fort zu lesen. Vielleicht dachte sie ihrer Cousine durch +diese ernsten wissenschaftlichen Bestrebungen zu imponieren. + +Mette war gezwungen, ins Buch zu sehen und Olga den Rücken zuzuwenden. +Sie hörte nur den Schaukelstuhl leise auf und ab gehen, ein leichtes +Rauschen der Röcke und manchmal eine halblaute Bemerkung, die dem Hunde +galt. + +Mette verspürte Trockenheit im Hals und rasendes Herzklopfen, als sie +lesen sollte. Nie hatte sie sich in der Schule so geängstigt, und wenn +sie noch so unpräpariert „drangekommen“ war. In jedem Wort schien ihr +eine Fußangel versteckt. Sie würde alles falsch aussprechen und sich +unrettbar blamieren. Es war wirklich ein Skandal, so wenig Französisch +zu können. Morgen wollte sie zu Vater gehen und ihn um französische +Konversationsstunden bitten. Er würde sich freuen, wenn sie ihm einmal +mit solchem Anliegen kam. + +Sie war glücklich, als sie ihre paar Sätzchen hervorgewürgt hatte. Dann +kam Erika, und dann las Fanni wieder mit allem ihr zu Gebote stehenden +Pathos. + +Plötzlich flog der Schaukelstuhl mit einem hörbaren Ruck nach vorn, und +eine tiefe, verwunderte Stimme fragte mitten in den Satz hinein: + +„Sagt mal, was lest ihr denn da eigentlich?“ + +„Den Cid!“ sagte Fanni in einem unendlich ausdrucksvollen Ton. + +Es sollte ganz leicht hingesagt werden, und doch zitterte die Ehrfurcht +vor der eigenen Gelehrsamkeit darin. Es sollte ausdrücken: Das hört doch +ein gebildeter Mensch beim ersten Wort, und zugleich: Freilich, +dergleichen liest du ja nicht, das ist dir zu klassisch, zu langweilig. + +Olga schenkte diesem Ton gar keine Beachtung. Sie schien mit einer +leichten ungeduldigen Handbewegung die Antwort als unzulänglich beiseite +zu werfen. + +„Was für eine Sprache, meine ich?!“ + +Die Mädchen sahen sich an und lachten, halb erstaunt und halb verlegen. +Nur Mette lachte nicht, sondern schämte sich qualvoll. + +Die Möbiussens kannten ihre Cousine zu gut, um zu antworten. Aber Erika +Hannemann war wirklich der Meinung, Olga Radó wäre in fremden Sprachen +nicht so bewandert wie sie und sagte mit der ganzen Herablassung der +höheren Tochter: + +„Französisch!“ + +Der Schaukelstuhl glitt wieder zurück. Über Olgas Gesicht zuckte nicht +der Schein eines Lächelns. Sie sagte mit so langgezogener Verwunderung, +als hätte ihr jemand im Ernst eine überraschende Mitteilung gemacht: + +„Französisch soll das sein?!“ + +Nun wollte Emmi ihr das Buch aufdrängen. Ob es wirklich Bildungstrieb +bei ihr war oder die Absicht, sich vor den anderen mit Olgas +wunderschönem Französisch großzutun, sie quälte und quängelte: + +„Lies _du_ doch, ach bitte, bitte, nur eine halbe Seite, nur einen +Satz!“ + +„Hältst du mich für verrückt?“ + +„Ach bitte, bitte!“ + +„Den Deibel auch! Ich bin doch nicht eure Gouvernante!“ + +Und da das Buch sich nicht von ihr entfernen wollte, knipste sie mit den +Fingern dagegen, daß es mit einem schönen großen Bogen auf den Teppich +hüpfte und mit zugeschlagenen Deckeln liegen blieb. + +Mette war sehr froh. Nun war die Leserei für heute beendet. Sie brauchte +nicht die langen Sätze des Königs zu lesen, vor denen sie sich schon +gefürchtet hatte. Sie brauchte sich nicht zu blamieren und nicht zu +langweilen. Und vor allem – sie konnte ihren Stuhl herumdrehen und Olga +Radó anstarren. + +Es war so interessant, ihren Bewegungen oder dem fortwährend wechselnden +Ausdruck ihres Gesichtes zuzusehen. + +Mette war sich klar darüber, daß diese Frau ihr gefiel. Und doch spürte +sie in ihrem Empfinden mehr Feindseligkeit als Zuneigung. Niemand von +den andern schien beleidigt. Mette war es, als ob der scharfe Spott nur +sie getroffen hätte, nur sie hätte treffen sollen. + +Sie hätte viel darum gegeben, wenn sie die Spitze hätte zurückwerfen +können, oder sich wenigstens mit Trotz und Verachtung panzern. Aber sie +fühlte sich wehrlos, hilflos preisgegeben und wünschte sich, unsichtbar +zu sein, sich in ein Mauseloch zu verkriechen, um zu sehen, zu hören, zu +beobachten, ohne bemerkt zu werden – um jeden Blick dieser Augen, jedes +Wort dieser Stimme gierig in sich aufzunehmen, ohne davor zu zittern, +daß ein scharfer Blick, ein scharfes Wort sie treffen, sie verletzen, +sie demütigen konnte. + +Olga Radó schenkte ihr indessen keine Beachtung. Sie hatte auf dem +Fußbrett eines Tischchens eine Zigarettenschachtel entdeckt und zog sie +hervor. Daneben, in zierlichem Kästchen, lag ein Spiel Karten. + +„Da, schau her! Zigaretten haben die Mäderln auch hier! Ihr seid mir ja +ein schöner Klub der Harmlosen! Offiziell wird der Cid gelesen, und wenn +kein Erwachsener es merkt, dann wird hier geraucht und gepokert!“ + +Fanni Möbius wollte sich halbtot lachen, sowohl über die Zumutung, daß +sie pokern sollte, als darüber, daß sie mit ihren achtzehn Jahren noch +nicht zu den Erwachsenen gerechnet wurde. + +„Es sind Emmis Karten!“ + +„Nein!“ schrie Emmi. + +„Doch! Ich sag’s, Emmi, ich sag’s! Sie legt sich jeden Abend Patiencen – +und fragt ...“ + +„Tu doch nicht so – du legst dir ja auch welche ...“ + +„... und fragt ...“ + +„... Sie lügt, sie lügt, sie lügt!“ + +„... und fragt ... soll ich’s sagen, Emmi? ...“ + +„... sei still! ...“ + +Zwischen den beiden Schwestern entspann sich ein Handgemenge, das +Tischchen kam ins Schwanken. Olga rettete es mit einem raschen und +kraftvollen Zugreifen. + +„Kinder, tobt nicht so!“ sagte sie ruhig. „Bist du so neugierig, deine +Zukunft zu erfahren, Emmilein?“ + +Das „Emmilein“ gab Metten einen leisen Stich. Wie kam der alberne +Backfisch dazu, von dieser Frau mit solcher Vertraulichkeit angeredet zu +werden?! + +„Soll ich dir mal die Karten legen?“ + +„Kannst du das, Olga? Oh, fein!“ + +„Ja, mach, bitte, bitte, mir auch!“ + +„Wirklich, ja? Kannst du das?“ + +„Natürlich!“ sagte Olga ernsthaft. „Das ist doch das einzige, was ich +kann. Das hab’ ich wenigstens gelernt von den Zigeunern. Wenn’s einmal +schief mit mir geht, etablier ich mich als Kartenlegerin. Weißt du, mit +Eule und Totenkopf und Kaffeegrund und allem Zubehör. Im Dutzend +billiger. Nimmst du Abonnement bei mir?“ + +„Ehrensache!“ versprach Emmi. „Aber heut’ machst du’s noch umsonst!“ + +„Nein,“ sagte Olga, „für eine Zigarette.“ + +Sie nahm den Kasten auf und schob eine zwischen die Zähne. „Ich hab’ +nämlich keine bei mir!“ + +Erika Hannemann beeilte sich, ihr ein brennendes Streichholz zu reichen. +Sie sog ein paarmal an der Zigarette, bis sie aufflammte und schlug das +Streichholz durch die Luft, daß es erlosch. + +„Danke!“ sagte sie dann erst. + +Mit einem flüchtigen Blick sah sie, daß Mette sich eine Zigarette +genommen hatte. + +„O Verzeihung!“ sagte sie so bedauernd, als hätte sie ein wirkliches +Unrecht abzubitten, während ein halber Blick die Aschenschale mit dem +verglimmenden Streichholz streifte. Rasch, fast eilig nahm sie aus ihrer +Tasche ein kleines goldenes Feuerzeug, strich es an und reichte Metten +das Flämmchen hinüber. In ihren Bewegungen, die die einfachsten, die +ungezwungensten von der Welt waren, lag ein eigener Ausdruck. + +Es war weit mehr als Höflichkeit, und doch lag keine Spur von +Unterwürfigkeit darin. Es war eine Mischung von Zuvorkommenheit und +Zurückhaltung, von Adel und Dienstbeflissenheit, die man nicht gut +anders als mit dem Wort „chevaleresk“ bezeichnen konnte. + +Sie bot auch den andern Zigaretten und Feuer. + +„Raucht, Kinder, raucht! Wenn die Mutter nachher schimpft, bin ich’s +gewesen.“ + +Sie hielt immer noch den kleinen schwarzen Hund auf den Knien und blies +ihm den Zigarettenrauch um die Nase. Der Hund schnitt possierliche +Grimassen, und sie bemühte sich, ihm nachzumachen. – + +Sie hatte überhaupt die Angewohnheit, ihr Gesicht zu verzerren, ohne im +geringsten Rücksicht darauf zu nehmen, ob es sie kleidete oder +entstellte, so daß man sich manchmal qualvoll danach sehnte, das allzu +lebhafte Mienenspiel zu unterbrechen, um die regelmäßige Schönheit der +Züge genießen zu können. + +Nur sagen durfte man ihr das nicht, sonst bekam sie es fertig, ohne +Aufhören die greulichsten Fratzen zu schneiden. + +Der Hund rümpfte die Nase, drehte den Kopf und hustete und prustete in +beleidigter Würde. + +„Ihr dürft eure Sophonisbe nicht so verfüttern, Kinder!“ sagte Olga. +„Sie hat ja schon Asthma vor Fettsucht, das arme Viech!“ + +Die Mädchen lachten kreischend auf. + +„Sophonisbe! Wie kommst du nur auf Sophonisbe?“ + +„Er heißt doch Mäuschen.“ + +„Er?“ sagte Olga spöttisch und legte das zappelnde Tier mit einem festen +Griff auf den Rücken. „Er ist ganz bestimmt eine Sie. Und sie sieht aus +wie Sophonisbe!“ + +Die Mädchen erröteten bis über die Ohren und kicherten nur noch in +gedämpften Tönen. + +„Nein, Olga, wie du aber auch bist!“ + +„_Warum_ sieht sie aus wie Sophonisbe?“ + +„Ich weiß nicht,“ sagte Olga plötzlich müde. Ihr Gesicht war einen +Augenblick ganz ruhig, ihre Augen sahen irgendwohin, an den Mädchen +vorüber, durch die Wände hindurch. + +„Danach dürft ihr mich doch nicht fragen. Auf die Frage: Wie? kann ich +manchmal antworten, aber niemals auf die Frage: Warum?“ + +Sie zog den Hund wieder in die Höhe und versuchte, ihm die Zigarette in +die Schnauze zu stecken. + +„Magst du rauchen, Sophonisbe? Da! Schmeckt’s, Alterchen?“ + +Der Hund drehte den Kopf und leckte mit der Zunge nach ihrer Hand, die +ihn im Genick festhielt. Mit einer Gebärde des Widerwillens warf sie die +Zigarette in die Aschenschale und ließ den Hund auf die Erde gleiten. + +„Du mußt dem Köter das Lecken abgewöhnen, Fanni,“ sagte sie. „Ich sehe +dich ja doch noch am Hundewurm zugrunde gehen.“ + +„Ach, Unsinn!“ sagte Fanni und nahm den beleidigten Hund zärtlich in die +Arme. „Mein Hund hat keine Würmer! Nicht wahr, Mäuschen, wo du doch so +schön rein gehalten wirst?“ + +Der Hund schnupperte zärtlich nach ihrem Gesicht. + +Olga zog die Brauen zusammen und machte eine hastige Bewegung, als +wollte sie ihr den Hund wegnehmen. Aber sie unterbrach sich und lehnte +sich in den Schaukelstuhl zurück. + +„Meinetwegen,“ sagte sie, „der Mensch muß an dem zugrunde gehen, was er +liebt. Mir wär ja so ein Köter das nicht wert. Aber wenn es dir +Vergnügen macht. Schließlich, ob du nun am Echinokokkus krepierst, oder +ob dich nachher ein Liebster oder kirchlich angetrauter Gatte mit +Syphilis behaftet ...“ + +Die drei Mädchen kriegten glühendrote Köpfe und fingen an zu kichern. + +Auch Olga Radó wurde rot. Aber es war eine andere Art zu erröten. Die +hellen Gesichter der blonden Mädchen waren wie gedunsen vom Blut und vom +unterdrückten Lachen. Über Olgas Gesicht lief das tiefe Rot wie ein +flüchtiger Schatten, wie eine Wolke, die für einen Herzschlag selbst die +Augen verdunkelte. + +„Gänse!“ sagte sie zornig, „da ist doch, weiß Gott, nichts zu lachen.“ + +Die Mädchen wollten sich entschuldigen und konnten vor Prusten und +Kichern nicht reden. + +Olga hob die Hand und ließ sie fallen – durch die abendliche Dämmerung +leuchtete die lange, schmale Hand mit einem seltsamen Glanz wie Silber +oder Perlmutter – mit einer Geste, die ganz deutlich „Ach, laßt doch!“ +sagte, so deutlich, als stände es in der Luft geschrieben. + +Sie saß jetzt ganz vornübergebeugt. Ihre Hände lagen wie müde zwischen +ihren Knien. Sie starrte hinaus in das blaue Dämmerlicht und das +knospenbedeckte Gewirr der braunen Zweige. + +Sie schwiegen alle eine Weile. Dann fingen Emmi und Erika ein Gespräch +an, im Flüsterton, als wagten sie kaum, sich bemerkbar zu machen. + +So plötzlich stand Olga auf, daß der Schaukelstuhl nach rückwärts flog. + +„Macht Licht an!“ sagte sie beinah herrisch. „Ich werd’ euch die Karten +legen!“ – + +Sie saß am Tisch unter der Lampe. Das gelbe Licht fiel schimmernd auf +ihr Haar und auf ihre hellen Hände, die mit raschen Bewegungen die +Karten mischten und ausbreiteten. + +„Wem zuerst? Dir, Fanni? Dann mußt du abheben – dreimal – so! Muß ich +nun auch erst Hokuspokus sagen, oder glaubt ihr mir so? – Die Karodame +bist du – da liegt ein schwarzer Jüngling – da liegt eine Reise, in der +Vergangenheit – ein heimlicher Brief – in der nächsten Woche – oh, Ärger +im Haus – das hängt mit dem Brief zusammen – Trennung – viele Tränen – +siehst du die Treffzehn? – Da liegt eine große Veränderung – eine neue +Bekanntschaft – ein blonder Herr – Verlobung und Heirat – viel Glück ins +Haus – aber der Schwarze liegt doch dazwischen – neben dem Blonden liegt +Reichtum und große Ehre ...“ + +Die Mädchen horchten in fieberhafter Spannung, Fanni preßte die Hand mit +dem Taschentuch vor die Zähne und kniff Emmi bei jedem Wort in den Arm, +während Emmi und Erika mit mühsam unterdrücktem Gekreische in halb +artikulierte Rufe ausbrachen, die man ganz gut als „Max“ und +„Travemünde“ deuten konnte. + +„Ich glaube nicht an Kartenlegen,“ sagte Erika Hannemann überlegen, +„aber aus der Hand wahrsagen, da ist schon eher was dran. Meinem Vetter +hat mal eine Zigeunerin gewahrsagt ...“ + +„Kannst du aus der Hand wahrsagen?“ schrie Emmi. „Ach, bitte, bitte, +Olga, kannst du nicht aus der Hand wahrsagen? Oder besser aus den +Karten?“ + +„Ich kann auch aus der Hand wahrsagen,“ sagte Olga, „genau so gut wie +aus den Karten.“ + +Sie nahm Emmis kleine, rundliche Hand und zog gedankenvoll die Linien +nach. + +„Die Lebenslinie ist ganz, siehst du? Du wirst ein langes Leben haben – +aber die Linie des Hirns ist zerschnitten – die Linie des Tisches hast +du überhaupt nicht – – –“ + +„Was bedeutet die?“ forschte Emmi dringend. + +„Je nachdem – Güte oder Bosheit – du bist jenseits von gut und böse.“ +Dabei zuckte es um ihre Mundwinkel. „Aber hier, Ordnung und Sparsamkeit, +die sind sehr ausgeprägt bei dir – das scheinen deine Haupteigenschaften +–“ + +Jetzt war die Reihe zu lachen an Fanni. + +„Aber nimm dich nur in acht, dir steht eine unglückliche Liebe bevor – +in Verbindung mit einer Kunst – mit Musik, glaub’ ich ...“ + +Emmi wurde blutrot und Fanni tanzte auf einem Bein herum und schrie: + +„Wassermüller, Wassermüller!“ + +Das war der Klavierlehrer. + +Mette war befangen in einem sonderbaren Zwiespalt. Sie hätte so gern +sich wahrsagen lassen – schon, um die schöne Frau anreden zu dürfen. + +Dabei schien es ihr aufdringlich, sie zu belästigen. Sie wollte auch +nicht gern für abergläubisch gehalten werden. + +Olga Radó belustigte sich sicherlich über den Feuereifer, mit dem die +Mädels bei der Sache waren. Und dann wieder hatte Mette eine Angst, die +sie selbst kindisch schalt: so, als wäre doch vielleicht ein +geheimnisvoller Zauber in dieser Spielerei, und es könnte klar und +deutlich eine furchtbare Eigenschaft in ihrer Handfläche stehen, eine, +die sie selbst nicht kannte, oder ein entsetzliches Schicksal. + +Vielleicht würde die schöne Zigeunerin vor Schreck erblassen und sagen: +„Quälen Sie mich nicht, ich kann Ihnen die Wahrheit nicht sagen, die da +zu lesen ist.“ + +Und plötzlich stand sie doch neben Emmi und streckte die Hand aus und +sagte: + +„Ach, bitte, bitte, mir auch!“ + +Olga sah zu ihr auf, und zum erstenmal trafen sich ihre Augen und +blieben für ein paar Sekunden ineinander haften. + +Olga lächelte. Und Metten wurde bewußt, daß sie dies Lächeln zum +erstenmal sah. In dem fortwährend wechselnden Mienenspiel blieb das +Gesicht fast immer ernst. Sie runzelte die Brauen, kniff die Augen +zusammen, schob den Unterkiefer vor, legte die Zähne auf die Lippe, +zuckte mit den Nasenflügeln, verzog die Mundwinkel in leichtem Spott, +aber sie lächelte sehr selten. Jetzt zum erstenmal lächelte sie, +lächelte Metten an, und es schien wirklich, als ob das ganze Gesicht +seltsam erhellt wurde von einem plötzlich durchbrechenden Licht. + +„Aber, Mädelchen!“ sagte sie halblaut mit ihrer tiefen Stimme. „Von +Ihnen weiß ich doch nix! ...“ + +Als sie nachher auf der Diele nebeneinander standen und vorm Spiegel die +Hüte aufsetzten, sah Mette mit einer unerklärlichen Freude, daß sie fast +ebenso groß war wie Olga Radó, viel größer als die drei blonden, +rundlichen Mädels. + +Sie gingen zu dritt die Treppen hinunter und ein Stück die Straßen +entlang. Erika Hannemann führte das Gespräch. + +„Nein, wie Sie das wissen konnten, Fräulein Radó, von Travemünde die +Sache und von Wassermüller ... von Fannis Max weiß ich ja alles, weil +ich es direkt miterlebt habe – ich war ja auch in Travemünde ... kennen +Sie es? – Ach, Travemünde ist entzückend ... Ich möchte dies Jahr zu +gern wieder hin, es hat so feines Publikum, soviel gute Hamburger und +Lübecker Familien ... aber meine Eltern wollen ins Gebirge ... ins +Salzkammergut, glaub’ ich ... wissen Sie da nicht irgendeinen hübschen +Ort? Aber einen, wo ein bißchen was los ist?!“ + +Olga Radó sagte von Zeit zu Zeit: „Ja, nicht?“ – „nein!“ – „so!“ – +„ach!“ – „nein!“ – + +Mette schwieg. + +An irgendeiner Ecke nahm Erika Hannemann Abschied und bog links um. + +Olga und Mette gingen eine Weile schweigend mit raschen Schritten +nebeneinander her. + +Mette hätte längst abbiegen müssen, wenn sie auf dem nächsten Weg nach +Hause wollte. Sie kam sich aufdringlich vor, daß sie immer noch nebenher +lief, aber sie war viel zu froh, daß Erika endlich fort war – so, als +sei nun die Luft reiner geworden und man könne freier ausschreiten – es +war eine Freude, sich dem Takt dieser schönen und gleichmäßigen Schritte +anzupassen, und sie tröstete sich damit, daß ja niemand wußte, wo sie +wohnte, und daß sie ein Recht auf die Straße hatte, gerade so gut wie +jeder andere auch. + +Mette sah jedem Haus mit einer gewissen Beklommenheit entgegen: War es +nun dies oder das nächste, an dem Olga Radó stehenblieb, nach einem +flüchtigen Gruß hineinging, eine schwere Tür hinter sich verschloß und +die Straße sehr einsam und öde hinter sich zurückließ? + +Nach einem minutenlangen Schweigen sagte Olga plötzlich: + +„Es war nicht richtig, in Gegenwart dieser Kälber von Syphilis zu reden, +gelt? – Sie werden sehr chokiert gewesen sein.“ + +„Ich?“ sagte Mette und bekam einen roten Kopf. + +„Nein, nein! Sie nicht! Sie – klein geschrieben – die Kälber.“ + +„Aber, gnädiges Fräulein! Machen Sie sich darüber Gedanken?“ Es schien +Metten wirklich höchst lächerlich, sich über das Urteil der Kälber +Gedanken zu machen. + +„Ja doch!“ Olga Radó wandte den Kopf und heftete die Augen einen Moment +lang scharf und ernst auf ihr Gesicht. „Denken Sie, ich mache mir +darüber Gedanken. So etwas kann mich direkt quälen. Ich verkehre nur mit +so erwachsenen Menschen, daß ich ganz die Schätzung verloren habe, was +man in einer solchen Gesellschaft sagen darf. Ich glaube, die jungen +Mädchen aus guter Familie dürfen von Syphilis nicht eher etwas hören, +als bis sie sie selber haben.“ + +Mette lachte mit geschlossenen Zähnen leise auf. + +„Es wäre schon zum Lachen,“ sagte Olga Radó, „wenn es nur nicht so +furchtbar traurig wäre. Ich habe jetzt wieder so einen Fall erlebt. +Darum komme ich mit den Gedanken nicht los davon ... Sagen Sie, war ich +sehr unliebenswürdig zu dem kleinen Ekel?“ + +Jetzt lachte Mette hell auf. + +„Zu wem?“ + +„Ich weiß nicht, wie das heißt. Was hier neben uns herlief. Sie sind +doch nicht befreundet, gell, nein? Verzeihen Sie, das war eine dumme +Frage!“ + +Metten war, als hätte noch nie im Leben jemand ihr ein solches Lob +gespendet. Sie war stolz und dankbar zu gleicher Zeit. + +„Ich bin mit keinem Menschen befreundet,“ sagte sie, ernster und +schwerer, als es eigentlich ihre Absicht gewesen war. + +Nun war doch das Haus da, vor dem Olga Radó plötzlich stehenblieb. + +„Hier bin ich daheim,“ sagte sie, „wenn man ein Pensionszimmer ‚daheim‘ +nennen darf. Aber – schließlich – was darf man so nennen? Kennen Sie die +Pension Flesch?“ + +„Ich kenne überhaupt keine Pensionen.“ + +„Sie Glückliche! Sie wohnen bei Ihren Eltern!?“ + +„Bei meinem Vater.“ + +„Ach, die Pension ist ganz nett. Ich habe in schlimmeren gehaust. Kommen +Sie doch gelegentlich mal hinauf zu mir und schaun’s sich meine Bude +an!“ + +„Aber gern!“ – – – + + * * * * * + +Dies „gern“ war keine leicht hingesprochene Redensart. + +Mette dachte in der nächsten Zeit Tag und Nacht darüber nach, wie sie es +anstellen sollte, dieser Aufforderung zu folgen und Olga Radó +aufzusuchen. + +Sie war manchmal schon auf dem Wege, hinzugehen. Dann kehrte sie um, +weil sie sich lieber vorher telephonisch anmelden wollte. Wieder schien +es ihr unpassend, einen Menschen durch telephonischen Anruf zu stören. +Sie wollte ihr schreiben. Aber das gab der Sache einen solchen Anstrich +von Wichtigkeit und Förmlichkeit, nahm ihr alles Zufällige, +Gelegentliche. Und dann – wenn sie eine höfliche Absage bekam, war ihr +jede Möglichkeit genommen, einen weiteren Versuch zu machen. Wenn sie +dagegen einfach hinging und sie nicht antraf, konnte sie ihre Karte mit +ein paar Worten dalassen – und auf eine Nachricht warten. + +Sie ging – ging bis vors Haus und ging doch wieder nicht hinauf. Aber +sie ging ein paarmal die Straße auf und ab und stand sehr lange und +versunken vor einigen äußerst reizlosen Auslagen. Es hätte doch sein +können, daß Olga Radó zufällig gerade um diese Zeit das Haus verließ, +oder besser noch, heimkam, und sie aufforderte, mit hinaufzugehen. + +Außerdem pflegte Mette den Verkehr mit Möbiussens mit rührendem Eifer. +Sie lud sie ein, sooft es Tante Emilie erlaubte, sie ging hin, sooft sie +aufgefordert wurde; sie hatte zwischendurch hundertmal zu telephonieren, +um irgendeine Verabredung festzustellen. Sie lieh sich Bücher aus, die +sie holen und wiederbringen mußte und bemühte sich bei alledem, so +liebenswürdig zu sein, daß Frau Konsul ganz entzückt von ihr war und +Tante Emilien gegenüber nicht oft genug betonen konnte, wie Mette sich +zu ihrem Vorteil verändere – was Tante Emilie meist mit einem stummen +und fast beleidigten Achselzucken erwiderte. + +Das ging durch Wochen so. Aber Mette verlor die Geduld nicht. Es war +genug, wenn von Zeit zu Zeit ein Wort fiel, „... wie Olga immer sagt“ +oder „das hat Olga so gern“. Es war genug und fast zu viel, wenn Fanni +sagte: + +„Gestern abend war Olga auf einen Sprung oben, ich finde, sie sieht +schlecht aus!“ + +Oder, wenn Emmi, die sich in dieser Zeit so etwas wie eine Schwärmerei +für Mette zurechtlegte, sagte: + +„Mette hat so wunderschöne Hände, beinah so schöne wie Olga ...“ + +Ach, es war genug, den kleinen schwarzen Hund auf den Knien zu halten +und ihn lachend „Sophonisbe“ zu nennen. + +All das gab Hoffnung und Spannung für Tage. Mette fing in dieser Zeit +an, das Leben schön zu finden. + +Aber sie wußte nicht, warum. – – – + + * * * * * + +Eines Abends – die Mädels saßen noch im Dämmer zusammen – weil es sich +besser reden ließ als beim grellen Lampenlicht, und Mette ließ sich zum +drittenmal die Geschichte von Max und Travemünde erzählen, und wie es +„angefangen“ hatte – schrillte die Klingel, und ein paar Sekunden später +klang im Nebenzimmer mit Frau Konsuls dünnem, sanftem Organ die tiefe, +tönende Stimme, die Metten ein Erschrecken bis ins Herz jagte. + +Sie kannte diese Stimme so genau und fürchtete doch, daß sie sich +täuschen könnte. Sie wollte fragen: „Ist das nicht Olga?“ und fürchtete, +ein „Nein“ als Antwort zu bekommen. Und mehr als alles fürchtete sie, +daß dies Gespräch nebenan verstummen könnte – daß die Türen gehen +könnten und es nachher heißen würde: „Eben war Olga auf einen Moment +hier“. + +Die Stimmen verstummten nicht. Sie wurden lauter, kamen näher, die Tür +wurde rasch und weit aufgemacht, und im Rahmen stand Olgas hohe +Erscheinung, abgehoben von dem gelben Licht, das das Nebenzimmer füllte, +wie ein gedunkeltes Bild von goldenem Grund. + +„Kinder, wollt ihr morgen bei mir Tee trinken?“ rief sie in das dunkle +Zimmer. „Ich habe ‚Kugler‘ geschickt bekommen.“ + +Die beiden Möbius-Mädchen juchten auf. + +Emmi rückte einen Stuhl und wollte Olga hineinziehen, aber die wehrte ab +und ließ die Hand nicht von der Türklinke. + +„Nein, nein, Kinder, ich habe keine Minute Zeit. Aber kommt morgen +zeitig, um vier, halb fünf spätestens, ich muß abends in die Oper.“ + +Mette rührte sich nicht. Als die Tür aufging, hatte sie ein halblautes +„Guten Abend“ gesagt. Nun schien es ihr aufdringlich, sich irgendwie +bemerkbar zu machen. Vielleicht hatte Olga sie in ihrer dämmerigen Ecke +gar nicht gesehen. Vielleicht hatte sie sie aber auch nicht sehen +wollen. Es wäre ja begreiflich gewesen. Aber irgend etwas tat weh dabei. + +„Wollen Sie nicht mitkommen, Fräulein Rudloff? Wenn Sie nix Besseres +vorhaben – Sie sind herzlichst eingeladen ...“ + +„Gern!“ sagte Mette, und wurde blaß vor Freude. – – – + + * * * * * + +Am andern Tag brachte Mette so viel Zeit damit hin, sich anzuziehen und +herzurichten, als ob sie zum Ball gehen wollte. + +Tante Emilie war für Ordnung und Sauberkeit in der Kleidung, soweit das +eben zur Musterhaftigkeit gehörte, aber beileibe nicht für mehr. Ein +Mensch, der mit aller Gewalt hübsch aussehen wollte, der war schon halb +in den Krallen des Satans. + +(Ach, wie recht hatte doch Tante Emilie manchmal mit ihren Ansichten!) + +Mette wollte heute mit aller Gewalt hübsch aussehen. Sie schnitt und +feilte und polierte eine Stunde an ihren Nägeln. Sie versuchte dreimal +eine neue Haartracht. Sie überlegte, unter welchem Vorwand sie das blaue +Taffetkleid anziehen sollte, es war das gute, das neue, das einzige, in +dem sie, ihrer Meinung nach, erträglich aussah. Aber Tante Emilie würde +es ihr ja für einen einfachen, kleinen Nachmittagstee nie gestatten. + +Tante Emilie ging _schon_ herum, als wollte sie durch fortdauernde +Spionage die Bestätigung eines furchtbaren Verdachtes erbringen. + +Alle paar Minuten wurde die Tür zu Mettes Zimmer aufgerissen. + +„Herr Gott im Himmel! Du frisierst dich _noch_?“ + +Und nach fünf Minuten: + +„In _welcher_ Straße ist das, wo ihr nachmittag hingeht?“ + +Nach zwei Minuten: + +„... _noch_ dünnere Strümpfe konntest du wohl nicht anziehen?! Es ist +heut absolut nicht so übermäßig warm. Ich weiß nicht, in _meiner_ Jugend +war das überhaupt nicht Mode ...“ + +„Holen Möbiussens dich ab, oder holst du sie ab?“ + +„Ich würde mir doch an deiner Stelle eine Maniküre kommen lassen!“ + +„Wer ist denn da _noch_? _Bloß_ ihr drei?“ + +Angesichts dieser Inquisition beschloß Mette, lieber in Rock und Bluse +zu gehen und des blauen Taffetkleides lieber gar nicht erst Erwähnung zu +tun. – – – + + * * * * * + +Als Mette die Wohnung verlassen wollte, stand Tante Emilie mit +Kapotthütchen und Regenschirm bereits an der Flurtür. Sie kam mit bis zu +Möbiussens. Sie hatte schon längst die Absicht gehabt, Frau Konsul +einmal aufzusuchen. + +Nun sei ja sehr gute Gelegenheit. Ihrer Nichte sei doch hoffentlich die +Begleitung nicht unangenehm? + +Mette schwieg. Sie fühlte das lauernde Mißtrauen und glühte vor Zorn. +Sie konnte keine liebenswürdige Antwort geben. Sie gingen wortlos +nebeneinander her, und in beiden brannte der Haß mit schwelender Flamme. +– – – + + * * * * * + +Mette hatte den Druck der Mißstimmung, der auf ihr lag, noch nicht +abschütteln können, als sie schon längst mit den beiden schwatzenden +Mädchen auf dem Weg war. Immer wieder verstärkte sich ihre Pein, wenn +sie dachte: ... und ich hatte mich _so_ gefreut. + +Erst als sie das Haus wiedersah, als sie die Tür öffnete, die Treppen +hinaufstieg, mit dem stolzen Gefühl, vollauf dazu berechtigt zu sein, da +schlug die Freude wieder in ihr hoch, wie eine helle Flammenlohe durch +Qualm und Rauch. + +Mette brannte vor Neugier, das Zimmer zu sehen. Als das zierliche +Hausmädchen sie durch den Türgang führte, empfand sie ein Gefühl, dem +ähnlich, mit dem sie als Kind im Theater vorm geschlossenen Vorhang +gesessen hatte, wenn die Musiker anfingen, ihre Instrumente zu stimmen. + +Das Zimmer lag fast im Dunkel. Rolläden und Vorhänge waren so fest +geschlossen, daß kaum ein Schimmer des regnerischen Tages die +Fenstervierecke heller zeichnete. Direkt neben dem kleinen, niedrigen +Teetisch stand eine hohe, buntbeschirmte Lampe, die ein blendendes Licht +über das weiße Tuch, über das dünne, goldgeränderte Porzellan und über +ein dunkelblaues, mit gelben Primeln angefülltes Jean-Beck-Glas warf. + +Von dem übrigen Zimmer konnte man auf den ersten Blick nicht viel +erkennen. Die Möbel schienen schwer und dunkel, an einer Wand glänzten +im ungewissen Licht lange Reihen von Bücherrücken, hie und da gleißte +die Ecke eines Bilderrahmens auf oder ein Stückchen spiegelnden Glases. + +Olga empfing ihre Gäste mit einer Freude, die herzlich und aufrichtig +schien. + +Metten erschien es unbegreiflich, daß diese Frau sich nicht in kalten +Hochmut wie in einen Panzer hüllte. + +Die Mädchen konnten nicht aufhören, sich über die künstliche Dunkelheit +zu belustigen. + +„Ja,“ sagte Olga, „ich wollte doch meine Bude im vorteilhaftesten Licht +präsentieren. Und am vorteilhaftesten ist so wenig Licht wie möglich. +Außerdem – wenn vor der entsetzlichen grauen Brandmauer da drüben noch +der Regen in Strippen herunterläuft, dann ist das auch weiter kein +erfreulicher Anblick. So kann man denken, da draußen liegt ein +Tannenwald im Schnee, oder Terrassen, die nach dem Meer hinunterführen +oder der Donau-Kai in einer Mainacht, wenn die Akazien blühen.“ + +Mette wurde in einen tiefen Sessel genötigt. + +„Ja, das müssen Sie sich schon gefallen lassen, Sie sind hier unser +Ehrengast, Sie sind doch die Älteste! Jetzt sind Sie wahrscheinlich noch +stolz darauf, wenn Sie erst so alt sind wie ich, dann hört es schon auf, +eine Schmeichelei zu sein.“ + +Mette hatte sich in ihrem ganzen Leben noch nie so zu Hause gefühlt, wie +in diesem Sessel. + +Ihr gegenüber hockte Olga auf einem niedrigen Taburett, hatte schon +längst die unvermeidliche Zigarette zwischen den Fingern und hielt sie +zwischen den Zähnen fest, wenn sie die Hände brauchte, um Tee +einzugießen oder Kuchen herumzureichen. + +Sie war ersichtlich bemüht, ihre Gäste zu unterhalten, aber als Fanni +und Emmi erst ins Schwatzen kamen und sich gegenseitig nicht mehr zu +Wort kommen ließen, wurde sie still und hörte lächelnd zu – wie ein +Erwachsener spielenden Kindern lauscht. + +Wenn eine Pause im Gespräch eintrat, holte sie einen Kasten mit +Photographien hervor, die sie auf Reisen aufgenommen hatte, oder ein +Buch mit Dulacillustrationen oder eine Zeitschrift mit den Porträts der +neuesten Filmstars. + +In Metten wuchs schon wieder ein Gefühl der Pein auf. Sie bekam es kaum +fertig, sich mit einem „Ja“ oder „Nein“ am Gespräch zu beteiligen. + +„Sie gibt sich so krampfhaft Mühe, uns zu unterhalten,“ dachte sie. „Und +im Grunde sind wir ihr langweilig und lästig. Wenn die Tür nachher +hinter uns zufällt, atmet sie auf und sagt: ‚Gott sei Dank‘! Ich kann es +ihr ja auch nicht verdenken. Warum sie uns nur erst eingeladen hat!“ + +Sie hatte die größte Lust, zu gehen, nur um Olga Radó von diesem Besuch +zu befreien. Dabei fühlte sie – wenn sie jetzt mit irgendeiner Ausrede +aufbrechen wollte, und man würde sie fragen, sie bitten, die allgemeine +Aufmerksamkeit würde sich auf sie lenken, dann würden ihr unhaltbar die +Tränen aus den Augen stürzen, die ihr drohend und stechend hinter der +Nasenwurzel saßen. + +Sie war fast froh und tief unglücklich, als Olga plötzlich auf die Uhr +sah und sagte: + +„Kinder, ich muß euch hinauswerfen, so leid es mir tut. Ich muß mich +umziehen, aber schleunigst – die Zeit ist so rasend schnell vergangen.“ + +Im tiefsten Innern litt Mette darunter, daß der ersehnte Nachmittag +schon vorüber war. Aber ihre Gedanken sagten laut und deutlich: „Gott +sei Dank!“ Und sie war erst recht erbittert, daß sie nun eigentlich froh +sein mußte, statt unglücklich zu sein. – – – + + * * * * * + +Mette war leicht geneigt, sich zur Verantwortung zu ziehen. Sie ging am +selben Abend noch scharf mit sich ins Gericht. Sie klagte sich an, dumm, +faul, unwissend und ungewandt zu sein. + +Warum kannte sie die Bücher nicht, die Olga Radó in ihrem Besitz hatte +und las und liebte? Vater hatte sie sicher alle vorn in seinem +Studierzimmer, aber Mette war noch nie auf den Gedanken gekommen, sie zu +lesen. + +Warum war es ihr nicht möglich, _einmal_ etwas Geistreiches zu sagen? +Irgend etwas, das sie mit einem Schlage über das flache Gewimmel dieser +Alltagsbackfische hinaushob. + +Olga Radó merkte sicher an einem Wort, wes Geistes Kind einer war. +Vielleicht hatte sie etwas von ihr erwartet, weil sie ein bißchen anders +aussah als die anderen. + +Mette stand prüfend vorm Spiegel. Sie war hochgewachsen, hatte eine +kluge Stirn und ernste Augen. Und was war dahinter? Nichts, nichts, +nichts! + +Mette schnitt ihrem Spiegelbild zornige Fratzen. + +Was hatte sie den ganzen Nachmittag geredet? „Ja,“ „nein“ und ein paar +alberne Phrasen. + +Aber das kam davon, wenn man blind und taub durchs Leben ging. + +Dann wußte man selbst solche Dinge nicht, von denen die Möbius-Mädeln +schwatzen konnten. Und an alledem war Tante Emilie schuld! + +Das schlimmste aber war – Mette drehte das Licht aus und verkroch sich +unter die Bettdecke, weil das Blut ihr brennendheiß in die Stirn stieg – +das schlimmste war, daß sie, als die anderen vom „Kammersänger von +Wedekind“ gesprochen hatten, allen Ernstes gedacht hatte, es wäre ein +adliger Hofopernsänger und gefragt: „Wie heißt er denn mit Vornamen?“ + +Aber das hatte Olga Radó hoffentlich nicht gehört. – – – + + * * * * * + +Eine Woche lang gab Mette ihre zwecklosen Spaziergänge auf und übte zu +Hause Klavier und lernte französische Vokabeln, und wenn sie eine halbe +Stunde geübt und gelernt hatte, warf sie sich auf den Diwan und starrte +in das Stückchen Himmelblau, von silbrigen Telephondrähten durchschrägt, +das sie von ihrem Platz aus sehen konnte. Und dann flogen ihre Gedanken +– wie das herrlich wäre, alle Sprachen der Welt zu verstehen, oder ein +Instrument vollkommen zu beherrschen, oder eine wundervolle Stimme zu +haben, oder bezaubernd schön zu sein. Aber da man all so etwas doch nie +erreichen konnte, so wäre es vielleicht am angenehmsten, tot zu sein. – +– – + + * * * * * + +Dann kamen dringende Besorgungen, die einen gezwungenermaßen in die +Motzstraße führten. Und wenn man an dem Haus vorüber mußte, war es +natürlich, daß man ein wenig langsamer ging, zu den Fenstern hinaufsah, +die Straße entlang spähte. + +Und wenn man in der Stadt war und nach Hause gehen wollte, konnte man +genau so gut durch die Motzstraße gehen wie durch die Kleiststraße. Und +wenn man ging, um ein wenig an der frischen Luft zu sein, war es das +natürlichste von der Welt, daß man sich auf den Viktoria-Luise-Platz auf +eine Bank setzte und den spielenden Kindern zusah. + +Jeden Tag stand Mette vor einem Geschäft mit Handschuhen, Bändern und +Spitzen und starrte tiefsinnig auf die Auslagen – weil im Hintergrund +des Glaskastens ein Spiegel war, und weil man in diesem Spiegel die +Haustür gegenüber beobachten konnte. + +Jedesmal zuckte Mette zusammen, wenn die Haustür sich auftat. + +Und als einmal Olga Radó durch die Haustür trat, hätte Mette sie beinah +nicht erkannt. Sie hatte einen losen Mantel an, beide Hände in den +weiten Taschen vergraben und keinen Hut auf. Sie lief mehr als sie ging, +zwei Häuser weiter nach dem Briefkasten und steckte einen Brief unter +die Klappe. + +Mette ging rasch über den Damm, um ihr den Rückweg abzuschneiden. Dabei +klopfte ihr Herz so, daß sie nach Atem ringen mußte. Sie faßte in +flüchtigster Geschwindigkeit der Gedanken hundert Entschlüsse, die sie +wieder verwarf. + +Sie wollte sie anreden – sie wollte mit stummem Gruß an ihr vorübergehen +– aber vielleicht wurde sie gar nicht erkannt – sie wollte sie doch +lieber anreden – aber wie? + +Als sie noch auf dem Damm war, hatte Olga sie gesehen und schwenkte ihr +die Hand entgegen. + +„Hallo, Fräulein Mette! Wollten Sie mich besuchen?“ + +„Eigentlich nicht!“ sagte Mette und wurde blaß vor Aufregung. Vielleicht +war es wieder eine Dummheit. Vielleicht hätte sie „ja“ sagen sollen ... + +„Aber uneigentlich ja“ – sagte Olga und schob ihre Hand in Mettens Arm. +„Kommen Sie eine Stunde mit hinauf. Oder haben Sie etwas zu versäumen? +Nein? Na also! Warten Sie – ich muß nur noch zu meinem Freund an der +Ecke, mir Zigaretten holen – gehen Sie mit?“ + +Nie in ihrem Leben hatte Mette einen so reizenden kleinen Tabaksladen +gesehen, wie dies Geschäft an der Ecke. Nie war ein Mensch so auf den +ersten Blick gewinnend gewesen, wie dieses weißhaarige, schmunzelnde +Männchen mit den dürren, zittrigen Händen, bei dem Olga Radó ihre +Zigaretten kaufte – – – + + * * * * * + +Olga saß vor dem breiten Diplomatenschreibtisch aus schwarzgebeiztem +Eichenholz im Lutherstuhl, die Beine übereinander geschlagen, ein wenig +vorgebeugt, beide Ellenbogen auf den hohen Seitenlehnen. + +Mette saß ihr gegenüber im Sessel. Ihr war ein wenig zumute wie beim +Examen. Irgend etwas in ihrem Innern straffte sich auf, biß gleichsam +die Zähne zusammen und sagte: Ich will bestehen. Ich will bestehen. + +Eine Weile ging es ganz gut. Sie sprachen von den Möbius-Mädeln und von +Erika Hannemann und Tante Konsul. Und Mette erzählte von zu Hause, von +Tante Emilie und von den schönsten Tagen ihrer Kindheit – von dem Gut +und dem Gartenhäuschen aus Birkenrinde und dem Brückchen aus +Birkenstämmen, das über ein ganz kleines Wässerlein führte – und von den +Perlhühnern, die immer auf die Veranda kamen, wenn gefrühstückt wurde +... + +Und dann sagte Olga plötzlich: + +„Sagen Sie mir bloß, wie kommen Sie eigentlich zu der Freundschaft mit +meinen sogenannten Cousinen?“ + +„Ich weiß nicht,“ sagte Mette – „Tante Emilie ...“ + +„Ich will nichts gegen sie sagen,“ sagte Olga rasch, „es sind +herzensgute Kinder. Aber langweilen Sie sich nicht zu Tode in diesem +beständigen Verkehr?“ + +„Ja,“ gab Mette zu, „aber ich langweile mich eigentlich immer.“ + +„Hören Sie, das ist ja furchtbar!“ sagte Olga ernsthaft erschrocken. +„Ich möchte lieber tot sein, als mich langweilen. Haben Sie denn keinen +anderen Menschen als Fanni und Emmi und Tante Emilie?“ + +„Nein“ – sagte Mette zögernd. „Es liegt wohl an mir. Ich habe nie eine +Freundin gefunden. Aber ich habe auch nie eine gemocht.“ + +„Es ist nicht leicht“ – sagte Olga nachdenklich. „An unseren besten +Freunden gehen wir meist um ein paar Jahrhunderte vorüber. Von manchen +wissen wir. Wenn wir von ihnen lesen oder ihre Bilder sehen. Aber das +sind doch nur die wenigsten. Und von denen, die nach uns geboren werden, +wissen wir gar nichts. Darum beneide ich die Schaffenden so. Sie können +denen, die nach ihnen kommen, einen Gruß zuwinken. Sie können sich +selbst festhalten in Worten, in Bildern, in Taten. Ja, in Taten auch. +Das ist dann wie ein Schrei: So bin ich! So war ich! Habt mich lieb! Und +wenn sie bei ihren Lebzeiten niemand gefunden haben, so wird vielleicht +in hundert Jahren einer geboren, oder in zweihundert, der sie liebt, so +wie sie geliebt sein wollten. Der sie versteht, so wie sie verstanden +sein wollten. – Wir armen Hunde – wenn wir tot sind, werden wir ganz +gewiß nicht mehr geliebt. Nicht in zehn Jahren mehr, ach, nicht in zehn +Monaten. Ich möchte manchmal ...“ + +Ihre Augen standen tief dunkel und drohend unter den zusammengezogenen +Brauen. + +Sie brach ab und setzte mit einer anderen Stimme wieder ein: + +„Wissen Sie, unter den Menschen der Renaissance sind sehr viel +sympathische Leute. Man hätte doch wohl vier, fünf Jahrhunderte früher +leben müssen. Ich wäre ganz sicher mit Margherita Sforza befreundet +gewesen. Ich hab’ vorhin gerade so eine famose Geschichte von ihr +gelesen, wie sie ihrem Bruder seine Besitzungen erhielt, als Julius +Cäsar gegen sie abgeschickt wurde.“ + +In Mettens Kopf erhob sich ein Wirbel, der einem Schwindelgefühl nicht +unähnlich war. + +Renaissance – das war ihr ein vertrauter Begriff. + +Mit dem Namen Sforza verband sie eine dämmernde Vorstellung. + +Aber – „Julius Cäsar?“ murmelte sie fassungslos. + +Olga lachte: „Nein, nein, nicht _der_! Julius Cäsar von Capua.“ Und dann +setzte sie gleich wie begütigend hinzu: „Ein kleines, dummes Fürstchen! +Sie brauchen ihn nicht zu kennen.“ + +„Ach,“ seufzte Mette aufrichtig, „ich kenne so viele nicht, die ich +kennen müßte.“ + +„Na,“ sagte Olga, „es wird so schlimm nicht sein. Die Königin Johanna +kennen Sie doch?“ + +„Welche?“ fragte Mette ratlos. „Ich kenne nur die Erzählungen der +Königin von Navarra ...“ + +„Die kennen Sie hoffentlich nicht!“ sagte Olga belustigt. „Im übrigen +war das eine Margarete. Aber die Sforza kennen Sie doch?“ Sie fragte so +zart, so zuredend, als spräche sie zu einem Kinde, dem man nicht wehtun +will. + +„Ich weiß nicht ... nein ... ja ...“ + +„Na, was wissen Sie von ihnen?“ + +„Nichts“ – sagte Mette verstört –, „nur das Bild von Rubens – das kleine +Mädchen mit der Leberwurst ...“ + +Olga horchte einen Augenblick mit hochgezogenen Brauen, als dächte sie +nach. Dann lachte sie laut und lustig, so lustig, wie Mette sie noch nie +hatte lachen hören. Aber merkwürdigerweise tat diese Lustigkeit Metten +nicht weh, obgleich sie sich über ihre eigene Unempfindlichkeit +wunderte. Es war so hübsch, Olga Radó so herzlich lachen zu sehen. Auch +dann, wenn man selber ausgelacht wurde. + +„Mädchen!“ rief Olga immer noch lachend. „Wie sieht das in deinem Gehirn +aus! Ach! Da möcht ich einmal Ordnung schaffen!“ + +„Tun Sie das!“ sagte Mette glühend. „Bitte, bitte, tun Sie das!“ + +Olgas Gesicht wurde einen Augenblick ernst und nachdenklich. + +„Nein, nein,“ sagte Mette sofort erschrocken, „das war eine +Unverschämtheit. Sie sind ja schließlich nicht unsere Gouvernante!“ + +„Kind!“ sagte Olga, und legte mit einem raschen Sichvorbeugen ihre Hand +auf Mettens. „Sind Sie so empfindlich? Das galt doch gar nicht Ihnen! +Wollen Sie lesen lernen bei mir? Weiter kann ich Ihnen ja auch nix +beibringen! Kommen Sie, ja? Kommen Sie zu mir herauf, sooft Sie wollen, +bis es Ihnen langweilig wird.“ + +„Nie!“ sagte Mette, als spräche sie einen heiligen Eid. + +„Aber wissen Sie, ehe wir uns irgendwo festhaken, müssen Sie erst mal +einen Überblick haben. Sie müssen sich durch eine Weltgeschichte +durcharbeiten. Soll ich Ihnen den Schlosser mitgeben? Es sind achtzehn +Bände. Immer einen Band nach dem andern. Ja – Mädel, da hilft dir kein +Gott! Wenn du weiter nix tust, kannst du gut hundert Seiten im Tag lesen +– ach mehr – und wenn du fertig bist – alle drei, vier Tage – je nachdem +– kommen Sie her und tauschen sich den Band ein und trinken hier Tee, +und wir plaudern ein bissel. Gell, ja? Wollen wir’s so halten?“ + +So fing es an. – – – + + * * * * * + +Und so ging es eine ganze Weile. + +Mette las mit einem Feuereifer die Bücher, die Olga Radó ihr gab. Und +wenn sie das Buch sinken ließ, mit brennendem Gesicht, dann war ihr, als +ob Olga ihr gegenüber säße, und sie fing an, lange Gespräche mit ihr zu +führen. Auf jeder Seite stand etwas, etwas Grauenhaftes oder Schönes, +etwas Merkwürdiges oder Unverständliches, irgend etwas, was sie Olga +erzählen, wonach sie Olga fragen mußte. + +Manchmal führte sie diese Gespräche auch in Wirklichkeit, manchmal +sprach sie das aus, was sie sich in Gedanken zurechtgelegt hatte, sagte, +was zu sagen sie sich vorgenommen hatte – aber nur selten. + +Es war das sonderbar Beglückende und Überraschende, was Mette wohl +empfand, aber sich viel, viel später erst klarmachte: daß man Olga Radó +nicht führen konnte. So stark waren ihre Gedanken, ihre Stimmungen, daß +sie im ganzen Zimmer eine Atmosphäre schufen, in der es unmöglich +schien, anderer Laune zu sein als sie. Und wer kein Gefühl dafür hatte +und einen anderen Ton anschlug als den, in dem Holz und Glas und Luft +und Seide leise zu schwingen schienen, der erweckte eine schreiende +Dissonanz. + +Mette spürte das später manchesmal, wenn Fremde ins Zimmer kamen. Sie +selbst rief nie, nicht in den ersten Tagen, einen Mißklang hervor, weil +sie still war, weil sie sich selbst ausschaltete, um halb unbewußt und +doch beinah ängstlich jede Schwingung aufzufangen, die in der Luft +zitterte. + +Im Anfang war es halb unbewußt. Sie kam sich so bodenlos klein und dumm +vor, daß sie kaum wagte, in Olgas Gegenwart einen Gedanken für sich zu +haben. Später, als ihre gesunden Nerven längst fein und dünn bis zum +Zerreißen ausgespannt waren, hatte sie es zu einer bewußten +Meisterschaft gebracht. Sie pflegte manchmal scherzend zu sagen: + +„Heut mußt du in sehr schlechter Laune die Straße entlang gegangen sein. +Die Häuser schneiden jetzt noch Fratzen hinter dir her!“ – – + +Es war das dritte- oder viertemal, daß Mette oben war. Olga lag auf dem +Diwan und rauchte so ununterbrochen, daß die blauen Wolken Mühe hatten, +sich zum Fenster hinauszuschieben. + +Mette saß im Sessel und las ihr Jean Paul vor: + +„Einen anderen freilich, wenigstens den Leser und mich, würde die +durchsichtige Nacht, womit sich der April beschloß, die weite Stille, +auf welche die Trommelstöcke schlugen, die Sehnsucht nach dem Geliebten, +mit welchem der Morgen wieder das öde Herz und das zerstückte Leben +ergänzte, alles dieses würde uns beide mit sanften Bebungen und Träumen +erfüllt haben ...“ + +„Bitte, laß!“ sagte Olga gequält und preßte die Hand gegen die Schläfen. +„Sei nicht böse, ich kann es heut’ nicht vertragen, sei lieb, Kind, da +oben steht der Walt Whitman – im obersten Fach – weiter nach rechts – +oder nein, laß – geh mal nebenan an meinen Toilettentisch, da liegt eine +silberne Bürste – nein, die mit dem Stiel – die bring mal her.“ + +Mette brachte gehorsam die Bürste. + +Olga nahm sie ihr aus der Hand, ohne sich aufzurichten und schlug mit +dem Rücken einen kräftigen Daktylus gegen die Wand, nach kurzer Pause +noch einen und einen dritten. + +Mette lachte. „Muß dazu die Bürste sein?“ + +„Ja,“ sagte Olga. „Das ist mein Morseapparat. Nach langjähriger +Erfahrung der beste. Was soll ich nehmen? Das Tintenfaß geht doch nicht +gut. Ein Buch gibt keinen Schall, wär’ mir auch zu schade ...“ + +Währenddessen klopfte es an die Tür. + +„Ja, ja, ja!“ rief Olga. + +Die Tür wurde nur halb geöffnet, und ein blonder Männerkopf schob sich +durch den Spalt. + +„Ah, Besuch?!“ sagte eine hohe, dünne, heisere und trotzdem nicht +unangenehme Stimme. + +„Komm rein, Peterchen,“ sagte Olga, „es ist nur die Mette.“ + +Das Wort gab Metten ein großes Glücksgefühl. Es gab ihr eine gewisse +Heimatsberechtigung in diesem Zimmer, wo nur _geduldet_ zu sein, schon +Stolz und Freude war. + +Der kleine Mann, der seinen zarten und verwachsenen Körper durch die Tür +schob, kannte sie, wußte ihren Vornamen, wußte, daß sie „nur“ die Mette +war – das war keine Beleidigung in diesem Falle, sondern eine Erhöhung. +„Nur die Mette“ – das hieß: kein Besuch, niemand Fremdes, jemand, der +dazugehört, der nicht störend wirkt – es ist so gut, als ob ich allein +bin. + +Mettens ganze Sympathien flogen dem kleinen Mann entgegen. Vielleicht, +wenn es ein stattlicher, schöner Mensch gewesen wäre, hätte sie sich in +einem Gefühl der Eifersucht gegen ihn gewehrt. Aber er war nichts +weniger als schön, trotz seiner sanften blauen Augen und seiner feinen +gepflegten Hände. + +Mette liebte ihn vom ersten Augenblick an, wie sie den Zigarrenhändler +an der Ecke liebte, mit einer fast zärtlichen Liebe. + +Diese erste Begegnung war der Anfang einer treuen und langjährigen +Freundschaft. + +Otto Petermann war im allgemeinen gewiß nicht geneigt, sich selbst oder +Neigungen, die seiner Persönlichkeit galten, zu überschätzen – aber ob +es nicht doch manchmal Momente gab, in denen er glaubte, Mettens Gefühle +ihm gegenüber für etwas anderes als ihre Liebe für den kleinen +Zigarrenhändler halten zu dürfen? + +„– Peterchen,“ sagte Olga, „hol’ die Geige und spiel’ uns was!“ + +„Ja, was?“ fragte Petermann. + +„Etwas Anständiges. Für das kleine Mädchen ist nichts zu schade.“ + +Und Petermann spielte. Spielte das, was sie beide am meisten liebten, +Olga und er, und was er nicht spielen wollte und nicht spielen durfte, +wenn ihn Leute hörten, für die es „zu schade“ war. + +Mette saß ganz still. Ihr war, als ob die Töne sie wie ein sanft +flutender Strom dahintrügen, immer weiter, immer weiter, alles blieb +zurück, die graue, schmutzige Stadt, ein Gemenge von keifenden und +johlenden Leuten – blieb zurück, wurde kleiner, verschwand im Nebel, +immer klarer wurde die Luft, immer reiner, immer tiefer das Wasser, +immer lieblicher, immer freier die Ufer. Eine Insel tauchte auf, +blühende Bäume ließen ihre tief herniederhängenden Zweige von den +ziehenden Wellen tränken. + +„Das ist die selige Insel,“ dachte Mette. „Nur Könige wandeln auf dieser +Insel. Nur Könige trägt unser Schiff. Aber ich werde mitgenommen. Ohne +all mein Verdienst und Würdigkeit. Ich will dankbar sein. Mein ganzes +Leben lang. Vielleicht werde ich über Bord geworfen, eh wir an Land +gehen. Aber nun weiß ich den Weg. Dann will ich versuchen zu schwimmen +oder will untergehen. Aber ich will nicht mehr zurück. Nie, nie, nie +mehr zurück!“ – – – + + * * * * * + +Peterchens Geige sang noch durch die Dämmerung. + +An diesem Tage kam Mette das erstemal zu spät zum Abendessen nach Hause. +Die lange, erregte und boshafte Rede, mit der Tante Emilie sie empfing, +machte ihr den Eindruck, als ob schmutziges Wasser über sie ausgegossen +würde. Sie schüttelte sich vor Ekel, aber sie empfand keinen Schmerz. – +– – + + * * * * * + +Auf Olga Radós Schreibtisch stand ein schöner Kasten aus schwerem, +kantigem Kristall mit einem glatten Silberdeckel. Er war fast immer +leer; denn die Zigaretten wurden so schnell aufgeraucht, daß es nicht +lohnte, sie aus der Originalpackung herauszunehmen. + +Eines Abends nahm Olga wieder einmal die letzte von fünfundzwanzig aus +der Schachtel. + +„O weh – das ist bös – Mette, sieh mal auf dem Schreibtisch nach – da +sind natürlich auch keine ... ich bin doch ein Schaf!“ + +„Ich spring’ schnell hinunter und hole welche!“ + +„Nein, laß, du sollst nicht darum die Treppen laufen – wart’, gib mir +einmal die Handtasche ’rüber. In meinem Etui müssen noch welche sein!“ + +Olga lag wieder auf dem Diwan, richtete sich halb auf, kramte Schlüssel, +Taschentücher, Briefe aus der Tasche heraus und öffnete schließlich das +Etui. + +„Hurra! _Dieu soit loué!_ Bei weiser Einteilung können wir durchhalten +bis morgen früh! Magst du?!“ + +Sie reichte das offene Etui hinüber. + +„Nein,“ sagte Mette, „ich verzichte liebend gern, sonst reichen sie am +Ende doch nicht bis morgen.“ + +„Engel!“ sagte Olga und drückte das Schloß zu. „Mein einziger Trost ist, +daß du dir nicht allzuviel daraus machst.“ + +„Darf ich einmal das Etui sehen?“ fragte Mette. + +„Da, mein Engel!“ Olga gab es ihr. „Ist es nicht schön?“ + +Mette drehte das glatte, spiegelnde Gold in behutsamen Händen. „Es ist +unglaublich schön. Ich mag auch die breite, niedrige Fasson so +schrecklich gern. Aber was soll der Krebs? Ist das ein Wappentier?“ + +„Mein Wappen!“ lachte Olga. „Das Wappen meiner Familie. Es bedeutet, daß +es mit uns den Krebsgang geht.“ + +„Nein ...“ sagte Mette zögernd und wurde rot. + +„Nein? Woher weißt du? Aber nebenbei ist es leider kein so nützliches +und angenehmes Tier. Es soll ein Skorpion sein.“ + +„Pfui!“ sagte Mette. „Und warum so ein Ungeheuer? Aus einer besonderen +Vorliebe heraus?“ + +Sie vermied es, wo sie nur konnte, eine direkte Anrede zu gebrauchen. + +„Ja,“ sagte Olga. „Man hat dies Etui einmal für mich machen lassen, weil +ich gesagt habe, der Skorpion ist das anständigste Tier von der Welt. Er +ist mein Lieblingstier.“ + +„Das ist nicht Ihr Ernst!“ rief Mette erschrocken. + +„Doch, Fräulein Rudloff. Im übrigen möchte ich nur bemerken, daß das +Dienstbotenniveau ist, sich von einem Menschen Du nennen zu lassen, ohne +ihm ebenso zu erwidern.“ + +„Aber Sie sagen zu allen Menschen du,“ sagte Mette verlegen. + +„Ja, und ich unterscheide die Leute danach, ob sie sich das gefallen +lassen und mich weiter begnädigen, oder ob sie selbstverständlich darauf +eingehen. Wenn du denkst, ich mache deinetwegen eine offizielle +Angelegenheit daraus mit Anstoßen und Bruderkuß, dann irrst du dich. +Wenn du noch ein einziges Mal Sie sagst, muß ich annehmen, daß dir diese +Familiarität lästig ist, und dann bleibt mir nichts übrig, als dich +gnädiges Fräulein zu nennen oder dir einen harten Gegenstand an den Kopf +zu werfen. Es ist nebenbei doch mein Ernst – mit dem Skorpion. Weißt du +nicht, daß er der einzige Selbstmörder unter den Tieren ist? Er _läßt_ +sich nicht von menschlicher Neugier und Grausamkeit langsam zu Tode +quälen. Er kämpft wie ein Wahnsinniger – und wenn er weiß, daß keine +Rettung mehr ist, bringt er sich um. Ist das nicht fabelhaft?“ + +Olga hatte sich aufgerichtet. Ihre Augen sahen groß und dunkel an Metten +vorüber. Auf ihrem schönen, blassen Gesicht lag ein seltsamer, +schmerzlich-heroischer Ausdruck. + +Mette erschrak. „Und du?!“ sagte sie und faßte mit einer unwillkürlichen +Bewegung nach Olgas Hand. „Hast du es darum zu deinem Wappentier +gemacht?“ + +Olga lächelte ein weiches, gutes Lächeln. + +„Schäfchen,“ sagte sie, „das hat einen ganz anderen Zusammenhang. Ich +sollte ein Skorpion sein, weil ich einen giftigen Stachel hätte. Weil +‚mein Witz Skorpionstich‘ wäre. Ein Mensch, der mich liebte, hat das +einmal behauptet. Und hat behauptet, wenn ich in die Enge getrieben +würde, richtete ich den Giftstachel gegen mich selber und zerfleischte +mich. Ich weiß nicht, ob das wahr ist. Es macht mir im Grunde keinen +Spaß, über mich nachzudenken. Aber dieser Mensch sah mich so. Und darum +ließ er mir das Etui machen. Schau“ – sie machte es auf. Die kleinen +Rubinen, aus denen der Skorpion geformt war, waren _à jour_ gefaßt. Die +Zeichnung war auch auf der Innenseite deutlich. Und direkt darunter war +der Namenszug eingraviert: Olga Radó. + +Mette schalt sich selber töricht, aber sie konnte es nicht hindern: Ihr +Herz war zum Springen voll von einer brennenden Eifersucht gegen diesen +fremden Menschen, der Olga Radó liebte und ihr goldene Zigarettenetuis +schenkte. + +„Eine schöne Handschrift!“ sagte sie gedankenlos. + +„Es ist nicht meine,“ sagte Olga. Sie schloß langsam das Etui und legte +die glatte Fläche mit einer weichen Geste an die Wange. + +„Es ist so schön. Ich liebe es so. Und ich bin so froh, daß ich es +lieben kann ... Es war ein Abschiedsgeschenk ... und es war ein so +schöner Abschied.“ + +In Metten regte sich qualvoller Widerspruch. + +„Ein schöner Abschied!“ sagtet sie bitter. „Gibt es so etwas auch?“ + +Olga richtete sich hastig auf. + +„Ja, Mette,“ sagte sie voll Eifer. „Und es sollte es noch viel, viel +öfter geben. Es ist ein Unglück, daß die Leute nicht verstehen, +auseinanderzugehen. Lern’ es, Mette, lern’ es beizeiten.“ + +„Nein,“ sagte Mette verstockt, „ich werd’ es wohl niemals lernen. Leute, +denen die Liebe nur ein Spiel ist, die können sich auch aus dem Abschied +ein Spiel machen.“ + +„Mette,“ sagte Olga ernst, „du bist ein Kindskopf. Glaubst du, daß das +ein Beweis großer Liebe ist, wenn ich mich an einen Menschen klammere, +bis er meiner überdrüssig ist? Ich will lieber zehntausend Tode sterben, +als einem Menschen lästig sein, den ich liebe. Es ist keine Kunst, einen +Anfang zu finden. Ich glaube, daß jeder Mensch jeden Menschen erobern +kann. Und immer wird der Anfang schön sein. Und immer das Ende +scheußlich, bitter, qualvoll, ekelhaft. Es ist eine schwere Kunst, ein +Ende zu machen. Zur rechten Zeit. Und auf die rechte Art. Lern’ es, +Mette, lern’ es beizeiten!“ – – – + + * * * * * + +Die drei saßen zusammen: Peterchen, Mette und Olga. + +„Ich begreife dich nicht,“ sagte Peterchen mit seiner leisen, +gebrochenen Stimme, „ich begreife dich nicht, Olga, daß du die Bettine +nicht lieben kannst. Ich dachte _gerade_, das müßte ein Mensch für dich +sein. Ein Mensch von so reicher Begabung, von fast unheimlicher +Phantasie, von beinah wildem Temperament, dabei solche Anmut, solche +Zartheit der Empfindung. Wenn man von der Frau weiter nichts wüßte, als +die Geschichte ihrer Verheiratung, müßte sie einem doch schon +sympathisch sein.“ + +„Ja,“ sagte Olga, „dann ja! Aber man weiß eben zu viel von ihr. Oh, sie +ist so aufdringlich und so verlogen, so gemacht genialisch, so mit +Koketterie unbändig, mit Vorsatz leidenschaftlich. Nichts auf der Welt +ist mir so verhaßt. Denk dir – so sehr ich Klemens liebe – wenn ich +manchmal glaube, die Verwandtschaft zu spüren, mag ich ihn nicht. Und +dann – du weißt ja – verzeih ich ihm auch seine unglückliche Liebe zu +Mariannen nicht.“ + +„Richtig, die kannst du ja auch nicht leiden!“ + +„Kann ich auch nicht, Peterchen, und wenn du mir den Kopf abreißt. Ich +weiß nicht, woran es liegt. Irgend etwas an ihr macht auf mich immer den +Eindruck von ‚Biederkeit‘. Und du weißt, das ist eine Eigenschaft, +die ich in den Tod nicht ausstehen kann. Schon diese ewige +Alte-Herren-Liebe. Nein, nein, geh mir mit ihr, ich mag sie nicht.“ + +„Olga, wie kannst du über diese Frau so leichtfertig urteilen?“ + +„_Diese_ Frau! Sag’ nur noch, diese vortreffliche Frau. Mit _dem_ Wort +kannst du sie mir ganz gewiß verekeln. Und es paßt eben leider ein +bißchen auf sie. Herrgott! Man kann doch seine Gefühle nicht zwingen. +Sie hätte mich wahrscheinlich auch nicht leiden können. Und das fühl’ +ich so.“ + +„Aber Bettine hätte dich wahrscheinlich glühend geliebt.“ + +„Vielleicht! Aber daß ich Bettinen so hasse, das hat ja auch noch eine +besondere Bewandtnis.“ + +„Du bist eifersüchtig auf sie!“ sagte Petermann sehr leise. + +Olga fuhr mit einer fast heftigen Bewegung herum. Ihre Augen flackerten +in dem weißen Gesicht. + +„Ja, ich bin auch eifersüchtig auf sie!“ + +„Wegen der Günderode!“ + +„Wegen der Günderode.“ – + +Petermann wurde ans Telephon gerufen. Es war so still im Zimmer, daß +Mette eine ganze Weile nicht zu sprechen wagte. + +„Merkwürdig seid ihr,“ sagte sie endlich gepreßt, „wie ihr von diesen +Leuten redet – als wären sie euer täglicher Umgang.“ + +„Das sind sie doch auch,“ sagte Olga fast verwundert. „Das ist doch die +einzige Lebensmöglichkeit. Meinst du, ich möchte leben, wenn ich nur +Verkehr mit den Menschen hätte, mit denen du mich so zurzeit verkehren +siehst? Weißt du – es ist auch die einzige Art zu lesen, ich meine, wenn +du zum erstenmal einen Briefwechsel oder einen Memoirenband vornimmst – +einen, wo nicht hohe geistige Probleme behandelt werden, dann ist einem +doch zumut, als wenn man in einer fremden Gesellschaft sitzt. Die Leute +klatschen miteinander und erzählen sich was von Herrn Müller und Frau +Schultze, und man sitzt dabei und langweilt sich zu Tode. Wenn man aber +Herrn Müller und Frau Schultze _kennt_, ist’s schon wesentlich +amüsanter. Und wenn man in einen _verliebt_ ist und wartet dann mit +klopfendem Herzen, ob vielleicht sein Name genannt wird, und was nun der +oder der über ihn sagen wird, dann wird’s spannend und aufregend. +Peterchen versteht mich so darin. Er ist überhaupt ein feiner kleiner +Kerl. Findest du nicht?“ + +„Ja,“ sagte Mette gleichgültig. „Er ist sehr nett.“ + +Olga lächelte. „Er ist direkt verliebt in Bettinen und begreift mich +nicht.“ + +„Aber du,“ sagte Mette leise, fast widerwillig, „du liebst die +Günderode.“ + +„Ja,“ sagte Olga mit großen, seltsam glänzenden Augen, „oh, ich liebe +sie so! Du glaubst nicht, was ich für Qualen ihretwegen ausgestanden +habe. Und ich konnte nichts tun für sie! Vielleicht hat sie Sehnsucht +nach Ruhm gehabt – nach äußerlicher Unsterblichkeit – und sie ist so +vergessen. Wer weiß denn von ihr? Ich habe mir so gewünscht, etwas +Unerhörtes leisten zu können, um sie zu verewigen. Ich wollte +Michelangelo sein oder Dante oder Homer – um ihr ein Denkmal zu setzen, +und um unsere Namen für tausend Jahre unauflöslich miteinander zu +verknüpfen. Oh, es war eine Zeitlang wie eine Krankheit in mir. Es +marterte mich einfach, daß ich diese lumpigen hundert Jahre, die uns +trennten, nicht überspringen konnte. Weißt du – so muß einem Gelähmten +sein, oder einem Gefesselten, der im Nebenzimmer eine Stimme hört, die +ihn in allen Nerven erzittern macht, und er kann sich nicht rühren. +Manchmal hab’ ich gedacht, man muß es können. Man muß nur wollen. – Ich +weiß noch, daß ich eine Nacht auf dem Balkon lag im Liegestuhl und zum +Antares hinaufstarrte. Da war es mir wieder, als riefe sie mich. Ich +wollte aus meinem Körper hinaussteigen, ich wollte. Und denke dir, ich +hatte das Gefühl, als ob es mir gelänge. Ich schwebte über mir. Mein +Körper war eiskalt, ich hätte kein Glied rühren können, und da faßte +mich plötzlich eine rasende Angst. Ich wußte, ich würde mich verfliegen +und nie mehr, nie mehr zurück können. Da kroch ich wieder in mich hinein +und trieb mein Herz an und erwärmte mich durch meinen Willen, und +nachher schalt ich mich feige und erbärmlich. – Es muß seltsam sein, +wenn uns einmal diese Fesseln abgenommen werden. Manchmal freue ich mich +direkt darauf.“ + +„Alles deswegen,“ sagte Mette ein wenig bitter. „So hast du sie +geliebt?“ + +„Ja,“ sagte Olga, „jetzt ist es nicht mehr so schlimm. Ich hätte doch +früher zu keinem anderen Menschen davon reden können. Ich habe Bettinens +Bücher versteckt, damit kein Mensch sie bei mir findet. Ich wurde rot +und blaß, wenn jemand ihren Namen nannte, oder mir etwas sagte, was mich +an sie erinnerte. Du mußt nicht denken, daß ich jetzt darüber lache. +Mein Gefühl ist genau dasselbe, ich fühle mich ihr so absolut verbunden +– aber ich gehöre ihr nicht so ausschließlich, wie in der ersten Zeit, +als ich sie fand.“ + +Sie schwiegen beide. Stille Dämmerung senkte sich langsam. + +„Ich habe nie ein Bild von ihr gesehen,“ sagte Olga. „Ich weiß auch gar +nicht, ob es Bilder von ihr gibt. Ich möchte auch keins sehen. Ich habe +eine so deutliche Vorstellung von ihr. Ich glaube, wenn ich ein Bild +sähe, würde ich erschrecken. Ich würde sicher namenlos enttäuscht sein. +Ich habe direkt Angst davor, einmal ganz unerwartet ein Bild von ihr zu +finden.“ + +„Ich wollte, ich fände eins,“ sagte Mette, ohne Olga anzusehen, „ein +recht häßliches!“ + +„Pfui!“ sagte Olga mit ihrer tiefen Stimmen. Kein Wort weiter. + +In Mette kämpften Scham und Schmerz. Sie haßte sich selbst. Sie kam sich +vor wie ein ungezogenes Kind, dem man ein wunderfeines Gebilde aus +venezianischem Glas zeigt, und das aus Bosheit und Rohheit mit dem Stock +nach der Herrlichkeit schlägt. Aber zugleich regte sich ein dumpfer +Trotz in ihr: warum quält sie mich? Ich will mich nicht quälen lassen! + +Sie hatte das Gefühl, daß sie um Verzeihung bitten müsse. Aber das +konnte sie nicht. + +Wenn sie jetzt ging, dann würde Olga sie nie wieder rufen. Und ungerufen +durfte sie nie mehr kommen. Sie würde nie mehr in diesem Sessel sitzen. +Sie würde nie mehr den Duft von Lavendel und Zigaretten in diesem Zimmer +atmen. Sie würde nie mehr diese Stimme hören. + +Das Schweigen dauerte so unheimlich lange. Ja, sie mußte nun wohl +eigentlich aufstehen und gehen. Aber es war, als ob der Stuhl sie +festhielte, oder die graue Wand drüben, an der ihre Augen hingen. Sie +fühlte, im Moment, da sie aufstehen wollte, würden ihr die Tränen aus +den Augen stürzen. Das durfte nicht sein. Sie bemühte sich, an irgend +etwas anderes zu denken – an etwas ganz Fernliegendes. Nächste Woche +wollte sie ins Theater gehen. Darauf hatte sie sich gefreut. Eigentlich +war bei jedem Theater- oder Konzertbesuch doch das hübscheste, nachher +hier zu sitzen und über das Gehörte und Gesehene zu sprechen. Das würde +nun nicht sein. Nächste Woche nicht. Vielleicht nie wieder. + +Die Stille im Zimmer war atemraubend. Wenn Olga nur reden wollte. Irgend +etwas, sie ausschelten, sie demütigen. Es war so grausam von ihr, zu +schweigen. + +Mette machte den Versuch, aufzustehen. Sie machte eine Bewegung, die +unsichtbar blieb, aber die sie inwendig in allen Muskeln spürte. +Zugleich aber konnten die mühsam aufgehaltenen Lider das unaufhörlich +quellende Wasser nicht mehr zurückdrängen, sie zitterten, schlossen +sich, und die schweren Tropfen stürzten nieder. + +Mette schämte sich maßlos. Irgend etwas in ihr kroch ganz in sich +zusammen. Sie hätte sich so gern äußerlich auch zusammengezogen, sich +geduckt, das Gesicht versteckt. Aber sie wagte nicht, sich zu rühren. +Sie wollte nicht durch eine Bewegung Aufmerksamkeit erregen. Vielleicht +war Olga mit ihren Gedanken weit fort und achtete nicht auf sie. + +Die Tränen fielen ihr auf die Hände. Sie wagte nicht, sie abzutrocknen. + +Plötzlich schreckte sie zusammen. Sie hörte den Diwan knarren, ein +leises Rauschen der Röcke. Olga war aufgestanden. + +Jetzt sagte eine unendlich weiche, leise Stimme neben ihr: + +„Mette, Kind! Warum weinst du eigentlich?“ + +Mette sah nicht auf, sondern senkte den Kopf noch tiefer. + +Da kniete Olga mit einer raschen Bewegung nieder, wie man vor einem +weinenden Kinde kniet und versuchte von unten herauf ihr ins Gesicht zu +sehen. + +„Warum weinst du eigentlich?“ + +Mette sah das schöne Gesicht vor sich durch einen Schleier von +stürzendem Wasser. Sie lächelte. + +„Ich weiß nicht!“ sagte sie. + +Sie sah auf die weiße schlanke Hand, die auf ihren Knien lag, ihre +beiden gefalteten Hände fest überspannend. Sie neigte sich langsam auf +diese Hand und preßte den Mund, die heißen, tränenfeuchten Wangen +dagegen. + +„Kind!“ sagte Olga beinah ungeduldig und versuchte mit der anderen Hand +ihr die Stirn zu heben. „Wenn ich nur wüßte, warum du weinst!“ + +Mette schreckte vor diesem Ton zurück. Sie hob den Kopf und starrte +wieder auf die graue Mauer jenseits des Hofes. + +Olga war aufgestanden. Ihre Hand lag immer noch auf Mettens Kopf. Die +kühle, glatte Handfläche preßte sich fest und beinah schwer auf ihre +Stirn und ihr Haar. Mette empfand diesen Druck als etwas unendlich +Wohltuendes. So, als müßte sie zerspringen, wenn diese kräftige Hand +aufhören würde, sie zu halten. + +„Ich weiß doch nicht,“ sagte sie leise, „ich möchte auch seit hundert +Jahren tot sein. Vielleicht würdest du mich dann auch lieben.“ + +Da riß Olga Radó mit einer jähen Bewegung Mettens Kopf an ihre Schulter +und preßte die Lippen hart und fast gewaltsam auf ihre Stirn. + +„Und so? Und jetzt?“ fragte sie kurz. In ihrer tiefen Stimme war ein +seltsam vibrierender Klang, wie von mühsam gebändigtem Groll. + +Mette fühlte bis in die Schläfen, bis in die Fingerspitzen das rasende +Hämmern eines Herzschlags. Aber sie wußte nicht, wessen Herz so schlug. + +Sie hatte das Gefühl, daß es nun ihre Pflicht sei, etwas unendlich +Großes zu tun. Ihr war, als müsse Olga Radó jetzt in überirdischer Größe +vor ihr aufstehen und eine ungeheure Tat von ihr verlangen. + +Mette fühlte sich heilig entschlossen, auf ein einziges Wort hin aus dem +Fenster zu springen oder sich die Brust mit einem Dolch aufzureißen und +ihr zuckendes Herz in beide Hände zu nehmen. + +Olga Radó verlangte nichts von alledem. Sie ließ sie plötzlich los und +trat aus Fenster. Sie legte die Finger um den Fensterriegel und die +Stirn gegen die Scheibe. Und so, ohne sich umzuwenden, ohne den Kopf zu +drehen, sagte sie nach einer Weile in einem seltsam ruhigen, ja +sachlichen Ton: + +„Geh nach Hause, Kind!“ + +„Warum?“ fragte Mette erschrocken. Sie stand auf, die Füße zitterten +unter ihr. Das beklemmende Gefühl von etwas Rätselhaftem, Unheimlichem +legte sich ihr schwer auf die Brust. Warum wurde sie fortgeschickt? Was +hatte sie begangen? + +Sie wollte irgendeine Erklärung haben. Sie wollte die Hände auf Olgas +Schultern legen und wollte sie mit Gewalt herumreißen und auf ihrem +Gesicht nach einer Antwort suchen. „Ich habe ein Recht dazu“ – dachte +sie mit aufsteigendem Zorn – „wahrhaftig, ich habe ein Recht dazu“. + +Wie sie den ersten Schritt nach dem Fenster zu machte, fuhr Olga mit +einer heftigen Bewegung herum. Sie kreuzte die Arme über der Brust und +umklammerte mit gespreizten Fingern die Ellbogen. In dem weißen Gesicht +flackerten die Augen tiefdunkel und drohend. + +„Du sollst nach Hause gehen,“ sagte sie mit so gezwungener Ruhe, als +bändige sie mühsam eine maßlose Wut. „Kannst du nicht hören? Bin ich +nicht Herr mehr in meiner eigenen Wohnung? Nimm deinen Hut und geh. Geh, +geh, geh, geh!“ + +Der aufflammende Zorn in Mette war erloschen. Nur noch Angst war in ihr +und eine tiefe, tiefe Traurigkeit. + +Irgend etwas wollte sie wie mit Peitschenhieben zu Olga hintreiben. Sie +wollte vor ihr auf die Erde fallen, sie wollte ihre Knie umklammern, sie +wollte sie anflehen: + +„Weine doch, schreie, schlag’ mich, aber tu dir nicht so Gewalt an – sag +mir, was du hast – ich will sterben für dich, aber schick mich nicht +fort, wenn du leidest!“ + +Sie stand und rührte sich nicht. + +„Geh, geh, geh!“ sagte Olga. + +Da griff Mette Rudloff nach ihrem Hut und ging. Sie mühte sich, gerade +und aufrecht zu gehen. Sie taumelte ein wenig, als sie die Tür hinter +sich ins Schloß zog und mußte sich gegen die Wand lehnen. Sie stützte +sich mit ihrer ganzen Schwere gegen das Geländer, weil die Treppe unter +ihr wie ein rasender Strudel kreiste. + +Aber sie ging. – – – + + * * * * * + +Eine Handvoll Tage verlebte Mette in stumpfer Qual. + +Im dämmernden Erwachen fiel ihr ein, daß sie heute nicht den Weg nach +der Motzstraße nehmen dürfe. Heute nicht, morgen nicht, vielleicht nie +mehr. Sie war verbannt, verstoßen, ausgeschlossen von allen Freuden des +Lebens. + +Lang, grau und öde dehnte sich der Tag vor ihr. Bleischwere Müdigkeit +lag ihr in allen Gliedern. Wenn die Telephonklingel schrillte, fuhr sie +mit rasendem Herzschlagen auf, wie aus tiefer Lethargie. Aber niemals +galt es ihr. + +Es war schlechtes Wetter in diesen Tagen, kühl und regnerisch. + +In einer Sonntagnacht fegte der Wind den Himmel blank von Wolken und die +Straßen trocken. + +Am Morgen funkelte ein blauer Sommerhimmel über der Stadt. + +Die Sonnenstrahlen, die auf einer Kante des Schrankspiegels tanzten, +weckten Mette. + +Sie fühlte sich beim Erwachen so befreit, so voll unbändiger +Lebenskraft, als sei mit einem Schlage alles Trübe hell, alles Schwere +leicht geworden. + +Sie fühlte sich fähig, den Kampf mit allen Hemmungen und Hindernissen +aufzunehmen. Ja, es schienen ihr gar keine Hemmungen und Hindernisse +mehr vorhanden. + +Sie würde heut’ die Bücher hintragen, die sie von Olga Radó geliehen +hatte. + +Und dann würde sie sie zur Rede stellen. Sie ganz frank und heiter +fragen, was ihr eigentlich eingefallen wäre. Und ob sie die Absicht +hätte, sie wieder hinauszuwerfen – dann solle sie diese Absicht nur +ruhig aussprechen ... + +Aber sie würde es nicht tun. Es war eine Laune gewesen, eine Gereiztheit +– aber im Grunde doch gar keine ernstliche Verstimmung, kein Streit +zwischen ihnen. + +Und wenn sie irgend etwas begangen hatte in Olgas Augen, so wollte sie +Aufklärung haben, und dann wollte sie – ach was, ihretwegen ja! – dann +wollte sie sogar um Verzeihung bitten. + +Mette pfiff und summte vor sich hin, während sie sich anzog und ihr Haar +aufsteckte. – – – + + * * * * * + +Als sie klingelte, schlug das dumme Herz wieder so atemraubend. Dass kam +vom raschen Treppensteigen. + +Erna machte ihr auf. Mette war nicht mehr gewohnt, sich melden zu +lassen. Sehr oft wußten die Mädchen gar nicht, ob die Gäste der Pension +zu Hause waren. Sie wollte mit einem: „Guten Morgen, Erna!“ vorüber. + +Das Mädchen machte ein erstauntes Gesicht. + +„Fräulein Radó ist doch verreist,“ sagte sie zögernd. „Weiß das gnädiges +Fräulein gar nicht?“ + +Im ersten Augenblick war die Scham dieses Nichtwissens in Metten größer +als das Erschrecken. Sie fühlte sich vor dem Mädchen in lächerlichster +Weise bloßgestellt. + +„Doch, doch,“ sagte sie hastig. „Ich wollte nur die Bücher ins Zimmer +legen. Aber ich kann sie ja auch Ihnen geben. Sie sind so gut, Fräulein +Erna, und tragen sie hinein. Dann brauch’ ich mich gar nicht damit +aufzuhalten. Ich hab’s sehr eilig. Auf Wiederschauen!“ + +Die erste Treppe sprang sie hinunter, damit das Mädchen ihre Hast hören +sollte. Erst als die Tür oben längst ins Schloß gefallen war, ging sie +langsamer. + +Olga war fort. Ohne ihr ein Wort zu sagen, ohne sie noch einmal +anzurufen, ohne ihr eine Zeile zu schreiben, ohne dem Mädchen eine +Nachricht für sie zu hinterlassen. + +Sie war fort. Ohne zu sagen, wohin. Ohne zu sagen, auf wie lange. + +Mette senkte den Kopf sehr tief auf die Brust und ging ganz langsam, +Stufe für Stufe. – – – + + * * * * * + +Einige Tage später hörte Mette das Telephon schrillen und das Mädchen im +eiligen Trab den langen Türgang entlanglaufen. + +Mette macht ihre Zimmertür auf. + +„Für mich, Hedwig?“ + +„Ja, für Fräulein – ein Herr wünscht Fräulein zu sprechen – ein Herr +Petersen oder Petermann, ich hab’ nicht ganz verstanden.“ + +Auf dem runden Gesicht des Mädchens stand unverhohlene Verwunderung. Es +war das erstemal, daß eine Männerstimme das gnädige Fräulein verlangte. + +„Peterchen!“ rief Mette erregt in den Trichter, ohne die geringste +Rücksicht darauf, daß Tante Emilie im Nebenzimmer saß. „Ja, hier ist +Mette. Was ist los? Es ist doch nichts passiert?“ + +„Nein, nein, bewahre. Ich soll Ihnen nur einen schönen Gruß bestellen, +ich habe heut’ eine Karte bekommen.“ + +„Woher denn?“ – „Von wem?“ brauchte sie nicht zu fragen. + +„Aus Kissingen. Ich mußte mir erst Ihre Adresse im Buch suchen. Ich +wußte keine Telephonnummer, keine Straße, eigentlich ja nicht einmal +Ihren Namen genau ...“ + +„Ach Gott, Sie Ärmster, kann ich Sie nicht einmal sehen, oder haben Sie +keine Zeit für mich?“ + +„Aber natürlich, aber gerne ...“ + +„Wollen wir eine Stunde zusammen spazieren gehen? Ja? Bitte, bitte! +Heute noch, wenn’s geht! Gleich? Ja? Herrlich! Und Sie bringen mir die +Karte mit!“ – – – + + * * * * * + +Sie trafen sich. Nach zwei Worten der Begrüßung fragte Mette: + +„Haben Sie die Karte? Bitte, bitte, zeigen Sie!“ + +Neben der Adresse stand in einer festen, mühsam zusammengezwängten +Schrift: + +„Bitte, Peterchen, sei so gut und gib die Bücher aus der Kgl. Bibl. +zurück. Eins liegt auf meinem Schreibtisch, zwei stehen auf dem Regal +links vom Fenster, 3. Fach v. o. ganz rechts. Und nimm meine Araukarie +zu Dir hinüber, bei mir vergessen die Frauenzimmer sie doch, und ich +möchte nicht, daß sie verkommt.“ + +Auf der anderen Seite war in den Himmel der Landschaft +hineingeschrieben: + +„Klingele, bitte, das Mädelchen an und grüße sie von mir. Die Nummer +mußt Du Dir im Buch suchen. Sie soll mir nicht böse sein. Euch allen +alles Gute. O. R.“ + +Hunderte und Tausende von Ansichtskarten waren in Mettens Leben schon +durch ihre Hände gegangen, und es war das erstemal, daß ihr der Gedanke +kam: „Was ist das eigentlich für eine wunderhübsche Erfindung, daß man +gleich ein Bild des Ortes schicken kann, wo man sich aufhält. So sieht +es also da aus, wo Olga Radó jetzt ist. Diese Häuser sieht sie Tag für +Tag, unter diesen Bäumen geht sie spazieren, diese Berge grüßen sie – +jeden Morgen, jeden Abend – wirklich eine wunderhübsche Erfindung.“ + +Sie hätte die Karte gern behalten. Aber sie hatte den Mut nicht, +Petermann darum zu bitten. – – – + + * * * * * + +„Es ging so schnell“ – sagte sie – „mit dieser Abreise.“ Es widerstrebte +ihr, davon zu sprechen, daß sie nichts gewußt, nichts geahnt hatte. Es +widerstrebte ihr auch, direkte Fragen an ihn zu richten. Halb unbewußt +sprach sie in Worten, die alles unentschieden ließen, so gleichsam erst +sondierend. + +„Ja,“ sagte Peterchen, „ganz merkwürdig schnell. Am Dienstag waren wir +doch noch da – richtig, da saßen wir ja noch zusammen. Am Dienstagabend +kommt Olga zu mir herüber: + +‚Gib mir dein Kursbuch!‘ Und immer in dem Kursbuch hin und her +geblättert und mich gefragt: ‚Kennst du den Schwarzwald – ist es schön +da? – Was meinst du – soll ich an die Nordsee fahren?‘ Und so, wie es +gar nicht ihre Art war – so unentschlossen – ich möchte beinah sagen: so +ratlos ... und am Mittwoch wurden die Koffer gepackt und Mittwoch abend +fuhr sie ab – sagte keinem Menschen wohin – mir nicht und Frau Flesch +nicht. Ihnen ja auch nicht, nicht wahr? – Ich hatte ja eigentlich erst +den Verdacht – den Gedanken, wollt’ ich sagen, die Idee,“ – Peterchen +zögerte, und sein blasses Gesicht überflog eine leichte Röte – „Sie +beide wären zusammen weggefahren.“ + +Mette antwortete nicht. Sie dachte nicht einen Augenblick daran, ob ihr +tiefes Stillschweigen vielleicht einen verwunderlichen Eindruck machen +könnte. + +Das Wort hatte wie ein erhellender Blitz in sie eingeschlagen, und nun +stand sie in Flammen. + +Reisen! Mit Olga reisen! Der Gedanke an diese Möglichkeit hatte etwas +unwahrscheinlich Beglückendes. Einige Sekunden durchlebte sie in ihrer +Vorstellung das, was hätte sein können. Wenn sie am Dienstag zusammen +diesen Entschluß gefaßt hätten! Wenn sie auch am Mittwoch ihren Koffer +gepackt hätte! Sie fühlte sich neben Olga im Zug sitzen und hinausfahren +in den warmen, blauen Sommerabend, in dem hier und da die ersten Lichter +aufflammten. Sie sah sich in einem dieser weißen Häuser, auf der +Terrasse, an einem gedeckten, blumengeschmückten Tisch, Olga gegenüber. +Sie wanderte mit Olga diesen Bergen entgegen, deren schön geschwungene +Linien verlockend auf dem blauen Himmel sich zeichneten. + +Jäh und schmerzlich kam es ihr zum Bewußtsein: Das war ein törichter, +unerfüllter, vielleicht ewig unerfüllbarer Traum. Die Wirklichkeit war, +daß sie hier war – allein – und daß Olga fort war – auch allein? Mit +wem? Nichts in der Welt hatte ihr ein Recht gegeben, auch nur danach zu +fragen. – – – + + * * * * * + +In diesen Wochen war es Mettens einzige Freude, mit Peterchen spazieren +gehen. Sie machten Ausflüge miteinander, fuhren nach Wannsee, nach dem +Grunewald, lagen halbe Tage am Wasser oder nahmen sich ein Ruderboot, +tranken Kaffee in irgendeiner versteckten Gartenwirtschaft und sprachen +von Büchern, von fremden Städten und fernen Bergen, von Tieren und +Pflanzen, von längst verstorbenen Menschen – und von Olga. + +Manchmal, wenn sie zusammen waren, schrieben sie an Olga, schickten ihr +eine Ansichtskarte oder machten ihr lange Gedichte in Knittelversen, und +hin und wieder kam eine flüchtige Antwort von ihr und einmal die +Nachricht, daß sie in drei Wochen wiederzukommen gedächte. + +Mette war ruhig und glücklich in dieser Zeit. Das Zusammensein mit +Peterchen tat ihr wohl. – Wenn sie zu Hause war, so las und lernte sie +nach seiner Anleitung und zählte die Tage bis zu Olgas Rückkehr. Sie +hatte sich ein ganzes Verzeichnis gemacht von Büchern, die sie bis dahin +gelesen, von Arbeiten, die sie bis dahin erledigt haben wollte. Sie +wollte überraschen durch all die Kenntnisse, die sie in der Zwischenzeit +erworben hatte, und mühte sich mit brennendem Eifer. + +Es wäre alles schön und gut gegangen, wenn Tante Emilie nicht gewesen +wäre. Tante Emilie beobachtete und schwieg und speicherte Gift und Galle +in sich auf. Und eines Tages brach es aus. + +Es war nach Tisch. Mette wollte mit einem kurzen „Mahlzeit“ aufstehen +und sich aus ihrem Zimmer den Hut holen. + +Tante Emilie, die während des Essens schon in Positur gesessen hatte, +fegte mit zierlichen Fingern ein paar Krümchen auf dem Tischtuch +zusammen, und auf Mettens „Mahlzeit“ hin räusperte sie sich kurz und +scharf und sagte betont: + +„Vielleicht hast du die Güte, sitzen zu bleiben, bis _ich_ vom Tisch +aufstehe.“ + +Geduldig und gelangweilt setzte Mette sich wieder hin. Sie wußte nicht, +daß es die Vorrede zu größeren Dingen sein sollte. Sie nahm es für eine +der täglichen kleinen Schikanen, die einen am wenigsten Zeit und Kraft +kosteten, wenn man sie mit größter Gelassenheit hinnahm. + +Mette warf einen heimlichen Blick nach der Uhr. „Sie wird jetzt +natürlich noch fünf Minuten sitzen, ehe sie das Zeichen zum Aufstehen +gibt,“ dachte sie. „Gut, komm’ ich also fünf Minuten zu spät. Peterchen +wartet.“ + +Tante Emilie fegte Krümchen und räusperte sich. + +„Willst _du_ so gut sein, Franz,“ begann sie (man könnte vielleicht +besser sagen: sie hub an) „und deine Tochter fragen, wohin sie heute +nachmittag zu gehen beabsichtigt, und mit wem sie geht? Wenn _ich_ sie +frage, so gibt sie mir zur Antwort ‚spazieren – mit Bekannten‘ oder +ähnliche Geistreichigkeiten. Also bitte, frag’ du sie selbst. Vielleicht +hat sie wenigstens vor dir noch so viel Achtung, daß sie dir die +Wahrheit sagt.“ + +Franz Rudloff rollte seine Serviette zusammen und wieder auseinander, +schob sie in den Ring und zog sie wieder heraus und saß in tödlichster +Verlegenheit. + +„Du weißt doch, liebe Emilie,“ sagte er, ohne aufzusehen, „daß ich dir +die Erziehung meiner Tochter übergeben habe, weil ich weiß, daß sie +nirgend so gut aufgehoben wäre, als in deinen bewährten Händen. Mette +ist dir so gut Gehorsam schuldig wie mir. Du bist im Vollbesitz aller +erzieherischen Gewalt ...“ + +„Gewalt!“ sagte Tante Emilie hohnlachend. „Was soll ich denn machen? Man +kann doch einen zwanzigjährigen Menschen nicht schlagen oder +einsperren.“ + +„Nicht gut,“ sagte Mette ruhig, „Gott sei Dank! Aber vielleicht darf ich +auch mal eine Frage stellen: Möchtest du vielleicht sagen, warum und +wozu du solche Maßregeln anwenden möchtest?!“ + +„Wozu? Zu deinem besten!“ sagte Tante Emilie in einem Ton, der flammende +Empörung ausdrücken sollte. Aber der Ton blieb spitz – es war nur eine +Stichflamme. „Warum? Um zu verhindern, daß du vollständig verkommst.“ + +„Nanu?“ Mette war immer noch mehr belustigt als erregt. „Warum soll ich +denn eigentlich total verkommen? Weil ich mit einem jungen Mann +spazieren gehe? Ach Gott, der arme kleine Petermann. Hast du ihn +vielleicht gesehen? Ich kann ihn dir ja mal vorführen, vielleicht bist +du dann beruhigt!“ + +„Was ist denn das für ein Mann?“ fragte jetzt Franz Rudloff mit +gerunzelten Brauen. Es sollte vielleicht energisch und streng klingen. +Es klang eher schüchtern. + +Mette empfand für ihren Vater ein zärtliches Mitleid, das nicht frei von +Verachtung war. + +„Ach Gott, Papa,“ sagte sie, „ein netter, intelligenter Mensch. Aber ein +armes, krankes, verwachsenes Kerlchen. Wahrhaftig, kein Mann, der der +Tugend oder dem Rufe eines jungen Mädchens gefährlich werden könnte.“ + +„Einem normalen jungen Mädchen vielleicht nicht,“ sagte Tante Emilie, +zitternd vor Bosheit. „Leider weiß ich ja nicht, wie weit bei dir die +Voraussetzung der Normalität zutrifft. Es gibt ja leider Frauen genug, +die sich in krankhafter Geschmacksverirrung zu allem Abstoßenden und +Ungesunden hingezogen fühlen. Gerade wie es leider Gottes Frauen gibt, +die jedem Neger nachlaufen.“ + +Mette schob ihren Stuhl zurück, daß er hart den Boden schrammte. + +„Du bist ja total irrsinnig!“ sagte sie. Weiter nichts. Dann ging sie +mit ihren großen, festen Schritten ins Nebenzimmer ans Telephon und +stellte die Verbindung her. + +„Kann ich Herrn Petermann sprechen? ... Verzeihen Sie, Peterchen, ich +muß Sie heut’ versetzen ... Meine Tante erlaubt nicht, daß ich mit Ihnen +spazieren gehe ... ja, es tut mir auch leid – aber da kann man nix +machen – meine Tante findet es unschicklich ... nein, nein, klingeln Sie +lieber nicht an, das ist vielleicht auch unpassend. Grüß Sie Gott. +Lassens sich’s gut gehen!“ + +Ohne sich umzuwenden, ohne nur einen Blick ins Nebenzimmer +zurückzuwerfen, ging sie in ihre Stube und schloß und riegelte sich ein. + +Damit hatte der freundschaftliche Verkehr mit Petermann fürs erste ein +Ende. – – – + + * * * * * + +Franz Rudloffs stille und empfindsame Natur litt schwer unter der +gespannten Stimmung im Hause. Die Mahlzeiten verliefen in peinlichem +Schweigen, jedes gemeinsame Unternehmen, ein Spaziergang, ein +Theaterbesuch schien ausgeschlossen. + +Er beschloß, einen Frieden zu vermitteln und versuchte, seine Tochter zu +einer Bitte um Verzeihung zu bewegen. Er suchte sie zu diesem Zweck, was +er selten tat, sogar in ihrem Zimmer auf. + +Mette saß mit aufgestütztem Kopf über ihren Büchern. Als ihr Vater +eintrat, sprang sie auf und empfing ihn wie einen verehrten Besuch. Sie +rückte ihm den bequemsten Sessel zurecht und bot ihm eine Zigarette an. + +Er wußte nicht recht, wie er anfangen und einleiten sollte und war +voller Verlegenheit. + +Mette versuchte, ihm die Lage zu erleichtern, weil es ihr peinlich war +zu sehen, wie er sich quälte. + +Sie versprach die Bitte um Entschuldigung, sie versprach, bei Tisch +Konversation zu machen, sie versprach ein freundliches Gesicht und einen +sanften Ton von morgens bis abends. + +„Ich verspreche dir, mich zu beherrschen, Vater,“ sagte sie. + +Beherrschung! Das war es nicht, was Franz Rudloff verlangte. + +„Könntest du nicht versuchen,“ sagte er zaghaft, „innerlich in ein +anderes Verhältnis zu Tante Emilie zu kommen? Sie hat wirklich so sehr +schätzenswerte Eigenschaften. Es würde ein viel erquicklicheres +Familienleben werden, wenn du – ich weiß, Gefühle lassen sich nicht +zwingen – aber wenn du wenigstens den _Versuch_ machtest, sie lieb zu +haben.“ + +„Liebhaben!“ wiederholte Mette. Sie sah mit steinern ruhigem Gesicht an +ihm vorüber, aus dem Fenster, aber ihr Atem ging rascher. „Ich kann dir +eins versprechen: ich habe mich Zeit meines Lebens nur auf das eine +gefreut, habe nur auf das eine gewartet, daß sie sterben soll. Ich habe +jeden Abend den lieben Gott gebeten, er soll sie bald, bald sterben +lassen.“ + +Franz Rudloff wurde ganz blaß. + +„Mette!“ sagte er mit großen Augen. + +„Ich verspreche dir, das nicht mehr zu tun!“ sagte Mette mit einem +leisen, trüben Lächeln. „Es wäre jetzt auch zu spät. Jetzt bitte ich +Gott nur, daß er mich bald einundzwanzig werden läßt. Daß er dies +unglückselige Jahr schnell, schnell vorübergehen läßt. Wenn ich mündig +bin, wird sich ja irgendein Weg finden lassen. Wenn sie mir’s dann zu +bunt treibt, geh’ ich eben aus dem Hause. Wenn’s sein muß, als +Kindermädchen. Wenn ich nicht mehr mit ihr zusammen zu sein brauche, +soll sie meinetwegen hundert Jahr alt werden. Früher, ich kann dir +sagen, früher hätte ich sie manchmal mit Genuß mit eigenen Händen +umgebracht.“ + +Vor Franz Rudloff taten sich klaffende Abgründe auf. Er klammerte sich +an den Seitenlehnen des Stuhles fest, so gewaltsam und stoßweise ging +sein armes schwächliches Herz. + +„Dann allerdings,“ sagte er mühsam, der Atem versagte ihm, „dann +allerdings wird wohl meine Bitte auf unfruchtbaren Boden fallen. Dann, +dann habe ich dir wohl auch nichts mehr zu sagen.“ + +Er erhob sich und ging hinaus, schwerfällig wie ein alter Mann. + +Mette fühlte einen Moment den Trieb, aufzuspringen, ihn zu halten, ihn +wieder zu dem Sessel zurückzuführen. Ob es nicht doch irgendeinen Weg +gab, sich zu erklären, eine Möglichkeit, sich verständlich zu machen!? + +„Er geht, weil er sich fürchtet,“ dachte sie, „er geht, weil er die Luft +in meiner Nähe nicht mehr atmen kann, die Luft, die vergiftet ist mit +dem Gift meiner bösen Gedanken. Er fragt sich jetzt verzweifelt, warum +er so hart gestraft wird, daß er einer Mörderin das Leben gegeben hat. +Wer weiß, womöglich geht er jetzt zu Tante Emilie und fragt sie um Rat, +was er mit seiner verlorenen Tochter anfangen soll. Vielleicht +konsultieren sie mal wieder einen Irrenarzt. Ich hätte die Absicht +geäußert, meine Familie eigenhändig umzubringen. Nein, nein, es hat +keinen Zweck, mit Erklärungen anzufangen. Vater versteht mich ja doch +nicht.“ + +Er ging. Und sie ließ ihn gehen, ohne sich zu rühren. – – – + + * * * * * + +Es vergingen drei Wochen – vier Wochen, fünf Wochen – Olga Radó ließ +nichts von sich sehen noch hören. + +In ihrer Verzweiflung nahm Mette den lange vernachlässigten Verkehr mit +den Möbius-Mädeln wieder auf. Sie quälte sich durch ein paar langweilige +Nachmittage hindurch und fand den Mut nicht, nach Olga zu fragen. Und +als sie endlich fragte, wußte niemand von ihr. + +Aber eines Nachmittags stürmte Emmi ins Zimmer, gerade als Fanni Metten +die höchst aufregende Geschichte erzählte, von einem Brief an sie, den +ihre Mutter aufgemacht hätte. Mette wurde nicht klug aus der Sache, aber +sie hatte es zu einer Art Meisterschaft darin gebracht, an passenden +Stellen „Ja?“ „Ach!“ „Wirklich?“ zu sagen, ohne eine Ahnung zu haben, +wovon die Rede war; also Emmi stürmte herein, warf ein paar Paketchen, +die sie in der Hand trug, auf den Tisch, und rief: + +„Also, wißt ihr, Kinder, wen ich eben getroffen habe? Die Olga!“ + +In Metten kämpften Schmerz und Freude. Also sie war hier! Man hatte die +Möglichkeit, sie zu treffen, ganz unvermutet ihr plötzlich gegenüber zu +stehen – das war ihr erster Gedanke. Aber ihr zweiter war: „Sie ist hier +und sagt es mir nicht. Sie will mich nicht sehen. Sie ist abgereist, +ohne es mir zu sagen, sie ist wiedergekommen, ohne es mir zu sagen, sie +ist meiner so überdrüssig, daß sie sich Mühe gibt, mich loszuwerden. Was +soll ich nur tun? Was soll ich nur tun?“ + +Zwischen den Schwestern entspann sich ein langes Gespräch über Olga. + +„Sie hat Launen,“ sagte Fanni, „eine Zeitlang kommt sie jeden dritten +Tag, und dann läßt sie sich ein Vierteljahr nicht sehen.“ + +„Sie will mich hier nicht treffen!“ dachte Mette bitter, „darum kommt +sie nicht hierher.“ + +„Sie war doch so lange verreist,“ sagte Emmi entschuldigend. + +„Ach, und vorher?“ fragte Fanni. „Das Vierteljahr vor der Reise? Hat sie +sich da vielleicht um uns gekümmert? Da hatte sie ja auch keine Zeit!“ + +„Aber für mich,“ dachte Mette mit schmerzlichem Stolz, „oh, für mich +hatte sie Zeit – jeden Tag, jeden Tag –.“ + +„Du kommst mir vor wie Tante Sophie,“ sagte Emmi und bemühte sich, ihr +Puppengesichtchen zu verrenken, um der Tante nachzumachen. „Diese Olga +ist eine ganz gefährliche Person. Sie spielt mit Menschen wie mit +Puppen. Wenn sie sie satt hat, wirft sie sie beiseite. Und dabei ist sie +faszinierend, ich gebe es zu, sie ist faszinierend!“ + +„Ja,“ dachte Mette, „diese Tante Sophie mag sonst so idiotisch wie +möglich sein. Aber sie hat recht. _Darin_ hat sie recht. Sie _ist_ +faszinierend. Oh, so faszinierend! Und sie hat mich beiseite geworfen. +Für immer! Für ewig! Was _soll_ ich nur tun? Was _kann_ ich nur tun?“ – +– – + + * * * * * + +Mette grübelte Tage und Nächte nach einem Ausweg. Sie fühlte, daß sie es +nicht aushalten würde, sich an ihren Stolz zu klammern und zu sagen: Sie +mag mich nicht, also existiert sie nicht mehr für mich. Sie sagte es +sich, gewiß, nicht einmal, hundertmal. Aber ein viel stärkeres Gefühl +sagte ihr: es sind Mißverständnisse, die uns trennen, es sind +Hindernisse, die sich mit einem offenen Wort beseitigen lassen. Ich +_muß_ sie sprechen, ich _muß_ sie fragen. Sie hat Mut genug und Härte +genug, um mir die Wahrheit zu sagen. Ich will es ihr leicht machen. Ich +will sie so fragen, daß sie es mir sagen kann, daß sie es mir sagen muß. +Und wenn sie sagt: geh und komm nie wieder, dann will ich gehen und nie +wiederkommen, dann will ich versuchen, mein Leben irgendwie ohne sie +einzurichten, dann will ich stolz sein, aber dann erst! Erst dann! + +Mette kaufte eine Handvoll weißer Rosen von eigentümlich steifer und +schwermütiger Schönheit und ging hinauf zu Olga. + +Das Mädchen, das ihr aufmachte, empfing sie mit strahlender Freude. + +„Gnädiges Fräulein sind ja so lange nicht hier gewesen! Fräulein Radó +ist hinten in ihrem Zimmer. Fräulein weiß ja Bescheid!“ + +Es erschien Metten unmöglich, sich durch das Mädchen melden zu lassen. +Wenn Olga sich etwa verleugnen ließe, so konnte das eine unendlich +peinvolle Situation herbeiführen. Wenn Olga nicht in der Laune war, sie +zu sehen, so war es schon am besten, sich das ins Gesicht sagen zu +lassen und nicht durch Vermittlung des Mädchens zu erfahren. + +Sie schritt sehr rasch und fest den endlosen Türgang hinunter. Aber das +Herz klopfte ihr doch ein wenig schneller dabei. + +Sie pochte kurz an die Tür und drückte die Klinke nieder. + +Olga saß am Schreibtisch, wie sie immer zu sitzen pflegte: die eine Hand +auf dem aufgeschlagenen Buch, die Schläfe gegen den Ballen der anderen +gestützt, zwischen deren Fingern sie die Zigarette hielt. + +Als die Tür ging, wandte sie den Kopf ein wenig unwillig, mit +zusammengezogenen Brauen. Das Erkennen lief wie ein heller Schein über +ihr Gesicht. + +„Mette!“ sagte sie. „Bist du wieder da? Wo kommst du her? Was willst du +hier?“ + +Mette riß das Papier von den Blumen, warf es in den Papierkorb und legte +die Rosen auf den Schreibtisch. + +„Was ich will?“ sagte sie währenddessen, ohne die Augen von ihrer +Beschäftigung aufzuheben. „Dich besuchen. Sehen, wie es dir geht. Aber +wenn es dir nicht paßt, kann ich ja wieder gehen.“ + +„Nein!“ Olga streckte mit einer raschen und fast heftigen Bewegung die +Hand nach ihr aus. Mette legte ihre Finger hinein, die Olga fest +umschloß. „Aber – gerufen habe ich dich nicht!“ + +Sie sah zu Metten auf, mit dem seltsam zwingenden und fast drohenden +Ausdruck in Stirn und Augen. + +„Ich weiß es,“ sagte Mette mit einem bitteren Lächeln. „Es wäre dir auch +nicht eingefallen, mich zu rufen. Ich habe selber das Gefühl, daß ich +aufdringlich bin. Du brauchst es mir gar nicht so deutlich zu sagen.“ + +Sie wollte ihre Hand zurückziehen, aber Olga hielt sie fest und +lächelte. + +„Kind,“ sagte sie, „Mädelchen! Ich freue mich doch! Mehr als du +annimmst. Ich glaube, wenn du wüßtest, wie ich mich freue – dann würdest +du ganz eingebildet werden. Aber gerufen habe ich dich doch nicht.“ + +„Ja,“ sagte Mette beinah ungeduldig, „ich weiß nicht, warum du solches +Gewicht auf diese Feststellung legst.“ + +„Aber ich weiß es,“ sagte Olga ruhig. „Du sollst mir niemals vorwerfen +können, ich wäre egoistisch gewesen.“ + +„So,“ sagte Mette, „das ist ja heiter. Damit dich nicht irgendwann ein +Vorwurf treffen kann – ich wüßte nebenbei nicht wann – darum läßt du +mich sterben und verderben und kümmerst dich nicht um mich! Oh, bist du +egoistisch!“ + +Olga lachte. „Ich geb’ es auf. Es kommt ja doch alles auf mich. So oder +so. Also tragen wir, was wir tragen können, solange wir aufrecht gehen. +Es ist herbstlich heut’ draußen.“ + +Sie schloß die Augen und zog fröstelnd die Schultern zusammen. + +„Es ist gut, daß du da bist. Steck den Samowar an und mach uns Tee, +Mettulein. Und wir wollen Peterchen rufen, daß er kommt und uns was +vorspielt.“ – – – + + * * * * * + +Als Mette ins Zimmer trat, saß Olga auf dem Diwan, die Ellbogen auf den +Knien, das Gesicht in die Hände gelegt. + +„Gott, siehst du tiefsinnig aus!“ rief Mette. „Denkst du über die +Unsterblichkeit der Maikäfer nach?“ + +„Ja!“ Olga hob mit einem Ruck den Kopf. „Und ich meine, daß das das +einzige ist, was noch das Nachdenken lohnt! Sag’, hast du noch nie +darüber nachgedacht?“ + +„Nein!“ lachte Mette. „Ganz gewiß nicht.“ + +„Dann ist es Zeit, daß du anfängst, darüber nachzudenken!“ sagte Olga +sehr ernst. + +„Ausgerechnet über die Unsterblichkeit der Maikäfer?“ + +„Ja, ausgerechnet über die Unsterblichkeit der Maikäfer. Ich möchte +wissen, von wem das Wort stammt. Man kann nämlich über nichts so +tiefsinnig werden.“ + +„Als gerade über die Maikäfer?“ + +„Meinetwegen auch über die Stubenfliegen. Oder über die Skorpione. Oder +über die Kellerasseln. Glaubst du, daß eine Stubenfliegenseele in einen +Maikäfer fahren kann? Oder umgekehrt? Oder glaubst du, daß sie gleich in +den Himmel kommt? Oder glaubst du, daß Elefanten auf einer höheren Stufe +stehen als Menschen? Oder daß es mehr als sechzehnhundert Millionen +Elefanten gibt?“ + +„Olga!“ rief Mette zwischen Lachen und Verzweiflung und hielt sich die +Ohren zu. „Hör’ auf! Bist du denn verrückt geworden?“ + +„Nein, nein, nein!“ sagte Olga eigensinnig. „Ich denke fortgesetzt +darüber nach.“ + +„Worüber eigentlich?“ + +„Über die Unsterblichkeit der Maikäfer. Glaubst du, daß sie eine +unsterbliche Seele haben? Ich will dir sagen, wie ich darauf kam. Ich +las da eben vom Regenerationsvermögen gewisser niederer Tiere. Weißt du, +wenn man sie halbiert, wächst einfach jedem die fehlende Hälfte nach, +und es sind nun zwei da. Der Mann macht da auch die tiefsinnige +Bemerkung, in welcher Hälfte sitzt nun die unsterbliche Seele? Oder +teilt sich die Seele? Oder hat der Mensch die Macht, durch das +Seziermesser eine neue Seele zu schaffen? Oder herbeizulocken? Wenn man +anfängt, kommt man in ein solches Labyrinth.“ + +„Glaubst du denn an die unsterbliche Seele?“ fragte Mette zweifelnd. + +„Bei niederen und niedersten Tieren? Gewiß! Aber wenn dich das Wort +Seele stört, lassen wir’s fort. Ich möchte dir’s so gern klarmachen.“ + +Sie sah ein paar Sekunden zu Boden, hob dann die unbeschreiblich klaren +und leuchtenden Augen auf und sagte betont: + +„Alles, was Leben hat, hat auch Unsterblichkeit. Leben an sich kann +nicht sterblich sein. – Das klingt wie ein Sophismus, ist aber keiner. +Es wechselt nur die Form. Nun möchte ich wissen, ob es nur die uns +wahrnehmbare, die Erscheinungsform wechselt, das heißt, ob jede +Maikäferseele ein in sich abgeschlossenes ist, das wieder nur dazu +dient, einem neu entstehenden Maikäfer Leben zu geben, oder ob Sterben +und Geborenwerden ist, wie Tropfen, die ins Meer zurückfließen und +wieder aus dem Meer geschöpft werden. Die Tropfen bleiben nicht in sich +zusammenhängend, verstehst du? Und viele Tropfen geben einen Eimer. +Vielleicht ist nur die Quantität ausschlaggebend und nicht die Qualität +... Vielleicht hat ein Mensch Millionen Maikäferseelen in sich. Man +müßte einmal die Maikäfer auf der ganzen Erde zählen. Wenn eine +Maikäferseele sich in Ewigkeit gleich bliebe, so müßte immer die gleiche +Anzahl von Maikäfern existieren. Wo sind aber dann die Seelen der Tiere, +die positiv ausgestorben sind? Oder flutet das Leben von einem Stern zum +andern ungehindert hinüber? – + +Aber ich glaube das alles nicht. Ich glaube eigentlich an eine +Entwicklung, an einen Fortschritt. Man kommt von da ganz unten her – +weißt du? – aus Abgründen viehischen Lebens – oh, ich weiß ganz genau, +daß ich von da her komme – aber jedes Leben heißt ‚Aufwärtsentwicklung‘, +jedes neue Leben fangen wir eine Stufe höher an.“ + +„Ach, Unsinn!“ sagte Mette ungläubig. „Woher willst du das wissen! Ich +glaube nicht an unsterbliche Maikäferseelen. Ich glaube nicht einmal an +meine eigene Unsterblichkeit. Alles Leben ist chemische Veränderung. Und +das, was du Seele nennst, alle Eigenschaften des Geistes und des +Charakters, das ist Blutzusammensetzung.“ + +„Mette!“ sagte Olga ganz erschrocken. „Und mit dem Gedanken kannst du +leben? Und mit dem Gedanken willst du sterben? Ich würde mich fürchten +vorm Tode, wenn ich nicht wüßte, daß ich unzerstörbar bin. Ich empfinde +mich selbst so stark, viel stärker als den Tod. – Ich bin genau das, was +ich als kleines Kind war. Nicht unverändert. Ich bin mehr geworden. Aber +nicht ein Körnchen ist abgebröckelt. Und das, was ich jetzt bin, erhalt +ich mir. Ich gebe nichts her davon. Das weiß ich. Aber ich nehme zu, ich +wachse. Manchmal ist es wie ein Stillstand – dann geht es wieder +ruckweise – manchmal eine ganze Strecke in rasendem Tempo, immer +aufwärts –“ Sie schwieg, und sah mit weiten Augen geradeaus. + +„Und dann?“ fragte Mette, immer noch mit leisem Widerspruch im Ton. „Was +wird dann? Kommst du in den Himmel und wirst ein Engel mit weißen +Flügeln?“ + +„Ich weiß nicht,“ sagte Olga nachdenklich. „So wenig weiß ich, daß ich +selbst das nicht abstreiten kann. Eigentlich bin ich überzeugt, daß ich +zunächst ein Mann werde. Und danach ein Heiliger oder ein Genie. Das ist +das Höchste, was wir kennen. Die andere höhere Form, die dann kommt – +davon weiß ich nichts. Aber wir müssen die fragen, die ihr am nächsten +stehen – die vielleicht schon ein Vorgefühl davon haben können – die +Genies – oder die Heiligen.“ – – – + + * * * * * + +Einmal, als Mette ins Zimmer kam, sah sie, daß Olga etwas versteckte. +Sie schob einen offenen Brief, den sie in der Hand hielt, rasch unter +die Bücher auf dem Schreibtisch. Mette glaubte zu bemerken, daß sie +während der Begrüßung irgendwie zerstreut, ärgerlich, verlegen war. + +„Was hast du?“ fragte sie, ohne ihre Hand loszulassen. „Hast du Ärger +gehabt? Du kommst mir heut’ so komisch vor.“ + +„Ich?“ Olga errötete. Es lief wieder die rasche, dunkelnde Blutwelle +über ihr Gesicht, die es im nächsten Augenblick um so weißer erscheinen +ließ. „Was fällt dir ein? Warum soll ich Ärger gehabt haben? Im +Gegenteil.“ + +„Im Gegenteil?“ sagte Mette mit etwas erzwungener Heiterkeit. „Du hast +Freude gehabt, die dich so okkupiert? Dann wäre es allerdings indiskret, +weiter zu fragen. Sprechen wir von etwas anderem. – Ich habe dir deinen +Chamberlain wieder mitgebracht. Und habe dir auch gleich den Herz +mitgebracht. Vater hatte ihn in der Bibliothek.“ + +Sie sprachen von dem und jenem. Aber Mette konnte den Brief nicht +vergessen. Während sie redete, gingen ihre Gedanken immer andere Wege. + +„Was ist das nur?“ dachte sie. „Eifersucht? Hab’ ich denn ein Recht +dazu? Wie komme ich eigentlich dazu, verletzt, mißtrauisch, ja _zornig_ +zu sein, weil diese Frau einen Brief erhält, den sie mich nicht sehen +lassen will? Herrgott im Himmel, sie ist doch durch nichts an mich +gebunden, mir in Nichts verpflichtet. Sie kann heimlich verlobt sein, +sie kann ein Dutzend Liebschaften haben – wie käme sie dazu, mir alles +zu erzählen, mich zu ihrer Vertrauten zu machen? Was geht es mich +überhaupt an, was sie für Briefe bekommt?“ + +Mette war böse auf sich selbst und schalt sich aus. Und dabei war sie +gequält und traurig, kämpfte dagegen an und konnte es nicht überwinden. + +„Es _ist_ nicht Eifersucht,“ dachte sie, „es _ist_ nicht +Besitzer-Wahnsinn. Es ist einfach die Erkenntnis, daß man das Leben nur +ertragen kann, wenn man Hand in Hand geht. Es ist das Bewußtsein, daß +ich nur weiterkomme, wenn Olga meine Hand hält und mich führt. Ich habe +das Gefühl, daß sie meine Hand losgelassen hat, daß zwischen uns eine +Tür ins Schloß gefallen ist, daß ich allein stehe, hilflos, im Dunkeln, +und daß sie lachend weitergeht – ich weiß nicht, mit wem ...“ + +Olga wurde ans Telephon gerufen. Es dauerte lange, ehe sie wiederkam. + +Mette saß einen halben Meter vom Schreibtisch entfernt. Unter einem +Bücherstoß ragte eine Ecke des weißen Briefblatts hervor. Wenn sie den +Arm ausstreckte, konnte sie es berühren, konnte es hervorziehen, ohne +von ihrem Platz aufzustehen. + +Es war ein qualvoller Kampf. Sie hätte sich ohrfeigen mögen, weil sie +nur auf den Gedanken einer Möglichkeit kam. + +Es war ein Verbrechen, was sie begehen wollte – oh, es war schlimmer, es +war unfein, taktlos, verächtlich. Aber sie fand tausend Gründe, sich zu +entschuldigen: + +„Es ist ja nicht Neugier –“ schrie es innerlich in ihr, „wem tu ich +damit weh? Wem tu ich ein Leid? Niemandem. Nicht ihr, nicht dem, der den +Brief geschrieben hat. Und für mich ist es von so unendlicher Bedeutung. +Ich klammere mich mit allen Fasern an diesen Menschen und weiß gar +nicht, was es für ein Mensch ist. Warum _ist_ sie so verschlossen? Wenn +ich mir eine Gewißheit verschaffen kann, die vielleicht mit einem +Schlage mein ganzes Leben ändert, so tue ich das um jeden Preis – und +wenn es um den Preis eines Verbrechens ist.“ + +Mit einem Ruck zog sie das Blatt hervor. Ihr Herz hämmerte wie rasend, +vor ihren Augen war ein dichter Schleier, die Buchstaben flackerten auf +dem Papier. Es war ein Bogen mit Firmenaufdruck, wenige Worte – Zahlen +... + +Mette hörte Olgas Stimme vor der Tür und schob das Blatt hastig in die +Tasche. Olga würde es kaum vermissen. Und in Metten, obgleich sie kaum +gelesen, kaum begriffen hatte, was da stand, war schon ein Plan fertig. + +Mette hatte es heut’ sonderbar eilig, nach Hause zu kommen. Sie war +zerstreut und einsilbig, so, daß Olga einmal fragte: + +„Was hast du heut’? Ist dir was passiert? Bist du schlechter Laune?“ + +Mette erinnerte sich belustigt des Gespräches beim Kommen. + +„Im Gegenteil!“ sagte sie mit übertriebener Betonung, deren Ursache aber +Olga nicht ins Gedächtnis kam – „Ich bin sogar sehr guter Laune!“ – + +Mette schloß sich daheim in ihrer Stube ein und studierte den Brief wie +ein wichtiges Dokument – das also war das Liebesglück, das vor ihr +geheim gehalten wurde. + +Die Firma ersuchte „nochmals“ um Zahlung von einigen Hundert Mark, +„widrigenfalls wir die Sache zu unserem Bedauern unserem Rechtsanwalt +überweisen müßten“. + +Mettens Herz war zum Überfließen voll von zärtlichem Mitleid. + +„Armes, Liebes!“ dachte sie, „so quälen sie dich!“ + +Sie hob das Blatt auf und war einen Augenblick in Versuchung, es an die +Lippen zu führen. + +Dann fing sie an zu rechnen. Die paar Mark Ersparnisse, die sie von +ihrem Taschengeld machen konnte – nein, das langte nicht. Sie hatte zu +sehr verschwendet, namentlich mit den Blumen. – Aber hatte sie sonst +nichts? Sie ließ wie suchend die Blicke durch den Raum gleiten. Bücher? +Nein, die gab sie nur im letzten Notfall her. Aber Schmuck. Den ganzen +Kram, aus dem sie sich so absolut nichts machte. Es würde niemand danach +fragen, wo Armbänder und Ringe, Halskettchen und Vorstecknadeln +geblieben waren. Sie trug ja doch dergleichen Dinge nie. +Schlimmstenfalls konnte man vorgeben, etwas verloren zu haben. Oder man +konnte am ersten, wenn es Taschengeld gab, diese oder jene Kleinigkeit +wieder einlösen. + +Der ganze Inhalt der Schmucktruhe wurde in Seidenpapier gewickelt und in +die Tiefe der Manteltaschen versenkt. + +Der Gang zum Leihamt war leicht. Mette entsann sich fast mit Vergnügen, +daß sie bei einem solchen Unternehmen nicht ohne Übung war. + +Schlimmer war es, Geld und Rechnung in das Modeatelier zu bringen. Mette +hatte dabei ein Gefühl, als ob sie einen schweren Betrug verüben sollte. +Die Schmucksachen zu versetzen, die ihr geschenkt waren, dazu hatte sie +ein gutes Recht. Aber für Olga Radó zu handeln, in Olga Radós Namen +etwas zu tun, das schien ihr ein unerhörtes Wagnis. Und es war so +schwer, den richtigen Ton zu treffen. Schulden zu haben, war nach allem, +was Mette je gelernt und erfahren hatte, etwas sehr Entwürdigendes und +beinah Schmutziges. + +Wenn man also kam, um Schulden zu bezahlen, endlich, nach langem Mahnen, +so mußte man ganz demütig kommen und um Verzeihung bitten. Anders, wenn +man von Olga Radó kam. Dann konnte man nur mit der Miene eines +fürstlichen Abgesandten auftreten und mit hoheitsvoller Überlegenheit +den vergessenen Bettel erledigen. + +Mette zog ihr bestes Kleid an und machte ihr hochmütigstes Gesicht. Es +ging viel besser als sie erwartet hatte. Die Leute behandelten sie +wirklich wie einen fürstlichen Abgesandten – sie war sehr stolz darauf, +doppelt stolz, weil sie annahm, daß diese fast unterwürfige +Liebenswürdigkeit Olga Radó galt. + +Ja, das war alles ganz leicht. Aber nun trug sie die quittierte Rechnung +in der Tasche und hätte nicht um alles in der Welt den Mut gefunden, sie +Olga zurückzugeben. Sie beruhigte sich damit, daß es ja auch wohl kaum +nötig wäre. Die Leute würden nun nicht mehr mahnen, und Olga würde die +ganze Angelegenheit vergessen. + +Nach acht Tagen triumphierte Mette schon heimlich und hielt jede Gefahr +für glücklich vorübergegangen. Da wurde sie eines Tages von Olga mit +eiskaltem Gesicht empfangen. + +„Was fällt dir eigentlich ein?!“ sagte Olga statt jeder Begrüßung, „wie +_kommst_ du eigentlich dazu, mir so etwas zu machen.“ + +„Ich?“ sagte Mette und bemühte sich, ein harmloses Gesicht zu machen, +„was hab’ ich denn gemacht?“ + +„Du weißt ganz genau, was du gemacht hast!“ sagte Olga streng. „Du hast +dich unverantwortlich benommen. Unverantwortlich! Ich dulde es nicht, +daß sich jemand in meine Angelegenheiten mengt. Und von dir dulde ich es +am allerwenigsten. Siehst du nicht ein, was für eine unerhörte Anmaßung +in deinem Benehmen liegt? Willst du mich unter Kuratel stellen? Oder +willst du mich aushalten? Was denkst du dir denn eigentlich?“ Sie ging +mit großen Schritten hin und her. Ihr Ton war immer hitziger und +heftiger geworden. Jetzt blieb sie plötzlich, an den Schreibtisch +gelehnt, stehen, kreuzte die Arme und sagte ganz ruhig, nur mit einer +leisen Bewegung des Kopfes: + +„Wie bist du denn überhaupt zu der Rechnung gekommen?“ + +Mette schrak zusammen. Das war der Augenblick, den sie gefürchtet hatte. +Alles andere war vielleicht Torheit, aber es war gutmütig, selbstlos +gehandelt, sie konnte es mit einem Schein des Rechtes verteidigen, +wenigstens vor sich selber. Aber auf diese Frage konnte sie keine +Entschuldigung hervorbringen. + +Jetzt war doch alles aus. Mit keiner Lüge konnte sie sich mehr retten. +Da beschloß sie in verzweifeltem Trotz die Wahrheit zu sagen. Sie warf +den Kopf zurück und sah zu Olga auf, mit einem Gesicht, als wollte sie +sagen: ich habe den Tod verdient, aber ich fürchte ihn nicht. + +„Ich habe sie gestohlen!“ sagte sie. „Von deinem Schreibtisch.“ + +Olga blieb ganz ruhig. Sie zog nur ein wenig die Brauen zusammen als +müsse sie sich besinnen. „Sie war gekommen, während du da warst, nicht +wahr?“ + +„Ja!“ + +„Aber ich habe sie doch nicht offen liegen lassen. Ich weiß jetzt ganz +genau – ich hatte sie irgendwo unter die Bücher geschoben.“ + +„Ja,“ sagte Mette mit zusammengebissenen Zähnen, „aber ich habe sie da +vorgezogen.“ + +„Wann?“ fragte Olga in höchstem Erstaunen. + +„Während du am Telephon warst.“ + +Olga antwortete nichts. Sie senkte den Kopf und sah schweigend auf den +Boden. Mette sah, daß sie mit festgeschlossenem Mund mit den Zähnen an +der Unterlippe nagte ... + +Das Schweigen war fürchterlicher als jedes harte Wort. Mette kam sich +unglaublich verworfen vor. Und die Inquisition hatte noch kein Ende. Es +kamen noch schlimmere Fragen, ganz gewiß, noch viel schrecklichere. + +Nach einer Weile hob Olga den Kopf. „Du konntest doch aber gar nicht +wissen, was das war. Es konnte doch gerade so gut ein ganz persönlicher +Brief an mich sein?!“ + +Mettes Stirn fing an zu brennen. „Jetzt müßte ich lügen“ – dachte sie +einen Moment – „sagen, ich habe die Zahlen gesehen, oder den +Firmenaufdruck.“ Aber sie konnte nicht lügen. Sie hatte etwas so +Verächtliches getan, sie hatte kein Recht, sich Olgas Verzeihung durch +eine Lüge zu erkaufen. Sie mußte eingestehen, abbitten – büßen. + +„Das _dachte_ ich ja!“ sagte sie mit fast heftiger Entschlossenheit. +Aber dabei konnte sie nicht in Olgas Gesicht sehen. Sie sah an ihr +vorüber aus dem Fenster. Aber ohne hinzusehen, sah sie, daß Olga eine +hastig auffahrende und gleich wieder unterdrückte Bewegung machte. + +„Das hast du dir gedacht?“ sagte sie. + +Metten schien es, als ob sie mühsam, mit gewaltsamer Beherrschung so +leise spräche, um nicht zu schreien. + +„Aber ich bitte dich, du mußt doch irgendeinen Grund gehabt haben. Ich +kann doch nicht annehmen, daß du aus einer ganz dienstmädchenhaften +Neugier in jedes fremden Menschen Briefen stöberst.“ + +„Nein,“ sagte Mette verstockt. „Ich hatte auch einen Grund, natürlich +hatte ich einen Grund. Aber ich kann ihn nicht sagen.“ + +„Wenn du ihn nicht sagen kannst,“ sagte Olga mit einem sanften Lächeln, +„dann will ich dich auch nicht danach fragen. Aber ob mit, ob ohne Grund +– sag’ mal – findest du es eigentlich schön?“ + +„Nein!“ gestand Mette ehrlich. + +„Nicht wahr?“ sagte Olga rasch. „Ich finde es auch nicht schön.“ Und +nach einer Pause fügte sie nachdenklich und fast schmerzlich hinzu: +„Aber begreiflich. Trotzdem – laß’ es. Mißtrauen ist etwas so Häßliches. +Wenn ich etwas geheim halten will, liebes Kind, dann mach’ ich das so +raffiniert, daß man mir mit so törichten kleinen Streichen nicht +dahinter kommt!“ + +Es war in ihrem Ton eine so hohnvolle Überlegenheit, daß Mette erschrak. +Sie fühlte die Wahrheit dieser Worte, sie fühlte, daß Olga wie mit +Mauern umgeben war, durch die sie – die dumme, kleine Mette – niemals +zum Kern ihres Wesens gelangen konnte, auch wenn sie ihr nachspürte wie +ein Verbrecher und heimlich ihre Briefe las. + +Es schien, als ob Olga Mettens wortloses Erschrecken gefühlt hätte. + +Sie sagte plötzlich mit ihrer tiefen, warmen Stimme: + +„Im übrigen verberge ich dir ja nichts. Nichts, was dich interessiert. +Ich schreibe keine Liebesbriefe und kriege keine. Wenn’s dich aber +einmal reizt, irgend etwas in Erfahrung zu bringen – frag’ mich – es ist +der glätteste Weg.“ + +Der gute und herzliche Ton tat Metten unendlich wohl, zehnfach wohl nach +der Angst, die sie ausgestanden hatte. Sie machte eine unwillkürliche +Bewegung. Ein heiß aufwallendes Gefühl trieb sie zu Olga hin, um ihr in +Dankbarkeit die Hände zu küssen. Olga sah oder fühlte diese Regung – sie +wehrte sie ab. Es war nur ein kaum merkliches Zucken, das um ihre Brauen +lief und das Metten zurückscheuchte und an ihren Platz bannte. + +„Ich möchte Arabisch lernen,“ sagte Olga rasch, beinah hastig, mit einem +gewaltsamen Sprung der Gedanken. „Ich habe mir neulich die +Schriftzeichen erklären lassen. Die Schrift ist wie die Erfindung eines +klugen und unendlich sympathischen Mannes. Alles logisch, einfach und +dabei von ästhetischem Reiz.“ + +„Olga!“ sagte Mette. „Wie kommst du _darauf_?! Wozu soll man Arabisch +lernen, was man nie im Leben braucht?!“ + +„Brauchen?“ fragte Olga. „Lernt man Sprachen, um sie zu brauchen? +Glaubst du, daß mir jemand imponiert, der in zweiundzwanzig Sprachen ein +Zimmer mit zwei Betten bestellen kann? Das kann man doch auch +praktischer mit _alba duo_ abmachen. Wenn ich Sprachen lerne, so ist das +ein rein psychologisches Interesse. Wie ein Satz sich aus Zeichen +aufbaut – darin spiegelt sich die Seele eines ganzen Volkes. Ähnlichkeit +der Sprache, das macht Verwandtschaft, das _ist_ Verwandtschaft – aber +nicht, ob der Haardurchschnitt dreikantig oder elliptisch ist“ – – – + + * * * * * + +Erst als Mette sich den Hut aufsetzte, um zu gehen, sagte Olga +plötzlich: + +„Willst du mir einen Gefallen tun, Mette?“ + +„Jeden!“ sagte Mette mit Überzeugung. + +„Aber es ist keine leichte Aufgabe – ich“ ... + +„Desto besser!“ + +„Nein, nein, keine romantische Heldentat. Etwas ganz kleinlich +Unangenehmes!“ Sie nagte die Lippen und zögerte. „Ich würde es gern +anders machen, aber ich weiß wirklich nicht wie. Du sollst etwas tun, +was du sicher in deinem ganzen Leben noch nicht getan hast. Du sollst +für mich etwas aufs Leihamt tragen.“ + +Mette lachte hellauf. „Da unterschätzt du mich bedeutend. Das Leihhaus +ist eine meiner vertrautesten Kindheitserinnerungen!“ + +„Aber Mette!“ + +„Das ist eine lange Geschichte. Das muß ich dir mal erzählen. Aber sag, +was du jetzt wolltest!“ + +„Du sollst das da für mich zum Pfandleiher tragen!“ + +Olga nahm mit einer raschen Bewegung das Zigarettenetui vom Schreibtisch +und reichte es hinüber. + +Mette hielt es erschrocken in beiden Händen. + +„Olga, das kannst du nicht tun!“ + +Olga sah aus dem Fenster. „Laß das, bitte!“ sagte sie hart, ohne den +Kopf zu wenden. „Ich weiß allein, was ich tun kann, und was ich tun +muß!“ + +Mette schwieg. Auf diesen Ton gab es keine Widerrede. Aber sie war nicht +überzeugt. – – – + + * * * * * + +Mette sah immer noch die zärtliche Geste, mit der Olga das Etui an die +Wange gepreßt hatte. Und dann sah sie die behaarte Hand des Pfandleihers +mit den platten, schwarzgeränderten Nägeln. Nein, in diese Hände durfte +sie den Skorpion nicht legen. + +Sie trug das Etui zum Goldarbeiter und ließ es schätzen. + +Sie hatte nicht so viel Geld in ihrem Besitz, um den frommen Betrug, den +sie vorhatte, ausführen zu können. + +Aber sie wußte sich zu helfen. Sie war nicht umsonst Friedel Eggebrechts +Schülerin gewesen. Sie wußte so gut, wie man an das Silberzeug +herankonnte, und in welchem Kasten das wertvollste war. + +Während Mette heimlich an das Büfett ging, dachte sie ein Dutzend Jahre +zurück und lächelte. Es war nicht mehr so aufregend wie damals. +Obgleich, wenn Tante Emilie es entdeckte, würde es genau dieselben +Unannehmlichkeiten geben. Sie war fähig, wieder einen Psychiater zu +rufen. Was war es doch im Grunde für eine lächerliche Komödie! In einem +Jahr war sie mündig und durfte über ihr großmütterliches Erbe frei +verfügen, und heute mußte sie, um sich ein paar hundert Mark zu +verschaffen, in ihres Vaters Hause stehlen gehen! – – – + + * * * * * + +„Willst du so gut sein und mir den Schein geben?“ fragte Olga das +nächste Mal. + +„Den Schein?!“ Mette wurde ein wenig verlegen und kramte in ihrer +Tasche. „Ja, sofort! Wo habe ich ihn denn? Du brauchst keine Angst zu +haben, er ist da! Ich will dir nur erst das Geld aufzählen!“ + +„Das laß, bitte!“ sagte Olga bestimmt. „Das Geld ist da, wo es +hingehört. Keine Szenen, bitte. Ich habe dir kein Recht gegeben, mich zu +beleidigen.“ + +„Ich verstehe dich nicht,“ sagte Mette ratlos. „Was soll denn das +heißen?“ + +„Das soll heißen, daß ich mich bedeutend lieber an eine Straßenecke +setzen will und betteln, als daß ich dir Geld schuldig sein will. Ich +hab’ auch nur deswegen dich zum Leihamt geschickt, damit du das Geld +gleich in Händen hast. Sonst hätt’ ich dir’s aufdrängen müssen, und ich +hasse solche Szenen. Und jetzt genug davon geredet, ich will kein Wort +mehr hören!“ + +„Aber ...“ + +„Kein Wort – hab’ ich gesagt. Im übrigen kannst du den Schein behalten. +Du kannst es mir wieder einlösen. Ich will lieber nicht sehen, in wessen +Händen es war. Ich werde dir gelegentlich das Geld geben –“ sie lachte +kurz auf. „Wann, mögen die Götter wissen! Komm, wir wollen eine Partie +Schach spielen. Ich gebe dir einen Turm vor.“ – – – + + * * * * * + +Mette litt unter ihrer Unselbständigkeit. Sie spürte eine Art Neid gegen +alle Frauen, die sie arbeiten sah. Nicht nur gegen die, die in der +Öffentlichkeit standen, Reichtümer erwarben, laute Anerkennung fanden – +sie hätte gern mit einer kleinen, blassen Lehrerin getauscht, die jeden +Morgen an ihrem Fenster vorüber nach der Schule hastete. Oder mit ihrer +Zahnärztin, die nach ihrer eigenen Aussage jeden Abend müde zum Umfallen +war und die dabei doch immer brannte vor Arbeitseifer und Arbeitsfreude. + +Mette suchte ihren Vater in seinem Zimmer auf, in der Absicht, eine +recht ernsthafte Unterredung mit ihm zu führen. Sie konnte nicht in +Tante Emiliens Gegenwart die Rede auf das bringen, was sie beschäftigte. + +Mette holte weit aus, um sich ihrem Vater verständlich zu machen. + +„... siehst du, Papa, es ist doch heutzutage nicht mehr wie in deiner +Jugend, daß die Mädchen aus gutem Hause hübsch still zu sitzen hatten +und weiter nichts lernen durften, als Kochen, Plätten und Nähen. +Heutzutage ist es eigentlich für ein Mädchen ebenso selbstverständlich +wie für einen Jungen, daß er irgendeinen Beruf, irgendein Studium +ergreift. Und außerdem, selbst, wenn ich Hausarbeit tun wollte. – Du +weißt ja selber, daß ich hier überflüssig bin. Tante Emilie macht alles +so musterhaft, nein, Papa, du brauchst nicht aufzufahren, das soll keine +Ironie sein, sondern aufrichtige Anerkennung, auch kein Vorwurf; denn +ich dränge mich gar nicht danach, die Wirtschaft selber zu besorgen. Nur +– ich kann doch nicht mein Leben lang zu Hause sitzen und die Hände in +den Schoß legen und warten, ob der Freiersmann kommt. Es würde mir so +Freude machen, irgendeine wirkliche Arbeit zu verrichten.“ + +„Arbeit,“ sagte Franz Rudloff zögernd, „über den Begriff ‚Arbeit‘ gehen +die Ansichten sehr weit auseinander. Die meisten Menschen pflegen nur +das für Arbeit zu erklären, was ihnen unangenehm ist. Ein schwächlicher +Mensch wird Steine tragen für eine Arbeit erklären und ein +hartschädeliger: Vokabeln lernen. Es gibt Leute, die das, was ich +treibe, für Arbeit erklären. Ich nenne es einen fortgesetzten, +intensiven Genuß. Was verstehst du nun unter Arbeit?“ + +„Etwas, das bezahlt wird, Papa!“ sagte Mette ernsthaft. „Ich möchte gern +Geld verdienen.“ + +„Geld!“ Franz Rudloff verzog leise das Gesicht wie in Schmerz und Ekel. +„Merkwürdig! Wie kommt meine Tochter zu der Sehnsucht nach Geld?! Es +schafft ungesunde Zustände, wenn durch Generationen Kapital auf Kapital +aufgehäuft wird. Wer kein Geld hat, soll welches zu erwerben trachten, +und wer es hat, soll es ausgeben. – Du hast doch nicht nötig, Geld zu +verdienen. Versteh’ mich nicht falsch. Ich fände es nicht im mindesten +unehrenhaft oder nicht standesgemäß, wenn meine Tochter gegen Bezahlung +arbeitete, ich würde dir das gern zugestehen – wenn du es müßtest. Aber +das Reizvollste, was das Leben bietet, sind doch nun einmal die +brotlosen Künste. Wer soll sich ihnen widmen, wenn nicht der, der +auskömmlich zu leben hat? Sollen sie alle vernachlässigt werden, weil +auch der Wohlhabende kein anderes Streben hat, als Geld zu verdienen?“ + +„Du hast vollkommen recht, Papa,“ sagte Mette gequält. „Aber es ist für +einen erwachsenen Menschen schrecklich, wenn er um jeden Pfennig bitten +muß. Wenn ich ein Paar Handschuhe brauche, dann geht Tante Emilie mit +mir und kauft sie. Und wenn ich graue haben möchte, nimmt sie braune. +Und wenn ich welche für sechs Mark fünfzig haben möchte, nimmt sie +welche für sechs Mark fünfundzwanzig. Und ich darf nichts sagen, weil +ich ja tatsächlich nicht imstande bin, mir fünfundzwanzig Pfennige zu +verdienen. Das ist doch ein schrecklich beschämendes Gefühl.“ + +„Aber du hast doch Geld,“ sagte Rudloff eigensinnig. „Wozu willst du +etwas verdienen?“ + +„Ich habe es _nicht_,“ sagte Mette ungeduldig. „Ich höre immer, daß ich +reich bin und habe _de facto_ nicht einen Pfennig zur Verfügung.“ + +„Sei doch froh,“ beharrte Rudloff. „Danke doch Gott, wenn alle deine +Bedürfnisse befriedigt werden, ohne daß das Geld durch deine Finger +geht. Deine Mutter hat sich immer geweigert, Geld anzufassen. Aber wenn +du gern –“ er räusperte sich verlegen – „wenn du gern etwas nach deinem +Geschmack auswählen möchtest, so verstehe ich das ja vollkommen.“ (Das +verstand er wirklich.) „Du kannst ja dann in Geschäfte gehen, wo man +mich kennt und kannst die Rechnungen ins Haus schicken lassen. Solange +sich das in vernünftigen Grenzen hält, wird ja kein Mensch etwas dagegen +haben.“ + +„Und was soll ich mit meiner freien Zeit anfangen?“ fragte Mette +unüberzeugt. + +„Lernen, studieren! Nimm Unterricht in fremden Sprachen! Höre Vorträge +über Literatur und Kunstgeschichte! Da bist du meiner Unterstützung +immer sicher. Zu diesem Zweck kannst du auch meine Börse in Anspruch +nehmen, soviel es dir beliebt. Das weißt du!“ – – – + + * * * * * + +Herbstlicher Regen prasselte auf das Blech der Fenstersimse. + +Olga hatte die Vorhänge zugezogen und zusammengesteckt. In dem sanften +Lichtkreis der buntverschleierten Lampe schwebte und wallte der +bläuliche Nebel der Zigaretten. + +Olga lag auf dem Diwan, bäuchlings, die Ellbogen in einen Berg +zerdrückter Seidenkissen gestützt. Im Sessel kauerte Mette mit +hochgezogenen Füßen, und auf dem Schreibtischstuhl hockte Peterchen. + +„Ja,“ sagte Mette trübselig. „Ich hatte so schöne Pläne und nun wird +wieder nichts daraus. Ich wollte so gerne irgendeinen Beruf ergreifen +und Geld verdienen. Aber mein Vater sagt, ich hätte genug.“ + +„Sei doch froh,“ sagte Olga. „Es gibt nichts Angenehmeres, als Geld zu +haben und es auszugeben. Und nichts Widerlicheres, als es zu brauchen +und nicht zu haben.“ + +„Ich hab’ es doch aber nicht!“ widersprach Mette. „Das ist’s ja eben! In +der Theorie hab’ ich es! In der Praxis brauch’ ich es und hab’ es +nicht!“ + +„Du brauchst es!“ sagte Olga entrüstet. „Lächerlich! Wozu denn? Um mir +Orchideen mitzubringen. Wenn ich Tante Emilie wäre, ich würde dir ja +dein Taschengeld entziehen. Wenn _ich_ noch auf solche phantastische +Ideen käme. Geld zu verdienen, mein’ ich. Geld verdienen zu wollen, wenn +wir uns korrekt ausdrücken wollen.“ + +„Du hättest es sicher leicht!“ sagte Peterchen. „Du mit deinen eminenten +Begabungen!“ + +„Ja,“ sagte Olga ironisch. „Es fehlen mir bloß die Leute, die meine +Begabung anerkennen. Ich könnte mich bei einem großen Modeatelier +engagieren lassen und sagen: ‚Bitte, macht das so und macht das so!‘ +Aber man darf mich nicht zwingen, jemals eine Nadel anzurühren. Ich +könnte auch zu einem Bildhauer oder Maler gehen und ihm sagen, wie er’s +machen müßte. Oder ich könnte Theaterkritiker werden.“ + +„Du könntest schreiben,“ sagte Peterchen. „Du hast sicher Talent dafür.“ + +„Weißt du, was ich schreiben möchte?“ Olga fuhr mit einem Ruck in die +Höhe, „die Geschichte der Fürstin von Massa, die das Volk liebte; denn +ich glaube nicht, daß sie aus feiger Angst den Fürsten bewog ... Kennst +du sie? Es ist eine grauenhafte und wundervolle Geschichte: + +Masaniello war tot. Aber der Aufstand in Neapel tobte weiter. Von Madrid +aus schickte man den Don Juan d’Austria mit einer Flotte ab. Das Volk +war führerlos, ein Ungeheuer ohne Kopf. Die Massen brauchten einen +Führer, sie schrien nach ihm – sie zogen vor den Palast des Fürsten von +Massa und riefen nach ihm. + +Francesco Toraldo, der Fürst von Massa, war ein kühner und gerader und +gerechter Mann. Er war sicher dem König und der Regierung ergeben; denn +als die Unruhen anfingen, hatte er die Truppen des Vizekönigs angeführt, +hatte Castelnuovo und Castel Sant Elmo verteidigt. Er liebte das Volk +nicht. Aber er liebte seine schöne Frau. Und die Fürstin liebte das +Volk. Sie bat ihren Gatten – ihren Gatten, den sie anbetete – die +Führerschaft der Massen zu übernehmen. + +Sie liebte das Volk. Und sie fühlte sich von dem Volke geliebt. Wenn sie +durch die Straßen fuhr, drängten sich die jauchzenden Kinder um ihren +Wagen, und die Frauen hoben ihr die Säuglinge entgegen, und die Männer +neigten sich tief und sahen ihr lächelnd nach. + +Aber sie liebte auch die Fürsten und Edlen – sie liebte Giuseppe Carafa, +den sie ermordet hatten, und Diomede Carafa, der geflohen war, und +dessen herrlicher Palast eine wüste Trümmerstätte war. Sie liebte alles +und alle, glaube ich – weil sie Francesco Toraldo liebte, und weil sie +glücklich war. + +Sie glaubte so unerschütterlich an Gott und an das Gute im Menschen. Sie +hatte so unendliches Mitleid mit dem armen Volk, das von Gaunern und +Wahnsinnigen in die Irre geführt wurde – sie hatte so felsenfestes +Vertrauen auf die starken Hände Francescos, die die Zügel aufnehmen +sollten, die am Boden schleiften, so felsenfestes Vertrauen, daß keinem, +keinem mehr ein Unrecht geschehen könne, wenn nur Toraldo hinausträte +unter die aufjauchzenden Massen und sagte: + +‚Folget mir nach!‘ + +Francesco Toraldo übernimmt den Oberbefehl über die Aufständischen. +Gezwungen, gegen sein innerstes Gefühl. Aber da er ihre Sache nun einmal +zu seiner eigenen gemacht hat, setzt er sich auch mit ganzer Kraft +für sie ein – wie es für seine gerade und ehrenhafte Natur +selbstverständlich ist. + +Irgendeinem Schlächterburschen, der lieber morden will als Krieg führen, +lieber plündern, als für geringen Sold arbeiten, ist Toraldo im Wege. Er +beschuldigt ihn des geheimen Einverständnisses mit Don Juan und den +königlichen Truppen. + +Der Pöbel, ohne ihm auch nur eine Stunde Zeit zu lassen, daß er sich +rechtfertigen könnte, schleppt den vergötterten Führer auf den +Fischmarkt, schlägt ihm auf einer Steinbank den Kopf ab, reißt ihm das +Herz aus dem Leibe und trägt es auf silberner Schüssel nach dem Kloster, +wo die Fürstin von Massa Zuflucht genommen hat. Die zitternden Nonnen +verrammeln die Türen. Die rasenden Horden häufen Stroh und Holz um das +Kloster und beginnen es anzuzünden. + +Da geht die schöne Fürstin von Massa durch die jammernden Nonnen +hindurch und läßt sich die Tore aufriegeln und tritt hinaus und steht +auf den Stufen und nimmt aus den Händen der Mörder auf silberner +Schüssel das Herz des Francesco, noch dampfend von der Wärme seines +Lebens. + +Und keiner wagt, sie anzurühren. + +Aber den Körper des Francesco Toraldo hängen sie an einen Galgen, und +sein blutiges Haupt tragen sie auf einer Pike durch die Straßen der +Stadt. + +Nach zwei Tagen wissen sie es alle, daß er niemals daran gedacht hat, +sie zu verraten. + +Sie schneiden den Leichnam vom Galgen und waschen ihn und salben ihn und +hüllen ihn in kostbare Seide. Mit schwarzen Floren bedecken sie die +Trommeln, mit schwarzen Floren umwinden sie die Kerzen, sie schleifen +die Fahnen und Standarten am Boden hin. Weinend und Gebete murmelnd, +folgt das ganze Volk von Neapel dem Sarge, und über der ganzen Stadt +hallen unablässig die klagenden Glocken.“ – + +Sie schwiegen alle drei. + +Nach einer ganzen Weile sagte Peterchen nachdenklich: + +„Weißt du, Olga, es wäre ein wundervoller Vorwurf für eine Tragödie. Die +Szene im Palast zwischen dem Fürsten und der Fürstin, wenn die Menge +draußen nach ihm schreit, und sie ihn überredet ... und die Szene mit +den Nonnen ...“ + +„Schreib’ sie!“ sagte Olga kurz. + +„Nein, du sollst sie schreiben!“ wehrte sich Peterchen. „Ich kann doch +nicht!“ + +„Ich kann auch nicht,“ sagte Olga schwermütig, „ich empfinde es als so +stark, daß man kein Wort hinzuzusetzen braucht. Solche Dinge sind immer +am schönsten, wie sie in jeder Chronik stehen. Ich bin nicht für die +Kunst geboren. Ich könnte mich auch nicht hinsetzen und einen Wald +abmalen, der nicht rauscht, oder eine Wiese, die nicht duftet. Ich +glaube, Künstler sein, heißt: respektlos sein. Sich einbilden, daß man +es besser machen könnte als das Schicksal oder die Natur oder die +Geschichte. Wenn mir irgend etwas begegnet, was nach der Meinung anderer +Leute wert wäre, beschrieben oder abgemalt oder sonst wie bearbeitet zu +werden – ich weiß nicht – ich habe weder den Mut noch das Verlangen, da +hineinzupfuschen. Es ist mir einfach zu schade dazu.“ – – – + + * * * * * + +„Weißt du?“ sagte Olga das nächstemal, „ich hab’ eine Idee! Meinst du +nicht, Mette, ich könnte Sprachunterricht geben? Jeden Tag fünf Stunden +à 2 Mark sind 10 Mark, davon müßte man doch eigentlich leben können, +wenn man sich sehr einrichtet.“ + +„Eine reizende Idee!“ sagte Mette entrüstet. „Erstens sehe ich dich von +zehn Mark täglich leben, und zweitens hab’ ich dann überhaupt gar nichts +mehr von dir!“ + +„Darüber kannst du dich allerdings beklagen!“ sagte Olga lachend, „du +bist ja auch nur jeden Tag, den Gott werden läßt, von morgens bis +mittags und von nachmittags bis abends mit mir zusammen.“ + +„Wenn es dir zuviel ist,“ – Mette war ernstlich etwas gekränkt – „dann +brauchst du es ja nur zu sagen.“ + +„Hab’ keine Angst,“ sagte Olga beruhigend, „ich kann mich wehren. Wenn +ich einen Menschen los sein will, werd’ ich deutlich!“ + +„Gott sei Dank! Wenn ich mich darauf verlassen kann. Aber jetzt habe ich +wirklich eine Idee: wir werden das Angenehme mit dem Nützlichen +verbinden. Du kannst _mir_ die fünf Stunden täglich Unterricht in +fremden Sprachen erteilen, und ich werde mir von meinem Vater das Geld +dafür geben lassen – auf seinen eigensten Wunsch.“ – – – + + * * * * * + +Es ging nicht ganz so glatt, wie Mette es sich gedacht hatte. Tante +Emilie suchte die Sprachlehrer selber aus – ein paar sehr würdevolle +ältere Damen – ein vierundsechzigjähriger Professor schien ihr schon +bedenklich, weil er unverheiratet war, und sie ging selber mit Metten +hin und meldete ihre Nichte an. + +Dadurch hatte Mette nachher die peinliche Aufgabe, den Unterricht wieder +abzusagen. + +Wenigstens hatte sie es erreicht, daß der Vater ihr das Stundengeld +übergab und nicht – wie er wollte – es per Postscheck zahlte oder durch +die Bank überweisen ließ. + +Olga nahm es sehr genau mit den Stunden. Sie hielt sie mit +gewissenhaftester Pünktlichkeit ein und gab sich streng und pedantisch +als Lehrerin. Mette lernte mit Feuereifer, um ihre Ansprüche zu +erfüllen. + +Soweit ging alles wie geplant, nur daß Olga nicht daran dachte, sich +einzurichten und von dem Stundengeld zu leben. + +Es kamen so wundervolle, durchsonnte Oktobertage. Und es machte so +unbändiges Vergnügen, im offenen Auto durch den flammenden Wald zu +jagen, nach Wannsee oder die Heerstraße hinunter, irgendwo an die breite +blaue Havel. + +Natürlich sahen sie ein, daß sie sich das eigentlich nicht leisten +durften, das heißt, Olga sah es ein, und wenn sie wieder Waldsehnsucht +hatten, fuhren sie mit dem Vorortzug dritter Klasse, um zu sparen, und +ließen sich in der denkbar schlechtesten Luft geduldig schieben und +drücken. + +Aber am anderen Tag hatten sie einen unbezwinglichen Hunger nach Musik, +und in der Oper gab es „Tristan“ und natürlich nur noch die teuersten +Plätze. Auf solche Weise ließen sich nicht gut Ersparnisse machen. – – – + + * * * * * + +Sie fuhren am frühen Nachmittag nach Wannsee. Weil es ja eigentlich +„Stunde“ sein sollte, sprachen sie in der Bahn Italienisch miteinander, +im gedämpften Ton. – Es war vielleicht deswegen, daß der Herr in dem +braunen Überzieher ihnen gegenüber immer über den Rand seiner Zeitung +schielte und sich augenscheinlich bemühte, ein Wort von ihrer +Unterhaltung aufzufangen. + +Metten machte das Spaß. Sie empfand einen geradezu kindischen Stolz, +wenn sie bemerkte – was oft geschah – daß Olga beobachtet wurde. Sie +nahm es keinem Menschen übel, wenn er ihre schöne Freundin in der +ungezogensten Weise anstarrte. Sie hätte manchmal direkt sagen mögen: +„Ja, seht sie euch nur an! Ist sie nicht schön? Und das darf ich alle +Tage sehen, alle Tage!“ + +Und dann betrachtete sie sie wieder, als sähe sie sie zum erstenmal, und +die reinen edlen Linien ihres Profils, die lässig-anmutigen Bewegungen +ihrer königlichen und doch geschmeidigen Gestalt, der bezaubernde Klang +ihrer tiefen Stimme – alles erfüllte sie immer wieder mit einem +Entzücken, das an Andacht und Rührung grenzte. – – – + + * * * * * + +Sie bummelten durch die Straßen, bewunderten die Gärten in ihren +wunderbar leuchtenden Herbstfarben und suchten sich eine Villa aus. Das +taten sie oft auf ihren Spaziergängen. + +Und wenn sie ein Haus gefunden hatten, das ihnen gefiel – aber auch der +Garten mußte danach sein, und die Garage und die Spitzengardinen an den +Fenstern – dann konnte es Olga plötzlich einfallen zu sagen, daß sie +eigentlich noch eine Abendgesellschaft größeren Stils geben müßten – vor +ihrer Abreise nach Kairo – und Mette sollte doch mit Schmidt +telephonieren, der Blumen wegen, und dann kam eine lange Beratung, in +welcher Farbe sie diesmal den Tafelschmuck nehmen sollten. – Und sie +einigten sich auf blaßlila Treibhausflieder und Orchideen und was es +sonst noch in der Farbe gab. Aber dann konnten sie nicht das +Sèvres-Porzellan nehmen; denn das Kobaltblau vertrug sich nicht mit +hellila – und ob sie das Essen bestellen oder alles im Hause machen +ließen? Ob sie sich vom Grafen Oriola seinen französischen Koch +ausleihen sollen? Dann wurde die Speisenfolge beraten und die Weine +dazu. Aber das hübscheste war immer die Liste der Gäste aufzusetzen und +Tischordnung zu machen. + +Gerhart Hauptmann sollte Julia Culp zu Tisch führen. + +„Nein, er muß _dich_ doch führen,“ bestimmte Mette. „Du bist doch die +Hausfrau!“ + +„Ich?“ sagte Olga. „Nein, das bist du doch!“ + +Sie standen vor einem breiten schmiedeeisernen Portal und sahen in einen +wunderschönen Garten. + +„Schade,“ sagte Olga mit einem bewundernden Blick auf die breite +Terrasse, „es ist schon zu spät, um im Freien decken zu lassen. Aber +nächstes Jahr müssen wir in einer Juninacht ein Gartenfest geben – hier +auf der Terrasse essen – und plötzlich erscheinen auf dem Wasser lauter +kleine Barken, ganz, ganz voll Rosen, jede mit einer bunten Lampe, und +alle Gäste steigen in die Boote, immer zwei, und fahren hinaus, wohin +sie wollen, auf das weite, dunkle Wasser ...“ + +„Und mit wem möchtest du mir davonfahren?“ fragte Mette mißtrauisch. + +Olga stampfte mit dem Fuß auf. „So seid ihr nun!“ sagte sie mit Empörung +flammenden Augen. „Willst du dir jetzt vielleicht den Tag verderben, +weil ich dir davonfahren könnte, wenn wir in dieser Villa ein Gartenfest +geben. Wenn man sich schon etwas Unsinniges ausdenkt, dann muß es doch +wenigstens etwas Schönes sein.“ + +Ein Herr in braunem Überzieher streifte sehr dicht an ihnen vorüber und +sah sich in einiger Entfernung mit einer merkwürdig vorsichtigen Geste +nach ihnen um. + +„Das war der Mann aus der Bahn,“ sagte Mette. „Der hält dich für eine +schöne Römerin und möchte für sein Leben gern mit dir anbandeln. Ich +glaube, ich werde diskret sein und mich zurückziehen.“ + +Olga fuhr bei Mettes ersten Worten zusammen. + +„Wir wollen umkehren!“ sagte sie hastig. „Trinken wir oben bei +Schultheiß Kaffee. Der geht jetzt sicher nach dem schwedischen Pavillon, +und ich habe keine Lust, ihm nachzulaufen.“ + +Mette lachte hell auf. „Meinetwegen kannst du! So hab’ ich mir den nicht +vorgestellt, mit dem du mir davongehst! Einen so perversen Geschmack +hätt’ ich dir nicht zugetraut! Aber da du so vor ihm fliehst, scheint es +gefährlich.“ + +Olga antwortete mit keinem Wort, mit keinem Lächeln auf Mettens +Neckereien. Sie preßte die Lippen aufeinander, zog die Brauen zusammen +und ging so rasch, ein wenig vornüber geneigt, den Kopf gesenkt, die +Schultern hochgezogen, als liefe sie vor einer unsichtbaren Peitsche. + +Sie saßen oben beim Schultheiß und tranken ihren Kaffee. Aber Olgas gute +Laune schien verflogen. Sie saß da, beide Hände in den Jackentaschen +vergraben, als ob sie fröre und war zerstreut und einsilbig. + +Sie hatte sich eben mit einem: „Du entschuldigst, ich _muß_ rauchen“, +eine Zigarette angezündet, als Mette den Herrn im braunen Überzieher in +den Garten treten sah. Er stand einen Augenblick still, ließ einen +prüfenden Blick über alle Tische gleiten, ging dann in entgegengesetzter +Richtung, um nach einem weiten Bogen plötzlich wieder in ihrer Nähe +aufzutauchen und, zwei, drei Tische von ihnen entfernt, Platz zu nehmen. + +Metten erschien das sehr komisch. + +„Der Mann aus der Bahn!“ frohlockte sie laut. „Jetzt ist es klar, Olga, +du hast es ihm angetan.“ + +„Schweig’!“ sagte Olga hart. Und dann, als sie Mettens bestürztes +Gesicht sah – wie mühsam gebändigt, mit schwergehendem Atem: „Er kann +dich ja hören, Kind!“ + +Sie nahm die eben angerauchte Zigarette mit einer zornigen Bewegung aus +dem Mundwinkel, preßte die Brandfläche gegen den Teller und drehte und +drückte so lange mit nervösen Fingern daran herum, bis der Tabak aus dem +zerrissenen Papier rieselte. + +Mette fühlte, daß irgend etwas vorging, was sie nicht verstand. Eine +dumpfe Beklommenheit schien plötzlich in der Luft zu liegen, teilte sich +ihr mit und machte sie angstvoll und unsicher. + +Nach einer kleinen Weile stand Olga auf. Mette griff nach ihrem Hut, der +neben ihr auf dem Stuhl lag. + +„Nein, laß!“ sagte Olga sehr bestimmt und lauter, als es sonst ihre Art +war. Sie haßte es, in öffentlichen Lokalen, auf der Straße, in der Bahn +so laut zu sprechen, daß auch nur der nächste Nachbar sie verstehen +konnte. „Wir bleiben doch noch. Ich will nur eben telephonieren. Ich bin +gleich wieder da.“ + +Mette wartete geduldig. Olga kam nicht wieder. + +Schließlich fing sie an, sich zu ängstigen. Wenn ihr schlecht geworden +wäre? Sie sah sie schon irgendwo hilflos, ohnmächtig liegen. + +Sie lief ins Haus. Am Telephon war sie nicht. Wie sie sich suchend +umsah, kam der Kellner, der sie bedient hatte, hinter ihr her. Sie suche +wohl die andere Dame? Die hätte gezahlt und wäre gegangen – aber sie +hätte einen Zettel am Büfett hinterlassen. + +Mette holte sich den Zettel. Ja, die Dame hätte telephoniert und hätte +nach dem nächsten Zug gefragt und wäre sehr eilig fortgegangen. Sie +hätte nur noch dies hier aufgeschrieben. Der Kellner hätte es +hinausbringen wollen, aber sie hätte gesagt, es wäre nicht nötig, die +Dame würde es sich schon holen. + +Mette dankte und lächelte und tat, als ob das alles die natürlichste +Sache von der Welt wäre und wunderte sich, wie gut sie ihre Angst und +Aufregung beherrschen konnte. + +Sie ging erst ein paar Schritte weiter, ehe sie die verschlossene Hülle +aufriß. Auf dem Bogen standen nur wenige Worte. + +„Sei nicht bös, ich mußte fort. Wenn du kannst, komm abends zu mir. Aber +nicht direkt, fahr erst nach Hause.“ + +Mette faltete das Blatt zusammen und schob es mechanisch in die Tasche. +Sie ging langsam und mit schweren Füßen wieder durch den Garten und an +ihren Platz. + +Sie versuchte, sich von ihren Gedanken und Empfindungen Rechenschaft zu +geben. + +Sie wäre froh gewesen, wenn sie Olgas rätselvolles Betragen als Laune, +als Rücksichtslosigkeit hätte nehmen können und sich einfach darüber +ärgern und entrüsten. + +Aber sie fühlte, daß ein Mehr dahinter war. Irgend etwas Dunkles, +Drohendes, wovon sie nichts wußte. Mit wem hatte Olga gesprochen? Wer +hatte sie so dringend fortgerufen? + +Für sie war Olga Radó das Leben, das wußte Mette. Alles andere war eine +dumpfe Qual oder Vorfreude auf die Stunden, die sie mit ihr zusammen +sein durfte, oder Erinnerung an die Stunden, die sie mit ihr verbracht +hatte. + +Aber was war sie für Olga? + +Irgendein Nebenher, ein beiläufiger Zeitvertreib, eine Episode eines +reichen, bunten, starken Lebens, eine gehorsame kleine Sklavin, ein +Haustierchen, das man verhätschelt, ein bequemes Etwas, das man rufen +und fortschicken kann, und das noch nicht einmal fragen durfte, _warum_ +es gerufen oder fortgeschickt wurde. Nichts wußte sie davon, nichts, was +eigentlich dieses Leben erfüllte, was ihm Inhalt gab, nichts wußte sie +von den Menschen, die für Olga Schicksal waren, die _ihr_ den Mut zum +Leben gaben, den sie von ihr empfing – nichts wußte sie von dem, der sie +jetzt fortgerufen hatte, dem sie folgte, ohne daran zu denken, daß sie +der armen kleinen Mette den Tag zerstörte, auf den sie sich so gefreut. + +Mette konnte sich nicht zum Heimweg entschließen. Sie trug ihren Hut in +der Hand und ging in tiefen und traurigen Gedanken an den Ufern des Sees +entlang. + +Erst die plötzlich einfallende Dämmerung weckte sie auf und trieb sie +nun in Hast dem Bahnhof zu. + +Im Moment, als sie im Begriff war, auf dem Bahnsteig eine Wagentür des +einfahrenden Zuges zu öffnen, fühlte sie einen Blick, der sie zwang, +sich umzuwenden. + +Sie sah in das völlig ausdruckslose Gesicht des Mannes in dem braunen +Überzieher. Er öffnete die Tür zum Nebenabteil und stieg in den Zug. + +Mette erschrak tödlich und wußte nicht warum. Dieser Mann lief nicht +hinter ihr her, weil er Gefallen an ihr fand. Das wußte sie deutlich. +War es Zufall? Was in aller Welt konnte es sonst für einen Zweck haben? +Plötzlich faßte sie ein unerklärliches Grauen. Er hatte so ein +merkwürdig leeres Gesicht und einen starren und dabei doch scheuen +Blick. Vielleicht war es ein Irrsinniger. Einer, der irgendwo +entsprungen war. + +Am Bahnhof Zoo bemühte sie sich, unter der drängenden Menschenmenge sich +zu verstecken. Aber sie fühlte den Fremden unentwegt hinter sich. Ihr +schien es, als klammerte sich seine Hand in der Manteltasche um einen +Revolver oder um ein Stilett. In jedem Augenblick konnte das blitzende +Eisen oder die Kugel sie in den Rücken treffen. Sie fühlte schon den +scharfen Schmerz zwischen den Schulterblättern und preßte unwillkürlich +die Rückenmuskeln zusammen. + +Während sie die dämmerigen Straßen hinunterjagte, wagte sie nicht, sich +umzusehen. Erst, als sie das Haus aufschloß, spähte sie die Straße +hinunter. Er war natürlich nicht gefolgt. Es war alles eine lächerliche +Einbildung. + +Als sie innen im Treppenflur stand, warf sie noch einen Blick durch die +Glasscheibe der Tür. + +Auf der anderen Seite der Straße, das Haus von oben bis unten aufmerksam +betrachtend, ging der Mann in dem braunen Überzieher. – – – + + * * * * * + +Die Tischunterhaltung quälte sich mühsam hin. + +Als Mette mit Essen fertig war, sagte sie (sie hatte es sich zur +Gewohnheit gemacht, sich mit allen Sachen ausdrücklich an ihren Vater zu +wenden): + +„Du erlaubst doch, Papa, daß ich noch eine Stunde zu meiner Freundin +gehe? Ich bin um zehn wieder hier.“ + +Da geschah etwas Seltsames. Franz Rudloff legte eine zur Faust geballte +Hand auf den Tisch, richtete den Oberkörper ein wenig aus seiner +zusammengesunkenen Haltung auf und sagte: + +„Mette!“ ... so, als wenn er zu einer längeren Rede ansetzen wollte. + +Da traf ihn ein Blick von Tante Emilie. Mette fühlte diesen Blick die +Luft durchschneiden und fing ihn noch auf. Es war ein kurzer und +scharfer Blick, befehlend und fast erschrocken, ein Blick, der +unzweideutig hieß: „Schweig!“ + +Franz Rudloff fiel wieder in sich zusammen, schlug die Augen nieder, +rollte seinen silbernen Serviettenring hin und her und sagte: + +„Gewiß, ... also ja ... wenn du meinst ... schön!“ + +Mette fühlte, daß auch hier irgendwas vorging, wovon sie nichts wußte. +Das verursachte ihr weder Angst noch Schmerz – aber ein peinvolles +Unbehagen. + +Die Welt war heute fremd und rätselhaft. Sie spürte plötzlich Moorboden +unter den Füßen und wußte nicht, wie sie die Schritte setzen sollte. +Olga hätte sie heute nicht verlassen dürfen, nicht heute, nicht an +diesem Tage. + +Eine heiße, schmerzhafte Sehnsucht quoll in ihr auf, wie schon sooft, +stark wie ein mühsam unterdrückter Schrei: + +„Mutter!“ – – – + + * * * * * + +Unterwegs waren ihre Gedanken nur noch bei Olga. Was da geschehen sein +mochte? Ob sie das wenigstens erfahren würde? Vielleicht war jemand +krank? Verunglückt? Jemand, der Olga nahestand. Vielleicht konnte sie +sich irgendwie betätigen, helfen. Sie fühlte die Kraft, jede Anwandlung +von Eifersucht zu unterdrücken, sich selbst zu vergessen und +hintanzusetzen, wenn man sie nur teilnehmen ließ an dem, was geschah und +nicht alle Türen vor ihr zuschlug. Das hatte sie nicht verdient, es gab +so qualvolle Unrast – jeder schneidende Schmerz war zehnmal besser als +dieses hilflose Im-Dunkeln-Tappen. + +Während Mette die Stufen hinaufstieg, fühlte sie sich irgendwie +kampfgerüstet. Sie wollte es Olga sagen, daß sie das nicht mehr ertrug. +Ertrug? Nein, daß sie es sich nicht mehr gefallen lassen wollte, daß sie +kein dummes Kind sei, das man ohne ein Wort der Erklärung einfach sitzen +lassen könne – daß alle diese Dinge sie nervös machten – oh, so nervös! +Und daß ihr – bei Gott! – nächstens auch einmal die Galle überlaufen +werde! + +Olga hatte noch einen Schleier über die Lampe gehängt, so daß eine +matte, violette Dämmerung im Zimmer war. Sie lag auf dem Diwan, bis an +die Schultern in ihre große Felldecke gewickelt. + +Als Mette sich zu ihr setzte, spürte sie, daß sie zitterte wie vor +Frost. Da war all der Zorn und Trotz, der noch in dem kalten „Guten +Abend“ gelegen hatte, verflogen. Sie legte die Hand auf ihre Stirn: + +„Hast du Fieber?“ fragte sie besorgt. + +Olga schüttelte nur den Kopf. Es schien, als ob ihr irgend etwas in der +Kehle saß, was sie am Sprechen hinderte. + +Dann machte sie plötzlich mit einer ungeduldigen Bewegung beide Arme von +der Decke frei und griff nach Mettens Händen. + +„Du bist mir böse, Kind!“ sagte sie hastig, wie gejagt. „Du hast ja auch +allen Grund. Verachtest du mich? Du kannst mich ruhig verachten. Ich bin +ja so feige, Mette, so erbärmlich feige! Ach, Kind, du kannst alles von +mir verlangen, ich will dich aus einem brennenden Haus holen – dich?! +Ach! Einen Hund, ein Spielzeug, an dem dir liegt – ich will durchgehende +Pferde aufhalten, ich will – ach, ich weiß nicht, was ich will – aber +darin bin ich feige. Ich kann es nicht noch einmal durchmachen in meinem +Leben, ich kann es nicht. Du weißt nicht, was ich ausgestanden habe. Ich +habe nächtelang dagesessen mit dem geladenen Revolver und habe gesagt: +Tu’s, tu’s, damit nicht wieder so ein Tag kommt ... und dann war das +Leben wieder so wahnsinnig schön, und ich hab’s nicht getan. Dann bin +ich stundenlang in der Galerie herumgelaufen und habe vor allen Bildern +gestanden und gestarrt und nichts gesehen. Und immer den Blick in meinem +Rücken gefühlt. Dann bin ich nach Mödling hinausgefahren, wie ich +eingestiegen bin, der Mann hinter mir, wie ich ausgestiegen bin, der +Mann hinter mir – ach, ich weiß, einmal bin ich in meiner Verzweiflung +in ein fremdes Haus hineingelaufen, alle Treppen hinauf, und hab’ immer +gedacht, ich will klingeln und die Menschen bitten, sie sollen mich um +Gottes und aller Heiligen willen eine Stunde in ihrer Wohnung behalten. +Oder ich wollte ihnen etwas erzählen von irgendwelchen Leuten, die sie +grüßen lassen – die mich hinschicken – und dann dacht ich, sie halten +mich sicher für geisteskrank oder für eine Schwerverbrecherin und lassen +mich erst recht festnehmen. Und dann bin ich bis auf den Boden gelaufen +und bin da oben herumgeirrt und habe geheult wie ein kleines Kind. Und +wie ich mich endlich hinuntergetraut habe, stand der Kerl immer noch da +und starrte auf die Haustür. O Mette, in der Zeit hab’ ich immer die +ganzen Nächte das Licht brennen lassen, weil ich im Dunkeln überall das +Gesicht gesehen habe.“ + +Mette hielt Olgas eiskalte, unruhige Hände in den ihren fest. + +„Wessen Gesicht?“ fragte sie leise und verwirrt, als Olga schwieg. „Ich +verstehe dich nicht, Liebes.“ + +„Das ist gut, Kind!“ sagte Olga. „Das ist ja so gut! Sonst hätt’ ich +dich ja auch nicht allein gelassen. Aber dir konnte ja nichts geschehen. +Dir konnte ja gar nichts geschehen! Bist du nach Hause gegangen? Ja? +Wann? Gleich? War er noch da? Hat er dich nach Hause gehen sehen?“ + +Nun fiel Metten die Erinnerung an den Heimweg wieder wie eine Last aufs +Herz. Die Erinnerung an den Heimweg, die Erinnerung an den verdorbenen +Tag. + +Sie ließ Olgas Hände los. + +„Vielleicht darf ich auch mal fragen,“ sagte sie, „ich bin doch +schließlich kein kleines Kind, das einfach alles hinnehmen muß und dem +man sagen kann: das verstehst du nicht. Ich hab’ es bis _dahin_ satt, +mich ewig von Geheimnissen umgeben zu fühlen. _Was_ hätte mir geschehen +sollen? Was hat es für eine Bewandtnis mit diesem Mann? Kennst du ihn +persönlich? Aus Wien? Und woher? Ich meine, was hast du für Beziehungen +zu ihm?“ + +Mette wunderte sich selbst, woher sie die Kühnheit hatte, in einem so +strengen und schulmeisterlichen Ton zu reden. + +„Unsinn!“ sagte Olga mit einem nervösen Lachen. „Doch nicht _den_! Das +ist doch nicht derselbe!“ + +„Nicht derselbe?!“ sagte Mette beinah ärgerlich, mit hochgezogenen +Brauen. „Was heißt das wieder? Wer nicht derselbe? Nicht derselbe was?“ + +„Laß mich doch in Ruh,“ sagte Olga böse, „ich laß mich nicht +inquirieren! Du kannst mir ja gleich Daumenschrauben anlegen. Wenn du +mich nicht mehr leiden magst, dann geh! Ich halt’ dich nicht! Ich halt’ +keinen Menschen! Aber laß mich in Ruh!“ + +Sie sprach zornig, aber mit einer seltsam vibrierenden Stimme und suchte +unter dem Berg von Kissen nach ihrem Taschentuch. + +Als sie es gefunden hatte, riß es ihr Mette mit einer halb +unwillkürlichen Bewegung aus den Fingern. Der kleine weiße Ballen war +fest zusammengedrückt und ganz feucht. + +„Hast du geweint?“ fragte Mette in grenzenlosem Erstaunen. + +„Darf ich das nicht?“ fragte Olga trotzig zurück, und über ihr Gesicht, +das von Blässe fahl schien, flog wieder das dunkle Rot. + +„Nein, ich weiß, ich darf mir das nicht leisten. Ich bin hysterisch. Ich +bin überspannt. Es ist mir ja _so_ egal, wofür du mich hältst. Wenn mir +danach zumute ist, dann wein’ ich eben!“ + +Sie versuchte umsonst, die zitternden Lippen aufeinander zu pressen. Aus +den Augen, deren übergroße Pupille schwarz die ganze Iris überdeckte, +stürzten die Tränen und fluteten über die weißen Wangen. Sie versuchte, +den Kopf nach der Wand zu drehen. Aber Mette hielt sie fest. Sie wußte +selbst nicht, woher ihr der Mut kam. + +Nie war Olga ihr gegenüber zärtlich gewesen. Nie hatte Mette es gewagt, +zärtlich zu sein. + +Aber als sie das schöne blasse Gesicht jetzt vor sich sah, +tränenüberströmt, zerwühlt von einem fremden Schmerz, mit den großen, +tiefen Augen, die schrien von einer mühsam verborgenen Qual, da quoll +das heiße Mitleid in Mettens Herzen über, sie preßte die Lippen auf +diese nassen Wangen, die nassen Augen, den armen zitternden Mund. + +„Nicht weinen, Süßes,“ bat sie leise, selbst mit den Tränen kämpfend. +„Nicht weinen, Liebes, ich frag’ ja nicht mehr, ich will ja nichts +wissen. Nur nicht mehr traurig sein. Tu mir an, was du willst, aber +weine nicht so! Ich kann dich nicht weinen sehen. Hör’ auf, Liebes, ich +bitt’ dich, weine nicht mehr!“ + +Olga ließ sich zur Ruhe schmeicheln wie ein unglückliches Kind. Sie +schloß die zitternden Augenlider und lächelte, während noch die Tropfen +über ihr Gesicht rollten. Sie legte den Kopf müde in die Kissen zurück. +Durch den ganzen schlanken Körper ging eine Bewegung wie ein erlöstes +Sichstrecken. + +Sie nahm Mettens Hand und legte sie auf ihre heiße Stirn. + +„Gutes!“ sagte sie leise und dankbar. „Mein Gutes!“ + +Und dann immer noch mit geschlossenen Augen hob sie Mettens willenlose +Hand von der Stirn und legte die Innenfläche der kühlen Finger auf ihren +Mund. Und hielt sie da mit beiden Händen fest, lange, lange. + +Und Mette saß ganz still und fühlte seltsam wehe Lust und süße +Traurigkeit und horchte, wie in einem Traum befangen, auf das harte +Pochen ihres Blutes. – – – + + * * * * * + +Die fremden und seltsamen Begebenheiten mehrten sich. + +Eines Tages tauchte plötzlich Onkel Jürgen in Berlin auf. Mette hatte +für Onkel Jürgen immer eine besondere Vorliebe gehabt. Es war eigentlich +der einzige unter ihren Verwandten, der durch seine stattliche und +vornehme Erscheinung, seine betont männliche Haltung und einen gewissen +sachlichen Ernst ihr gefiel, und ihr sogar Achtung abnötigte. + +Er begrüßte Mette auf eine merkwürdige Art, mit einer gewollten +Liebenswürdigkeit, die zu sagen schien: ich tue ganz harmlos, du +brauchst ja nicht gleich zu merken, weshalb ich hier bin, und was ich +gegen dich habe. + +In Mettens feinem Gefühl wurde sofort ein Mißtrauen rege. + +Es steigerte sich, als sie das Knacken des Schlüssels vernahm, nachdem +die drei – Vater, Tante Emilie und Onkel Jürgen – sich in das +Studierzimmer zurückgezogen hatten. + +Sie schlossen sich ein? Was hatte das zu bedeuten? Galt das den +Dienstboten oder galt das ihr? + +Sie hatte noch nie Interesse für die Verhandlungen ihrer Familie gehabt. +Aber das leise Geräusch des Schließens hatte eine unbehagliche Neugier +in ihr erweckt. Sie streifte ein paarmal dicht an der Tür vorüber. Aber +sie hörte nur ein undeutliches Gemurmel. Es war kein Zweifel, sie +flüsterten darin. + +Mette sehnte sich danach, aus der bedrückenden und unfreundlichen Luft +des Hauses fortzukommen. + +Nach dem Essen – bei welchem nur Onkel Jürgen sprach, und in lauten und +wohlgesetzten Worten die Schönheiten der kleinen Stadt und die Tugenden +seiner Kinder pries – wagte Mette endlich die Frage: + +„Ihr legt euch doch nach Tisch alle schlafen, nicht wahr? Dann möchte +ich vorm Kaffee noch eine Stunde zu meiner Freundin gehen.“ + +Es entstand eine allgemeine Stille. Die drei sahen einander an, niemand +sah Metten an, niemand antwortete. + +Vater sah mit einem unruhigen und fast hilfeflehenden Blick von einem +zum andern, Onkel Jürgen trommelte auf den Tisch und sah erwartungsvoll +aus, Tante Emilie räusperte sich und verzog die Winkel des +zusammengekniffenen Mundes zu einer süßlichen Grimasse, die ein +freundliches Lächeln vorstellen sollte. + +Niemand sprach. Tante Emilie wollte sich nicht vordrängen. Sie hielt mit +der Antwort zurück und wartete, ob nicht einer der beiden Herren das +Wort ergreifen wollte. Aber sie schwiegen und sahen nicht aus, als ob +sie gedächten, in der nächsten Minute die peinliche Stille zu +unterbrechen. + +Also war es an ihr, also durfte sie reden. Sie reckte sich auf und legte +das Gesicht in Falten, die inniges Mitleid und eine ernste Besorgnis +ausdrücken sollten. Aber Metten schien es, als ob die kleinen scharfen +Äuglein funkelten, als ob der steif gestreckte magere Oberkörper +zitterte in einer bösen Freude. + +„Das wirst du wohl ausnahmsweise heute unterlassen müssen, mein liebes +Kind!“ sagte sie mit sanftem Tonfall und messerscharfer Stimme. „Wir +erwarten Nachmittag einen Besuch, der dich aufs dringendste angeht.“ + +„Mich?“ fragte Mette, und sah dabei ihren Vater an. + +Aber Rudloff deckte die Augen mit den Lidern und bemühte sich, ein +nervöses Zucken seines Mundes zu unterdrücken. Er antwortete nicht. + +„Ja, dich!“ sagte Tante Emilie so liebenswürdig, als wollte sie ihr eine +große Freude verkünden. + +Mette fühlte in diesem Moment, daß irgend etwas Furchtbares sie +bedrohte. Ihr war, als sähe sie sich von einem engmaschigen Netz +umgeben, das in der nächsten Minute durch einen leisen Ruck von Tante +Emiliens knochigen Fingern über ihrem Kopf zusammengezogen werden +konnte. + +Sie hatte die Empfindung, als ob alle Türen verschlossen, durch Wachen +verstellt seien, und als ob nichts sie mehr retten könne, als im selben +Augenblick, ohne Zögern, ohne Überlegung aus dem Fenster zu springen – +und, was die Lunge hergab – durch die Straßen zu laufen, zu rasen, in +wildester Flucht, zu Olga. + +Sie wurde blaß und machte eine halbe Bewegung. Es war nicht einmal eine +halbe, es war nur der Ansatz, es war nur der Wille zu einer Bewegung, +der durch ihre Muskeln lief. Onkel Jürgen mußte es trotzdem bemerkt +haben. + +„Na, Mette!“ sagte er in einem etwas gezwungen gütigen und +zuversichtlichen Ton, „nur ruhig Blut, mein Deern. Es will dir kein +Mensch an den Kragen. Du mußt nur Vertrauen zu uns haben und mußt dir +sagen, daß alles, was geschieht, ausschließlich zu deinem Besten +geschieht. Und mußt dich bemühen, uns ein bißchen zu unterstützen in +unseren Bestrebungen, die nur auf dein Wohl gerichtet sind und nicht +etwa durch kindischen Trotz uns unsere Aufgabe erschweren. Dann werden +wir auch in gemeinsamer Arbeit über diese Zeit wegkommen, und du wirst +uns später sehr dankbar sein, daß wir dich mit liebevoller Gewalt auf +den richtigen Weg geführt haben. Und wirst an diese Zeit jetzt +zurückdenken, wie an einen schweren Traum, der gar keine Bedeutung hat +für dein späteres Leben.“ + +Diese feierliche Ansprache steigerte Mettens dumpfes Unbehagen zu einem +beinah irrsinnigen Angstgefühl. Das alles war fremd und unverständlich. +Sie wußte, daß Tante Emilie jetzt nur auf eine Frage wartete, um mit +einem Wortschwall loszubrechen. Darum fragte sie nicht: Was ist denn +geschehen? Was wird denn geschehen? + +„Aus dem Fenster! Aus dem Fenster!“ war das einzige, was sie dachte. Und +im Moment, als sie draußen die Flurklingel schrillen hörte, zuckte sie +zusammen und wußte: „Jetzt ist es zu spät!“ + +Das Hausmädchen kam hereingeschlichen, als käme sie in ein Krankenzimmer +und brachte Franz Rudloff eine Karte. + +Seine Hand zitterte, als er sie von dem kleinen silbernen Tablett nahm. +Er mußte sich auf den Tisch stützen, um aufzustehen. Sein Gesicht sah +verzerrt und verfallen aus. + +„Haben Sie den Herrn Professor in mein Zimmer geführt? Ich komme!“ + +Er goß sich schnell noch einen Schluck Wasser in sein Glas. Die +hartgestärkte Manschette rasselte gegen die Flasche. + +Er ging hinaus mit einem sichtlichen Bemühen, gerade und aufrecht zu +schreiten. + +Die drei blieben schweigend zurück. Mette hielt es nicht aus, am Tisch +sitzen zu bleiben. + +Als sie aufstand, machte Onkel Jürgen eine hastige Bewegung, als wollte +er sie zurückhalten. Aber sie ging nicht nach der Tür, sie machte gar +nicht mehr den Versuch, zu entkommen. Sie ging an das Fenster und sah +durch den geschlossenen Spitzenvorhang hindurch auf die Straße. + +Die eintönigen Rufe spielender Kinder drangen herauf. Ein Geschäftswagen +rollte heran, hielt vor dem Haus drüben. Der Mitfahrer sprang herunter, +schloß auf, belud sich mit Paketen und schlug die Tür mit scharfem Knall +wieder zu. + +Jede Bewegung, jedes Geräusch prägte sich mit ungewohnter Deutlichkeit +in Mettens Gehirn. Es ging nichts in ihr vor, als die scharfe +Beobachtung dieser alltäglichen Dinge. + +Hinter ihrem Rücken tat die Tür sich auf. Sie hörte des Vaters gedrückte +und etwas heisere Stimme: + +„Emilie, willst du bitte so gut sein?“ + +Mette hörte das Stuhlrücken und das Rauschen der Röcke, ohne sich +umzudrehen. + +Die Tür schloß sich wieder. + +Jetzt war sie mit Onkel Jürgen allein. Jetzt hätte sie ihn um irgendeine +Erklärung fragen sollen. Er war ja doch von diesen drei Menschen immer +noch der vernünftigste. Ach, aber trotzdem, es war zwecklos. Er war ihr +ja doch fremd, unendlich fremd. + +„Mutter!“ dachte sie, und etwas wie ein krampfhaftes Schluchzen quoll in +ihrem Halse auf. + +„Liebe, gute Mutter, warum hast du mich allein gelassen, ganz allein auf +der Welt?“ + +„Allein!?“ Ihr war, als hörte sie stark und deutlich dies Wort von Olgas +Stimme. Und sie sah die ernsten Augen forschend und beinah drohend auf +sich gerichtet. + +Eine heiße Welle flutete über ihr Herz. Sie krampfte die verschlungenen +Hände ineinander und lächelte, während ihr die Tränen in die Augen +traten. + +„Nein, ich bin nicht allein,“ dachte sie mit einem so andächtigen +Gefühl, als spräche sie ein Gebet, „ich habe dich, Liebes, Schönes, +Großes. _Dich_ kann mir das alte böse Weib nicht nehmen, dich nicht! Und +wenn sie mich foltern und mich in Stücke reißen – mir kann nichts +geschehen – ich hab’ ja dich!“ + +Eine große Ruhe und Zuversicht kam über sie. Ihr war, als hätte sie +einen schlimmen und gefährlichen Weg vor sich. Sie mußte über Moorboden +gehen und durch Schmutz und Schlamm waten und reißende Wasser +durchschwimmen – aber drüben stand Olga Radó und streckte beide Hände +nach ihr und sagte: „Komm!“ + +Und da wurde der Weg leicht und beinah lockend. + +Als jetzt die Tür ging und Vater erschien und zaghaft sagte: + +„Mette, komm bitte einmal her!“ hatte sie fast ein Gefühl von Freude. So +wie einer, der gut gelernt hat, sich aufs Examen freut oder ein Mutiger +sich auf den Kampf. + +Sie ging sehr gerade und fest durch das Zimmer und lächelte ein +überlegenes und fast höhnisches Lächeln. + +Bei ihrem Eintritt erhob sich aus Vaters Studierstuhl ein schmächtiger +Mann mit scharfen Zügen und durchdringenden Augen, in dessen +wohlgepflegtem schwarzen Spitzbart sich einige frühe weiße Fäden +zeigten. + +Da niemand Miene machte, ihn vorzustellen, murmelte er selbst mit +leichter Verbeugung seinen Namen und warf dann den anderen einen Blick +zu, der einem Befehl zu schleunigem Rückzug gleichkam. + +Rudloff atmete sichtlich auf, während Tante Emilie zögerte und sich +ungern trennte. Sie warf noch in der Tür einen langen, neugierigen Blick +zurück; aber der Professor sprach kein Wort, machte keine Geste, ehe +sich nicht die Tür geschlossen hatte. + +Dann rückte er einen Sessel: + +„Wollen Sie bitte Platz nehmen.“ + +Mette setzte sich gehorsam. + +Der Mann ihr gegenüber beugte sich ein wenig vor und sagte mit einer +sanften und fast einschmeichelnden Stimme: + +„Und nun sagen Sie mir erst mal, mein liebes Kind, daß Sie Vertrauen zu +mir haben wollen.“ + +Mette richtete sich steif auf. + +„Oh – durchaus nicht, Herr Professor!“ sagte sie ruhig. + +Der Mann fuhr etwas zurück. + +„Was heißt das?“ fragte er befremdet. + +„Das heißt,“ sagte Mette kühl, während ihr das Herz zum Zerspringen +klopfte, „daß meine Tante Sie hergerufen hat, und daß ich allem +mißtraue, was mir von dieser Seite kommt. Wahrscheinlich hat sie die +Absicht, mich in ein Irrenhaus zu sperren, und Sie sollen konstatieren, +daß ich geistig defekt bin. Sie hat mir so was Ähnliches schon einmal +angestellt, als ich noch ein kleines Kind war. Aber wenn Sie Psychiater +sind, so werden Sie wissen, daß das Gefühl, auf den Geisteszustand +beobachtet zu werden, in den normalsten Menschen etwas Irrsinnähnliches +auslösen kann. Und Sie werden mir das in Anrechnung bringen.“ + +Der Arzt lächelte – ein feines Lächeln. + +„Ich habe nicht die geringste Veranlassung, an Ihren außerordentlichen +geistigen Fähigkeiten zu zweifeln – im Gegenteil – kein Mensch zweifelt +daran. Und kein Mensch denkt daran, Sie in ein Irrenhaus sperren zu +wollen. Ich bin hergekommen, um mich ein wenig mit Ihnen zu unterhalten +– aus wissenschaftlichem und menschlichem Interesse. Darf ich ein paar +Fragen an Sie richten?“ + +„Gewiß!“ sagte Mette. „Aber ich würde wahrscheinlich imstande sein, +präziser auf diese Fragen zu antworten, wenn Sie mir gestatteten, dabei +eine Zigarette zu rauchen.“ + +„Gern!“ sagte der Professor zuvorkommend. + +Mette nahm den Zigarettenkasten vom Schreibtisch und bot ihm an. + +Er nahm, und während er sein Feuerzeug aufknipste und ihr das Flämmchen +hinüber reichte, fragte er in beiläufigem Ton: + +„Sie sind passionierte Raucherin?“ + +„Ich habe es mir beim Lernen angewöhnt,“ sagte sie. „Es hilft mir, die +Gedanken zusammen zu halten. Und da ich doch den Verdacht noch nicht +ganz los bin, daß Sie mir aus irgendeiner dummen Antwort einen +Schwachsinn konstruieren ...“ + +Der Professor lachte: + +„Das sollte mir schwer fallen – aber Sie haben recht, es plaudert sich +viel gemütlicher bei der Zigarette. Nun erzählen Sie mir doch erst mal, +was war das eigentlich für eine Angelegenheit, die Sie mir vorher +andeuteten? Was hat Ihre Frau Tante für böse Absichten gehabt, als Sie +noch ein kleines Kind waren?“ + +„Ach,“ sagte Mette, „sie hat mir einen Kinderpsychiater kommen lassen, +weil ich Silberzeug aus dem Büfett genommen hatte.“ + +„Ach,“ sagte der Professor interessiert mit einem belustigten Lächeln. +„Und warum taten Sie das? Hatten Sie Freude am Silber?“ + +„Nein, ich hab’ es versetzt!“ + +„Versetzt!“ Der Professor lachte hell auf. „Wie sind Sie als kleines +Kind auf diese Idee gekommen?“ + +„Nicht aus mir selbst!“ sagte Mette ernsthaft. Aus Nebeln der +Vergangenheit stieg plötzlich klar und deutlich Friedel Eggebrechts Bild +auf. „Mein Kinderfräulein hat mich dazu verleitet. Ich stand vollständig +unter ihrem Einfluß – der nicht gerade sehr günstig war.“ + +„Ach!“ sagte der Professor mit leichtem Erstaunen. „Sind Sie +beeinflußbar? Das sieht man Ihnen nicht an! Jetzt würde Sie +wahrscheinlich keine Macht der Welt mehr zu solchen Dingen bringen!“ + +„Ach, verflucht!“ sagte Mette mit einem plötzlichen Erschrecken, „jetzt +hab’ ich ja das blöde Silber verfallen lassen!“ + +Der Professor amüsierte sich köstlich, oder er tat wenigstens so. + +„Welches?“ fragte er. „Das, was Sie vor zehn Jahren versetzt haben? Das +wird nun wohl allerdings verfallen sein!“ + +„Nein,“ sagte Mette unbefangen, „das, was ich jetzt versetzt habe. Das +hatt’ ich ja in den Tod vergessen!“ + +„Sie brauchen sich darum nicht zu ängstigen,“ sagte der Professor +liebenswürdig, „es ist eingelöst worden.“ + +Mette faßte im Moment nicht ganz. + +„Wieso? Es hat doch niemand davon gewußt.“ + +„Man hat den Schein bei Ihnen gefunden.“ + +„Gefunden!“ Mette sprang auf. „Gefunden?! Das heißt, daß diese schamlose +Person heimlich über meine Sachen geht und darin herumwühlt. Oh, schade, +daß ich sie nicht dabei ertappt habe – ich hätte sie mit meinen eigenen +Händen erwürgt, glaube ich!“ + +„Bitte, setzen Sie sich!“ sagte der Professor, noch ohne Schärfe, aber +so zwingend, daß Mette gehorchte. + +„Wenn Sie mit dieser Person Ihre Frau Tante meinen, so muß ich ihr als +Mensch und als Arzt das Recht zugestehen, Sie als ihre Pflegebefohlene +ein wenig intensiver zu beaufsichtigen, als es sonst zwischen +erwachsenen Menschen üblich ist.“ + +„Ich _bin_ ein erwachsener Mensch!“ sagte Mette zornig. + +„Sie sind ein Kind,“ sagte der Arzt sehr milde, „ein Kind, das gar nicht +weiß, in welcher Gefahr es schwebt – und das uns allen sehr dankbar sein +wird, wenn es einmal erwachsen sein wird und einsehen lernt, wovor wir +es behütet haben.“ + +„Ich glaube, Sie sind im Irrtum!“ sagte Mette eiskalt. „Ich bin in +keiner Gefahr. Und wenn, dann behüte ich mich selber.“ + +„Solange Sie nicht mündig sind, werden Sie schon unsere helfende Hand +nicht zurückweisen dürfen.“ + +Das klang gütig, aber sehr bestimmt. + +„Ich zweifle, daß Sie aus eigener Kraft den Entschluß aufbringen werden, +sich von Ihrer Freundin zu trennen, unter deren Einfluß Sie stehen.“ + +Metten strömte das Blut jäh zum Herzen. Sie fühlte, daß sie weiß wurde +wie Leinen. + +„Was wissen Sie von meiner Freundin?“ fragte sie schroff. Der Atem +drohte ihr zu versagen. + +Der Arzt lächelte überlegen. + +„Jedenfalls mehr als Sie.“ + +„Das bezweifle ich,“ unterbrach ihn Mette in einem harten und +spöttischen Ton. + +Er war nicht aus seiner Ruhe zu bringen. + +„Ich weiß,“ sagte er in gelassenem, aber festem Ton, „daß Sie unter dem +Einfluß einer Frau stehen, der für Sie höchst verderblich ist. Ich +begreife Sie ja. Sie _sind_ ein Kind. Ich will dieser Frau Geist und +Liebenswürdigkeit gewiß nicht absprechen. Sie sind stolz auf diese +Freundschaft und würden ihr alles zum Opfer bringen. Sie lassen sich +durch diese Freundschaft auf die Bahn des Verbrechens treiben ...“ + +„Ach, Unsinn!“ sagte Mette. + +„Ich verstehe, daß Sie mir widersprechen. Aber nehmen Sie einmal Ihren +klaren Verstand zu Hilfe, und denken Sie logisch nach. Sie entwenden das +Silberzeug aus dem Büfett Ihrer Eltern. Sie lassen sich von Ihrem Vater +Stundengeld geben und legen das Geld dafür an, mit Ihrer Freundin Auto +zu fahren, Sekt zu trinken, die Oper zu besuchen. Sie bezahlen die +Schneiderrechnungen dieser Freundin mit Geld, welches Sie sich auf +unrechtmäßige Weise verschafft haben. Ja, Kind, sehen Sie denn nicht +selbst, auf welchen Abgrund Sie zusteuern?“ + +Woher wußten sie das alles? Wie durch einen aufflammenden Blitz +erleuchtet, lagen die Zusammenhänge klar vor Metten. + +Man hatte sie durch einen Detektiv beobachten lassen, auf Schritt und +Tritt. Wo sie ging und stand, hatten fremde Augen an ihr geklebt, fremde +Augen und Tante Emiliens Gedanken. + +Der Mann in Wannsee ... und da vielleicht ... und dort auch. Das war es, +was Olga so geängstigt hatte. Sie hatte es gewußt, gekannt, schon einmal +durchgemacht. Arme Olla ... + +Mette saß ganz still und rührte sich nicht. Ihr war, als ob +erbarmungslose Hände ihr Stück für Stück der Kleidung vom Leibe rissen. +Es waren nicht die Hände dieses fremden Mannes, es waren Tante Emiliens +Hände, die das taten, es war Tante Emiliens Gesicht, das sie vor sich +sah, hohngrinsend, geifernd vor böser Lust – langsam, langsam krampften +sich Mettens Finger zu Fäusten zusammen – sie reckte den Hals vor, +senkte die Stirn, verzerrte die Mundwinkel und schluckte gewaltsam. + +Die Stimme des Professors wurde wieder ganz sanft und begütigend: + +„Denken Sie doch einmal zurück an Ihre Kinderzeit! Haben Sie dieses +Kinderfräulein, unter deren Einfluß Sie damals standen, nicht auch +geliebt? Und sind Sie jetzt nicht froh und dankbar, daß man Sie von ihr +getrennt hat? Genau so dankbar werden Sie uns später sein, wenn Sie erst +zur Einsicht gekommen sind. Wenn Sie nachdenken, so wissen Sie ja jetzt +schon in Ihrem tiefsten Innern Bescheid. _Sie_ sind die treue Freundin. +_Sie_ lieben, _Sie_ opfern sich auf. Und Sie werden ausgenutzt, als +Spielzeug behandelt, bei Gelegenheit verleugnet und über kurz oder lang +beiseite geworfen. Denken Sie denn, das wäre der erste Fall, der uns vor +Augen kommt? Dann sind Sie fürs Leben verdorben, körperlich und seelisch +krank, jeder Glücksmöglichkeit beraubt – was bleibt Ihnen dann? – Je +nach Ihrer Veranlagung: Mord oder Selbstmord! Ich habe furchtbare +Tragödien auf diese Art entstehen sehen ...“ + +Mette kämpfte vergeblich gegen den Eindruck an, den diese Worte auf sie +machten. Ihre gereizten Nerven spürten einen eiskalten Hauch, der sie +bis in das innerste Herz erschauern machte. Es schien ihr wie ein +mahnender Gruß aus einer dunkel verhüllten Zukunft. Tod – Ende! Ein +grauenhaftes Etwas schritt unbeirrbar auf sie zu und warf seinen kühlen +Schatten voraus. + +Sie fröstelte. + +Sie mußte sich anstrengen, um eine äußerliche Ruhe zu erzwingen. Sie +krallte die Finger um die Sessellehnen und schluckte ein paarmal. + +„Das alles tut ja nichts zur Sache,“ sagte sie endlich mühsam. +„Vielleicht sind Sie so gut und teilen mir mit, weshalb man Sie +eigentlich gerufen hat, und was man über mich beschlossen hat. Denn es +_ist_ doch irgend etwas über mich beschlossen. Wenn nicht in ein +Irrenhaus – will man mich dann in ein Kloster sperren, oder in eine +Besserungsanstalt, oder nach Amerika verschicken?“ + +Der Arzt lächelte. „Aber nichts von alledem. Sie werden auf einige Zeit +mit Ihrem Onkel, mit Herrn von Seyblitz, zu seiner Familie fahren. – Sie +werden in guter Luft und einem ruhigen Leben Ihre Nerven kräftigen und +werden dann selbständig zu gesunden und willensstarken Entschlüssen +kommen.“ + +„Wann soll ich fahren?“ stieß Mette kurz hervor. + +„Heute noch!“ + +„Ich muß doch erst einen Koffer packen!“ + +„Der wird jetzt während unserer Unterredung schon gepackt!“ + +Das war das, was sie gefürchtet hatte. Mette fühlte die Mauern, die +Handfesseln. Sie warf einen Blick um sich wie ein gehetztes, in die Enge +getriebenes Tier. Nirgends ein Ausweg, nirgends eine Möglichkeit zur +Flucht. + +Man trennte sie von Olga. Das war schlimm, aber nicht das Schlimmste. +Man tat ihr Gewalt an. Man hätte diese Reise von ihr erbitten sollen, +man hätte ihr Zeit lassen sollen, Zeit zu einem Abschied, zu einer +Erklärung, Zeit, ihre Sachen selber einzupacken, ihre Bücher ... jetzt +war Tante Emilie an ihrer Kommode und packte ihre Sachen ein, wühlte +darin herum ... in einer Stunde saß sie vielleicht schon im Zug, ohne +Olga Nachricht geben zu können ... und Onkel Jürgen saß ihr gegenüber +als Gefangenenwärter ... und was würde unterdessen hier geschehen? mit +ihrem Schreibtisch ... mit ihren Büchern ... mit Olga ...? + +Sie spürte Lust, irgend etwas zu zerreißen, zu zerschlagen, mit dem Kopf +gegen die Wände anzurennen. Sie tat nichts. Sie stand von ihrem Stuhl +auf, sehr blaß, sehr ruhig und sagte: + +„Also ... ist das nun alles?“ + +„Es freut mich,“ sagte der Professor, ebenfalls sich aus seinem Sessel +erhebend, „daß Sie sich mit dieser Reise einverstanden erklären.“ + +„Einverstanden?“ sagte Mette mit einem verächtlichen Zucken der Lippen. +„Ich füge mich dem Zwang, weil ich weiß, daß jeder Widerstand nutzlos +ist. Wenn meine Tante mich hier forthaben will, läßt sie mich in Ketten +wegschleifen, und mein Vater sieht zu, und alle Gerichte der Welt geben +ihr recht.“ + +Der Professor ging an ihr vorüber und machte die Tür auf. + +„Fräulein Melitta und ich sind uns ganz einig!“ rief er heiter. „Ich +habe ihr eine kleine Luftveränderung verschrieben, und sie freut sich +sehr, ein paar Wochen in Ihrem gastlichen Hause zu verbringen, Herr von +Seyblitz!“ + +Onkel Jürgen rieb sich die kräftigen Hände, Franz Rudloff versuchte ein +farbloses Lächeln, und Tante Emilie machte ein überraschtes und – wie es +Metten schien – sichtlich enttäuschtes Gesicht. + +Sie schoß auf den Professor los und zischte halblaut, aber doch laut +genug, daß alle es hören konnten: + +„Sie sagten mir doch, Herr Professor, daß Sie eine Untersuchung +vornehmen wollten, um möglicherweise irgendwelche körperlichen Anomalien +festzustellen ... ich glaube bestimmt ...“ + +Der Professor versuchte umsonst, sie durch eine leichte Geste der Hand +und der Augenlider zum Schweigen zu bringen. Es war zu spät. + +Mette hatte schon begriffen. Ganz jäh und mit einem Schlage alles +begriffen. + +Sie spürte nur die eine brennende Sehnsucht, dies widerliche Geschöpf da +unter ihren Händen verenden zu sehen. + +Sie wußte nicht, daß sie eine Bewegung machte. Der Boden wich unter +ihren Füßen zurück. Sie hörte ein Röcheln, das fremd und grauenhaft war, +und das doch aus ihrer eigenen Kehle kam. Sie spürte, daß ihre Finger +sich um einen dürren, faltigen Hals krallten und spürte im selben +Moment, daß eisenfeste Hände ihre Gelenke umklammerten, so fest +umklammerten, daß das Blut ihr in den Adern zu stocken schien, und ihr +war, als müßte sie ersticken. + +Sie fühlte, daß sie diese Folter nicht einen Herzschlag länger ertragen +konnte. + +„Loslassen!“ knirschte sie. „Loslassen!“ + +Der Arzt gab sofort ihren rechten Arm frei. Eine Sekunde später Onkel +Jürgen den linken. + +Jetzt fing die Haut über den Gelenken an zu schmerzen. Sie rieb sie ganz +mechanisch. Sie fühlte sich müde, ruhig, zerschlagen. + +Der Gedanke tat ihr fast wohl, daß sie fort sollte, aus diesem Haus, von +diesen Leuten fort, jetzt gleich, in dieser Stunde noch. + +Sie wandte sich mit ihren Fragen nur noch an den Arzt: + +„Wann geht der Zug? Wird es nicht Zeit, daß ich mich fertig mache?“ – + +Als das Auto vor der Tür stand, fragte der Professor beiläufig: + +„Wir haben, glaube ich, denselben Weg. Haben Sie nicht einen Platz im +Wagen frei?“ + +Mette sah ihn groß an und lächelte ein wenig spöttisch: + +„Sie brauchen gar keine Ausrede, Herr Professor, wenn Sie mich an die +Bahn bringen wollen. Meine Familie wird auf das Vergnügen verzichten. Es +ist besser für alle Beteiligten.“ + +Sie reichte ihrem Vater die Fingerspitzen, die dieser mit beiden Händen +umschloß. + +„Adieu, Papa, laß dir’s gut gehen.“ + +Tante Emilie zog sich mit gespielter Ängstlichkeit an die Wand zurück, +als befürchtete sie einen neuen Anschlag auf ihr Leben. + +Mette streifte sie nur mit einem verächtlichen Blick. – + +Die Bahnfahrt war doch länger, als sie gedacht hatte. Mette sah +angespannt aus dem Fenster und bemühte sich, die Namen der Stationen, +jedes Dorf und jedes Bahnwärterhäuschen ihrem Gedächtnis einzuprägen. Es +wäre doch möglich, daß sie zu Fuß zurück müßte. + +Sie hatte kein Geld – ob sie Gelegenheit hatte, Wertsachen zu versetzen +oder zu verkaufen, war fraglich. Sie sah nach den Kilometerschildern, 87 +Kilometer bis Berlin. Fünf Kilometer in der Stunde schaffte sie glatt. +Es war nur schade, daß nicht Sommer war. Bei zwei Grad unter Null ließ +sich’s nicht gut im Freien nächtigen. – – – + + * * * * * + +Mette saß in der hellen und freundlichen Mansardenstube auf dem +Fenstertritt, rauchte eine Zigarette und polierte ihre Nägel. + +Auf der weißen Decke des Nähtisches, den Mette zum Toilettentisch +degradiert oder befördert hatte, lag aufgeschlagen ein kleines, dickes, +schwarzes Buch: das Neue Testament. + +Die Tür wurde aufgemacht, und ihr Vetter Hermann schob sich durch den +Spalt. Er blieb in der offenen Tür stehen und spielte mit der Klinke. + +„Ob du zum Abendbrot runterkommst, oder ob du noch Kopfschmerzen hast?“ +fragte er lakonisch. + +„Mach’ die Tür zu, Junge!“ herrschte Mette gedämpft. Sie wollte nicht, +daß der Zigarettenrauch auf den Treppenflur und in Tante Antoniens feine +Nase zöge. + +Der Junge machte die Tür zu, aber ließ die Klinke nicht los. + +„Warum klebst du eigentlich an der Türe?“ fragte Mette belustigt. +„Bitte, tritt näher. Nimm Platz!“ + +Der Junge zögerte. + +„Wir sollen eigentlich nicht zu dir hinein,“ meinte er. „Aber wenn deine +Kopfschmerzen besser sind, dann wirst du ja auch nicht mehr so krank +sein ...“ + +„Krank?“ sagte Mette verwundert. „Sollt ihr nicht zu mir hereinkommen, +weil ich krank bin?“ + +„Ja!“ sagte der Zwölfjährige altklug. „Wegen der Ansteckungsgefahr!“ + +„Ach, Männe!“ Mette lachte kurz auf. „Die Krankheit, die ich habe, +steckt ganz gewiß nicht an.“ + +„Was hast du denn für eine Krankheit?“ Der Junge kam neugierig näher. + +Mette zögerte mit der Antwort. + +Der Junge warf einen begehrlichen Blick auf die Zigaretten. + +„Schenk’ mir eine!“ bettelte er plötzlich. + +„Ja,“ sagte Mette rasch. „So viel du willst. Aber du mußt mir einen +Brief auf die Post bringen, ganz heimlich, so, daß es keiner sieht. Kann +man sich auf dich verlassen?“ + +Mette sah ihn scharf und prüfend an. Der Ehrgeiz des Jungen war geweckt. + +„Aber!“ sagte er überzeugt, „meinst du, daß ich mich erwischen lasse? +Ich bin doch nicht dämlich.“ + +Er bekam den Brief und die Zigaretten und verstaute beides so +kunstgerecht in der Bluse, daß Mette lächelnd dachte: „Es ist nicht das +erstemal, daß er da etwas vor Mutters scharfen Augen versteckt.“ + +Er zögerte noch zu gehen. Er druckste ein bißchen und platzte dann +heraus: + +„Sag’ mir doch, was du für eine Krankheit hast?!“ + +Mette dachte nach, was sie ihm antworten sollte. Ihr Blick fiel auf das +Zigarettenetui. + +„Weißt du, Männe,“ sagte sie nach einer Weile, „mich hat ein Skorpion +gestochen. Nun ist mein ganzes Blut vergiftet. Und du weißt doch: gegen +Skorpionengift hilft nur Skorpionengift. Und hier gibt es keinen +Skorpion. Aber daß es ansteckt, das ist ein Aberglaube. Das sind die +Phalangien, die so giftig sind, daß man sich ansteckt, wenn man sich im +Waschwasser eines Gestochenen wäscht. Das hat deine Mutter verwechselt.“ + +„Es ist nicht ansteckend?“ fragte der Junge und wagte sich noch ein +Schrittchen näher. + +„Nein!“ Mette schüttelte den Kopf mit einem wehen Lächeln. „Ich glaube +wohl, daß es _tödlich_ sein kann – aber ansteckend ist es nicht.“ – – – + + * * * * * + +Der kleine Hermann, der den Brief mit viel Heimlichkeit und +Wichtigtuerei nach der Post besorgte, war fest überzeugt, daß es ein +Liebesbrief sein müsse, den man ihm anvertraut hatte. Er wäre sehr +erstaunt gewesen, wenn er erfahren hätte, daß in dem Brief mehr von ihm, +von dem kleinen Hermann selbst, die Rede war, als von Liebe. + +„... Ich habe die Kinder meines Onkels früher gehaßt“ ... das schrieb +sie, nachdem sie von den Begebenheiten der letzten Tage eine sachliche +Schilderung gegeben hatte. „... Ich hatte keinen Grund, sie zu hassen, +als daß sie so abstehende Ohren hatten. Sag’ mir, Liebes, wodurch bin +ich ein so ganz anderer Mensch geworden? Ich sehe jetzt Charaktere in +jedem kindischen Benehmen, und ich sehe Schicksale, die an diese +Charaktere unlöslich festgekettet sind. Ich sehe, daß die kleine Annemie +einmal ein schweres Leben haben wird – nicht nur, weil sie abstehende +Ohren hat – und darum habe ich immer das Gefühl, ich möchte ihr helfen, +ich möchte ihr schenken, um die paar glücklichen Stunden in ihrem Leben +zu vermehren ... + +Ich habe eine Entdeckung gemacht, Olla. Du wirst mich auslachen. Meine +Tante Antonie hat den Bücherschrank vor mir verschlossen und hat mir das +Neue Testament aufs Zimmer gelegt. Ich habe sie in Verdacht, sie wollte +mich damit strafen. Vor einem Jahr hätt’ ich es voll Empörung an die +Wand geworfen und wäre gar nicht auf den Gedanken gekommen, daß man es +lesen könnte. Und jetzt habe ich mich so damit befreundet! Was ist das +doch für ein herrliches Buch! Aber ich mache mich lächerlich vor Dir mit +meiner Entdeckung. Gibt es wohl etwas Schönes auf der Welt, was Du nicht +kennst und liebst?“ – – – + + * * * * * + +Onkel Jürgen und Tante Antonie waren aufs angenehmste überrascht von +Mettens Betragen. Sie hatten ein widerspenstiges Kind erwartet, das sie +nötigenfalls unter Anwendung von Gewalt zähmen mußten und fanden eine +junge Dame von formvollendeter Liebenswürdigkeit. So wirkte es peinlich, +sie überall zu beschränken und zu beaufsichtigen, und man gewährte ihr +eine Freiheit nach der anderen. + +Mette nutzte diese Freiheiten aus und traf Vorbereitungen zur Flucht. +Sie hatte Tag und Nacht keinen anderen Gedanken, und die dauernde +Beschäftigung mit diesen Plänen stimmte sie zu fast ausgelassen-heiterer +Erregung. + +Es handelte sich vor allem darum, sich Geld zu verschaffen. Mette +verkaufte von ihren Sachen, was ihr irgend entbehrlich schien. Aber das +brachte nicht genug. Sie fing an, Sachen aus dem Haushalt zu +verschleudern. Es war schwierig und unpraktisch. Erstens konnte es +herauskommen, ehe sie fort war, dann war alles verloren, und zweitens +lohnte es nicht die aufgewendete Mühe, und es tat ihr auch leid, +wertvolle Dinge um einen Spottpreis wegzugeben. + +Eines Tages empfing Onkel Jürgen mit der Post eine größere Summe, die er +in Mettens Gegenwart in den Schreibtisch einschloß. + +Mette starrte wie hypnotisiert auf den verschlossenen Kasten. Da war +alles, was sie brauchte, aber wie dazugelangen? + +Sie lag eine ganze Nacht, ohne Schlaf zu finden, oder auch nur zu +suchen. Ihre Gedanken arbeiteten fieberhaft. + +Nachts den Schreibtisch gewaltsam erbrechen. Es ging kein Zug mehr, der +sie dann vor Tagesanbruch in Sicherheit brachte. + +Einen Wachsabdruck des Schlosses nehmen. Der Schlosser würde Verdacht +schöpfen, wenn sie sich einen Schlüssel danach machen ließ. + +Das Schlüsselbund stehlen? Man würde es sofort vermissen und das ganze +Haus durchsuchen. + +Den Schreibtischschlüssel vom Bund lösen? Man würde auch das Fehlen +dieses einen wichtigsten Schlüssels sofort bemerken. + +Am anderen Tag holte sich Mette vom Schlosser ein halb Dutzend +Schlüssel. Sie erzählte eine Geschichte von einem verlorenen +Schrankschlüssel und freute sich fast darüber, wie sicher und unbefangen +sie ihre Märchen vortrug. + +In der Nacht schlich sie hinunter und probierte die gekauften Schlüssel. +Sie hatte die Form und Größe des Schlüssels sich gut gemerkt. Fast alle +ließen sich ins Schloß schieben. Aber keiner schloß. + +Am anderen Tag erbat sie die Schlüssel, um ein Buch aus der Bibliothek +zu nehmen. Während sie vor dem Bücherschrank kniete, löste sie den +Schreibtischschlüssel vom Bund. Einen bereitgehaltenen, der ihm +äußerlich gleich sah, fügte sie an seine Stelle. + +Sie nahm ein Buch aus dem Schrank, ohne zu wissen, welches. + +In dem Augenblick, in dem sie Onkel Jürgen das Schlüsselbund zurückgab, +glaubte sie, er müsse das rasende Schlagen ihres Herzens spüren. Sie +fühlte, daß ihr Gesicht weiß aussehen mußte wie Kalk und bemühte sich, +mit steifgefrorenen Lippen zu lächeln. + +Der Onkel nahm ihr die Schlüssel ab, ohne von seiner Zeitung aufzusehen +und ließ sie mit einem flüchtigen „Danke!“ in die Hosentasche gleiten. + +Mette packte ihren Handkoffer und gab eine Depesche auf. In der +Dämmerung schaffte sie den Handkoffer nach der Bahn. + +Um halb acht wurde zu Abend gegessen. Um halb neun ging der Zug. + +Mette klagte während des Essens über Kopfschmerzen. Der Onkel gab ihr +auf ihre Bitte ein Pyramidon und empfahl ihr, sich gleich hinzulegen. + +Mette sagte: „Gute Nacht!“ während die anderen noch bei Tisch saßen. + +Um vom Eßzimmer nach dem Treppenflur zu kommen, mußte sie durch das +dunkle Wohnzimmer. Während sie aus dem Nebenzimmer die Stimmen hörte und +jeden Augenblick das Stuhlrücken der Aufstehenden zu hören glaubte, +schloß sie das Schreibtischfach auf und stopfte eine Handvoll Scheine in +ihre Bluse. + +Im Treppenflur hing ihr Mantel schon vorsorglich bereit. Sie schlüpfte +hinein und öffnete die kleine Hintertür, die an der Küche vorbei in den +Garten führte. Vorne an den Fenstern des Speisezimmers vorbeizugehen, +wagte sie nicht. + +Über das niedrige Gartenstaket sich zu schwingen, war keine +Schwierigkeit. Noch einmal sah sie sich um. Von dieser Seite war das +Haus ganz dunkel. Sie horchte. Keine Tür ging, kein Fenster klirrte. +Dann wandte sie sich und lief wie gejagt querfeldein – dem Bahnhof zu. – +– – + + * * * * * + +Während der Bahnfahrt kämpfte sie manchmal mit einer qualvollen +Bangigkeit. Sie sah sich verfolgt, gefesselt – der Zug schien +unerträglich langsam zu fahren, auf allen Stationen über Gebühr zu +halten. + +Sie hatte mitunter das Gefühl, daß es besser wäre, auszusteigen und zu +laufen, vorwärtszujagen, bis Atem und Muskelkraft versagten, als so in +untätiger Unrast gefangen zu sein und zu warten, bis die träge Maschine +sie ans Ziel brachte. + +Mit einem plötzlichen Erschrecken dachte sie an die Möglichkeit, daß ihr +Telegramm nicht zur Zeit angekommen sein könne oder Olga nicht zu Hause +getroffen habe. + +Was sollte sie nur um Gottes willen anfangen, wenn Olga nicht an der +Bahn war! + +Nach Hause zu fahren, war eine Unmöglichkeit. Sie glaubte schon +Zwangsjacke und Handschellen zu spüren. + +In der Nacht zu Olga? An einem fremden Haus klingeln, die Leute in der +Pension wecken? Mit welchem Recht? + +Ihr blieb nichts übrig, als sich für die Nacht in einem Hotel +einzumieten. Aber wo war sie sicher? Morgen früh würde man überall nach +ihr suchen. Ihr graute vor dem, was ihr dann bevorstand. + +Und ihr graute vor der einsamen Nacht in einem fremden Zimmer. + +Es kamen Augenblicke, wo sie verwundert ihrem eigenen Tun gegenübersaß +und erschrak vor ihrer eigenen Kühnheit. Wo sie bei einer Bewegung +plötzlich das Knittern der Scheine in ihrer Bluse fühlte und voll +Staunen und fast voll Bewunderung sich fragte: „Herrgott, wie hab’ ich +das eigentlich fertiggebracht?“ – – – + + * * * * * + +Um elf Uhr zwanzig lief der Zug in den Bahnhof ein. Licht und Lärm in +der dröhnenden Halle, deren weite Wölbung sich im Dunkeln verlor, waren +fast noch beängstigender als die schweigende Nacht auf den Feldern. + +Aber da war Olga Radó. + +Zwischen hastenden, suchenden, hin und her wimmelnden Menschen stand sie +ganz ruhig, noch ein wenig höher gereckt als sonst. Zwischen dummen, +stumpfen, mißgeformten, vor Aufregung verzerrten Gesichtern leuchtete +ihr weißes, klares Gesicht. Unter den dunklen, wie drohend +zusammengezogenen Brauen hervor schimmerten die scharfen Augen und +flogen prüfend an der Wagenreihe entlang. + +Mette stieß die Tür auf, ehe noch der Zug hielt. Sie bahnte sich +rücksichtslos einen Weg, stieß ihren Handkoffer den Leuten in die +Kniekehlen, streckte ihr die Hand entgegen, nein, griff nach ihr, wie +ein Fallender nach einem Halt und rief zwischen Lachen und Weinen: + +„Olga!“ + +Olgas Gesicht, das sich erst jetzt mit jäher Wendung ihr zudrehte, blieb +ernst. Nicht der Schimmer eines Lächelns flog über die gespannten Züge. + +„Mette!“ sagte sie mit ihrer tiefen Stimme. „Kind! Was machst du für +Dummheiten!“ + +Mette erschrak ein wenig. Nicht sehr. Ein anderer Empfang wäre ihr +lieber gewesen – aber was taten ihr diese Worte oder der Ton der Worte. +Olga war da. Sie sah ihr Gesicht, sie hielt ihre Hand, sie hörte ihre +Stimme. + +Nun war alles gut. + +„Bist du böse?“ fragte Mette mit lachenden Augen, ohne Olgas Hand +loszulassen. „Wenn du jetzt schon böse bist, alter Philister, dann wag’ +ich gar nicht zu erzählen, was ich alles ausgefressen habe!“ + +„Ich bin nicht böse,“ sagte Olga ernsthaft, „ich lehne nur jede +Verantwortung ab. Wenn du durchgehst, ist das deine Sache. Ich habe dich +nicht mit einem Wort, mit einem Blick dazu verleitet. Ich habe nichts +davon gewußt. Das möchte ich nur von vornherein konstatieren.“ + +„Ja,“ sagte Mette, „aber nachdem du das nun konstatiert hast, kannst du +mir vielleicht sagen, ob es dir persönlich angenehm oder unangenehm ist, +daß ich hier bin.“ + +„Wenn ich ehrlich sein soll,“ sagte Olga mit einem halben Lächeln und +ohne Metten anzusehen, „so ist es mir nicht unangenehm; aber ich bin +eigentlich ein bißchen verzweifelt. Hast du vielleicht darüber +nachgedacht, was nun mit dir werden soll?“ + +Mette hatte daran gedacht. Darüber nachgedacht? – Nein, das war wohl +nicht das richtige Wort. Sie hatte die Vorstellung gehabt, daß sie zu +Olga käme, um bei Olga zu sein, um bei Olga zu bleiben. Sie hatte sich +in Olgas behaglichem Zimmer gesehen – in dem einzigen Zimmer, in dem sie +je glückliche Stunden verlebt hatte – hatte sich da verbergen wollen, +nie auf die Straße gehen, nie nach Hause gehen – nun fühlte sie das +Unsinnige dieser Gedanken und wagte sie den klugen Augen gegenüber nicht +auszusprechen. + +„Ich weiß nicht,“ sagte sie kleinlaut. „Ich weiß nur, daß ich nicht nach +Hause kann, nie, nie, nie, nie! Ich kann mir ja eine Stellung suchen als +Kindermädchen, als Kellnerin – was weiß ich!“ + +„Dazu hättest du eigentlich ebensogut bleiben können, wo du warst. Sie +werden dich ja nicht gerade geprügelt haben oder Hunger leiden lassen. +Oder glaubst du, daß du als Kindermädchen sehr viel mehr Freiheit haben +wirst?“ + +„Ja,“ sagte Mette trotzig, „dann hab’ ich wenigstens meinen freien +Sonntag, wo mir kein Mensch verbieten kann, mit dir zusammen zu sein!“ + +„Meinetwegen!“ Olga blieb stehen und schloß einen Moment wie in +tödlichem Erschrecken die Augen. „Du bist geradezu grausam, Mette. +Fühlst du denn nicht, wie ungeheuer du mich damit belastest? Ich kann +diese Verantwortung nicht tragen, ich kann nicht!“ + +Sie standen immer noch auf dem Bahnsteig, der jetzt von den wimmelnden +Menschenmassen fast geleert war. Nur ein paar Nachzügler strebten noch +nach dem Ausgang. + +Mette fühlte sich müde und zerschlagen und empfand den leichten +Handkoffer wie eine Zentnerlast. Die kühle Zugluft in der weiten Halle +machte sie frösteln. + +„Wollen wir nicht zehn Minuten in den Wartesaal gehen?“ fragte sie +bedrückt. „Vielleicht fällt mir bei ruhiger Überlegung irgend etwas ein, +was ich tun könnte. Aber wenn du zu müde bist, kannst du ja auch ruhig +nach Hause gehen!“ + +„Ja,“ sagte Olga kurz, „und dich hier die Nacht allein auf dem Bahnhof +sitzen lassen! Du bist wohl ganz verrückt, mein liebes Kind?“ – – – + + * * * * * + +Sie saßen in dem leeren Wartesaal und wärmten sich die kalten Finger an +den heißen Teegläsern. Mette erzählte die Geschichte ihrer Flucht. Sie +nahm die zerknitterten Geldscheine aus ihrer Bluse und stopfte sie in +die Tasche. + +Mette hatte fast erwartet, daß Olga lachen würde. Während sie erzählte, +kam ihr selber die Sache ungeheuer komisch und abenteuerlich vor. Aber +Olgas Gesicht blieb tiefernst. + +„Und nun?“ fragte sie. + +„Ich gehe in ein Hotel!“ sagte Mette eigensinnig. + +„Und ich?“ + +„Du gehst in deine Pension!“ + +„Ich lasse dich nicht allein.“ + +„Komm mit,“ sagte Mette mit dem Aufblitzen einer Hoffnung. + +„Ja,“ sagte Olga bitter, „und morgen früh kommt die Polizei und bringt +uns in Gewahrsam. Ich danke. Dann hab’ ich dich womöglich zu schwerem +Einbruchsdiebstahl verführt.“ + +„Weißt du,“ sagte Mette, nach einer Pause des Nachdenkens, „dann müssen +wir’s schon machen wie richtige Defraudanten. Uns in den nächsten Zug +setzen und weiterfahren. Einfach auf irgendeiner Station aussteigen und +in ein Hotel gehen. Von da aus schreib ich dann an meinen Vater und +bitte ihn vor allen Dingen, die Geldangelegenheit in Ordnung zu bringen. +Vielleicht ist er auch sonst vernünftig, und ich kann mich irgendwie mit +ihm einigen. In einem halben Jahr bekomme ich ja mein Vermögen +ausgezahlt, von meiner Großmutter her. Wenn mir mein Vater bis dahin +nichts gibt, mache ich eben Schulden daraufhin, das muß doch irgendwie +gehen. Also“ – Mette sah nach der großen Abfahrtstafel – „um zwölf Uhr +vier geht der nächste Zug!“ + +Olgas Gesicht verlor den strengen Ausdruck. Eine große Freude lachte aus +ihren Augen. Aber sie zögerte noch. + +„Du bist doch ganz verrückt!“ sagte sie. „Ohne Nachthemd und ohne +Zahnbürste!“ + +„Wäsche habe ich genug,“ sagte Mette eifrig. „Eine Zahnbürste können wir +in Buxtehude auch kaufen!“ + +„Was du für Ideen hast!“ sagte Olga langsam. + +Mette sah, daß sie schon halb überwunden war. + +„Großartige Ideen!“ sagte sie strahlend. „Äußerst reizvolle Ideen. +Findest du etwa nicht?“ + +„Ja, aber ich wäre nie darauf gekommen,“ sagte Olga betont. „Du hast +mich überredet. Es ist ausschließlich deine Idee!“ + +„Selbstverständlich! Ich bin viel zu stolz darauf, um mir die +Autorschaft von irgend jemand streitig machen zu lassen.“ – – – + + * * * * * + +Der Zug zwölf Uhr vier war ein Personenzug. Sie saßen allein in einem +Nichtraucherabteil, das dämmerig erhellt war durch die zur Hälfte blau +verdeckte Glaskugel an der Decke. Sie bemühten sich vergebens, diesen +Lichtschirm zurückzustoßen, um die Leuchtkraft des Gasflämmchens voll zu +entfachen. + +„Laß nur gut sein,“ scherzte Mette. „Es ist gut, wenn wir im dunklen +Coupé sitzen, dann können uns unsere Verfolger nicht gleich von draußen +erkennen.“ + +Mette war so voll übermütiger Freude, daß sie diesen Gedanken zu einer +lustigen Komödie ausspann und auch Olga mit fortriß. + +Sie spielten Flucht. Sie duckten sich, wenn draußen einer vorbeiging. +Sie atmeten erlöst auf, als der Zug abfuhr. Mette veränderte ihre +Haartracht, um nicht erkannt zu werden. Sie „bestach“ den Schaffner mit +der „Summe“ von drei Mark, damit er niemand hineinlassen sollte. Und +ängstigte sich nachher, daß die Höhe des Trinkgeldes sie unzweifelhaft +als Defraudanten verdächtig machen würde. + +„Weißt du,“ sagte Mette geheimnisvoll, „wir dürfen natürlich nicht da +aussteigen, wohin wir Karten genommen haben. Dann sind sie uns ja sofort +auf der Spur. Wir steigen einfach bei irgendeiner Station aus.“ + +„Ja,“ sagte Olga, „bei der siebenten. Sieben ist eine heilige Zahl!“ + +Mette glühte vor Begeisterung. „Ist das schön! Ist das wundervoll! Wir +fahren – und wissen nicht wohin! Wir steigen aus – und wissen nicht wo! +Wir wachen morgen früh in einer fremden Stadt auf – und wissen nicht, +wie sie heißt.“ + +„Wie das klingt!“ sagte Olga und machte ihr nach. „Wie eine ganz +tiefsinnige Angelegenheit. Wir leben – und wissen nicht wie! Wir lieben +– und wissen nicht warum! Wir sterben und wissen nicht wann!“ + +„Nein,“ sagte Mette, „dein ‚wann‘ weiß ich nicht. Gott sei Dank! Aber +das ‚warum‘ weiß ich. Gott sei Dank!“ + +Es flog ein leichter Schatten über Olgas Gesicht, als ob sie nicht hören +wollte, was Mette sagte. + +„Ich habe mir früher immer so glühend gewünscht zu wissen, wann ich +sterbe,“ sagte sie nachsinnend. „Ich finde es so ungerecht, daß man +absolut nicht weiß, wieviel Zeit einem zur Verfügung steht. Man müßte +doch die Möglichkeit haben, sich einzurichten. Ich habe meine Freundin +beneidet, die an der Schwindsucht gestorben ist. Sie wußte genau: So +viel ist jetzt noch von meiner Lunge vorhanden – so lange kann ich noch +leben, wenn ich geize, wenn ich mich schone – ich kann aber auch +verschwenden und den Rest auf einmal wegwerfen. Schön muß das sein. Du +weißt ja: Ich kann nie aus meinem Zimmer fortgehen, ehe es nicht +aufgeräumt ist, weil ich doch immer die fixe Idee habe, wer weiß, ob ich +wiederkomme. Mir ist der Gedanke schrecklich, daß ich einmal aus dem +Leben fort muß und alles in Unordnung hinterlasse.“ + +Metten waren die Tränen nahe. Sie wollte die Traurigkeit, die sie +quälte, verbergen und verscheuchen und sagte mit erzwungener Derbheit: + +„Du bist wohl ganz verrückt, ja? Vielleicht suchst du dir zu dieser +melancholischen Nachtfahrt ein anderes Gesprächsthema aus?! Sonst setz’ +ich mich so lange ins Nebencoupé, bis du mit deinen Meditationen fertig +bist!“ + +„Kind!“ sagte Olga lächelnd und griff nach ihrer Hand. „Du hast ganz +recht. Schimpf nur tüchtig. Das kommt von dem blöden Orakeln.“ + +„Orakeln?“ fragte Mette erstaunt. + +„Kennst du das noch nicht an mir? Ich mach’s doch wie die alten +Bauernweiber, die in allen schwierigen Lebenslagen mit der Stricknadel +in die Bibel stechen und sich dann irgendeinen Rat herausdeuten.“ + +„Du hast ja gar keine Stricknadeln!“ sagte Mette lachend. + +„Nein – eine Bibel nebenbei auch nicht. Eine Bibel muß etwas Ererbtes +sein. Eine zu kaufen, hat gar keinen Wert. Aber es muß ja zu diesem +Zweck keine Bibel sein – ich nehme einfach irgendein Buch und schlage es +auf. Es ist merkwürdig, was für klare Antworten man manchmal bekommt. +Ich habe heut’ auch gefragt ... als deine Depesche kam ... ob ich nach +der Bahn gehen sollte ...“ + +„Na, und?“ fragte Mette erwartungsvoll. + +„Ach ... es ist ja alles Unsinn ...“ sagte Olga mit einem gequälten +Lächeln. Sie drehte den Kopf und sah angelegentlich aus dem Fenster in +die schwarze Nacht, die draußen vorbeiflog. + +„Sicher ist es Unsinn,“ sagte Mette herzlich. „Aber es quält dich doch. +Wenn du es aussprichst, wirst du erst einsehen, _wie_ unsinnig es ist. +Sag’ es mir doch – dann lachen wir beide darüber.“ + +Olga wandte ihr das Gesicht wieder zu. Sie mühte sich, ein unsicheres +Lächeln festzuhalten. + +„Als Radomonte Gozaga in Genua einzog – in irgendeinem Rachefeldzug – +ich weiß nicht, in welchem – da trug er ein Wams, auf dem ein Skorpion +gestickt war und darunter sein Spruch: _Qui vivens laedit, morte +medetur._ Ist das noch keine Antwort?“ + +Mette faßte nach Olgas Hand. Sie mußte erst einen Schleier zerreißen, +den die schwer gesprochenen Worte über sie gebreitet hatten. + +„Du bist ja verrückt!“ sagte sie. Aber ihre Stimme klang nicht klar. Sie +mußte eine plötzliche Heiserkeit wegräuspern. – – – + + * * * * * + +Das Knirschen der Bremse lief unter den Wagen durch. + +„Die sechste Station!“ sagte Mette geheimnisvoll mit großen Augen. „Die +nächste ist unser Schicksal. Gebe Gott, daß es keine große Stadt ist!“ + +Als der Zug sich wieder in Bewegung setzte, fingen sie an, sich zum +Aussteigen fertigzumachen. Die nächste Haltestelle konnte in zehn +Minuten oder in einer Stunde erreicht sein. Sie wußten es nicht. + +Sie hatten den Handkoffer auf den Sitz heruntergehoben und standen +nebeneinander an der Tür, die Stirn an die Scheibe gelegt, bemüht, mit +den scharfen Augen das vorübersausende Dunkel zu durchdringen. + +„Es ist viel Wald in der Gegend,“ sagte Olga. „Nadelwald.“ + +„Ja,“ frohlockte Mette, „darin gehen wir morgen spazieren.“ + +Der Wald hörte auf. Schiefergrauer, wolkiger Himmel schied sich von weit +hingebreiteten, sanft gehügelten dunklen Feldern. Wieder Bäume, erst +vereinzelt, dann dichter schwarzer Wald, der bis an den Bahndamm +herantrat und nicht ein Streifchen Himmel mehr über den Gipfeln sehen +ließ. + +Wieder wurden die Bäume spärlicher, verschwanden. Wieder breiteten sich +Felder in breiten Flächen. Aber in einer Entfernung, die man nicht +schätzen konnte, wie eingebettet zwischen den sanft geschwungenen +Linien, blinkte ein winziges Licht. Noch eins ... und noch eins ... + +„Da ... da! Da!“ rief Mette entzückt. „Ob wir das sind?“ + +„Seltsam,“ sagte Olga, „vielleicht ist eins von diesen Lichtern morgen +unser helles Fenster. Und vielleicht hat man nach zehn Jahren ein +Heimatsgefühl, wenn man an diesen Lichtlein vorüberfährt. Und jetzt hat +man keine Ahnung, wie der Ort da heißt!“ + +Ein Bahnwärterhäuschen glitt vorüber. Hier und da gleißte ein Stück der +blanken Schienen im Lichtschein einer Laterne auf. Wieder traten +Baumbestände bis dicht an den Zug, aber gelichteter, von vielen Wegen +durchzogen. Dann lief eine Hecke ein Stück mit. Dann vor der +beschnittenen Hecke ein hellgestrichenes Holzstaket. Dahinter, ganz nah, +dunkelten schon die Umrisse einzelner Häuser. Nun kamen trüb brennende +Laternen, eine Barriere, die eine dunkle, baumbestandene Chaussee +abschloß. + +Wieder ein Stückchen Wald oder Garten, im Hintergrund aufblinkend ein +Lichtlein nach dem anderen – schon fuhr der Zug langsam, knirschte, +puffte – hölzerne Säulen schoben sich heran, die ein schmales Schutzdach +trugen ... er hielt. + +Olga griff nach dem Handkoffer, drückte die Klinke auf und sprang die +hohen Stufen hinunter. + +Mette folgte ihr in einem seltsamen Traumzustand befangen. Sie war durch +die beiden schlaflosen Nächte überwach, und ihre Sinne schienen, +tausendfach geschärft, jeden Eindruck aufzunehmen. + +Der dünne Hauch von Reif, der den Boden, die Holzstangen überzog, die +groben Gesichter von zwei bäuerlich gekleideten Frauen, die an ihnen +vorüberhasteten, der langgezogene Ruf des Schaffners, das gemächliche +Zuschlagen der Türen, die roten Hände des Mannes an der Sperre, die aus +gestrickten Pulswärmern herauswuchsen, der kleine dämmerige Raum mit +papierbeklebten Wänden und abgescheuerten Holzbänken, durch den sie +hindurch mußten, das Pfeifen des abfahrenden Zuges in ihrem Rücken – das +alles prägte sich ihrem Gehirn mit unauslöschlicher Deutlichkeit ein. + +Olga stieß eine Tür auf, trat ein paar steinerne Stufen hinunter, und +sie standen auf dem holperigen Steinpflaster eines großen Platzes, der +von dem Licht des Bahnhofs schwach erhellt war. + +Rechts und links war tiefes Dunkel. Soviel man unterscheiden konnte, +kahle zerzauste Laubbäume, ungepflasterte, aufgeweichte, leicht +überfrorene Wege. + +Geradeaus sah man in einiger Entfernung etwas, das aussah wie der Anfang +einer Straße. + +Olga blieb stehen und sah Metten lächelnd an. + +„Nun,“ sagte sie, „graust’s dich schon? Was gäbst du darum, wenn du +jetzt zu Hause unter der Daunendecke lägst und das elektrische Licht +anknipsen könntest?“ + +„Gar nichts!“ sagte Mette trotzig. „Im Gegenteil, ich finde es hier +äußerst gemütlich. Und wenn wir kein Unterkommen finden, so wäre es mir +doch nur deinetwegen schlimm. Ich hab’ dich ja zu dieser Exkursion +verleitet!“ + +„Ach, meinetwegen!“ sagte Olga wegwerfend. „Meinetwegen können wir die +Nacht im Bahnhof auf den Holzbänken zubringen. Aber wenn du ängstlich +bist, kehren wir um und fragen den Mann an der Sperre nach einem +Gasthaus.“ + +„Nein,“ drängte Mette. „Nicht fragen! Komm vorwärts.“ + +Nach ein paar hundert Schritten fingen die Häuser an. Dunkel, +verschlafen, ohne ein helles Fenster. Und ein wenig vereinzelt noch, von +Gärten und Ackerstreifen umgeben. Aber der Weg war mit Katzenköpfen +gepflastert, und nach einer Biegung rückten die Häuser näher zusammen, +schlossen sich zur Straße, die von flackernden Laternen beleuchtet +wurde. + +Die Straße erweiterte sich zu einer Art Marktplatz. Es war ein +nüchternes Vieleck, ohne jedes malerische Gepräge, ohne Linden und ohne +rieselnden Brunnen. An einer Seite fand sich ein langgestreckter, +niedriger, grauer Kasten mit breit herunterreichendem Dach und vielen +Mansardenfenstern. Über der breitgewölbten dunkeln Toreinfahrt +schaukelte ein blecherner Stern, einem Barbierbecken nicht unähnlich, +und darüber ließ eine große blaue, am schön geschwungenen Arm schwebende +Laterne die aufgenagelten Buchstaben über dem Rundbogen erkennen. + +„Hotel zum blauen Sternen. Gasthaus und Ausspann.“ + +„Sogar Hotel,“ sagte Olga, „sieh mal an!“ + +Sie suchten nach einer Nachtglocke. Aber sie fanden noch nicht einmal +eine Tür. Neben der Einfahrt war ein Handgriff, der an einer verrosteten +Eisenstange eine große Glocke in Bewegung setzte. Aber er war in kaum +erreichbarer Höhe. Mette bemühte sich. + +„Laß nur,“ sagte Olga, „der ist nicht für armselige Fußgänger wie wir. +Außerdem wecken wir die ganze Stadt. Laß uns lieber einmal von der +Innenseite versuchen.“ + +Sie wagten sich in die dunkle Höhlung des Tors. Aber sie kamen nicht +weit. Noch ehe der Gang sich zum Hof öffnete, versperrte ein riesiger +Leiterwagen den Weg. Aber neben dem Wagen fanden sich ein paar Stufen +und eine kleine hölzerne Tür in der Wand. Sie ertasteten einen +Metallknopf, zogen an ihm und lösten damit ein kräftig schepperndes +Geklingel aus, das sie fast zusammenschrecken ließ, so jäh zerschnitt es +die tiefe Stille. + +Schritte, Stimmen, ein Lichtschein. + +Ein verschlafener Mensch erschien in der offenen Tür, Pantoffeln an den +nackten Füßen, in Unterhosen von graugelber Wolle, über die er höchst +merkwürdigerweise einen Frack gezogen hatte, den er mit der linken Hand +unterm Kinn zusammenhielt, während er in der erhobenen Rechten einen +brennenden Wachsstock trug. + +Olga übernahm die Führung der Verhandlung. + +Sie erzählte dem schlaftrunkenen Mann eine lange Geschichte von dem Zug, +mit dem sie eben eingetroffen, und daß ihr das Hotel zum blauen Sternen +schon in Berlin empfohlen, sie bedauerte, ihn in seinem Schlaf gestört +zu haben, aber der Zug käme zu so ungünstiger Zeit hier an, und sie +hätten doch nicht auf der Straße bleiben können, und am Bahnhof hätte +man sie natürlich auch hierher gewiesen. + +Der Mann ermunterte sich so weit, daß er „Einen Augenblick, bitte!“ +sagte, verschwand und sie stehen ließ. + +Sie sahen sich lachend an und warteten geduldig. Nach einer Weile wurde +oben auf der Treppe eine in offener Schale brennende Gasflamme +entzündet, und der Mann erschien wieder, jetzt mit schwarzen Hosen +angetan. + +Daß er ein kragenloses Wollhemd und weder Weste noch Strümpfe anhatte, +hinderte ihn nicht, eine gewisse Gewandtheit der Bewegungen zu zeigen, +die ihn sofort als den „Ober“ verriet. + +Er führte sie in ein großes dunkles und kaltes Zimmer, schwang sich auf +einen Polstersessel und entzündete eine Gasflamme. Es war entschieden +das Fürstenzimmer des blauen Sternen. + +Die hohen und breiten Betten, das wuchtige Plüschsofa verschwanden fast +in dem weiten Raum. Zwischen den Fenstern prangte ein großer +goldgerahmter Spiegel, auf dessen Konsole ein Makartstrauß unter einer +Glasglocke stand, und die Wände zierten zahlreiche Buntdrucke, die +meisten in dicken Goldrahmen. + +Der „Ober“ bückte sich und steckte einen Gasofen an. Eine ganze Reihe +spitzer blauer Flämmchen puffte auf, spiegelte sich in einer Nische aus +gerieftem Kupfer und warf einen warmen rötlichen Schein auf den +abgeschabten Teppich. + +„Herrlich!“ sagte Olga und warf ihre Handschuhe auf den großen, runden, +plüschüberdeckten Tisch. „Jetzt wird es auch noch warm hier, dann ist es +einfach ideal. Nein, Herr Ober, wir brauchen weiter nichts. Danke schön, +wenn wir morgen früh vielleicht auf dem Zimmer frühstücken können? – +Hier ist die Klingel – ja, herrlich. Danke schön! Gute Nacht!“ + +Die Tür schloß sich hinter ihm. + +„Wundervoll!“ sagte Olga und reckte übermütig die Arme. + +„Ist das dein Ernst?“ fragte Mette zaghaft. „Ich denke immer, dein +Schönheitssinn muß Qualen leiden! Diese Bilder ... und das Makartbukett +und die Plüschgarnitur ...“ + +„Prachtvoll!“ sagte Olga. „Das _muß_ doch überhaupt so sein. Ich wäre +geradezu enttäuscht, wenn diese kämpfenden Hirsche nicht hier wären, +oder die duftigen Empiremädchen unter dem blühenden Apfelbaum. Glaubst +du, ich möchte im Hotel zum blauen Sternen Chippendale-Möbel finden oder +einen Kokoschka? Gott soll mich bewahren! Ich finde es einfach +himmlisch!“ + +Mette packte den Handkoffer aus, breitete Nachthemden über die Betten, +stellte Flaschen und Dosen auf den Waschtisch. Olga ging mit unhörbaren +Schritten im Zimmer hin und her, pfiff mit leisen, süßen Flötentönen vor +sich hin, blieb vor jedem Bild stehen, betrachtete es mit kindischem +Entzücken und erzählte eine lange romantische Geschichte dazu. + +„Hier!“ sagte Mette und legte ihren seidenen Kimono über einen Stuhl, +„den kannst du anziehen.“ + +„Und du?“ + +„Ich hab’ noch einen Frisiermantel, der genügt mir.“ + +Olga legte Rock und Bluse ab und wickelte sich in den Kimono. + +„Wundervoll,“ sagte sie, „nun müßte ich nur noch warme Füße haben und +die Haarnadeln aus dem Kopf. Dann bin ich wunschlos glücklich.“ + +Sie rollte einen Sessel vor den Gasofen und fing an, sich die hohen +Stiefel aufzuschnüren. + +„Soll ich dir helfen?“ fragte Mette dienstbereit. + +„Das fehlte noch!“ sagte Olga empört. „Nicht einem Dienstmädchen würd’ +ich das zumuten!“ + +„Das ist auch etwas anderes,“ sagte Mette lächelnd. „Es ist eine +Auszeichnung, die man einem Dienstmädchen nicht gönnen darf.“ + +„Du bist ja verrückt!“ Über Olgas Gesicht schoß wieder das dunkle +flüchtige Rot. + +Sie hatte jetzt auch die dünnen seidenen Strümpfe abgestreift und hielt +die nackten Füße gegen die Flammen. Sie hob die Arme und zog langsam +Nadel auf Nadel aus dem Haar, bis die schweren schwarzen Strähnen ihr +über den Rücken stürzten. + +Mette sprang auf einen Stuhl und drehte die Gasflamme aus. + +„So!“ sagte sie lachend, „nun kannst du dich malen lassen oder gleich +öldrucken und dich goldgerahmt an die Wand hier hängen. Unterschrift: +_Au coin du feu_, oder die Hexe, oder Feuersgluten, oder sonst was +Gutes. Wie kann ein Mensch so unverschämt schön sein?!“ + +„So!“ sagte Olga trocken. „Das hast du hübsch gemacht. Jetzt haben wir +keine Streichhölzer.“ + +„Erstens genügt mir die Beleuchtung,“ sagte Mette und setzte sich auf +die Erde in den rötlichen Feuerschein, „und zweitens können wir uns hier +immer einen Fidibus anstecken. Wenn wir nichts anderes finden, nehmen +wir einen Hundertmarkschein. Davon haben wir ja genug ... Kind, was hast +du für märchenhafte Füße ... aber kalt sind sie immer noch wie Eis!“ + +Sie legte beide Hände um Olgas Fuß. Er war so edel geformt, so schön in +Linie und Farbe, als hätte eine Meisterhand ihn aus Marmor gebildet, +aber er war auch so kalt und schwer wie Stein. + +Mette versuchte, ihn in ihren Händen zu wärmen, sie hauchte darauf, und +dann konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, sie legte die Lippen +auf die kühle, glatte, weiße Haut. + +Olga machte sich los, sprang auf und lief durch das dunkle Zimmer bis +nach dem Fenster. + +„Olla,“ sagte Mette erschrocken und stand zögernd auf. „Was ist dir +denn? Was hast du denn?“ + +Es kam keine Antwort. Mette ging ihr nach. Aber als sie ans Fenster kam +und die Hand nach ihr streckte, lief Olga wie gejagt nach der Wand. + +Sie stand in die Ecke gedrückt und Mette vertrat ihr den Weg. + +Das schöne blasse Gesicht schimmerte unheimlich durch das Dunkel. In den +angespannten Zügen lag Angst und Drohung zugleich, wie bei einem +angeschossenen Tier, das sich umstellt sieht und sich verzweiflungsvoll +zur Wehr setzt. + +Mette erschrak vor dem Ausdruck des gepreßten Mundes, der dunkel +lohenden Augen. Sie legte zaghaft die Hand auf Olgas über der Brust +gekreuzte Arme. + +Olga zuckte zusammen und drückte sich tiefer in die Ecke. + +„Geh doch!“ sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen. „Laß mich doch in +Ruh!“ + +„Du sollst nicht mit den nackten Füßen auf der bloßen Diele stehen,“ bat +Mette, den Tränen nahe. „Du erkältest dich zu Tode. Ich will ja nichts, +als daß du dich an den Ofen setzest. Dann kann ich mich ja auf den +Korridor vor die Tür schlafen legen, oder ich kann mir ein anderes +Zimmer geben lassen, oder ich kann aus dem Fenster springen. Aber komm +aus der Ecke heraus, ich kann es nicht mehr mit ansehen.“ + +Sie faßte sie an beiden Schultern, aber Olga schüttelte ihre Hände von +sich ab. + +„Laß mich doch!“ sagte sie böse. „Siehst du denn nicht, daß du mich zu +Tode marterst? Wie kann ein Mensch so wahnsinnig grausam sein?“ + +Die Stimme brach ihr, und ganz jählings stürzten die Tränen über ihr +Gesicht. + +Jetzt konnte sich Mette nicht mehr beherrschen. Auch ihre Augen liefen +über. + +„Ich verstehe dich nicht!“ sagte sie mit zitternden Lippen. „Wenn ich +dir so zuwider bin, daß du mich nicht erträgst, warum bist du dann hier? +Warum gibst du dich dann überhaupt mit mir ab? Man kann nicht einen +Menschen gern haben, dessen Nähe einen derart quält! Ich weiß ja aber +auch, warum du mich nicht leiden kannst!“ + +„Warum?“ fragte Olga erstaunt. + +Mette schüttelte stumm den Kopf und kämpfte die Tränen hinunter. + +„Warum soll ich dich nicht leiden können?“ forschte Olga drängender. +„Antworte! Ich will das jetzt wissen.“ + +Mette vermied es immer noch, sie anzusehen. + +„Weil ich dich zu sehr liebe!“ sagte sie bitter und traurig. „Es muß +furchtbar sein, von einem Menschen geliebt zu werden, den man nicht +liebt! Beinah ekelhaft!“ + +„Du Schaf,“ sagte Olga und strich ganz weich mit der Hand über Mettens +Haar. + +„Ach, laß,“ sagte Mette und entzog sich der streichelnden Hand. „Man muß +sich nicht zwingen.“ + +Olga ließ den Arm schwer herabsinken. + +„Man muß sich doch zwingen,“ sagte sie leise und mühsam atmend. „Wenn +ich mich jetzt nicht zwingen würde, würd’ ich dich so mit Zärtlichkeiten +ersticken, daß du zu Tod erschrecken tätst und davonlaufen.“ + +Mette fühlte die Adern in ihrem Hals schlagen, daß sie kaum atmen +konnte. Sie versuchte zu lächeln, während noch die Tränen von ihren +Lidern rollten. + +„Tu es nicht,“ sagte sie, „ich würde ganz bestimmt nicht davonlaufen. +Aber vielleicht würde ich wahnsinnig vor Glück!“ + +Da hob Olga langsam die beiden weißen, schlanken Arme und legte sie um +Mettens Schultern. Mette fühlte den wohltuend kraftvollen Druck fester +und fester werden. + +Jetzt, da Olga auf bloßen Füßen stand, waren ihre Gesichter fast in +gleicher Höhe. + +Sie bohrten die Augen ineinander, ernsthaft und unverwandt und spürten +in allen Adern das rasende Hämmern ihrer Herzen. + +Dann neigten sie sich gegeneinander wie zwei Verdurstende und legten +Mund auf Mund. + +Sie ließen einander nicht mehr los. Sie küßten sich nur immer durstiger +eins am anderen. Sie gingen durch das Zimmer aneinandergeschmiegt, sie +saßen auf dem Bettrand ineinander verschlungen. Die Kleider glitten von +ihnen nieder, achtlos, blieben auf der Erde liegen. + +Die groben und feuchten Laken atmeten Schauer der Kühle. Sie spürten es +kaum, so brannte das Blut in ihren jungen Leibern. + +Sie drängten sich aneinander, als wollten sie ineinander übergehen, +verschmelzen, eins werden. + +Ihre schlanken, geschmeidigen Glieder flochten sich ineinander, wie +Bäume des Urwalds unlöslich sich ineinander verschlingen. + +Sie sprachen nichts. Aber wie rauschende Musik hörte eines des anderen +dröhnenden Herzschlag und das rasche und raschere Atmen. + +Ihre Leiber bäumten sich gegeneinander wie wilde Tiere, wenn sie an +Käfiggittern rütteln. Sie gruben einander die Nägel in die Glätte der +Haut und schlugen einander die Zähne in die geschwellten Muskeln. + +Und sie lagen aneinandergeschmiegt wie müde gespielte Kinder, und ihre +Lippen berührten des anderen Lider und Wangen so sanft, so leise, wie +Schmetterlingsflügel schwankende Blüten. + +„Kleines,“ sagte Olga, und alle Glocken schwangen in ihrer Stimme. „Mein +Schönes, mein Gutes!“ + +„Oh, du!“ sagte Mette. „Du Wunder des Himmels. Was bist du nur? Bist du +ein wildes Tier ... oder ein Gott ... oder der Geist einer weißen +Orchidee?“ + +„Ich weiß nicht,“ sagte Olga. „Ich glaube, daß ich ein Gott bin. Aber +vor einer Stunde war ich ein armes gepeinigtes Tier. Bist du nicht +stolz, kleines Mädchen, daß du solche Wunder tun kannst?“ + +„Ich wollte, ich könnte Wunder tun,“ sagte Mette sehnsüchtig. + +Ein hartes Lächeln flog um Olgas Mund. + +„Dann würdest du mich in einen Mann verwandeln!“ sagte sie. + +„Um Gottes willen!“ rief Mette und schlang erschrocken beide Arme um +sie. „Nie, nie, nie! ... Aber wenn ich Wunder tun könnte, so würde ich +diese Nacht niemals aufhören lassen. Ich würde sie dauern lassen in alle +Ewigkeit!“ + +Der rote Schein des Kupfers hinter den Gasflämmchen erhellte das ganze +Zimmer mit warmem Dämmerlicht. Die spitzen Flämmchen zitterten leicht, +und der helle Fleck auf dem bunten abgetretenen Teppich zitterte mit. + +Olga richtete sich auf den Ellbogen auf und stützte den Kopf in die +Hand. Zwischen den weißen Fingern hindurch rieselten die Strähnen des +schwarzen Haares. Aus dem blassen Gesicht leuchteten die helldunklen +Augen in unendlicher Hoheit und Klarheit wie zwei Sterne. + +„Ewig!“ sagte sie leise. „Alles, was Gottes ist, ist ewig. Fühlst du +nicht, daß diese Nacht Gott gehört? Zeit ist eine Erfindung des Teufels. +Der Satan hat die Vergänglichkeit erfunden, um die Menschen von Gott +abtrünnig zu machen. Aber Gott blieb ewig, und Gottes Herrlichkeit +bleibt ewig. Da hat Satan alles mögliche andere erfunden: Krankheit, +Schmerz, Ungeziefer und Geld ... vor allem das Geld. Aber nun war Zeit +da und Vergänglichkeit da. Und ließ sich nicht wieder ungeschaffen +machen. Und haftet nun an allen Erfindungen des Teufels. Aber, was +Gottes ist, ist ewig. Immer verlöscht neues Glück die alte Qual, als +wäre sie nie gewesen. Aber das Glück bleibt. Und keine Qual kann es +ungeschehen machen. – Ich würde sterben vor Scham, wenn ich dächte, daß +nur die Nervenenden unserer Haut unter unseren Händen vibrieren. Spürst +du nicht, daß deiner Seele etwas geschehen ist, was ihr bleiben muß über +allen Tod hinaus? Spürst du nicht, daß diese Stunde dich weit mehr +verändert hat, als dich das bißchen Sterben verändern kann?“ + +„Ja,“ sagte Mette. „Und mehr als das bißchen Geborenwerden auch. Heut’ +bin ich geboren worden und nicht vor zwanzig Jahren. Jetzt kann ich zum +erstenmal mit Bewußtsein sagen: Ich lebe!“ + +„Wir leben!“ sagte Olga, sie an sich reißend, mit einem Aufjauchzen in +der Stimme, das klang wie der frohlockende Ruf eines auffliegenden +Wildvogels. + +„Wir leben, Süßes. Ewig, ewig, ewig leben wir!“ – – – + + * * * * * + +Als Mette am anderen Morgen aufwachte, schien eine helle, fröhliche +Wintersonne ins Zimmer. + +Ihr erster Gedanke suchte Olga. Sie war nicht da. Auch ihr Mantel hing +nicht mehr am Haken. Ein jähes Erschrecken schlug sie. Sie war fort, für +immer, kam nicht wieder, war unwiederbringlich verloren. + +Mette sprang aus dem Bett, mit einemmal hellwach. + +Da sah sie Olgas Hut und Handschuhe. Sie nahm die Handschuhe vom Tisch, +streichelte sie und preßte sie an die Wange. Von dem weichen grauen +Leder schien ein Strom von Freude und Beruhigung auszugehen. Es war kein +Traum und kein Zauberspuk. Sie war dagewesen, sie würde wiederkommen – +noch zeigten die Handschuhe die Form ihrer schönen schlanken Hände, +waren noch wie erfüllt von ihrem Leben ... + +Von unten herauf drang ein wohlbekanntes knirschendes und schrapendes +Geräusch. + +Mette lief auf bloßen Füßen zum Fenster und zog den dicken weißen +Köpervorhang ein wenig zur Seite. Auf den Fensterbrettern lag ein dickes +Polster von weißem Schnee. Die niedrigen Häuser drüben hatten Dächer von +blendendem Weiß und darüber funkelte ein Himmel von reinstem Blau. + +Vorm Hotel kratzte der Hausknecht mit dem Schneeschieber einen dunklen +Weg in den weißen Teppich, und neben ihm stand Olga, den Mantel offen, +beide Hände in den Taschen vergraben, den Kopf ein wenig vorgeneigt und +führte eine angelegentliche Unterredung mit dem alten Mann. + +Mette sah eine Weile hinunter und freute sich an jeder Linie ihrer +Gestalt. Sie sah sie sprechen und glaubte den Ton ihrer Stimme zu hören. +Sie dachte darüber nach, was sie sich mit dem Hausknecht wohl zu +erzählen haben könne. Sie bewunderte die Gabe an ihr, mit allen Leuten +ein Gespräch anzuknüpfen und jedem gegenüber den richtigen Ton zu +treffen. + +Mette kannte das an ihr. Wenn sie bei Laune war, wirkte sie so +unwiderstehlich, daß der brummigste Kellner oder Schaffner sie +anstrahlte. + +Nach ein paar Sekunden sah Olga plötzlich hinauf, sie mußte Mettens +Blick gefühlt haben. Sie sah Metten am Fenster stehen oder sah +vielleicht auch nur die verschobene Gardine, winkte mit der Hand und +lief ins Haus. + +Sie brachte einen Hauch von frischer Schneeluft ins Zimmer. Ihre Augen +waren hell und durchsichtig wie Eis und hoben sich scharf ab von der +schwarzen Pupille, und auf ihrem weißen Gesicht lag ein ganz leichter +Schimmer von rosiger Farbe. + +„Wo kommst du her, du Rumtreiber?“ fragte Mette. + +„Ausgeschlafen, mein Deern?“ fragte Olga zur Antwort. „Ich war schon +spazieren. Ich war in der Stadt. Ich wollte dir Blumen auf den +Frühstückstisch stellen. Aber Blumen im Winter – so sündhafte Dinge +kennt man hier nicht. Herr Thielemann hat nur Stechapfelkränze mit +Wachsrosen. Aber eine Konditorei ist da drüben, so mit einer +Geländertreppe vor der Tür, weißt du? Und einem goldenen Kringel in der +Luft! Und es roch nach frischem Brot. Mach dich schnell fertig, +Mettulein, ich habe einen wahnsinnigen Hunger.“ + +Sie frühstückten auf dem Zimmer. + +Dann drängte Mette zum Spazierengehen. Schnee und Sonne lockten sie +hinaus. + +„Du mußt erst an deinen Vater schreiben,“ sagte Olga ernsthaft. + +„Ja,“ sagte Mette und schnitt eine Grimasse. „Du willst keine +Verantwortung übernehmen – ich weiß schon.“ + +Sie setzte sich hin und schrieb einen langen und wohlüberlegten Brief. +Sie bat um Verzeihung. Sie schilderte die Vorgänge bei Onkel Jürgen mit +viel Humor. Sie nannte ihren Aufenthalt, bat ihren Vater herzlich, sie +hier zu lassen, wo sie sich wohl fühle und niemandem im Wege sei. Bat +ihn, ihr zu glauben, daß sie ein reifer und klarer Mensch sei und genau +wisse, was zu ihrem Besten wäre. Bat ihn, das Geld, das Onkel Jürgen ihr +unfreiwillig geliehen, zurückzuzahlen – die kurze Zeit bis zu ihrer +Mündigkeit sie zu unterstützen oder ihr einen Vorschuß auf das +großmütterliche Erbe auszahlen zu lassen. – Aber davon, daß sie nicht +allein sei, schrieb sie kein Wort. + +Sie trugen den Brief zusammen nach der Post. Olga wußte schon den Weg +dahin. Als der Umschlag in den blauen Kasten versenkt war, atmete sie +auf und nahm Mettens Arm. + +„Komm,“ sagte sie, „was zu tun war, ist getan. In drei Tagen kann die +Antwort da sein. Aber die drei Tage wollen wir genießen.“ + +„Glaubst du,“ sagte Mette mit finsterer Stirn, „daß eine Macht der Welt +mich zwingen kann, nach Hause zurückzugehen? Wenn sie mir kein Geld +schicken, geh ich als Waschfrau oder als Nähmädchen, oder ich mache +Schulden.“ + +„Ich weiß nicht,“ sagte Olga. „Ich weiß nur, solange dieser Brief noch +unterwegs ist, sind wir sicher. Kein Mensch weiß, wo wir sind – das ist +ein herrliches Gefühl – als ob man hinter Mauern und Gräben säße. Wenn +der Brief erst angekommen ist, dann ist die Zugbrücke heruntergelassen – +was dann geschieht, das weiß ich nicht. Nichts weiß ich, nichts, nichts, +nichts! Aber es ist immerhin möglich, daß wir in Stücke gerissen +werden.“ + +„Warum haben wir die Zugbrücke heruntergelassen?“ fragte Mette +stehenbleibend. „Warum hast du mich gezwungen zu schreiben?“ + +Olga lächelte schwermütig. + +„_Weil ich die Verantwortung nicht übernehmen will!_“ sagte sie, mit +einem Versuch zu scherzen. – – – + + * * * * * + +Sie gingen durch die breiten Straßen mit den kleinen, niedrigen Häusern. +Einen besonderen Reiz hatte es, die Schaufenster zu betrachten. + +Wo ein kleiner Laden sichtbar wurde, mußten sie über den Damm laufen und +die Auslagen mustern. Da war ein Korbflechter und Bürstenmacher. Da war +ein Schuhmacher, der einen halbmeterlangen Filzschuh in seinem Fenster +hatte und daneben einen winzigen nadelspitzen Ballschuh aus verstaubtem +perlgestickten Rosaatlas. + +„Ein Märchen!“ sagte Olga begeistert. „Sieh nur, ein Schuhmacher, der +Märchen dichtet. Und er weiß es. Ganz sicher, er weiß es!“ + +Da war ein Geschäftchen mit Kurz-, Weiß- und Wollwaren. Girlanden von +Handschuhen und Kinderjäckchen hingen im Fenster. Wasserfälle von +Maschinenspitzen stürzten hernieder. Nähgarne und Häkelwolle legten sich +zu symmetrischen Figuren. Und überall dazwischen hingen weiße +Pappschildchen: „Hier werden Puppen zu Weihnachten angezogen.“ „Hier +werden Gardinen kunstgestopft.“ „Unterricht in allen weiblichen +Handarbeiten.“ „Hier wird Klavierunterricht erteilt, gründlich und +gewissenhaft, für Anfänger und Fortgeschrittene.“ „Hier werden Strümpfe +mit der Maschine angestrickt.“ + +„Geschwister Basch,“ sagte Olga und sah zu dem Firmenschild auf. „Sicher +sind es zwei alte Schwestern. Die eine hat einen Mops und die andere +einen Kanarienvogel. Oh, in solchen Städten gibt es noch Möpse! Die +eine, die den Klavierunterricht erteilt, das ist eine schönheitsdurstige +Seele. Sie hat sicher einmal von Ruhm und Beifall geträumt, als sie mit +fünfzehn ‚_La prière d’une vierge_‘ spielte. Und die andere, die +praktische, vielleicht von einem Mann und sieben Kindern. Und nun sitzen +sie hier und trösten sich miteinander. Vielleicht hat die praktische ein +aufopferungsfreudiges Gemüt und hat den einzigen in Betracht kommenden +Mann ausgeschlagen, nur um ihre Schwester nicht zu verlassen. Die mit +dem Klavierunterricht, das ist sicher auch die, die die Puppen anzieht. +Aber die andere strickt die Strümpfe an. Weißt du, ich möchte in einer +Novelle den Tag beschreiben, da die Strickmaschine ins Haus kam. +Wahrscheinlich haben sie zehn Jahre daraufhin gespart – und dann haben +sie sie gefürchtet und geliebt – so ein bißchen wie Teufelsspuk und +Feenzauber – ach, vielleicht wäre es gut, ein solcher Mensch zu sein ... +oder ob sie ganz klein und neidisch und giftig sind?“ + +Da war ein Kaufmannsladen, ein „Kolonialwarenhändler“, es war +erstaunlich, was sein Fenster für eine prunkvolle Ausstattung aufwies. +Getrocknete Aprikosen bildeten Sterne auf weißem Reis. Grotten aus +Zuckerkand türmten sich auf, mystisch erhellt durch Fenster aus roter +Gelatine. Da war ein See aus Stanniol, auf dem ein kleiner hohler Schwan +mit aufgeplatztem Rücken schwamm. Da waren tausend bunte Dinge, und wie +um die Farbenpracht zu mildern, lag über allem eine gleichmäßige graue +Staubschicht – eingefressener, unverwüstlicher, wohlberechtigter Staub. + +Und dann, ganz am Ende der Stadt, wo die Häuser vereinzelt standen und +das Pflaster aufhörte und die Hühner gackernd über den Weg liefen, da +war ein ganz kleiner Laden, der hatte in seinem schmalen Fensterchen +alles – alles, was das Herz nur begehren konnte. Hohe Gläser mit bunten +Bonbons und blaue Glanzpapiertafeln mit Zwirnknöpfen, Kränze von +getrockneten Feigen und Postkarten, auf denen liebende Paare in +flammenden oder blumenumkränzten Herzen sich küßten. Schnürsenkel und +saure Gurken, Schuhwichse und Backpulver und irdene Töpfchen und Kämme +und ... + +„Abziehbilder!“ sagte Olga mit andächtigem Entzücken. „Sieh nur, Mette, +veritable Abziehbilder! Ganz richtig mit dem blauen Hauch darüber, mit +dem mystischen Schleier, daß man nur ahnen kann, was daraus wird, wenn +sie abgezogen sind. Oh, es war kein Kachelofen vor meinen Abziehbildern +sicher! Wer sie immer nur hübsch auf einem Tisch verarbeitet hat, ahnt +gar nicht, wie schwer es ist, sie auf einer senkrechten Fläche +anzubringen. Sie waren immer durcheinander gerutscht. Ich glaube, ich +hatte keine ruhige Hand. Ob ich es jetzt besser könnte? Ich bitte dich, +Mette, um aller Heiligen willen, geh hinein und kauf mir für einen +Groschen Abziehbilder – aber ein Bogen mit Schiffen muß dabei sein.“ – – +– + + * * * * * + +Hinter den letzten Häusern fing die Landstraße an: Breit, gerade, mit +kahlen Bäumen bestanden, schneebedeckte Felder rechts und links, am +Horizont ein Streifen dunkelblauen Waldes. + +Sie schritten scharf aus. Der Schnee knirschte unter ihren Schuhen. Bei +jedem Schritt flogen krächzende Krähen vor ihnen auf, der Wind rauschte +in den Telegraphendrähten und blies manchmal eine Schneelast von einem +Zweiggewirr auf sie herab. Der unberührte, unbetretene Schnee war weich +wie Watte und blitzte in der Sonne wie zerstoßenes Glas. + +Der Wald, der so fern erschienen war, schien ihnen entgegenzulaufen. + +Hundert Schritte davor bog die Landstraße ab. Aber ein breiter Weg +führte hinein. Das Stückchen über das freie Feld war kaum als Weg zu +erkennen, so schneeverweht war es. Aber drüben tat sich in den hohen +schneebedeckten Tannen eine Öffnung auf, wie der Eingang zu einem +Tunnel. Da strebten sie hin. + +Als der Wald sie umfing, wurde es mit einem Male still und warm – so +warm, daß ihre windgepeitschten Gesichter anfingen zu brennen. + +Hoch über ihnen in den Wipfeln rauschte der Wind und schüttelte zuweilen +silberne Sterne auf den dunklen Boden. Aber sein kalter Atem traf sie +nicht. + +Sie wanderten in versunkenem Schweigen. Nur wenn bunte Meisen vor ihnen +herflatterten oder ein Eichhörnchen an einem Stamm hinaufflitzte, machte +eines das andere durch ein Flüstern, durch eine Bewegung aufmerksam. Und +wenn dann ihre Blicke sich trafen, dann blieben sie ineinander hängen, +bis sie lächelten und die Augen schlossen – – – + + * * * * * + +„Aha! Da ist es!“ sagte Olga nach einer guten Weile. + +„Was? Wo?“ fragte Mette erstaunt. + +Olga wies mit der Hand vorwärts. Zwischen den Stämmen wurde plötzlich +eine rote Backsteinmauer sichtbar. + +„Hast du denn gewußt, wo wir hingehen?“ wunderte sich Mette. + +„Natürlich, Kind! Ich werde dich doch nicht aufs Geratewohl in der Irre +herumführen. Dieses muß nach menschlichem Ermessen der Waldkater sein. +Im Sommer gibt’s hier Kaffeekochen, Musik und Tanzvergnügen. Im Winter +kriegen wir vielleicht was zu essen – wenn wir Glück haben. Das hat mir +alles unser Hausknecht heute früh erzählt. Außer seiner Lebensgeschichte +– – es gibt so ein schönes Märchen – – Bechstein, glaub’ ich – – von der +verwunschenen Mühle, wo nur der Esel, die Katz und die Taube sind. Und +noch irgendein Tier. Siehst du, da fliegt die Taube auf, und da ist die +Katz. Aber kein Mensch zu erblicken. Graust dir’s schon, Mette? Ganz +sicher, die Katze will uns was sagen!“ + +Sie durchschritten eine Art Wirtschaftshof und rüttelten an ein paar +verschlossenen Türen. + +„Es kann nicht ausgestorben sein,“ sagte Olga und deutete auf ein +Rauchwölkchen, das aus dem Schornstein aufstieg. „Oder die Katz hat +Feuer angemacht. Aber wenn sie das kann, kann sie uns auch was zu essen +kochen.“ + +Sie fanden eine Tür offen. Durch einen leeren und kalten Saal, von +dessen Decke zerfetzte und verstaubte Papiergirlanden herunterhingen, +kamen sie an eine andere Tür, die einem Druck auf die Klinke nachgab. +Dieser nächste Raum war erfüllt von behaglicher Wärme und +durchdringendem Kohlgeruch. Ein eiserner Ofen fauchte glühende Luft und +auf ihm brodelte ein blauer Emailletopf mit einem dampfenden Inhalt. An +einem der Tische, breit aufgestützt, saß eine grobknochige Magd und +messerte ihr Kohlgericht aus einem blechernen Napf. + +„Guten Tag, Fräulein Anna,“ sagte Olga strahlend liebenswürdig. „Na, wie +geht’s Ihnen denn? Schmeckt’s?“ + +Das Mädchen stand langsam auf und grinste. + +„Ich heiß’ nicht Anna,“ sagte sie, „die vorvorige war die Anna. Ich +heiß’ Berta.“ + +„Schön warm haben Sie’s hier, Fräulein Berta.“ Olga zog die Handschuhe +aus und hielt die Finger vor die Ofenglut. „Und herrlich riecht’s hier +nach Kraut. Wollen Sie uns nicht was abgeben von Ihrem Mittagbrot?“ + +Das grinsende Mädchen wischte mit der Schürze über einen Tisch. + +„Wenn die Damen was zu essen haben möchten, kann ich ja mal die Frau +fragen.“ + +„Herrlich, Fräulein Berta! Und wenn wir was zu trinken kriegen könnten – +einen Grog oder Glühwein oder sonst so was Gutes.“ Olga blinzte dem +Mädchen zu, als hätte sie ihr ein Geheimnis anvertraut. „Wir sind +nämlich mächtig durchgefroren.“ + +Sie stemmte die Füße gegen den heißen Ofen, daß die nassen Sohlen +anfingen zu zischen. + +„Sagen Sie, was ist eigentlich aus der Anna geworden? Daß ich Sie +verwechselt habe! Die war ja viel kleiner als Sie!“ + +„Ja,“ sagte Berta, „die war man schwächlich. Sie hat geheirat’t.“ + +„Geheiratet?“ sagte Olga überrascht. „Sieh mal an! Dabei war sie doch +gar nicht mal so hübsch.“ + +„Ne,“ sagte Berta, „hübsch war sie nich. Un schwächlich war sie auch +man. Aber sie hatte ’n Mundwerk, ’n Mundwerk hatte sie. Un das sticht +manch einen ins Auge.“ + +Olga blieb ganz ernst. + +„Na, lassen Sie man, Berta,“ sagte sie begütigend, „Sie werden ja auch +bald heiraten. Es ist doch immer das beste. Man will ja gerne schuften. +Aber es ist doch immer was anderes, wenn man für die eigene Wirtschaft +schuftet.“ + +„Ja,“ sagte Berta überzeugt und blieb eine Weile gedankenvoll mit +offenem Munde stehen, „nun will ich aber mal nach was zu essen fragen.“ + +Damit machte sie kehrt und schoß hinaus. + +„Herrlich,“ sagte Olga und witterte wie ein Jagdhund mit erhobener Nase. +„Es riecht so gut nach Kraut und Hammelfleisch.“ + +Mette schüttelte den Kopf. + +„Ein komischer Kerl bist du,“ sagte sie lachend. „Hier findest du das +herrlich, und wenn’s in der Motzstraße nach Kohl riecht, kriegst du +Ohnmachten und Tobsuchtsanfälle.“ + +„Erlaube mal, das ist vielleicht ein Unterschied, wenn’s in einem +Berliner Zimmer mit Jugendstilmöbeln und einem Prismenkronleuchter halb +nach Kohl riecht und halb nach billigem Heliotropparfüm, so erzeugt das +einen Nervenzustand, der einen direkt zum Selbstmord treiben kann. Hier +muß es einfach ein bißchen nach Ofendunst riechen und ein bißchen nach +Schweinestall und kräftig nach Kümmelkohl – das ist gerade das Richtige. +Wenn meine Freundin Berta hier mit dem Messer ißt, stört mich das gar +nicht. Aber wenn ich’s im Schweizer Hof in Luzern sehe, könnt’ ich aus +der Haut fahren.“ – – – + + * * * * * + +Die schwarzweiß gefleckte Katze kam ins Zimmer geschlichen. + +„Da hast du den Waldkater!“ sagte Olga. „Komm her, Mies! Komm zu mir!“ + +Die Katze ließ sich greifen und halten. Olga streichelte sie, drückte +sie an sich, erzählte ihr im Flüsterton lange Geschichten und richtete +teilnehmende Fragen an sie. + +„Daß du Katzen so liebst und Hunde nicht leiden kannst,“ sagte Mette ein +wenig mißbilligend, „das ist eigentlich bezeichnend für dich!“ + +Olga hob rasch den Kopf und zog die Brauen hoch. + +„Bezeichnend? Wieso?“ + +„Weil du die Grazie mehr schätzt als die Treue,“ sagte Mette mit einem +wehmütigen Lächeln. „Weil dir das lieber ist, was heimlich kratzt, als +das, was sich schlagen läßt und die Hand leckt. Ich glaube, ich muß mich +in acht nehmen, daß ich dir nicht verächtlich werde.“ + +Olga schüttelte die Katze von ihrem Schoß herunter. + +„Nein, Mette,“ sagte sie mit großen ernsten Augen, „da verkennst du mich +vollständig. Ich habe eine Antipathie gegen Hunde, aber nicht, weil sie +treu sind, sondern weil sie schamlos sind. Weil sie ihr Liebesleben auf +die Straße tragen.“ Der rote Schatten flog wieder über ihr Gesicht. +„Katzen haben darin mehr Kultur – um dies oft mißbrauchte Wort zu +mißbrauchen. Es gibt Kerfe, die sich nur in tiefster Nacht, nur in den +verstecktesten Winkeln paaren – so daß es noch keinem Forscher gelungen +ist, diesen Prozeß zu beobachten. Ich denke immer, es wird einmal eine +Zeit kommen, da wird man von den barbarischen Gebräuchen dieser +Jahrhunderte oder Jahrtausende wie von Märchen erzählen. Denke dir nur, +wie unendlich komisch das einen feinfühligen Menschen berühren muß: Wenn +zwei Menschen Sehnsucht haben, miteinander in einem Bett zu liegen, so +setzen sie einen bestimmten Tag dafür fest. Sie setzen öffentliche +Institutionen, den Staat und die Kirche, davon in Kenntnis. Sie +benachrichtigen Freunde und Verwandte, ihre eigenen Eltern, ihre eigenen +Geschwister! An dem Tag, der dieser Nacht vorangeht, versammeln sie alle +Leute um sich, die sie nur irgend kennen, sitzen Hand in Hand und lassen +sich betrachten, umgeben sich mit Leuten, die gefüttert und getränkt +werden, bis ihnen übel wird, lassen sich anzügliche Lieder vorsingen und +anzügliche Reden halten – und fühlen sich vielleicht sogar wohl dabei. – +Ich habe immer das Gefühl gehabt, Hochzeit zu halten auf die Art, wie +man das jetzt handhabt, müßte eine Strafe für Schwerverbrecher sein. Es +ist eine so grausame Quälerei, eine so ausgesuchte Folter ... Mette, +Kind, tu mir den Gefallen, wenn du dich einmal einem Manne hingeben +willst, den du liebst, tu’s, wenn dir danach zumute ist und nicht an +einem vorher festgesetzten Tag – tu’s ganz heimlich, daß keine lebende +Seele die Möglichkeit eines solchen Geschehens ahnt ...“ + +„Ich?“ sagte Mette mit Augen voll traumverlorenen Entsetzens. „Ich?“ + +„Ja, du!“ sagte Olga lächelnd. „Ach, Kind – meinst du, du hast eine +Ahnung, was in deinem Leben noch alles geschehen kann?!“ – – – + + * * * * * + +Am anderen Tag saßen sie in der Konditorei von Ferdinand Brausewetter am +Roßmarkt. + +Sie hatten einen weiten Spaziergang gemacht und waren hungrig und +durchfroren. + +Nun saßen sie auf dem roten Samtsofa, das mit Häkeldeckchen belegt war, +als ob es in der guten Stube stünde. + +Olga hatte eine – wie sie sagte – „prähistorische“ Nummer der +„Meggendorfer“ entdeckt und belustigte sich königlich an den harmlosen +Witzen. + +Eine dicke behagliche Frau mit glatten grauen Scheiteln und einer +gutgestärkten weißen Schürze, die noch vom Wäscheschrank her die +scharfen Kniffe zeigte, brachte ihnen dampfenden Kaffee in einer braunen +Bunzlauer Kanne und duftenden frisch gebackenen Kuchen. + +Dann, als die frühe Dämmerung fiel, steckte sie eine Gasflamme an. + +Da die Lampe zu hoch war und sie sich einen Stuhl herbeiholte, sprang +Olga auf, um ihr zu helfen. + +Sie kamen in ein Gespräch, und die freundliche Frau blieb an ihrem Tisch +stehen, um ein wenig zu schwatzen. + +Olga lobte den Kuchen, sprach vom Wetter, von der Stadt – dann rückte +sie einen Stuhl. + +„Aber Frau Brausewetter, setzen Sie sich doch ein bissel zu uns, wenn’s +Ihre Zeit erlaubt. – Sie wissen so gut Bescheid hier, ich hätt’ mich +gern noch nach Verschiedenem erkundigt.“ + +Mette folgte mit stummer Verwunderung der Unterhaltung, die sich +entspann. + +Olga erkundigte sich angelegentlich nach dem Papiergeschäft an der +anderen Seite des Marktes. Eine Tafel zeigte an, daß das Grundstück samt +gutgehendem Geschäft zu verkaufen sei. Sie hatten es schon in der +Zeitung inseriert gelesen ... + +„Im Kreisanzeiger wohl?“ + +„Ja, natürlich im Kreisanzeiger,“ ... und sie wären hergekommen, um es +sich anzusehen und sich erst mal unter der Hand zu erkundigen ... ob +denn das Geschäft ginge? Und warum es eigentlich zu verkaufen sei? Ein +Garten wäre wohl nicht bei dem Haus? + +Doch, ein kleiner Garten mit alten Birnbäumen und einer Fliederlaube – +durch den Treppenflur könne man ihn sehen. + +Und sie möchten eine Leihbibliothek mit dem Geschäft verbinden – ob das +wohl lohne? + +Frau Brausewetter war Feuer und Flamme für diesen Plan. Das hätte sie +den Kilians schon immer gesagt. Aber sie hätten nie was reinstecken +wollen ins Geschäft. Und hätten gemeint, die Anschaffung der Bücher +rentiere sich nicht. Aber es würde sich ganz gewiß rentieren; denn den +ewigen Journallesezirkel hätten sie alle schon über. Und die Frau +Bürgermeisterin hätte neulich schon gesagt ... + +„Denke dir!“ sagte Olga, als sie über den dämmerigen Marktplatz nach dem +Hotel hinüber schritten. „Alte Birnbäume und eine Fliederlaube. Und +nichts zu sehen von der Straße aus! Ein altes häßliches graues Häuschen. +Ich habe in solchen Städten im Sommer in alle Haustüren geguckt. Dann +sieht man so oft jenseits der Treppe eine zweite Tür und wenn die offen +steht, so ein Stückchen Hof oder Garten mit blühendem Flieder. Dann hab’ +ich immer so ein ganz starkes Gefühl von Neid oder Sehnsucht gehabt. +Vielleicht hab’ ich gewußt, daß ich noch mal in so einem Haus ende. Oder +daß ich ihm ganz nahe komme und daran vorüber muß.“ + +„Aber Olga!“ sagte Mette und blieb vor Erstaunen mitten auf dem Platz +stehen. „Möchtest du denn da enden? Ich habe immer das Gefühl, du machst +dich lustig über mich und meine Ideale. Wie du der guten Frau +Brausewetter da die Komödie vorgespielt hast – mir hat sich das Herz +zusammengezogen vor Sehnsucht, daß das Wahrheit wäre. Ach, wenn ich hier +bleiben könnte, ein Häuschen mit einem Garten haben und so ein puppiges +kleines Geschäft mit Schulheften und Ansichtskarten und Bibelsprüchen +und eine Leihbibliothek – und dich, dich, dich! Von morgens bis abends +und von abends bis morgens ... aber nach drei Wochen wärst du mir +durchgegangen und ich säße allein hier ...“ + +„Glaubst du?“ sagte Olga ohne Spott. „Wie du mich kennst!“ + +„Ich kenne dich!“ beharrte Mette lächelnd. „Vielleicht kenn’ ich dich +besser als du dich kennst.“ + +„Kein Mensch kennt einen anderen,“ sagte Olga in einem müden und +gleichgültigen Ton und heftete die Augen unter den zusammengezogenen +Brauen unverwandt auf die blaue Laterne über dem Torweg. + +„Aber es läßt sich so wenig dagegen tun ...“ – – – + + * * * * * + +Sie hatten nach dem Abendessen noch in dem überheizten Gastzimmer eine +Partie Schach gespielt und dabei mit viel heimlichem Entzücken den +Unterhaltungen gelauscht, die die Honoratioren nebenan an ihrem +Stammtisch führten. + +Als sie, die Mäntel überm Arm, an der Treppe anlangten, bat Olga: + +„Komm, laß uns noch eine halbe Stunde an die Luft gehen, daß wir nicht +den ganzen Rauch in Haaren und Kleidern mit hinauf schleppen – das +heißt, wenn du nicht etwa müd’ bist, natürlich.“ + +Der häßliche Platz, die nüchternen Straßen lagen in Schnee und Mondlicht +wie verzaubert da. + +Der Himmel war hoch, blauschwarz und so klar, daß er wie erfüllt +erschien von dem unabsehbaren Gewimmel funkelnder Sterne. + +Olga hatte den Kopf tief in den Nacken gelegt. Der Nachthimmel und die +Gestirne schienen sich in ihren Augen zu spiegeln. + +„Unendlichkeit!“ sagte sie leise. „Du glaubst nicht, wie ich dieses Wort +liebe. Es ist mein Vaterunser und mein Evangelium. Kein Anfang, kein +Ende. Unendlichkeit der Zeit, Ewigkeit des Raumes. Ich glaube, wenn ich +ganz klein und verzweifelt wäre, braucht ich nur zu denken: +Unendlichkeit! Und es wäre wie ein Orgelton, der alles von mir abspült. +Wird man nicht ganz fromm, wenn man dies Unbegreifliche fühlt? Darum +lieb’ ich den Sternenhimmel so. Darum lieb’ ich die Nacht so.“ + +„Mich hat nichts so gequält,“ sagte Mette, „als deine Unendlichkeit. Als +kleines Kind schon. Ich wollte sie immer begreifen. Ich wollte. Ich lag +im Bett und stellte mir den Raum vor. Und dann schloß ich einen Kreis +wie eine Mauer um ihn. Und was war dahinter? Wieder Raum. Ich zog einen +größeren Kreis. Ringsum war wieder Raum. Ich dachte manchmal, ich müßte +verrückt werden, wenn all der Raum in mein armes kleines Gehirn +hineinstürzen wollte.“ + +„Das ist ja das Schöne, daß es etwas gibt, was wir nicht begreifen +können. Nicht der Gelehrteste und nicht der Gefühlvollste. Das eine +Unbegreifliche ist Bürgschaft für tausend Möglichkeiten. Wenn es +Ewigkeit gibt, warum nicht Unsterblichkeit, Seligkeit, Göttlichkeit? +Warum nicht eine Liebe über aller irdischen? Alles wissen sie, alles +erklären sie. Wie die Spermatozoen ins Ei dringen, beobachten sie, und +Sterne machen sie ausfindig, von denen das Licht achtzig Millionen Jahre +braucht, um zu uns zu gelangen, und Theorien stellen sie auf, worin sie +Liebe durch Fortpflanzungswillen und Sympathie durch Geruchsnerven +begründen. Von allem reißen sie den Schleier des Mysteriums. Sie wissen, +wie wir entstehen und wie wir vergehen und warum wir lieben. Aber wenn +sie dich quälen und du ihnen nicht glauben willst, dann sag’ dir ganz +leise: Unendlichkeit! Und fühle, daß es Dinge gibt, die über aller +Vernunft sind. Kein Lebender kann sie erfassen ... Aber die Toten +vielleicht. Oder die Sterbenden schon. Darum lächeln die Toten alle. Sie +lächeln alle so erlöst und überlegen, als wollten sie sagen: ‚Herrgott, +ist das lächerlich einfach‘ ... Ich freue mich manchmal auf den Moment, +wo man die Stufe hinaufsteigt, daß man endlich über die Mauer sehen +kann.“ + +„Freu’ dich nicht zu sehr,“ sagte Mette und griff wie in Angst nach +ihrer Hand, „ertrag nur die Mauer noch eine Weile.“ + +„Kind,“ sagte Olga weich, „ich sehe ja die Mauer nicht. Sie ist ganz und +gar von Rosen überhangen.“ – – – + + * * * * * + +Auch am anderen Morgen war noch kein Brief aus Berlin da. + +„Gesegnete Post!“ sagte Olga. „Sie kommt hier nur einmal am Tage.“ + +Mette schüttelte den Kopf. „Ich versteh’ dich nicht. Ich hab’ erst die +richtige Ruhe, wenn Antwort da ist. So sitzt man ja doch immer auf dem +_qui vive_ oder dem Pulverfaß oder ähnlichem! Wenn wir wissen, woran wir +sind, können wir uns danach richten. Ich muß dann eventuell an den +Rechtsanwalt schreiben, der der Testamentsvollstrecker meiner Großmutter +war. Der wird mir sicher eine Summe vorschießen, von der wir das halbe +Jahr leben können, bis ich mündig bin. Aber ich wollte, ich hätte alle +diese Dinge schon hinter mir.“ + +Olga spielte mit den Fransen der Tischdecke und lächelte. + +„Warum lächelst du so?“ fragte Mette. + +„Weil du so weitgehende Pläne machst. Dein Vater wird schreiben: ‚Komm!‘ +Und dann wirst du kommen.“ + +„Du weißt ganz genau, daß das ausgeschlossen ist!“ sagte Mette fast +zornig. + +Olga stand mit einem Ruck auf und ging ans Fenster. + +„Vielleicht schick’ ich dich auch!“ sagte sie hart. – – – + + * * * * * + +Am Nachmittag machten sie wieder einen weiten Spaziergang über die +Felder. Der frühe Abend überraschte sie, und sie kamen erst in der +Dunkelheit heim. + +Sie gingen auf der Landstraße, hart ankämpfend gegen den Wind und sahen +vor sich im blauen Dämmern die aufblitzenden Lichter der Stadt. + +„Seltsam,“ sagte Olga, „wir gehen nach Hause. Da liegt eine Stadt vor +uns, deren Namen ich vor drei Tagen noch nicht gekannt habe, und da bin +ich zu Hause. Da liegt ein Hotelzimmer, in dem vor drei Tagen vielleicht +noch irgendein Kommis nächtigte, ein Zimmer, in dem nicht ein Möbelstück +nach meinem Geschmack ist, in dem nicht ein Bild und nicht ein Buch mich +lockt – und da bin ich zu Hause. Wenn ich an unseren Gasofen denke und +an den Feuerschein auf dem schäbigen Teppich, dann wird mir so warm, daß +ich den Wind nicht spüre. Wie muß einem Menschen zumute sein, der +wirklich ein eigenes Heim hat. Wo er jeden Sessel liebt und die Farbe +des Teppichs und das Licht der Lampe und jedes Kissen und jedes Bild und +jede Tasse.“ + +„Das könntest du doch haben,“ sagte Mette. + +„Ich?! – Nie, nie, nie!“ + +„Doch!“ sagte Mette etwas zaghaft. „Wenn du Geduld hättest ... in einem +halben Jahr.“ + +Olga lachte kurz auf. „Kind!“ rief sie und drückte Mettens Arm fester an +sich. „Liebes, süßes, wundervolles, kleines Geschöpf! In einem halben +Jahr! Wo bist du da und wo bin ich da? Vielleicht bist du verheiratet – +und ich bin tot.“ – – – + + * * * * * + +Als sie in das Zimmer traten, leuchtete von der dunklen Tischdecke etwas +Weißes ihnen entgegen. Mette nahm es auf und lief damit ans Fenster. Der +Schein einer Laterne draußen gab ein schwaches Licht. + +Es war ein dringendes Telegramm. + +„Mach hell, bitte!“ bat sie mit ein wenig unsicherer Stimme. + +Sie riß das Papier auseinander. + +Sie las es in dem Dämmerlicht am Fenster. Sie las es noch einmal bei der +aufflammenden Gaslampe. Es änderte sich nicht. + +„Dein Vater vom Schlage getroffen. Sein Ableben stündlich zu erwarten.“ + +Sie reichte das offene Telegramm, ohne ein Wort zu sagen, Olga hinüber +und ging an ihr vorbei nach dem Ofen. + +Sie hielt die Hände vor die Glut und war erfüllt von der seltsam +peinlichen Empfindung, nicht zu wissen, wie sie sich benehmen sollte. + +Kein Gefühl quoll unwiderstehlich, jeden Gedanken verdunkelnd, aus ihrer +Tiefe: weder Schmerz, noch Angst, noch Liebe. + +Nur häßliche, quälende Gedanken: „Ich werde hinfahren und zu spät +kommen,“ dachte sie. „Es wird also ganz unnütz sein, daß ich fahre. Wenn +er wirklich sterben muß – warum hab’ ich dann nicht lieber die Nachricht +bekommen, daß er tot ist. Dann würde keine Macht der Welt mich hier +wegbekommen.“ + +Sie warf einen verstohlenen Blick auf Olga, die ihr noch immer den +Rücken zudrehte. + +„Sie wird erwarten, daß ich irgend etwas tue,“ dachte sie. „Ich muß mich +doch irgendwie äußern. Ich glaube, das Natürlichste wäre, wenn ich jetzt +weinte. Aber ich kann doch nicht. Ich finde es schrecklich, gewiß. Aber +es ist nichts, was mir die Tränen in die Augen treibt. Was würde Olga in +meiner Lage tun? Seltsam, wie wenig wir uns eigentlich kennen. Ich weiß +nicht, was sie tun würde. Und ich weiß auch nicht, was sie von mir +erwartet.“ + +Endlich drehte Olga sich um und legte mit einer schönen und merkwürdig +behutsamen Bewegung das Papier auf den Tisch. Ihr Gesicht war ruhig, +aber ganz weiß. + +„Ich will nach den Zügen fragen!“ sagte sie und schritt still hinaus. + +Mette war fast froh, noch einen Augenblick allein zu sein. Sie konnte +nun in Ruhe überlegen, was zu tun sei. Wenn Olga ging, um nach den Zügen +zu fragen, so nahm sie als selbstverständlich an, daß Mette mit dem +nächsten Zug nach Hause fuhr. Es war ja auch wohl selbstverständlich, +freilich, das war es. + +Sie stand seufzend von ihrem Sessel am Kamin auf, stellte den offenen +Handkoffer zurecht und fing an einzupacken. Dabei flogen ihre Gedanken +hin und her. + +Vielleicht war es gar nicht wahr! + +Vielleicht hatte Tante Emilie sich das ausgedacht, um sie nach Hause zu +locken! Sie ins Gefängnis zurückzulocken! + +Wenn doch jetzt eine Depesche von Vater käme, die die erste Nachricht +widerriefe! + +Oder, wenn es doch wahr war – wenn jetzt eine Depesche von Tante Emilie +käme, daß alles vorbei wäre. Dann brauchte sie nicht zu fahren. Oder ob +Olga es von ihr verlangen würde? + +Wenn doch Olga jetzt heraufkäme und sagte: Es geht kein Zug, heute +nicht, morgen nicht, nie mehr. Die Züge bleiben im Schnee stecken – oder +der Bahndamm ist eingestürzt ... + +Oder wenn Olga jetzt käme und sagte: Fahr’ nicht! Verlaß mich nicht! Laß +uns weiterfahren, irgendwohin, wo sie uns nicht finden. Beweise mir, wie +du mich liebst, gib alles auf. Was ist dir der fremde Mann, der da im +Sterben liegt? Nichts! Zu mir gehörst du, mein bist du! Ich verlange von +dir, daß du bei mir bleibst, ich will mich nicht von dir trennen, nicht +auf eine Stunde mehr. + +Ja, das wäre das Schönste. Aber von allem Unmöglichen war es das +Unmöglichste. + +Olga machte die Tür auf. Ihre Bewegungen, obgleich rasch, waren so +leise, als beträte sie ein Krankenzimmer. + +„Um drei Viertel zehn,“ sagte sie und warf einen Blick auf die +Armbanduhr. „Wir haben also noch reichlich Zeit, einzupacken und etwas +zu essen.“ + +In Mette zuckte etwas wie Empörung auf. Sie mußte fahren. Sie wurde +einfach geschickt. Vielleicht wäre Olga selber an ihrer Stelle nicht +gefahren. Olga durfte frei handeln und entgegen allem, was Sitte und +Gebrauch war – aber für Mette galt das Normale, das Alltägliche, das +Schickliche. Um drei Viertel zehn ging der Zug – sie wurde gar nicht +gefragt, ob sie ihn benutzen wollte. Es war der nächste Zug, und also +hatte sie damit zu fahren. + +Sie packte mit verbissenem Gesicht ihren Koffer weiter. + +„Darf ich dir helfen?“ fragte Olga ernst und sanft. + +„Danke!“ sagte Mette kurz. + +Der rücksichtsvolle Ton quälte sie. Sie hätte so gern ganz brutal die +Wahrheit gesagt: + +„Du brauchst mich nicht zu behandeln, als wäre ich schwer krank. Das +Schlimmste an dieser Sache ist für mich, daß wir uns trennen sollen, daß +ich hier fort soll, daß unser Märchen hier ein Ende hat“ – aber sie +hatte den Mut nicht, es auszusprechen. Und sie fühlte doch, daß Olga +sich beinah scheu zurückhielt, so, als hätte sie kein Recht, Metten in +ihrem heiligen, kindlichen Schmerz zu stören. + +Mettens Hände stießen beim Packen zufällig auf einen sorgfältig in +Seidenpapier gehüllten Gegenstand unten am Boden des Handkoffers. Sie +riß das Seidenpapier ab, daß die Fetzen zur Erde flatterten und hielt +das goldene Etui in der Hand. + +„O Mette!“ rief Olga mit einem leisen, überraschten Aufschrei. „Da ist +es ja wieder! Seit wann?“ + +„Es ist nie woanders gewesen,“ sagte Mette mit einem etwas bedrückten +Lächeln. „Ich konnte mich nicht entschließen, es in fremde schmutzige +Hände zu geben. Ich wollte dir eigentlich nichts davon sagen – ich +wollte es dir zu Weihnachten schenken – aber es ist ja Unsinn – ich will +es dir lieber gleich geben.“ + +Mette ging hinüber und legte es in Olgas Hände, die ihr nicht +entgegenkamen. + +Olga hielt es ganz still auf den Flächen der Finger, ohne es zu +umschließen und sah es mit gedankenschwerem Lächeln an. + +„Seltsam,“ sagte sie, ohne die Augen aufzuheben. „Warum jetzt? Warum +heute? Man sollte nicht abergläubisch sein, aber manchmal ist es schwer +...“ + +Mette verstand den Sinn dieser Worte nicht, aber sie fragte auch nicht +danach. Sie spürte mit zorniger Eifersucht, daß Olgas Gedanken in einer +Vergangenheit waren, die ihr fern, fremd und verschlossen blieb. Aber +sie spürte keinerlei Beziehung auf sich selbst. + +Es war eine schweigsame Fahrt durch die kalte, dunkle und unfreundliche +Nacht. + +Mette lehnte mit halbgeschlossenen Augen in einer Ecke und sehnte sich +danach, mit viel Zärtlichkeit getröstet zu werden – aber sie hätte nicht +gewagt, diese Sehnsucht auszusprechen, auch wenn nicht fremde Menschen +mit dumm verschlafenen, glotzenden Gesichtern im Wagen gesessen hätten. + +Als Mette fröstelte, zog Olga wortlos ihren Mantel aus und legte ihn ihr +über die Knie. Aber Mette wies ihn fast schroff zurück. + +„Laß das, bitte! Ich möchte nicht, daß du dich erkältest!“ + +Olga nahm den Mantel fort. Aber sie zog ihn nicht an. Sie legte ihn +neben sich auf das Polster, mit einer so achtlosen Bewegung, als sei er +zu nichts mehr nütze. – – – + + * * * * * + +In der Wohnung roch es nach Krankheit und Tod. Die Mädchen saßen +schlaftrunken mit verschwollenen Augen und stumpfen Gesichtern herum. + +Überall brannte Licht. Aber nicht helles, heiteres, strahlendes Licht, +nur immer eine einzelne Lampe, die ein oder zwei Räume dämmerig +erhellte. Die Türen standen offen oder waren angelehnt – man sah, daß +nicht Nacht war in dieser Wohnung. Daß niemand schlief, daß unablässig +hin und her gelaufen wurde. Und durch die offenen Türen drang das +gleichmäßige röchelnde Atmen des Sterbenden in alle Räume, erfüllte alle +Räume. + +Tante Emilie, mit wachen Eulenaugen in dem zerkniffenen Gesicht, +geisterte gespenstig hin und her. + +„Du kommst zu spät!“ sagte sie mit eisigem Triumph, als sie Mettens +ansichtig wurde. „Wir haben keine Hoffnung mehr.“ + +Mette fühlte, daß ihr etwas Böses zugefügt werden sollte. Und das +plötzliche Bewußtsein, so verworfen, so gefühlsroh zu sein, daß dies +Böse sie nicht traf, daß selbst diese Frau in ihrem maßlosen Haß sie +noch überschätzte, trieb ihr, müde und überreizt wie sie war, die Tränen +in die Augen. + +Tante Emilie ahnte nichts von diesen Vorgängen. + +„Auch diese Tränen kommen zu spät!“ sagte sie geringschätzig. + +Von den zwanzig Stunden, die nun kamen, hatte jede Stunde tausend +Minuten. + +Mette ging hin und her, saß hier und dort und fühlte sich überall am +falschen Platz, im Wege, von bösen Augen beobachtet. + +Sie war zerschlagen an allen Gliedern und hatte das Bedürfnis, nur für +eine Stunde sich in ihrem Zimmer einzuschließen und sich aufs Bett zu +werfen. Aber sie fand den Mut nicht dazu. + +Sie wußte, man erwartete von ihr, daß sie, in Reuetränen zerfließend, am +Sterbebette ihres Vaters saß oder womöglich auf den Knien lag. + +Sie versuchte das Grauen, das sie schüttelte, zu überwinden und ging +hinein, immer wieder. Die dumpfe Luft roch nach Verwesung und +Medikamenten. In den vielen weißen Kissen lag ein kleiner, sonderbar +knöcherner Schädel, ein fremdes, schief gezerrtes Gesicht mit +geschlossenen Augen, dem der röchelnde Atem leise die gelblichen Lippen +bewegte. + +Mette saß eine Weile still neben dem Bett und ängstigte sich davor, daß +dieses schreckliche Röcheln mit einem Male aufhören könne. – Und +ängstigte sich fast noch mehr davor, daß dies fremde Etwas plötzlich die +Augen auftun und reden könne. + +Ärzte kamen, sprachen miteinander in gedämpftem Ton, maßen sie mit +mitleidigen Blicken und gingen wieder. + +Das Mädchen deckte den Tisch zur gewohnten Zeit und bat im Flüsterton +zum Essen. + +Tante Emilie ließ alle Verbindungstüren offen und horchte mit gespannter +Aufmerksamkeit, während sie ihre Suppe löffelte, ob in dem gleichmäßigen +Röcheln eine Veränderung einträte. + +Mette vermochte kaum einen Bissen hinunterzuwürgen. + +Die frühe Dämmerung kam, und die Lampen wurden wieder angemacht. + +Mette wollte ein Buch in die Hand nehmen, aber ein so empörter Blick von +Tante Emilie traf sie, daß sie es wieder wegstellte und mutlos die Hände +in den Schoß legte. + +Gegen Abend wurde das Röcheln schwächer. Der Nasenrücken trat +messerscharf aus dem winzigen versunkenen Gesicht. + +Der Arzt, der am Abend kam, ging nicht wieder fort. Nun saß noch einer +herum und schritt lautlos über die dicken Teppiche auf und ab und +wartete. + +Das Röcheln wurde schwächer und schwächer. Dann kam noch ein paarmal in +kurzen Pausen ein stärkeres knarrendes Ausatmen, und mit einem Male +wurde es still. + +Man hörte plötzlich, als setzten sie eben ein, alle Uhren im Hause +ticken. + +Der Arzt beugte sich über das Bett, richtete sich dann wieder auf und +ging auf Metten zu, um ihr die Hand zu geben. + +Tante Emilie wischte sich über die trockenen Augen, die Mädchen draußen +schluchzten auf. + +Mette sah und hörte alles wie durch dichte Schleier. Sie hatte Angst, +ohnmächtig zu werden. + +Der Arzt bemerkte wohl ihr grünlich fahles Aussehen und legte ihr die +Hand aufs Haar. „Legen Sie sich hin, Kind!“ sagte er sanft. + +„Sie können nichts mehr nützen hier. Sie haben schwere Tage hinter sich +und vor sich. Jugend braucht Schlaf.“ – – – + + * * * * * + +Mette war froh, in ihrem Zimmer zu sein. Aber sie dachte nicht daran, +sich hinzulegen. Als sie nach einer Weile den Arzt gehen hörte, faßte +sie eine namenlose Angst. Sie war so sterbensmüde und fürchtete sich +davor, einzuschlafen, so, als müßten gräßliche Träume sie peinigen, wenn +sie die Herrschaft über die Gedanken verlöre. + +Wenn sie nur für einen Moment die schweren Augenlider schloß, sah sie +die verzerrten Züge des Sterbenden, oder Tante Emilie reckte die Krallen +nach ihr aus, um sie zu erwürgen, oder Onkel Jürgen holte mit einem +riesigen Schlüsselbund zu einem Hieb aus, der ihr den schmerzenden +Schädel zerschmettern sollte. + +Mette streckte die Hand sehnsüchtig in die Luft nach einer anderen Hand, +die die ihre fest und warm umschließen sollte. Aber ihre kalten Finger +blieben leer. + +Sie ertrug die angstvolle Unruhe nicht mehr. Sie schlüpfte in ihren +Mantel und schlich über die Hintertreppe hinunter aus dem Haus. + +Die kalte Nachtluft weckte sie wie aus schwerem Traum. Sie lief mehr als +sie ging durch die Straßen bis zu Olgas Haus. + +Das Haus war verschlossen. Mette stand eine Weile unschlüssig. +Vielleicht kam irgendein Hausbewohner heim, oder der Mann von der Wach- +und Schließgesellschaft machte ihr gegen ein Trinkgeld die Tür auf. + +Sie wartete eine ganze Weile. Die Kälte schüttelte sie. + +Schließlich klingelte sie den Portier heraus. Aber oben vor der Tür +zögerte sie wieder, eh’ sie wagte zu klingeln. + +Sie setzte sich auf die Treppe und lehnte die Stirn an die hölzernen +Pfosten der Tür. + +Sie versuchte, durch angestrengte Gedanken, durch inbrünstiges Flehen, +durch gesteigertes Wollen Olga zu wecken, sie herbeizurufen. + +Sie glaubte immer, ihren leisen Schritt sich der Tür nähern zu hören und +lauschte atemlos und merkte, daß sie sich getäuscht hatte. + +Sie mußte sich endlich doch entschließen zu klingeln. Es dauerte eine +ganze Weile, bis ein schlaftrunkenes, halb angezogenes Mädchen ihr +öffnete. Sie erzählte eine Geschichte, daß sie eben von der Bahn komme +und zu Hause nicht hinein könne, weil sie ihre Schlüssel bei Fräulein +Radó gelassen habe. Sie lachte dazwischen und hatte das Gefühl, +vollkommen idiotisch zu wirken. + +Als sie sich durch den wohlbekannten Türgang entlang tastete – sie +fürchtete sich, aus irgendeinem unbegreiflichen Grunde davor, Licht zu +machen – vielleicht hatte sie die Vorstellung, das Geräusch oder der +Schein könne jemanden wecken, oder vielleicht hatte sie unbewußte Angst, +gesehen zu werden und fühlte sich sicherer im Dunkel. + +Als sie schon vor Olgas Tür stand, hatte sie mit jähem Erschrecken das +qualvolle Empfinden – so stark, daß sie es für Ahnung nahm – als wäre +Olga nicht allein. Als stände diesem furchtbaren Tag noch ein +furchtbarster Abschluß bevor. + +Sie stand an die Wand gelehnt und wagte nicht zu klopfen, nicht die +Klinke zu berühren. Eine Stimme, die sie deutlich außer sich zu hören +glaubte, sagte: + +„Was suchst du hier? Mit welchem Recht dringst du hier ein? Wie kommst +du zu der maßlosen Kühnheit, dich hier zu Hause zu fühlen?“ + +Die Tür ging geräuschlos auf, und ein matter Lichtschein fiel heraus. + +In dem Lichtschein stand Olga Radó, groß und schlank, in einem +dunkelbunten Kimono, eine Hand auf der Klinke und spähte unter +zusammengezogenen Brauen scharf hinaus. Sie sah und erkannte Metten +sofort. + +„Mette!“ rief sie leise und schloß einen Moment, wie erschrocken, die +Augen. „Ich hab’ es doch gewußt! Was ist geschehen, Kind? Wie bist du +heraufgekommen?“ + +Mette taumelte mehr als sie ging. Sie kam ins Zimmer, sah das sanfte +Licht der verschleierten Lampe auf den Papieren des Schreibtisches, auf +den Bücherrücken, auf den Bildern, auf den seidenen Kissen – Farben und +Formen stürzten wie ein Gefühl unendlichen trunkenen Glücks in sie +hinein – sie ließ sich auf die Erde niedergleiten, legte die Stirn gegen +den Sessel und sagte zwischen Lachen und Weinen, zwischen Wachen und +Schlaf: + +„Laß mich hier, es ist so gut.“ + +Olga hob sie auf, zog sie aus wie ein kleines Kind und legte sie ins +Bett. Als die Kühle der Laken ihre Glieder berührte, fingen Kälte und +Grauen wieder an, sie zu schütteln. Sie war mit einem Schlage wieder +hellwach, saß steif aufgerichtet im Bett und bemühte sich vergebens, das +gewaltsame Aufeinanderschlagen der Zähne zu unterdrücken. + +„Leg’ dich zu mir,“ bat sie flehentlich, „ich muß spüren, daß ich nicht +allein bin. Ich hab’ so gräßliche Angst.“ + +Olga antwortete nicht. Sie verriegelte die Tür, sie stellte die Lampe +hinter das Bett, breitete noch einen Seidenschleier über das Licht, ließ +den Kimono von den Schultern gleiten – alles mit einem wehen Lächeln und +schweren langsamen Bewegungen, als rüste sie sich zu einem Opfergang. +Sie schob den Arm unter Mettens Nacken, breitete die Decke fester über +sie, strich ihr das verwirrte Haar aus der Stirn. + +Und da Mette die Wärme dieses geliebten Lebens, den starken Schlag +dieses Herzens spürte, brach sie in ein leises qualerlöstes Weinen aus. +Über diesem Weinen schlief sie ein. + +Nach einer Zeit, von der sie nicht wußte, ob es Stunden oder Minuten +waren, wachte sie wieder auf. Das Licht brannte immer noch. Olga lag +reglos neben ihr, mit weit offenen Augen. Mette richtete sich auf und +gab ihren Arm frei. + +„Warum weckst du mich nicht?“ sagte sie vorwurfsvoll. „Armes, ich habe +dir sicher den ganzen Arm zerbrochen, und darum konntest du nicht +schlafen.“ + +Olga drehte ein wenig den Kopf. „Ich hätte auch sonst nicht schlafen +können. Ich bin so wach.“ + +„Woran hast du gedacht?“ fragte Mette und versuchte, in ihren Augen zu +forschen. + +Olga lächelte ein wenig mühsam. + +„Daran, daß deine Leute dich jetzt vielleicht im ganzen Haus suchen. Ich +möchte wissen – oder ich möchte lieber nicht wissen, was jetzt in Tante +Emiliens Gehirn vorgeht. Sie muß doch rein denken, du bist von der +Tarantel gestochen!“ + +Mette lachte leise auf und schlang ihren Arm um Olga. + +„Vom Skorpion!“ sagte sie zärtlich. „Und es gibt kein Gegengift als sein +eigenes Gift. Das weißt du doch!“ + +Olga richtete sich auf und faltete die Hände über den hochgezogenen +Knien. Die beiden schwarzen Flechten lagen wie zwei breite schwere +Bänder auf dem weißen Hemd. Ihre Augen starrten geradeaus, und die +weitgeöffnete Pupille überdunkelte die ganze Iris. + +„O wunderliches Schicksal über mir!“ sagte sie mit einer leisen, tiefen, +wie ein Cello klingenden Stimme. + + „Als wär’ ich von dem Skorpion gestochen + Und hoffte Heilung durch dasselbe Tier. – _Qui vivens laedit – morte + medetur._“ + +Ein Ausdruck gewaltsamer, schmerzlicher und fast unheimlicher Energie +trat in das weiße schöne Gesicht. + +Mette erschrak, daß ihr der Herzschlag stockte. Sie hatte den Mut nicht, +sie anzurühren, sie an sich zu reißen. + +„Olla!“ rief sie mit einem leisen Klagelaut und streckte die Hände nach +ihr. + +Da trat wieder das mühevolle Lächeln um den blassen Mund. + +Sie schlang mit einer jähen Bewegung beide Arme um Metten und preßte sie +an sich, als wollte sie sie in dieser Umarmung ersticken, vernichten, +zerstören. + +„Ach, Mettulein,“ sagte sie mit einem zersprungenen Lachen, „es hilft ja +alles nichts ... du mußt mich erst in sanftem Öl verenden lassen – dann +wird vielleicht noch alles gut!“ – – – + + * * * * * + +Mette hörte im Traum heftiges Klingeln. Dann wachte sie auf von +Türengehen, näher kommenden Schritten, vielen und erregten Stimmen. + +Sie machte die Augen auf und sah Olga vor dem Bett stehen, schon fertig +angekleidet. Sie war sehr blaß, hatte dunkelflammende Augen und +herrschte sie an in einem Ton, der wie atemlos klang vor Erregung. + +„Steh auf, Mette, ich bitte dich um Gottes und aller Heiligen willen, +zieh dich schnell an.“ + +Mette schlüpfte in wahnsinniger Hast in ihre Sachen. Unterdessen wurde +schon heftig an die Tür geklopft. + +Olga ging sofort hin, riegelte auf und öffnete die Tür zur Hälfte. + +„Wer ist denn da?“ + +Draußen wurden erregte Stimmen laut, erregte Gesichter drängten sich in +den Spalt. + +„Ich bedauere, Sie können momentan nicht in mein Zimmer,“ sagte Olga mit +eiskalter Höflichkeit. + +Die Stimmen draußen überschrien sich. Das war Tante Emilie. Das war +Onkel Jürgen. Das war Frau Flesch. Das war das Mädchen, das ihr die +Nacht geöffnet hatte. + +Mettens Hände zitterten wie in einem Angsttraum. Sie konnte mit keinem +Knopf zustande kommen. Sie hatte den brennenden Wunsch, unsichtbar zu +sein oder aus dem Fenster zu springen oder in tiefe Bewußtlosigkeit zu +fallen. + +Olgas Stimme überklang den Tumult, tief und ruhig, aber kalt und scharf +wie geschliffenes Eisen. + +„_Muß_ diese Unterhaltung auf dem Flur stattfinden?“ + +Dann klang plötzlich eine sanfte, zarte Stimme: + +„Darf ich den Herrschaften mein Zimmer anbieten? Ich mache gern Platz.“ + +Die Stimmen verzogen sich nach nebenan, und ein paar Augenblicke später +– Mette hatte schon das Kleid übergeworfen – schlüpfte Peterchen ins +Zimmer. + +„Kann ich dir helfen, Mette?“ flüsterte er mit verstörten Augen. + +Im selben Augenblick klang es von nebenan, als ob ein Stock auf den +Tisch geschmettert würde. + +„Ich werde Sie ins Gefängnis bringen!“ donnerte Onkel Jürgens Stimme. + +Mette wollte hinüberstürzen. Peterchen hielt sie mit flehender Gewalt +zurück. + +„Nicht so!“ bat er. „Mach dir schnell das Haar! Zieh dir Schuh an!“ +Während sie die Haare glatt strich und aufsteckte, kniete er vor ihr und +schnürte ihr die Stiefel zu. + +Sie gab ihm recht. Sie konnte nicht auf Strümpfen, mit gelöstem Haar +hinüberlaufen, zum Gaudium aller Leute, die hinter den Türritzen +lauschten. + +Als Mette über den Flur nach dem anderen Zimmer ging, ganz ruhig und +aufrecht ging, war sie voll einer starken, kühnen, heißen und beinah +frohen Entschlossenheit. + +Im Hintergrund des Flurs stand ein fremder Herr in Hut und Überzieher, +der sie mit einem durchdringenden Blick musterte. + +„Von der Leiche des Vaters weg!“ wimmerte Tante Emilie mit hohem Pathos. + +„Die Kriminalpolizei in meinem ehrlichen Hause!“ kreischte Frau Flesch. +„Noch nie in meinem Leben hab’ ich was mit der Polizei zu tun gehabt!“ + +Mette klinkte die Tür mit hartem Griff auf. Das Herz schlug ihr bis an +den Hals. Einen Augenblick durchzuckte sie der Gedanke: Vielleicht war +alles gut so. Vielleicht war es gut, daß sie jetzt den Mut haben mußte, +neben Olga hinzutreten und zu sagen: „Ich gehöre zu diesem Menschen und +verlasse ihn nicht und wenn ihr mich und euch in Stücke reißt. Wenn ihr +den Mut und das Recht habt, so wendet Gewalt an, freiwillig gehe ich +nicht einen Schritt mit euch.“ + +Olga stand gegen den Tisch gelehnt, die Arme über der Brust gekreuzt, +die Ellbogen mit den Fingern umklammert. + +Als die Tür aufging, stürzte Tante Emilie mit dem fast geschluchzten +Ausruf: „Da ist das unglückliche Kind!“ auf Metten zu. + +Mette stand einen Augenblick wie erstarrt. Sie hatte einen Moment das +Gefühl, unter Irrsinnige zu kommen oder selber irrsinnig zu sein. Mit +einem flüchtigen Blick erfaßte sie, daß Jürgen von Seyblitz mit seiner +straffen Haltung, mit den blitzblauen Augen und dem eisgrauen +Schnurrbart in dem zornroten Gesicht sehr gut aussah. + +Er kam auf sie zu und sagte mit einer tiefen, rauhen Stimme, in der +etwas wie Rührung zitterte: + +„Mette, Kind, was tust du hier? Morgen begraben sie deinen armen Vater, +und du bist hier?!“ + +Er legte ihr schwer die Hand auf die Schulter. + +Mette sah ihn nicht an. Sie sah Olga an. + +„Ich bin hier zu Hause –“ sagte sie. Ihre Stimme sollte eine strahlende +Festigkeit haben, aber sie konnte sie nicht zwingen, sie klang leise und +bebend. + +„Wenn ihr glaubt, das Recht zu haben, so wendet Gewalt an, freiwillig +gehe ich nicht einen Schritt mit euch.“ + +Es war schwer, sehr schwer, das auszusprechen. Sehr schwer, das +auszusprechen vor Onkel Jürgens ehrlichem, wut- und schmerzverzerrtem +Gesicht, vor Tante Emiliens blinzelnden Vogelaugen, vor dem schwammigen +Gesicht der Frau Flesch, das in einem widerlich-gierigen Grinsen wie +erstarrt schien, vor dem fremden Mann, vor den Mädchen, die hinter den +Türen lauschten. + +Aber nun war es ausgesprochen. Und damit mußte alles gut sein. Nun mußte +Olga kommen und sie in die Arme nehmen, mußte Mettens Kopf so an ihre +Brust drücken, daß sie nichts mehr zu sehen und zu hören brauchte, mußte +mit einer ihrer unglaublich stolzen und herrischen Bewegungen all diesen +fremden und peinigenden Gesichtern die Tür weisen, mußte einen Revolver +diesen Eindringlingen entgegenrecken und sie hinausjagen mit einem +einzigen Wort ... + +Olga wandte den Kopf, ohne ihre Haltung zu verändern und sah Metten an. +Alle glaubten, daß sie Metten ansah und machten eine unwillkürliche +Geste der Spannung, der Erwartung. + +In Wahrheit lagen ihre Augen auf Mettens Stirn oder auf ihren Brauen +oder auf ihren Haaren. + +Mette wollte ihren Blick treffen, sie bohrte ihre Augen in Olgas +Gesicht, aber sie konnte ihren Blick nicht zwingen. Er lag unverändert +auf ihrer Stirn oder ihren Brauen oder ihren Haaren – eine Linie über +ihren Augen. + +„Mein liebes Kind,“ sagte Olga mit einer eisig kühlen Sanftmut, „Ihre +Anhänglichkeit an mich ist rührend, aber ich habe sie durch nichts +verdient. Wenn Sie mir wirklich soviel Sympathien entgegenbringen, so +gehen Sie jetzt mit Ihren Angehörigen und betragen sich wie ein +vernünftiger Mensch und verschonen mich künftig mit Ihren Besuchen. Sie +sehen doch, daß Sie mir nichts als Ungelegenheiten bereiten!“ + +Mette zögerte noch einen Augenblick. „Es muß doch irgend etwas +geschehen,“ dachte sie, „sie muß mich doch ansehen, sie muß mir durch +einen Blick, durch eine Geste ein Zeichen geben, daß dies Verstellung +ist, Komödie, daß ich ihr vertrauen soll, an sie glauben, auf Nachricht +warten ...“ + +Es geschah nichts. + +Mette suchte in ihren Gedanken irgend etwas Unerhörtes, womit sie diese +steinerne Maske zerschmettern könnte. Konnte sie nicht sagen: „Du hast +mich gerufen, gelockt, gezwungen und jetzt verleugnest du mich?“ Nein – +sie hatte kein Recht dazu. + +Fiel ihr denn nichts ein, irgendein Schmähwort, ein treffendes, +verletzendes, grausames? + +Sie wälzte dumme, kindische Schimpfwörter, schwer wie Steinblöcke, in +ihrem Gehirn hin und her. + +„Du Kanaille!“ dachte sie. „Du Dirne!“ Das war nicht das, was sie +suchte. Ihr war, als müsse sie in fieberhaftem Suchen die polternden +Steinblöcke hin und her schieben, um irgend etwas zu finden, ein +scharfes Wort, das sich schleudern ließe. + +Plötzlich schien es ihr, als ob sie schon eine unendliche Zeit so +dagestanden hätte, mit hängenden Armen, mit blöden Augen und offenem +Mund. + +Sie richtete sich auf und machte den Versuch zu einem Lächeln, das +hochmütig und liebenswürdig sein sollte. Aber sie hatte das Gefühl +dabei, als ob der Irrsinn in ihren verzerrten Muskeln tanze. + +„Willst du um einen Wagen telephonieren, Onkel Jürgen?“ sagte sie. + +„Seltsam,“ dachte sie dabei, „das ‚um‘ habe ich mir auch von Olga +angewöhnt – hier sagt man ‚nach‘, glaube ich.“ + +„Ich bin zu müde zum Laufen.“ + +Dann ging sie nach der Tür. „Ich will mir nur meine Sachen holen – einen +Augenblick!“ + +Sie ging in das Nebenzimmer, setzte sich vorm Spiegel den Hut auf, sehr +sorgfältig, zog den Mantel an, suchte ihre Handtasche. Sie beeilte sich +nicht. Sie hatte immer noch das törichte Gefühl, als müßte Olga jetzt +hereinschlüpfen und ihr irgend etwas zuflüstern ... wo sie sich treffen +wollten, wo sie hinschreiben sollte, wann sie ihr alles erklären wollte. +Es kam niemand. + +Als Mette ihre Handtasche aufmachte, fand sie ein Päckchen +zusammengedrückter Geldscheine darin. Die waren noch von der Reise. + +Sie nahm sie heraus und lachte bitter auf. Nun würde sie wohl nie mehr +in die Versuchung kommen zu stehlen. + +Nun würde sie wohl nie in ihrem Leben mehr Geld brauchen. + +Sie hob die Hand und öffnete sie und ließ die Scheine über das zerwühlte +Bett flattern. + +Dann ging sie hinaus, an dem fremden Mann vorbei, an den Mädchen vorbei, +die Treppe hinunter und aus dem Haus, ohne sich umzusehen. + +Auf der Straße holte der Wagen mit ihren Leuten sie ein. – – – + + * * * * * + +Onkel Jürgen blieb noch eine Zeit lang in Berlin. Er benahm sich recht +merkwürdig. Er war still und gütig und richtete auf Metten immer ein +paar ehrliche, angstvolle, blaue Augen und sprach zu ihr immer in einem +leicht gerührten Ton. Von dem Geld und der Flucht war nie mehr die Rede. + +Wenn Mette zuweilen – oft geschah es ja nicht – über dieses Benehmen +nachdachte, meinte sie, es nur auf _eine_ Weise erklären zu können. Sie +glaubte nicht, daß es Reue war, weil sein heftiger Brief ihres armen +Vaters Tod verschuldet hatte. Sie kam auch nicht auf den Gedanken, daß +er versuchte, sie durch Liebe und Güte zu gewinnen. Nein, wahrscheinlich +tat sie ihm leid. Er hatte Olga Radó gesehen. Er hatte ihre Stimme +gehört. Er hatte einen Hauch ihrer Macht gespürt. Wenn Mette das dachte, +liebte sie ihn fast. + +Und er hatte es gehört, wie Olga sie verleugnet und verraten und +gedemütigt hatte. Nun hatte er Mitleid mit ihr. – Wenn Mette das dachte, +so haßte sie ihn. + +Auch Tante Emilie war von einer sonderbaren Sanftmut. Mette dachte +später manchmal, daß es besser gewesen wäre, wenn die Leute in dieser +Zeit sie gequält und gepeinigt hätten und sie stark gemacht hätten in +stählendem Haß. – – – + + * * * * * + +Tante Emilie und die ganze Familie war sehr dafür, die Tiefe der Trauer +durch die Länge der Schleier auszusprechen. + +Es sollte niemand sagen können, daß Mette, die verlorene Tochter, das +ungeratene Kind nicht über den Tod ihres Vaters trauere. + +Als Mette sich zum erstenmal im Spiegel sah, von Kopf zu Füßen in +schwarzem Krepp, schmal und blaß, mit erloschenen Augen und +schmerzgezeichnetem Mund, dachte sie: „Wie eine Witwe“, und ihr Herz zog +sich qualvoll zusammen. + +Als sie zur Beerdigung fuhren und nebeneinander saßen, hielt Tante +Emilie mit der schwarz behandschuhten Rechten das weiße Taschentuch an +die zitternden Lippen und mit der Linken hielt sie Mettens Hand. Und +Onkel Jürgen sah aus dem Fenster, und von Zeit zu Zeit rollte eine Träne +aus seinen blauen Augen bis in den Schnurrbart. + +Metten war zumut, als sei sie ein Berg gewesen, an dessen steinerner +Unverletzlichkeit jedes Geschoß abgeprallt war – nun war durch eine +Explosion ein Trichter in sie hineingesprengt, in ihr war Leere, in ihr +war ein tiefer, dunkler, zerklüfteter Abgrund. Die wild zerrissene Wunde +lag offen am Tage und alles fiel ungehindert in sie hinein, blieb schwer +wie Steine in ihr liegen, erfüllte sie mit Qual – alles, Blicke, Worte, +Tränen, Bewegungen. + +„Weh über den, der mich zersprengt hat!“ dachte sie bitter. + +Dann schloß sie ihre Finger einen Augenblick fester um Tante Emiliens +Hand. + +„Wir gehören zusammen,“ dachte sie, „Verlassene und Ungeliebte, bitter- +und hartgewordene Unglückliche – wir gehören zusammen. Zwei große +Familien gibt es auf der Welt, Reiche und Arme, Gesunde und Kranke, +Lachende und Weinende ... Olga Radó gehört zu den Frohen, sie hat +triumphiert, sie hat sich gerechtfertigt, sie hat sich von mir befreit – +nun geht sie lachend einem neuen Abenteuer entgegen.“ + +Nicht immer dachte Mette so. Die widerstreitendsten Empfindungen +schüttelten sie durcheinander. + +Es kamen wache Nächte, in denen sie glaubte, daß alles gut werden mußte, +wenn sie Olgas Hand hielt und fragte: + +„Kind, wie ist das nur gekommen? Wie konnte das nur geschehen? Was hast +du dir nur dabei gedacht?“ + +Dann lief sie am Tage die Motzstraße auf und ab und starrte zu der +Haustür hinüber – aber immer vergebens. + +Dann kamen Tage, an denen Tante Emilie ein widerlich-freundliches +Bedauern zur Schau trug und sich in Anspielungen erging, über die +Undankbarkeit der Welt im allgemeinen und im besonderen, und wie Mette +nun vereinsamt sei, weil sie ihre ganze Zeit und ihr ganzes Gefühl an +eine solche Person verschleudert habe. + +Dann haßte Mette mit glühendem Haß alle beide, Tante Emilien und Olga. +Aber mehr noch Olga – Olga, die sie zu Boden geworfen hatte, damit Tante +Emilie auf ihr herumtreten konnte, Olga, die ihr die Wunde gerissen +hatte, in der Tante Emilie mit schmutzigen Fingern wühlte. + +Manchmal beschloß sie zu sterben. Viel öfter aber noch zu fliehen. Ein +Bündel zu packen und die Landstraßen entlang zu laufen, auf Wiesen, in +Gräben zu nächtigen, den ewigen Sternenhimmel als Decke über sich. + +Der Gedanke an fremde Erdteile war das einzige, was ihr in dieser Zeit +zuweilen wohl tat. Mit diesem Gefühl der Gleichgültigkeit gegen Tod und +Leben mußte es schön sein, irgendwo im Dschungel mit gespannter Büchse +zu liegen und im kaum schwankenden Rohr die Augen eines Tigers auf sich +gerichtet zu sehen. Oder an einem Wachtfeuer zu liegen, um das nackte, +schwarze Gestalten zu eintöniger Musik sich verrenkten. Oder von den +leise schaukelnden, kissenweichen Tritten eines Kamels durch +unermeßliche, flirrende, weiße Glut getragen zu werden. + +Dann wieder schien es ihr, als ob ein solches Leben – auch ein _solches_ +Leben nur unablässige Qual wäre ohne Olga – unendlicher Reichtum, +unausdenkbares Glück mit Olga. + +Sie versuchte, sich in den Gedanken zu fügen, daß Olga sie nicht liebte. +Aber es konnte nicht sein, daß sie sie haßte. Sie hatte sie geopfert, +leichten Herzens aufgegeben, um ihren Ruf zu wahren, um sich +Unannehmlichkeiten abzuwehren. Sie liebte sie nicht. Aber darum waren +ihre Worte doch Lüge gewesen. Sie hatte sich gefreut, wenn sie kam. +Immer. Sie würde sich wieder freuen, wenn sie wieder kommen würde. + +Sie wollten ein Leben zusammen führen, ein herrliches, freies Leben, in +allen Städten der Welt, auf Dörfern, im Walde, in Indien, auf +Madagaskar. + +Dazu kam, daß Metten jetzt tagtäglich klargemacht wurde, wie reich sie +war. Franz Rudloff war kein Geizhals gewesen, aber er wußte nicht, wie +und wofür man Geld ausgeben sollte. Und Tante Emilie war viel zu +musterhaft, um auch nur in der kleinsten Kleinigkeit verschwenderisch zu +sein. + +Mette hatte keine allzu genaue Kenntnis von Geld und Geldeswert. Aber +das wußte sie doch: Die Summen, die man ihr jetzt nannte, die verbürgten +Freiheit, volle Freiheit, die versprachen ihr: in wenig Monaten kannst +du ein Leben führen, wo du willst und wie du willst ... + +Ein Leben ohne Olga ...? + +Mette faßte den Entschluß, an Olga zu schreiben. Nicht, wie es in ihr +aussah, nichts von Sehnsucht und Liebe, oh, um Gottes willen nicht. + +Aber ein paar ganz kühle, sozusagen geschäftsmäßige Zeilen, die nur den +Versuch machen sollten, eine Aussprache herbeizuführen. + +Sie verfaßte mit vieler Mühe einen Brief, den sie aufsetzte, +verbesserte, abschrieb und war mit ihrem Machwerk sehr zufrieden. + +Kein Mensch konnte darin einen Hauch von Herzlichkeit oder gar Demut +wahrnehmen. Eher einen scharfen, spöttischen, ein wenig herausfordernden +Ton. + +Sie schickte den Brief ab und wartete auf Antwort. Es kam keine. – – – + + * * * * * + +Unterdessen bemühte sich Tante Emilie, an Mettens Aufklärung zu +arbeiten. Und zwar auf eine merkwürdige Art. + +Sie war viel zu vorbildlich, um mit einem jungen Mädchen über sittlich +anstößige Dinge zu reden. Außerdem hatte sie wohl auch Angst vor Mettens +Wutausbrüchen. (Obgleich Feigheit eigentlich sonst ihre Sache nicht +war.) + +Mette hatte die Gewohnheit angenommen, in ihres Vaters Studierzimmer zu +sitzen. Sie las und las den ganzen Tag die schwierigsten, die +unverständlichsten Dinge, nur um ihre Gedanken zu knebeln. Hier hatte +sie alle Bücher zur Hand. Es war bequemer, sich gleich damit am +Schreibtisch niederzulassen, als die manchmal schweren Folianten erst in +einen anderen Raum zu schleppen. + +Außerdem war ihr hübsches, helles Mädchenzimmer ihr verhaßt. + +Wenn sie an dem schweren schwarzen Diplomatenschreibtisch saß, mit müde +hängenden Schultern über die Bücher gebeugt, war es ihr manchmal, als +hätte man Metten da draußen begraben, ein junges, lebensgieriges, +heißblütiges Mädel – und hier säße nun ein alter, stiller, einsamer +Mann. Sie fühlte fast mit Grauen, daß etwas von dem Toten – seine +halben, scheuen und schwerfälligen Bewegungen, seine gebückte Haltung, +sein abwesendes, um Verzeihung bittendes Lächeln auf sie übergegangen +war. + +Auf diesem Schreibtischplatz nun fand sie von Zeit zu Zeit Bücher, +Hefte, Broschüren, scheinbar ganz verschiedenen Inhalts – Romane, +medizinische Werke, angestrichene Tageszeitungen – aber alle behandelten +dasselbe Thema. + +Da waren seltsame und unheimliche Geschichten von Gräfinnen, die sich in +Männerkleidung in Kaschemmen herumtrieben, bis sie in irgendeinen +Hinterhalt gelockt und gräßlich ermordet wurden. + +Oder Berichte von widerlichen Orgien in großen Klubs, wo Hunderte von +Weibern sich als Männer anzogen und gebärdeten, oder Männer, geschminkt, +mit Lockenperücken und in durchbrochenen Seidenstrümpfen und nackten +gepuderten Armen und Schultern herumliefen. + +Da waren statistische Feststellungen aller der unglücklichen Opfer, +die infolge widernatürlicher Unzucht an Gehirnerweichung, +Rückenmarksschwindsucht und ähnlichem zugrunde gegangen oder in Wahnsinn +verfallen waren. + +Oder Schilderungen aus dem Seelenleben Konträr-Sexualer, die vermuten +ließen, daß diese Tausende von Menschen alle miteinander eine große +Gemeinde bildeten, eine Gemeinde, die durch nichts verbrüdert wurde, +durch keine gemeinsamen Interessen, keine Gleichheit der Bildung, der +Familie, des Geschmacks, der Weltanschauung, durch keine Liebe, durch +nichts als den Trieb zur gleichen Ausschweifung. + +Da war die Biographie eines großen Mannes, der elend ermordet war durch +einen erpresserischen Kellner, einen Kellner, mit dem er in intimen +Beziehungen gestanden – den er _geliebt_ hatte! + +Mette schauderte, wenn sie das Wort Liebe in diesem Zusammenhange nur +dachte. Manchmal war ihr, als müsse sie ersticken in Kot und Unflat. Ihr +wurde körperlich übel, wenn sie die Bücher nur anrührte. Sie las sie +nicht mehr – eine Weile lang. Sie las geschichtliche, philosophische, +naturwissenschaftliche Werke. Aber sie wußte oft seitenlang nicht, was +sie las. Ihre Augen gingen über die Zeilen und spiegelten die Worte. Und +ihre Gedanken wälzten die furchtbaren Dinge, die wie Steinblöcke auf sie +geschleudert wurden, um sie zu erschlagen. Dann nahm sie wieder die +anderen Bücher vor, die schlimmen, und suchte nach Erklärungen und zog +Schlüsse und stellte Vergleiche an. + +Wenn von männlich veranlagten Frauen gesprochen wurde, war viel von +ihrem überlegenen Geist, von ihrem Wissensdurst und Bildungsdrang die +Rede. Auch von einer krankhaften Verschwendungssucht mitunter, von einem +leidenschaftlichen Hang zum Luxus, von einer unnatürlichen Vorliebe für +schöne Stiefel. + +Oder auch von unheimlichen Don-Juan-Naturen, die mit unersättlicher +Genußgier von Abenteuer zu Abenteuer rasten. + +Mette geriet vor solchen Dingen in die qualvollste Verwirrung. Diese +Bücher sollten sie den Menschen verstehen lehren, der ihr auf der Welt +am nächsten gewesen war. Hundertmal in den letzten Monaten hatte sie +sich gesagt: diese Frau ist ein unlösliches Rätsel, ein unergründliches +Geheimnis, mir ewig fremd und fern, nie zu erfassen und nie zu +begreifen. Und ebensooft hatte sie in jedem Nerv gespürt: Dies ist die +Lösung, nun ist alles klar, alles gut, nie wieder kann ein Mißverstehen +uns trennen. + +Und jetzt? Und nun? + +Mitunter spürte Mette das quälende Bedürfnis, diese Schriften +zusammenzupacken und damit zu Olga Radó zu gehen: erklär mir das. Gibt +es solche Menschen? Bist du so? Bin ich so? Was weißt du darüber und wie +denkst du darüber? + +Über alles, was sie im letzten Jahr gehört oder gelesen hatte, hatte +Olga Radó ihre Meinung äußern müssen. Und fast immer war Olgas Meinung +auch die ihre gewesen, oder aber eine andere Meinung in ihr wurde +geweckt, gekräftigt, klargestellt. + +Nun zum erstenmal sollte sie mit so Ungeheuerlichem allein fertig werden +und tappte völlig hilflos im Dunkel. Wo sie Licht, wo sie einen Ausweg +zu finden glaubte, kam sie nur auf neue Irrwege. Sie gelangte nicht um +einen Schritt vorwärts, nicht zurück. + +In dieser Wirrnis konnte nur Olga Radó helfen. Olga Radó mußte klar und +deutlich ihre Meinung über Olga Radó äußern. Und diese Meinung galt. + +Da schrieb Mette zum zweitenmal. Auch in diesem Brief stand kein Wort +von Liebe oder Sehnsucht – nur eine dringende Bitte um Hilfe, viel Klage +über das, was jetzt in ihr geschah und auch ein wenig Anklage: Du hast +mich so weit gebracht, du mußt mir jetzt die Hand geben und mich aus +diesem Sumpfland hinausführen. + +Es kam keine Antwort. – – – + + * * * * * + +Aber der Frühling kam über alle diesem. + +Warme, schmeichelnde Lüfte kamen und breite, glitzernde Sonnenstreifen +und Knospenschleier auf allem Gesträuch und Schneeglöckchen und Krokus, +die sich mühsam ihren Weg bahnten durch schwarzviolettes fauliges Laub. + +Mette konnte die weiche schwere Luft nicht vertragen. Sie schlief nicht +mehr und hatte Kopfschmerzen Tag und Nacht. + +Das Lesen hielt ihre Gedanken nicht mehr fest. Sie saß über die Bücher +gebeugt und starrte aus dem Fenster. Stundenlang lag dieselbe Seite vor +ihr und wurde nicht umgeschlagen. + +Sie fing an, Romane zu lesen. Man konnte darüber nicht so hinauslesen +wie über eine trockene wissenschaftliche Darstellung, weil sie die +Phantasie anregten und Bilder wachriefen. + +Aber diese Bilder wurden zur Qual. + +Immer waren da Menschen, die sich liebten, sich sehnten, um einander, +miteinander kämpften, sich fanden, vereinten oder sich trennten, +aneinander zugrunde gingen, starben, sich verließen. Von Liebe zu lesen +tat weh. + +Oder es war vom Meer die Rede, von Bergen und Wäldern, vom Frühling oder +Sommer. Und Mette dachte: „Nie waren wir am Meer zusammen, nie in den +Bergen, nie in einem Juniwald, nie zwischen reifenden Kornfeldern. Wenn +wir in dem engen Zimmer da oben saßen und auf die graue, regennasse Wand +sahen, war ich so glücklich, weil ich fühlte, daß alle Schönheit der +Welt uns bevorstand. + +Olga Radó wird am Meer liegen oder durch reifende Felder gehen oder +durch die Domgewölbe smaragdener Buchenwälder – aber nie mehr mit mir. +Mit wem nur? Mit wem?“ + +„Ich bin verdammt dazu, blind und taub durch die Welt zu gehen oder mit +ewig schmerzenden Sinnen. Alle Schönheit wird mir zur Marter werden und +jeder Genuß zur Qual.“ + +Sie las von Reichtum und Luxus – von Autos, die über die Landstraße +jagten, von weißen Hotels an blauen Wassern, von Bällen und Festen und +Segeljachten und Schlittenfahrten – dann fing sie an, ihr Vermögen zu +berechnen und dachte: „So ein Leben hätte Olga Radó führen können, wenn +sie bei mir geblieben wäre.“ + +Oder sie las von Armut und Schmutz und Not, von Verbrechen, die der +ewige Druck der Sorge erpreßte, von Elend und Krankheit und schauriger +Einsamkeit. + +Dann schnitt ihr die Angst wie mit Messern ins Herz: „Dahin wird Olga +Radó kommen, wenn ich sie nicht halte. So wird sie enden, wenn ich sie +verlasse.“ + +Die Kirschbäume blühten. Nun fuhr Olga Radó sicher mit einer schönen +Frau auf einem weißen Dampfer über die blauen Wasser der Havel. Und die +Welt um sie war voll Schönheit und Sonne und Glanz. + +Und Metten faßte eine irrsinnige Sehnsucht, dabei zu sein, Olgas Leben +zu führen. Aller Stolz fiel von ihr ab wie verbrannte Fetzen. Sie stand +nackt vor sich und schrie vor Weh. + +Da schrieb sie zum drittenmal an Olga Radó. + +Sie schrieb, daß sie nicht mehr leben und nicht mehr atmen könne ohne +sie. Daß sie nichts von ihr wolle, keine Liebe, keine Zärtlichkeit, +keine Freundschaft. Daß sie nur um sie sein wolle, wie eine Magd, wie +ein Hund, daß sie nichts wolle, als ihr aus allen Kräften dienen und zum +Lohn dafür sich schlagen und treten lassen. Daß sie keine Eifersucht +kenne oder gar Herrschsucht oder Besitzerwahn. Daß sie jedem dienen +wolle, Mann oder Weib, den Olga liebte, und daß sie ihre Liebe so tief +in sich anketten und einmauern wolle, daß nie, nie, nie ein Mensch davon +ahnen solle, auch Olga nicht. + +Und sie wartete auf Antwort. Aber es kam keine. + +Plötzlich kam sie auf den Gedanken, daß Olga vielleicht ihre Briefe +nicht erhalten hätte ... ganz gewiß nicht erhalten hätte. + +Sie ging nach der Motzstraße und jeder Schritt war ihr, als wenn sie auf +Nadeln träte. + +Das Mädchen machte ihr auf, das ihr damals in der Nacht aufgemacht +hatte. Da bekam sie den Namen nicht über die Lippen und fragte nach +Petermann. + +Der war verzogen, unbekannt wohin. Sie quälte sich wieder durch zehn +Tage hindurch. Dann ging sie zum zweiten Male hin. + +Ein fremdes Mädchen öffnete ihr die Tür. „Ich habe Glück,“ dachte Mette, +und einen Augenblick lang wurde ihr schwindlig bei dem flüchtigen +Gedanken an die Möglichkeit, daß Olga hier sein könne, daß Mette +vielleicht in der nächsten Minute in ihrem Zimmer ihr gegenüberstünde. +Was nachher geschah, das war ja im Grunde einerlei. + +Fräulein Radó war verzogen – unbekannt wohin. + +Mette ging aufs Einwohnermeldeamt. Sie füllte den vorschriftsmäßigen +Zettel aus und gab ihn mit rasendem Herzklopfen dem grauköpfigen +Beamten. + +Der freundliche alte Herr ging und suchte und kam wieder und fragte, ob +die Dame eigene Wohnung hätte. + +Nein – Leute, die in Pensionen wohnten, führten sie nicht. + +Da ging Mette den letzten und schwersten Gang. Sie ging zu Möbiussens. + +Die Mädchen grinsten ihr frech ins Gesicht, als sie nach Olga Radó +fragte. + +Nein, sie wüßten nichts von ihr. Sie hatte sich natürlich nicht mehr +sehen lassen, Vater hätte sie ja auch wohl höflichst an die Luft +gesetzt. Sie hatten auch plötzlich keine Erinnerung mehr an eine +Verwandtschaft. Sie wußten den Namen des Preßburger Onkels nicht mehr +oder des Budapester Schwagers. Aber sie _wollten_ gern wissen. Glühend +vor Neugier und Lüsternheit fingen sie an, Fragen zu stellen, ob es denn +wahr wäre, daß ... + +Mette wurde rot und blaß und heiß und kalt. Sie hätte einen Mord begehen +können, wenn sie nicht viel zu müde dazu gewesen wäre. Sie sagte: „Ich +weiß nicht!“ Auf alle Fragen immer nur: „Ich weiß nicht.“ + +Vielleicht hätte sie sich entrüsten sollen und Olga Radó verteidigen. +Vielleicht hätte sie sie verlästern sollen und geheimnisvolle +Andeutungen machen. Vielleicht hätte sie lachen sollen und die Mädchen +an der Nase herumführen. Sie hielt sich mit beiden Händen am Stuhl fest +und sagte: „Ich weiß nicht!“ + +Als sie das Haus verließ, wußte sie, daß sie es nie wieder betreten +würde. Ein sinnloses Wort ging ihr wie im Fieber immer wieder durch den +Kopf: In der Leute Mäuler sein ... + +Sie hatte sich noch nie etwas dabei gedacht. Nun war ihr ganz körperlich +so zumute, als hätte man sie durchgekaut und aufs Pflaster gespien. Der +Ekel schüttelte sie. – – – + + * * * * * + +Von Zeit zu Zeit – in immer kürzeren Zwischenräumen – trat an die +Oberfläche ihrer Empfindungen ein dumpfer, peinigender Haß gegen Olga +Radó. Alles, was sie jetzt litt, hatte diese Frau verschuldet. +Leichtsinnig und kaltherzig und ganz gewissenlos verschuldet. + +In dieser Zeit war Mette sehr ungerecht gegen Olga Radó. Denn es schien +ihr, als wäre sie aus einer glücklichen, wohlbehüteten Jugend +herausgerissen, als wäre ein tiefer, heiterer Frieden in ihr zerstört, +ein wundervolles Gleichgewicht in ihr erschüttert worden. + +Und es erschien ihr als das Endziel aller Wünsche, daß es wieder so +werden solle, wie es vorher gewesen war. Sie hatte nur die eine +Sehnsucht, das letzte Jahr aus ihrem Leben zu streichen, zu löschen, zu +vergessen. + +Dann nahm sie wieder die schlimmen Bücher vor und las absichtlich das, +was sie am meisten angewidert hatte. Sie steigerte sich künstlich in Haß +und Zorn und Angst hinein. + +Es kamen Tage, wo sie sich sagte: Nun bin ich frei! Ich bin wie aus +schwerer Krankheit genesen, ich fühle, daß mein Blut wieder rein ist – +ich werde leben können wie alle die anderen Menschen auch, ein Leben +ohne Qual und Freude, ohne Sehnsucht und ohne Erfüllung. + +Und es kamen Nächte, wo sie glaubte, daß ein brennendes Gift in all +ihren Adern fräße. Wo die Angst vor einer unnennbar grauenhaften Zukunft +sie schüttelte. Wo sie glaubte, den eigenen zügellosen Begierden +erliegen zu müssen, wehrlos jeder Dirne ausgeliefert zu sein, die aus +verbrecherischen Gründen ihre Leidenschaft weckte, wo sie sich von +Erpressern gehetzt, von Kriminalbeamten verfolgt, siech, irrsinnig, +eingekerkert oder ermordet sah. + +In einer solchen Periode grenzenlosester Verzweiflung verlobte sie sich. + +Irgendein anständiger und solider Mann bewarb sich um sie. + +Sie wußte nichts von ihm. Sie wußte nicht, wann und wo sie ihn zum +erstenmal gesehen hatte, sie wußte nicht, wie er aussah, wußte kaum +etwas von seinem Charakter oder seinen Neigungen – sie fühlte nur eines +Tages, seit einiger Zeit war immer ein Mensch neben ihr, der sich +bemühte, gut zu ihr zu sein. Jemand, der ihr sehr sorgfältig den Mantel +um die Schultern legte, sich bückte, wenn ihr etwas hinfiel, ihr Blumen +brachte, sich bemühte, ihr irgend etwas Heiteres zu erzählen, um ihr +Gesicht ein wenig zu erhellen. + +Dieser Mann wußte so angenehm wenig von ihr. Und Tante Emilie überfloß +in seiner Gegenwart von sanfter mütterlicher Freundlichkeit. Es wäre ihr +geradeso gut zuzutrauen gewesen, daß sie vor ihm bissige Bemerkungen +oder vielsagende Andeutungen gemacht hätte. + +Aber er paßte ihr wohl in ihr Programm. + +Er bedauerte Metten so unendlich, weil sie Waise war. Er schrieb all das +Weh auf ihrem blassen Gesicht der Trauer um den geliebten Vater zu. + +Manchmal wagte er es, ihre kalten Finger in seinen beiden Händen zu +halten oder sie sanft zu streicheln. Dann schloß Mette die Augen und +prüfte in Angst ihr Gefühl. + +Es ging Wärme und wohltuende Ruhe von seinen großen starken Händen aus. +Seine weiche Zärtlichkeit war eher angenehm als widerwärtig. Dann sagte +sie sich mit einer aufschimmernden Hoffnung: „Vielleicht wird noch alles +gut. Vielleicht gewinne ich es über mich, ihn zu heiraten. Ich werde +immer einen Menschen um mich haben, der gut zu mir ist, ich werde Kinder +haben, ich werde ein Heim haben, ich werde immerfort zu tun haben – +vielleicht kann man das Leben auf solche Weise noch am ehesten +ertragen.“ + +Und dann stachelte sie der unbändige Wunsch nach Rache. Es würde Olga +Radós Eitelkeit vielleicht doch verletzen, wenn sie erfuhr, daß sie so +schnell vergessen worden war. + +Der Mann war reich. Das paßte Tante Emilien, und es paßte mitunter sogar +Metten. + +Sie sah sich zuweilen in der Loge der Oper brillantenblitzend neben +diesem Mann – einem sehr hübschen, stattlichen Mann – sie sah ihn +manchmal aus solchen Gedanken heraus daraufhin an – niemand würde auf +den Gedanken kommen, daß sie ihn nicht aus Liebe geheiratet hätte – und +sah dann plötzlich Olga Radó irgendwo auftauchen. Oder sie sah sich in +einer Equipage an Olga Radó vorüberjagen – oder – am liebsten dachte +sie, sie zu treffen, wenn sie mit ihren süßen kleinen, blondlockigen, +weiß angezogenen Kindern spazieren ginge. Dann würde sie die Kinder vor +ihr zurückreißen wie vor einem giftigen Tier. Damit, ja, damit würde sie +sie am schmerzlichsten verletzen. + +Als der Mann anhielt, sagte Mette ja. Sie hatte Zeit genug gehabt, sich +an diesen Gedanken zu gewöhnen. Sie setzte selbst die Verlobungsanzeigen +auf und sorgte dafür, daß sie in verschiedene Zeitungen kamen. + +An ihrem einundzwanzigsten Geburtstag war ein kleines Gartenfest in der +Villa ihrer Schwiegereltern. Es war ein sehr heißer Sommertag, der +neunzehnte Juni, und auf Tante Emiliens Zureden zog Mette zum erstenmal +wieder ein weißes, schwarzgesticktes Kleid an. + +Alls sie draußen in der fremden Wohnung unter vielen fremden Menschen an +einem Spiegel vorüberstreifte, erkannte sie sich nicht. + +Sie erschrak und wurde den Gedanken nicht wieder los, daß sie nicht das +hübsche, weiß gekleidete Mädchen sei, was am Arm eines fremden Mannes +ihr aus dem Spiegel entgegenlächelte. + +Sie suchte sich selbst und konnte sich nicht darauf besinnen, wo sie +wohl sein könne. Aber ihr war, als sähe sie sich selbst, schmal und +schwarz wie ein Gespenst, durch große, dunkle, leere Räume wandern. Dann +war es ihr wieder, als sei sie doch dieses hier, und die andere Mette, +die so deutlich ihre Züge trug, sei eine Fremde. Traum und Wirklichkeit +begannen, sich heillos ineinander zu verschlingen, alle ihre Nerven +schienen ihr zu klirren wie losgerissene Saiten, sie sehnte sich in +Todesangst nach völliger Bewußtlosigkeit oder plötzlich hereinbrechender +Klarheit – es war wie Nebel, die vorbeizogen oder ein vorübergehender +Schwindel – eine Minute später konnte sie sich nicht besinnen, was es +eigentlich gewesen war, und konnte ihrem Verlobten, der besorgt nach der +Ursache ihrer Blässe fragte, keine Antwort geben. + +Nur das seltsame Gefühl blieb ihr den ganzen Abend, als sei dies alles +nur ein Traum oder ein Spiel. Die ganze Verlobung eine scherzhafte +Komödie, und jeden Moment könne, wie ein gestrenger Regisseur, ein +Schicksal hervortreten und sagen: „Genug! Die Wirklichkeit fängt wieder +an!“ – – – + + * * * * * + +Am zwanzigsten Juni morgens wurde Mette ans Telephon gerufen. + +Eine dünne Männerstimme sprach aus dem Hörer, seltsam verhalten und +zögernd. + +„Ist das gnädige Fräulein selbst am Apparat? – Mette, sind Sie es? +Verzeihung, wenn ich störe – ich hätte dich gern gesprochen!“ + +Mette fühlte, wie ihr Herz sich losriß und in einen unermeßlichen +dunklen Abgrund stürzte. + +„Peterchen?“ sagte sie und erquälte ein Lächeln, ohne daran zu denken, +daß niemand ihr Gesicht sehen konnte. Und keiner hätte dem bebenden Ton +ihrer Stimme dies Lächeln anhören können. + +„Ja ... könnte ich dich sprechen, Mette? Das heißt ...“ Wieder war dies +scheue Zögern in der Stimme. „Wenn du willst, natürlich ... ich weiß ja +nicht, wie weit du noch Interesse hast für deine alten Freunde.“ + +„Selbstverständlich,“ sagte Mette fest, „jederzeit kannst du mich +sprechen ... wann und wo du willst.“ + +Sie fragte nicht, was geschehen sei. Sie wollte nicht fragen. + +„Ich kann doch nicht gut kommen ...“ Wieder dieser zaghafte Ton. „Und +ich möchte auch nicht gern auf der Straße ... oder im Kaffeehaus ... es +geht wirklich nicht ...“ + +„Ich komme zu dir,“ sagte Mette rasch. „Sag’ mir nur, wo du wohnst!“ + +„... ja ... aber ... geht denn das? ... Schließlich ... wenn du nachher +Unannehmlichkeiten hast ... du bist verlobt ...“ + +„Blödsinn!“ sagte Mette schroff. – – – + + * * * * * + +Während sie über die Straße lief, dachte sie mit keinem Wort an das, was +geschehen war. Sie wollte es vor sich selber nicht aussprechen. +„Vielleicht ist Olga krank und hat Sehnsucht nach mir,“ dachte sie. +„Vielleicht weiß sie auch nichts davon, und Peterchen ruft mich aus +eigenem Antrieb.“ + +Sie malte sich aus, daß sie Olga sehen würde, daß sie ihre Hand halten +würde – und sie sagte sich dabei: „Das erzähle ich mir vor, wie man +einem fiebernden Kinde Märchen erzählt. Ich male es mir mit den +schönsten Farben aus und glaube so wenig daran, wie man an Feen und +Zauberer glaubt.“ + +Aber es war besser, Märchen zu erzählen, Wiegenlieder zu singen, als +nach der Stimme zu hören, die ganz tief in ihr die Wahrheit schrie. + +Es war seltsam, daß sie – ohne sich umzusehen – die Straße und das Haus +fand, so, als wäre sie hundertmal dagewesen. + +Als sie klingelte, stand Petermann schon auf der Diele. Das ersparte ihr +jede Fragerei. Sie spürte auch jetzt, dem Dienstmädchen gegenüber, dem +ersten Menschengesicht, das sie bemerkte, daß sie dazu kaum imstande +gewesen wäre. + +Er nahm sie bei der Hand und zog sie wortlos, an dem erstaunten Mädchen +vorüber, in eine offene Zimmertür. + +Er schloß die Tür und sagte währenddessen, ohne sie anzusehen: + +„Setz dich doch, Mette!“ + +Das erste, was Mette in dem Zimmer sah, war auf der dunklen Platte des +Schreibtisches die goldene Zigarettendose. + +Ein Sonnenstrahl blitzte darauf. + +Sie wollte sich beherrschen. Es war, als ob sie beide Hände um die Zügel +krampfte, um sich zu halten. + +Aber als Petermann sich ihr zuwandte und sie sah, wie seine Hände +hilflos waren, wie sein kleines, weißes Gesicht zitterte, wie mühsam er +um Fassung kämpfte – da zerbrach die ihre. Sie fing an zu weinen. + +Peterchen setzte sich neben sie und streichelte eine Weile schweigend +ihre Hände. + +„Weine nur,“ sagte er schließlich mit zitterndem Kinn, während die +Tränen aus seinen Augen stürzten. „Weine nur, sie war es wert, daß um +sie geweint wird, das kannst du mir glauben ...“ + +„Dir glauben?“ sagte Mette mit herzzerreißender Bitterkeit. Sie legte +das Tuch über die Augen und stützte den Kopf in die Hand. + +Ihre andere Hand streichelte zuckend über die seine. + +„Und nun sag’ mir alles, Peterchen – du siehst, ja, daß ich ganz ruhig +bin – ganz, ganz ruhig. Wann geschah es? ... und wie ... und warum? ... +Sag’ mir alles, alles, was du weißt ...“ + +„Du solltest es nicht wissen, Mette. Nicht vor deinem einundzwanzigsten +Geburtstag. Der war gestern, nicht wahr? Ich habe ihn hier auf dem +Kalender vermerkt – aus einem anderen Grunde ... das muß ich dir alles +noch erzählen ... ich hatte einen Auftrag an dich ... aber ich hatte +natürlich keine Ahnung ... man ist ja manchmal wie mit Blindheit +geschlagen.“ + +Mette hob einen Augenblick den Kopf: + +„Sie hat es selbst getan.“ + +Es lag keine Frage in dem Ton. + +„Ja.“ + +„Erschossen.“ + +„Ja.“ + +Sie deckte das Tuch wieder über die Augen. + +„Weiter.“ + +„Sie war einmal krank im Frühjahr, es war eine leichte Influenza. Sie +fieberte ein bißchen, da saß ich drüben bei ihr, und sie sprach in +einemfort von Tod und Begräbnis, ganz heiter und ausgelassen, wie es +ihre Art war. Du weißt ja, man wußte nie, ob es Scherz oder Ernst bei +ihr war. Da sagte sie noch: Peterchen, wenn ich jetzt sterbe, dann sorge +dafür, daß es geheim bleibt. Es soll in keine Zeitung, kein Mensch soll +es wissen. Auch die Mette nicht. Am liebsten wär’ es mir, du streutest +meine Asche ins Meer oder wenigstens in den Wannsee. Aber das erlaubt +der Staat, glaub’ ich, nicht. Nur mach schnell, daß der Rest verbrannt +wird. Ich will kein Gfrett haben mit meinem Leichnam, ich will’s nicht. +Ich bin nicht drin, merkt’s euch. Nicht eine Minute länger, als +unbedingt nötig, halt ich mich in dem Kadaver auf.“ + +Metten war, als höre sie Olga reden. So deutlich hörte sie ihre Stimme, +daß ihr Herz sich mit einer innigen Freude füllte und sie lächelte. + +„Ich hab’ damals auch gelacht,“ sagte Peterchen wehmütig, „da wurde sie +ganz ernst und richtete sich auf und sah mich an. Du weißt ja, wie sie +einen ansehen konnte mit so gewaltsamen Augen und sagte: + +‚Es ist mein heiliger Ernst. Versprich es mir, gib mir dein Ehrenwort!‘ +Ich versprach es ihr auch, aber ich sagte noch: + +‚Du bist ja verrückt, in drei Tagen bist du doch wieder gesund.‘ + +Sie _war_ ja auch in drei Tagen wieder gesund.“ + +Er schwieg. Irgendwo tickte eine Uhr und Fliegen stießen surrend gegen +das Fensterglas. + +Irgend etwas erfüllte Metten ein paar Sekunden lang mit Beruhigung und +Freude. Eine unklare Empfindung: wie gut, daß Olga in ein paar Tagen +gesund geworden war. Es steckte so viel kraftvolles Leben in diesem +schönen Körper. + +Dann schlug ihr das Jetzt wie eine geballte Faust aufs Herz. + +Und jetzt? Und jetzt? + +Sie mußte ein paarmal ansetzen, um das furchtbare Wort auszusprechen. + +„Habt ihr sie schon begraben?“ fragte sie ganz leise. + +„Sie ist verbrannt worden. Die Urne ist nach Wien gekommen. Ihre +Schwester lebt jetzt da.“ – + +„Hat sie hier gewohnt zuletzt?“ + +„Um die Ecke, zwei Häuser von hier.“ + +„Und da ist es auch geschehen?“ + +„Ja.“ + +„Kann man ...“ Mette schluckte ein paarmal, „kann man nicht das Zimmer +sehen?“ + +Petermann hob zögernd die Achseln: + +„Wozu? Es ist alles umgestellt. Nichts von ihren Sachen mehr da. Es ist +auch schon wieder vermietet.“ + +Mette sank in sich zusammen. „Es ist gut so,“ sagte sie leise, „es ist +auch ganz gut so.“ + +Sie hatte ein eigenartiges Empfinden. Es war wie eine Wohltat, daß jede +Form zerstört war, die dieser Geist geschaffen hatte. Nicht einmal ein +Zimmer war mehr auf der Welt, das diese Hände, dieser Sinn geordnet +hatten und in das ein Teil ihres Wesens gebannt geblieben wäre. Metten +war halb unbewußt so zumute, als hätte man durch das Umrücken von +Möbelstücken Steine aus einer Kerkerwand gebrochen. + +Nun war Olga Radó ganz frei. + +Ein leiser Windhauch bewegte den offenen Fensterflügel und hob die +Gardine. Eine süße weiche Kühle strich über Mettens brennende Augen. Sie +lächelte. + +„Es ist gut so!“ sagte sie noch einmal. + +Sie wußte plötzlich, daß Olga ihre Briefe nicht erhalten hatte. Sie +hätte nicht danach zu fragen brauchen. + +Aber Peterchen wär schließlich der einzige Mensch, an dessen Meinung ihr +noch ein wenig gelegen war. Sie hatte das Gefühl, sich vor ihm +rechtfertigen zu müssen. + +„Ich habe dreimal an Olga geschrieben!“ sagte sie. + +„Ich habe es mir beinah gedacht,“ sagte Peterchen mit trübem Lächeln. +„Sie hat nie eine Zeile erhalten.“ + +„Du wüßtest es sonst?“ + +„Selbstverständlich. Wir haben doch oft genug über dich gesprochen.“ + +„Habt ihr? Was?“ + +Während Petermann sprach, hatte Mette die seltsame Empfindung, als +durchlebe sie in diesen wenigen Minuten mit stärkster Intensität das +letzte halbe Jahr ihres Lebens. So, als wäre damals, an jenem +unglückseligen Morgen der Faden des Gewebes abgerissen und mühsam, Tag +um Tag, ein Muster, das nicht passen wollte, angestückelt. Nun trennte +das falsche Gewebe sich, rückwärts laufend, blitzschnell von selber auf +– ein Knoten wurde geknüpft, wo der Faden abgerissen war, und die +wirkliche Zeichnung lief weiter, ein wenig verkürzt, ein wenig matt in +den Farben – aber sie lief weiter und gab eine Brücke zum heutigen Tag +und den Tagen, die kommen sollten. + +„Was habt ihr von mir gesprochen?“ + +„O viel ... Ich habe ihr sooft zugeredet, an dich zu schreiben, +irgendwie eine Verbindung mit dir zu suchen. Sie hatte die Überzeugung, +es nicht tun zu dürfen. Du weißt ja, wie halsstarrig sie war. Manchmal +hatte ich die Absicht: ich telephoniere dir oder ich lauere dir irgendwo +auf – gegen ihren Willen. Einmal hab’ ich ihr das auch gesagt. Da hat +sie mich angefunkelt mit ihren großen Augen: ‚Wenn du dich das +unterstehst, ist es aus mit unserer Freundschaft, für ewige Zeiten aus. +Willst du das arme Kind auch noch zugrunde richten?‘ + +Sie glaubte immer, du wärest glücklich, und es ginge dir gut. Ich war +der Meinung, du müßtest erfahren, was vorgeht. Ich hab’ so gekämpft, du +glaubst es nicht. Einmal hab’ ich dir eine Stunde lang Fensterpromenade +gemacht. Ich dachte immer, wenn ich dich sprechen würde, wir würden +irgendeinen Ausweg finden. Ich dachte immer, es würde noch alles gut. +Dann hast du dich ja verlobt. Ja, da mußte ich ihr ja schließlich recht +geben.“ + +„Oh, du Idiot!“ sagte Mette und lachte unter hervorstürzenden Tränen. + +„Ich weiß den Tag noch so genau. Olga kam zu mir herüber, am frühen +Morgen schon. Sie hockte hier neben mir auf dem Sessel und rauchte eine +Zigarette nach der anderen. Eine halbe Stunde lang sprach sie kein Wort. +Ich saß hier am Schreibtisch und tat so, als ob ich arbeitete. Ich hatte +die Zeitung weggeschoben, als ich sie kommen hörte. Aber wie sie so +dasaß, da wußte ich: sie weiß es schon. Und sie wußte, daß ich es wußte, +aber keiner wollte anfangen, davon zu sprechen. Wie sie dann schließlich +anfing, sagte sie immerfort: ‚Ich bin so glücklich. Ich bin ja so froh.‘ +Und sie verlangte von mir, daß ich mich freuen sollte. Wir gingen am +Abend eine Flasche Wein zusammen trinken. Sie zwang mich direkt dazu. +Wir müßten doch auf deine Zukunft trinken. Ich seh’ sie noch immer am +Tisch sitzen und das Weinglas drehen. Sie hatte so ein merkwürdiges +Lächeln den ganzen Tag. Und dann sagte sie immer wieder: ‚Die kleine +Mette wird heiraten. So gut ist das. So gut. Unsere kleine Mette wird +Kinder haben, lauter Jungens, denen geht’s immer gut.‘ – Dann wollte sie +immer wieder von mir hören, daß ich es gut fände, daß ich mich freute. +Und ich muß sagen – wie die Dinge lagen – es war ja auch wohl das Beste +... aber von dem Tage an hatte sie eine nervöse Angst, dir irgendwo zu +begegnen. Manchmal, wenn sie etwas zu besorgen hatte, bat sie mich +darum. Manchmal saß sie vor mir, blaß und mit gefalteten Händen: ‚Bitte, +bitte, Peterchen, ich kann nicht nach dem Kaufhaus gehen.‘ Die letzten +acht bis zehn Tage hat sie überhaupt ihr Zimmer kaum mehr verlassen. Sie +telephonierte mich an, ich sollte rüberkommen, sie wollte nicht auf die +Straße. Aber das hatte wohl auch noch einen anderen Grund ...“ + +„Was für einen?“ fragte Mette, nachdem er eine ganze Weile schweigend +aus dem Fenster gesehen hatte. + +Er warf einen raschen und gleichsam prüfenden Blick auf sie. + +„Du weißt es nicht?“ sagte er wie erleichtert. „Nicht wahr, du weißt +nichts davon ... ich hab’ es auch eigentlich nie anders angenommen ... +Sie haben sie beobachten lassen ... deine Leute. Wo sie ging und stand +war ein Detektiv hinter ihr her. Oh, und sie litt so wahnsinnig +darunter.“ + +„Warum nur?“ fragte Mette mit verlorenen Augen, „warum haben sie denn +das getan? Sie hatten mich doch in der Hand. Sie wußten doch, wo ich +jede Stunde des Tages zubrachte.“ + +„Sie fürchteten wohl ... vielleicht dachten sie, wenigstens damals ... +im Anfang, vor deiner Verlobung, du könntest in deinen Entschlüssen +wankend werden ... oder sie könnte versuchen, dich wieder zu +beeinflussen, sie wollten ihr irgend etwas nachsagen können, um sie als +lästige Ausländerin ausweisen zu lassen. Herr von Seyblitz hat ihre +ganzen Schulden aufgekauft. Das wußtest du auch nicht, nicht wahr? Sie +haben sie so in die Enge getrieben ... täglich kamen Briefe von +Rechtsanwälten, vom Gericht ... Sie hat sie nachher nicht mehr +aufgemacht ... Sie ließ sie auf dem Schreibtisch sich anhäufen. Ich +sagte manchmal: Kind, das geht nicht, du mußt antworten, du mußt +hingehen, du mußt Entschlüsse fassen ... Dann lächelte sie so unendlich +melancholisch: ‚Ich habe meinen Humor nicht mehr, Peterchen, ich bin alt +und müde. Mir ist das gar ka’ Hetz mehr.‘ Und sie zeigt so mit einer +Handbewegung auf die Papiere. + +Es kamen auch Drohbriefe – so gemein – sag’ ich dir. Mit Ausdrücken, die +man nicht wiederholen kann. Von deiner Tante Emilie, glaub’ ich. Aber +so, als wären sie in deinem Sinne geschrieben. Du wüßtest nun, wes +Geistes Kind sie wäre, und sie sollte jeden Annäherungsversuch +unterlassen und nicht versuchen, ihre Erpressungen an dir fortzusetzen. +Es wäre ja genug, daß sie dich zu Diebstahl und Einbruch verführt hätte, +daß sie deine Gesundheit untergraben hätte, daß sie den Tod deines +Vaters verschuldet hätte – ach, und was weiß ich. Und dann Dinge, die du +über sie gesagt haben solltest ... es muß Furchtbares gewesen sein; denn +sie wollte es selbst mir nicht sagen oder zeigen. + +Sie saß mir gegenüber, ganz weiß im Gesicht und mit glühenden Augen und +hielt mich am Handgelenk gepackt, daß ich dachte, sie zerbricht mir die +Knochen und sagte immer wieder: ‚Davon weiß die Mette nichts, nicht +wahr, Peterchen? Davon weiß die Mette nichts?‘ + +Und dann ein andermal wieder sagte sie: + +‚Wie können Menschen nur so wahnsinnig grausam sein. Sie haben doch +direkt ihren Spaß daran, mich langsam zu Tode zu quälen. Sie machen +einen Kranz von glühender Kohle um mich her – wo ich mich nach einem +Ausweg wende, sperren sie zu, bloß um zu beobachten, wie ich mich +gebärde, wenn sie mich glücklich bis zur Raserei gebracht haben.‘ Ich +weiß noch, dabei rannte sie hier im Zimmer auf und ab und ich dachte +wirklich, die Wände werden ihr zu enge, sie ist wie ein gefangenes +wildes Tier. Ich sagte noch: Du kannst doch dem allen entgehen. Du +kannst doch nach Hause reisen. Da wurde sie ganz ruhig und sagte: ‚Ja, +ich kann dem allen entgehen. Ich kann abreisen. Ich kann nach Hause +reisen!‘ + +Damals fiel mir ihr Ton nicht auf. Jetzt, wenn er mir wieder im Ohr +klingt, begreife ich nicht, daß ich sie nicht verstanden habe. Von der +Zeit an sprach sie oft von der Reise. ‚Am zweiundzwanzigsten Juni fahre +ich nach Hause.‘ Das war ihre ständige Rede. Ich fragte sie einmal, +warum sie gerade diesen Tag festgesetzt hätte. Da lachte sie und sagte: + +‚Weil es drei Tage nach dem neunzehnten ist.‘ Ich dachte wohl darüber +nach. Aber der Zusammenhang wurde mir damals nicht klar ... + +Aber dann nach deiner Verlobung wurde das anders. Sie sagte plötzlich: +wenn ich reise – nächste Woche ... oder übermorgen. Ich neckte sie noch +und sagte: Nanu? Bist du deinen Vorsätzen untreu geworden? Ich denke, du +fährst erst drei Tage nach dem neunzehnten Juni?! Da sieht sie mich so +rätselvoll an und schüttelt den Kopf und sagt: ‚Ach nein, Peterchen, +_darauf_ brauche ich nun nicht mehr zu warten!‘ + +Am Abend des ... an einem Montagabend, kam sie plötzlich her, wie es mir +vorkam, in einer gewissen heiteren Erregung. Sie legte das +Zigarettenetui hier auf den Schreibtisch, hier, wo es noch liegt – und +sagte zu mir, ich solle ihr den Gefallen tun und es in deine Hände +gelangen lassen. Sie wollte reisen und wäre schon am Packen. Wenn sie es +dir schickte, würde man es wahrscheinlich als Erpressungsversuch deuten. + +Ich sollt’ es dir geben, wenn sie fort wäre. Erst an deinem Geburtstag. +Und sie verlangte, ich sollte mir den Tag im Kalender ankreuzen. Ich +sagte, ich behalt es so. Aber sie schlug das Datum in meinem Kalender +auf und zeichnete es selbst ein.“ + +Er schlug mit einer fast andächtigen Bewegung das letzte Blatt zurück +und schob Metten den Kalender hin. + +Auf dem weißen Blatt stand unter den neunzehnten Juni in Olgas großer +schöner Handschrift langsam, sorgfältig hingezirkelt: + +Mettes Geburtstag. Nicht vergessen, Peterchen! – Und darunter waren drei +Kreuze hingemalt, kleine, schwarze, spielerische Tintenkreuze. + +Mette sagte nichts. Sie legte die flache Hand auf das Blatt und nahm sie +nicht wieder herunter. + +Peterchen räusperte sich ein paarmal, dann sprach er weiter: + +„Eh’ sie hinüberging, verabredeten wir alles für den andern Tag. Wir +wollten uns vormittags nach den Zügen erkundigen, abends wollte ich sie +an die Bahn bringen. Wie sie fort war, wurde ich so unruhig. Irgend +etwas schien mir nicht zu stimmen, ich wußte nicht was. Ich versuchte, +hinüber zu telephonieren, bekam keine Verbindung. Ich saß hier am +Schreibtisch in einer ganz unbeschreiblichen Nervosität. Das Ding lag +vor mir,“ er nahm das Etui in die Hand, „ich nehm’ es auf, ganz in +Gedanken. Plötzlich fiel mir ein – verzeih’ mir, Mette, wenn es +indiskret war, aber ich war in einer so peinigenden Unruhe, plötzlich +fiel mir ein, es aufzumachen. Es war halb Spielerei und halb die Ahnung, +daß ich irgend etwas finden könnte, irgend etwas Aufklärendes. Wie ich +das Ding aufknipse,“ er tat es, „find’ ich diesen Zettel darin.“ + +Er gab es Metten in die Hand. Unter die Bänder, die die Zigaretten auf +der goldenen Fläche festhalten sollten, war ein Blatt Papier geschoben, +darauf stand in Olgas unverkennbarer Handschrift: + +„_Qui vivens laedit, morte medetur!_“ + +„_Qui vivens laedit, morte medetur!_“ wiederholte Petermann. „Ein +paarmal las ich das wie ein Blödsinniger, ohne etwas zu begreifen, dann +stürzte ich hinunter. Ohne Hut, ohne Schlüssel. Unten war das Haus +verschlossen. Ich klingelte dem Portier. Er kam nicht sofort. Ich raste +die Treppen wieder hinauf, um mir die Schlüssel zu holen. Ehe ich das +Haus aufschloß, eh’ ich über die Straße kam, eh’ ich drüben den Portier +rausklingelte – das dauerte alles Ewigkeiten. Auf der Treppe begegnete +mir das Mädchen, das mich holen sollte. Schreiend und schluchzend. Da +war es schon geschehen.“ + +Mette legte die Stirn auf die Kante des Schreibtisches. Es wurde kein +Laut hörbar. Petermann strich ein paarmal mit zitternden Fingern über +Mettens Haar. + +„Ich muß dir noch etwas erzählen,“ sagte er leise, „Sie hat ganz in +deinen Blumen gelegen – vielleicht tut dir der Gedanke wohl. Du weißt +doch, damals – als ihr euch trenntet – du liefst weg und deine Leute dir +nach, ich hatte den Wortwechsel ja von draußen so halb und halb mit +angehört – ich ging nach einer ganzen Weile in mein Zimmer – da stand +Olga noch immer mitten im Zimmer, an den Tisch gelehnt. Und wie ich +hereinkomme, sieht sie mich an, als wecke ich sie aus dem Schlaf. Ich +nehme sie an beiden Armen und rüttle sie. Was ist denn geschehen, Olga? +Was hast du denn der Mette getan? Sie sieht mich ganz verstört an und +sagt immer wieder: Ich habe etwas Furchtbares getan, oh, Gott, +Peterchen, ich habe etwas Furchtbares getan. Sie hatte dich ganz formell +fortgeschickt, nicht wahr? Hatte gesagt, du solltest sie nicht mehr +belästigen oder so etwas, nicht wahr? + +Dann sagte sie wieder: es wäre zu deinem Besten, sie hätte dich +fortschicken müssen, es wäre verbrecherischer Egoismus, dich zu halten. +Ich sah, wie aufgeregt sie war und stimmte ihr zu, wenigstens halb und +halb. Ich war ja doch im Grunde etwas erbittert auf sie. Ich sagte, +glaub’ ich, Tante Emilie hätte alle Ursache, ihr dankbar zu sein. + +Da nahm sie mich plötzlich bei der Hand und sagte ganz ruhig: ‚Ich lüge +ja, Peterchen, ich lüge ja. Es war ja nichts wie hundserbärmliche +Feigheit. Aber Mette mußte das wissen, sie kannte mich doch. Ich hätt’ +mich auf die Schienen gelegt, oder ich wär’ aus dem Fenster gesprungen, +aber ich kann mir nicht von solchen Leuten die Kleider vom Leibe reißen +lassen, ich kann es nicht, ich kann es nicht. Ich weiß, ich bin +erbärmlich und verächtlich, aber ich kann es nicht, ich kann es nicht.‘ +Und immer wieder: ‚Ich kann es nicht!‘ Ich fragte sie, was du +geantwortet hättest. Da wurde sie ganz blaß und sagte: ‚Nichts hat sie +geantwortet. Nicht ein Wort. Das ist ja das Furchtbare. Sie stand meiner +Gemeinheit so wehrlos gegenüber.‘ + +Sie hatte dann noch eine Auseinandersetzung mit der Flesch. Die Flesch +hat sich nebenbei noch unglaublich benommen. Olga wollte keine Stunde +länger in dem Hause bleiben. Was ich ihr auch gar nicht verdenken +konnte. Sie ging dann hinüber, um ihre Sachen zu packen. Nach einer +Weile kommt sie und packt mich am Handgelenk und zieht mich in ihr +Zimmer. + +‚Da hast du ihre Antwort,‘ sagt sie und zeigt mir das ausgestreute Geld. +‚Sie kann antworten. Wir haben sie unterschätzt.‘ Oh, Mette, warum hast +du das nur getan? Wenn ich ehrlich sein soll – ich war damals furchtbar +böse auf dich! Sie sagte immer: ‚Was tue ich nur? was tue ich nur?‘ Ich +sagte: du packst das Geld in ein Kuvert und schickst es hin, ohne ein +Wort dazu. Aber sie schüttelte nur den Kopf. ‚_Die_ Ohrfeige hab’ ich +verdient, Peterchen,‘ sagte sie schließlich, ‚die muß ich ganz ruhig +hinnehmen.‘ Sie suchte die Scheine zusammen, beinahe liebevoll, möcht’ +ich sagen, und sagte ein paarmal ganz leise: ‚Der Kindskopf! sie hat ja +nicht gewußt, was sie tut! sie hat ja nicht gewußt, was sie tut!‘ Dann +gab sie mir das Bündel Scheine. ‚Heb’ mir das auf, Peterchen. Vielleicht +kommt einmal eine Zeit, wo ich es nötig brauche, und vielleicht ist es +mir dann eine Freude zu wissen, daß es von Metten kommt.‘ + +Ich habe sie in der letzten Zeit so oft daran erinnert, wenn sie vor +Sorgen buchstäblich nicht mehr aus noch ein wußte. Aber sie schüttelte +nur immer den Kopf und sagte: ‚Noch nicht, noch nicht!‘ + +Als sie ... tot war,“ die Stimme brach ihm, „da hab’ ich weiße Orchideen +gekauft, für das ganze Geld und hab’ sie überschüttet damit. Das sah aus +wie ein Märchen.“ + +Er kam nicht weiter. Die Lippen zitterten ihm, die Tränen stürzten über +sein Gesicht. + +Nach einer langen, langen Stille richtete Mette sich ruhig auf, mit +trockenen Augen. + +Neben dem Etui auf dem Schreibtisch lag eine Waffe. + +„Das ist der Revolver?“ fragte Mette und griff danach. + +„Ja.“ + +„Gib ihn mir,“ sagte sie und legte die Hand fest um den Griff. + +Petermann machte eine erschrockene Bewegung. + +Mette schüttelte langsam den Kopf. + +Petermann sah ihr in die Augen, dann zog er zögernd die ausgestreckte +Hand zurück. + +„Ich will ihn nicht behalten,“ sagte er, „er liegt da wie eine ständige +Versuchung. Und nicht jeder hat eine so sichere Hand wie Olga Radó. Du +hast ein Recht darauf. Natürlich. Aber ich möchte nicht, daß du ihn +behältst. Versprich mir etwas, Mette – gib ihn dem Mann, den du liebst. +Dann ist er in den besten Händen.“ + +Sie war aufgestanden. „Ich verspreche es dir,“ sagte sie fast feierlich, +„ich will ihn dem Manne geben, den ich liebe.“ + +„Schwöre mir, daß du keine Dummheiten machen wirst ... auch nicht +leichtsinnig oder fahrlässig damit umgehen.“ + +„Ich schwöre es dir,“ sagte Mette. „Wobei nur? Ich kann dir doch nicht +bei meinem Leben schwören, daß ich mich nicht erschieße. Ich schwöre es +dir bei meiner ewigen Seligkeit. Und bei Olga Radós zehntausendfach +geheiligtem Gedächtnis.“ + +Irgend etwas in ihrem Ton machte ihn betroffen. Er stand langsam von +seinem Stuhl auf, wie um seine forschenden Augen den ihren zu nähern. + +„Sag mir, Mette,“ sagte er zögernd, „ich möchte nicht, daß ich mir +Vorwürfe machen müßte. Ich möchte nicht, daß das, was ich dir erzählt +habe, dich in deinen Entschließungen beeinflußt.“ + +Mette umschloß seine ausgestreckten Finger mit einem kurzen festen +Druck. In der leichten Bewegung, mit der sie die Brust hochreckte und +mit der Hand über die Hüfte strich, lag eine aufs äußerste gespannte +Kraft. + +„Ich schwöre dir,“ sagte sie, „daß von dieser Stunde an nichts und +niemand mehr mich in meinen Entschließungen beeinflussen kann.“ – – – + + * * * * * + +Mette ging nicht direkt nach Hause. In wenigen Sekunden tauchten Pläne +in ihr auf, formten sich zu Entschließungen. Nichts schwankte hin und +her, eh’ es Gestalt annahm, alles trat mit einem Schritt aus der +Verborgenheit ans Licht und stand unumstößlich fest. + +Sie ging zu einer Speditionsfirma und zu dem Wirt des Hauses, in dem sie +lange Jahre gewohnt hatten. Es gab eine Zeit, wo sie sich vor solchen +Gängen gefürchtet hätte. Jetzt fühlte sie, daß nie im Leben jemand ihr +derlei Unannehmlichkeiten abnehmen würde. + +Es tat fast wohl, sich solche winzigen Lasten aufzuladen und die eigene +Kraft zu spüren, wenn man sie spielend trug. + +Es tat wohl, entschlossen zu sein, mit Umsicht Anordnungen zu treffen, +mit Überlegung Unterhandlungen zu führen. + +Als sie in ihrem Zimmer den Hut in den Schrank legte, streifte ihre Hand +das schwarze Kleid, das sie zu ihres Vaters Begräbnis getragen hatte. +Einen Augenblick fühlte sie den Wunsch, es anzuziehen, das stumpfe +Düster des Krepps an sich zu sehen, an sich zu fühlen. + +Aber sie straffte sich auf. „Unsinn!“ sagte sie halblaut, biß die Zähne +aufeinander und schloß den Schrank. + +Sie ging in ihres Vaters Studierzimmer, setzte sich an den Schreibtisch +und schrieb verschiedene Briefe, an den Rechtsanwalt, an die Bank. + +Nach einer Weile kam das Mädchen herein: + +„Das gnädige Fräulein läßt Fräulein Mette zu Tisch bitten.“ + +Mette hob den Kopf nicht. + +„Sagen Sie dem gnädigen Fräulein, ich käme nicht zu Tisch, ich hätte +schon gegessen. Aber ich lasse das gnädige Fräulein bitten, nach dem +Essen herzukommen.“ + +Das Mädchen stand eine Weile mit offenem Mund in der Tür. Aber als Mette +sich nicht rührte, nichts hinzufügte, nichts widerrief, nur weiter die +Feder eilig über das Papier rascheln ließ, trollte sie davon. + +Nach einer Weile erschien Tante Emilie, sichtlich unentschlossen, ob sie +empört oder liebenswürdig sein sollte. + +Mette legte die Feder aus der Hand und gab ihrem Stuhl eine leichte +Wendung. + +„Bitte nimm Platz,“ sagte sie in einem Ton, so geschäftlich, eilig, fest +und undurchdringlich höflich, daß dieser Ton allein schon Tante Emilien +in einen Abgrund von Verwirrung stürzte und ihr jede Redemöglichkeit +nahm. + +„Verzeih, wenn ich dir deinen Nachmittagsschlaf kürze, aber ich habe mit +dir zu reden, und zwar Dringliches.“ + +Mette nahm das Falzbein, drehte es, bog es, schlug damit auf die +ausgestreckten Finger und sah diesem Spiel angelegentlich zu, während +sie sprach. + +„Du wirst dich rasch entscheiden müssen, wo du hinzugehen gedenkst, ich +reise ...“ + +„Du?“ + +„Ich reise. Der Haushalt wird aufgelöst. Die Wohnung wird vermietet. +Newes entbindet mich vom Vertrag. Ich habe schon mit ihm gesprochen. Die +Sachen kommen auf den Speicher. In den nächsten Tagen schon. Ich fange +heut’ schon an. Morgen kommen die Packer. Du wirst der Kramerei sicher +gern aus dem Wege gehen wollen. Ich empfehle dir, in ein Hotel oder in +eine Pension zu gehen, bis du dich endgültig entschieden hast. Wenn du +heut’ nachmittag die Mädchen brauchst zum Packen deiner Sachen, sie +stehen zu deiner Verfügung. Ja, und – ich möchte nicht, daß dir durch +meine Entschließungen ein pekuniärer Nachteil entsteht. Am liebsten wäre +es mir, wenn du deine Wünsche schriftlich formulierst und an Rosenbaum +gibst. Ich habe ihm schon diesbezüglich geschrieben.“ + +Mette legte das Falzbein hin. + +„Ja, das wäre wohl alles!“ Sie stand auf und stützte beide Hände hinter +sich auf den Schreibtischrand. + +„Also, wenn wir uns nicht mehr sehen sollten, Gott befohlen, und laß es +dir recht gut gehen.“ + +Tante Emilie stand auf mit zitternden Knien, und ihr Gesicht spielte in +allen Farbentönen vom Zitronengelben ins Aschgraue. + +„Und ... und Alfred?“ fragte sie, mit vergeblichem Bemühen, eine süße +rührende Weichheit in ihren scharfen Ton zu legen. + +„Wie? Wer?“ Mette kniff die Augen zusammen, als müsse sie sich besinnen. +„Ja so, nein, danke. Da brauchst du keinerlei Mitteilung zu machen. Ich +werde alles Erforderliche selbst besorgen.“ + +„Mette!“ sagte Tante Emilie feierlich. „Wenn das dein seliger Vater +wüßte! Ich habe dich von deinem ersten Tag an behütet und gepflegt, und +zum Dank wird man so vor die Tür gesetzt ...“ + +Mette griff wieder nach dem Falzbein. + +„Ich habe schon an Rosenbaum geschrieben, daß von meinem Vermögen +fünfzigtausend Mark an dich übergehen. Mit dem, was du hast und mit dem, +was dir von Vater kommt, kannst du dann ganz deiner Bequemlichkeit +leben. Ich will morgen vormittag hingehen und ihm die nötigen +Vollmachten geben.“ + +„Mette,“ sagte Tante Emilie mit gesteigertem Pathos. „Ich habe dich vor +einem entsetzlichen Schicksal behütet. Das solltest du mir auf Knien +danken!“ + +„Gewiß, gewiß,“ sagte Mette und verzerrte ein wenig den Mund. „Ich werde +Rosenbaum schreiben: Hunderttausend.“ + +Da wandte sich Tante Emilie und rauschte hinaus. + +Mette packte die Sachen in fieberhafter Eile, wie auf der Flucht. Sie +arbeitete Tag und Nacht und ließ sich von niemandem helfen, auch von +Peterchen nicht und von mir nicht. + +Aber am Abend, als sie reiste, holten wir beide sie aus der Wohnung ab +und brachten sie an die Bahn. + +Die Wohnung war leer und dunkel. Alle Möbel fort. Die Kronen abgenommen, +die Fenster ohne Gardinen. Hie und da starrte ein Spiegelhaken trostlos +aus der nackten Wand oder ein Fleck der Tapete zeigte die Form eines +Bildes, das lange Jahre da gehangen hatte. Ein großer Koffer, ein wenig +Handgepäck standen mitten in dem leeren Raum. Mette hatte eine brennende +Kerze auf dem Fensterbrett festgeklebt. Das gab ein seltsames +flackerndes Halblicht. Unsere Schatten glitten groß und verbogen an Wand +und Decke entlang. + +Peterchen sah immerfort nach der Uhr. + +„Ist es nicht Zeit, daß ich nach einem Wagen gehe?“ fragte er unruhig. + +Mette hob die Hand. „Laß doch! Wir haben noch endlos Zeit. Was sollen +wir auf dem Bahnsteig? Und was schadet es, wenn ich den Zug versäume? +Ich lauf’ ja niemandem nach. Und mir läuft niemand nach. Dann fahr’ ich +eben morgen früh.“ + +„Ach ja,“ sagte Peterchen erleichtert, „das wäre mir überhaupt viel +lieber. Ich verstehe gar nicht, wie man so in die Nacht hineinfahren +kann.“ + +„Ich fahre ja in den Morgen hinein,“ sagte Mette mit leisem Lächeln. „In +ein paar Stunden kommt die Dämmerung. Außerdem lieb’ ich die Nacht. Wer +die Sterne liebt, muß auch die Nacht lieben. Sag, Peterchen, hast du +eigentlich schon einmal daran gedacht, daß sie am Tage auch da sind? +Genau so fern und so nah wie des Nachts. Manchmal such’ ich sie am +sonnenhellen Himmel – ich fühle ganz genau – da steht der, und da steht +der, und dann kann ich in der Dämmerung ganz ungeduldig werden, bis sie +endlich sichtbar sind.“ + +„Das hast du auch von ihr,“ sagte Peterchen wehmütig, „diese verrückte +Sternenliebe.“ + +„Ja,“ sagte Mette, und ihre tiefe Stimme klang wie eine Glocke, „was +hab’ ich _nicht_ von ihr? Alles. Und alle Liebe ganz gewiß. Himmel und +Erde sind voll von Dingen, an denen ihre Liebe hängt. Und von all diesen +Dingen strömt ihre Liebe wieder auf mich zurück. Herrgott, was liebte +sie alles! Berge und Meer und Blumen und Spinnen und kleine Kinder und +Leder und Seide und Kristall und die Günderode und den heiligen +Franziskus von Assisi – und – mich. Wahrhaftig, sie hat mich die Liebe +gelehrt. O Gott! Wenn Tante Emilie das hörte, würde sie es sicherlich +falsch auffassen. + +Einmal hat sie zu mir gesagt, Olga, ich glaube, es war auf der Reise, +und wir sprachen wohl von unserer Zukunft, und ich sagte, daß ich mich +nicht von ihr trennen lassen wollte, bis zu meiner Mündigkeit. Da wurde +sie ganz ungeduldig und sagte: + +‚Herrgott, was ist das für ein jämmerlicher Standpunkt, immer nur das +lieben zu können, was man an der Hand hält!‘ + +Hat sie nicht recht? Warum soll man nicht die Toten lieben und die +Kommenden und die ganz Fernen, deren Sein wir nur ahnen oder deren +Schaffen uns einen Hauch von ihrer Seele gibt? Und warum nur einen, +warum nicht Tausende – die, nach denen wir uns sehnen und die, die sich +nach uns sehnen – die, die in unerfüllter Sehnsucht nach uns gestorben +sind, und die, die mit unerfüllter Sehnsucht nach uns leben werden, wenn +wir lange tot sind. Mir ist manchmal, als sollt ich meine beiden Hände +in die Weite strecken und rufen: ich liebe euch, ich liebe euch, ich +liebe euch!“ + +„Es ist merkwürdig,“ sagte Peterchen scheu und sah kopfschüttelnd zu +Metten empor, die unheimlich groß und schlank aufgereckt in dem +gespenstischen Licht stand, „es ist merkwürdig, wie ähnlich du ihr +manchmal bist.“ + +„Es ist viel merkwürdiger,“ sagte Mette lächelnd, „wie unähnlich ich ihr +_war_. Fern, fremd, unverwandt. So entsetzlich unähnlich, daß ich sie +eigentlich nie verstanden habe. Ich glaube, ich hätte sie mit Eifersucht +und Mißtrauen zu Tode gequält.“ + +„Und jetzt?“ fragte Peterchen. „Würdest du nicht eifersüchtig und +mißtrauisch sein? Wer weiß, wenn ihr zusammen geblieben wäret, +vielleicht hättest du in ein paar Monaten Ursache dazu gehabt.“ + +Mette schüttelte langsam den Kopf. „Das soll ein Trost für mich sein, +Peterchen. Aber es ist keiner. Ich hatte so unbändige Freude an ihr. Und +wenn tausendmal nur die Form zerstört ist. Auch um die Form ist es ein +Jammer. _Die_ Freude hätt’ ich immer an ihr haben können. Und so wie ich +sie jetzt sehe – ich hätte eben einsehen müssen, daß ich nicht aus Geiz +Himmel und Erde ihrer Liebe hätte berauben dürfen. Aber belogen hätte +Olga Radó mich nie. Nie, nie, nie!“ + +„Der Zug, Mette!“ mahnte Peterchen. + +Mette warf einen Blick auf ihr Handgelenk. + +„Ja, wir müssen gehen.“ + +Peterchen ging, einen Wagen zu holen. Der Kutscher trug das Gepäck +hinunter. + +Ich wollte die Kerze löschen, als wir gingen. + +„Nein, laß!“ sagte Mette. Sie lief ein paarmal hin und her und brachte +Wasser in den hohlen Händen, das sie um die Kerze träufelte, bis sich +ein kleiner See bildete. + +„Nun kann es kein Feuer geben,“ sagte sie. „Seltsam, wenn ich schon im +Zug sitze, brennt vielleicht hier in der leeren Wohnung noch das Licht. +Ich muß immer an die arme Johanna denken, schon den ganzen Abend, als +das Licht so im Fenster brannte.“ + +„Wer ist das?“ fragte ich. + +„Die arme Johanna? Das war eine Frau, die Olga liebte. Sie ist an der +Schwindsucht gestorben. Und Olga konnte nicht um sie sein, als sie im +Sterben lag. Aber die Schwester, die sie pflegte, stellte nachts immer +eine brennende Kerze ans Fenster. Das hatte die arme Johanna alles +selber so verabredet und bestimmt. Solange sie lebte, solange sollte die +Kerze brennen. Und da ist Olga manchmal drei-, viermal in der Nacht, +wenn sie es vor Unruhe nicht mehr aushalten konnte, nach dem Haus +gelaufen und hat auf der Straße gestanden, um nur die Kerze brennen zu +sehen.“ – „Schau,“ Mette wandte sich um, während wir in den Wagen +stiegen, „da oben brennt meine Kerze und leuchtet mir nach!“ + +Sie winkte mit den Handschuhen einen Gruß zurück. + +„Und da, schau,“ sie richtete sich auf, mit einem seltsamen Entzücken im +Gesicht und wies nach dem Sternenhimmel, „da ist der Antares! Das Herz +des Skorpions. Dem zieh’ ich jetzt nach, immer weiter nach Süden. Wir +können zusammen bleiben, oder ich kann auf ihn warten, bis er wieder +kommt, mit der unbedingtesten Zuverlässigkeit, wie der treueste Freund.“ + +„Trotzdem,“ sagte Peterchen, „ich habe das Gefühl, daß es doch ein +bißchen wenig Schutz und Freundschaft für dich ist. Wenn ich denke, daß +du in der nächsten Nacht in einer fremden Stadt, in einem fremden +Hotelbett schlafen sollst ...“ + +„Schön!“ sagte Mette. „Das ist ja das, was mir Ruhe geben kann. Ein +Raum, den ich noch nie gesehen habe. Trotzdem ist dieser Raum jetzt +schon da. Ein anderer Mensch bewohnt ihn und erfüllt ihn ganz mit seinen +Leiden und Freuden und Sorgen und Gedanken. Muß man sich denn immer nur +mit einem peinlichen Gefühl des Ekels in ein fremdes Bett legen? In +einem frisch bezogenen Hotelbett sind keine fremden Mikroben und +Bakterien – aber auf den Tapeten liegen noch Schatten und Lichter +fremder Schicksale. Und die tönen das eigene zum Schweigen. + +Man soll nicht in den Wänden bleiben, wo einen der eigene Schmerz immer +von den Tapeten anschreit. + +Das fremde Bett wird mir morgen erzählen, was es alles erlebt hat. Weißt +du, auch das ist Feengabe. Ich bin nicht mehr bange, weil die Dinge +anfangen, mit mir zu reden. Das sind immer die Glückskinder in den +Märchen oder die Weisen in den Sagen – König Salomo, vogelsprachekund – +denen die Dinge und die Tiere und die Bäume ihre Geheimnisse erzählen. +Du glaubst nicht, was das bedeutet. Die ganze Welt war so entsetzlich +stumm. Und nun höre ich überall so liebe, vertraute, unhörbare Stimmen. +Ihr ahnt gar nicht, mit was für einem Entzücken und einem Stolz das +einen erfüllt. Siehst du, Peterchen – das ist _auch_ etwas, was ich von +Olga habe.“ + +„Ja,“ sagte Peterchen nachdenklich, „ich fühle deine Kraft – fast mit +Neid. Sie hat dir unendlich viel gegeben. Ich kann nicht los von dem +Gedanken ... vielleicht hatte sie doch recht: ‚_Qui vivens laedit, morte +medetur_‘ – was lebend verwundet, heilet im Tod.“ + +„Nein, nein, sag das nicht!“ sagte Mette mit einer fast flehenden +Bewegung. „Ich will es nicht hören, weil es nicht wahr ist. Aber ich +habe die heilige Überzeugung – und _das_ dank ich ihr tausendfach mehr +als alles andere – daß der Satz _umgekehrt_ wahr ist – hilf mir, +Peterchen, mit meinem Latein ist es schwach bestellt: _Qui vivens +laeditur, morte_ ... nein, es geht nicht ... _medetur_ ... das sind die +verflixten Deponentia, davon kann ich keine Passivform bilden. Aber du +weißt ja, was ich meine: Was lebend verwundet wird, wird im Tode geheilt +... das heilt der Tod ... _mors medetur_, nicht wahr, das kann man +sagen? + +Und siehst du, das ist das größte: die Stunde Lust, die ich auf diesem +Maskenball des Lebens vielleicht noch finden kann, die dank ich ihr – +aber wenn mir das Treiben zuwider wird, dann dank ich ihr den Schlüssel +zur Ausgangstür.“ + +„Ja,“ sagte Peterchen ein wenig bitter, „einen sechsläufigen Revolver!“ + +„Oh,“ sagte Mette, „mehr als das: damit allein ist es nicht getan. Weißt +du nicht, was die kleine Seejungfer sich wünschte, um was sie sich die +Zunge herausschneiden ließ, um was sie bei jedem Schritt tausendfältige +Schmerzen litt, was nur eine große, große Liebe ihr geben konnte? Mir +hat es Olga gegeben. Mir hat Olga alles gegeben, was man braucht, um +allen Möglichkeiten der verhüllten Zukunft mit unzerstörbarer Ruhe +entgegenzugehen: einen sechsläufigen Revolver ... _und_ eine +unsterbliche Seele!“ + + + + + Askanischer Verlag Berlin SW + + + In unserem Verlage erschien von + Anna Elisabet Weirauch + + Der Tag der Artemis + Drei Novellen + + „Der Tag der Artemis“ – das ist der Tag, der Knaben zu Männern + macht, der Tag, an dem im jungen Menschenkinde unerkannt, + gebieterisch, erschreckend oder beglückend zum erstenmal das + Geschlecht sich regt. + + Die erste der Novellen ist eine Institutsgeschichte. + Schwärmerische Neigung, ehrliche Kameradschaft, Eifersucht, Haß, + gekränkter Ehrgeiz – alle Leidenschaften toben und gären in + diesen unreifen Knabenseelen, bis sie in einer Katastrophe + explodieren. + + „Gere“ ist die Geschichte eines Schülerselbstmordes. Der + Gequälte, der in dem unverstandenen natürlichen Trieb nur Schmutz + und Laster sieht, verliert seinen letzten Halt, den Glauben an + die Heiligkeit der Mutter, und greift zum Revolver. + + „Der Statist“ variiert das Thema des erwachenden Liebesgefühls in + heiterer Form. Einen armseligen Drogistenlehrling bringt ein + Zufall als Statisten ans Theater. Die schwärmerische Leidenschaft + für die Heldin des Hoftheaterchens macht einen Menschen aus ihm + und führt ihn auf einen Weg, den er weitergehen wird, auch wenn + die Leidenschaft längst verlodert ist. + + Erzählungen aus jenen Lebensjahren, wo die Erotik noch + schlummert, wo sie aber im geheimen heftiger wühlt als wir ahnen + und ahnen wollen. + + Schön gebunden M. 10,– + Zu beziehen durch alle Buchhandlungen + + Sogno + Das Buch der Träume + Ein Roman + + „Sogno“ ist der Roman eines überfeinerten Phantasten, der alle + seine müßigen Gedanken um ein stolzes und rätselvolles Weib + spielen läßt – so lange, bis die heiße blutvolle Wirklichkeit + dieser Natur in sein Dasein einbricht und er erkennt, daß er + nicht die Kraft und Gesundheit der Seele und der Sinne hat, + Erträumtes in lebendige Realität umzusetzen. + + Die hohe Kunst der durch ihre Romane „Die kleine Dagmar“ und „Der + Skorpion“ rasch berühmt gewordenen Verfasserin offenbart sich in + diesem Buche in intimster Stimmungsmalerei und seltener Schönheit + der Sprache. + + Schön gebunden M. 10,– + Zu beziehen durch alle Buchhandlungen + + + Askanischer Verlag Berlin SW + + +Anmerkungen zur Transkription + +Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere +Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher): + + [S. 50]: + ... Der Hand drehte den Kopf und leckte mit der Zunge ... + ... Der Hund drehte den Kopf und leckte mit der Zunge ... + + [S. 99]: + ... Herr mehr in meiner eigenen Wohnung. Nimm ... + ... Herr mehr in meiner eigenen Wohnung? Nimm ... + + [S. 228]: + ... kam nicht wieder, war unwiderbringlich verloren. ... + ... kam nicht wieder, war unwiederbringlich verloren. ... + + + + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75397 *** diff --git a/75397-h/75397-h.htm b/75397-h/75397-h.htm new file mode 100644 index 0000000..411fe26 --- /dev/null +++ b/75397-h/75397-h.htm @@ -0,0 +1,15234 @@ +<!DOCTYPE html> +<html lang="de"> +<head> +<meta charset="UTF-8"> +<title>Der Skorpion. Band 1 | Project Gutenberg</title> + <link rel="coverpage" href="images/cover.jpg" type="image/x-cover"> + <!-- TITLE="Der Skorpion. Band 1" --> + <!-- AUTHOR="Anna Elisabet Weirauch" --> + <!-- LANGUAGE="de" --> + <!-- PUBLISHER="Askanischer Verlag, Berlin" --> + <!-- DATE="1919" --> + <!-- COVER="images/cover.jpg" --> + +<style> + +body { margin-left:15%; margin-right:15%; } + +div.frontmatter { page-break-before:always; } +.halftitle { text-indent:0; text-align:center; margin-top:2em; margin-bottom:4em; } +.cop { text-indent:0; text-align:center; margin-top:4em; margin-bottom:4em; + font-size:0.8em; } +.printer { text-indent:0; text-align:center; margin-top:1em; margin-bottom:4em; + font-size:0.8em; } +.aut { text-indent:0; text-align:center; font-weight:bold; font-size:1em; + margin-top:1em; margin-bottom:1em; } +h1.title { text-indent:0; text-align:center; } +.subt { text-indent:0; text-align:center; margin-bottom:4em; } +.motto { text-indent:0; text-align:center; margin-bottom:4em; } +.vol { text-indent:0; text-align:center; margin-bottom:1em; } +.pub { text-indent:0; text-align:center; } +.epi .poem-container { margin-top:2em; 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H., Wittenberg<br> +Einband von C. Albert Kindle, Berlin SW +</p> + +</div> + +<div class="frontmatter chapter"> +<p class="aut"> +<span class="line1">Anna Elisabet Weirauch</span> +</p> + +<h1 class="title"> +Der Skorpion +</h1> + +<p class="subt"> +Ein Roman +</p> + +<p class="motto"> +Qui vivens laedit<br> +Morte medetur +</p> + +<p class="vol"> +Erster Band +</p> + +<p class="pub"> +Askanischer Verlag Berlin<br> +1919 +</p> + +</div> + +<div class="frontmatter epi chapter"> + <div class="poem-container"> + <div class="poem"> + <div class="stanza"> + <p class="verse">«Vous que dans votre enfer mon âme a poursuivies,</p> + <p class="verse">Pauvres sœurs, je vous aime autant que je vous plains,</p> + <p class="verse">Pour vos mornes douleurs, vos soifs inassouvies,</p> + <p class="verse">Et les urnes d’amour dont vos grands cœurs sont pleins!»</p> + </div> + <div class="stanza attr"> + <p class="verse">Baudelaire.</p> + </div> + </div> + </div> +</div> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter blank" id="chapter-0-1" title="Prolog"> +<span class="keep-nu-validator-happy"> </span> +<a id="page-7" class="pagenum" title="7"></a> +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">W</span><span class="postfirstchar">enn</span> ich ehrlich sein soll – daß ich durchaus +Melitta Rudloffs Bekanntschaft machen wollte, +geschah ihres schlechten Rufes wegen. Die geraden, +gesunden und reinlichen Durchschnittsmenschen hatten +für mich keine Bedeutung. Ich suchte die Kranken, +die Verlorenen, die Ausgestoßenen. – Ich suchte sie +mit geteiltem Gefühl, und – seltsam, wie wir Menschen +nun einmal sind – ich bin stolz darauf, daß ich +sie suchte mit der klaren und kalten Freude des Forschers, +daß ich sie suchte, um sie zu vivisezieren, zu +analysieren, sie in Systeme einzuschachteln – und ich +schäme mich ein bißchen, zu gestehen, daß ich sie suchte +in dem überheblichen Wahn, helfen zu können, bessern zu +können – sie mit reinen und gütigen Händen hellere +Wege zu führen. +</p> + +<p> +Es geschah durch Tante Antonie, daß ich zuerst von +Melitta Rudloff erzählen hörte. Tante Antonie war +eine sehr fromme und ehrenwerte Frau, und Lüge und +<a id="page-8" class="pagenum" title="8"></a> +Verleumdung lagen ihr fern. Sie sah die Dinge mit +scharfen Augen, aber sie sah sie von ihrem unverrückbaren +Standpunkt aus. +</p> + +<p> +Nach diesen Erzählungen hatte Melitta – oder +Mette, wie sie genannt wurde – als Kind schon einen +sonderbaren Hang zum Lügen und Stehlen gezeigt. +Auf der Schule galt sie als dumm und faul. Als +junges Mädchen lief sie einer merkwürdigen Frau +nach, einer Hochstaplerin mit ausgesprochen männlichem +Gebaren. Vielleicht verführt von dieser Freundin, +von der sie nebenbei späterhin hinausgeworfen +wurde – stahl sie im väterlichen Hause das Silberzeug +und trug es aufs Leihamt. Nach einem Tobsuchtsanfall, +bei dem sie ihre Tante, die treue Pflegerin +ihrer mutterlosen Kindheit, erwürgen wollte, +wurde sie zu ihrem Onkel nach einer kleinen Stadt gebracht. +Dort stahl sie, was im Hause nicht niet- und +nagelfest war, erbrach schließlich auf raffinierteste +Weise den Schreibtisch, entwendete eine größere +Summe Geldes und entfloh. +</p> + +<p> +Ihr Vater, eine feinsinnige Gelehrtennatur, überlebte +die Nachricht von diesen Geschehnissen nicht lange +– er wurde vom Schlage getroffen. +</p> + +<p> +Mettens Mutter war bei ihrer Geburt gestorben. +Wie Jürgen von Seyblitz stets bitter zu sagen pflegte: +„Zum Glück“. +</p> + +<p> +<a id="page-9" class="pagenum" title="9"></a> +Mette war nicht dieser Meinung. Sie hatte eine +phantastische Vorstellung von der Wesenheit einer +Mutter und glaubte immer, daß der frühe Tod der +ihren alles Unheil ihres Lebens verursacht hätte. +</p> + +<p> +Ich meinesteils weiß nicht, welcher Ansicht ich mich +anschließen soll. Ganz sicher hätte Mette nicht eine so +trübe und freudlose Kindheit gehabt, wie unter Tante +Emiliens knochigen Fingern – aber selbst die weichste +Mutterhand hätte die schwersten Kämpfe ihres Lebens +nicht von ihr fernhalten können. Und wenn ich an +diese Zeiten denke, begreife ich Onkel Jürgens „Zum +Glück“ recht wohl. Vielleicht hatte er ein besseres Bild +von seiner Schwester, als Mette es von ihrer Mutter +haben konnte. +</p> + +<p> +Wenn ich nun versuchen will, zu erzählen, was ich +von Mette Rudloff und von ihren Beziehungen zu +Olga Radó weiß, so muß ich fürchten, falsch gedeutet +zu werden. Ich habe keinerlei Ähnlichkeit mit Peterchen, +unserem gemeinsamen kleinen Freund, den Olga +Metten gegenüber in herzlichem Spott „Unser Baudelairechen“ +zu nennen pflegte. Peterchen war bei allem, +was seine Freunde betraf, mit überschwenglichem Gefühl +beteiligt. Ich sehe ihn noch immer mit seinen +aufgeregten Schrittchen durch sein Zimmer hin und +her laufen und flammende Reden führen. Er machte +Welt und Vorwelt verantwortlich für Olgas Tod und +<a id="page-10" class="pagenum" title="10"></a> +Mettens Leben. Wenn es nach ihm gegangen wäre +– er hätte ein Gemälde entworfen, auf dem er Olga +und Mette mit schimmernder Gloriole umgeben und +Jürgen von Seyblitz und Tante Emilie und Frau +Flesch und noch einige andere, die er nicht leiden +konnte, an den Pranger gestellt hätte. Er hätte sich mit +dem Stock des Ausrufers auf den Markt begeben und +auf seine Heiligen gedeutet und geschrien: Seht her, +so sind sie, die Verfemten, die Verworfenen, die ihr +haßt und verachtet und fürchtet – und nicht kennt! +</p> + +<p> +Nach allem, was ich von Olga Radó weiß, hätte er +ihr damit einen schlechten Dienst erwiesen. Was ihr +die meiste und glühendste Feindschaft eingetragen hat, +war nicht ihr lasterhaftes Leben, ihre Verschwendungssucht, +ihre unnatürlichen Leidenschaften – nicht einmal +ihr Geist oder ihre Schönheit – nein, es war ihr +grenzenloser Hochmut. +</p> + +<p> +Sie haßte es, verallgemeinert zu werden. Und +wir alle, die wir sie kannten, haben hundertmal aus +ihrem Munde das Wort gehört – so oft, daß es zur +scherzhaften Redensart bei uns wurde: +</p> + +<p> +„Bitte! Nix ihr, nix euch!“ +</p> + +<p> +Ich habe keine Ähnlichkeit mit Peterchen. Ich bin +nicht dazu geschaffen, zu verteidigen oder anzuklagen. +Ich verfolge keinen Zweck, wenn ich etwas erzähle. +Ich habe keine Ziele und keine Absichten, nicht einmal +<a id="page-11" class="pagenum" title="11"></a> +eine Meinung oder ein Urteil, und kaum ein Gefühl. +Keine andere Absicht, als Bilder und Worte, die unendlich +flüchtig vorüberrauschen, mit allen Sinnen festzuhalten, +und sie in Form zu bannen, und kein ander +Gefühl, als die weltabgewandte, weltaufsaugende +Hingabe, mit der der Zeichner den Silberstift über das +Papier führt. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter blank" id="chapter-0-2" title="Der Skorpion"> +<span class="keep-nu-validator-happy"> </span> +<a id="page-12" class="pagenum" title="12"></a> +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">E</span><span class="postfirstchar">inmal</span> war Mette einen Sommer lang bei ihren +Großeltern auf dem Gut. Vielleicht war es dieser +Sommer, der ihr den irrsinnigen Hang zum Leben ins +Blut goß. Woher hätte sie sonst auch wissen sollen, +daß das Leben mitunter schön sein konnte? Immer, +wenn sie in späteren Jahren sich nach Glück sehnte, +hatte sie die qualvoll-süße Vorstellung von einem +Glücksgefühl, das sie ganz erfüllt hatte, als sie auf +einer blühenden Wiese lag und das Blau des Himmels +zwischen säulenhohen Grashalmen sah, als der +heuduftende Wind über ihr sonneglühendes Gesicht +blies, und Tausende von Bienen und Hummeln und +Wespen in der Luft läuteten, wie tiefe und hohe, ferne +und nahe Glockenstimmen. Wann hätte das sein +können, wenn es nicht in jenem Sommer war? +</p> + +<p> +Oh, es war so viel Herrliches in jenem Sommer +gewesen. +</p> + +<p> +Da war ein Gartenhäuschen gewesen, aus Birkenstämmen +und borkebenagelten Brettern. Und von +<a id="page-13" class="pagenum" title="13"></a> +der Birkenrinde konnte man eine dünne, durchsichtige +Haut abziehen. Sie zerriß leicht, und es war sehr +schwer, aber auch sehr ehrenvoll, ein großes Stück unversehrt +loszulösen. +</p> + +<p> +Dies Gartenhäuschen hatte Glasfenster nach allen +Seiten. Und jedes Fenster hatte einen Rand, einen +Rahmen gleichsam, von kleinen Vierecken aus Buntglas. +Da konnte man die Welt in allen Farben sehen. +</p> + +<p> +Immer sah Mette zuerst durch das blaue Glas. Da +lag alles in einem geheimnisvollen Dunkel, alles +wurde still und weit, die Sonne stand strahlenlos am +Himmel wie der Mond – es war wie eine Nacht aus +dem Märchen, und über die blauen Wiesen, unter den +blauen Bäumen, hätten Elfen mit wehenden Schleiern +tanzen müssen. +</p> + +<p> +Dann kam das grüne. +</p> + +<p> +Da leuchteten die Bäume und Wiesen wie von +innerem Licht. Aber die apfelgrüne Luft war voll Unheil +geladen, und die schweren dunkelgrünen Wolken +waren zum Bersten belastet mit furchtbaren Dingen. +</p> + +<p> +Dann war ein goldgelbes. +</p> + +<p> +Man muß nicht etwa denken, daß der Garten hell +und heiter aussah im goldfarbenen Licht. Das Grün +war fahl und wie verbrannt, die Luft schien gewitterig. +Es war so, wie es ganz gewiß am jüngsten Tag aussehen +mußte, wenn die Erzengel in die Posaune +<a id="page-14" class="pagenum" title="14"></a> +stießen, wenn Teufel mit Fledermausflügeln durch die +Luft schwirrten, und die Gräber sich auftaten. +</p> + +<p> +Zuletzt kam das rote, weil es das schönste war. Es +war so schön und so schrecklich, daß Mette jedesmal +Herzklopfen bekam. Wenn es nach ihr gegangen wäre, +hätte die Welt ganz gewiß immer so ausgesehen. Die +Bäume so dunkel wie Blutbuchen, und die Wiesen so +glührot, der Himmel so brennend mit tiefpurpurnen +Wolken. +</p> + +<p> +Wenn man dann wieder durch das klare Glas sah, +war alles unsagbar fad und nüchtern und blaßfarbig. +Trotzdem – man konnte erleichtert aufatmen. Alles +Unheimliche war geschwunden – in einer Welt, die +so hell und harmlos und ein bißchen langweilig aussah, +wo es keine blauen Wiesen und keine purpurnen +Bäume gab – da gab es auch keine Feen und +Teufel, da gab es nichts, wovor man sich zu fürchten +hatte. +</p> + +<p> +Manchmal, in späteren Jahren, dachte Mette darüber +nach, ob sie dies alles damals schon in klar ausgesprochenen +Gedanken gedacht hatte. Und dann +rechnete sie nach, und es schien ihr, als wäre sie damals +noch viel zu klein gewesen. Aber später hat sie +ja nie mehr durch die bunten Glasscheiben in dem +Birkenhäuschen sehen können; denn in dem Winter, +der auf jenen Sommer folgte, starb der Großvater, +<a id="page-15" class="pagenum" title="15"></a> +das Majorat ging auf den Erben über, und die Großmutter +zog zu ihrem Bruder nach Güstrow. +</p> + +<p> +Die Großmutter schwankte damals lange Zeit. +Trotz ihrer Abneigung gegen die große Stadt wäre +sie damals gern zu ihrem Schwiegersohn gezogen, um +der kleinen Mette nahe zu sein. Aber sie wagte es +nicht, den Kampf mit Tante Emilie aufzunehmen. +</p> + +<p> +Tante Emilie war viel zu musterhaft, als daß nicht +jeder andere sich überflüssig gefühlt hätte. Und Tante +Emilie von ihrem Posten vertreiben – um Gottes +willen! Dazu gehörte eine kampflustigere Persönlichkeit +als es Conrad von Seyblitz’ arme, kleine Witwe +jemals war. +</p> + +<p> +Die Großmutter zog nach Güstrow, wo sie die paar +Jahre bis zu ihrem Tode lebte – und Tante Emilie +blieb – blieb unumschränkte Herrscherin des Hauses. +</p> + +<p> +Das heißt, daß Mette nicht in die Schule gehen +sollte, das ordnete Franz Rudloff selber an. Er hatte +eine fast krankhafte Scheu vor allem, was „Masse“ und +„Gemeinschaft“ hieß. Es schien ihm, als müßten die +kühlen, hohen Räume seiner Wohnung sich mit dem +Dunst schlecht gelüfteter Klassenzimmer füllen, als +müßten die stillen Wände hallen von hundert hohen +Stimmen, von hundert trappelnden Füßen, wenn er +sein Kind in eine Schule schickte. +</p> + +<p> +Und also kam das „Fräulein“ ins Haus. +</p> + +<p> +<a id="page-16" class="pagenum" title="16"></a> +Tante Emilie war innerlich von vornherein dagegen. +Sie selbst war in die Schule gegangen, und +die Schule hatte ihr nicht geschadet. Im Gegenteil. +</p> + +<p> +Sie war absolut nicht dafür, daß irgend jemand +auf der Welt es in irgend etwas besser haben sollte, +als sie es selbst hatte oder gehabt hatte. Zu den +wenigen Freuden, die sie im Leben hatte, gehörte die +Freude an der „ausgleichenden Gerechtigkeit“, wie sie +es nannte: Wenn nämlich jemand, dem es ganz ohne +Würdigkeit sehr gut ging, sein unverdientes Glück +durch einen schweren Schicksalsschlag abbüßen mußte. +</p> + +<p> +Andere Leute haben für diese Art Freude eine andere +Bezeichnung. +</p> + +<p> +Tante Emilie war gegen das Fräulein. Aber +Tante Emilie war viel zu musterhaft, um zu widersprechen, +wenn der Herr des Hauses einen Wunsch +äußerte. Sie wußte, daß sie sich in solchen Fällen +schweigend zu fügen hatte. Nicht etwa, daß der +arme Franz das von ihr verlangt hätte, o nein! Aber +so war es vorbildlich und musterhaft. Und also kniff +sie die Mundwinkel noch etwas fester zusammen und +fügte sich schweigend. +</p> + +<p> +Das Fräulein hatte so krauses, widerspenstiges +Haar, daß die braunen Löckchen sich in keinen Scheitel +fügen wollten und ihr immer ums Gesicht tanzten. +Sie hatte auch den Sinn, den das Sprichwort mit +<a id="page-17" class="pagenum" title="17"></a> +solchem Haar verbindet. Alle die Männer, die in +ihrem Leben eine längere oder kürzere Rolle gespielt +hatten, sagten, sie wäre eine entzückende Geliebte gewesen. +Zur Erziehung eines kleinen Mädchens eignete +sie sich weniger gut. +</p> + +<p> +Tante Emilie hatte sie nicht ausgesucht. Das hatten +Franz Rudloff und Mette ganz allein besorgt. Eins +hatten Vater und Tochter gemeinsam: all ihre Sinne +dursteten nach Schönheit und Harmonie. Sie gaben +was aufs Äußerliche, wie Tante Emilie das nannte. +</p> + +<p> +Das Fräulein hatte ein so liebliches Jung-Mädchengesicht, +so weiche Bewegungen, eine so schöne klingende +Stimme. +</p> + +<p> +Es war nicht die geringste persönliche Sympathie, +die Franz Rudloff zu diesem Fräulein hinzog. Nur, +wenn er schon einen fremden Menschen ins Haus +nehmen mußte, so war ihm lieber, wenn es ein angenehmes +Wesen war. Vielleicht hatte er – uneingestandenermaßen +– an <em>einem</em> unangenehmen +genug. +</p> + +<p> +Bei Mette war es etwas anders. Sie hatte noch +nie einen Menschen gesehen, der ihr so gefiel. Ihr +ganzes sehnsüchtiges Kinderherz, das noch niemals +Liebe oder Zärtlichkeit gefühlt hatte, flog dieser Fremden +entgegen, dieser Fremden, die sie in den Arm +nahm, ihr mit weichen Händen das Haar aus der +<a id="page-18" class="pagenum" title="18"></a> +Stirn strich, sie mit kosender Stimme „Mädi“ und +„Herzblatt“ nannte. Die Aussicht, diesen Menschen +immer um sich zu haben, erschien ihr wie ein unfaßbares, +berauschendes Glück. +</p> + +<p> +Sie bat ihren Vater nicht. Sie konnte nicht bitten, +Mette Rudloff, nie, und wenn es um ihr Leben ging, +nicht. +</p> + +<p> +Aber als ihr Vater sie fragte, ob das Fräulein kommen +sollte, sagte sie: „Ja.“ +</p> + +<p> +Und das Fräulein kam. +</p> + +<p> +Tante Emilie aber kniff die Mundwinkel zusammen +und fügte sich schweigend. +</p> + +<p> +In den nun folgenden drei oder vier Jahren, die +das Fräulein im Hause blieb, durchlebte Mette +Rudloff das ganze Martyrium einer unglücklichen +Liebe. +</p> + +<p> +Die ersten Monate ging alles herrlich. Das ist ja +eben das Unglück einer unglücklichen Liebe, daß sie +immer mit einem überschwenglichen Glück anfängt. +</p> + +<p> +Das Fräulein hatte Mette sehr lieb, und Mette +hatte das Fräulein sehr lieb, und sie lernten miteinander +und spielten miteinander und gingen miteinander +spazieren. Es war eine wundervolle Zeit. Aber +wie alle wundervollen Zeiten nur von kurzer Dauer. +</p> + +<p> +Es war sicher der Teufel, der den früheren Husarenleutnant +von Hanstein plötzlich in den Weg warf; +<a id="page-19" class="pagenum" title="19"></a> +den Husarenleutnant, den das Fräulein glühend geliebt +hatte, als sie noch kein Fräulein war, sondern +Friedel Eggebrecht hieß und aufs Seminar ging und +in ihrer Vaterstadt auf ihren ersten Jung-Mädchen-Bällen +tanzte. +</p> + +<p> +Dieser frühere Husarenleutnant hatte keine ganz +saubere Karriere hinter sich. Er hatte schuldenhalber +den Dienst quittieren müssen, hatte sich in allen möglichen +Berufen herumgetrieben und sprach sich über +seine jeweilige Beschäftigung immer nur in sehr unklaren, +aber hochtönenden Worten aus. +</p> + +<p> +Das hinderte nicht, daß in dem Fräulein sehr bald +die alte, nicht rostende Liebe erwachte, und daß Mette, +die kleine, süße, goldige Mette, jetzt überall lästig und +im Wege war. +</p> + +<p> +Zuerst war Mette nur ärgerlich, wenn das Fräulein +Besuch von ihrem „Bruder“ bekam und Mette ins +Schlafzimmer geschickt wurde, weil das Fräulein +Herrenbesuch nicht in einem Raum empfangen konnte, +in dem ein Bett stand. (Späterhin wurde das +anders.) +</p> + +<p> +Im Schlafzimmer war es kalt und langweilig. +Mette stand am Fenster und sah den Spatzen zu, die +auf dem kahlen Baum im Hofe lärmten. Nebenan +waren ihre Bücher, ihre Puppen, ihre Spielsachen. +Aber sie durfte nicht hinein, solange der Besuch da +<a id="page-20" class="pagenum" title="20"></a> +war, und der Besuch dachte nicht daran, wegzugehen. +</p> + +<p> +Es war recht ärgerlich. Und wenn es so weitergegangen +wäre mit Besuchen und Eingesperrtwerden +und dem kalten und unfreundlichen Ton, den das +Fräulein jetzt meistens hatte, so wäre Mettes +glühende Liebe vielleicht bald in Haß umgeschlagen – +und es wäre alles gut gewesen. +</p> + +<p> +Aber mochte der Teufel wissen – derselbe Teufel, +der den Herrn von Hanstein eines Vormittags auf +den Viktoria-Luise-Platz warf – was diesem Herrn +von Hanstein gerade über die Leber lief. Hatte er +Sorgen oder Schulden oder irgendeine andere Liebelei +– kurz – das Fräulein fing an, sich gekränkt zu +fühlen, sich zu grämen, des Nachts zu weinen. +</p> + +<p> +Das war zuviel für Mette. +</p> + +<p> +Mette Rudloff weinte schwer. Sie begriff nicht, +daß ein Mensch weinen konnte, ohne bis an die Grenzen +des Wahnsinns zu leiden. Darum hätte sie sich +das Herz aus der Brust herausreißen mögen, um +einen Weinenden zu trösten. +</p> + +<p> +Wenn Friedel Eggebrecht um ihren Husarenleutnant +weinte, so litt Mette alle Qualen der Hölle. +</p> + +<p> +Im Anfang, als das Fräulein das Kind nicht +wecken wollte, weinte sie leise und weinte sich nach +einer Viertelstunde in den Schlaf. Aber als sie merkte, +<a id="page-21" class="pagenum" title="21"></a> +daß Mette doch aufwachte oder vielleicht auch nicht +einzuschlafen wagte, sich mühsam wach hielt, um auf +jeden Atemzug zu lauschen, da war es ihr ganz bequem, +sich einem lauten Schmerz hinzugeben und sich +trösten zu lassen. +</p> + +<p> +Beim ersten Aufschluchzen sprang Mette aus dem +Bettchen und kam auf bloßen Füßen über die Dielen +gelaufen. Dann kauerte sie auf dem Bettrand und +weinte und zitterte und tröstete mit ihrem süßen, zärtlichen +Stimmchen, mit ihren weichen, guten Kinderhänden. +</p> + +<p> +Und das Fräulein ließ sich streicheln und trösten +und stieß mit den Füßen gegen die Bettkante, warf +den Kopf nach hinten, krallte die Nägel in die Kissen +und schrie: +</p> + +<p> +„Der Hund! Der Schuft! Ich ertrage es nicht +mehr. Ich sterbe! Er mordet mich!“ +</p> + +<p> +Zu der Zeit, als diese Szenen sich abspielten, wußte +Mette schon längst, daß diese Ausbrüche dem Bruder +galten, und daß dieser Bruder kein Bruder war. +</p> + +<p> +Sie empfand einen so wütenden, qualvollen Haß +gegen diesen Mann, daß sie oft angestrengt darüber +nachdachte, wie sie es bewerkstelligen könnte, ihn zu ermorden. +</p> + +<p> +Diese durchweinten, durchwachten Nächte waren +schlimm. Aber sie waren nicht das Schlimmste. Das +<a id="page-22" class="pagenum" title="22"></a> +Schlimmste war, wenn am nächsten Tage der Herr +Bruder wieder ankam und empfangen wurde zwischen +Lachen und Weinen, mit offenen Vorwürfen und +kaum verhehlter Zärtlichkeit, und Mette ins Schlafzimmer +geschickt wurde. +</p> + +<p> +Dann rieb Mette die Zähne aufeinander und bohrte +die Nägel in die Handflächen, und zerpeinte sich in +schmerzlicher Wut. +</p> + +<p> +Bei solchen Anlässen konnte Mette auch sehr ungezogen +werden. Es lag ihr nicht, Traurigkeit zu +zeigen, wenn sie litt. Sie zog es vor, ungezogen zu +werden. Es war mitunter ganz begreiflich, daß das +Fräulein eine maßlose Wut auf sie hatte. +</p> + +<p> +Wenn Mette hätte zeigen können, wie es in ihr aussah, +so hätte sie geweint und gesagt: „Ich liebe dich, +und ich bin eifersüchtig, doppelt eifersüchtig, weil +deine Liebe einem Mann gehört, der dich quält, und +den zu verachten du vorgibst. Ich leide, daß ich einen +Menschen lieben muß, der so wenig Stolz und +Charakter besitzt.“ +</p> + +<p> +Wenn die kleine Mette ihre unklaren Gefühle in +Worten hätte ausdrücken können, so würden diese +Worte ungefähr so gelautet haben. +</p> + +<p> +Wer von uns, die wir reife und kluge Menschen +sein wollen, die wir gelernt haben, die Worte zu +wählen, zu wägen, zu setzen, vermag das auszusprechen, +<a id="page-23" class="pagenum" title="23"></a> +was er empfindet? Selten wollen wir es tun. +Und die wenigen Male, die wir uns bemühen, können +wir es nicht und werden mißverstanden. +</p> + +<p> +Mette wollte es nicht und konnte es nicht. Sie verlangte +Liebe. Aber die konnte sie nicht erbetteln, da +beanspruchte sie ihr Recht. +</p> + +<p> +Haben nicht ältere und vernünftigere Leute manchmal +so gehandelt? +</p> + +<p> +Mette ging hinein in das Zimmer, in <em>ihr</em> Zimmer, +das sie nicht betreten durfte, solange der verhaßte +„Kerl“ dasaß. (Mette nannte ihn so in Gedanken, +und das war kein Wunder, sie hatte ihn zu oft so +nennen hören, wenn das Fräulein in Wut war.) Sie +ging hinein, ohne anzuklopfen, sie reckte den Kopf sehr +hoch und setzte die schmalen Füße sehr fest auf. +</p> + +<p> +Sie legte die Bücher und Hefte auf den Tisch, +klappte den Deckel vom Tintenfaß auf, tat, als ob sie +nach der Uhr sähe (sie tat so; denn in Wirklichkeit +wurde es ihr schwer, die richtige Zeit festzustellen, so +klein war sie noch) und sagte: +</p> + +<p> +„Ich habe jetzt Stunde!“ +</p> + +<p> +Der „Kerl“ grinste höhnisch und empfahl sich. Das +Fräulein fauchte sie an, wie sie sich unterstehen +könne ...? +</p> + +<p> +Mette bemühte sich, etwas sehr Häßliches zu sagen. +Und es gelang ihr. +</p> + +<p> +<a id="page-24" class="pagenum" title="24"></a> +„Bloß, daß der ‚Kerl‘ hier immerfort sitzt, dafür +bezahlt Sie mein Vater nicht!“ sagte sie. +</p> + +<p> +Das Fräulein wollte sie schlagen. Aber sie schrak +zurück vor dem drohenden Ernst in dem blassen Kindergesicht. +</p> + +<p> +Niemals hat jemand gewagt, Mette Rudloff zu +schlagen, obgleich vielleicht manch einer die Lust dazu +verspürte. +</p> + +<p> +Das Fräulein packte sie am Arm und rüttelte sie. +So fest packte sie, daß noch nach Tagen der Abdruck +ihrer Finger in bläulichen Flecken auf der zarten Haut +zu sehen war. +</p> + +<p> +Es geschah nicht einmal, es geschah hundertmal, daß +Mette blaue Flecken am Arm hatte, oder Striemen +über der Schulter, oder Kratzwunden an den Händen. +</p> + +<p> +Wenn sie sich hätte beklagen wollen, so wäre ihr +Hilfe sicher gewesen. Wenn sie einmal Tante Emilien +die Spuren einer solchen Szene gezeigt hätte, statt sie +angstvoll zu verbergen, so wäre die „Person“ geflogen. +Das wußte Mette, aber das wollte sie nicht. Darum +mußte sie diesen Kampf ganz allein auskämpfen. +</p> + +<p> +Als die Eggebrecht einsah, daß das Kind ihr überlegen +war, änderte sie ihre Taktik. Es ging nicht mehr +an, Mette als Feindin zu behandeln, darum wurde +sie zur Vertrauten gemacht. In Mettes kleines verschwiegenes +Herz wurde alles ausgeschüttet, alle Freuden +<a id="page-25" class="pagenum" title="25"></a> +und Kümmernisse dieses Verhältnisses und eine +ganze Masse Unrat dazu. +</p> + +<p> +Mette mußte Horchposten stehen, Mette mußte +Briefe befördern und Telephongespräche führen, und +Mette wurde mit Liebkosungen und Süßigkeiten überschüttet. +</p> + +<p> +Vielleicht hätte ein anderes Kind sich in diesem Zustand +sehr wohl befunden. Mette fuhr fort zu leiden. +</p> + +<p> +Es lag wohl auch daran, daß ihr der Mann so +widerwärtig war. Wenn es jemand gewesen wäre, +der ihr gefallen hätte, hätte sie sich vielleicht eher in +die Sachlage gefunden. +</p> + +<p> +Manchmal, wenn das Fräulein in der Laune war, +ihren Liebsten zu beschimpfen, dann warf das Kind +sich vor ihr auf die Knie und beschwor sie, von diesem +schrecklichen Manne zu lassen. Dann wurde unter +Tränen und Eiden alles versprochen. +</p> + +<p> +„... ja, mein Süßes, ja, mein Engel, er betritt +mir die Schwelle nicht mehr, der verfluchte Hund, ich +habe ja dich, mein Süßes, mein Trost, ich will nur +noch für dich leben!“ +</p> + +<p> +Das waren für Mette Momente qualvoller Seligkeit. +</p> + +<p> +Aber es waren immer nur Momente; denn wenn +das Telephon klingelte, oder wenn ein Brief kam, +oder wenn man dem Herrn „zufällig“ im Tiergarten +begegnete, dann war alles wieder vergessen. +</p> + +<p> +<a id="page-26" class="pagenum" title="26"></a> +Mette begriff, daß da etwas war, wogegen sie +nicht ankonnte. +</p> + +<p> +Sie begriff dunkel, daß sie nicht das Recht hatte, +einen Menschen ganz für sich zu verlangen, weil sie +noch ein Kind war. Und sie wünschte sich glühend, +schnell, schnell erwachsen zu sein, um das, was sie +liebte, ganz und ungeteilt zu besitzen. +</p> + +<p> +Es kam noch eins dazu, das Leben zu erschweren. +Das Fräulein hatte nicht viel Zeit und Lust, mit +Mette zu arbeiten. Es war so unendlich viel anderes +zu tun. Das Fräulein mußte Briefe schreiben, oder +spannende Bücher lesen – oder Handarbeiten machen. +Das Fräulein machte gern Handarbeiten und hatte +flinke und geschickte Hände. Sie nähte sich allerliebste +Blusen und stickte sich zierliche Hemdpassen – oder +sie häkelte Schlipse und stopfte seidene Herrensocken. +Von alledem hatte Mette weiter keinen Nutzen. +</p> + +<p> +Sie war nicht böse, daß sie mit dem langweiligen +Lernen ziemlich verschont blieb. Aber Tante Emilie +kam bald dahinter. Es war ein so ernster Fall, daß +der Vater zugezogen wurde. In solchen Dingen, und +nur in solchen Dingen konnte man mit Franz Rudloffs +Anteilnahme rechnen. Er stellte eine eingehende Prüfung +mit seiner Tochter an. Das Ergebnis war derart, +daß er allen Ernstes erschrak. +</p> + +<p> +Er rechnete nach, daß er im selben Alter ein fehlerfreies +<a id="page-27" class="pagenum" title="27"></a> +<span class="antiqua">Dicté</span> geschrieben, <span class="antiqua">verba irregularia</span> auswendig +gelernt und Schillers Don Carlos mit Begeisterung +verschlungen hatte. +</p> + +<p> +Mette las lateinische Druckschrift mühsam und +stockend. +</p> + +<p> +Von dem Tage an ließ sich Franz Rudloff die +schmerzliche Überzeugung nicht nehmen, daß sein +armes Kind geistig zurückgeblieben sei. Damit zerbrach +das letzte Brett, das zu einer Brücke zwischen +ihnen hätte werden können. Er hörte nicht auf, seine +Tochter mit Zartheit und Höflichkeit zu behandeln. +Im Gegenteil. Aber sie war ihm so fremd, daß sie +ihm mitunter beinah unheimlich erschien. +</p> + +<p> +Obgleich Tante Emilie Metten gern alle nur mögliche +Trägheit und Unbegabung zugetraut hätte, wußte +sie doch, daß sie nicht die Alleinschuldige sein konnte. +Das Fräulein mußte verschiedentlich recht scharfe Bemerkungen +hören, die sie veranlaßten, einige Tränen +zu vergießen und Metten bitterliche Vorwürfe zu +machen. +</p> + +<p> +„Ich gehe,“ das war der ständige Schluß ihrer +Rede. Und das war das, was Metten jedesmal mit +tödlichem Schrecken erfüllte. Sie fühlte zu gut, daß +die Drohung Wahrheit werden konnte, Wahrheit werden +mußte, wenn Tante Emilie bei einer nächsten Prüfung +wieder auf so „krasse Unwissenheit“ stieß. +</p> + +<p> +<a id="page-28" class="pagenum" title="28"></a> +Also fing Mette mit zähem und verbissenem Eifer +an zu lernen. Das Fräulein half ihr nicht oft dabei, +sie störte sie höchstens. +</p> + +<p> +Aber sie streichelte ihr manchmal das Haar, oder +preßte sie an sich, oder küßte sie fast leidenschaftlich +auf den Mund. +</p> + +<p> +Und um sich diese flüchtigen Liebkosungen zu erhalten, +mußte Mette lernen. +</p> + +<p> +Sie war zu begabt, als daß sie nicht bald am +Lernen und Lesen selbst Freude gehabt hätte. Aber +das wußte sie nicht. Sie bildete sich ein, daß sie nur +um des geliebten Fräuleins willen mit so fanatischer +Inbrunst über den Büchern saß. +</p> + +<p> +Sie fing an zu lügen. Etwas, was sie in dieser +Weise auch in späteren Jahren mit wahrer Leidenschaft +tat. Wenn die Rede – dem Vater, der Tante +oder Gästen gegenüber – einmal auf irgend etwas +kam, was Mette in ihren Büchern gefunden hatte – +in Büchern, in die das Fräulein niemals ihr hübsches +Näschen steckte – und Mette ein wenig erstaunt gefragt +wurde: „Wo hast du denn die Weisheit her?“ +dann war sie sehr stolz darauf, zu antworten: „Von +Fräulein!“ +</p> + +<p> +Und Fräulein widersprach nie. Mette glaubte, +jedesmal zu sehen, daß sie rot wurde. Und sie liebte +sie doppelt, weil sie ihr leid tat. Aber es war ein +<a id="page-29" class="pagenum" title="29"></a> +Irrtum. Sie wurde nicht rot. Sie hörte meistens +gar nicht danach hin. Sie hatte so viel andere Gedanken +im Kopf ... +</p> + +<p> +Und dann kam die merkwürdige Angelegenheit mit +dem Silberzeug. +</p> + +<p> +Eines Nachts gab das Fräulein Metten die Schlüssel +zum Silberschrank und einem flachen, lederbezogenen +Kasten. Mette sollte den Kasten in den Schrank +zurücktragen. Das Fräulein hatte ihn sich heimlich +ausgeliehen, weil ihr Bräutigam das Silber gern einmal +sehen wollte. +</p> + +<p> +Mette wollte auch gern einmal sehen. Sie drängelte +so lange, bis das Fräulein den Kasten öffnete. +Da lagen die dicken, blanken Löffel in Reih und Glied, +jeder auf seinem Einschnitt im dunkelblauen Samt. +Keiner fehlte. +</p> + +<p> +Es machte Metten ein unbändiges Vergnügen, unhörbar +wie auf Katzenpfötchen durch den langen +Korridor zu schleichen, sich im Speisezimmer zurechtzutasten, +ohne Licht anzumachen, behutsam den Schrank +aufzuschließen, ohne daß die Schlüssel klirrten oder +die Tür knarrte, den Kasten an seinen Platz zu stellen, +abzusperren – und dann mit mühsam unterdrücktem +Jubel in Fräuleins Arm zu fliegen und sich beloben +zu lassen. +</p> + +<p> +Dieses erste Mal war nur eine Einleitung. +</p> + +<p> +<a id="page-30" class="pagenum" title="30"></a> +Mette lernte mit staunender Bewunderung die +schätzenswerte Einrichtung eines Leihamtes kennen. +Es war eine ganz fabelhafte Angelegenheit, daß man +Silber oder Schmuckstücke nur zu verleihen brauchte, +um eine Menge Geld dafür zu bekommen. Nach +einiger Zeit bekam man seine Sachen unversehrt zurück. +Ja, sie wurden nicht einmal benutzt in der Zeit, +wie Fräulein auf Mettens Fragen lachend versicherte. +Es war eine schöne, aber merkwürdige Einrichtung. +</p> + +<p> +Immerhin! Es gab so viele merkwürdige Einrichtungen. +Zum Beispiel: daß man Geld auf eine Bank +legte – daß es nicht irgendeine beliebige Gartenbank +sein durfte, das hatte Mette unterdessen schon gelernt +– daß man dann immerfort Geld geschickt bekam, von +dem man leben konnte, und das Geld auf dieser seltsamen +Bank doch niemals weniger wurde – das war +auch so eine merkwürdige Tatsache. So ähnlich würde +es sich wohl mit dem Leihamt auch verhalten. Es +lohnte nicht, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. +Man begriff es doch nicht. +</p> + +<p> +Also wanderte das Silberzeug aufs Leihamt. Und +bei Gelegenheit wanderte es wieder zurück in den +Schrank. +</p> + +<p> +Es war so lustig, abends im Bett zu liegen und zu +schwatzen und Konfekt zu knabbern. Aber das Konfekt +kostete so rasend viel Geld. Darum wurde von Zeit +<a id="page-31" class="pagenum" title="31"></a> +zu Zeit das Silber „verliehen“. Es schadete ihm ja +nichts. Und die Heimlichkeit, mit der es geholt und +wieder zurückgebracht werden mußte, machte einen +Heidenspaß. +</p> + +<p> +Aber einmal war der große Kasten fort und kam +und kam nicht wieder. So ewig lange war er schon +fort, es dachte kaum mehr ein Mensch an ihn. +</p> + +<p> +Da verfiel Tante Emilie eines Tages beim Reinmachen +auf die Idee, das ganze Silber nachsehen und +putzen zu lassen. Tante Emilie wußte ganz genau, +wieviel Silber im Haushalt vorhanden war. Sie +wußte sogar, von welcher Großmutter oder Schwiegermutter +oder Tante jedes einzelne Stück stammte. +Aber Tante Emilie war viel zu musterhaft, um sich in +so wichtigen Dingen auf ihr Gedächtnis zu verlassen. +</p> + +<p> +Auf der Innenseite jeder Büfettür war mit vier +Reißnägeln ein Papier befestigt, auf dem in Tante +Emiliens sehr deutlicher und leserlicher Schrift stand: +</p> + +<div class="list"> +<p class="center"> +Inhalt: +</p> + +<p> +Ein Lederetui mit 12 Suppenlöffeln, gezeichnet L. R. +</p> + +<p> +Ein Holzkasten mit 12 Dessertlöffeln, gezeichnet +G. v. S. +</p> + +<p> +Ein Kasten mit 12 Mokkalöffeln, vergoldet. +</p> + +<p> +Ein brauner Pappkarton mit 9 großen Gabeln, +Alfenid. +</p> + +<p class="center"> +Usw. usw. +</p> + +</div> + +<p class="noindent"> +<a id="page-32" class="pagenum" title="32"></a> +Ja, und an der Hand dieses Zettels ließ es sich mit +unfehlbarer Sicherheit feststellen, daß da ein Kasten +fehlte. +</p> + +<p> +Mette erschrak gar nicht, als sie Tante Emiliens +scharfe, empörte Stimme hörte und das Aufweinen +des gekränkten Hausmädchens. +</p> + +<p> +Sie war nur froh, die Sache richtigstellen zu können. +Gott sei Dank. Sonst wäre die arme Berta womöglich +in den Verdacht des Diebstahls gekommen! Mette +trat ins Zimmer und sagte sehr kühl und ein wenig +hochmütig: +</p> + +<p> +„Du brauchst dich nicht aufregen, Tante. Das +Silber ist da. Ich hab’ es nur verliehen!“ – +</p> + +<p> +Aus dem, was sich in den nächsten Tagen ereignete, +wurde Metten allmählich klar, daß sie etwas getan +hatte, wozu sie nach Ansicht der anderen nicht berechtigt +war. +</p> + +<p> +Das Hausmädchen erzählte jedem, der es hören +wollte, daß in diesem Hause ehrliche Leute verdächtigt +würden, weil das „Quack“ das Silber „klaue“ und +zum Juden trage. +</p> + +<p> +Die alte dicke Köchin weinte und schlug jammernd +die Hände zusammen. +</p> + +<p> +Die Tante ging umher, als hätte das Entsetzen sie +versteinert. Dem Vater traten die Tränen in die +Augen, wenn er sein unseliges Kind ansah. Sogar +<a id="page-33" class="pagenum" title="33"></a> +ein Kinderarzt erschien auf der Bildfläche, der den +grauenerregenden und unheimlichen Titel „Psychiater“ +führte und ein langes Examen mit ihr anstellte. +</p> + +<p> +Und das Fräulein tobte und weinte und schrie und +schimpfte sie „idiotisch“ und „blödsinnig“ und stieß und +kratzte sie und fiel dann wieder vor ihr auf die Knie +und nannte sie „kleine Heilige“ und flehte sie an, zu +schweigen. +</p> + +<p> +Und Mette schwieg. Da sie aber nicht wußte, was +sie verschweigen sollte, so schwieg sie auf alles. Sie +ließ sich fragen, in Ruhe, im Zorn, in stundenlangem +Verhör, sie ließ sich rütteln, sie ließ sich anflehen, sie +ließ sich einsperren – und schwieg. Das Schweigen +wuchs wie eine Mauer um sie herum. Sie hätte nun +nicht mehr hindurch gekonnt, auch wenn sie gewollt +hätte. +</p> + +<p> +Dennoch mußte das Fräulein aus dem Hause. Ob +sie nun beteiligt war oder gänzlich ahnungslos – es +war klar, daß ein Kind nicht so verwahrlosen konnte, +wenn die Erziehung in den richtigen Händen lag. +</p> + +<p> +Das Fräulein ging. Und Mette litt alle Todesqualen +der Trennung und Einsamkeit. +</p> + +<p> +Ich möchte über Friedel Eggebrecht kein Urteil sprechen. +Wenn ich die Geschichte ihres Lebens schreiben +sollte, würde ich versuchen, alles zu verstehen, was sie +getan hat. Sie liebte – und immer ist Liebe gut und +<a id="page-34" class="pagenum" title="34"></a> +schön und edel. So liebte sie, daß sie fähig war, um +ihrer Liebe willen ihre Pflichten zu vergessen und zu +lügen, zu stehlen, zu betrügen. Wer von uns kann +sich rühmen, dessen fähig zu sein? +</p> + +<p> +Immer, wo Liebe ist, ist Leid. Und fast immer, wo +zwei sich lieben, leidet ein Dritter. +</p> + +<p> +Es wäre unsinnig, deswegen zu klagen oder anzuklagen. +</p> + +<p> +Nur Kinder sollten nicht darunter leiden müssen. +</p> + +<p> +Es ist genug, wenn man sie mit Frühaufstehen +peinigt und mit Schularbeiten und mit langweiligen +Sonntags-Spaziergängen. +</p> + +<p> +Aber von Haß und Liebe und Eifersucht, von solchen +Dingen sollten Kinder nicht zu leiden haben. – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Mette wurde in die Schule geschickt. +</p> + +</div> + +<p> +Dafür, daß man ihr das Fräulein genommen hatte, +rächte sie sich nun, indem sie sich dagegen wehrte, irgend +etwas zu lernen. +</p> + +<p> +Während der Schulstunden schickte sie ihre Gedanken +auf Wanderschaft. Manchmal schlug irgend etwas an +ihr Ohr, das ihr Interesse weckte. Dann war die +Versuchung da, hinzuhören, und man mußte eine gewisse +Kraftanstrengung anwenden, um an etwas anderes +zu denken. +</p> + +<p> +<a id="page-35" class="pagenum" title="35"></a> +Aber diese Versuchung kam nicht oft. +</p> + +<p> +Es dauerte über ein Jahr, bis dieser trotzige Widerstand +nach und nach zerbröckelte. +</p> + +<p> +Da war es zu spät, nachzuholen. Sie wollte auch +nicht. Gott bewahre! Sie wendete nicht die geringste +Mühe an, um vorwärts zu kommen. Aber es lohnte +auch nicht mehr, sich zur Wehr zu setzen. Sie tat, was +man von ihr verlangte. Sie tat es darum, weil es +weniger störend war, das unsagbar Geringfügige zu +lernen, als immer lange Straf- und Ermahnpredigten +stehend anzuhören. +</p> + +<p> +Sie wuchs unglaublich rasch in dieser Zeit und war +immer müde. – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Als sie mit der Schule fertig war, saß sie ein paar +Jahr im Hause herum und langweilte sich. Sie nahm +den üblichen Klavierunterricht und übte die vorgeschriebene +Zeit. Aber sie hatte keine anererbte musikalische +Begabung, dagegen eine übertriebene Empfindsamkeit, +so, daß sie litt unter der Unzulänglichkeit +ihres eigenen Spiels, ohne die Fähigkeit oder auch +nur das Streben zu haben, sich selbst Genüge zu +tun. +</p> + +</div> + +<p> +In diesen Jahren wechselten ihre Stimmungen wie +Sonne und Regen im April. +</p> + +<p> +<a id="page-36" class="pagenum" title="36"></a> +Sie sehnte sich danach, tot zu sein, oder mündig, in +einem andern Jahrhundert zu leben, oder in einem +andern Erdteil, Nonne zu werden, oder schön genug +zu sein, um alle Menschen der Welt zu berücken. +</p> + +<p> +Es kamen Märztage, wo sie meinte, zerspringen zu +müssen in ungeduldiger Erwartung des unendlichen +Glücks, dem sie an der nächsten Straßenecke in die +Arme laufen konnte – und es kamen Juninächte, wo +sie aus dem Fenster springen wollte, um sich zu lösen +von den schnürenden Fesseln einer quälenden Leiblichkeit, +um aufzustrahlen gegen das sternhelle Firmament, +um sich auszubreiten, zu zerfließen im unendlichen +Äther, groß zu werden, gewaltig, grenzenlos, +allumfassend. +</p> + +<p> +Es kamen Tage, an denen sie sich vornahm, wie ein +Heiland durch die Welt zu gehen und alle Menschen +zu lieben – an denen sie mit Tante Emilie in einem +Ton so leidenschaftlicher Demut sprach, wie Griseldis +zu ihrem Herrn – und es kamen Tage, da alle Menschen +ihr so verhaßt waren, daß sie körperlich Qualen +ausstand, wenn sie bei Tisch ihrem Vater gegenüber +saß und ihn essen sah. +</p> + +<p> +An Ereignissen waren diese Jahre arm. So arm, +daß Mette selten in ihrem Leben daran zurückdachte, +und wenn die Rede auf etwas kam, was in diesen +<a id="page-37" class="pagenum" title="37"></a> +Jahren geschehen war – eine Reise, eine Geburt oder +Trauerfall im Bekanntenkreis, ein öffentliches Begebnis +– sie immer erst lange nachrechnen mußte, +wann sich das zugetragen haben könne und wie alt +sie gewesen sei, während sie sonst ein auffallendes Gedächtnis +hatte für den Zeitpunkt, an dem Menschen +oder Dinge flüchtig an ihr vorübergestreift waren, +weil sie alles in Verbindung brachte mit den Tagen, +die wie Denksteine in ihr aufgemauert waren – vor +oder nach Olgas Tod – als sie mit Olga zusammen +oder von ihr getrennt war. +</p> + +<p> +Es ist unwichtig, von diesen Jahren zu sprechen – +es wäre auch nicht nötig gewesen, von Friedel Eggebrecht +des Längeren und Breiteren zu reden, aber +Mette sagte selbst so oft in späteren Jahren, wenn sie +auf das „Fräulein“ zu sprechen kam, sagte es mit +einem etwas bitteren Lächeln: „Es war der Auftakt +zu meinem Leben!“ +</p> + +<p> +Als ihr Leben wirklich einsetzte, mit hundert brausenden +Stimmen, mit einem vollen, klingenden und +singenden Motiv, das nie wieder stumm wurde, das +in Dur, in Moll, bald von allen Geigen und Celli, +bald von einer einzigen klagenden Hoboe, in tausend +Verschlingungen, aus tausend Verschleierungen immer +wieder durchklang und durchklingen wird bis zum +Schlußakkord – das war in derselben Minute, da +<a id="page-38" class="pagenum" title="38"></a> +bei Konsul Möbius die Tür aufging und Olga Radó +ins Zimmer trat. +</p> + +<p> +Gegen Konsul Möbius war im allgemeinen nichts +einzuwenden. Es war der Verkehr, den Tante Emilie +selbst ausgesucht hatte. Die Familie stammte irgendwoher +aus Lübeck oder Bremen, und sie sprachen ein +spitzes „st“, was ihren ohnehin manierlichen Umgangsformen +noch einen leisen besonderen Duft von kühler +Vornehmheit verlieh. +</p> + +<p> +Es waren zwei Töchter da, Fanni und Emmi, beide +jünger als Mette, beide rotblond und sehr ordentlich +in Anzug und Haartracht, dabei beide so merkwürdig +belanglos, daß man nach wochenlangem Umgang noch +nicht wußte, ob sie eigentlich hübsch oder häßlich +waren. +</p> + +<p> +Wie es sich mit der Verwandtschaft zu Olga Radó +verhielt, wird sich wohl jetzt mit Sicherheit nicht mehr +feststellen lassen. Als Olga damals in Berlin auftauchte +und alle Welt von ihr begeistert war, hieß es +immer: „Unsere Cousine.“ Später – zu der Zeit, als +Jürgen von Seyblitz schon das Wort von der „kriminellen +Hochstaplerin“ auf sie geprägt hatte – da war +in Frau Konsul Möbius’ Gedächtnis jede Erinnerung +an eine Verwandtschaft völlig erloschen. Ihr +Schwager, der Mann ihrer verstorbenen Schwester, +hatte eine Preßburgerin geheiratet, diese hatte einen +<a id="page-39" class="pagenum" title="39"></a> +Vetter in Budapest, der eine Schwester der Olga Radó +zur Frau hatte ... oder so ähnlich. +</p> + +<p> +Olga selbst hat nebenbei von dieser „Verwandtschaft“ +mit Konsul Möbius nie viel Gebrauch gemacht, +weder in guten noch in schlechten Zeiten. Es ist nicht +vorgekommen, daß sie das Haus betreten hat, wenn +sie nicht dreimal darum gebeten wurde. +</p> + +<p> +Mette hatte mit den Möbiusschen Mädchen und +Erika Hannemann ein Kränzchen. Einmal in der +Woche kamen sie zusammen und machten Handarbeiten +und lasen französische Theaterstücke mit verteilten +Rollen. +</p> + +<p> +Mette langweilte sich wahnsinnig dabei, sie hörte +nie danach hin, wenn die anderen lasen und versäumte +immer, zur rechten Zeit einzufallen. Am schlimmsten +aber war es, wenn sie selber einen langen Absatz zu +lesen hatte. Dann mußte sie bei jeder Zeile ein +Gähnen unterdrücken, so, daß sie nachher immer förmlich +einen Kinnbackenkrampf hatte. +</p> + +<p> +Und an einem solchen Mittwochnachmittag im +April, als die vier wieder in den weißlackierten +Stühlen des zierlichen Mädchenzimmers saßen, an +einem Nachmittag, an dem Fliegen nicht mehr herumschwirrten, +sondern träge über die Kuchenschüsseln +krochen, weil ihnen die Langeweile in der Luft wie +ein Bleigewicht auf den Flügeln lastete, in dem +<a id="page-40" class="pagenum" title="40"></a> +Augenblick, da Fanni Möbius – sie war die einzige, +die eine gewisse Leidenschaft für die Sache hatte und +den Ehrgeiz besaß, immer die dankbarsten Rollen zu +lesen – mit überschwenglichem Pathos und miserabler +Aussprache die Worte las: +</p> + +<div class="poem-container"> + <div class="poem"> + <div class="stanza"> + <p class="verse">„<span class="antiqua">Impitoyable honneur, mortel à mes plaisirs,</span></p> + <p class="verse"><span class="antiqua">que tu me vas coûter de pleurs et de soupirs!</span>“</p> + </div> + </div> +</div> + +<p class="noindent"> +in dem Augenblick ging die Tür auf, und Olga Radó +kam herein. +</p> + +<p> +Es mußte durch einen Zufall irgendwo eine Tür +offenstehen – mit Olga zugleich kam ein Luftzug, +frisch wie ein Windstoß, ins Zimmer. Das angelehnte +Fenster sprang auf, die weiße Mullgardine +blähte sich und flog in die Höhe, die Seiten der Bücher +blätterten sich knisternd um, die Fliegen schwirrten +aufgestört um die Lampe, eine Hand am Himmel riß +einen Wolkenfetzen von der Sonne – blendende Helligkeit +und wehende Luft füllte das Zimmer bis in +seinen letzten Winkel. +</p> + +<p> +Dann schloß sich die Tür mit einem harten Krachen, +die Fensterflügel bewegten sich knarrend, die Gardine +fiel schwer wie ein Sack herunter, eine neue dunklere +Wolke schob sich vor die Sonne – aber dies alles bemerkte +Mette Rudloff nicht – denn sie hatte vollauf +zu tun, Olga Radó zu betrachten und konnte ihre +<a id="page-41" class="pagenum" title="41"></a> +Sinne und ihre Gedanken nicht wieder von ihr abwenden +– für lange Zeit nicht. +</p> + +<p> +Olga war sehr groß und sehr schlank. Ihr Gesicht +war schön und kühn geschnitten. Das schlichte, dunkle, +reiche Haar ließ viel von der hohen und wundervoll +durchgebildeten Stirne frei, die schmalen, schwarzen +Brauen flossen über der Nasenwurzel zusammen, was +den scharfen, metallisch-grauschimmernden Augen einen +fast drohenden Ausdruck gab. Ihre Sprache war +scharf und hart. Aber ihre Stimme hatte einen tiefen, +weichen Celloklang. Das gab einen sonderbaren +Kontrast. +</p> + +<p> +Es war etwas in ihrer Art, sich zu kleiden, was +Mette gefiel, ohne daß sie sagen konnte, warum. +Man konnte es mit einem Wort wie „geschmackvoll“ +oder gar „elegant“ oder „adrett“ nicht abtun. +Mette empfand dunkel: so möchte ich angezogen +gehen. +</p> + +<p> +Woran das lag, das wurde ihr erst viel später klar. +Olga Radó hatte eine fast krankhafte Abneigung gegen +alles, was billig war. Ein billiger Stoff, ein billiger +Schneider waren ihr ein Greuel. +</p> + +<p> +Außerdem hatte sie – wie sie Mette viel später einmal +mit ihrem bezauberndsten Lächeln sagte – „das +sehr ehrenwerte Prinzip, lieber einem Millionär etwas +schuldig zu bleiben, als einer armen kleinen, hungernden +<a id="page-42" class="pagenum" title="42"></a> +Schneiderin“ – also ließ sie nur in den teuersten +Geschäften arbeiten. +</p> + +<p> +Als sie hineinkam, machte Emmi Möbius den mißglückten +Versuch einer feierlichen Vorstellung, den +Olga mit einem kurzen „Ja, ja, schon gut – und so +weiter und so weiter –“ abschnitt, worauf sie jedem +flüchtig ihre große, schmale, kühle Hand reichte, sich +mit einem: +</p> + +<p> +„Bitte, laßt euch nicht stören“ – ein wenig abseits +in den Schaukelstuhl setzte, Fannis kleinen, schwarzen +dicken Hund, der sie wie unsinnig anblaffte und anwedelte, +am Genick packte und auf ihre Knie setzte. +</p> + +<p> +Fanni fuhr fort zu lesen. Vielleicht dachte sie ihrer +Cousine durch diese ernsten wissenschaftlichen Bestrebungen +zu imponieren. +</p> + +<p> +Mette war gezwungen, ins Buch zu sehen und +Olga den Rücken zuzuwenden. Sie hörte nur den +Schaukelstuhl leise auf und ab gehen, ein leichtes +Rauschen der Röcke und manchmal eine halblaute +Bemerkung, die dem Hunde galt. +</p> + +<p> +Mette verspürte Trockenheit im Hals und rasendes +Herzklopfen, als sie lesen sollte. Nie hatte sie sich in +der Schule so geängstigt, und wenn sie noch so unpräpariert +„drangekommen“ war. In jedem Wort +schien ihr eine Fußangel versteckt. Sie würde alles +falsch aussprechen und sich unrettbar blamieren. Es +<a id="page-43" class="pagenum" title="43"></a> +war wirklich ein Skandal, so wenig Französisch zu +können. Morgen wollte sie zu Vater gehen und ihn +um französische Konversationsstunden bitten. Er +würde sich freuen, wenn sie ihm einmal mit solchem +Anliegen kam. +</p> + +<p> +Sie war glücklich, als sie ihre paar Sätzchen hervorgewürgt +hatte. Dann kam Erika, und dann las Fanni +wieder mit allem ihr zu Gebote stehenden Pathos. +</p> + +<p> +Plötzlich flog der Schaukelstuhl mit einem hörbaren +Ruck nach vorn, und eine tiefe, verwunderte Stimme +fragte mitten in den Satz hinein: +</p> + +<p> +„Sagt mal, was lest ihr denn da eigentlich?“ +</p> + +<p> +„Den Cid!“ sagte Fanni in einem unendlich ausdrucksvollen +Ton. +</p> + +<p> +Es sollte ganz leicht hingesagt werden, und doch +zitterte die Ehrfurcht vor der eigenen Gelehrsamkeit +darin. Es sollte ausdrücken: Das hört doch ein gebildeter +Mensch beim ersten Wort, und zugleich: Freilich, +dergleichen liest du ja nicht, das ist dir zu +klassisch, zu langweilig. +</p> + +<p> +Olga schenkte diesem Ton gar keine Beachtung. Sie +schien mit einer leichten ungeduldigen Handbewegung +die Antwort als unzulänglich beiseite zu werfen. +</p> + +<p> +„Was für eine Sprache, meine ich?!“ +</p> + +<p> +Die Mädchen sahen sich an und lachten, halb erstaunt +<a id="page-44" class="pagenum" title="44"></a> +und halb verlegen. Nur Mette lachte nicht, +sondern schämte sich qualvoll. +</p> + +<p> +Die Möbiussens kannten ihre Cousine zu gut, um +zu antworten. Aber Erika Hannemann war wirklich +der Meinung, Olga Radó wäre in fremden Sprachen +nicht so bewandert wie sie und sagte mit der ganzen +Herablassung der höheren Tochter: +</p> + +<p> +„Französisch!“ +</p> + +<p> +Der Schaukelstuhl glitt wieder zurück. Über Olgas +Gesicht zuckte nicht der Schein eines Lächelns. Sie +sagte mit so langgezogener Verwunderung, als hätte +ihr jemand im Ernst eine überraschende Mitteilung +gemacht: +</p> + +<p> +„Französisch soll das sein?!“ +</p> + +<p> +Nun wollte Emmi ihr das Buch aufdrängen. Ob +es wirklich Bildungstrieb bei ihr war oder die Absicht, +sich vor den anderen mit Olgas wunderschönem Französisch +großzutun, sie quälte und quängelte: +</p> + +<p> +„Lies <em>du</em> doch, ach bitte, bitte, nur eine halbe Seite, +nur einen Satz!“ +</p> + +<p> +„Hältst du mich für verrückt?“ +</p> + +<p> +„Ach bitte, bitte!“ +</p> + +<p> +„Den Deibel auch! Ich bin doch nicht eure Gouvernante!“ +</p> + +<p> +Und da das Buch sich nicht von ihr entfernen wollte, +knipste sie mit den Fingern dagegen, daß es mit einem +<a id="page-45" class="pagenum" title="45"></a> +schönen großen Bogen auf den Teppich hüpfte und +mit zugeschlagenen Deckeln liegen blieb. +</p> + +<p> +Mette war sehr froh. Nun war die Leserei für +heute beendet. Sie brauchte nicht die langen Sätze +des Königs zu lesen, vor denen sie sich schon gefürchtet +hatte. Sie brauchte sich nicht zu blamieren und nicht +zu langweilen. Und vor allem – sie konnte ihren +Stuhl herumdrehen und Olga Radó anstarren. +</p> + +<p> +Es war so interessant, ihren Bewegungen oder dem +fortwährend wechselnden Ausdruck ihres Gesichtes zuzusehen. +</p> + +<p> +Mette war sich klar darüber, daß diese Frau ihr +gefiel. Und doch spürte sie in ihrem Empfinden mehr +Feindseligkeit als Zuneigung. Niemand von den +andern schien beleidigt. Mette war es, als ob der +scharfe Spott nur sie getroffen hätte, nur sie hätte +treffen sollen. +</p> + +<p> +Sie hätte viel darum gegeben, wenn sie die Spitze +hätte zurückwerfen können, oder sich wenigstens mit +Trotz und Verachtung panzern. Aber sie fühlte sich +wehrlos, hilflos preisgegeben und wünschte sich, unsichtbar +zu sein, sich in ein Mauseloch zu verkriechen, +um zu sehen, zu hören, zu beobachten, ohne bemerkt +zu werden – um jeden Blick dieser Augen, jedes +Wort dieser Stimme gierig in sich aufzunehmen, +ohne davor zu zittern, daß ein scharfer Blick, ein +<a id="page-46" class="pagenum" title="46"></a> +scharfes Wort sie treffen, sie verletzen, sie demütigen +konnte. +</p> + +<p> +Olga Radó schenkte ihr indessen keine Beachtung. +Sie hatte auf dem Fußbrett eines Tischchens eine +Zigarettenschachtel entdeckt und zog sie hervor. Daneben, +in zierlichem Kästchen, lag ein Spiel Karten. +</p> + +<p> +„Da, schau her! Zigaretten haben die Mäderln +auch hier! Ihr seid mir ja ein schöner Klub der +Harmlosen! Offiziell wird der Cid gelesen, und +wenn kein Erwachsener es merkt, dann wird hier geraucht +und gepokert!“ +</p> + +<p> +Fanni Möbius wollte sich halbtot lachen, sowohl +über die Zumutung, daß sie pokern sollte, als darüber, +daß sie mit ihren achtzehn Jahren noch nicht zu den +Erwachsenen gerechnet wurde. +</p> + +<p> +„Es sind Emmis Karten!“ +</p> + +<p> +„Nein!“ schrie Emmi. +</p> + +<p> +„Doch! Ich sag’s, Emmi, ich sag’s! Sie legt sich +jeden Abend Patiencen – und fragt ...“ +</p> + +<p> +„Tu doch nicht so – du legst dir ja auch welche ...“ +</p> + +<p> +„... und fragt ...“ +</p> + +<p> +„... Sie lügt, sie lügt, sie lügt!“ +</p> + +<p> +„... und fragt ... soll ich’s sagen, Emmi? ...“ +</p> + +<p> +„... sei still! ...“ +</p> + +<p> +Zwischen den beiden Schwestern entspann sich ein +Handgemenge, das Tischchen kam ins Schwanken. +<a id="page-47" class="pagenum" title="47"></a> +Olga rettete es mit einem raschen und kraftvollen Zugreifen. +</p> + +<p> +„Kinder, tobt nicht so!“ sagte sie ruhig. „Bist du +so neugierig, deine Zukunft zu erfahren, Emmilein?“ +</p> + +<p> +Das „Emmilein“ gab Metten einen leisen Stich. +Wie kam der alberne Backfisch dazu, von dieser Frau +mit solcher Vertraulichkeit angeredet zu werden?! +</p> + +<p> +„Soll ich dir mal die Karten legen?“ +</p> + +<p> +„Kannst du das, Olga? Oh, fein!“ +</p> + +<p> +„Ja, mach, bitte, bitte, mir auch!“ +</p> + +<p> +„Wirklich, ja? Kannst du das?“ +</p> + +<p> +„Natürlich!“ sagte Olga ernsthaft. „Das ist doch +das einzige, was ich kann. Das hab’ ich wenigstens +gelernt von den Zigeunern. Wenn’s einmal schief mit +mir geht, etablier ich mich als Kartenlegerin. Weißt +du, mit Eule und Totenkopf und Kaffeegrund und +allem Zubehör. Im Dutzend billiger. Nimmst du +Abonnement bei mir?“ +</p> + +<p> +„Ehrensache!“ versprach Emmi. „Aber heut’ machst +du’s noch umsonst!“ +</p> + +<p> +„Nein,“ sagte Olga, „für eine Zigarette.“ +</p> + +<p> +Sie nahm den Kasten auf und schob eine zwischen +die Zähne. „Ich hab’ nämlich keine bei mir!“ +</p> + +<p> +Erika Hannemann beeilte sich, ihr ein brennendes +Streichholz zu reichen. Sie sog ein paarmal an der +<a id="page-48" class="pagenum" title="48"></a> +Zigarette, bis sie aufflammte und schlug das Streichholz +durch die Luft, daß es erlosch. +</p> + +<p> +„Danke!“ sagte sie dann erst. +</p> + +<p> +Mit einem flüchtigen Blick sah sie, daß Mette sich +eine Zigarette genommen hatte. +</p> + +<p> +„O Verzeihung!“ sagte sie so bedauernd, als hätte +sie ein wirkliches Unrecht abzubitten, während ein +halber Blick die Aschenschale mit dem verglimmenden +Streichholz streifte. Rasch, fast eilig nahm sie aus +ihrer Tasche ein kleines goldenes Feuerzeug, strich es +an und reichte Metten das Flämmchen hinüber. In +ihren Bewegungen, die die einfachsten, die ungezwungensten +von der Welt waren, lag ein eigener Ausdruck. +</p> + +<p> +Es war weit mehr als Höflichkeit, und doch lag +keine Spur von Unterwürfigkeit darin. Es war eine +Mischung von Zuvorkommenheit und Zurückhaltung, +von Adel und Dienstbeflissenheit, die man nicht gut +anders als mit dem Wort „chevaleresk“ bezeichnen +konnte. +</p> + +<p> +Sie bot auch den andern Zigaretten und Feuer. +</p> + +<p> +„Raucht, Kinder, raucht! Wenn die Mutter nachher +schimpft, bin ich’s gewesen.“ +</p> + +<p> +Sie hielt immer noch den kleinen schwarzen Hund +auf den Knien und blies ihm den Zigarettenrauch um +die Nase. Der Hund schnitt possierliche Grimassen, +und sie bemühte sich, ihm nachzumachen. – +</p> + +<p> +<a id="page-49" class="pagenum" title="49"></a> +Sie hatte überhaupt die Angewohnheit, ihr Gesicht +zu verzerren, ohne im geringsten Rücksicht darauf zu +nehmen, ob es sie kleidete oder entstellte, so daß man +sich manchmal qualvoll danach sehnte, das allzu lebhafte +Mienenspiel zu unterbrechen, um die regelmäßige +Schönheit der Züge genießen zu können. +</p> + +<p> +Nur sagen durfte man ihr das nicht, sonst bekam sie +es fertig, ohne Aufhören die greulichsten Fratzen zu +schneiden. +</p> + +<p> +Der Hund rümpfte die Nase, drehte den Kopf und +hustete und prustete in beleidigter Würde. +</p> + +<p> +„Ihr dürft eure Sophonisbe nicht so verfüttern, +Kinder!“ sagte Olga. „Sie hat ja schon Asthma vor +Fettsucht, das arme Viech!“ +</p> + +<p> +Die Mädchen lachten kreischend auf. +</p> + +<p> +„Sophonisbe! Wie kommst du nur auf Sophonisbe?“ +</p> + +<p> +„Er heißt doch Mäuschen.“ +</p> + +<p> +„Er?“ sagte Olga spöttisch und legte das zappelnde +Tier mit einem festen Griff auf den Rücken. „Er ist +ganz bestimmt eine Sie. Und sie sieht aus wie +Sophonisbe!“ +</p> + +<p> +Die Mädchen erröteten bis über die Ohren und +kicherten nur noch in gedämpften Tönen. +</p> + +<p> +„Nein, Olga, wie du aber auch bist!“ +</p> + +<p> +„<em>Warum</em> sieht sie aus wie Sophonisbe?“ +</p> + +<p> +<a id="page-50" class="pagenum" title="50"></a> +„Ich weiß nicht,“ sagte Olga plötzlich müde. Ihr +Gesicht war einen Augenblick ganz ruhig, ihre Augen +sahen irgendwohin, an den Mädchen vorüber, durch +die Wände hindurch. +</p> + +<p> +„Danach dürft ihr mich doch nicht fragen. Auf die +Frage: Wie? kann ich manchmal antworten, aber niemals +auf die Frage: Warum?“ +</p> + +<p> +Sie zog den Hund wieder in die Höhe und versuchte, +ihm die Zigarette in die Schnauze zu stecken. +</p> + +<p> +„Magst du rauchen, Sophonisbe? Da! Schmeckt’s, +Alterchen?“ +</p> + +<p> +Der <a id="corr-0"></a>Hund drehte den Kopf und leckte mit der Zunge +nach ihrer Hand, die ihn im Genick festhielt. Mit +einer Gebärde des Widerwillens warf sie die Zigarette +in die Aschenschale und ließ den Hund auf die Erde +gleiten. +</p> + +<p> +„Du mußt dem Köter das Lecken abgewöhnen, +Fanni,“ sagte sie. „Ich sehe dich ja doch noch am +Hundewurm zugrunde gehen.“ +</p> + +<p> +„Ach, Unsinn!“ sagte Fanni und nahm den beleidigten +Hund zärtlich in die Arme. „Mein Hund +hat keine Würmer! Nicht wahr, Mäuschen, wo du +doch so schön rein gehalten wirst?“ +</p> + +<p> +Der Hund schnupperte zärtlich nach ihrem Gesicht. +</p> + +<p> +Olga zog die Brauen zusammen und machte eine +hastige Bewegung, als wollte sie ihr den Hund wegnehmen. +<a id="page-51" class="pagenum" title="51"></a> +Aber sie unterbrach sich und lehnte sich in den +Schaukelstuhl zurück. +</p> + +<p> +„Meinetwegen,“ sagte sie, „der Mensch muß an dem +zugrunde gehen, was er liebt. Mir wär ja so ein +Köter das nicht wert. Aber wenn es dir Vergnügen +macht. Schließlich, ob du nun am Echinokokkus +krepierst, oder ob dich nachher ein Liebster oder kirchlich +angetrauter Gatte mit Syphilis behaftet ...“ +</p> + +<p> +Die drei Mädchen kriegten glühendrote Köpfe und +fingen an zu kichern. +</p> + +<p> +Auch Olga Radó wurde rot. Aber es war eine +andere Art zu erröten. Die hellen Gesichter der blonden +Mädchen waren wie gedunsen vom Blut und vom +unterdrückten Lachen. Über Olgas Gesicht lief das tiefe +Rot wie ein flüchtiger Schatten, wie eine Wolke, die +für einen Herzschlag selbst die Augen verdunkelte. +</p> + +<p> +„Gänse!“ sagte sie zornig, „da ist doch, weiß Gott, +nichts zu lachen.“ +</p> + +<p> +Die Mädchen wollten sich entschuldigen und konnten +vor Prusten und Kichern nicht reden. +</p> + +<p> +Olga hob die Hand und ließ sie fallen – durch die +abendliche Dämmerung leuchtete die lange, schmale +Hand mit einem seltsamen Glanz wie Silber oder +Perlmutter – mit einer Geste, die ganz deutlich „Ach, +laßt doch!“ sagte, so deutlich, als stände es in der Luft +geschrieben. +</p> + +<p> +<a id="page-52" class="pagenum" title="52"></a> +Sie saß jetzt ganz vornübergebeugt. Ihre Hände +lagen wie müde zwischen ihren Knien. Sie starrte +hinaus in das blaue Dämmerlicht und das knospenbedeckte +Gewirr der braunen Zweige. +</p> + +<p> +Sie schwiegen alle eine Weile. Dann fingen Emmi +und Erika ein Gespräch an, im Flüsterton, als wagten +sie kaum, sich bemerkbar zu machen. +</p> + +<p> +So plötzlich stand Olga auf, daß der Schaukelstuhl +nach rückwärts flog. +</p> + +<p> +„Macht Licht an!“ sagte sie beinah herrisch. „Ich +werd’ euch die Karten legen!“ – +</p> + +<p> +Sie saß am Tisch unter der Lampe. Das gelbe Licht +fiel schimmernd auf ihr Haar und auf ihre hellen +Hände, die mit raschen Bewegungen die Karten +mischten und ausbreiteten. +</p> + +<p> +„Wem zuerst? Dir, Fanni? Dann mußt du abheben +– dreimal – so! Muß ich nun auch erst +Hokuspokus sagen, oder glaubt ihr mir so? – Die +Karodame bist du – da liegt ein schwarzer Jüngling +– da liegt eine Reise, in der Vergangenheit – +ein heimlicher Brief – in der nächsten Woche – oh, +Ärger im Haus – das hängt mit dem Brief zusammen +– Trennung – viele Tränen – siehst du die +Treffzehn? – Da liegt eine große Veränderung – eine +neue Bekanntschaft – ein blonder Herr – Verlobung +und Heirat – viel Glück ins Haus – aber der +<a id="page-53" class="pagenum" title="53"></a> +Schwarze liegt doch dazwischen – neben dem Blonden +liegt Reichtum und große Ehre ...“ +</p> + +<p> +Die Mädchen horchten in fieberhafter Spannung, +Fanni preßte die Hand mit dem Taschentuch vor die +Zähne und kniff Emmi bei jedem Wort in den Arm, +während Emmi und Erika mit mühsam unterdrücktem +Gekreische in halb artikulierte Rufe ausbrachen, die +man ganz gut als „Max“ und „Travemünde“ deuten +konnte. +</p> + +<p> +„Ich glaube nicht an Kartenlegen,“ sagte Erika +Hannemann überlegen, „aber aus der Hand wahrsagen, +da ist schon eher was dran. Meinem Vetter +hat mal eine Zigeunerin gewahrsagt ...“ +</p> + +<p> +„Kannst du aus der Hand wahrsagen?“ schrie Emmi. +„Ach, bitte, bitte, Olga, kannst du nicht aus der Hand +wahrsagen? Oder besser aus den Karten?“ +</p> + +<p> +„Ich kann auch aus der Hand wahrsagen,“ sagte +Olga, „genau so gut wie aus den Karten.“ +</p> + +<p> +Sie nahm Emmis kleine, rundliche Hand und zog +gedankenvoll die Linien nach. +</p> + +<p> +„Die Lebenslinie ist ganz, siehst du? Du wirst ein +langes Leben haben – aber die Linie des Hirns ist +zerschnitten – die Linie des Tisches hast du überhaupt +nicht – – –“ +</p> + +<p> +„Was bedeutet die?“ forschte Emmi dringend. +</p> + +<p> +„Je nachdem – Güte oder Bosheit – du bist jenseits +<a id="page-54" class="pagenum" title="54"></a> +von gut und böse.“ Dabei zuckte es um ihre +Mundwinkel. „Aber hier, Ordnung und Sparsamkeit, +die sind sehr ausgeprägt bei dir – das scheinen +deine Haupteigenschaften –“ +</p> + +<p> +Jetzt war die Reihe zu lachen an Fanni. +</p> + +<p> +„Aber nimm dich nur in acht, dir steht eine unglückliche +Liebe bevor – in Verbindung mit einer Kunst +– mit Musik, glaub’ ich ...“ +</p> + +<p> +Emmi wurde blutrot und Fanni tanzte auf einem +Bein herum und schrie: +</p> + +<p> +„Wassermüller, Wassermüller!“ +</p> + +<p> +Das war der Klavierlehrer. +</p> + +<p> +Mette war befangen in einem sonderbaren Zwiespalt. +Sie hätte so gern sich wahrsagen lassen – +schon, um die schöne Frau anreden zu dürfen. +</p> + +<p> +Dabei schien es ihr aufdringlich, sie zu belästigen. +Sie wollte auch nicht gern für abergläubisch gehalten +werden. +</p> + +<p> +Olga Radó belustigte sich sicherlich über den Feuereifer, +mit dem die Mädels bei der Sache waren. Und +dann wieder hatte Mette eine Angst, die sie selbst kindisch +schalt: so, als wäre doch vielleicht ein geheimnisvoller +Zauber in dieser Spielerei, und es könnte klar +und deutlich eine furchtbare Eigenschaft in ihrer Handfläche +stehen, eine, die sie selbst nicht kannte, oder ein +entsetzliches Schicksal. +</p> + +<p> +<a id="page-55" class="pagenum" title="55"></a> +Vielleicht würde die schöne Zigeunerin vor Schreck +erblassen und sagen: „Quälen Sie mich nicht, ich +kann Ihnen die Wahrheit nicht sagen, die da zu +lesen ist.“ +</p> + +<p> +Und plötzlich stand sie doch neben Emmi und streckte +die Hand aus und sagte: +</p> + +<p> +„Ach, bitte, bitte, mir auch!“ +</p> + +<p> +Olga sah zu ihr auf, und zum erstenmal trafen sich +ihre Augen und blieben für ein paar Sekunden ineinander +haften. +</p> + +<p> +Olga lächelte. Und Metten wurde bewußt, daß sie +dies Lächeln zum erstenmal sah. In dem fortwährend +wechselnden Mienenspiel blieb das Gesicht fast immer +ernst. Sie runzelte die Brauen, kniff die Augen zusammen, +schob den Unterkiefer vor, legte die Zähne +auf die Lippe, zuckte mit den Nasenflügeln, verzog +die Mundwinkel in leichtem Spott, aber sie lächelte +sehr selten. Jetzt zum erstenmal lächelte sie, lächelte +Metten an, und es schien wirklich, als ob das ganze +Gesicht seltsam erhellt wurde von einem plötzlich durchbrechenden +Licht. +</p> + +<p> +„Aber, Mädelchen!“ sagte sie halblaut mit ihrer +tiefen Stimme. „Von Ihnen weiß ich doch nix! ...“ +</p> + +<p> +Als sie nachher auf der Diele nebeneinander standen +und vorm Spiegel die Hüte aufsetzten, sah Mette mit +einer unerklärlichen Freude, daß sie fast ebenso groß +<a id="page-56" class="pagenum" title="56"></a> +war wie Olga Radó, viel größer als die drei blonden, +rundlichen Mädels. +</p> + +<p> +Sie gingen zu dritt die Treppen hinunter und ein +Stück die Straßen entlang. Erika Hannemann führte +das Gespräch. +</p> + +<p> +„Nein, wie Sie das wissen konnten, Fräulein +Radó, von Travemünde die Sache und von Wassermüller +... von Fannis Max weiß ich ja alles, weil +ich es direkt miterlebt habe – ich war ja auch in +Travemünde ... kennen Sie es? – Ach, Travemünde +ist entzückend ... Ich möchte dies Jahr zu gern wieder +hin, es hat so feines Publikum, soviel gute Hamburger +und Lübecker Familien ... aber meine Eltern +wollen ins Gebirge ... ins Salzkammergut, glaub’ +ich ... wissen Sie da nicht irgendeinen hübschen Ort? +Aber einen, wo ein bißchen was los ist?!“ +</p> + +<p> +Olga Radó sagte von Zeit zu Zeit: „Ja, nicht?“ +– „nein!“ – „so!“ – „ach!“ – „nein!“ – +</p> + +<p> +Mette schwieg. +</p> + +<p> +An irgendeiner Ecke nahm Erika Hannemann Abschied +und bog links um. +</p> + +<p> +Olga und Mette gingen eine Weile schweigend mit +raschen Schritten nebeneinander her. +</p> + +<p> +Mette hätte längst abbiegen müssen, wenn sie auf +dem nächsten Weg nach Hause wollte. Sie kam sich +aufdringlich vor, daß sie immer noch nebenher lief, +<a id="page-57" class="pagenum" title="57"></a> +aber sie war viel zu froh, daß Erika endlich fort war +– so, als sei nun die Luft reiner geworden und man +könne freier ausschreiten – es war eine Freude, sich +dem Takt dieser schönen und gleichmäßigen Schritte +anzupassen, und sie tröstete sich damit, daß ja niemand +wußte, wo sie wohnte, und daß sie ein Recht +auf die Straße hatte, gerade so gut wie jeder andere +auch. +</p> + +<p> +Mette sah jedem Haus mit einer gewissen Beklommenheit +entgegen: War es nun dies oder das nächste, +an dem Olga Radó stehenblieb, nach einem flüchtigen +Gruß hineinging, eine schwere Tür hinter sich verschloß +und die Straße sehr einsam und öde hinter sich +zurückließ? +</p> + +<p> +Nach einem minutenlangen Schweigen sagte Olga +plötzlich: +</p> + +<p> +„Es war nicht richtig, in Gegenwart dieser Kälber +von Syphilis zu reden, gelt? – Sie werden sehr +chokiert gewesen sein.“ +</p> + +<p> +„Ich?“ sagte Mette und bekam einen roten Kopf. +</p> + +<p> +„Nein, nein! Sie nicht! Sie – klein geschrieben +– die Kälber.“ +</p> + +<p> +„Aber, gnädiges Fräulein! Machen Sie sich darüber +Gedanken?“ Es schien Metten wirklich höchst +lächerlich, sich über das Urteil der Kälber Gedanken +zu machen. +</p> + +<p> +<a id="page-58" class="pagenum" title="58"></a> +„Ja doch!“ Olga Radó wandte den Kopf und heftete +die Augen einen Moment lang scharf und ernst auf ihr +Gesicht. „Denken Sie, ich mache mir darüber Gedanken. +So etwas kann mich direkt quälen. Ich verkehre +nur mit so erwachsenen Menschen, daß ich ganz +die Schätzung verloren habe, was man in einer solchen +Gesellschaft sagen darf. Ich glaube, die jungen Mädchen +aus guter Familie dürfen von Syphilis nicht +eher etwas hören, als bis sie sie selber haben.“ +</p> + +<p> +Mette lachte mit geschlossenen Zähnen leise auf. +</p> + +<p> +„Es wäre schon zum Lachen,“ sagte Olga Radó, +„wenn es nur nicht so furchtbar traurig wäre. Ich +habe jetzt wieder so einen Fall erlebt. Darum komme +ich mit den Gedanken nicht los davon ... Sagen +Sie, war ich sehr unliebenswürdig zu dem kleinen +Ekel?“ +</p> + +<p> +Jetzt lachte Mette hell auf. +</p> + +<p> +„Zu wem?“ +</p> + +<p> +„Ich weiß nicht, wie das heißt. Was hier neben +uns herlief. Sie sind doch nicht befreundet, gell, +nein? Verzeihen Sie, das war eine dumme +Frage!“ +</p> + +<p> +Metten war, als hätte noch nie im Leben jemand +ihr ein solches Lob gespendet. Sie war stolz und +dankbar zu gleicher Zeit. +</p> + +<p> +„Ich bin mit keinem Menschen befreundet,“ sagte +<a id="page-59" class="pagenum" title="59"></a> +sie, ernster und schwerer, als es eigentlich ihre Absicht +gewesen war. +</p> + +<p> +Nun war doch das Haus da, vor dem Olga Radó +plötzlich stehenblieb. +</p> + +<p> +„Hier bin ich daheim,“ sagte sie, „wenn man ein +Pensionszimmer ‚daheim‘ nennen darf. Aber – +schließlich – was darf man so nennen? Kennen Sie +die Pension Flesch?“ +</p> + +<p> +„Ich kenne überhaupt keine Pensionen.“ +</p> + +<p> +„Sie Glückliche! Sie wohnen bei Ihren Eltern!?“ +</p> + +<p> +„Bei meinem Vater.“ +</p> + +<p> +„Ach, die Pension ist ganz nett. Ich habe in schlimmeren +gehaust. Kommen Sie doch gelegentlich mal +hinauf zu mir und schaun’s sich meine Bude an!“ +</p> + +<p> +„Aber gern!“ – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Dies „gern“ war keine leicht hingesprochene +Redensart. +</p> + +</div> + +<p> +Mette dachte in der nächsten Zeit Tag und Nacht +darüber nach, wie sie es anstellen sollte, dieser Aufforderung +zu folgen und Olga Radó aufzusuchen. +</p> + +<p> +Sie war manchmal schon auf dem Wege, hinzugehen. +Dann kehrte sie um, weil sie sich lieber vorher +telephonisch anmelden wollte. Wieder schien es ihr +unpassend, einen Menschen durch telephonischen Anruf +<a id="page-60" class="pagenum" title="60"></a> +zu stören. Sie wollte ihr schreiben. Aber das gab +der Sache einen solchen Anstrich von Wichtigkeit und +Förmlichkeit, nahm ihr alles Zufällige, Gelegentliche. +Und dann – wenn sie eine höfliche Absage bekam, +war ihr jede Möglichkeit genommen, einen weiteren +Versuch zu machen. Wenn sie dagegen einfach hinging +und sie nicht antraf, konnte sie ihre Karte mit ein paar +Worten dalassen – und auf eine Nachricht warten. +</p> + +<p> +Sie ging – ging bis vors Haus und ging doch +wieder nicht hinauf. Aber sie ging ein paarmal die +Straße auf und ab und stand sehr lange und versunken +vor einigen äußerst reizlosen Auslagen. Es hätte doch +sein können, daß Olga Radó zufällig gerade um diese +Zeit das Haus verließ, oder besser noch, heimkam, und +sie aufforderte, mit hinaufzugehen. +</p> + +<p> +Außerdem pflegte Mette den Verkehr mit Möbiussens +mit rührendem Eifer. Sie lud sie ein, sooft es Tante +Emilie erlaubte, sie ging hin, sooft sie aufgefordert +wurde; sie hatte zwischendurch hundertmal zu telephonieren, +um irgendeine Verabredung festzustellen. +Sie lieh sich Bücher aus, die sie holen und wiederbringen +mußte und bemühte sich bei alledem, so +liebenswürdig zu sein, daß Frau Konsul ganz entzückt +von ihr war und Tante Emilien gegenüber nicht +oft genug betonen konnte, wie Mette sich zu ihrem +Vorteil verändere – was Tante Emilie meist mit +<a id="page-61" class="pagenum" title="61"></a> +einem stummen und fast beleidigten Achselzucken erwiderte. +</p> + +<p> +Das ging durch Wochen so. Aber Mette verlor die +Geduld nicht. Es war genug, wenn von Zeit zu Zeit +ein Wort fiel, „... wie Olga immer sagt“ oder „das +hat Olga so gern“. Es war genug und fast zu viel, +wenn Fanni sagte: +</p> + +<p> +„Gestern abend war Olga auf einen Sprung oben, +ich finde, sie sieht schlecht aus!“ +</p> + +<p> +Oder, wenn Emmi, die sich in dieser Zeit so etwas +wie eine Schwärmerei für Mette zurechtlegte, sagte: +</p> + +<p> +„Mette hat so wunderschöne Hände, beinah so schöne +wie Olga ...“ +</p> + +<p> +Ach, es war genug, den kleinen schwarzen Hund auf +den Knien zu halten und ihn lachend „Sophonisbe“ zu +nennen. +</p> + +<p> +All das gab Hoffnung und Spannung für Tage. +Mette fing in dieser Zeit an, das Leben schön zu +finden. +</p> + +<p> +Aber sie wußte nicht, warum. – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Eines Abends – die Mädels saßen noch im +Dämmer zusammen – weil es sich besser reden ließ +als beim grellen Lampenlicht, und Mette ließ sich zum +drittenmal die Geschichte von Max und Travemünde +<a id="page-62" class="pagenum" title="62"></a> +erzählen, und wie es „angefangen“ hatte – schrillte +die Klingel, und ein paar Sekunden später klang im +Nebenzimmer mit Frau Konsuls dünnem, sanftem +Organ die tiefe, tönende Stimme, die Metten ein Erschrecken +bis ins Herz jagte. +</p> + +</div> + +<p> +Sie kannte diese Stimme so genau und fürchtete +doch, daß sie sich täuschen könnte. Sie wollte fragen: +„Ist das nicht Olga?“ und fürchtete, ein „Nein“ als +Antwort zu bekommen. Und mehr als alles fürchtete +sie, daß dies Gespräch nebenan verstummen könnte – +daß die Türen gehen könnten und es nachher heißen +würde: „Eben war Olga auf einen Moment hier“. +</p> + +<p> +Die Stimmen verstummten nicht. Sie wurden +lauter, kamen näher, die Tür wurde rasch und weit +aufgemacht, und im Rahmen stand Olgas hohe Erscheinung, +abgehoben von dem gelben Licht, das das +Nebenzimmer füllte, wie ein gedunkeltes Bild von +goldenem Grund. +</p> + +<p> +„Kinder, wollt ihr morgen bei mir Tee trinken?“ rief +sie in das dunkle Zimmer. „Ich habe ‚Kugler‘ geschickt +bekommen.“ +</p> + +<p> +Die beiden Möbius-Mädchen juchten auf. +</p> + +<p> +Emmi rückte einen Stuhl und wollte Olga hineinziehen, +aber die wehrte ab und ließ die Hand nicht von +der Türklinke. +</p> + +<p> +„Nein, nein, Kinder, ich habe keine Minute Zeit. +<a id="page-63" class="pagenum" title="63"></a> +Aber kommt morgen zeitig, um vier, halb fünf +spätestens, ich muß abends in die Oper.“ +</p> + +<p> +Mette rührte sich nicht. Als die Tür aufging, hatte +sie ein halblautes „Guten Abend“ gesagt. Nun schien +es ihr aufdringlich, sich irgendwie bemerkbar zu machen. +Vielleicht hatte Olga sie in ihrer dämmerigen Ecke gar +nicht gesehen. Vielleicht hatte sie sie aber auch nicht +sehen wollen. Es wäre ja begreiflich gewesen. Aber +irgend etwas tat weh dabei. +</p> + +<p> +„Wollen Sie nicht mitkommen, Fräulein Rudloff? +Wenn Sie nix Besseres vorhaben – Sie sind herzlichst +eingeladen ...“ +</p> + +<p> +„Gern!“ sagte Mette, und wurde blaß vor Freude. +– – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Am andern Tag brachte Mette so viel Zeit damit +hin, sich anzuziehen und herzurichten, als ob sie zum +Ball gehen wollte. +</p> + +</div> + +<p> +Tante Emilie war für Ordnung und Sauberkeit in +der Kleidung, soweit das eben zur Musterhaftigkeit +gehörte, aber beileibe nicht für mehr. Ein Mensch, +der mit aller Gewalt hübsch aussehen wollte, der war +schon halb in den Krallen des Satans. +</p> + +<p> +(Ach, wie recht hatte doch Tante Emilie manchmal +mit ihren Ansichten!) +</p> + +<p> +<a id="page-64" class="pagenum" title="64"></a> +Mette wollte heute mit aller Gewalt hübsch aussehen. +Sie schnitt und feilte und polierte eine Stunde +an ihren Nägeln. Sie versuchte dreimal eine neue +Haartracht. Sie überlegte, unter welchem Vorwand +sie das blaue Taffetkleid anziehen sollte, es war das +gute, das neue, das einzige, in dem sie, ihrer Meinung +nach, erträglich aussah. Aber Tante Emilie würde es +ihr ja für einen einfachen, kleinen Nachmittagstee nie +gestatten. +</p> + +<p> +Tante Emilie ging <em>schon</em> herum, als wollte sie +durch fortdauernde Spionage die Bestätigung eines +furchtbaren Verdachtes erbringen. +</p> + +<p> +Alle paar Minuten wurde die Tür zu Mettes +Zimmer aufgerissen. +</p> + +<p> +„Herr Gott im Himmel! Du frisierst dich <em>noch</em>?“ +</p> + +<p> +Und nach fünf Minuten: +</p> + +<p> +„In <em>welcher</em> Straße ist das, wo ihr nachmittag +hingeht?“ +</p> + +<p> +Nach zwei Minuten: +</p> + +<p> +„... <em>noch</em> dünnere Strümpfe konntest du wohl +nicht anziehen?! Es ist heut absolut nicht so übermäßig +warm. Ich weiß nicht, in <em>meiner</em> Jugend +war das überhaupt nicht Mode ...“ +</p> + +<p> +„Holen Möbiussens dich ab, oder holst du sie ab?“ +</p> + +<p> +„Ich würde mir doch an deiner Stelle eine Maniküre +kommen lassen!“ +</p> + +<p> +<a id="page-65" class="pagenum" title="65"></a> +„Wer ist denn da <em>noch</em>? <em>Bloß</em> ihr drei?“ +</p> + +<p> +Angesichts dieser Inquisition beschloß Mette, lieber +in Rock und Bluse zu gehen und des blauen Taffetkleides +lieber gar nicht erst Erwähnung zu tun. – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Als Mette die Wohnung verlassen wollte, stand +Tante Emilie mit Kapotthütchen und Regenschirm bereits +an der Flurtür. Sie kam mit bis zu Möbiussens. +Sie hatte schon längst die Absicht gehabt, Frau Konsul +einmal aufzusuchen. +</p> + +</div> + +<p> +Nun sei ja sehr gute Gelegenheit. Ihrer Nichte sei +doch hoffentlich die Begleitung nicht unangenehm? +</p> + +<p> +Mette schwieg. Sie fühlte das lauernde Mißtrauen +und glühte vor Zorn. Sie konnte keine liebenswürdige +Antwort geben. Sie gingen wortlos nebeneinander +her, und in beiden brannte der Haß mit schwelender +Flamme. – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Mette hatte den Druck der Mißstimmung, der auf +ihr lag, noch nicht abschütteln können, als sie schon +längst mit den beiden schwatzenden Mädchen auf dem +Weg war. Immer wieder verstärkte sich ihre Pein, +wenn sie dachte: ... und ich hatte mich <em>so</em> gefreut. +</p> + +</div> + +<p> +Erst als sie das Haus wiedersah, als sie die Tür +öffnete, die Treppen hinaufstieg, mit dem stolzen Gefühl, +vollauf dazu berechtigt zu sein, da schlug die +<a id="page-66" class="pagenum" title="66"></a> +Freude wieder in ihr hoch, wie eine helle Flammenlohe +durch Qualm und Rauch. +</p> + +<p> +Mette brannte vor Neugier, das Zimmer zu sehen. +Als das zierliche Hausmädchen sie durch den Türgang +führte, empfand sie ein Gefühl, dem ähnlich, mit dem +sie als Kind im Theater vorm geschlossenen Vorhang +gesessen hatte, wenn die Musiker anfingen, ihre Instrumente +zu stimmen. +</p> + +<p> +Das Zimmer lag fast im Dunkel. Rolläden und +Vorhänge waren so fest geschlossen, daß kaum ein +Schimmer des regnerischen Tages die Fenstervierecke +heller zeichnete. Direkt neben dem kleinen, niedrigen +Teetisch stand eine hohe, buntbeschirmte Lampe, die ein +blendendes Licht über das weiße Tuch, über das dünne, +goldgeränderte Porzellan und über ein dunkelblaues, +mit gelben Primeln angefülltes Jean-Beck-Glas warf. +</p> + +<p> +Von dem übrigen Zimmer konnte man auf den ersten +Blick nicht viel erkennen. Die Möbel schienen schwer +und dunkel, an einer Wand glänzten im ungewissen +Licht lange Reihen von Bücherrücken, hie und da +gleißte die Ecke eines Bilderrahmens auf oder ein +Stückchen spiegelnden Glases. +</p> + +<p> +Olga empfing ihre Gäste mit einer Freude, die herzlich +und aufrichtig schien. +</p> + +<p> +Metten erschien es unbegreiflich, daß diese Frau sich +nicht in kalten Hochmut wie in einen Panzer hüllte. +</p> + +<p> +<a id="page-67" class="pagenum" title="67"></a> +Die Mädchen konnten nicht aufhören, sich über die +künstliche Dunkelheit zu belustigen. +</p> + +<p> +„Ja,“ sagte Olga, „ich wollte doch meine Bude im +vorteilhaftesten Licht präsentieren. Und am vorteilhaftesten +ist so wenig Licht wie möglich. Außerdem – +wenn vor der entsetzlichen grauen Brandmauer da +drüben noch der Regen in Strippen herunterläuft, +dann ist das auch weiter kein erfreulicher Anblick. So +kann man denken, da draußen liegt ein Tannenwald +im Schnee, oder Terrassen, die nach dem Meer hinunterführen +oder der Donau-Kai in einer Mainacht, +wenn die Akazien blühen.“ +</p> + +<p> +Mette wurde in einen tiefen Sessel genötigt. +</p> + +<p> +„Ja, das müssen Sie sich schon gefallen lassen, Sie +sind hier unser Ehrengast, Sie sind doch die Älteste! +Jetzt sind Sie wahrscheinlich noch stolz darauf, wenn +Sie erst so alt sind wie ich, dann hört es schon auf, +eine Schmeichelei zu sein.“ +</p> + +<p> +Mette hatte sich in ihrem ganzen Leben noch nie so +zu Hause gefühlt, wie in diesem Sessel. +</p> + +<p> +Ihr gegenüber hockte Olga auf einem niedrigen +Taburett, hatte schon längst die unvermeidliche Zigarette +zwischen den Fingern und hielt sie zwischen den +Zähnen fest, wenn sie die Hände brauchte, um Tee einzugießen +oder Kuchen herumzureichen. +</p> + +<p> +Sie war ersichtlich bemüht, ihre Gäste zu unterhalten, +<a id="page-68" class="pagenum" title="68"></a> +aber als Fanni und Emmi erst ins Schwatzen +kamen und sich gegenseitig nicht mehr zu Wort kommen +ließen, wurde sie still und hörte lächelnd zu – wie ein +Erwachsener spielenden Kindern lauscht. +</p> + +<p> +Wenn eine Pause im Gespräch eintrat, holte sie +einen Kasten mit Photographien hervor, die sie auf +Reisen aufgenommen hatte, oder ein Buch mit Dulacillustrationen +oder eine Zeitschrift mit den Porträts +der neuesten Filmstars. +</p> + +<p> +In Metten wuchs schon wieder ein Gefühl der Pein +auf. Sie bekam es kaum fertig, sich mit einem „Ja“ +oder „Nein“ am Gespräch zu beteiligen. +</p> + +<p> +„Sie gibt sich so krampfhaft Mühe, uns zu unterhalten,“ +dachte sie. „Und im Grunde sind wir ihr +langweilig und lästig. Wenn die Tür nachher hinter +uns zufällt, atmet sie auf und sagt: ‚Gott sei Dank‘! +Ich kann es ihr ja auch nicht verdenken. Warum sie +uns nur erst eingeladen hat!“ +</p> + +<p> +Sie hatte die größte Lust, zu gehen, nur um Olga +Radó von diesem Besuch zu befreien. Dabei fühlte sie +– wenn sie jetzt mit irgendeiner Ausrede aufbrechen +wollte, und man würde sie fragen, sie bitten, die allgemeine +Aufmerksamkeit würde sich auf sie lenken, +dann würden ihr unhaltbar die Tränen aus den Augen +stürzen, die ihr drohend und stechend hinter der Nasenwurzel +saßen. +</p> + +<p> +<a id="page-69" class="pagenum" title="69"></a> +Sie war fast froh und tief unglücklich, als Olga +plötzlich auf die Uhr sah und sagte: +</p> + +<p> +„Kinder, ich muß euch hinauswerfen, so leid es mir +tut. Ich muß mich umziehen, aber schleunigst – die +Zeit ist so rasend schnell vergangen.“ +</p> + +<p> +Im tiefsten Innern litt Mette darunter, daß der +ersehnte Nachmittag schon vorüber war. Aber ihre +Gedanken sagten laut und deutlich: „Gott sei Dank!“ +Und sie war erst recht erbittert, daß sie nun eigentlich +froh sein mußte, statt unglücklich zu sein. – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Mette war leicht geneigt, sich zur Verantwortung +zu ziehen. Sie ging am selben Abend noch scharf mit +sich ins Gericht. Sie klagte sich an, dumm, faul, unwissend +und ungewandt zu sein. +</p> + +</div> + +<p> +Warum kannte sie die Bücher nicht, die Olga Radó +in ihrem Besitz hatte und las und liebte? Vater hatte +sie sicher alle vorn in seinem Studierzimmer, aber +Mette war noch nie auf den Gedanken gekommen, sie +zu lesen. +</p> + +<p> +Warum war es ihr nicht möglich, <em>einmal</em> etwas +Geistreiches zu sagen? Irgend etwas, das sie mit +einem Schlage über das flache Gewimmel dieser Alltagsbackfische +hinaushob. +</p> + +<p> +Olga Radó merkte sicher an einem Wort, wes +<a id="page-70" class="pagenum" title="70"></a> +Geistes Kind einer war. Vielleicht hatte sie etwas von +ihr erwartet, weil sie ein bißchen anders aussah als +die anderen. +</p> + +<p> +Mette stand prüfend vorm Spiegel. Sie war hochgewachsen, +hatte eine kluge Stirn und ernste Augen. +Und was war dahinter? Nichts, nichts, nichts! +</p> + +<p> +Mette schnitt ihrem Spiegelbild zornige Fratzen. +</p> + +<p> +Was hatte sie den ganzen Nachmittag geredet? +„Ja,“ „nein“ und ein paar alberne Phrasen. +</p> + +<p> +Aber das kam davon, wenn man blind und taub +durchs Leben ging. +</p> + +<p> +Dann wußte man selbst solche Dinge nicht, von +denen die Möbius-Mädeln schwatzen konnten. Und +an alledem war Tante Emilie schuld! +</p> + +<p> +Das schlimmste aber war – Mette drehte das Licht +aus und verkroch sich unter die Bettdecke, weil das +Blut ihr brennendheiß in die Stirn stieg – das +schlimmste war, daß sie, als die anderen vom „Kammersänger +von Wedekind“ gesprochen hatten, allen +Ernstes gedacht hatte, es wäre ein adliger Hofopernsänger +und gefragt: „Wie heißt er denn mit Vornamen?“ +</p> + +<p> +Aber das hatte Olga Radó hoffentlich nicht gehört. +– – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +<a id="page-71" class="pagenum" title="71"></a> +Eine Woche lang gab Mette ihre zwecklosen Spaziergänge +auf und übte zu Hause Klavier und lernte +französische Vokabeln, und wenn sie eine halbe Stunde +geübt und gelernt hatte, warf sie sich auf den Diwan +und starrte in das Stückchen Himmelblau, von silbrigen +Telephondrähten durchschrägt, das sie von +ihrem Platz aus sehen konnte. Und dann flogen ihre +Gedanken – wie das herrlich wäre, alle Sprachen der +Welt zu verstehen, oder ein Instrument vollkommen +zu beherrschen, oder eine wundervolle Stimme zu +haben, oder bezaubernd schön zu sein. Aber da man +all so etwas doch nie erreichen konnte, so wäre es +vielleicht am angenehmsten, tot zu sein. – – – +</p> + +</div> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Dann kamen dringende Besorgungen, die einen gezwungenermaßen +in die Motzstraße führten. Und +wenn man an dem Haus vorüber mußte, war es +natürlich, daß man ein wenig langsamer ging, zu den +Fenstern hinaufsah, die Straße entlang spähte. +</p> + +</div> + +<p> +Und wenn man in der Stadt war und nach Hause +gehen wollte, konnte man genau so gut durch die Motzstraße +gehen wie durch die Kleiststraße. Und wenn +man ging, um ein wenig an der frischen Luft zu sein, +war es das natürlichste von der Welt, daß man sich +auf den Viktoria-Luise-Platz auf eine Bank setzte und +den spielenden Kindern zusah. +</p> + +<p> +Jeden Tag stand Mette vor einem Geschäft mit +<a id="page-72" class="pagenum" title="72"></a> +Handschuhen, Bändern und Spitzen und starrte tiefsinnig +auf die Auslagen – weil im Hintergrund des +Glaskastens ein Spiegel war, und weil man in diesem +Spiegel die Haustür gegenüber beobachten konnte. +</p> + +<p> +Jedesmal zuckte Mette zusammen, wenn die Haustür +sich auftat. +</p> + +<p> +Und als einmal Olga Radó durch die Haustür trat, +hätte Mette sie beinah nicht erkannt. Sie hatte einen +losen Mantel an, beide Hände in den weiten Taschen +vergraben und keinen Hut auf. Sie lief mehr als sie +ging, zwei Häuser weiter nach dem Briefkasten und +steckte einen Brief unter die Klappe. +</p> + +<p> +Mette ging rasch über den Damm, um ihr den +Rückweg abzuschneiden. Dabei klopfte ihr Herz so, +daß sie nach Atem ringen mußte. Sie faßte in flüchtigster +Geschwindigkeit der Gedanken hundert Entschlüsse, +die sie wieder verwarf. +</p> + +<p> +Sie wollte sie anreden – sie wollte mit stummem +Gruß an ihr vorübergehen – aber vielleicht wurde +sie gar nicht erkannt – sie wollte sie doch lieber anreden +– aber wie? +</p> + +<p> +Als sie noch auf dem Damm war, hatte Olga sie +gesehen und schwenkte ihr die Hand entgegen. +</p> + +<p> +„Hallo, Fräulein Mette! Wollten Sie mich besuchen?“ +</p> + +<p> +„Eigentlich nicht!“ sagte Mette und wurde blaß vor +<a id="page-73" class="pagenum" title="73"></a> +Aufregung. Vielleicht war es wieder eine Dummheit. +Vielleicht hätte sie „ja“ sagen sollen ... +</p> + +<p> +„Aber uneigentlich ja“ – sagte Olga und schob ihre +Hand in Mettens Arm. „Kommen Sie eine Stunde +mit hinauf. Oder haben Sie etwas zu versäumen? +Nein? Na also! Warten Sie – ich muß nur noch +zu meinem Freund an der Ecke, mir Zigaretten holen +– gehen Sie mit?“ +</p> + +<p> +Nie in ihrem Leben hatte Mette einen so reizenden +kleinen Tabaksladen gesehen, wie dies Geschäft an +der Ecke. Nie war ein Mensch so auf den ersten Blick +gewinnend gewesen, wie dieses weißhaarige, schmunzelnde +Männchen mit den dürren, zittrigen Händen, +bei dem Olga Radó ihre Zigaretten kaufte – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Olga saß vor dem breiten Diplomatenschreibtisch +aus schwarzgebeiztem Eichenholz im Lutherstuhl, die +Beine übereinander geschlagen, ein wenig vorgebeugt, +beide Ellenbogen auf den hohen Seitenlehnen. +</p> + +</div> + +<p> +Mette saß ihr gegenüber im Sessel. Ihr war ein +wenig zumute wie beim Examen. Irgend etwas in +ihrem Innern straffte sich auf, biß gleichsam die Zähne +zusammen und sagte: Ich will bestehen. Ich will +bestehen. +</p> + +<p> +Eine Weile ging es ganz gut. Sie sprachen von +den Möbius-Mädeln und von Erika Hannemann und +Tante Konsul. Und Mette erzählte von zu Hause, +<a id="page-74" class="pagenum" title="74"></a> +von Tante Emilie und von den schönsten Tagen ihrer +Kindheit – von dem Gut und dem Gartenhäuschen +aus Birkenrinde und dem Brückchen aus Birkenstämmen, +das über ein ganz kleines Wässerlein führte – +und von den Perlhühnern, die immer auf die Veranda +kamen, wenn gefrühstückt wurde ... +</p> + +<p> +Und dann sagte Olga plötzlich: +</p> + +<p> +„Sagen Sie mir bloß, wie kommen Sie eigentlich +zu der Freundschaft mit meinen sogenannten Cousinen?“ +</p> + +<p> +„Ich weiß nicht,“ sagte Mette – „Tante Emilie ...“ +</p> + +<p> +„Ich will nichts gegen sie sagen,“ sagte Olga rasch, +„es sind herzensgute Kinder. Aber langweilen Sie +sich nicht zu Tode in diesem beständigen Verkehr?“ +</p> + +<p> +„Ja,“ gab Mette zu, „aber ich langweile mich +eigentlich immer.“ +</p> + +<p> +„Hören Sie, das ist ja furchtbar!“ sagte Olga ernsthaft +erschrocken. „Ich möchte lieber tot sein, als +mich langweilen. Haben Sie denn keinen anderen +Menschen als Fanni und Emmi und Tante +Emilie?“ +</p> + +<p> +„Nein“ – sagte Mette zögernd. „Es liegt wohl +an mir. Ich habe nie eine Freundin gefunden. Aber +ich habe auch nie eine gemocht.“ +</p> + +<p> +„Es ist nicht leicht“ – sagte Olga nachdenklich. „An +unseren besten Freunden gehen wir meist um ein paar +<a id="page-75" class="pagenum" title="75"></a> +Jahrhunderte vorüber. Von manchen wissen wir. +Wenn wir von ihnen lesen oder ihre Bilder sehen. +Aber das sind doch nur die wenigsten. Und von denen, +die nach uns geboren werden, wissen wir gar nichts. +Darum beneide ich die Schaffenden so. Sie können +denen, die nach ihnen kommen, einen Gruß zuwinken. +Sie können sich selbst festhalten in Worten, in Bildern, +in Taten. Ja, in Taten auch. Das ist dann +wie ein Schrei: So bin ich! So war ich! Habt mich +lieb! Und wenn sie bei ihren Lebzeiten niemand gefunden +haben, so wird vielleicht in hundert Jahren +einer geboren, oder in zweihundert, der sie liebt, so +wie sie geliebt sein wollten. Der sie versteht, so wie +sie verstanden sein wollten. – Wir armen Hunde – +wenn wir tot sind, werden wir ganz gewiß nicht mehr +geliebt. Nicht in zehn Jahren mehr, ach, nicht in zehn +Monaten. Ich möchte manchmal ...“ +</p> + +<p> +Ihre Augen standen tief dunkel und drohend unter +den zusammengezogenen Brauen. +</p> + +<p> +Sie brach ab und setzte mit einer anderen Stimme +wieder ein: +</p> + +<p> +„Wissen Sie, unter den Menschen der Renaissance +sind sehr viel sympathische Leute. Man hätte doch +wohl vier, fünf Jahrhunderte früher leben müssen. +Ich wäre ganz sicher mit Margherita Sforza befreundet +gewesen. Ich hab’ vorhin gerade so eine famose +<a id="page-76" class="pagenum" title="76"></a> +Geschichte von ihr gelesen, wie sie ihrem Bruder seine +Besitzungen erhielt, als Julius Cäsar gegen sie abgeschickt +wurde.“ +</p> + +<p> +In Mettens Kopf erhob sich ein Wirbel, der einem +Schwindelgefühl nicht unähnlich war. +</p> + +<p> +Renaissance – das war ihr ein vertrauter Begriff. +</p> + +<p> +Mit dem Namen Sforza verband sie eine dämmernde +Vorstellung. +</p> + +<p> +Aber – „Julius Cäsar?“ murmelte sie fassungslos. +</p> + +<p> +Olga lachte: „Nein, nein, nicht <em>der</em>! Julius +Cäsar von Capua.“ Und dann setzte sie gleich wie +begütigend hinzu: „Ein kleines, dummes Fürstchen! +Sie brauchen ihn nicht zu kennen.“ +</p> + +<p> +„Ach,“ seufzte Mette aufrichtig, „ich kenne so viele +nicht, die ich kennen müßte.“ +</p> + +<p> +„Na,“ sagte Olga, „es wird so schlimm nicht sein. +Die Königin Johanna kennen Sie doch?“ +</p> + +<p> +„Welche?“ fragte Mette ratlos. „Ich kenne nur die +Erzählungen der Königin von Navarra ...“ +</p> + +<p> +„Die kennen Sie hoffentlich nicht!“ sagte Olga belustigt. +„Im übrigen war das eine Margarete. Aber +die Sforza kennen Sie doch?“ Sie fragte so zart, so +zuredend, als spräche sie zu einem Kinde, dem man +nicht wehtun will. +</p> + +<p> +„Ich weiß nicht ... nein ... ja ...“ +</p> + +<p> +„Na, was wissen Sie von ihnen?“ +</p> + +<p> +<a id="page-77" class="pagenum" title="77"></a> +„Nichts“ – sagte Mette verstört –, „nur das Bild +von Rubens – das kleine Mädchen mit der Leberwurst +...“ +</p> + +<p> +Olga horchte einen Augenblick mit hochgezogenen +Brauen, als dächte sie nach. Dann lachte sie laut und +lustig, so lustig, wie Mette sie noch nie hatte lachen +hören. Aber merkwürdigerweise tat diese Lustigkeit +Metten nicht weh, obgleich sie sich über ihre eigene +Unempfindlichkeit wunderte. Es war so hübsch, Olga +Radó so herzlich lachen zu sehen. Auch dann, wenn +man selber ausgelacht wurde. +</p> + +<p> +„Mädchen!“ rief Olga immer noch lachend. „Wie +sieht das in deinem Gehirn aus! Ach! Da möcht ich +einmal Ordnung schaffen!“ +</p> + +<p> +„Tun Sie das!“ sagte Mette glühend. „Bitte, bitte, +tun Sie das!“ +</p> + +<p> +Olgas Gesicht wurde einen Augenblick ernst und +nachdenklich. +</p> + +<p> +„Nein, nein,“ sagte Mette sofort erschrocken, „das +war eine Unverschämtheit. Sie sind ja schließlich nicht +unsere Gouvernante!“ +</p> + +<p> +„Kind!“ sagte Olga, und legte mit einem raschen +Sichvorbeugen ihre Hand auf Mettens. „Sind Sie +so empfindlich? Das galt doch gar nicht Ihnen! +Wollen Sie lesen lernen bei mir? Weiter kann ich +Ihnen ja auch nix beibringen! Kommen Sie, ja? +<a id="page-78" class="pagenum" title="78"></a> +Kommen Sie zu mir herauf, sooft Sie wollen, bis es +Ihnen langweilig wird.“ +</p> + +<p> +„Nie!“ sagte Mette, als spräche sie einen heiligen +Eid. +</p> + +<p> +„Aber wissen Sie, ehe wir uns irgendwo festhaken, +müssen Sie erst mal einen Überblick haben. Sie +müssen sich durch eine Weltgeschichte durcharbeiten. +Soll ich Ihnen den Schlosser mitgeben? Es sind achtzehn +Bände. Immer einen Band nach dem andern. +Ja – Mädel, da hilft dir kein Gott! Wenn du weiter +nix tust, kannst du gut hundert Seiten im Tag lesen – +ach mehr – und wenn du fertig bist – alle drei, vier +Tage – je nachdem – kommen Sie her und tauschen +sich den Band ein und trinken hier Tee, und wir +plaudern ein bissel. Gell, ja? Wollen wir’s so +halten?“ +</p> + +<p> +So fing es an. – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Und so ging es eine ganze Weile. +</p> + +</div> + +<p> +Mette las mit einem Feuereifer die Bücher, die +Olga Radó ihr gab. Und wenn sie das Buch sinken +ließ, mit brennendem Gesicht, dann war ihr, als ob +Olga ihr gegenüber säße, und sie fing an, lange Gespräche +mit ihr zu führen. Auf jeder Seite stand +etwas, etwas Grauenhaftes oder Schönes, etwas +<a id="page-79" class="pagenum" title="79"></a> +Merkwürdiges oder Unverständliches, irgend etwas, +was sie Olga erzählen, wonach sie Olga fragen +mußte. +</p> + +<p> +Manchmal führte sie diese Gespräche auch in Wirklichkeit, +manchmal sprach sie das aus, was sie sich in +Gedanken zurechtgelegt hatte, sagte, was zu sagen sie +sich vorgenommen hatte – aber nur selten. +</p> + +<p> +Es war das sonderbar Beglückende und Überraschende, +was Mette wohl empfand, aber sich viel, +viel später erst klarmachte: daß man Olga Radó nicht +führen konnte. So stark waren ihre Gedanken, ihre +Stimmungen, daß sie im ganzen Zimmer eine Atmosphäre +schufen, in der es unmöglich schien, anderer +Laune zu sein als sie. Und wer kein Gefühl dafür +hatte und einen anderen Ton anschlug als den, in +dem Holz und Glas und Luft und Seide leise zu +schwingen schienen, der erweckte eine schreiende Dissonanz. +</p> + +<p> +Mette spürte das später manchesmal, wenn Fremde +ins Zimmer kamen. Sie selbst rief nie, nicht in den +ersten Tagen, einen Mißklang hervor, weil sie still +war, weil sie sich selbst ausschaltete, um halb unbewußt +und doch beinah ängstlich jede Schwingung +aufzufangen, die in der Luft zitterte. +</p> + +<p> +Im Anfang war es halb unbewußt. Sie kam sich +so bodenlos klein und dumm vor, daß sie kaum wagte, +<a id="page-80" class="pagenum" title="80"></a> +in Olgas Gegenwart einen Gedanken für sich zu haben. +Später, als ihre gesunden Nerven längst fein und +dünn bis zum Zerreißen ausgespannt waren, hatte sie +es zu einer bewußten Meisterschaft gebracht. Sie +pflegte manchmal scherzend zu sagen: +</p> + +<p> +„Heut mußt du in sehr schlechter Laune die Straße +entlang gegangen sein. Die Häuser schneiden jetzt +noch Fratzen hinter dir her!“ – – +</p> + +<p> +Es war das dritte- oder viertemal, daß Mette oben +war. Olga lag auf dem Diwan und rauchte so ununterbrochen, +daß die blauen Wolken Mühe hatten, +sich zum Fenster hinauszuschieben. +</p> + +<p> +Mette saß im Sessel und las ihr Jean Paul vor: +</p> + +<p> +„Einen anderen freilich, wenigstens den Leser und +mich, würde die durchsichtige Nacht, womit sich der +April beschloß, die weite Stille, auf welche die Trommelstöcke +schlugen, die Sehnsucht nach dem Geliebten, +mit welchem der Morgen wieder das öde Herz und +das zerstückte Leben ergänzte, alles dieses würde uns +beide mit sanften Bebungen und Träumen erfüllt +haben ...“ +</p> + +<p> +„Bitte, laß!“ sagte Olga gequält und preßte die +Hand gegen die Schläfen. „Sei nicht böse, ich kann es +heut’ nicht vertragen, sei lieb, Kind, da oben steht der +Walt Whitman – im obersten Fach – weiter nach +rechts – oder nein, laß – geh mal nebenan an +<a id="page-81" class="pagenum" title="81"></a> +meinen Toilettentisch, da liegt eine silberne Bürste – +nein, die mit dem Stiel – die bring mal her.“ +</p> + +<p> +Mette brachte gehorsam die Bürste. +</p> + +<p> +Olga nahm sie ihr aus der Hand, ohne sich aufzurichten +und schlug mit dem Rücken einen kräftigen +Daktylus gegen die Wand, nach kurzer Pause noch +einen und einen dritten. +</p> + +<p> +Mette lachte. „Muß dazu die Bürste sein?“ +</p> + +<p> +„Ja,“ sagte Olga. „Das ist mein Morseapparat. +Nach langjähriger Erfahrung der beste. Was soll ich +nehmen? Das Tintenfaß geht doch nicht gut. Ein +Buch gibt keinen Schall, wär’ mir auch zu schade ...“ +</p> + +<p> +Währenddessen klopfte es an die Tür. +</p> + +<p> +„Ja, ja, ja!“ rief Olga. +</p> + +<p> +Die Tür wurde nur halb geöffnet, und ein blonder +Männerkopf schob sich durch den Spalt. +</p> + +<p> +„Ah, Besuch?!“ sagte eine hohe, dünne, heisere und +trotzdem nicht unangenehme Stimme. +</p> + +<p> +„Komm rein, Peterchen,“ sagte Olga, „es ist nur +die Mette.“ +</p> + +<p> +Das Wort gab Metten ein großes Glücksgefühl. +Es gab ihr eine gewisse Heimatsberechtigung in diesem +Zimmer, wo nur <em>geduldet</em> zu sein, schon Stolz +und Freude war. +</p> + +<p> +Der kleine Mann, der seinen zarten und verwachsenen +Körper durch die Tür schob, kannte sie, wußte +<a id="page-82" class="pagenum" title="82"></a> +ihren Vornamen, wußte, daß sie „nur“ die Mette war +– das war keine Beleidigung in diesem Falle, sondern +eine Erhöhung. „Nur die Mette“ – das hieß: +kein Besuch, niemand Fremdes, jemand, der dazugehört, +der nicht störend wirkt – es ist so gut, als ob +ich allein bin. +</p> + +<p> +Mettens ganze Sympathien flogen dem kleinen +Mann entgegen. Vielleicht, wenn es ein stattlicher, +schöner Mensch gewesen wäre, hätte sie sich in einem +Gefühl der Eifersucht gegen ihn gewehrt. Aber er +war nichts weniger als schön, trotz seiner sanften +blauen Augen und seiner feinen gepflegten Hände. +</p> + +<p> +Mette liebte ihn vom ersten Augenblick an, wie sie +den Zigarrenhändler an der Ecke liebte, mit einer fast +zärtlichen Liebe. +</p> + +<p> +Diese erste Begegnung war der Anfang einer treuen +und langjährigen Freundschaft. +</p> + +<p> +Otto Petermann war im allgemeinen gewiß nicht +geneigt, sich selbst oder Neigungen, die seiner Persönlichkeit +galten, zu überschätzen – aber ob es nicht doch +manchmal Momente gab, in denen er glaubte, Mettens +Gefühle ihm gegenüber für etwas anderes als +ihre Liebe für den kleinen Zigarrenhändler halten zu +dürfen? +</p> + +<p> +„– Peterchen,“ sagte Olga, „hol’ die Geige und +spiel’ uns was!“ +</p> + +<p> +<a id="page-83" class="pagenum" title="83"></a> +„Ja, was?“ fragte Petermann. +</p> + +<p> +„Etwas Anständiges. Für das kleine Mädchen ist +nichts zu schade.“ +</p> + +<p> +Und Petermann spielte. Spielte das, was sie beide +am meisten liebten, Olga und er, und was er nicht +spielen wollte und nicht spielen durfte, wenn ihn Leute +hörten, für die es „zu schade“ war. +</p> + +<p> +Mette saß ganz still. Ihr war, als ob die Töne +sie wie ein sanft flutender Strom dahintrügen, immer +weiter, immer weiter, alles blieb zurück, die graue, +schmutzige Stadt, ein Gemenge von keifenden und +johlenden Leuten – blieb zurück, wurde kleiner, verschwand +im Nebel, immer klarer wurde die Luft, +immer reiner, immer tiefer das Wasser, immer lieblicher, +immer freier die Ufer. Eine Insel tauchte auf, +blühende Bäume ließen ihre tief herniederhängenden +Zweige von den ziehenden Wellen tränken. +</p> + +<p> +„Das ist die selige Insel,“ dachte Mette. „Nur +Könige wandeln auf dieser Insel. Nur Könige trägt +unser Schiff. Aber ich werde mitgenommen. Ohne +all mein Verdienst und Würdigkeit. Ich will dankbar +sein. Mein ganzes Leben lang. Vielleicht werde ich +über Bord geworfen, eh wir an Land gehen. Aber +nun weiß ich den Weg. Dann will ich versuchen zu +schwimmen oder will untergehen. Aber ich will nicht +mehr zurück. Nie, nie, nie mehr zurück!“ – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +<a id="page-84" class="pagenum" title="84"></a> +Peterchens Geige sang noch durch die Dämmerung. +</p> + +</div> + +<p> +An diesem Tage kam Mette das erstemal zu spät +zum Abendessen nach Hause. Die lange, erregte und +boshafte Rede, mit der Tante Emilie sie empfing, +machte ihr den Eindruck, als ob schmutziges Wasser +über sie ausgegossen würde. Sie schüttelte sich vor +Ekel, aber sie empfand keinen Schmerz. – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Auf Olga Radós Schreibtisch stand ein schöner +Kasten aus schwerem, kantigem Kristall mit einem +glatten Silberdeckel. Er war fast immer leer; denn +die Zigaretten wurden so schnell aufgeraucht, daß es +nicht lohnte, sie aus der Originalpackung herauszunehmen. +</p> + +</div> + +<p> +Eines Abends nahm Olga wieder einmal die letzte +von fünfundzwanzig aus der Schachtel. +</p> + +<p> +„O weh – das ist bös – Mette, sieh mal auf dem +Schreibtisch nach – da sind natürlich auch keine ... +ich bin doch ein Schaf!“ +</p> + +<p> +„Ich spring’ schnell hinunter und hole welche!“ +</p> + +<p> +„Nein, laß, du sollst nicht darum die Treppen laufen +– wart’, gib mir einmal die Handtasche ’rüber. In +meinem Etui müssen noch welche sein!“ +</p> + +<p> +Olga lag wieder auf dem Diwan, richtete sich halb +<a id="page-85" class="pagenum" title="85"></a> +auf, kramte Schlüssel, Taschentücher, Briefe aus der +Tasche heraus und öffnete schließlich das Etui. +</p> + +<p> +„Hurra! <span class="antiqua">Dieu soit loué!</span> Bei weiser Einteilung +können wir durchhalten bis morgen früh! Magst du?!“ +</p> + +<p> +Sie reichte das offene Etui hinüber. +</p> + +<p> +„Nein,“ sagte Mette, „ich verzichte liebend gern, +sonst reichen sie am Ende doch nicht bis morgen.“ +</p> + +<p> +„Engel!“ sagte Olga und drückte das Schloß zu. +„Mein einziger Trost ist, daß du dir nicht allzuviel +daraus machst.“ +</p> + +<p> +„Darf ich einmal das Etui sehen?“ fragte Mette. +</p> + +<p> +„Da, mein Engel!“ Olga gab es ihr. „Ist es +nicht schön?“ +</p> + +<p> +Mette drehte das glatte, spiegelnde Gold in behutsamen +Händen. „Es ist unglaublich schön. Ich mag +auch die breite, niedrige Fasson so schrecklich gern. +Aber was soll der Krebs? Ist das ein Wappentier?“ +</p> + +<p> +„Mein Wappen!“ lachte Olga. „Das Wappen +meiner Familie. Es bedeutet, daß es mit uns den +Krebsgang geht.“ +</p> + +<p> +„Nein ...“ sagte Mette zögernd und wurde rot. +</p> + +<p> +„Nein? Woher weißt du? Aber nebenbei ist es +leider kein so nützliches und angenehmes Tier. Es +soll ein Skorpion sein.“ +</p> + +<p> +„Pfui!“ sagte Mette. „Und warum so ein Ungeheuer? +Aus einer besonderen Vorliebe heraus?“ +</p> + +<p> +<a id="page-86" class="pagenum" title="86"></a> +Sie vermied es, wo sie nur konnte, eine direkte Anrede +zu gebrauchen. +</p> + +<p> +„Ja,“ sagte Olga. „Man hat dies Etui einmal für +mich machen lassen, weil ich gesagt habe, der Skorpion +ist das anständigste Tier von der Welt. Er ist mein +Lieblingstier.“ +</p> + +<p> +„Das ist nicht Ihr Ernst!“ rief Mette erschrocken. +</p> + +<p> +„Doch, Fräulein Rudloff. Im übrigen möchte ich +nur bemerken, daß das Dienstbotenniveau ist, sich von +einem Menschen Du nennen zu lassen, ohne ihm ebenso +zu erwidern.“ +</p> + +<p> +„Aber Sie sagen zu allen Menschen du,“ sagte +Mette verlegen. +</p> + +<p> +„Ja, und ich unterscheide die Leute danach, ob sie +sich das gefallen lassen und mich weiter begnädigen, +oder ob sie selbstverständlich darauf eingehen. Wenn +du denkst, ich mache deinetwegen eine offizielle Angelegenheit +daraus mit Anstoßen und Bruderkuß, +dann irrst du dich. Wenn du noch ein einziges Mal +Sie sagst, muß ich annehmen, daß dir diese Familiarität +lästig ist, und dann bleibt mir nichts übrig, +als dich gnädiges Fräulein zu nennen oder dir einen +harten Gegenstand an den Kopf zu werfen. Es ist +nebenbei doch mein Ernst – mit dem Skorpion. +Weißt du nicht, daß er der einzige Selbstmörder unter +<a id="page-87" class="pagenum" title="87"></a> +den Tieren ist? Er <em>läßt</em> sich nicht von menschlicher +Neugier und Grausamkeit langsam zu Tode quälen. +Er kämpft wie ein Wahnsinniger – und wenn er +weiß, daß keine Rettung mehr ist, bringt er sich um. +Ist das nicht fabelhaft?“ +</p> + +<p> +Olga hatte sich aufgerichtet. Ihre Augen sahen groß +und dunkel an Metten vorüber. Auf ihrem schönen, +blassen Gesicht lag ein seltsamer, schmerzlich-heroischer +Ausdruck. +</p> + +<p> +Mette erschrak. „Und du?!“ sagte sie und faßte +mit einer unwillkürlichen Bewegung nach Olgas +Hand. „Hast du es darum zu deinem Wappentier +gemacht?“ +</p> + +<p> +Olga lächelte ein weiches, gutes Lächeln. +</p> + +<p> +„Schäfchen,“ sagte sie, „das hat einen ganz anderen +Zusammenhang. Ich sollte ein Skorpion sein, weil +ich einen giftigen Stachel hätte. Weil ‚mein Witz +Skorpionstich‘ wäre. Ein Mensch, der mich liebte, +hat das einmal behauptet. Und hat behauptet, wenn +ich in die Enge getrieben würde, richtete ich den Giftstachel +gegen mich selber und zerfleischte mich. Ich +weiß nicht, ob das wahr ist. Es macht mir im +Grunde keinen Spaß, über mich nachzudenken. Aber +dieser Mensch sah mich so. Und darum ließ er mir +das Etui machen. Schau“ – sie machte es auf. Die +kleinen Rubinen, aus denen der Skorpion geformt +<a id="page-88" class="pagenum" title="88"></a> +war, waren <span class="antiqua">à jour</span> gefaßt. Die Zeichnung war auch +auf der Innenseite deutlich. Und direkt darunter +war der Namenszug eingraviert: Olga Radó. +</p> + +<p> +Mette schalt sich selber töricht, aber sie konnte es +nicht hindern: Ihr Herz war zum Springen voll von +einer brennenden Eifersucht gegen diesen fremden +Menschen, der Olga Radó liebte und ihr goldene +Zigarettenetuis schenkte. +</p> + +<p> +„Eine schöne Handschrift!“ sagte sie gedankenlos. +</p> + +<p> +„Es ist nicht meine,“ sagte Olga. Sie schloß langsam +das Etui und legte die glatte Fläche mit einer +weichen Geste an die Wange. +</p> + +<p> +„Es ist so schön. Ich liebe es so. Und ich bin so +froh, daß ich es lieben kann ... Es war ein Abschiedsgeschenk +... und es war ein so schöner Abschied.“ +</p> + +<p> +In Metten regte sich qualvoller Widerspruch. +</p> + +<p> +„Ein schöner Abschied!“ sagtet sie bitter. „Gibt es +so etwas auch?“ +</p> + +<p> +Olga richtete sich hastig auf. +</p> + +<p> +„Ja, Mette,“ sagte sie voll Eifer. „Und es sollte +es noch viel, viel öfter geben. Es ist ein Unglück, +daß die Leute nicht verstehen, auseinanderzugehen. +Lern’ es, Mette, lern’ es beizeiten.“ +</p> + +<p> +„Nein,“ sagte Mette verstockt, „ich werd’ es wohl +<a id="page-89" class="pagenum" title="89"></a> +niemals lernen. Leute, denen die Liebe nur ein Spiel +ist, die können sich auch aus dem Abschied ein Spiel +machen.“ +</p> + +<p> +„Mette,“ sagte Olga ernst, „du bist ein Kindskopf. +Glaubst du, daß das ein Beweis großer Liebe ist, +wenn ich mich an einen Menschen klammere, bis er +meiner überdrüssig ist? Ich will lieber zehntausend +Tode sterben, als einem Menschen lästig sein, den ich +liebe. Es ist keine Kunst, einen Anfang zu finden. +Ich glaube, daß jeder Mensch jeden Menschen erobern +kann. Und immer wird der Anfang schön sein. Und +immer das Ende scheußlich, bitter, qualvoll, ekelhaft. +Es ist eine schwere Kunst, ein Ende zu machen. Zur +rechten Zeit. Und auf die rechte Art. Lern’ es, Mette, +lern’ es beizeiten!“ – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Die drei saßen zusammen: Peterchen, Mette und +Olga. +</p> + +</div> + +<p> +„Ich begreife dich nicht,“ sagte Peterchen mit seiner +leisen, gebrochenen Stimme, „ich begreife dich nicht, +Olga, daß du die Bettine nicht lieben kannst. Ich +dachte <em>gerade</em>, das müßte ein Mensch für dich sein. +Ein Mensch von so reicher Begabung, von fast unheimlicher +Phantasie, von beinah wildem Temperament, +dabei solche Anmut, solche Zartheit der Empfindung. +<a id="page-90" class="pagenum" title="90"></a> +Wenn man von der Frau weiter nichts wüßte, +als die Geschichte ihrer Verheiratung, müßte sie einem +doch schon sympathisch sein.“ +</p> + +<p> +„Ja,“ sagte Olga, „dann ja! Aber man weiß eben +zu viel von ihr. Oh, sie ist so aufdringlich und so +verlogen, so gemacht genialisch, so mit Koketterie unbändig, +mit Vorsatz leidenschaftlich. Nichts auf der +Welt ist mir so verhaßt. Denk dir – so sehr ich +Klemens liebe – wenn ich manchmal glaube, die Verwandtschaft +zu spüren, mag ich ihn nicht. Und dann +– du weißt ja – verzeih ich ihm auch seine unglückliche +Liebe zu Mariannen nicht.“ +</p> + +<p> +„Richtig, die kannst du ja auch nicht leiden!“ +</p> + +<p> +„Kann ich auch nicht, Peterchen, und wenn du mir +den Kopf abreißt. Ich weiß nicht, woran es liegt. +Irgend etwas an ihr macht auf mich immer den Eindruck +von ‚Biederkeit‘. Und du weißt, das ist eine +Eigenschaft, die ich in den Tod nicht ausstehen kann. +Schon diese ewige Alte-Herren-Liebe. Nein, nein, geh +mir mit ihr, ich mag sie nicht.“ +</p> + +<p> +„Olga, wie kannst du über diese Frau so leichtfertig +urteilen?“ +</p> + +<p> +„<em>Diese</em> Frau! Sag’ nur noch, diese vortreffliche +Frau. Mit <em>dem</em> Wort kannst du sie mir ganz gewiß +verekeln. Und es paßt eben leider ein bißchen auf +sie. Herrgott! Man kann doch seine Gefühle nicht +<a id="page-91" class="pagenum" title="91"></a> +zwingen. Sie hätte mich wahrscheinlich auch nicht +leiden können. Und das fühl’ ich so.“ +</p> + +<p> +„Aber Bettine hätte dich wahrscheinlich glühend geliebt.“ +</p> + +<p> +„Vielleicht! Aber daß ich Bettinen so hasse, das hat +ja auch noch eine besondere Bewandtnis.“ +</p> + +<p> +„Du bist eifersüchtig auf sie!“ sagte Petermann sehr +leise. +</p> + +<p> +Olga fuhr mit einer fast heftigen Bewegung herum. +Ihre Augen flackerten in dem weißen Gesicht. +</p> + +<p> +„Ja, ich bin auch eifersüchtig auf sie!“ +</p> + +<p> +„Wegen der Günderode!“ +</p> + +<p> +„Wegen der Günderode.“ – +</p> + +<p> +Petermann wurde ans Telephon gerufen. Es war +so still im Zimmer, daß Mette eine ganze Weile nicht +zu sprechen wagte. +</p> + +<p> +„Merkwürdig seid ihr,“ sagte sie endlich gepreßt, +„wie ihr von diesen Leuten redet – als wären sie euer +täglicher Umgang.“ +</p> + +<p> +„Das sind sie doch auch,“ sagte Olga fast verwundert. +„Das ist doch die einzige Lebensmöglichkeit. Meinst +du, ich möchte leben, wenn ich nur Verkehr mit den +Menschen hätte, mit denen du mich so zurzeit verkehren +siehst? Weißt du – es ist auch die einzige Art zu +lesen, ich meine, wenn du zum erstenmal einen Briefwechsel +oder einen Memoirenband vornimmst – einen, +<a id="page-92" class="pagenum" title="92"></a> +wo nicht hohe geistige Probleme behandelt werden, +dann ist einem doch zumut, als wenn man in einer +fremden Gesellschaft sitzt. Die Leute klatschen miteinander +und erzählen sich was von Herrn Müller und +Frau Schultze, und man sitzt dabei und langweilt sich +zu Tode. Wenn man aber Herrn Müller und Frau +Schultze <em>kennt</em>, ist’s schon wesentlich amüsanter. +Und wenn man in einen <em>verliebt</em> ist und wartet +dann mit klopfendem Herzen, ob vielleicht sein Name +genannt wird, und was nun der oder der über ihn +sagen wird, dann wird’s spannend und aufregend. +Peterchen versteht mich so darin. Er ist überhaupt ein +feiner kleiner Kerl. Findest du nicht?“ +</p> + +<p> +„Ja,“ sagte Mette gleichgültig. „Er ist sehr +nett.“ +</p> + +<p> +Olga lächelte. „Er ist direkt verliebt in Bettinen +und begreift mich nicht.“ +</p> + +<p> +„Aber du,“ sagte Mette leise, fast widerwillig, „du +liebst die Günderode.“ +</p> + +<p> +„Ja,“ sagte Olga mit großen, seltsam glänzenden +Augen, „oh, ich liebe sie so! Du glaubst nicht, was ich +für Qualen ihretwegen ausgestanden habe. Und ich +konnte nichts tun für sie! Vielleicht hat sie Sehnsucht +nach Ruhm gehabt – nach äußerlicher Unsterblichkeit +– und sie ist so vergessen. Wer weiß denn von ihr? +Ich habe mir so gewünscht, etwas Unerhörtes leisten +<a id="page-93" class="pagenum" title="93"></a> +zu können, um sie zu verewigen. Ich wollte Michelangelo +sein oder Dante oder Homer – um ihr ein +Denkmal zu setzen, und um unsere Namen für tausend +Jahre unauflöslich miteinander zu verknüpfen. Oh, +es war eine Zeitlang wie eine Krankheit in mir. Es +marterte mich einfach, daß ich diese lumpigen hundert +Jahre, die uns trennten, nicht überspringen konnte. +Weißt du – so muß einem Gelähmten sein, oder +einem Gefesselten, der im Nebenzimmer eine Stimme +hört, die ihn in allen Nerven erzittern macht, und er +kann sich nicht rühren. Manchmal hab’ ich gedacht, +man muß es können. Man muß nur wollen. – Ich +weiß noch, daß ich eine Nacht auf dem Balkon lag im +Liegestuhl und zum Antares hinaufstarrte. Da war es +mir wieder, als riefe sie mich. Ich wollte aus meinem +Körper hinaussteigen, ich wollte. Und denke dir, ich +hatte das Gefühl, als ob es mir gelänge. Ich schwebte +über mir. Mein Körper war eiskalt, ich hätte kein +Glied rühren können, und da faßte mich plötzlich eine +rasende Angst. Ich wußte, ich würde mich verfliegen +und nie mehr, nie mehr zurück können. Da kroch ich +wieder in mich hinein und trieb mein Herz an und erwärmte +mich durch meinen Willen, und nachher schalt +ich mich feige und erbärmlich. – Es muß seltsam sein, +wenn uns einmal diese Fesseln abgenommen werden. +Manchmal freue ich mich direkt darauf.“ +</p> + +<p> +<a id="page-94" class="pagenum" title="94"></a> +„Alles deswegen,“ sagte Mette ein wenig bitter. +„So hast du sie geliebt?“ +</p> + +<p> +„Ja,“ sagte Olga, „jetzt ist es nicht mehr so schlimm. +Ich hätte doch früher zu keinem anderen Menschen davon +reden können. Ich habe Bettinens Bücher versteckt, +damit kein Mensch sie bei mir findet. Ich wurde +rot und blaß, wenn jemand ihren Namen nannte, oder +mir etwas sagte, was mich an sie erinnerte. Du mußt +nicht denken, daß ich jetzt darüber lache. Mein Gefühl +ist genau dasselbe, ich fühle mich ihr so absolut verbunden +– aber ich gehöre ihr nicht so ausschließlich, +wie in der ersten Zeit, als ich sie fand.“ +</p> + +<p> +Sie schwiegen beide. Stille Dämmerung senkte sich +langsam. +</p> + +<p> +„Ich habe nie ein Bild von ihr gesehen,“ sagte Olga. +„Ich weiß auch gar nicht, ob es Bilder von ihr gibt. +Ich möchte auch keins sehen. Ich habe eine so deutliche +Vorstellung von ihr. Ich glaube, wenn ich ein +Bild sähe, würde ich erschrecken. Ich würde sicher +namenlos enttäuscht sein. Ich habe direkt Angst +davor, einmal ganz unerwartet ein Bild von ihr zu +finden.“ +</p> + +<p> +„Ich wollte, ich fände eins,“ sagte Mette, ohne Olga +anzusehen, „ein recht häßliches!“ +</p> + +<p> +„Pfui!“ sagte Olga mit ihrer tiefen Stimmen. Kein +Wort weiter. +</p> + +<p> +<a id="page-95" class="pagenum" title="95"></a> +In Mette kämpften Scham und Schmerz. Sie haßte +sich selbst. Sie kam sich vor wie ein ungezogenes Kind, +dem man ein wunderfeines Gebilde aus venezianischem +Glas zeigt, und das aus Bosheit und Rohheit +mit dem Stock nach der Herrlichkeit schlägt. Aber zugleich +regte sich ein dumpfer Trotz in ihr: warum quält +sie mich? Ich will mich nicht quälen lassen! +</p> + +<p> +Sie hatte das Gefühl, daß sie um Verzeihung bitten +müsse. Aber das konnte sie nicht. +</p> + +<p> +Wenn sie jetzt ging, dann würde Olga sie nie wieder +rufen. Und ungerufen durfte sie nie mehr kommen. +Sie würde nie mehr in diesem Sessel sitzen. Sie würde +nie mehr den Duft von Lavendel und Zigaretten in +diesem Zimmer atmen. Sie würde nie mehr diese +Stimme hören. +</p> + +<p> +Das Schweigen dauerte so unheimlich lange. Ja, +sie mußte nun wohl eigentlich aufstehen und gehen. +Aber es war, als ob der Stuhl sie festhielte, oder die +graue Wand drüben, an der ihre Augen hingen. Sie +fühlte, im Moment, da sie aufstehen wollte, würden +ihr die Tränen aus den Augen stürzen. Das durfte +nicht sein. Sie bemühte sich, an irgend etwas anderes +zu denken – an etwas ganz Fernliegendes. Nächste +Woche wollte sie ins Theater gehen. Darauf hatte sie +sich gefreut. Eigentlich war bei jedem Theater- oder +Konzertbesuch doch das hübscheste, nachher hier zu +<a id="page-96" class="pagenum" title="96"></a> +sitzen und über das Gehörte und Gesehene zu sprechen. +Das würde nun nicht sein. Nächste Woche nicht. +Vielleicht nie wieder. +</p> + +<p> +Die Stille im Zimmer war atemraubend. Wenn +Olga nur reden wollte. Irgend etwas, sie ausschelten, +sie demütigen. Es war so grausam von ihr, zu +schweigen. +</p> + +<p> +Mette machte den Versuch, aufzustehen. Sie machte +eine Bewegung, die unsichtbar blieb, aber die sie inwendig +in allen Muskeln spürte. Zugleich aber +konnten die mühsam aufgehaltenen Lider das unaufhörlich +quellende Wasser nicht mehr zurückdrängen, sie +zitterten, schlossen sich, und die schweren Tropfen +stürzten nieder. +</p> + +<p> +Mette schämte sich maßlos. Irgend etwas in ihr +kroch ganz in sich zusammen. Sie hätte sich so gern +äußerlich auch zusammengezogen, sich geduckt, das Gesicht +versteckt. Aber sie wagte nicht, sich zu rühren. Sie +wollte nicht durch eine Bewegung Aufmerksamkeit erregen. +Vielleicht war Olga mit ihren Gedanken weit +fort und achtete nicht auf sie. +</p> + +<p> +Die Tränen fielen ihr auf die Hände. Sie wagte +nicht, sie abzutrocknen. +</p> + +<p> +Plötzlich schreckte sie zusammen. Sie hörte den +Diwan knarren, ein leises Rauschen der Röcke. Olga +war aufgestanden. +</p> + +<p> +<a id="page-97" class="pagenum" title="97"></a> +Jetzt sagte eine unendlich weiche, leise Stimme +neben ihr: +</p> + +<p> +„Mette, Kind! Warum weinst du eigentlich?“ +</p> + +<p> +Mette sah nicht auf, sondern senkte den Kopf noch +tiefer. +</p> + +<p> +Da kniete Olga mit einer raschen Bewegung nieder, +wie man vor einem weinenden Kinde kniet und versuchte +von unten herauf ihr ins Gesicht zu sehen. +</p> + +<p> +„Warum weinst du eigentlich?“ +</p> + +<p> +Mette sah das schöne Gesicht vor sich durch einen +Schleier von stürzendem Wasser. Sie lächelte. +</p> + +<p> +„Ich weiß nicht!“ sagte sie. +</p> + +<p> +Sie sah auf die weiße schlanke Hand, die auf ihren +Knien lag, ihre beiden gefalteten Hände fest überspannend. +Sie neigte sich langsam auf diese Hand +und preßte den Mund, die heißen, tränenfeuchten +Wangen dagegen. +</p> + +<p> +„Kind!“ sagte Olga beinah ungeduldig und versuchte +mit der anderen Hand ihr die Stirn zu heben. +„Wenn ich nur wüßte, warum du weinst!“ +</p> + +<p> +Mette schreckte vor diesem Ton zurück. Sie hob den +Kopf und starrte wieder auf die graue Mauer jenseits +des Hofes. +</p> + +<p> +Olga war aufgestanden. Ihre Hand lag immer +noch auf Mettens Kopf. Die kühle, glatte Handfläche +preßte sich fest und beinah schwer auf ihre Stirn und +<a id="page-98" class="pagenum" title="98"></a> +ihr Haar. Mette empfand diesen Druck als etwas unendlich +Wohltuendes. So, als müßte sie zerspringen, +wenn diese kräftige Hand aufhören würde, sie zu halten. +</p> + +<p> +„Ich weiß doch nicht,“ sagte sie leise, „ich möchte auch +seit hundert Jahren tot sein. Vielleicht würdest du +mich dann auch lieben.“ +</p> + +<p> +Da riß Olga Radó mit einer jähen Bewegung +Mettens Kopf an ihre Schulter und preßte die Lippen +hart und fast gewaltsam auf ihre Stirn. +</p> + +<p> +„Und so? Und jetzt?“ fragte sie kurz. In ihrer +tiefen Stimme war ein seltsam vibrierender Klang, +wie von mühsam gebändigtem Groll. +</p> + +<p> +Mette fühlte bis in die Schläfen, bis in die Fingerspitzen +das rasende Hämmern eines Herzschlags. Aber +sie wußte nicht, wessen Herz so schlug. +</p> + +<p> +Sie hatte das Gefühl, daß es nun ihre Pflicht sei, +etwas unendlich Großes zu tun. Ihr war, als müsse +Olga Radó jetzt in überirdischer Größe vor ihr aufstehen +und eine ungeheure Tat von ihr verlangen. +</p> + +<p> +Mette fühlte sich heilig entschlossen, auf ein einziges +Wort hin aus dem Fenster zu springen oder sich die +Brust mit einem Dolch aufzureißen und ihr zuckendes +Herz in beide Hände zu nehmen. +</p> + +<p> +Olga Radó verlangte nichts von alledem. Sie ließ +sie plötzlich los und trat aus Fenster. Sie legte die +Finger um den Fensterriegel und die Stirn gegen die +<a id="page-99" class="pagenum" title="99"></a> +Scheibe. Und so, ohne sich umzuwenden, ohne den +Kopf zu drehen, sagte sie nach einer Weile in einem +seltsam ruhigen, ja sachlichen Ton: +</p> + +<p> +„Geh nach Hause, Kind!“ +</p> + +<p> +„Warum?“ fragte Mette erschrocken. Sie stand auf, +die Füße zitterten unter ihr. Das beklemmende Gefühl +von etwas Rätselhaftem, Unheimlichem legte sich +ihr schwer auf die Brust. Warum wurde sie fortgeschickt? +Was hatte sie begangen? +</p> + +<p> +Sie wollte irgendeine Erklärung haben. Sie wollte +die Hände auf Olgas Schultern legen und wollte sie +mit Gewalt herumreißen und auf ihrem Gesicht nach +einer Antwort suchen. „Ich habe ein Recht dazu“ – +dachte sie mit aufsteigendem Zorn – „wahrhaftig, ich +habe ein Recht dazu“. +</p> + +<p> +Wie sie den ersten Schritt nach dem Fenster zu +machte, fuhr Olga mit einer heftigen Bewegung herum. +Sie kreuzte die Arme über der Brust und umklammerte +mit gespreizten Fingern die Ellbogen. In +dem weißen Gesicht flackerten die Augen tiefdunkel und +drohend. +</p> + +<p> +„Du sollst nach Hause gehen,“ sagte sie mit so gezwungener +Ruhe, als bändige sie mühsam eine maßlose +Wut. „Kannst du nicht hören? Bin ich nicht +Herr mehr in meiner eigenen Wohnung<a id="corr-2"></a>? Nimm +deinen Hut und geh. Geh, geh, geh, geh!“ +</p> + +<p> +<a id="page-100" class="pagenum" title="100"></a> +Der aufflammende Zorn in Mette war erloschen. +Nur noch Angst war in ihr und eine tiefe, tiefe +Traurigkeit. +</p> + +<p> +Irgend etwas wollte sie wie mit Peitschenhieben zu +Olga hintreiben. Sie wollte vor ihr auf die Erde +fallen, sie wollte ihre Knie umklammern, sie wollte sie +anflehen: +</p> + +<p> +„Weine doch, schreie, schlag’ mich, aber tu dir nicht +so Gewalt an – sag mir, was du hast – ich will +sterben für dich, aber schick mich nicht fort, wenn du +leidest!“ +</p> + +<p> +Sie stand und rührte sich nicht. +</p> + +<p> +„Geh, geh, geh!“ sagte Olga. +</p> + +<p> +Da griff Mette Rudloff nach ihrem Hut und ging. +Sie mühte sich, gerade und aufrecht zu gehen. Sie +taumelte ein wenig, als sie die Tür hinter sich ins +Schloß zog und mußte sich gegen die Wand lehnen. +Sie stützte sich mit ihrer ganzen Schwere gegen das +Geländer, weil die Treppe unter ihr wie ein rasender +Strudel kreiste. +</p> + +<p> +Aber sie ging. – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Eine Handvoll Tage verlebte Mette in stumpfer +Qual. +</p> + +</div> + +<p> +Im dämmernden Erwachen fiel ihr ein, daß sie +<a id="page-101" class="pagenum" title="101"></a> +heute nicht den Weg nach der Motzstraße nehmen dürfe. +Heute nicht, morgen nicht, vielleicht nie mehr. Sie +war verbannt, verstoßen, ausgeschlossen von allen +Freuden des Lebens. +</p> + +<p> +Lang, grau und öde dehnte sich der Tag vor ihr. +Bleischwere Müdigkeit lag ihr in allen Gliedern. +Wenn die Telephonklingel schrillte, fuhr sie mit rasendem +Herzschlagen auf, wie aus tiefer Lethargie. Aber +niemals galt es ihr. +</p> + +<p> +Es war schlechtes Wetter in diesen Tagen, kühl und +regnerisch. +</p> + +<p> +In einer Sonntagnacht fegte der Wind den Himmel +blank von Wolken und die Straßen trocken. +</p> + +<p> +Am Morgen funkelte ein blauer Sommerhimmel +über der Stadt. +</p> + +<p> +Die Sonnenstrahlen, die auf einer Kante des +Schrankspiegels tanzten, weckten Mette. +</p> + +<p> +Sie fühlte sich beim Erwachen so befreit, so voll unbändiger +Lebenskraft, als sei mit einem Schlage alles +Trübe hell, alles Schwere leicht geworden. +</p> + +<p> +Sie fühlte sich fähig, den Kampf mit allen Hemmungen +und Hindernissen aufzunehmen. Ja, es +schienen ihr gar keine Hemmungen und Hindernisse +mehr vorhanden. +</p> + +<p> +Sie würde heut’ die Bücher hintragen, die sie von +Olga Radó geliehen hatte. +</p> + +<p> +<a id="page-102" class="pagenum" title="102"></a> +Und dann würde sie sie zur Rede stellen. Sie ganz +frank und heiter fragen, was ihr eigentlich eingefallen +wäre. Und ob sie die Absicht hätte, sie wieder hinauszuwerfen +– dann solle sie diese Absicht nur ruhig aussprechen +... +</p> + +<p> +Aber sie würde es nicht tun. Es war eine Laune +gewesen, eine Gereiztheit – aber im Grunde doch gar +keine ernstliche Verstimmung, kein Streit zwischen +ihnen. +</p> + +<p> +Und wenn sie irgend etwas begangen hatte in Olgas +Augen, so wollte sie Aufklärung haben, und dann +wollte sie – ach was, ihretwegen ja! – dann wollte +sie sogar um Verzeihung bitten. +</p> + +<p> +Mette pfiff und summte vor sich hin, während sie +sich anzog und ihr Haar aufsteckte. – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Als sie klingelte, schlug das dumme Herz wieder so +atemraubend. Dass kam vom raschen Treppensteigen. +</p> + +</div> + +<p> +Erna machte ihr auf. Mette war nicht mehr gewohnt, +sich melden zu lassen. Sehr oft wußten die +Mädchen gar nicht, ob die Gäste der Pension zu Hause +waren. Sie wollte mit einem: „Guten Morgen, +Erna!“ vorüber. +</p> + +<p> +Das Mädchen machte ein erstauntes Gesicht. +</p> + +<p> +„Fräulein Radó ist doch verreist,“ sagte sie zögernd. +„Weiß das gnädiges Fräulein gar nicht?“ +</p> + +<p> +Im ersten Augenblick war die Scham dieses Nichtwissens +<a id="page-103" class="pagenum" title="103"></a> +in Metten größer als das Erschrecken. Sie +fühlte sich vor dem Mädchen in lächerlichster Weise +bloßgestellt. +</p> + +<p> +„Doch, doch,“ sagte sie hastig. „Ich wollte nur die +Bücher ins Zimmer legen. Aber ich kann sie ja auch +Ihnen geben. Sie sind so gut, Fräulein Erna, und +tragen sie hinein. Dann brauch’ ich mich gar nicht +damit aufzuhalten. Ich hab’s sehr eilig. Auf Wiederschauen!“ +</p> + +<p> +Die erste Treppe sprang sie hinunter, damit das +Mädchen ihre Hast hören sollte. Erst als die Tür +oben längst ins Schloß gefallen war, ging sie langsamer. +</p> + +<p> +Olga war fort. Ohne ihr ein Wort zu sagen, ohne +sie noch einmal anzurufen, ohne ihr eine Zeile zu +schreiben, ohne dem Mädchen eine Nachricht für sie zu +hinterlassen. +</p> + +<p> +Sie war fort. Ohne zu sagen, wohin. Ohne zu +sagen, auf wie lange. +</p> + +<p> +Mette senkte den Kopf sehr tief auf die Brust und +ging ganz langsam, Stufe für Stufe. – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Einige Tage später hörte Mette das Telephon +schrillen und das Mädchen im eiligen Trab den langen +Türgang entlanglaufen. +</p> + +</div> + +<p> +<a id="page-104" class="pagenum" title="104"></a> +Mette macht ihre Zimmertür auf. +</p> + +<p> +„Für mich, Hedwig?“ +</p> + +<p> +„Ja, für Fräulein – ein Herr wünscht Fräulein +zu sprechen – ein Herr Petersen oder Petermann, ich +hab’ nicht ganz verstanden.“ +</p> + +<p> +Auf dem runden Gesicht des Mädchens stand unverhohlene +Verwunderung. Es war das erstemal, daß +eine Männerstimme das gnädige Fräulein verlangte. +</p> + +<p> +„Peterchen!“ rief Mette erregt in den Trichter, ohne +die geringste Rücksicht darauf, daß Tante Emilie im +Nebenzimmer saß. „Ja, hier ist Mette. Was ist +los? Es ist doch nichts passiert?“ +</p> + +<p> +„Nein, nein, bewahre. Ich soll Ihnen nur einen +schönen Gruß bestellen, ich habe heut’ eine Karte bekommen.“ +</p> + +<p> +„Woher denn?“ – „Von wem?“ brauchte sie nicht +zu fragen. +</p> + +<p> +„Aus Kissingen. Ich mußte mir erst Ihre Adresse im +Buch suchen. Ich wußte keine Telephonnummer, keine +Straße, eigentlich ja nicht einmal Ihren Namen +genau ...“ +</p> + +<p> +„Ach Gott, Sie Ärmster, kann ich Sie nicht einmal +sehen, oder haben Sie keine Zeit für mich?“ +</p> + +<p> +„Aber natürlich, aber gerne ...“ +</p> + +<p> +„Wollen wir eine Stunde zusammen spazieren +gehen? Ja? Bitte, bitte! Heute noch, wenn’s geht! +<a id="page-105" class="pagenum" title="105"></a> +Gleich? Ja? Herrlich! Und Sie bringen mir die +Karte mit!“ – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Sie trafen sich. Nach zwei Worten der Begrüßung +fragte Mette: +</p> + +</div> + +<p> +„Haben Sie die Karte? Bitte, bitte, zeigen Sie!“ +</p> + +<p> +Neben der Adresse stand in einer festen, mühsam +zusammengezwängten Schrift: +</p> + +<p> +„Bitte, Peterchen, sei so gut und gib die Bücher +aus der Kgl. Bibl. zurück. Eins liegt auf meinem +Schreibtisch, zwei stehen auf dem Regal links vom +Fenster, 3. Fach v. o. ganz rechts. Und nimm meine +Araukarie zu Dir hinüber, bei mir vergessen die +Frauenzimmer sie doch, und ich möchte nicht, daß sie +verkommt.“ +</p> + +<p> +Auf der anderen Seite war in den Himmel der +Landschaft hineingeschrieben: +</p> + +<p> +„Klingele, bitte, das Mädelchen an und grüße sie +von mir. Die Nummer mußt Du Dir im Buch +suchen. Sie soll mir nicht böse sein. Euch allen alles +Gute. O. R.“ +</p> + +<p> +Hunderte und Tausende von Ansichtskarten waren +in Mettens Leben schon durch ihre Hände gegangen, +und es war das erstemal, daß ihr der Gedanke kam: +„Was ist das eigentlich für eine wunderhübsche Erfindung, +daß man gleich ein Bild des Ortes schicken +kann, wo man sich aufhält. So sieht es also da aus, +<a id="page-106" class="pagenum" title="106"></a> +wo Olga Radó jetzt ist. Diese Häuser sieht sie Tag für +Tag, unter diesen Bäumen geht sie spazieren, diese +Berge grüßen sie – jeden Morgen, jeden Abend – +wirklich eine wunderhübsche Erfindung.“ +</p> + +<p> +Sie hätte die Karte gern behalten. Aber sie hatte +den Mut nicht, Petermann darum zu bitten. – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +„Es ging so schnell“ – sagte sie – „mit dieser Abreise.“ +Es widerstrebte ihr, davon zu sprechen, daß +sie nichts gewußt, nichts geahnt hatte. Es widerstrebte +ihr auch, direkte Fragen an ihn zu richten. +Halb unbewußt sprach sie in Worten, die alles unentschieden +ließen, so gleichsam erst sondierend. +</p> + +</div> + +<p> +„Ja,“ sagte Peterchen, „ganz merkwürdig schnell. +Am Dienstag waren wir doch noch da – richtig, da +saßen wir ja noch zusammen. Am Dienstagabend +kommt Olga zu mir herüber: +</p> + +<p> +‚Gib mir dein Kursbuch!‘ Und immer in dem +Kursbuch hin und her geblättert und mich gefragt: +‚Kennst du den Schwarzwald – ist es schön da? – +Was meinst du – soll ich an die Nordsee fahren?‘ +Und so, wie es gar nicht ihre Art war – so unentschlossen +– ich möchte beinah sagen: so ratlos ... +und am Mittwoch wurden die Koffer gepackt und +Mittwoch abend fuhr sie ab – sagte keinem Menschen +wohin – mir nicht und Frau Flesch nicht. Ihnen +ja auch nicht, nicht wahr? – Ich hatte ja eigentlich +<a id="page-107" class="pagenum" title="107"></a> +erst den Verdacht – den Gedanken, wollt’ ich sagen, +die Idee,“ – Peterchen zögerte, und sein blasses Gesicht +überflog eine leichte Röte – „Sie beide wären +zusammen weggefahren.“ +</p> + +<p> +Mette antwortete nicht. Sie dachte nicht einen +Augenblick daran, ob ihr tiefes Stillschweigen vielleicht +einen verwunderlichen Eindruck machen könnte. +</p> + +<p> +Das Wort hatte wie ein erhellender Blitz in sie +eingeschlagen, und nun stand sie in Flammen. +</p> + +<p> +Reisen! Mit Olga reisen! Der Gedanke an diese +Möglichkeit hatte etwas unwahrscheinlich Beglückendes. +Einige Sekunden durchlebte sie in ihrer Vorstellung +das, was hätte sein können. Wenn sie am +Dienstag zusammen diesen Entschluß gefaßt hätten! +Wenn sie auch am Mittwoch ihren Koffer gepackt +hätte! Sie fühlte sich neben Olga im Zug sitzen und +hinausfahren in den warmen, blauen Sommerabend, +in dem hier und da die ersten Lichter aufflammten. +Sie sah sich in einem dieser weißen Häuser, auf der +Terrasse, an einem gedeckten, blumengeschmückten +Tisch, Olga gegenüber. Sie wanderte mit Olga +diesen Bergen entgegen, deren schön geschwungene +Linien verlockend auf dem blauen Himmel sich +zeichneten. +</p> + +<p> +Jäh und schmerzlich kam es ihr zum Bewußtsein: +Das war ein törichter, unerfüllter, vielleicht ewig +<a id="page-108" class="pagenum" title="108"></a> +unerfüllbarer Traum. Die Wirklichkeit war, daß sie +hier war – allein – und daß Olga fort war – +auch allein? Mit wem? Nichts in der Welt hatte +ihr ein Recht gegeben, auch nur danach zu fragen. +– – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +In diesen Wochen war es Mettens einzige Freude, +mit Peterchen spazieren gehen. Sie machten Ausflüge +miteinander, fuhren nach Wannsee, nach dem +Grunewald, lagen halbe Tage am Wasser oder +nahmen sich ein Ruderboot, tranken Kaffee in irgendeiner +versteckten Gartenwirtschaft und sprachen von +Büchern, von fremden Städten und fernen Bergen, +von Tieren und Pflanzen, von längst verstorbenen +Menschen – und von Olga. +</p> + +</div> + +<p> +Manchmal, wenn sie zusammen waren, schrieben +sie an Olga, schickten ihr eine Ansichtskarte oder machten +ihr lange Gedichte in Knittelversen, und hin und +wieder kam eine flüchtige Antwort von ihr und einmal +die Nachricht, daß sie in drei Wochen wiederzukommen +gedächte. +</p> + +<p> +Mette war ruhig und glücklich in dieser Zeit. Das +Zusammensein mit Peterchen tat ihr wohl. – Wenn +sie zu Hause war, so las und lernte sie nach seiner +Anleitung und zählte die Tage bis zu Olgas Rückkehr. +<a id="page-109" class="pagenum" title="109"></a> +Sie hatte sich ein ganzes Verzeichnis gemacht von +Büchern, die sie bis dahin gelesen, von Arbeiten, die +sie bis dahin erledigt haben wollte. Sie wollte überraschen +durch all die Kenntnisse, die sie in der Zwischenzeit +erworben hatte, und mühte sich mit brennendem +Eifer. +</p> + +<p> +Es wäre alles schön und gut gegangen, wenn Tante +Emilie nicht gewesen wäre. Tante Emilie beobachtete +und schwieg und speicherte Gift und Galle in +sich auf. Und eines Tages brach es aus. +</p> + +<p> +Es war nach Tisch. Mette wollte mit einem kurzen +„Mahlzeit“ aufstehen und sich aus ihrem Zimmer den +Hut holen. +</p> + +<p> +Tante Emilie, die während des Essens schon in +Positur gesessen hatte, fegte mit zierlichen Fingern ein +paar Krümchen auf dem Tischtuch zusammen, und auf +Mettens „Mahlzeit“ hin räusperte sie sich kurz und +scharf und sagte betont: +</p> + +<p> +„Vielleicht hast du die Güte, sitzen zu bleiben, bis +<em>ich</em> vom Tisch aufstehe.“ +</p> + +<p> +Geduldig und gelangweilt setzte Mette sich wieder +hin. Sie wußte nicht, daß es die Vorrede zu größeren +Dingen sein sollte. Sie nahm es für eine der täglichen +kleinen Schikanen, die einen am wenigsten Zeit +und Kraft kosteten, wenn man sie mit größter Gelassenheit +hinnahm. +</p> + +<p> +<a id="page-110" class="pagenum" title="110"></a> +Mette warf einen heimlichen Blick nach der Uhr. +„Sie wird jetzt natürlich noch fünf Minuten sitzen, +ehe sie das Zeichen zum Aufstehen gibt,“ dachte sie. +„Gut, komm’ ich also fünf Minuten zu spät. Peterchen +wartet.“ +</p> + +<p> +Tante Emilie fegte Krümchen und räusperte sich. +</p> + +<p> +„Willst <em>du</em> so gut sein, Franz,“ begann sie (man +könnte vielleicht besser sagen: sie hub an) „und deine +Tochter fragen, wohin sie heute nachmittag zu gehen +beabsichtigt, und mit wem sie geht? Wenn <em>ich</em> sie +frage, so gibt sie mir zur Antwort ‚spazieren – mit +Bekannten‘ oder ähnliche Geistreichigkeiten. Also +bitte, frag’ du sie selbst. Vielleicht hat sie wenigstens +vor dir noch so viel Achtung, daß sie dir die Wahrheit +sagt.“ +</p> + +<p> +Franz Rudloff rollte seine Serviette zusammen und +wieder auseinander, schob sie in den Ring und zog +sie wieder heraus und saß in tödlichster Verlegenheit. +</p> + +<p> +„Du weißt doch, liebe Emilie,“ sagte er, ohne aufzusehen, +„daß ich dir die Erziehung meiner Tochter +übergeben habe, weil ich weiß, daß sie nirgend so gut +aufgehoben wäre, als in deinen bewährten Händen. +Mette ist dir so gut Gehorsam schuldig wie mir. Du +bist im Vollbesitz aller erzieherischen Gewalt ...“ +</p> + +<p> +„Gewalt!“ sagte Tante Emilie hohnlachend. „Was +<a id="page-111" class="pagenum" title="111"></a> +soll ich denn machen? Man kann doch einen +zwanzigjährigen Menschen nicht schlagen oder einsperren.“ +</p> + +<p> +„Nicht gut,“ sagte Mette ruhig, „Gott sei Dank! +Aber vielleicht darf ich auch mal eine Frage stellen: +Möchtest du vielleicht sagen, warum und wozu du +solche Maßregeln anwenden möchtest?!“ +</p> + +<p> +„Wozu? Zu deinem besten!“ sagte Tante Emilie +in einem Ton, der flammende Empörung ausdrücken +sollte. Aber der Ton blieb spitz – es war nur eine +Stichflamme. „Warum? Um zu verhindern, daß du +vollständig verkommst.“ +</p> + +<p> +„Nanu?“ Mette war immer noch mehr belustigt +als erregt. „Warum soll ich denn eigentlich total verkommen? +Weil ich mit einem jungen Mann spazieren +gehe? Ach Gott, der arme kleine Petermann. Hast +du ihn vielleicht gesehen? Ich kann ihn dir ja mal +vorführen, vielleicht bist du dann beruhigt!“ +</p> + +<p> +„Was ist denn das für ein Mann?“ fragte jetzt +Franz Rudloff mit gerunzelten Brauen. Es sollte +vielleicht energisch und streng klingen. Es klang eher +schüchtern. +</p> + +<p> +Mette empfand für ihren Vater ein zärtliches Mitleid, +das nicht frei von Verachtung war. +</p> + +<p> +„Ach Gott, Papa,“ sagte sie, „ein netter, intelligenter +Mensch. Aber ein armes, krankes, verwachsenes +<a id="page-112" class="pagenum" title="112"></a> +Kerlchen. Wahrhaftig, kein Mann, der der Tugend oder +dem Rufe eines jungen Mädchens gefährlich werden +könnte.“ +</p> + +<p> +„Einem normalen jungen Mädchen vielleicht nicht,“ +sagte Tante Emilie, zitternd vor Bosheit. „Leider +weiß ich ja nicht, wie weit bei dir die Voraussetzung +der Normalität zutrifft. Es gibt ja leider Frauen genug, +die sich in krankhafter Geschmacksverirrung zu +allem Abstoßenden und Ungesunden hingezogen fühlen. +Gerade wie es leider Gottes Frauen gibt, die jedem +Neger nachlaufen.“ +</p> + +<p> +Mette schob ihren Stuhl zurück, daß er hart den +Boden schrammte. +</p> + +<p> +„Du bist ja total irrsinnig!“ sagte sie. Weiter +nichts. Dann ging sie mit ihren großen, festen +Schritten ins Nebenzimmer ans Telephon und stellte +die Verbindung her. +</p> + +<p> +„Kann ich Herrn Petermann sprechen? ... Verzeihen +Sie, Peterchen, ich muß Sie heut’ versetzen ... Meine +Tante erlaubt nicht, daß ich mit Ihnen spazieren +gehe ... ja, es tut mir auch leid – aber da kann man +nix machen – meine Tante findet es unschicklich ... +nein, nein, klingeln Sie lieber nicht an, das ist vielleicht +auch unpassend. Grüß Sie Gott. Lassens sich’s +gut gehen!“ +</p> + +<p> +Ohne sich umzuwenden, ohne nur einen Blick ins +<a id="page-113" class="pagenum" title="113"></a> +Nebenzimmer zurückzuwerfen, ging sie in ihre Stube +und schloß und riegelte sich ein. +</p> + +<p> +Damit hatte der freundschaftliche Verkehr mit Petermann +fürs erste ein Ende. – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Franz Rudloffs stille und empfindsame Natur litt +schwer unter der gespannten Stimmung im Hause. +Die Mahlzeiten verliefen in peinlichem Schweigen, +jedes gemeinsame Unternehmen, ein Spaziergang, ein +Theaterbesuch schien ausgeschlossen. +</p> + +</div> + +<p> +Er beschloß, einen Frieden zu vermitteln und versuchte, +seine Tochter zu einer Bitte um Verzeihung zu +bewegen. Er suchte sie zu diesem Zweck, was er selten +tat, sogar in ihrem Zimmer auf. +</p> + +<p> +Mette saß mit aufgestütztem Kopf über ihren +Büchern. Als ihr Vater eintrat, sprang sie auf und +empfing ihn wie einen verehrten Besuch. Sie rückte +ihm den bequemsten Sessel zurecht und bot ihm eine +Zigarette an. +</p> + +<p> +Er wußte nicht recht, wie er anfangen und einleiten +sollte und war voller Verlegenheit. +</p> + +<p> +Mette versuchte, ihm die Lage zu erleichtern, weil +es ihr peinlich war zu sehen, wie er sich quälte. +</p> + +<p> +Sie versprach die Bitte um Entschuldigung, sie versprach, +bei Tisch Konversation zu machen, sie versprach +<a id="page-114" class="pagenum" title="114"></a> +ein freundliches Gesicht und einen sanften Ton von +morgens bis abends. +</p> + +<p> +„Ich verspreche dir, mich zu beherrschen, Vater,“ +sagte sie. +</p> + +<p> +Beherrschung! Das war es nicht, was Franz Rudloff +verlangte. +</p> + +<p> +„Könntest du nicht versuchen,“ sagte er zaghaft, +„innerlich in ein anderes Verhältnis zu Tante Emilie +zu kommen? Sie hat wirklich so sehr schätzenswerte +Eigenschaften. Es würde ein viel erquicklicheres +Familienleben werden, wenn du – ich weiß, Gefühle +lassen sich nicht zwingen – aber wenn du wenigstens +den <em>Versuch</em> machtest, sie lieb zu haben.“ +</p> + +<p> +„Liebhaben!“ wiederholte Mette. Sie sah mit +steinern ruhigem Gesicht an ihm vorüber, aus dem +Fenster, aber ihr Atem ging rascher. „Ich kann dir +eins versprechen: ich habe mich Zeit meines Lebens +nur auf das eine gefreut, habe nur auf das eine gewartet, +daß sie sterben soll. Ich habe jeden Abend den +lieben Gott gebeten, er soll sie bald, bald sterben +lassen.“ +</p> + +<p> +Franz Rudloff wurde ganz blaß. +</p> + +<p> +„Mette!“ sagte er mit großen Augen. +</p> + +<p> +„Ich verspreche dir, das nicht mehr zu tun!“ sagte +Mette mit einem leisen, trüben Lächeln. „Es wäre +jetzt auch zu spät. Jetzt bitte ich Gott nur, daß er mich +<a id="page-115" class="pagenum" title="115"></a> +bald einundzwanzig werden läßt. Daß er dies unglückselige +Jahr schnell, schnell vorübergehen läßt. +Wenn ich mündig bin, wird sich ja irgendein Weg +finden lassen. Wenn sie mir’s dann zu bunt treibt, +geh’ ich eben aus dem Hause. Wenn’s sein muß, als +Kindermädchen. Wenn ich nicht mehr mit ihr zusammen +zu sein brauche, soll sie meinetwegen hundert +Jahr alt werden. Früher, ich kann dir sagen, früher +hätte ich sie manchmal mit Genuß mit eigenen Händen +umgebracht.“ +</p> + +<p> +Vor Franz Rudloff taten sich klaffende Abgründe +auf. Er klammerte sich an den Seitenlehnen des +Stuhles fest, so gewaltsam und stoßweise ging sein +armes schwächliches Herz. +</p> + +<p> +„Dann allerdings,“ sagte er mühsam, der Atem versagte +ihm, „dann allerdings wird wohl meine Bitte +auf unfruchtbaren Boden fallen. Dann, dann habe ich +dir wohl auch nichts mehr zu sagen.“ +</p> + +<p> +Er erhob sich und ging hinaus, schwerfällig wie ein +alter Mann. +</p> + +<p> +Mette fühlte einen Moment den Trieb, aufzuspringen, +ihn zu halten, ihn wieder zu dem Sessel zurückzuführen. +Ob es nicht doch irgendeinen Weg gab, sich +zu erklären, eine Möglichkeit, sich verständlich zu +machen!? +</p> + +<p> +„Er geht, weil er sich fürchtet,“ dachte sie, „er geht, +<a id="page-116" class="pagenum" title="116"></a> +weil er die Luft in meiner Nähe nicht mehr atmen +kann, die Luft, die vergiftet ist mit dem Gift meiner +bösen Gedanken. Er fragt sich jetzt verzweifelt, warum +er so hart gestraft wird, daß er einer Mörderin das +Leben gegeben hat. Wer weiß, womöglich geht er +jetzt zu Tante Emilie und fragt sie um Rat, was er +mit seiner verlorenen Tochter anfangen soll. Vielleicht +konsultieren sie mal wieder einen Irrenarzt. Ich +hätte die Absicht geäußert, meine Familie eigenhändig +umzubringen. Nein, nein, es hat keinen Zweck, mit +Erklärungen anzufangen. Vater versteht mich ja doch +nicht.“ +</p> + +<p> +Er ging. Und sie ließ ihn gehen, ohne sich zu +rühren. – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Es vergingen drei Wochen – vier Wochen, fünf +Wochen – Olga Radó ließ nichts von sich sehen noch +hören. +</p> + +</div> + +<p> +In ihrer Verzweiflung nahm Mette den lange vernachlässigten +Verkehr mit den Möbius-Mädeln wieder +auf. Sie quälte sich durch ein paar langweilige Nachmittage +hindurch und fand den Mut nicht, nach Olga +zu fragen. Und als sie endlich fragte, wußte niemand +von ihr. +</p> + +<p> +Aber eines Nachmittags stürmte Emmi ins Zimmer, +<a id="page-117" class="pagenum" title="117"></a> +gerade als Fanni Metten die höchst aufregende Geschichte +erzählte, von einem Brief an sie, den ihre +Mutter aufgemacht hätte. Mette wurde nicht klug aus +der Sache, aber sie hatte es zu einer Art Meisterschaft +darin gebracht, an passenden Stellen „Ja?“ „Ach!“ +„Wirklich?“ zu sagen, ohne eine Ahnung zu haben, +wovon die Rede war; also Emmi stürmte herein, warf +ein paar Paketchen, die sie in der Hand trug, auf den +Tisch, und rief: +</p> + +<p> +„Also, wißt ihr, Kinder, wen ich eben getroffen +habe? Die Olga!“ +</p> + +<p> +In Metten kämpften Schmerz und Freude. Also sie +war hier! Man hatte die Möglichkeit, sie zu treffen, +ganz unvermutet ihr plötzlich gegenüber zu stehen – +das war ihr erster Gedanke. Aber ihr zweiter war: +„Sie ist hier und sagt es mir nicht. Sie will mich +nicht sehen. Sie ist abgereist, ohne es mir zu sagen, +sie ist wiedergekommen, ohne es mir zu sagen, sie ist +meiner so überdrüssig, daß sie sich Mühe gibt, mich +loszuwerden. Was soll ich nur tun? Was soll ich +nur tun?“ +</p> + +<p> +Zwischen den Schwestern entspann sich ein langes +Gespräch über Olga. +</p> + +<p> +„Sie hat Launen,“ sagte Fanni, „eine Zeitlang +kommt sie jeden dritten Tag, und dann läßt sie sich ein +Vierteljahr nicht sehen.“ +</p> + +<p> +<a id="page-118" class="pagenum" title="118"></a> +„Sie will mich hier nicht treffen!“ dachte Mette +bitter, „darum kommt sie nicht hierher.“ +</p> + +<p> +„Sie war doch so lange verreist,“ sagte Emmi entschuldigend. +</p> + +<p> +„Ach, und vorher?“ fragte Fanni. „Das Vierteljahr +vor der Reise? Hat sie sich da vielleicht +um uns gekümmert? Da hatte sie ja auch keine +Zeit!“ +</p> + +<p> +„Aber für mich,“ dachte Mette mit schmerzlichem +Stolz, „oh, für mich hatte sie Zeit – jeden Tag, jeden +Tag –.“ +</p> + +<p> +„Du kommst mir vor wie Tante Sophie,“ sagte +Emmi und bemühte sich, ihr Puppengesichtchen zu verrenken, +um der Tante nachzumachen. „Diese Olga ist +eine ganz gefährliche Person. Sie spielt mit Menschen +wie mit Puppen. Wenn sie sie satt hat, wirft +sie sie beiseite. Und dabei ist sie faszinierend, ich gebe +es zu, sie ist faszinierend!“ +</p> + +<p> +„Ja,“ dachte Mette, „diese Tante Sophie mag sonst +so idiotisch wie möglich sein. Aber sie hat recht. +<em>Darin</em> hat sie recht. Sie <em>ist</em> faszinierend. Oh, so +faszinierend! Und sie hat mich beiseite geworfen. +Für immer! Für ewig! Was <em>soll</em> ich nur tun? +Was <em>kann</em> ich nur tun?“ – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +<a id="page-119" class="pagenum" title="119"></a> +Mette grübelte Tage und Nächte nach einem Ausweg. +Sie fühlte, daß sie es nicht aushalten würde, +sich an ihren Stolz zu klammern und zu sagen: Sie +mag mich nicht, also existiert sie nicht mehr für mich. +Sie sagte es sich, gewiß, nicht einmal, hundertmal. +Aber ein viel stärkeres Gefühl sagte ihr: es sind Mißverständnisse, +die uns trennen, es sind Hindernisse, +die sich mit einem offenen Wort beseitigen lassen. Ich +<em>muß</em> sie sprechen, ich <em>muß</em> sie fragen. Sie hat Mut +genug und Härte genug, um mir die Wahrheit zu +sagen. Ich will es ihr leicht machen. Ich will sie so +fragen, daß sie es mir sagen kann, daß sie es mir +sagen muß. Und wenn sie sagt: geh und komm nie +wieder, dann will ich gehen und nie wiederkommen, +dann will ich versuchen, mein Leben irgendwie ohne +sie einzurichten, dann will ich stolz sein, aber dann +erst! Erst dann! +</p> + +</div> + +<p> +Mette kaufte eine Handvoll weißer Rosen von +eigentümlich steifer und schwermütiger Schönheit und +ging hinauf zu Olga. +</p> + +<p> +Das Mädchen, das ihr aufmachte, empfing sie mit +strahlender Freude. +</p> + +<p> +„Gnädiges Fräulein sind ja so lange nicht hier gewesen! +Fräulein Radó ist hinten in ihrem Zimmer. +Fräulein weiß ja Bescheid!“ +</p> + +<p> +Es erschien Metten unmöglich, sich durch das +<a id="page-120" class="pagenum" title="120"></a> +Mädchen melden zu lassen. Wenn Olga sich etwa verleugnen +ließe, so konnte das eine unendlich peinvolle +Situation herbeiführen. Wenn Olga nicht in der +Laune war, sie zu sehen, so war es schon am besten, +sich das ins Gesicht sagen zu lassen und nicht durch Vermittlung +des Mädchens zu erfahren. +</p> + +<p> +Sie schritt sehr rasch und fest den endlosen Türgang +hinunter. Aber das Herz klopfte ihr doch ein wenig +schneller dabei. +</p> + +<p> +Sie pochte kurz an die Tür und drückte die Klinke +nieder. +</p> + +<p> +Olga saß am Schreibtisch, wie sie immer zu sitzen +pflegte: die eine Hand auf dem aufgeschlagenen +Buch, die Schläfe gegen den Ballen der anderen +gestützt, zwischen deren Fingern sie die Zigarette +hielt. +</p> + +<p> +Als die Tür ging, wandte sie den Kopf ein wenig +unwillig, mit zusammengezogenen Brauen. Das Erkennen +lief wie ein heller Schein über ihr Gesicht. +</p> + +<p> +„Mette!“ sagte sie. „Bist du wieder da? Wo +kommst du her? Was willst du hier?“ +</p> + +<p> +Mette riß das Papier von den Blumen, warf es +in den Papierkorb und legte die Rosen auf den +Schreibtisch. +</p> + +<p> +„Was ich will?“ sagte sie währenddessen, ohne die +Augen von ihrer Beschäftigung aufzuheben. „Dich +<a id="page-121" class="pagenum" title="121"></a> +besuchen. Sehen, wie es dir geht. Aber wenn es dir +nicht paßt, kann ich ja wieder gehen.“ +</p> + +<p> +„Nein!“ Olga streckte mit einer raschen und fast +heftigen Bewegung die Hand nach ihr aus. Mette +legte ihre Finger hinein, die Olga fest umschloß. +„Aber – gerufen habe ich dich nicht!“ +</p> + +<p> +Sie sah zu Metten auf, mit dem seltsam zwingenden +und fast drohenden Ausdruck in Stirn und Augen. +</p> + +<p> +„Ich weiß es,“ sagte Mette mit einem bitteren +Lächeln. „Es wäre dir auch nicht eingefallen, mich zu +rufen. Ich habe selber das Gefühl, daß ich aufdringlich +bin. Du brauchst es mir gar nicht so deutlich zu +sagen.“ +</p> + +<p> +Sie wollte ihre Hand zurückziehen, aber Olga hielt +sie fest und lächelte. +</p> + +<p> +„Kind,“ sagte sie, „Mädelchen! Ich freue mich doch! +Mehr als du annimmst. Ich glaube, wenn du wüßtest, +wie ich mich freue – dann würdest du ganz eingebildet +werden. Aber gerufen habe ich dich doch +nicht.“ +</p> + +<p> +„Ja,“ sagte Mette beinah ungeduldig, „ich weiß +nicht, warum du solches Gewicht auf diese Feststellung +legst.“ +</p> + +<p> +„Aber ich weiß es,“ sagte Olga ruhig. „Du sollst +mir niemals vorwerfen können, ich wäre egoistisch gewesen.“ +</p> + +<p> +<a id="page-122" class="pagenum" title="122"></a> +„So,“ sagte Mette, „das ist ja heiter. Damit dich +nicht irgendwann ein Vorwurf treffen kann – ich +wüßte nebenbei nicht wann – darum läßt du mich +sterben und verderben und kümmerst dich nicht um +mich! Oh, bist du egoistisch!“ +</p> + +<p> +Olga lachte. „Ich geb’ es auf. Es kommt ja doch +alles auf mich. So oder so. Also tragen wir, was +wir tragen können, solange wir aufrecht gehen. Es +ist herbstlich heut’ draußen.“ +</p> + +<p> +Sie schloß die Augen und zog fröstelnd die Schultern +zusammen. +</p> + +<p> +„Es ist gut, daß du da bist. Steck den Samowar +an und mach uns Tee, Mettulein. Und wir wollen +Peterchen rufen, daß er kommt und uns was vorspielt.“ – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Als Mette ins Zimmer trat, saß Olga auf dem +Diwan, die Ellbogen auf den Knien, das Gesicht in +die Hände gelegt. +</p> + +</div> + +<p> +„Gott, siehst du tiefsinnig aus!“ rief Mette. „Denkst +du über die Unsterblichkeit der Maikäfer nach?“ +</p> + +<p> +„Ja!“ Olga hob mit einem Ruck den Kopf. „Und +ich meine, daß das das einzige ist, was noch das Nachdenken +lohnt! Sag’, hast du noch nie darüber nachgedacht?“ +</p> + +<p> +<a id="page-123" class="pagenum" title="123"></a> +„Nein!“ lachte Mette. „Ganz gewiß nicht.“ +</p> + +<p> +„Dann ist es Zeit, daß du anfängst, darüber nachzudenken!“ +sagte Olga sehr ernst. +</p> + +<p> +„Ausgerechnet über die Unsterblichkeit der Maikäfer?“ +</p> + +<p> +„Ja, ausgerechnet über die Unsterblichkeit der Maikäfer. +Ich möchte wissen, von wem das Wort +stammt. Man kann nämlich über nichts so tiefsinnig +werden.“ +</p> + +<p> +„Als gerade über die Maikäfer?“ +</p> + +<p> +„Meinetwegen auch über die Stubenfliegen. Oder +über die Skorpione. Oder über die Kellerasseln. +Glaubst du, daß eine Stubenfliegenseele in einen +Maikäfer fahren kann? Oder umgekehrt? Oder glaubst +du, daß sie gleich in den Himmel kommt? Oder glaubst +du, daß Elefanten auf einer höheren Stufe stehen als +Menschen? Oder daß es mehr als sechzehnhundert +Millionen Elefanten gibt?“ +</p> + +<p> +„Olga!“ rief Mette zwischen Lachen und Verzweiflung +und hielt sich die Ohren zu. „Hör’ auf! Bist +du denn verrückt geworden?“ +</p> + +<p> +„Nein, nein, nein!“ sagte Olga eigensinnig. „Ich +denke fortgesetzt darüber nach.“ +</p> + +<p> +„Worüber eigentlich?“ +</p> + +<p> +„Über die Unsterblichkeit der Maikäfer. Glaubst du, +<a id="page-124" class="pagenum" title="124"></a> +daß sie eine unsterbliche Seele haben? Ich will dir +sagen, wie ich darauf kam. Ich las da eben vom +Regenerationsvermögen gewisser niederer Tiere. +Weißt du, wenn man sie halbiert, wächst einfach jedem +die fehlende Hälfte nach, und es sind nun zwei da. +Der Mann macht da auch die tiefsinnige Bemerkung, +in welcher Hälfte sitzt nun die unsterbliche Seele? +Oder teilt sich die Seele? Oder hat der Mensch die +Macht, durch das Seziermesser eine neue Seele zu +schaffen? Oder herbeizulocken? Wenn man anfängt, +kommt man in ein solches Labyrinth.“ +</p> + +<p> +„Glaubst du denn an die unsterbliche Seele?“ fragte +Mette zweifelnd. +</p> + +<p> +„Bei niederen und niedersten Tieren? Gewiß! +Aber wenn dich das Wort Seele stört, lassen wir’s +fort. Ich möchte dir’s so gern klarmachen.“ +</p> + +<p> +Sie sah ein paar Sekunden zu Boden, hob dann +die unbeschreiblich klaren und leuchtenden Augen auf +und sagte betont: +</p> + +<p> +„Alles, was Leben hat, hat auch Unsterblichkeit. +Leben an sich kann nicht sterblich sein. – Das klingt +wie ein Sophismus, ist aber keiner. Es wechselt nur +die Form. Nun möchte ich wissen, ob es nur die uns +wahrnehmbare, die Erscheinungsform wechselt, das +heißt, ob jede Maikäferseele ein in sich abgeschlossenes +ist, das wieder nur dazu dient, einem neu entstehenden +<a id="page-125" class="pagenum" title="125"></a> +Maikäfer Leben zu geben, oder ob Sterben und Geborenwerden +ist, wie Tropfen, die ins Meer zurückfließen +und wieder aus dem Meer geschöpft werden. +Die Tropfen bleiben nicht in sich zusammenhängend, +verstehst du? Und viele Tropfen geben einen Eimer. +Vielleicht ist nur die Quantität ausschlaggebend und +nicht die Qualität ... Vielleicht hat ein Mensch +Millionen Maikäferseelen in sich. Man müßte einmal +die Maikäfer auf der ganzen Erde zählen. Wenn eine +Maikäferseele sich in Ewigkeit gleich bliebe, so müßte +immer die gleiche Anzahl von Maikäfern existieren. +Wo sind aber dann die Seelen der Tiere, die +positiv ausgestorben sind? Oder flutet das Leben +von einem Stern zum andern ungehindert hinüber? +– +</p> + +<p> +Aber ich glaube das alles nicht. Ich glaube eigentlich +an eine Entwicklung, an einen Fortschritt. Man +kommt von da ganz unten her – weißt du? – aus +Abgründen viehischen Lebens – oh, ich weiß ganz +genau, daß ich von da her komme – aber jedes Leben +heißt ‚Aufwärtsentwicklung‘, jedes neue Leben fangen +wir eine Stufe höher an.“ +</p> + +<p> +„Ach, Unsinn!“ sagte Mette ungläubig. „Woher +willst du das wissen! Ich glaube nicht an unsterbliche +Maikäferseelen. Ich glaube nicht einmal an +meine eigene Unsterblichkeit. Alles Leben ist chemische +<a id="page-126" class="pagenum" title="126"></a> +Veränderung. Und das, was du Seele nennst, alle +Eigenschaften des Geistes und des Charakters, das ist +Blutzusammensetzung.“ +</p> + +<p> +„Mette!“ sagte Olga ganz erschrocken. „Und mit +dem Gedanken kannst du leben? Und mit dem Gedanken +willst du sterben? Ich würde mich fürchten +vorm Tode, wenn ich nicht wüßte, daß ich unzerstörbar +bin. Ich empfinde mich selbst so stark, viel stärker als +den Tod. – Ich bin genau das, was ich als kleines +Kind war. Nicht unverändert. Ich bin mehr geworden. +Aber nicht ein Körnchen ist abgebröckelt. Und +das, was ich jetzt bin, erhalt ich mir. Ich gebe nichts +her davon. Das weiß ich. Aber ich nehme zu, ich +wachse. Manchmal ist es wie ein Stillstand – dann +geht es wieder ruckweise – manchmal eine ganze Strecke +in rasendem Tempo, immer aufwärts –“ Sie schwieg, +und sah mit weiten Augen geradeaus. +</p> + +<p> +„Und dann?“ fragte Mette, immer noch mit leisem +Widerspruch im Ton. „Was wird dann? Kommst du +in den Himmel und wirst ein Engel mit weißen +Flügeln?“ +</p> + +<p> +„Ich weiß nicht,“ sagte Olga nachdenklich. „So +wenig weiß ich, daß ich selbst das nicht abstreiten kann. +Eigentlich bin ich überzeugt, daß ich zunächst ein Mann +werde. Und danach ein Heiliger oder ein Genie. Das +ist das Höchste, was wir kennen. Die andere höhere +<a id="page-127" class="pagenum" title="127"></a> +Form, die dann kommt – davon weiß ich nichts. +Aber wir müssen die fragen, die ihr am nächsten +stehen – die vielleicht schon ein Vorgefühl davon +haben können – die Genies – oder die Heiligen.“ +– – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Einmal, als Mette ins Zimmer kam, sah sie, daß +Olga etwas versteckte. Sie schob einen offenen Brief, +den sie in der Hand hielt, rasch unter die Bücher auf +dem Schreibtisch. Mette glaubte zu bemerken, daß +sie während der Begrüßung irgendwie zerstreut, ärgerlich, +verlegen war. +</p> + +</div> + +<p> +„Was hast du?“ fragte sie, ohne ihre Hand loszulassen. +„Hast du Ärger gehabt? Du kommst mir heut’ +so komisch vor.“ +</p> + +<p> +„Ich?“ Olga errötete. Es lief wieder die rasche, +dunkelnde Blutwelle über ihr Gesicht, die es im nächsten +Augenblick um so weißer erscheinen ließ. „Was fällt +dir ein? Warum soll ich Ärger gehabt haben? Im +Gegenteil.“ +</p> + +<p> +„Im Gegenteil?“ sagte Mette mit etwas erzwungener +Heiterkeit. „Du hast Freude gehabt, die dich so okkupiert? +Dann wäre es allerdings indiskret, weiter zu +fragen. Sprechen wir von etwas anderem. – Ich habe +dir deinen Chamberlain wieder mitgebracht. Und habe +<a id="page-128" class="pagenum" title="128"></a> +dir auch gleich den Herz mitgebracht. Vater hatte ihn +in der Bibliothek.“ +</p> + +<p> +Sie sprachen von dem und jenem. Aber Mette konnte +den Brief nicht vergessen. Während sie redete, gingen +ihre Gedanken immer andere Wege. +</p> + +<p> +„Was ist das nur?“ dachte sie. „Eifersucht? Hab’ +ich denn ein Recht dazu? Wie komme ich eigentlich +dazu, verletzt, mißtrauisch, ja <em>zornig</em> zu sein, weil +diese Frau einen Brief erhält, den sie mich nicht sehen +lassen will? Herrgott im Himmel, sie ist doch durch +nichts an mich gebunden, mir in Nichts verpflichtet. +Sie kann heimlich verlobt sein, sie kann ein Dutzend +Liebschaften haben – wie käme sie dazu, mir alles zu +erzählen, mich zu ihrer Vertrauten zu machen? Was +geht es mich überhaupt an, was sie für Briefe bekommt?“ +</p> + +<p> +Mette war böse auf sich selbst und schalt sich aus. +Und dabei war sie gequält und traurig, kämpfte dagegen +an und konnte es nicht überwinden. +</p> + +<p> +„Es <em>ist</em> nicht Eifersucht,“ dachte sie, „es <em>ist</em> nicht +Besitzer-Wahnsinn. Es ist einfach die Erkenntnis, daß +man das Leben nur ertragen kann, wenn man Hand +in Hand geht. Es ist das Bewußtsein, daß ich nur +weiterkomme, wenn Olga meine Hand hält und mich +führt. Ich habe das Gefühl, daß sie meine Hand losgelassen +hat, daß zwischen uns eine Tür ins Schloß +<a id="page-129" class="pagenum" title="129"></a> +gefallen ist, daß ich allein stehe, hilflos, im Dunkeln, +und daß sie lachend weitergeht – ich weiß nicht, +mit wem ...“ +</p> + +<p> +Olga wurde ans Telephon gerufen. Es dauerte +lange, ehe sie wiederkam. +</p> + +<p> +Mette saß einen halben Meter vom Schreibtisch entfernt. +Unter einem Bücherstoß ragte eine Ecke des +weißen Briefblatts hervor. Wenn sie den Arm ausstreckte, +konnte sie es berühren, konnte es hervorziehen, +ohne von ihrem Platz aufzustehen. +</p> + +<p> +Es war ein qualvoller Kampf. Sie hätte sich ohrfeigen +mögen, weil sie nur auf den Gedanken einer +Möglichkeit kam. +</p> + +<p> +Es war ein Verbrechen, was sie begehen wollte – +oh, es war schlimmer, es war unfein, taktlos, verächtlich. +Aber sie fand tausend Gründe, sich zu entschuldigen: +</p> + +<p> +„Es ist ja nicht Neugier –“ schrie es innerlich in +ihr, „wem tu ich damit weh? Wem tu ich ein Leid? +Niemandem. Nicht ihr, nicht dem, der den Brief +geschrieben hat. Und für mich ist es von so unendlicher +Bedeutung. Ich klammere mich mit allen Fasern +an diesen Menschen und weiß gar nicht, was es für ein +Mensch ist. Warum <em>ist</em> sie so verschlossen? Wenn ich +mir eine Gewißheit verschaffen kann, die vielleicht mit +einem Schlage mein ganzes Leben ändert, so tue ich +<a id="page-130" class="pagenum" title="130"></a> +das um jeden Preis – und wenn es um den Preis +eines Verbrechens ist.“ +</p> + +<p> +Mit einem Ruck zog sie das Blatt hervor. Ihr +Herz hämmerte wie rasend, vor ihren Augen war ein +dichter Schleier, die Buchstaben flackerten auf dem +Papier. Es war ein Bogen mit Firmenaufdruck, +wenige Worte – Zahlen ... +</p> + +<p> +Mette hörte Olgas Stimme vor der Tür und schob +das Blatt hastig in die Tasche. Olga würde es kaum +vermissen. Und in Metten, obgleich sie kaum gelesen, +kaum begriffen hatte, was da stand, war schon ein +Plan fertig. +</p> + +<p> +Mette hatte es heut’ sonderbar eilig, nach Hause zu +kommen. Sie war zerstreut und einsilbig, so, daß +Olga einmal fragte: +</p> + +<p> +„Was hast du heut’? Ist dir was passiert? Bist +du schlechter Laune?“ +</p> + +<p> +Mette erinnerte sich belustigt des Gespräches beim +Kommen. +</p> + +<p> +„Im Gegenteil!“ sagte sie mit übertriebener Betonung, +deren Ursache aber Olga nicht ins Gedächtnis +kam – „Ich bin sogar sehr guter Laune!“ – +</p> + +<p> +Mette schloß sich daheim in ihrer Stube ein und +studierte den Brief wie ein wichtiges Dokument – das +also war das Liebesglück, das vor ihr geheim gehalten +wurde. +</p> + +<p> +<a id="page-131" class="pagenum" title="131"></a> +Die Firma ersuchte „nochmals“ um Zahlung von +einigen Hundert Mark, „widrigenfalls wir die Sache +zu unserem Bedauern unserem Rechtsanwalt überweisen +müßten“. +</p> + +<p> +Mettens Herz war zum Überfließen voll von zärtlichem +Mitleid. +</p> + +<p> +„Armes, Liebes!“ dachte sie, „so quälen sie +dich!“ +</p> + +<p> +Sie hob das Blatt auf und war einen Augenblick +in Versuchung, es an die Lippen zu führen. +</p> + +<p> +Dann fing sie an zu rechnen. Die paar Mark Ersparnisse, +die sie von ihrem Taschengeld machen konnte +– nein, das langte nicht. Sie hatte zu sehr verschwendet, +namentlich mit den Blumen. – Aber hatte +sie sonst nichts? Sie ließ wie suchend die Blicke durch +den Raum gleiten. Bücher? Nein, die gab sie nur +im letzten Notfall her. Aber Schmuck. Den ganzen +Kram, aus dem sie sich so absolut nichts machte. Es +würde niemand danach fragen, wo Armbänder und +Ringe, Halskettchen und Vorstecknadeln geblieben +waren. Sie trug ja doch dergleichen Dinge nie. +Schlimmstenfalls konnte man vorgeben, etwas verloren +zu haben. Oder man konnte am ersten, wenn +es Taschengeld gab, diese oder jene Kleinigkeit wieder +einlösen. +</p> + +<p> +Der ganze Inhalt der Schmucktruhe wurde in +<a id="page-132" class="pagenum" title="132"></a> +Seidenpapier gewickelt und in die Tiefe der Manteltaschen +versenkt. +</p> + +<p> +Der Gang zum Leihamt war leicht. Mette entsann +sich fast mit Vergnügen, daß sie bei einem solchen +Unternehmen nicht ohne Übung war. +</p> + +<p> +Schlimmer war es, Geld und Rechnung in das +Modeatelier zu bringen. Mette hatte dabei ein Gefühl, +als ob sie einen schweren Betrug verüben sollte. Die +Schmucksachen zu versetzen, die ihr geschenkt waren, +dazu hatte sie ein gutes Recht. Aber für Olga Radó +zu handeln, in Olga Radós Namen etwas zu tun, das +schien ihr ein unerhörtes Wagnis. Und es war so +schwer, den richtigen Ton zu treffen. Schulden zu +haben, war nach allem, was Mette je gelernt und +erfahren hatte, etwas sehr Entwürdigendes und +beinah Schmutziges. +</p> + +<p> +Wenn man also kam, um Schulden zu bezahlen, +endlich, nach langem Mahnen, so mußte man ganz +demütig kommen und um Verzeihung bitten. Anders, +wenn man von Olga Radó kam. Dann konnte man +nur mit der Miene eines fürstlichen Abgesandten auftreten +und mit hoheitsvoller Überlegenheit den vergessenen +Bettel erledigen. +</p> + +<p> +Mette zog ihr bestes Kleid an und machte ihr hochmütigstes +Gesicht. Es ging viel besser als sie erwartet +hatte. Die Leute behandelten sie wirklich wie einen +<a id="page-133" class="pagenum" title="133"></a> +fürstlichen Abgesandten – sie war sehr stolz darauf, +doppelt stolz, weil sie annahm, daß diese fast unterwürfige +Liebenswürdigkeit Olga Radó galt. +</p> + +<p> +Ja, das war alles ganz leicht. Aber nun trug sie +die quittierte Rechnung in der Tasche und hätte nicht +um alles in der Welt den Mut gefunden, sie Olga +zurückzugeben. Sie beruhigte sich damit, daß es ja +auch wohl kaum nötig wäre. Die Leute würden nun +nicht mehr mahnen, und Olga würde die ganze Angelegenheit +vergessen. +</p> + +<p> +Nach acht Tagen triumphierte Mette schon heimlich +und hielt jede Gefahr für glücklich vorübergegangen. +Da wurde sie eines Tages von Olga mit eiskaltem +Gesicht empfangen. +</p> + +<p> +„Was fällt dir eigentlich ein?!“ sagte Olga statt +jeder Begrüßung, „wie <em>kommst</em> du eigentlich dazu, +mir so etwas zu machen.“ +</p> + +<p> +„Ich?“ sagte Mette und bemühte sich, ein harmloses +Gesicht zu machen, „was hab’ ich denn gemacht?“ +</p> + +<p> +„Du weißt ganz genau, was du gemacht hast!“ +sagte Olga streng. „Du hast dich unverantwortlich +benommen. Unverantwortlich! Ich dulde es nicht, +daß sich jemand in meine Angelegenheiten mengt. +Und von dir dulde ich es am allerwenigsten. Siehst +du nicht ein, was für eine unerhörte Anmaßung in +deinem Benehmen liegt? Willst du mich unter Kuratel +<a id="page-134" class="pagenum" title="134"></a> +stellen? Oder willst du mich aushalten? Was denkst +du dir denn eigentlich?“ Sie ging mit großen +Schritten hin und her. Ihr Ton war immer hitziger +und heftiger geworden. Jetzt blieb sie plötzlich, an +den Schreibtisch gelehnt, stehen, kreuzte die Arme und +sagte ganz ruhig, nur mit einer leisen Bewegung des +Kopfes: +</p> + +<p> +„Wie bist du denn überhaupt zu der Rechnung gekommen?“ +</p> + +<p> +Mette schrak zusammen. Das war der Augenblick, +den sie gefürchtet hatte. Alles andere war vielleicht +Torheit, aber es war gutmütig, selbstlos gehandelt, +sie konnte es mit einem Schein des Rechtes verteidigen, +wenigstens vor sich selber. Aber auf diese Frage konnte +sie keine Entschuldigung hervorbringen. +</p> + +<p> +Jetzt war doch alles aus. Mit keiner Lüge konnte +sie sich mehr retten. Da beschloß sie in verzweifeltem +Trotz die Wahrheit zu sagen. Sie warf den Kopf zurück +und sah zu Olga auf, mit einem Gesicht, als +wollte sie sagen: ich habe den Tod verdient, aber ich +fürchte ihn nicht. +</p> + +<p> +„Ich habe sie gestohlen!“ sagte sie. „Von deinem +Schreibtisch.“ +</p> + +<p> +Olga blieb ganz ruhig. Sie zog nur ein wenig +die Brauen zusammen als müsse sie sich besinnen. „Sie +war gekommen, während du da warst, nicht wahr?“ +</p> + +<p> +<a id="page-135" class="pagenum" title="135"></a> +„Ja!“ +</p> + +<p> +„Aber ich habe sie doch nicht offen liegen lassen. Ich +weiß jetzt ganz genau – ich hatte sie irgendwo unter +die Bücher geschoben.“ +</p> + +<p> +„Ja,“ sagte Mette mit zusammengebissenen Zähnen, +„aber ich habe sie da vorgezogen.“ +</p> + +<p> +„Wann?“ fragte Olga in höchstem Erstaunen. +</p> + +<p> +„Während du am Telephon warst.“ +</p> + +<p> +Olga antwortete nichts. Sie senkte den Kopf und +sah schweigend auf den Boden. Mette sah, daß sie +mit festgeschlossenem Mund mit den Zähnen an der +Unterlippe nagte ... +</p> + +<p> +Das Schweigen war fürchterlicher als jedes harte +Wort. Mette kam sich unglaublich verworfen vor. +Und die Inquisition hatte noch kein Ende. Es kamen +noch schlimmere Fragen, ganz gewiß, noch viel schrecklichere. +</p> + +<p> +Nach einer Weile hob Olga den Kopf. „Du konntest +doch aber gar nicht wissen, was das war. Es konnte +doch gerade so gut ein ganz persönlicher Brief an mich +sein?!“ +</p> + +<p> +Mettes Stirn fing an zu brennen. „Jetzt müßte ich +lügen“ – dachte sie einen Moment – „sagen, ich habe +die Zahlen gesehen, oder den Firmenaufdruck.“ Aber +sie konnte nicht lügen. Sie hatte etwas so Verächtliches +getan, sie hatte kein Recht, sich Olgas Verzeihung +<a id="page-136" class="pagenum" title="136"></a> +durch eine Lüge zu erkaufen. Sie mußte eingestehen, +abbitten – büßen. +</p> + +<p> +„Das <em>dachte</em> ich ja!“ sagte sie mit fast heftiger +Entschlossenheit. Aber dabei konnte sie nicht in Olgas +Gesicht sehen. Sie sah an ihr vorüber aus dem Fenster. +Aber ohne hinzusehen, sah sie, daß Olga eine hastig +auffahrende und gleich wieder unterdrückte Bewegung +machte. +</p> + +<p> +„Das hast du dir gedacht?“ sagte sie. +</p> + +<p> +Metten schien es, als ob sie mühsam, mit gewaltsamer +Beherrschung so leise spräche, um nicht zu +schreien. +</p> + +<p> +„Aber ich bitte dich, du mußt doch irgendeinen +Grund gehabt haben. Ich kann doch nicht annehmen, +daß du aus einer ganz dienstmädchenhaften Neugier +in jedes fremden Menschen Briefen stöberst.“ +</p> + +<p> +„Nein,“ sagte Mette verstockt. „Ich hatte auch einen +Grund, natürlich hatte ich einen Grund. Aber ich +kann ihn nicht sagen.“ +</p> + +<p> +„Wenn du ihn nicht sagen kannst,“ sagte Olga mit +einem sanften Lächeln, „dann will ich dich auch nicht +danach fragen. Aber ob mit, ob ohne Grund – sag’ +mal – findest du es eigentlich schön?“ +</p> + +<p> +„Nein!“ gestand Mette ehrlich. +</p> + +<p> +„Nicht wahr?“ sagte Olga rasch. „Ich finde es auch +nicht schön.“ Und nach einer Pause fügte sie nachdenklich +<a id="page-137" class="pagenum" title="137"></a> +und fast schmerzlich hinzu: „Aber begreiflich. +Trotzdem – laß’ es. Mißtrauen ist etwas so Häßliches. +Wenn ich etwas geheim halten will, liebes +Kind, dann mach’ ich das so raffiniert, daß man mir +mit so törichten kleinen Streichen nicht dahinter +kommt!“ +</p> + +<p> +Es war in ihrem Ton eine so hohnvolle Überlegenheit, +daß Mette erschrak. Sie fühlte die Wahrheit +dieser Worte, sie fühlte, daß Olga wie mit Mauern +umgeben war, durch die sie – die dumme, kleine +Mette – niemals zum Kern ihres Wesens gelangen +konnte, auch wenn sie ihr nachspürte wie ein Verbrecher +und heimlich ihre Briefe las. +</p> + +<p> +Es schien, als ob Olga Mettens wortloses Erschrecken +gefühlt hätte. +</p> + +<p> +Sie sagte plötzlich mit ihrer tiefen, warmen +Stimme: +</p> + +<p> +„Im übrigen verberge ich dir ja nichts. Nichts, was +dich interessiert. Ich schreibe keine Liebesbriefe und +kriege keine. Wenn’s dich aber einmal reizt, irgend +etwas in Erfahrung zu bringen – frag’ mich – es ist +der glätteste Weg.“ +</p> + +<p> +Der gute und herzliche Ton tat Metten unendlich +wohl, zehnfach wohl nach der Angst, die sie ausgestanden +hatte. Sie machte eine unwillkürliche Bewegung. +Ein heiß aufwallendes Gefühl trieb sie zu +<a id="page-138" class="pagenum" title="138"></a> +Olga hin, um ihr in Dankbarkeit die Hände zu küssen. +Olga sah oder fühlte diese Regung – sie wehrte sie +ab. Es war nur ein kaum merkliches Zucken, das um +ihre Brauen lief und das Metten zurückscheuchte und +an ihren Platz bannte. +</p> + +<p> +„Ich möchte Arabisch lernen,“ sagte Olga rasch, beinah +hastig, mit einem gewaltsamen Sprung der Gedanken. +„Ich habe mir neulich die Schriftzeichen erklären +lassen. Die Schrift ist wie die Erfindung +eines klugen und unendlich sympathischen Mannes. +Alles logisch, einfach und dabei von ästhetischem +Reiz.“ +</p> + +<p> +„Olga!“ sagte Mette. „Wie kommst du <em>darauf</em>?! +Wozu soll man Arabisch lernen, was man nie im +Leben braucht?!“ +</p> + +<p> +„Brauchen?“ fragte Olga. „Lernt man Sprachen, +um sie zu brauchen? Glaubst du, daß mir jemand imponiert, +der in zweiundzwanzig Sprachen ein Zimmer +mit zwei Betten bestellen kann? Das kann man doch +auch praktischer mit <span class="antiqua">alba duo</span> abmachen. Wenn ich +Sprachen lerne, so ist das ein rein psychologisches +Interesse. Wie ein Satz sich aus Zeichen aufbaut – +darin spiegelt sich die Seele eines ganzen Volkes. +Ähnlichkeit der Sprache, das macht Verwandtschaft, +das <em>ist</em> Verwandtschaft – aber nicht, ob der Haardurchschnitt +dreikantig oder elliptisch ist“ – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +<a id="page-139" class="pagenum" title="139"></a> +Erst als Mette sich den Hut aufsetzte, um zu gehen, +sagte Olga plötzlich: +</p> + +</div> + +<p> +„Willst du mir einen Gefallen tun, Mette?“ +</p> + +<p> +„Jeden!“ sagte Mette mit Überzeugung. +</p> + +<p> +„Aber es ist keine leichte Aufgabe – ich“ ... +</p> + +<p> +„Desto besser!“ +</p> + +<p> +„Nein, nein, keine romantische Heldentat. Etwas +ganz kleinlich Unangenehmes!“ Sie nagte die Lippen +und zögerte. „Ich würde es gern anders machen, aber +ich weiß wirklich nicht wie. Du sollst etwas tun, was +du sicher in deinem ganzen Leben noch nicht getan hast. +Du sollst für mich etwas aufs Leihamt tragen.“ +</p> + +<p> +Mette lachte hellauf. „Da unterschätzt du mich bedeutend. +Das Leihhaus ist eine meiner vertrautesten +Kindheitserinnerungen!“ +</p> + +<p> +„Aber Mette!“ +</p> + +<p> +„Das ist eine lange Geschichte. Das muß ich dir +mal erzählen. Aber sag, was du jetzt wolltest!“ +</p> + +<p> +„Du sollst das da für mich zum Pfandleiher tragen!“ +</p> + +<p> +Olga nahm mit einer raschen Bewegung das Zigarettenetui +vom Schreibtisch und reichte es hinüber. +</p> + +<p> +Mette hielt es erschrocken in beiden Händen. +</p> + +<p> +„Olga, das kannst du nicht tun!“ +</p> + +<p> +Olga sah aus dem Fenster. „Laß das, bitte!“ sagte +sie hart, ohne den Kopf zu wenden. „Ich weiß allein, +was ich tun kann, und was ich tun muß!“ +</p> + +<p> +<a id="page-140" class="pagenum" title="140"></a> +Mette schwieg. Auf diesen Ton gab es keine Widerrede. +Aber sie war nicht überzeugt. – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Mette sah immer noch die zärtliche Geste, mit der +Olga das Etui an die Wange gepreßt hatte. Und dann +sah sie die behaarte Hand des Pfandleihers mit den +platten, schwarzgeränderten Nägeln. Nein, in diese +Hände durfte sie den Skorpion nicht legen. +</p> + +</div> + +<p> +Sie trug das Etui zum Goldarbeiter und ließ es +schätzen. +</p> + +<p> +Sie hatte nicht so viel Geld in ihrem Besitz, um +den frommen Betrug, den sie vorhatte, ausführen zu +können. +</p> + +<p> +Aber sie wußte sich zu helfen. Sie war nicht umsonst +Friedel Eggebrechts Schülerin gewesen. Sie +wußte so gut, wie man an das Silberzeug herankonnte, +und in welchem Kasten das wertvollste +war. +</p> + +<p> +Während Mette heimlich an das Büfett ging, dachte +sie ein Dutzend Jahre zurück und lächelte. Es war +nicht mehr so aufregend wie damals. Obgleich, wenn +Tante Emilie es entdeckte, würde es genau dieselben +Unannehmlichkeiten geben. Sie war fähig, wieder +einen Psychiater zu rufen. Was war es doch im +Grunde für eine lächerliche Komödie! In einem Jahr +<a id="page-141" class="pagenum" title="141"></a> +war sie mündig und durfte über ihr großmütterliches +Erbe frei verfügen, und heute mußte sie, um sich ein +paar hundert Mark zu verschaffen, in ihres Vaters +Hause stehlen gehen! – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +„Willst du so gut sein und mir den Schein geben?“ +fragte Olga das nächste Mal. +</p> + +</div> + +<p> +„Den Schein?!“ Mette wurde ein wenig verlegen +und kramte in ihrer Tasche. „Ja, sofort! Wo habe +ich ihn denn? Du brauchst keine Angst zu haben, +er ist da! Ich will dir nur erst das Geld aufzählen!“ +</p> + +<p> +„Das laß, bitte!“ sagte Olga bestimmt. „Das Geld +ist da, wo es hingehört. Keine Szenen, bitte. Ich +habe dir kein Recht gegeben, mich zu beleidigen.“ +</p> + +<p> +„Ich verstehe dich nicht,“ sagte Mette ratlos. „Was +soll denn das heißen?“ +</p> + +<p> +„Das soll heißen, daß ich mich bedeutend lieber an +eine Straßenecke setzen will und betteln, als daß ich +dir Geld schuldig sein will. Ich hab’ auch nur deswegen +dich zum Leihamt geschickt, damit du das Geld +gleich in Händen hast. Sonst hätt’ ich dir’s aufdrängen +müssen, und ich hasse solche Szenen. Und +jetzt genug davon geredet, ich will kein Wort mehr +hören!“ +</p> + +<p> +„Aber ...“ +</p> + +<p> +„Kein Wort – hab’ ich gesagt. Im übrigen kannst +<a id="page-142" class="pagenum" title="142"></a> +du den Schein behalten. Du kannst es mir wieder +einlösen. Ich will lieber nicht sehen, in wessen Händen +es war. Ich werde dir gelegentlich das Geld geben –“ +sie lachte kurz auf. „Wann, mögen die Götter wissen! +Komm, wir wollen eine Partie Schach spielen. Ich +gebe dir einen Turm vor.“ – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Mette litt unter ihrer Unselbständigkeit. Sie spürte +eine Art Neid gegen alle Frauen, die sie arbeiten sah. +Nicht nur gegen die, die in der Öffentlichkeit standen, +Reichtümer erwarben, laute Anerkennung fanden – +sie hätte gern mit einer kleinen, blassen Lehrerin getauscht, +die jeden Morgen an ihrem Fenster vorüber +nach der Schule hastete. Oder mit ihrer Zahnärztin, +die nach ihrer eigenen Aussage jeden Abend müde zum +Umfallen war und die dabei doch immer brannte vor +Arbeitseifer und Arbeitsfreude. +</p> + +</div> + +<p> +Mette suchte ihren Vater in seinem Zimmer auf, +in der Absicht, eine recht ernsthafte Unterredung mit +ihm zu führen. Sie konnte nicht in Tante Emiliens +Gegenwart die Rede auf das bringen, was sie beschäftigte. +</p> + +<p> +Mette holte weit aus, um sich ihrem Vater verständlich +zu machen. +</p> + +<p> +„... siehst du, Papa, es ist doch heutzutage nicht +<a id="page-143" class="pagenum" title="143"></a> +mehr wie in deiner Jugend, daß die Mädchen aus +gutem Hause hübsch still zu sitzen hatten und weiter +nichts lernen durften, als Kochen, Plätten und Nähen. +Heutzutage ist es eigentlich für ein Mädchen ebenso +selbstverständlich wie für einen Jungen, daß er irgendeinen +Beruf, irgendein Studium ergreift. Und außerdem, +selbst, wenn ich Hausarbeit tun wollte. – Du +weißt ja selber, daß ich hier überflüssig bin. Tante +Emilie macht alles so musterhaft, nein, Papa, du +brauchst nicht aufzufahren, das soll keine Ironie sein, +sondern aufrichtige Anerkennung, auch kein Vorwurf; +denn ich dränge mich gar nicht danach, die Wirtschaft +selber zu besorgen. Nur – ich kann doch nicht mein +Leben lang zu Hause sitzen und die Hände in den +Schoß legen und warten, ob der Freiersmann kommt. +Es würde mir so Freude machen, irgendeine wirkliche +Arbeit zu verrichten.“ +</p> + +<p> +„Arbeit,“ sagte Franz Rudloff zögernd, „über den +Begriff ‚Arbeit‘ gehen die Ansichten sehr weit auseinander. +Die meisten Menschen pflegen nur das für +Arbeit zu erklären, was ihnen unangenehm ist. Ein +schwächlicher Mensch wird Steine tragen für eine Arbeit +erklären und ein hartschädeliger: Vokabeln lernen. Es +gibt Leute, die das, was ich treibe, für Arbeit erklären. +Ich nenne es einen fortgesetzten, intensiven +Genuß. Was verstehst du nun unter Arbeit?“ +</p> + +<p> +<a id="page-144" class="pagenum" title="144"></a> +„Etwas, das bezahlt wird, Papa!“ sagte Mette +ernsthaft. „Ich möchte gern Geld verdienen.“ +</p> + +<p> +„Geld!“ Franz Rudloff verzog leise das Gesicht wie +in Schmerz und Ekel. „Merkwürdig! Wie kommt +meine Tochter zu der Sehnsucht nach Geld?! Es schafft +ungesunde Zustände, wenn durch Generationen Kapital +auf Kapital aufgehäuft wird. Wer kein Geld hat, soll +welches zu erwerben trachten, und wer es hat, soll +es ausgeben. – Du hast doch nicht nötig, Geld zu +verdienen. Versteh’ mich nicht falsch. Ich fände es +nicht im mindesten unehrenhaft oder nicht standesgemäß, +wenn meine Tochter gegen Bezahlung +arbeitete, ich würde dir das gern zugestehen – wenn +du es müßtest. Aber das Reizvollste, was das Leben +bietet, sind doch nun einmal die brotlosen Künste. Wer +soll sich ihnen widmen, wenn nicht der, der auskömmlich +zu leben hat? Sollen sie alle vernachlässigt werden, +weil auch der Wohlhabende kein anderes Streben hat, +als Geld zu verdienen?“ +</p> + +<p> +„Du hast vollkommen recht, Papa,“ sagte Mette +gequält. „Aber es ist für einen erwachsenen Menschen +schrecklich, wenn er um jeden Pfennig bitten muß. +Wenn ich ein Paar Handschuhe brauche, dann geht +Tante Emilie mit mir und kauft sie. Und wenn ich +graue haben möchte, nimmt sie braune. Und wenn +ich welche für sechs Mark fünfzig haben möchte, nimmt +<a id="page-145" class="pagenum" title="145"></a> +sie welche für sechs Mark fünfundzwanzig. Und ich +darf nichts sagen, weil ich ja tatsächlich nicht imstande +bin, mir fünfundzwanzig Pfennige zu verdienen. Das +ist doch ein schrecklich beschämendes Gefühl.“ +</p> + +<p> +„Aber du hast doch Geld,“ sagte Rudloff eigensinnig. +„Wozu willst du etwas verdienen?“ +</p> + +<p> +„Ich habe es <em>nicht</em>,“ sagte Mette ungeduldig. +„Ich höre immer, daß ich reich bin und habe <span class="antiqua">de facto</span> +nicht einen Pfennig zur Verfügung.“ +</p> + +<p> +„Sei doch froh,“ beharrte Rudloff. „Danke doch +Gott, wenn alle deine Bedürfnisse befriedigt werden, +ohne daß das Geld durch deine Finger geht. Deine +Mutter hat sich immer geweigert, Geld anzufassen. +Aber wenn du gern –“ er räusperte sich verlegen – +„wenn du gern etwas nach deinem Geschmack auswählen +möchtest, so verstehe ich das ja vollkommen.“ +(Das verstand er wirklich.) „Du kannst ja dann in +Geschäfte gehen, wo man mich kennt und kannst die +Rechnungen ins Haus schicken lassen. Solange sich +das in vernünftigen Grenzen hält, wird ja kein +Mensch etwas dagegen haben.“ +</p> + +<p> +„Und was soll ich mit meiner freien Zeit anfangen?“ +fragte Mette unüberzeugt. +</p> + +<p> +„Lernen, studieren! Nimm Unterricht in fremden +Sprachen! Höre Vorträge über Literatur und Kunstgeschichte! +Da bist du meiner Unterstützung immer +<a id="page-146" class="pagenum" title="146"></a> +sicher. Zu diesem Zweck kannst du auch meine Börse +in Anspruch nehmen, soviel es dir beliebt. Das weißt +du!“ – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Herbstlicher Regen prasselte auf das Blech der +Fenstersimse. +</p> + +</div> + +<p> +Olga hatte die Vorhänge zugezogen und zusammengesteckt. +In dem sanften Lichtkreis der buntverschleierten +Lampe schwebte und wallte der bläuliche +Nebel der Zigaretten. +</p> + +<p> +Olga lag auf dem Diwan, bäuchlings, die Ellbogen +in einen Berg zerdrückter Seidenkissen gestützt. Im +Sessel kauerte Mette mit hochgezogenen Füßen, und +auf dem Schreibtischstuhl hockte Peterchen. +</p> + +<p> +„Ja,“ sagte Mette trübselig. „Ich hatte so schöne +Pläne und nun wird wieder nichts daraus. Ich +wollte so gerne irgendeinen Beruf ergreifen und Geld +verdienen. Aber mein Vater sagt, ich hätte genug.“ +</p> + +<p> +„Sei doch froh,“ sagte Olga. „Es gibt nichts Angenehmeres, +als Geld zu haben und es auszugeben. +Und nichts Widerlicheres, als es zu brauchen und +nicht zu haben.“ +</p> + +<p> +„Ich hab’ es doch aber nicht!“ widersprach Mette. +„Das ist’s ja eben! In der Theorie hab’ ich es! In +der Praxis brauch’ ich es und hab’ es nicht!“ +</p> + +<p> +<a id="page-147" class="pagenum" title="147"></a> +„Du brauchst es!“ sagte Olga entrüstet. „Lächerlich! +Wozu denn? Um mir Orchideen mitzubringen. Wenn +ich Tante Emilie wäre, ich würde dir ja dein Taschengeld +entziehen. Wenn <em>ich</em> noch auf solche phantastische +Ideen käme. Geld zu verdienen, mein’ ich. Geld +verdienen zu wollen, wenn wir uns korrekt ausdrücken +wollen.“ +</p> + +<p> +„Du hättest es sicher leicht!“ sagte Peterchen. „Du +mit deinen eminenten Begabungen!“ +</p> + +<p> +„Ja,“ sagte Olga ironisch. „Es fehlen mir bloß die +Leute, die meine Begabung anerkennen. Ich könnte +mich bei einem großen Modeatelier engagieren lassen +und sagen: ‚Bitte, macht das so und macht das so!‘ +Aber man darf mich nicht zwingen, jemals eine Nadel +anzurühren. Ich könnte auch zu einem Bildhauer +oder Maler gehen und ihm sagen, wie er’s machen +müßte. Oder ich könnte Theaterkritiker werden.“ +</p> + +<p> +„Du könntest schreiben,“ sagte Peterchen. „Du hast +sicher Talent dafür.“ +</p> + +<p> +„Weißt du, was ich schreiben möchte?“ Olga fuhr +mit einem Ruck in die Höhe, „die Geschichte der Fürstin +von Massa, die das Volk liebte; denn ich glaube nicht, +daß sie aus feiger Angst den Fürsten bewog ... Kennst +du sie? Es ist eine grauenhafte und wundervolle Geschichte: +</p> + +<p> +Masaniello war tot. Aber der Aufstand in Neapel +<a id="page-148" class="pagenum" title="148"></a> +tobte weiter. Von Madrid aus schickte man den Don +Juan d’Austria mit einer Flotte ab. Das Volk war +führerlos, ein Ungeheuer ohne Kopf. Die Massen +brauchten einen Führer, sie schrien nach ihm – sie +zogen vor den Palast des Fürsten von Massa und +riefen nach ihm. +</p> + +<p> +Francesco Toraldo, der Fürst von Massa, war ein +kühner und gerader und gerechter Mann. Er war +sicher dem König und der Regierung ergeben; denn +als die Unruhen anfingen, hatte er die Truppen des +Vizekönigs angeführt, hatte Castelnuovo und Castel +Sant Elmo verteidigt. Er liebte das Volk nicht. Aber +er liebte seine schöne Frau. Und die Fürstin liebte +das Volk. Sie bat ihren Gatten – ihren Gatten, +den sie anbetete – die Führerschaft der Massen zu +übernehmen. +</p> + +<p> +Sie liebte das Volk. Und sie fühlte sich von dem +Volke geliebt. Wenn sie durch die Straßen fuhr, +drängten sich die jauchzenden Kinder um ihren Wagen, +und die Frauen hoben ihr die Säuglinge entgegen, +und die Männer neigten sich tief und sahen ihr +lächelnd nach. +</p> + +<p> +Aber sie liebte auch die Fürsten und Edlen – sie +liebte Giuseppe Carafa, den sie ermordet hatten, und +Diomede Carafa, der geflohen war, und dessen herrlicher +Palast eine wüste Trümmerstätte war. Sie +<a id="page-149" class="pagenum" title="149"></a> +liebte alles und alle, glaube ich – weil sie Francesco +Toraldo liebte, und weil sie glücklich war. +</p> + +<p> +Sie glaubte so unerschütterlich an Gott und an das +Gute im Menschen. Sie hatte so unendliches Mitleid +mit dem armen Volk, das von Gaunern und +Wahnsinnigen in die Irre geführt wurde – sie hatte +so felsenfestes Vertrauen auf die starken Hände Francescos, +die die Zügel aufnehmen sollten, die am +Boden schleiften, so felsenfestes Vertrauen, daß +keinem, keinem mehr ein Unrecht geschehen könne, +wenn nur Toraldo hinausträte unter die aufjauchzenden +Massen und sagte: +</p> + +<p> +‚Folget mir nach!‘ +</p> + +<p> +Francesco Toraldo übernimmt den Oberbefehl über +die Aufständischen. Gezwungen, gegen sein innerstes +Gefühl. Aber da er ihre Sache nun einmal zu seiner +eigenen gemacht hat, setzt er sich auch mit ganzer Kraft +für sie ein – wie es für seine gerade und ehrenhafte +Natur selbstverständlich ist. +</p> + +<p> +Irgendeinem Schlächterburschen, der lieber morden +will als Krieg führen, lieber plündern, als für geringen +Sold arbeiten, ist Toraldo im Wege. Er beschuldigt +ihn des geheimen Einverständnisses mit Don +Juan und den königlichen Truppen. +</p> + +<p> +Der Pöbel, ohne ihm auch nur eine Stunde Zeit +zu lassen, daß er sich rechtfertigen könnte, schleppt den +<a id="page-150" class="pagenum" title="150"></a> +vergötterten Führer auf den Fischmarkt, schlägt ihm +auf einer Steinbank den Kopf ab, reißt ihm das Herz +aus dem Leibe und trägt es auf silberner Schüssel nach +dem Kloster, wo die Fürstin von Massa Zuflucht genommen +hat. Die zitternden Nonnen verrammeln +die Türen. Die rasenden Horden häufen Stroh +und Holz um das Kloster und beginnen es anzuzünden. +</p> + +<p> +Da geht die schöne Fürstin von Massa durch die +jammernden Nonnen hindurch und läßt sich die Tore +aufriegeln und tritt hinaus und steht auf den Stufen +und nimmt aus den Händen der Mörder auf silberner +Schüssel das Herz des Francesco, noch dampfend von +der Wärme seines Lebens. +</p> + +<p> +Und keiner wagt, sie anzurühren. +</p> + +<p> +Aber den Körper des Francesco Toraldo hängen sie +an einen Galgen, und sein blutiges Haupt tragen sie +auf einer Pike durch die Straßen der Stadt. +</p> + +<p> +Nach zwei Tagen wissen sie es alle, daß er niemals +daran gedacht hat, sie zu verraten. +</p> + +<p> +Sie schneiden den Leichnam vom Galgen und +waschen ihn und salben ihn und hüllen ihn in kostbare +Seide. Mit schwarzen Floren bedecken sie die Trommeln, +mit schwarzen Floren umwinden sie die Kerzen, +sie schleifen die Fahnen und Standarten am Boden +hin. Weinend und Gebete murmelnd, folgt das ganze +<a id="page-151" class="pagenum" title="151"></a> +Volk von Neapel dem Sarge, und über der ganzen +Stadt hallen unablässig die klagenden Glocken.“ – +</p> + +<p> +Sie schwiegen alle drei. +</p> + +<p> +Nach einer ganzen Weile sagte Peterchen nachdenklich: +</p> + +<p> +„Weißt du, Olga, es wäre ein wundervoller Vorwurf +für eine Tragödie. Die Szene im Palast zwischen +dem Fürsten und der Fürstin, wenn die Menge +draußen nach ihm schreit, und sie ihn überredet ... +und die Szene mit den Nonnen ...“ +</p> + +<p> +„Schreib’ sie!“ sagte Olga kurz. +</p> + +<p> +„Nein, du sollst sie schreiben!“ wehrte sich Peterchen. +„Ich kann doch nicht!“ +</p> + +<p> +„Ich kann auch nicht,“ sagte Olga schwermütig, „ich +empfinde es als so stark, daß man kein Wort hinzuzusetzen +braucht. Solche Dinge sind immer am schönsten, +wie sie in jeder Chronik stehen. Ich bin nicht +für die Kunst geboren. Ich könnte mich auch nicht +hinsetzen und einen Wald abmalen, der nicht rauscht, +oder eine Wiese, die nicht duftet. Ich glaube, Künstler +sein, heißt: respektlos sein. Sich einbilden, daß man +es besser machen könnte als das Schicksal oder die +Natur oder die Geschichte. Wenn mir irgend etwas +begegnet, was nach der Meinung anderer Leute wert +wäre, beschrieben oder abgemalt oder sonst wie bearbeitet +zu werden – ich weiß nicht – ich habe weder +<a id="page-152" class="pagenum" title="152"></a> +den Mut noch das Verlangen, da hineinzupfuschen. +Es ist mir einfach zu schade dazu.“ – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +„Weißt du?“ sagte Olga das nächstemal, „ich hab’ +eine Idee! Meinst du nicht, Mette, ich könnte Sprachunterricht +geben? Jeden Tag fünf Stunden à 2 Mark +sind 10 Mark, davon müßte man doch eigentlich leben +können, wenn man sich sehr einrichtet.“ +</p> + +</div> + +<p> +„Eine reizende Idee!“ sagte Mette entrüstet. +„Erstens sehe ich dich von zehn Mark täglich leben, +und zweitens hab’ ich dann überhaupt gar nichts +mehr von dir!“ +</p> + +<p> +„Darüber kannst du dich allerdings beklagen!“ sagte +Olga lachend, „du bist ja auch nur jeden Tag, den +Gott werden läßt, von morgens bis mittags und von +nachmittags bis abends mit mir zusammen.“ +</p> + +<p> +„Wenn es dir zuviel ist,“ – Mette war ernstlich +etwas gekränkt – „dann brauchst du es ja nur zu +sagen.“ +</p> + +<p> +„Hab’ keine Angst,“ sagte Olga beruhigend, „ich +kann mich wehren. Wenn ich einen Menschen los +sein will, werd’ ich deutlich!“ +</p> + +<p> +„Gott sei Dank! Wenn ich mich darauf verlassen +kann. Aber jetzt habe ich wirklich eine Idee: wir +werden das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. +<a id="page-153" class="pagenum" title="153"></a> +Du kannst <em>mir</em> die fünf Stunden täglich Unterricht +in fremden Sprachen erteilen, und ich werde mir von +meinem Vater das Geld dafür geben lassen – auf +seinen eigensten Wunsch.“ – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Es ging nicht ganz so glatt, wie Mette es sich gedacht +hatte. Tante Emilie suchte die Sprachlehrer +selber aus – ein paar sehr würdevolle ältere Damen +– ein vierundsechzigjähriger Professor schien ihr schon +bedenklich, weil er unverheiratet war, und sie ging +selber mit Metten hin und meldete ihre Nichte an. +</p> + +</div> + +<p> +Dadurch hatte Mette nachher die peinliche Aufgabe, +den Unterricht wieder abzusagen. +</p> + +<p> +Wenigstens hatte sie es erreicht, daß der Vater ihr +das Stundengeld übergab und nicht – wie er wollte +– es per Postscheck zahlte oder durch die Bank überweisen +ließ. +</p> + +<p> +Olga nahm es sehr genau mit den Stunden. Sie +hielt sie mit gewissenhaftester Pünktlichkeit ein und +gab sich streng und pedantisch als Lehrerin. Mette +lernte mit Feuereifer, um ihre Ansprüche zu erfüllen. +</p> + +<p> +Soweit ging alles wie geplant, nur daß Olga nicht +daran dachte, sich einzurichten und von dem Stundengeld +zu leben. +</p> + +<p> +Es kamen so wundervolle, durchsonnte Oktobertage. +<a id="page-154" class="pagenum" title="154"></a> +Und es machte so unbändiges Vergnügen, im +offenen Auto durch den flammenden Wald zu jagen, +nach Wannsee oder die Heerstraße hinunter, irgendwo +an die breite blaue Havel. +</p> + +<p> +Natürlich sahen sie ein, daß sie sich das eigentlich +nicht leisten durften, das heißt, Olga sah es ein, und +wenn sie wieder Waldsehnsucht hatten, fuhren sie mit +dem Vorortzug dritter Klasse, um zu sparen, und +ließen sich in der denkbar schlechtesten Luft geduldig +schieben und drücken. +</p> + +<p> +Aber am anderen Tag hatten sie einen unbezwinglichen +Hunger nach Musik, und in der Oper gab es +„Tristan“ und natürlich nur noch die teuersten Plätze. +Auf solche Weise ließen sich nicht gut Ersparnisse +machen. – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Sie fuhren am frühen Nachmittag nach Wannsee. +Weil es ja eigentlich „Stunde“ sein sollte, sprachen +sie in der Bahn Italienisch miteinander, im gedämpften +Ton. – Es war vielleicht deswegen, daß +der Herr in dem braunen Überzieher ihnen gegenüber +immer über den Rand seiner Zeitung schielte und sich +augenscheinlich bemühte, ein Wort von ihrer Unterhaltung +aufzufangen. +</p> + +</div> + +<p> +Metten machte das Spaß. Sie empfand einen +geradezu kindischen Stolz, wenn sie bemerkte – was +oft geschah – daß Olga beobachtet wurde. Sie +<a id="page-155" class="pagenum" title="155"></a> +nahm es keinem Menschen übel, wenn er ihre schöne +Freundin in der ungezogensten Weise anstarrte. Sie +hätte manchmal direkt sagen mögen: „Ja, seht sie euch +nur an! Ist sie nicht schön? Und das darf ich alle +Tage sehen, alle Tage!“ +</p> + +<p> +Und dann betrachtete sie sie wieder, als sähe sie sie +zum erstenmal, und die reinen edlen Linien ihres +Profils, die lässig-anmutigen Bewegungen ihrer +königlichen und doch geschmeidigen Gestalt, der bezaubernde +Klang ihrer tiefen Stimme – alles erfüllte +sie immer wieder mit einem Entzücken, das an Andacht +und Rührung grenzte. – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Sie bummelten durch die Straßen, bewunderten die +Gärten in ihren wunderbar leuchtenden Herbstfarben +und suchten sich eine Villa aus. Das taten sie oft auf +ihren Spaziergängen. +</p> + +</div> + +<p> +Und wenn sie ein Haus gefunden hatten, das ihnen +gefiel – aber auch der Garten mußte danach sein, und +die Garage und die Spitzengardinen an den Fenstern +– dann konnte es Olga plötzlich einfallen zu sagen, +daß sie eigentlich noch eine Abendgesellschaft größeren +Stils geben müßten – vor ihrer Abreise nach Kairo – +und Mette sollte doch mit Schmidt telephonieren, der +Blumen wegen, und dann kam eine lange Beratung, +in welcher Farbe sie diesmal den Tafelschmuck nehmen +sollten. – Und sie einigten sich auf blaßlila Treibhausflieder +<a id="page-156" class="pagenum" title="156"></a> +und Orchideen und was es sonst noch in +der Farbe gab. Aber dann konnten sie nicht das +Sèvres-Porzellan nehmen; denn das Kobaltblau vertrug +sich nicht mit hellila – und ob sie das Essen bestellen +oder alles im Hause machen ließen? Ob sie sich +vom Grafen Oriola seinen französischen Koch ausleihen +sollen? Dann wurde die Speisenfolge beraten +und die Weine dazu. Aber das hübscheste war immer +die Liste der Gäste aufzusetzen und Tischordnung zu +machen. +</p> + +<p> +Gerhart Hauptmann sollte Julia Culp zu Tisch +führen. +</p> + +<p> +„Nein, er muß <em>dich</em> doch führen,“ bestimmte Mette. +„Du bist doch die Hausfrau!“ +</p> + +<p> +„Ich?“ sagte Olga. „Nein, das bist du doch!“ +</p> + +<p> +Sie standen vor einem breiten schmiedeeisernen +Portal und sahen in einen wunderschönen Garten. +</p> + +<p> +„Schade,“ sagte Olga mit einem bewundernden +Blick auf die breite Terrasse, „es ist schon zu spät, um +im Freien decken zu lassen. Aber nächstes Jahr müssen +wir in einer Juninacht ein Gartenfest geben – hier +auf der Terrasse essen – und plötzlich erscheinen auf +dem Wasser lauter kleine Barken, ganz, ganz voll +Rosen, jede mit einer bunten Lampe, und alle Gäste +steigen in die Boote, immer zwei, und fahren hinaus, +wohin sie wollen, auf das weite, dunkle Wasser ...“ +</p> + +<p> +<a id="page-157" class="pagenum" title="157"></a> +„Und mit wem möchtest du mir davonfahren?“ +fragte Mette mißtrauisch. +</p> + +<p> +Olga stampfte mit dem Fuß auf. „So seid ihr +nun!“ sagte sie mit Empörung flammenden Augen. +„Willst du dir jetzt vielleicht den Tag verderben, weil +ich dir davonfahren könnte, wenn wir in dieser Villa +ein Gartenfest geben. Wenn man sich schon etwas +Unsinniges ausdenkt, dann muß es doch wenigstens +etwas Schönes sein.“ +</p> + +<p> +Ein Herr in braunem Überzieher streifte sehr dicht +an ihnen vorüber und sah sich in einiger Entfernung +mit einer merkwürdig vorsichtigen Geste nach ihnen um. +</p> + +<p> +„Das war der Mann aus der Bahn,“ sagte Mette. +„Der hält dich für eine schöne Römerin und möchte für +sein Leben gern mit dir anbandeln. Ich glaube, ich +werde diskret sein und mich zurückziehen.“ +</p> + +<p> +Olga fuhr bei Mettes ersten Worten zusammen. +</p> + +<p> +„Wir wollen umkehren!“ sagte sie hastig. „Trinken +wir oben bei Schultheiß Kaffee. Der geht jetzt sicher +nach dem schwedischen Pavillon, und ich habe keine +Lust, ihm nachzulaufen.“ +</p> + +<p> +Mette lachte hell auf. „Meinetwegen kannst du! +So hab’ ich mir den nicht vorgestellt, mit dem du mir +davongehst! Einen so perversen Geschmack hätt’ ich dir +nicht zugetraut! Aber da du so vor ihm fliehst, scheint +es gefährlich.“ +</p> + +<p> +<a id="page-158" class="pagenum" title="158"></a> +Olga antwortete mit keinem Wort, mit keinem +Lächeln auf Mettens Neckereien. Sie preßte die +Lippen aufeinander, zog die Brauen zusammen und +ging so rasch, ein wenig vornüber geneigt, den Kopf +gesenkt, die Schultern hochgezogen, als liefe sie vor +einer unsichtbaren Peitsche. +</p> + +<p> +Sie saßen oben beim Schultheiß und tranken ihren +Kaffee. Aber Olgas gute Laune schien verflogen. Sie +saß da, beide Hände in den Jackentaschen vergraben, +als ob sie fröre und war zerstreut und einsilbig. +</p> + +<p> +Sie hatte sich eben mit einem: „Du entschuldigst, +ich <em>muß</em> rauchen“, eine Zigarette angezündet, als +Mette den Herrn im braunen Überzieher in den Garten +treten sah. Er stand einen Augenblick still, ließ einen +prüfenden Blick über alle Tische gleiten, ging dann in +entgegengesetzter Richtung, um nach einem weiten +Bogen plötzlich wieder in ihrer Nähe aufzutauchen +und, zwei, drei Tische von ihnen entfernt, Platz zu +nehmen. +</p> + +<p> +Metten erschien das sehr komisch. +</p> + +<p> +„Der Mann aus der Bahn!“ frohlockte sie laut. +„Jetzt ist es klar, Olga, du hast es ihm angetan.“ +</p> + +<p> +„Schweig’!“ sagte Olga hart. Und dann, als sie +Mettens bestürztes Gesicht sah – wie mühsam gebändigt, +mit schwergehendem Atem: „Er kann dich ja +hören, Kind!“ +</p> + +<p> +<a id="page-159" class="pagenum" title="159"></a> +Sie nahm die eben angerauchte Zigarette mit einer +zornigen Bewegung aus dem Mundwinkel, preßte die +Brandfläche gegen den Teller und drehte und drückte +so lange mit nervösen Fingern daran herum, bis der +Tabak aus dem zerrissenen Papier rieselte. +</p> + +<p> +Mette fühlte, daß irgend etwas vorging, was sie +nicht verstand. Eine dumpfe Beklommenheit schien +plötzlich in der Luft zu liegen, teilte sich ihr mit und +machte sie angstvoll und unsicher. +</p> + +<p> +Nach einer kleinen Weile stand Olga auf. Mette +griff nach ihrem Hut, der neben ihr auf dem +Stuhl lag. +</p> + +<p> +„Nein, laß!“ sagte Olga sehr bestimmt und lauter, +als es sonst ihre Art war. Sie haßte es, in öffentlichen +Lokalen, auf der Straße, in der Bahn so laut +zu sprechen, daß auch nur der nächste Nachbar sie verstehen +konnte. „Wir bleiben doch noch. Ich will nur +eben telephonieren. Ich bin gleich wieder da.“ +</p> + +<p> +Mette wartete geduldig. Olga kam nicht wieder. +</p> + +<p> +Schließlich fing sie an, sich zu ängstigen. Wenn ihr +schlecht geworden wäre? Sie sah sie schon irgendwo +hilflos, ohnmächtig liegen. +</p> + +<p> +Sie lief ins Haus. Am Telephon war sie nicht. +Wie sie sich suchend umsah, kam der Kellner, der sie +bedient hatte, hinter ihr her. Sie suche wohl die +andere Dame? Die hätte gezahlt und wäre gegangen +<a id="page-160" class="pagenum" title="160"></a> +– aber sie hätte einen Zettel am Büfett hinterlassen. +</p> + +<p> +Mette holte sich den Zettel. Ja, die Dame hätte +telephoniert und hätte nach dem nächsten Zug gefragt +und wäre sehr eilig fortgegangen. Sie hätte nur noch +dies hier aufgeschrieben. Der Kellner hätte es hinausbringen +wollen, aber sie hätte gesagt, es wäre +nicht nötig, die Dame würde es sich schon holen. +</p> + +<p> +Mette dankte und lächelte und tat, als ob das alles +die natürlichste Sache von der Welt wäre und wunderte +sich, wie gut sie ihre Angst und Aufregung beherrschen +konnte. +</p> + +<p> +Sie ging erst ein paar Schritte weiter, ehe sie die +verschlossene Hülle aufriß. Auf dem Bogen standen +nur wenige Worte. +</p> + +<p> +„Sei nicht bös, ich mußte fort. Wenn du kannst, +komm abends zu mir. Aber nicht direkt, fahr erst nach +Hause.“ +</p> + +<p> +Mette faltete das Blatt zusammen und schob es +mechanisch in die Tasche. Sie ging langsam und mit +schweren Füßen wieder durch den Garten und an +ihren Platz. +</p> + +<p> +Sie versuchte, sich von ihren Gedanken und Empfindungen +Rechenschaft zu geben. +</p> + +<p> +Sie wäre froh gewesen, wenn sie Olgas rätselvolles +Betragen als Laune, als Rücksichtslosigkeit hätte +<a id="page-161" class="pagenum" title="161"></a> +nehmen können und sich einfach darüber ärgern und +entrüsten. +</p> + +<p> +Aber sie fühlte, daß ein Mehr dahinter war. +Irgend etwas Dunkles, Drohendes, wovon sie nichts +wußte. Mit wem hatte Olga gesprochen? Wer hatte +sie so dringend fortgerufen? +</p> + +<p> +Für sie war Olga Radó das Leben, das wußte +Mette. Alles andere war eine dumpfe Qual oder +Vorfreude auf die Stunden, die sie mit ihr zusammen +sein durfte, oder Erinnerung an die Stunden, die sie +mit ihr verbracht hatte. +</p> + +<p> +Aber was war sie für Olga? +</p> + +<p> +Irgendein Nebenher, ein beiläufiger Zeitvertreib, +eine Episode eines reichen, bunten, starken Lebens, +eine gehorsame kleine Sklavin, ein Haustierchen, das +man verhätschelt, ein bequemes Etwas, das man +rufen und fortschicken kann, und das noch nicht einmal +fragen durfte, <em>warum</em> es gerufen oder fortgeschickt +wurde. Nichts wußte sie davon, nichts, was eigentlich +dieses Leben erfüllte, was ihm Inhalt gab, nichts +wußte sie von den Menschen, die für Olga Schicksal +waren, die <em>ihr</em> den Mut zum Leben gaben, den sie +von ihr empfing – nichts wußte sie von dem, der +sie jetzt fortgerufen hatte, dem sie folgte, ohne daran +zu denken, daß sie der armen kleinen Mette den Tag +zerstörte, auf den sie sich so gefreut. +</p> + +<p> +<a id="page-162" class="pagenum" title="162"></a> +Mette konnte sich nicht zum Heimweg entschließen. +Sie trug ihren Hut in der Hand und ging in tiefen und +traurigen Gedanken an den Ufern des Sees entlang. +</p> + +<p> +Erst die plötzlich einfallende Dämmerung weckte sie +auf und trieb sie nun in Hast dem Bahnhof zu. +</p> + +<p> +Im Moment, als sie im Begriff war, auf dem +Bahnsteig eine Wagentür des einfahrenden Zuges zu +öffnen, fühlte sie einen Blick, der sie zwang, sich umzuwenden. +</p> + +<p> +Sie sah in das völlig ausdruckslose Gesicht des +Mannes in dem braunen Überzieher. Er öffnete die +Tür zum Nebenabteil und stieg in den Zug. +</p> + +<p> +Mette erschrak tödlich und wußte nicht warum. +Dieser Mann lief nicht hinter ihr her, weil er Gefallen +an ihr fand. Das wußte sie deutlich. War es +Zufall? Was in aller Welt konnte es sonst für einen +Zweck haben? Plötzlich faßte sie ein unerklärliches +Grauen. Er hatte so ein merkwürdig leeres Gesicht +und einen starren und dabei doch scheuen Blick. Vielleicht +war es ein Irrsinniger. Einer, der irgendwo +entsprungen war. +</p> + +<p> +Am Bahnhof Zoo bemühte sie sich, unter der drängenden +Menschenmenge sich zu verstecken. Aber sie +fühlte den Fremden unentwegt hinter sich. Ihr schien +es, als klammerte sich seine Hand in der Manteltasche +um einen Revolver oder um ein Stilett. In jedem +<a id="page-163" class="pagenum" title="163"></a> +Augenblick konnte das blitzende Eisen oder die Kugel +sie in den Rücken treffen. Sie fühlte schon den +scharfen Schmerz zwischen den Schulterblättern und +preßte unwillkürlich die Rückenmuskeln zusammen. +</p> + +<p> +Während sie die dämmerigen Straßen hinunterjagte, +wagte sie nicht, sich umzusehen. Erst, als sie +das Haus aufschloß, spähte sie die Straße hinunter. +Er war natürlich nicht gefolgt. Es war alles eine +lächerliche Einbildung. +</p> + +<p> +Als sie innen im Treppenflur stand, warf sie noch +einen Blick durch die Glasscheibe der Tür. +</p> + +<p> +Auf der anderen Seite der Straße, das Haus von +oben bis unten aufmerksam betrachtend, ging der +Mann in dem braunen Überzieher. – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Die Tischunterhaltung quälte sich mühsam hin. +</p> + +</div> + +<p> +Als Mette mit Essen fertig war, sagte sie (sie hatte +es sich zur Gewohnheit gemacht, sich mit allen Sachen +ausdrücklich an ihren Vater zu wenden): +</p> + +<p> +„Du erlaubst doch, Papa, daß ich noch eine Stunde zu +meiner Freundin gehe? Ich bin um zehn wieder hier.“ +</p> + +<p> +Da geschah etwas Seltsames. Franz Rudloff legte +eine zur Faust geballte Hand auf den Tisch, richtete +den Oberkörper ein wenig aus seiner zusammengesunkenen +Haltung auf und sagte: +</p> + +<p> +<a id="page-164" class="pagenum" title="164"></a> +„Mette!“ ... so, als wenn er zu einer längeren +Rede ansetzen wollte. +</p> + +<p> +Da traf ihn ein Blick von Tante Emilie. Mette +fühlte diesen Blick die Luft durchschneiden und fing +ihn noch auf. Es war ein kurzer und scharfer Blick, +befehlend und fast erschrocken, ein Blick, der unzweideutig +hieß: „Schweig!“ +</p> + +<p> +Franz Rudloff fiel wieder in sich zusammen, schlug +die Augen nieder, rollte seinen silbernen Serviettenring +hin und her und sagte: +</p> + +<p> +„Gewiß, ... also ja ... wenn du meinst ... +schön!“ +</p> + +<p> +Mette fühlte, daß auch hier irgendwas vorging, +wovon sie nichts wußte. Das verursachte ihr weder +Angst noch Schmerz – aber ein peinvolles Unbehagen. +</p> + +<p> +Die Welt war heute fremd und rätselhaft. Sie +spürte plötzlich Moorboden unter den Füßen und +wußte nicht, wie sie die Schritte setzen sollte. Olga +hätte sie heute nicht verlassen dürfen, nicht heute, nicht +an diesem Tage. +</p> + +<p> +Eine heiße, schmerzhafte Sehnsucht quoll in ihr +auf, wie schon sooft, stark wie ein mühsam unterdrückter +Schrei: +</p> + +<p> +„Mutter!“ – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +<a id="page-165" class="pagenum" title="165"></a> +Unterwegs waren ihre Gedanken nur noch bei Olga. +Was da geschehen sein mochte? Ob sie das wenigstens +erfahren würde? Vielleicht war jemand krank? Verunglückt? +Jemand, der Olga nahestand. Vielleicht +konnte sie sich irgendwie betätigen, helfen. Sie fühlte +die Kraft, jede Anwandlung von Eifersucht zu unterdrücken, +sich selbst zu vergessen und hintanzusetzen, +wenn man sie nur teilnehmen ließ an dem, was geschah +und nicht alle Türen vor ihr zuschlug. Das +hatte sie nicht verdient, es gab so qualvolle Unrast – +jeder schneidende Schmerz war zehnmal besser als +dieses hilflose Im-Dunkeln-Tappen. +</p> + +</div> + +<p> +Während Mette die Stufen hinaufstieg, fühlte sie +sich irgendwie kampfgerüstet. Sie wollte es Olga +sagen, daß sie das nicht mehr ertrug. Ertrug? Nein, +daß sie es sich nicht mehr gefallen lassen wollte, daß +sie kein dummes Kind sei, das man ohne ein Wort +der Erklärung einfach sitzen lassen könne – daß alle +diese Dinge sie nervös machten – oh, so nervös! +Und daß ihr – bei Gott! – nächstens auch einmal +die Galle überlaufen werde! +</p> + +<p> +Olga hatte noch einen Schleier über die Lampe gehängt, +so daß eine matte, violette Dämmerung im +Zimmer war. Sie lag auf dem Diwan, bis an die +Schultern in ihre große Felldecke gewickelt. +</p> + +<p> +Als Mette sich zu ihr setzte, spürte sie, daß sie zitterte +<a id="page-166" class="pagenum" title="166"></a> +wie vor Frost. Da war all der Zorn und Trotz, +der noch in dem kalten „Guten Abend“ gelegen +hatte, verflogen. Sie legte die Hand auf ihre +Stirn: +</p> + +<p> +„Hast du Fieber?“ fragte sie besorgt. +</p> + +<p> +Olga schüttelte nur den Kopf. Es schien, als ob +ihr irgend etwas in der Kehle saß, was sie am +Sprechen hinderte. +</p> + +<p> +Dann machte sie plötzlich mit einer ungeduldigen +Bewegung beide Arme von der Decke frei und griff +nach Mettens Händen. +</p> + +<p> +„Du bist mir böse, Kind!“ sagte sie hastig, wie gejagt. +„Du hast ja auch allen Grund. Verachtest du +mich? Du kannst mich ruhig verachten. Ich bin ja +so feige, Mette, so erbärmlich feige! Ach, Kind, du +kannst alles von mir verlangen, ich will dich aus +einem brennenden Haus holen – dich?! Ach! Einen +Hund, ein Spielzeug, an dem dir liegt – ich will +durchgehende Pferde aufhalten, ich will – ach, ich +weiß nicht, was ich will – aber darin bin ich feige. +Ich kann es nicht noch einmal durchmachen in meinem +Leben, ich kann es nicht. Du weißt nicht, was ich +ausgestanden habe. Ich habe nächtelang dagesessen +mit dem geladenen Revolver und habe gesagt: Tu’s, +tu’s, damit nicht wieder so ein Tag kommt ... und +dann war das Leben wieder so wahnsinnig schön, und +<a id="page-167" class="pagenum" title="167"></a> +ich hab’s nicht getan. Dann bin ich stundenlang in +der Galerie herumgelaufen und habe vor allen Bildern +gestanden und gestarrt und nichts gesehen. Und +immer den Blick in meinem Rücken gefühlt. Dann bin +ich nach Mödling hinausgefahren, wie ich eingestiegen +bin, der Mann hinter mir, wie ich ausgestiegen +bin, der Mann hinter mir – ach, ich weiß, einmal +bin ich in meiner Verzweiflung in ein fremdes +Haus hineingelaufen, alle Treppen hinauf, und hab’ +immer gedacht, ich will klingeln und die Menschen +bitten, sie sollen mich um Gottes und aller Heiligen +willen eine Stunde in ihrer Wohnung behalten. Oder +ich wollte ihnen etwas erzählen von irgendwelchen +Leuten, die sie grüßen lassen – die mich hinschicken +– und dann dacht ich, sie halten mich sicher für +geisteskrank oder für eine Schwerverbrecherin und +lassen mich erst recht festnehmen. Und dann bin ich bis +auf den Boden gelaufen und bin da oben herumgeirrt +und habe geheult wie ein kleines Kind. Und wie ich +mich endlich hinuntergetraut habe, stand der Kerl +immer noch da und starrte auf die Haustür. O Mette, +in der Zeit hab’ ich immer die ganzen Nächte das Licht +brennen lassen, weil ich im Dunkeln überall das Gesicht +gesehen habe.“ +</p> + +<p> +Mette hielt Olgas eiskalte, unruhige Hände in +den ihren fest. +</p> + +<p> +<a id="page-168" class="pagenum" title="168"></a> +„Wessen Gesicht?“ fragte sie leise und verwirrt, als +Olga schwieg. „Ich verstehe dich nicht, Liebes.“ +</p> + +<p> +„Das ist gut, Kind!“ sagte Olga. „Das ist ja so +gut! Sonst hätt’ ich dich ja auch nicht allein gelassen. +Aber dir konnte ja nichts geschehen. Dir konnte ja +gar nichts geschehen! Bist du nach Hause gegangen? +Ja? Wann? Gleich? War er noch da? Hat er dich +nach Hause gehen sehen?“ +</p> + +<p> +Nun fiel Metten die Erinnerung an den Heimweg +wieder wie eine Last aufs Herz. Die Erinnerung an +den Heimweg, die Erinnerung an den verdorbenen Tag. +</p> + +<p> +Sie ließ Olgas Hände los. +</p> + +<p> +„Vielleicht darf ich auch mal fragen,“ sagte sie, +„ich bin doch schließlich kein kleines Kind, das einfach +alles hinnehmen muß und dem man sagen kann: das +verstehst du nicht. Ich hab’ es bis <em>dahin</em> satt, mich +ewig von Geheimnissen umgeben zu fühlen. <em>Was</em> +hätte mir geschehen sollen? Was hat es für eine Bewandtnis +mit diesem Mann? Kennst du ihn persönlich? +Aus Wien? Und woher? Ich meine, was hast +du für Beziehungen zu ihm?“ +</p> + +<p> +Mette wunderte sich selbst, woher sie die Kühnheit +hatte, in einem so strengen und schulmeisterlichen Ton +zu reden. +</p> + +<p> +„Unsinn!“ sagte Olga mit einem nervösen Lachen. +„Doch nicht <em>den</em>! Das ist doch nicht derselbe!“ +</p> + +<p> +<a id="page-169" class="pagenum" title="169"></a> +„Nicht derselbe?!“ sagte Mette beinah ärgerlich, +mit hochgezogenen Brauen. „Was heißt das wieder? +Wer nicht derselbe? Nicht derselbe was?“ +</p> + +<p> +„Laß mich doch in Ruh,“ sagte Olga böse, „ich laß +mich nicht inquirieren! Du kannst mir ja gleich +Daumenschrauben anlegen. Wenn du mich nicht mehr +leiden magst, dann geh! Ich halt’ dich nicht! Ich +halt’ keinen Menschen! Aber laß mich in Ruh!“ +</p> + +<p> +Sie sprach zornig, aber mit einer seltsam vibrierenden +Stimme und suchte unter dem Berg von Kissen +nach ihrem Taschentuch. +</p> + +<p> +Als sie es gefunden hatte, riß es ihr Mette mit einer +halb unwillkürlichen Bewegung aus den Fingern. +Der kleine weiße Ballen war fest zusammengedrückt +und ganz feucht. +</p> + +<p> +„Hast du geweint?“ fragte Mette in grenzenlosem +Erstaunen. +</p> + +<p> +„Darf ich das nicht?“ fragte Olga trotzig zurück, +und über ihr Gesicht, das von Blässe fahl schien, flog +wieder das dunkle Rot. +</p> + +<p> +„Nein, ich weiß, ich darf mir das nicht leisten. Ich +bin hysterisch. Ich bin überspannt. Es ist mir ja <em>so</em> +egal, wofür du mich hältst. Wenn mir danach zumute +ist, dann wein’ ich eben!“ +</p> + +<p> +Sie versuchte umsonst, die zitternden Lippen aufeinander +zu pressen. Aus den Augen, deren übergroße +<a id="page-170" class="pagenum" title="170"></a> +Pupille schwarz die ganze Iris überdeckte, stürzten die +Tränen und fluteten über die weißen Wangen. Sie +versuchte, den Kopf nach der Wand zu drehen. Aber +Mette hielt sie fest. Sie wußte selbst nicht, woher ihr +der Mut kam. +</p> + +<p> +Nie war Olga ihr gegenüber zärtlich gewesen. Nie +hatte Mette es gewagt, zärtlich zu sein. +</p> + +<p> +Aber als sie das schöne blasse Gesicht jetzt vor sich +sah, tränenüberströmt, zerwühlt von einem fremden +Schmerz, mit den großen, tiefen Augen, die schrien +von einer mühsam verborgenen Qual, da quoll das +heiße Mitleid in Mettens Herzen über, sie preßte die +Lippen auf diese nassen Wangen, die nassen Augen, +den armen zitternden Mund. +</p> + +<p> +„Nicht weinen, Süßes,“ bat sie leise, selbst mit den +Tränen kämpfend. „Nicht weinen, Liebes, ich frag’ +ja nicht mehr, ich will ja nichts wissen. Nur nicht +mehr traurig sein. Tu mir an, was du willst, aber +weine nicht so! Ich kann dich nicht weinen sehen. +Hör’ auf, Liebes, ich bitt’ dich, weine nicht mehr!“ +</p> + +<p> +Olga ließ sich zur Ruhe schmeicheln wie ein unglückliches +Kind. Sie schloß die zitternden Augenlider und +lächelte, während noch die Tropfen über ihr Gesicht +rollten. Sie legte den Kopf müde in die Kissen zurück. +Durch den ganzen schlanken Körper ging eine +Bewegung wie ein erlöstes Sichstrecken. +</p> + +<p> +<a id="page-171" class="pagenum" title="171"></a> +Sie nahm Mettens Hand und legte sie auf ihre heiße +Stirn. +</p> + +<p> +„Gutes!“ sagte sie leise und dankbar. „Mein +Gutes!“ +</p> + +<p> +Und dann immer noch mit geschlossenen Augen hob +sie Mettens willenlose Hand von der Stirn und legte +die Innenfläche der kühlen Finger auf ihren Mund. +Und hielt sie da mit beiden Händen fest, lange, lange. +</p> + +<p> +Und Mette saß ganz still und fühlte seltsam wehe +Lust und süße Traurigkeit und horchte, wie in einem +Traum befangen, auf das harte Pochen ihres Blutes. +– – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Die fremden und seltsamen Begebenheiten mehrten +sich. +</p> + +</div> + +<p> +Eines Tages tauchte plötzlich Onkel Jürgen in +Berlin auf. Mette hatte für Onkel Jürgen immer +eine besondere Vorliebe gehabt. Es war eigentlich der +einzige unter ihren Verwandten, der durch seine stattliche +und vornehme Erscheinung, seine betont männliche +Haltung und einen gewissen sachlichen Ernst ihr +gefiel, und ihr sogar Achtung abnötigte. +</p> + +<p> +Er begrüßte Mette auf eine merkwürdige Art, mit +einer gewollten Liebenswürdigkeit, die zu sagen schien: +ich tue ganz harmlos, du brauchst ja nicht gleich zu +<a id="page-172" class="pagenum" title="172"></a> +merken, weshalb ich hier bin, und was ich gegen dich +habe. +</p> + +<p> +In Mettens feinem Gefühl wurde sofort ein Mißtrauen +rege. +</p> + +<p> +Es steigerte sich, als sie das Knacken des Schlüssels +vernahm, nachdem die drei – Vater, Tante Emilie +und Onkel Jürgen – sich in das Studierzimmer zurückgezogen +hatten. +</p> + +<p> +Sie schlossen sich ein? Was hatte das zu bedeuten? +Galt das den Dienstboten oder galt das ihr? +</p> + +<p> +Sie hatte noch nie Interesse für die Verhandlungen +ihrer Familie gehabt. Aber das leise Geräusch des +Schließens hatte eine unbehagliche Neugier in ihr erweckt. +Sie streifte ein paarmal dicht an der Tür vorüber. +Aber sie hörte nur ein undeutliches Gemurmel. +Es war kein Zweifel, sie flüsterten darin. +</p> + +<p> +Mette sehnte sich danach, aus der bedrückenden und +unfreundlichen Luft des Hauses fortzukommen. +</p> + +<p> +Nach dem Essen – bei welchem nur Onkel Jürgen +sprach, und in lauten und wohlgesetzten Worten die +Schönheiten der kleinen Stadt und die Tugenden seiner +Kinder pries – wagte Mette endlich die Frage: +</p> + +<p> +„Ihr legt euch doch nach Tisch alle schlafen, nicht +wahr? Dann möchte ich vorm Kaffee noch eine Stunde +zu meiner Freundin gehen.“ +</p> + +<p> +Es entstand eine allgemeine Stille. Die drei sahen +<a id="page-173" class="pagenum" title="173"></a> +einander an, niemand sah Metten an, niemand antwortete. +</p> + +<p> +Vater sah mit einem unruhigen und fast hilfeflehenden +Blick von einem zum andern, Onkel Jürgen +trommelte auf den Tisch und sah erwartungsvoll aus, +Tante Emilie räusperte sich und verzog die Winkel des +zusammengekniffenen Mundes zu einer süßlichen +Grimasse, die ein freundliches Lächeln vorstellen sollte. +</p> + +<p> +Niemand sprach. Tante Emilie wollte sich nicht vordrängen. +Sie hielt mit der Antwort zurück und +wartete, ob nicht einer der beiden Herren das Wort +ergreifen wollte. Aber sie schwiegen und sahen nicht +aus, als ob sie gedächten, in der nächsten Minute die +peinliche Stille zu unterbrechen. +</p> + +<p> +Also war es an ihr, also durfte sie reden. Sie reckte +sich auf und legte das Gesicht in Falten, die inniges +Mitleid und eine ernste Besorgnis ausdrücken sollten. +Aber Metten schien es, als ob die kleinen scharfen Äuglein +funkelten, als ob der steif gestreckte magere Oberkörper +zitterte in einer bösen Freude. +</p> + +<p> +„Das wirst du wohl ausnahmsweise heute unterlassen +müssen, mein liebes Kind!“ sagte sie mit +sanftem Tonfall und messerscharfer Stimme. „Wir erwarten +Nachmittag einen Besuch, der dich aufs dringendste +angeht.“ +</p> + +<p> +„Mich?“ fragte Mette, und sah dabei ihren Vater an. +</p> + +<p> +<a id="page-174" class="pagenum" title="174"></a> +Aber Rudloff deckte die Augen mit den Lidern und +bemühte sich, ein nervöses Zucken seines Mundes zu +unterdrücken. Er antwortete nicht. +</p> + +<p> +„Ja, dich!“ sagte Tante Emilie so liebenswürdig, +als wollte sie ihr eine große Freude verkünden. +</p> + +<p> +Mette fühlte in diesem Moment, daß irgend etwas +Furchtbares sie bedrohte. Ihr war, als sähe sie sich +von einem engmaschigen Netz umgeben, das in der +nächsten Minute durch einen leisen Ruck von Tante +Emiliens knochigen Fingern über ihrem Kopf zusammengezogen +werden konnte. +</p> + +<p> +Sie hatte die Empfindung, als ob alle Türen verschlossen, +durch Wachen verstellt seien, und als ob +nichts sie mehr retten könne, als im selben Augenblick, +ohne Zögern, ohne Überlegung aus dem Fenster zu +springen – und, was die Lunge hergab – durch die +Straßen zu laufen, zu rasen, in wildester Flucht, zu +Olga. +</p> + +<p> +Sie wurde blaß und machte eine halbe Bewegung. +Es war nicht einmal eine halbe, es war nur der Ansatz, +es war nur der Wille zu einer Bewegung, der +durch ihre Muskeln lief. Onkel Jürgen mußte es +trotzdem bemerkt haben. +</p> + +<p> +„Na, Mette!“ sagte er in einem etwas gezwungen +gütigen und zuversichtlichen Ton, „nur ruhig +<a id="page-175" class="pagenum" title="175"></a> +Blut, mein Deern. Es will dir kein Mensch an den +Kragen. Du mußt nur Vertrauen zu uns haben und +mußt dir sagen, daß alles, was geschieht, ausschließlich +zu deinem Besten geschieht. Und mußt dich bemühen, +uns ein bißchen zu unterstützen in unseren +Bestrebungen, die nur auf dein Wohl gerichtet sind +und nicht etwa durch kindischen Trotz uns unsere Aufgabe +erschweren. Dann werden wir auch in gemeinsamer +Arbeit über diese Zeit wegkommen, und du +wirst uns später sehr dankbar sein, daß wir dich mit +liebevoller Gewalt auf den richtigen Weg geführt +haben. Und wirst an diese Zeit jetzt zurückdenken, wie +an einen schweren Traum, der gar keine Bedeutung +hat für dein späteres Leben.“ +</p> + +<p> +Diese feierliche Ansprache steigerte Mettens dumpfes +Unbehagen zu einem beinah irrsinnigen Angstgefühl. +Das alles war fremd und unverständlich. Sie wußte, +daß Tante Emilie jetzt nur auf eine Frage wartete, +um mit einem Wortschwall loszubrechen. Darum +fragte sie nicht: Was ist denn geschehen? Was wird +denn geschehen? +</p> + +<p> +„Aus dem Fenster! Aus dem Fenster!“ war das +einzige, was sie dachte. Und im Moment, als sie +draußen die Flurklingel schrillen hörte, zuckte sie zusammen +und wußte: „Jetzt ist es zu spät!“ +</p> + +<p> +Das Hausmädchen kam hereingeschlichen, als käme +<a id="page-176" class="pagenum" title="176"></a> +sie in ein Krankenzimmer und brachte Franz Rudloff +eine Karte. +</p> + +<p> +Seine Hand zitterte, als er sie von dem kleinen silbernen +Tablett nahm. Er mußte sich auf den Tisch +stützen, um aufzustehen. Sein Gesicht sah verzerrt und +verfallen aus. +</p> + +<p> +„Haben Sie den Herrn Professor in mein Zimmer +geführt? Ich komme!“ +</p> + +<p> +Er goß sich schnell noch einen Schluck Wasser in sein +Glas. Die hartgestärkte Manschette rasselte gegen die +Flasche. +</p> + +<p> +Er ging hinaus mit einem sichtlichen Bemühen, gerade +und aufrecht zu schreiten. +</p> + +<p> +Die drei blieben schweigend zurück. Mette hielt es +nicht aus, am Tisch sitzen zu bleiben. +</p> + +<p> +Als sie aufstand, machte Onkel Jürgen eine hastige +Bewegung, als wollte er sie zurückhalten. Aber sie +ging nicht nach der Tür, sie machte gar nicht mehr den +Versuch, zu entkommen. Sie ging an das Fenster und +sah durch den geschlossenen Spitzenvorhang hindurch +auf die Straße. +</p> + +<p> +Die eintönigen Rufe spielender Kinder drangen herauf. +Ein Geschäftswagen rollte heran, hielt vor dem +Haus drüben. Der Mitfahrer sprang herunter, schloß +auf, belud sich mit Paketen und schlug die Tür mit +scharfem Knall wieder zu. +</p> + +<p> +<a id="page-177" class="pagenum" title="177"></a> +Jede Bewegung, jedes Geräusch prägte sich mit ungewohnter +Deutlichkeit in Mettens Gehirn. Es ging +nichts in ihr vor, als die scharfe Beobachtung dieser +alltäglichen Dinge. +</p> + +<p> +Hinter ihrem Rücken tat die Tür sich auf. Sie hörte +des Vaters gedrückte und etwas heisere Stimme: +</p> + +<p> +„Emilie, willst du bitte so gut sein?“ +</p> + +<p> +Mette hörte das Stuhlrücken und das Rauschen der +Röcke, ohne sich umzudrehen. +</p> + +<p> +Die Tür schloß sich wieder. +</p> + +<p> +Jetzt war sie mit Onkel Jürgen allein. Jetzt hätte +sie ihn um irgendeine Erklärung fragen sollen. Er +war ja doch von diesen drei Menschen immer noch der +vernünftigste. Ach, aber trotzdem, es war zwecklos. +Er war ihr ja doch fremd, unendlich fremd. +</p> + +<p> +„Mutter!“ dachte sie, und etwas wie ein krampfhaftes +Schluchzen quoll in ihrem Halse auf. +</p> + +<p> +„Liebe, gute Mutter, warum hast du mich allein gelassen, +ganz allein auf der Welt?“ +</p> + +<p> +„Allein!?“ Ihr war, als hörte sie stark und deutlich +dies Wort von Olgas Stimme. Und sie sah die +ernsten Augen forschend und beinah drohend auf sich +gerichtet. +</p> + +<p> +Eine heiße Welle flutete über ihr Herz. Sie +krampfte die verschlungenen Hände ineinander und +lächelte, während ihr die Tränen in die Augen traten. +</p> + +<p> +<a id="page-178" class="pagenum" title="178"></a> +„Nein, ich bin nicht allein,“ dachte sie mit einem +so andächtigen Gefühl, als spräche sie ein Gebet, „ich +habe dich, Liebes, Schönes, Großes. <em>Dich</em> kann mir +das alte böse Weib nicht nehmen, dich nicht! Und +wenn sie mich foltern und mich in Stücke reißen – +mir kann nichts geschehen – ich hab’ ja dich!“ +</p> + +<p> +Eine große Ruhe und Zuversicht kam über sie. Ihr +war, als hätte sie einen schlimmen und gefährlichen +Weg vor sich. Sie mußte über Moorboden gehen +und durch Schmutz und Schlamm waten und reißende +Wasser durchschwimmen – aber drüben stand Olga +Radó und streckte beide Hände nach ihr und sagte: +„Komm!“ +</p> + +<p> +Und da wurde der Weg leicht und beinah lockend. +</p> + +<p> +Als jetzt die Tür ging und Vater erschien und zaghaft +sagte: +</p> + +<p> +„Mette, komm bitte einmal her!“ hatte sie fast ein +Gefühl von Freude. So wie einer, der gut gelernt +hat, sich aufs Examen freut oder ein Mutiger sich auf +den Kampf. +</p> + +<p> +Sie ging sehr gerade und fest durch das Zimmer +und lächelte ein überlegenes und fast höhnisches +Lächeln. +</p> + +<p> +Bei ihrem Eintritt erhob sich aus Vaters Studierstuhl +ein schmächtiger Mann mit scharfen Zügen und +durchdringenden Augen, in dessen wohlgepflegtem +<a id="page-179" class="pagenum" title="179"></a> +schwarzen Spitzbart sich einige frühe weiße Fäden +zeigten. +</p> + +<p> +Da niemand Miene machte, ihn vorzustellen, murmelte +er selbst mit leichter Verbeugung seinen Namen +und warf dann den anderen einen Blick zu, der einem +Befehl zu schleunigem Rückzug gleichkam. +</p> + +<p> +Rudloff atmete sichtlich auf, während Tante Emilie +zögerte und sich ungern trennte. Sie warf noch in der +Tür einen langen, neugierigen Blick zurück; aber der +Professor sprach kein Wort, machte keine Geste, ehe +sich nicht die Tür geschlossen hatte. +</p> + +<p> +Dann rückte er einen Sessel: +</p> + +<p> +„Wollen Sie bitte Platz nehmen.“ +</p> + +<p> +Mette setzte sich gehorsam. +</p> + +<p> +Der Mann ihr gegenüber beugte sich ein wenig vor +und sagte mit einer sanften und fast einschmeichelnden +Stimme: +</p> + +<p> +„Und nun sagen Sie mir erst mal, mein liebes +Kind, daß Sie Vertrauen zu mir haben wollen.“ +</p> + +<p> +Mette richtete sich steif auf. +</p> + +<p> +„Oh – durchaus nicht, Herr Professor!“ sagte sie +ruhig. +</p> + +<p> +Der Mann fuhr etwas zurück. +</p> + +<p> +„Was heißt das?“ fragte er befremdet. +</p> + +<p> +„Das heißt,“ sagte Mette kühl, während ihr das +<a id="page-180" class="pagenum" title="180"></a> +Herz zum Zerspringen klopfte, „daß meine Tante Sie +hergerufen hat, und daß ich allem mißtraue, was mir +von dieser Seite kommt. Wahrscheinlich hat sie die +Absicht, mich in ein Irrenhaus zu sperren, und Sie +sollen konstatieren, daß ich geistig defekt bin. Sie +hat mir so was Ähnliches schon einmal angestellt, als +ich noch ein kleines Kind war. Aber wenn Sie +Psychiater sind, so werden Sie wissen, daß das Gefühl, +auf den Geisteszustand beobachtet zu werden, in +den normalsten Menschen etwas Irrsinnähnliches auslösen +kann. Und Sie werden mir das in Anrechnung +bringen.“ +</p> + +<p> +Der Arzt lächelte – ein feines Lächeln. +</p> + +<p> +„Ich habe nicht die geringste Veranlassung, an +Ihren außerordentlichen geistigen Fähigkeiten zu +zweifeln – im Gegenteil – kein Mensch zweifelt +daran. Und kein Mensch denkt daran, Sie in ein +Irrenhaus sperren zu wollen. Ich bin hergekommen, +um mich ein wenig mit Ihnen zu unterhalten – aus +wissenschaftlichem und menschlichem Interesse. Darf +ich ein paar Fragen an Sie richten?“ +</p> + +<p> +„Gewiß!“ sagte Mette. „Aber ich würde wahrscheinlich +imstande sein, präziser auf diese Fragen zu +antworten, wenn Sie mir gestatteten, dabei eine +Zigarette zu rauchen.“ +</p> + +<p> +„Gern!“ sagte der Professor zuvorkommend. +</p> + +<p> +<a id="page-181" class="pagenum" title="181"></a> +Mette nahm den Zigarettenkasten vom Schreibtisch +und bot ihm an. +</p> + +<p> +Er nahm, und während er sein Feuerzeug aufknipste +und ihr das Flämmchen hinüber reichte, fragte er in +beiläufigem Ton: +</p> + +<p> +„Sie sind passionierte Raucherin?“ +</p> + +<p> +„Ich habe es mir beim Lernen angewöhnt,“ sagte +sie. „Es hilft mir, die Gedanken zusammen zu halten. +Und da ich doch den Verdacht noch nicht ganz los bin, +daß Sie mir aus irgendeiner dummen Antwort einen +Schwachsinn konstruieren ...“ +</p> + +<p> +Der Professor lachte: +</p> + +<p> +„Das sollte mir schwer fallen – aber Sie haben +recht, es plaudert sich viel gemütlicher bei der Zigarette. +Nun erzählen Sie mir doch erst mal, was war +das eigentlich für eine Angelegenheit, die Sie mir +vorher andeuteten? Was hat Ihre Frau Tante für +böse Absichten gehabt, als Sie noch ein kleines Kind +waren?“ +</p> + +<p> +„Ach,“ sagte Mette, „sie hat mir einen Kinderpsychiater +kommen lassen, weil ich Silberzeug aus dem +Büfett genommen hatte.“ +</p> + +<p> +„Ach,“ sagte der Professor interessiert mit einem belustigten +Lächeln. „Und warum taten Sie das? +Hatten Sie Freude am Silber?“ +</p> + +<p> +„Nein, ich hab’ es versetzt!“ +</p> + +<p> +<a id="page-182" class="pagenum" title="182"></a> +„Versetzt!“ Der Professor lachte hell auf. „Wie +sind Sie als kleines Kind auf diese Idee gekommen?“ +</p> + +<p> +„Nicht aus mir selbst!“ sagte Mette ernsthaft. Aus +Nebeln der Vergangenheit stieg plötzlich klar und deutlich +Friedel Eggebrechts Bild auf. „Mein Kinderfräulein +hat mich dazu verleitet. Ich stand vollständig +unter ihrem Einfluß – der nicht gerade sehr günstig +war.“ +</p> + +<p> +„Ach!“ sagte der Professor mit leichtem Erstaunen. +„Sind Sie beeinflußbar? Das sieht man Ihnen nicht +an! Jetzt würde Sie wahrscheinlich keine Macht der +Welt mehr zu solchen Dingen bringen!“ +</p> + +<p> +„Ach, verflucht!“ sagte Mette mit einem plötzlichen +Erschrecken, „jetzt hab’ ich ja das blöde Silber verfallen +lassen!“ +</p> + +<p> +Der Professor amüsierte sich köstlich, oder er tat +wenigstens so. +</p> + +<p> +„Welches?“ fragte er. „Das, was Sie vor zehn +Jahren versetzt haben? Das wird nun wohl allerdings +verfallen sein!“ +</p> + +<p> +„Nein,“ sagte Mette unbefangen, „das, was ich jetzt +versetzt habe. Das hatt’ ich ja in den Tod vergessen!“ +</p> + +<p> +„Sie brauchen sich darum nicht zu ängstigen,“ sagte +der Professor liebenswürdig, „es ist eingelöst worden.“ +</p> + +<p> +Mette faßte im Moment nicht ganz. +</p> + +<p> +<a id="page-183" class="pagenum" title="183"></a> +„Wieso? Es hat doch niemand davon gewußt.“ +</p> + +<p> +„Man hat den Schein bei Ihnen gefunden.“ +</p> + +<p> +„Gefunden!“ Mette sprang auf. „Gefunden?! +Das heißt, daß diese schamlose Person heimlich über +meine Sachen geht und darin herumwühlt. Oh, +schade, daß ich sie nicht dabei ertappt habe – ich +hätte sie mit meinen eigenen Händen erwürgt, glaube +ich!“ +</p> + +<p> +„Bitte, setzen Sie sich!“ sagte der Professor, noch +ohne Schärfe, aber so zwingend, daß Mette gehorchte. +</p> + +<p> +„Wenn Sie mit dieser Person Ihre Frau Tante +meinen, so muß ich ihr als Mensch und als Arzt +das Recht zugestehen, Sie als ihre Pflegebefohlene +ein wenig intensiver zu beaufsichtigen, als es sonst +zwischen erwachsenen Menschen üblich ist.“ +</p> + +<p> +„Ich <em>bin</em> ein erwachsener Mensch!“ sagte Mette +zornig. +</p> + +<p> +„Sie sind ein Kind,“ sagte der Arzt sehr milde, „ein +Kind, das gar nicht weiß, in welcher Gefahr es +schwebt – und das uns allen sehr dankbar sein wird, +wenn es einmal erwachsen sein wird und einsehen +lernt, wovor wir es behütet haben.“ +</p> + +<p> +„Ich glaube, Sie sind im Irrtum!“ sagte Mette +eiskalt. „Ich bin in keiner Gefahr. Und wenn, dann +behüte ich mich selber.“ +</p> + +<p> +<a id="page-184" class="pagenum" title="184"></a> +„Solange Sie nicht mündig sind, werden Sie schon +unsere helfende Hand nicht zurückweisen dürfen.“ +</p> + +<p> +Das klang gütig, aber sehr bestimmt. +</p> + +<p> +„Ich zweifle, daß Sie aus eigener Kraft den Entschluß +aufbringen werden, sich von Ihrer Freundin +zu trennen, unter deren Einfluß Sie stehen.“ +</p> + +<p> +Metten strömte das Blut jäh zum Herzen. Sie +fühlte, daß sie weiß wurde wie Leinen. +</p> + +<p> +„Was wissen Sie von meiner Freundin?“ fragte sie +schroff. Der Atem drohte ihr zu versagen. +</p> + +<p> +Der Arzt lächelte überlegen. +</p> + +<p> +„Jedenfalls mehr als Sie.“ +</p> + +<p> +„Das bezweifle ich,“ unterbrach ihn Mette in einem +harten und spöttischen Ton. +</p> + +<p> +Er war nicht aus seiner Ruhe zu bringen. +</p> + +<p> +„Ich weiß,“ sagte er in gelassenem, aber festem Ton, +„daß Sie unter dem Einfluß einer Frau stehen, der +für Sie höchst verderblich ist. Ich begreife Sie ja. +Sie <em>sind</em> ein Kind. Ich will dieser Frau Geist und +Liebenswürdigkeit gewiß nicht absprechen. Sie sind +stolz auf diese Freundschaft und würden ihr alles zum +Opfer bringen. Sie lassen sich durch diese Freundschaft +auf die Bahn des Verbrechens treiben ...“ +</p> + +<p> +„Ach, Unsinn!“ sagte Mette. +</p> + +<p> +„Ich verstehe, daß Sie mir widersprechen. Aber +nehmen Sie einmal Ihren klaren Verstand zu Hilfe, +<a id="page-185" class="pagenum" title="185"></a> +und denken Sie logisch nach. Sie entwenden das +Silberzeug aus dem Büfett Ihrer Eltern. Sie lassen +sich von Ihrem Vater Stundengeld geben und legen +das Geld dafür an, mit Ihrer Freundin Auto zu +fahren, Sekt zu trinken, die Oper zu besuchen. Sie +bezahlen die Schneiderrechnungen dieser Freundin mit +Geld, welches Sie sich auf unrechtmäßige Weise verschafft +haben. Ja, Kind, sehen Sie denn nicht selbst, +auf welchen Abgrund Sie zusteuern?“ +</p> + +<p> +Woher wußten sie das alles? Wie durch einen aufflammenden +Blitz erleuchtet, lagen die Zusammenhänge +klar vor Metten. +</p> + +<p> +Man hatte sie durch einen Detektiv beobachten +lassen, auf Schritt und Tritt. Wo sie ging und stand, +hatten fremde Augen an ihr geklebt, fremde Augen und +Tante Emiliens Gedanken. +</p> + +<p> +Der Mann in Wannsee ... und da vielleicht ... +und dort auch. Das war es, was Olga so geängstigt +hatte. Sie hatte es gewußt, gekannt, schon einmal +durchgemacht. Arme Olla ... +</p> + +<p> +Mette saß ganz still und rührte sich nicht. Ihr war, +als ob erbarmungslose Hände ihr Stück für Stück der +Kleidung vom Leibe rissen. Es waren nicht die +Hände dieses fremden Mannes, es waren Tante +Emiliens Hände, die das taten, es war Tante +Emiliens Gesicht, das sie vor sich sah, hohngrinsend, +<a id="page-186" class="pagenum" title="186"></a> +geifernd vor böser Lust – langsam, langsam krampften +sich Mettens Finger zu Fäusten zusammen – sie +reckte den Hals vor, senkte die Stirn, verzerrte die +Mundwinkel und schluckte gewaltsam. +</p> + +<p> +Die Stimme des Professors wurde wieder ganz +sanft und begütigend: +</p> + +<p> +„Denken Sie doch einmal zurück an Ihre Kinderzeit! +Haben Sie dieses Kinderfräulein, unter deren +Einfluß Sie damals standen, nicht auch geliebt? Und +sind Sie jetzt nicht froh und dankbar, daß man Sie +von ihr getrennt hat? Genau so dankbar werden Sie +uns später sein, wenn Sie erst zur Einsicht gekommen +sind. Wenn Sie nachdenken, so wissen Sie ja jetzt +schon in Ihrem tiefsten Innern Bescheid. <em>Sie</em> sind +die treue Freundin. <em>Sie</em> lieben, <em>Sie</em> opfern sich +auf. Und Sie werden ausgenutzt, als Spielzeug behandelt, +bei Gelegenheit verleugnet und über kurz +oder lang beiseite geworfen. Denken Sie denn, das +wäre der erste Fall, der uns vor Augen kommt? Dann +sind Sie fürs Leben verdorben, körperlich und seelisch +krank, jeder Glücksmöglichkeit beraubt – was bleibt +Ihnen dann? – Je nach Ihrer Veranlagung: Mord +oder Selbstmord! Ich habe furchtbare Tragödien auf +diese Art entstehen sehen ...“ +</p> + +<p> +Mette kämpfte vergeblich gegen den Eindruck an, +den diese Worte auf sie machten. Ihre gereizten +<a id="page-187" class="pagenum" title="187"></a> +Nerven spürten einen eiskalten Hauch, der sie bis in +das innerste Herz erschauern machte. Es schien ihr +wie ein mahnender Gruß aus einer dunkel verhüllten +Zukunft. Tod – Ende! Ein grauenhaftes Etwas +schritt unbeirrbar auf sie zu und warf seinen kühlen +Schatten voraus. +</p> + +<p> +Sie fröstelte. +</p> + +<p> +Sie mußte sich anstrengen, um eine äußerliche Ruhe +zu erzwingen. Sie krallte die Finger um die Sessellehnen +und schluckte ein paarmal. +</p> + +<p> +„Das alles tut ja nichts zur Sache,“ sagte sie endlich +mühsam. „Vielleicht sind Sie so gut und teilen mir +mit, weshalb man Sie eigentlich gerufen hat, und was +man über mich beschlossen hat. Denn es <em>ist</em> doch +irgend etwas über mich beschlossen. Wenn nicht in +ein Irrenhaus – will man mich dann in ein Kloster +sperren, oder in eine Besserungsanstalt, oder nach +Amerika verschicken?“ +</p> + +<p> +Der Arzt lächelte. „Aber nichts von alledem. Sie +werden auf einige Zeit mit Ihrem Onkel, mit Herrn +von Seyblitz, zu seiner Familie fahren. – Sie werden +in guter Luft und einem ruhigen Leben Ihre Nerven +kräftigen und werden dann selbständig zu gesunden +und willensstarken Entschlüssen kommen.“ +</p> + +<p> +„Wann soll ich fahren?“ stieß Mette kurz hervor. +</p> + +<p> +„Heute noch!“ +</p> + +<p> +<a id="page-188" class="pagenum" title="188"></a> +„Ich muß doch erst einen Koffer packen!“ +</p> + +<p> +„Der wird jetzt während unserer Unterredung schon +gepackt!“ +</p> + +<p> +Das war das, was sie gefürchtet hatte. Mette +fühlte die Mauern, die Handfesseln. Sie warf einen +Blick um sich wie ein gehetztes, in die Enge getriebenes +Tier. Nirgends ein Ausweg, nirgends eine +Möglichkeit zur Flucht. +</p> + +<p> +Man trennte sie von Olga. Das war schlimm, +aber nicht das Schlimmste. Man tat ihr Gewalt an. +Man hätte diese Reise von ihr erbitten sollen, man +hätte ihr Zeit lassen sollen, Zeit zu einem Abschied, +zu einer Erklärung, Zeit, ihre Sachen selber einzupacken, +ihre Bücher ... jetzt war Tante Emilie an +ihrer Kommode und packte ihre Sachen ein, wühlte +darin herum ... in einer Stunde saß sie vielleicht +schon im Zug, ohne Olga Nachricht geben zu können ... +und Onkel Jürgen saß ihr gegenüber als Gefangenenwärter +... und was würde unterdessen hier geschehen? +mit ihrem Schreibtisch ... mit ihren Büchern ... +mit Olga ...? +</p> + +<p> +Sie spürte Lust, irgend etwas zu zerreißen, zu zerschlagen, +mit dem Kopf gegen die Wände anzurennen. +Sie tat nichts. Sie stand von ihrem Stuhl auf, sehr +blaß, sehr ruhig und sagte: +</p> + +<p> +„Also ... ist das nun alles?“ +</p> + +<p> +<a id="page-189" class="pagenum" title="189"></a> +„Es freut mich,“ sagte der Professor, ebenfalls sich +aus seinem Sessel erhebend, „daß Sie sich mit dieser +Reise einverstanden erklären.“ +</p> + +<p> +„Einverstanden?“ sagte Mette mit einem verächtlichen +Zucken der Lippen. „Ich füge mich dem Zwang, +weil ich weiß, daß jeder Widerstand nutzlos ist. +Wenn meine Tante mich hier forthaben will, läßt sie +mich in Ketten wegschleifen, und mein Vater sieht zu, +und alle Gerichte der Welt geben ihr recht.“ +</p> + +<p> +Der Professor ging an ihr vorüber und machte die +Tür auf. +</p> + +<p> +„Fräulein Melitta und ich sind uns ganz einig!“ +rief er heiter. „Ich habe ihr eine kleine Luftveränderung +verschrieben, und sie freut sich sehr, ein paar +Wochen in Ihrem gastlichen Hause zu verbringen, +Herr von Seyblitz!“ +</p> + +<p> +Onkel Jürgen rieb sich die kräftigen Hände, Franz +Rudloff versuchte ein farbloses Lächeln, und Tante +Emilie machte ein überraschtes und – wie es Metten +schien – sichtlich enttäuschtes Gesicht. +</p> + +<p> +Sie schoß auf den Professor los und zischte halblaut, +aber doch laut genug, daß alle es hören konnten: +</p> + +<p> +„Sie sagten mir doch, Herr Professor, daß Sie eine +Untersuchung vornehmen wollten, um möglicherweise +irgendwelche körperlichen Anomalien festzustellen ... +ich glaube bestimmt ...“ +</p> + +<p> +<a id="page-190" class="pagenum" title="190"></a> +Der Professor versuchte umsonst, sie durch eine leichte +Geste der Hand und der Augenlider zum Schweigen +zu bringen. Es war zu spät. +</p> + +<p> +Mette hatte schon begriffen. Ganz jäh und mit +einem Schlage alles begriffen. +</p> + +<p> +Sie spürte nur die eine brennende Sehnsucht, dies +widerliche Geschöpf da unter ihren Händen verenden +zu sehen. +</p> + +<p> +Sie wußte nicht, daß sie eine Bewegung machte. +Der Boden wich unter ihren Füßen zurück. Sie hörte +ein Röcheln, das fremd und grauenhaft war, und das +doch aus ihrer eigenen Kehle kam. Sie spürte, daß +ihre Finger sich um einen dürren, faltigen Hals krallten +und spürte im selben Moment, daß eisenfeste +Hände ihre Gelenke umklammerten, so fest umklammerten, +daß das Blut ihr in den Adern zu stocken +schien, und ihr war, als müßte sie ersticken. +</p> + +<p> +Sie fühlte, daß sie diese Folter nicht einen Herzschlag +länger ertragen konnte. +</p> + +<p> +„Loslassen!“ knirschte sie. „Loslassen!“ +</p> + +<p> +Der Arzt gab sofort ihren rechten Arm frei. Eine +Sekunde später Onkel Jürgen den linken. +</p> + +<p> +Jetzt fing die Haut über den Gelenken an zu +schmerzen. Sie rieb sie ganz mechanisch. Sie fühlte +sich müde, ruhig, zerschlagen. +</p> + +<p> +Der Gedanke tat ihr fast wohl, daß sie fort sollte, +<a id="page-191" class="pagenum" title="191"></a> +aus diesem Haus, von diesen Leuten fort, jetzt gleich, +in dieser Stunde noch. +</p> + +<p> +Sie wandte sich mit ihren Fragen nur noch an den +Arzt: +</p> + +<p> +„Wann geht der Zug? Wird es nicht Zeit, daß ich +mich fertig mache?“ – +</p> + +<p> +Als das Auto vor der Tür stand, fragte der Professor +beiläufig: +</p> + +<p> +„Wir haben, glaube ich, denselben Weg. Haben +Sie nicht einen Platz im Wagen frei?“ +</p> + +<p> +Mette sah ihn groß an und lächelte ein wenig +spöttisch: +</p> + +<p> +„Sie brauchen gar keine Ausrede, Herr Professor, +wenn Sie mich an die Bahn bringen wollen. Meine +Familie wird auf das Vergnügen verzichten. Es ist +besser für alle Beteiligten.“ +</p> + +<p> +Sie reichte ihrem Vater die Fingerspitzen, die dieser +mit beiden Händen umschloß. +</p> + +<p> +„Adieu, Papa, laß dir’s gut gehen.“ +</p> + +<p> +Tante Emilie zog sich mit gespielter Ängstlichkeit an +die Wand zurück, als befürchtete sie einen neuen Anschlag +auf ihr Leben. +</p> + +<p> +Mette streifte sie nur mit einem verächtlichen Blick. – +</p> + +<p> +Die Bahnfahrt war doch länger, als sie gedacht +hatte. Mette sah angespannt aus dem Fenster und +bemühte sich, die Namen der Stationen, jedes Dorf +<a id="page-192" class="pagenum" title="192"></a> +und jedes Bahnwärterhäuschen ihrem Gedächtnis einzuprägen. +Es wäre doch möglich, daß sie zu Fuß +zurück müßte. +</p> + +<p> +Sie hatte kein Geld – ob sie Gelegenheit hatte, +Wertsachen zu versetzen oder zu verkaufen, war fraglich. +Sie sah nach den Kilometerschildern, 87 Kilometer +bis Berlin. Fünf Kilometer in der Stunde +schaffte sie glatt. Es war nur schade, daß nicht +Sommer war. Bei zwei Grad unter Null ließ sich’s +nicht gut im Freien nächtigen. – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Mette saß in der hellen und freundlichen Mansardenstube +auf dem Fenstertritt, rauchte eine Zigarette +und polierte ihre Nägel. +</p> + +</div> + +<p> +Auf der weißen Decke des Nähtisches, den Mette +zum Toilettentisch degradiert oder befördert hatte, lag +aufgeschlagen ein kleines, dickes, schwarzes Buch: das +Neue Testament. +</p> + +<p> +Die Tür wurde aufgemacht, und ihr Vetter Hermann +schob sich durch den Spalt. Er blieb in der +offenen Tür stehen und spielte mit der Klinke. +</p> + +<p> +„Ob du zum Abendbrot runterkommst, oder ob du +noch Kopfschmerzen hast?“ fragte er lakonisch. +</p> + +<p> +„Mach’ die Tür zu, Junge!“ herrschte Mette gedämpft. +Sie wollte nicht, daß der Zigarettenrauch +<a id="page-193" class="pagenum" title="193"></a> +auf den Treppenflur und in Tante Antoniens feine +Nase zöge. +</p> + +<p> +Der Junge machte die Tür zu, aber ließ die Klinke +nicht los. +</p> + +<p> +„Warum klebst du eigentlich an der Türe?“ fragte +Mette belustigt. „Bitte, tritt näher. Nimm Platz!“ +</p> + +<p> +Der Junge zögerte. +</p> + +<p> +„Wir sollen eigentlich nicht zu dir hinein,“ meinte +er. „Aber wenn deine Kopfschmerzen besser sind, dann +wirst du ja auch nicht mehr so krank sein ...“ +</p> + +<p> +„Krank?“ sagte Mette verwundert. „Sollt ihr nicht +zu mir hereinkommen, weil ich krank bin?“ +</p> + +<p> +„Ja!“ sagte der Zwölfjährige altklug. „Wegen der +Ansteckungsgefahr!“ +</p> + +<p> +„Ach, Männe!“ Mette lachte kurz auf. „Die Krankheit, +die ich habe, steckt ganz gewiß nicht an.“ +</p> + +<p> +„Was hast du denn für eine Krankheit?“ Der +Junge kam neugierig näher. +</p> + +<p> +Mette zögerte mit der Antwort. +</p> + +<p> +Der Junge warf einen begehrlichen Blick auf die +Zigaretten. +</p> + +<p> +„Schenk’ mir eine!“ bettelte er plötzlich. +</p> + +<p> +„Ja,“ sagte Mette rasch. „So viel du willst. Aber +du mußt mir einen Brief auf die Post bringen, ganz +heimlich, so, daß es keiner sieht. Kann man sich auf +dich verlassen?“ +</p> + +<p> +<a id="page-194" class="pagenum" title="194"></a> +Mette sah ihn scharf und prüfend an. Der Ehrgeiz +des Jungen war geweckt. +</p> + +<p> +„Aber!“ sagte er überzeugt, „meinst du, daß ich +mich erwischen lasse? Ich bin doch nicht dämlich.“ +</p> + +<p> +Er bekam den Brief und die Zigaretten und verstaute +beides so kunstgerecht in der Bluse, daß Mette +lächelnd dachte: „Es ist nicht das erstemal, daß er da +etwas vor Mutters scharfen Augen versteckt.“ +</p> + +<p> +Er zögerte noch zu gehen. Er druckste ein bißchen +und platzte dann heraus: +</p> + +<p> +„Sag’ mir doch, was du für eine Krankheit +hast?!“ +</p> + +<p> +Mette dachte nach, was sie ihm antworten sollte. +Ihr Blick fiel auf das Zigarettenetui. +</p> + +<p> +„Weißt du, Männe,“ sagte sie nach einer Weile, +„mich hat ein Skorpion gestochen. Nun ist mein ganzes +Blut vergiftet. Und du weißt doch: gegen Skorpionengift +hilft nur Skorpionengift. Und hier gibt +es keinen Skorpion. Aber daß es ansteckt, das ist ein +Aberglaube. Das sind die Phalangien, die so giftig +sind, daß man sich ansteckt, wenn man sich im Waschwasser +eines Gestochenen wäscht. Das hat deine +Mutter verwechselt.“ +</p> + +<p> +„Es ist nicht ansteckend?“ fragte der Junge und +wagte sich noch ein Schrittchen näher. +</p> + +<p> +„Nein!“ Mette schüttelte den Kopf mit einem wehen +<a id="page-195" class="pagenum" title="195"></a> +Lächeln. „Ich glaube wohl, daß es <em>tödlich</em> sein +kann – aber ansteckend ist es nicht.“ – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Der kleine Hermann, der den Brief mit viel Heimlichkeit +und Wichtigtuerei nach der Post besorgte, war +fest überzeugt, daß es ein Liebesbrief sein müsse, den +man ihm anvertraut hatte. Er wäre sehr erstaunt gewesen, +wenn er erfahren hätte, daß in dem Brief +mehr von ihm, von dem kleinen Hermann selbst, die +Rede war, als von Liebe. +</p> + +</div> + +<p> +„... Ich habe die Kinder meines Onkels früher gehaßt“ +... das schrieb sie, nachdem sie von den Begebenheiten +der letzten Tage eine sachliche Schilderung +gegeben hatte. „... Ich hatte keinen Grund, sie zu +hassen, als daß sie so abstehende Ohren hatten. Sag’ +mir, Liebes, wodurch bin ich ein so ganz anderer +Mensch geworden? Ich sehe jetzt Charaktere in jedem +kindischen Benehmen, und ich sehe Schicksale, die an +diese Charaktere unlöslich festgekettet sind. Ich sehe, +daß die kleine Annemie einmal ein schweres Leben +haben wird – nicht nur, weil sie abstehende Ohren +hat – und darum habe ich immer das Gefühl, ich +möchte ihr helfen, ich möchte ihr schenken, um die paar +glücklichen Stunden in ihrem Leben zu vermehren ... +</p> + +<p> +Ich habe eine Entdeckung gemacht, Olla. Du wirst +<a id="page-196" class="pagenum" title="196"></a> +mich auslachen. Meine Tante Antonie hat den Bücherschrank +vor mir verschlossen und hat mir das Neue +Testament aufs Zimmer gelegt. Ich habe sie in Verdacht, +sie wollte mich damit strafen. Vor einem Jahr +hätt’ ich es voll Empörung an die Wand geworfen und +wäre gar nicht auf den Gedanken gekommen, daß man +es lesen könnte. Und jetzt habe ich mich so damit befreundet! +Was ist das doch für ein herrliches Buch! +Aber ich mache mich lächerlich vor Dir mit meiner Entdeckung. +Gibt es wohl etwas Schönes auf der Welt, +was Du nicht kennst und liebst?“ – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Onkel Jürgen und Tante Antonie waren aufs angenehmste +überrascht von Mettens Betragen. Sie +hatten ein widerspenstiges Kind erwartet, das sie +nötigenfalls unter Anwendung von Gewalt zähmen +mußten und fanden eine junge Dame von formvollendeter +Liebenswürdigkeit. So wirkte es peinlich, sie +überall zu beschränken und zu beaufsichtigen, und man +gewährte ihr eine Freiheit nach der anderen. +</p> + +</div> + +<p> +Mette nutzte diese Freiheiten aus und traf Vorbereitungen +zur Flucht. Sie hatte Tag und Nacht +keinen anderen Gedanken, und die dauernde Beschäftigung +mit diesen Plänen stimmte sie zu fast ausgelassen-heiterer +Erregung. +</p> + +<p> +<a id="page-197" class="pagenum" title="197"></a> +Es handelte sich vor allem darum, sich Geld zu verschaffen. +Mette verkaufte von ihren Sachen, was ihr +irgend entbehrlich schien. Aber das brachte nicht genug. +Sie fing an, Sachen aus dem Haushalt zu verschleudern. +Es war schwierig und unpraktisch. Erstens +konnte es herauskommen, ehe sie fort war, dann war +alles verloren, und zweitens lohnte es nicht die aufgewendete +Mühe, und es tat ihr auch leid, wertvolle +Dinge um einen Spottpreis wegzugeben. +</p> + +<p> +Eines Tages empfing Onkel Jürgen mit der Post +eine größere Summe, die er in Mettens Gegenwart +in den Schreibtisch einschloß. +</p> + +<p> +Mette starrte wie hypnotisiert auf den verschlossenen +Kasten. Da war alles, was sie brauchte, aber wie dazugelangen? +</p> + +<p> +Sie lag eine ganze Nacht, ohne Schlaf zu finden, +oder auch nur zu suchen. Ihre Gedanken arbeiteten +fieberhaft. +</p> + +<p> +Nachts den Schreibtisch gewaltsam erbrechen. Es +ging kein Zug mehr, der sie dann vor Tagesanbruch +in Sicherheit brachte. +</p> + +<p> +Einen Wachsabdruck des Schlosses nehmen. Der +Schlosser würde Verdacht schöpfen, wenn sie sich einen +Schlüssel danach machen ließ. +</p> + +<p> +Das Schlüsselbund stehlen? Man würde es sofort +vermissen und das ganze Haus durchsuchen. +</p> + +<p> +<a id="page-198" class="pagenum" title="198"></a> +Den Schreibtischschlüssel vom Bund lösen? Man +würde auch das Fehlen dieses einen wichtigsten +Schlüssels sofort bemerken. +</p> + +<p> +Am anderen Tag holte sich Mette vom Schlosser ein +halb Dutzend Schlüssel. Sie erzählte eine Geschichte +von einem verlorenen Schrankschlüssel und freute sich +fast darüber, wie sicher und unbefangen sie ihre +Märchen vortrug. +</p> + +<p> +In der Nacht schlich sie hinunter und probierte die +gekauften Schlüssel. Sie hatte die Form und Größe +des Schlüssels sich gut gemerkt. Fast alle ließen sich +ins Schloß schieben. Aber keiner schloß. +</p> + +<p> +Am anderen Tag erbat sie die Schlüssel, um ein +Buch aus der Bibliothek zu nehmen. Während sie vor +dem Bücherschrank kniete, löste sie den Schreibtischschlüssel +vom Bund. Einen bereitgehaltenen, der ihm +äußerlich gleich sah, fügte sie an seine Stelle. +</p> + +<p> +Sie nahm ein Buch aus dem Schrank, ohne zu +wissen, welches. +</p> + +<p> +In dem Augenblick, in dem sie Onkel Jürgen das +Schlüsselbund zurückgab, glaubte sie, er müsse das +rasende Schlagen ihres Herzens spüren. Sie fühlte, +daß ihr Gesicht weiß aussehen mußte wie Kalk +und bemühte sich, mit steifgefrorenen Lippen zu +lächeln. +</p> + +<p> +Der Onkel nahm ihr die Schlüssel ab, ohne von +<a id="page-199" class="pagenum" title="199"></a> +seiner Zeitung aufzusehen und ließ sie mit einem +flüchtigen „Danke!“ in die Hosentasche gleiten. +</p> + +<p> +Mette packte ihren Handkoffer und gab eine Depesche +auf. In der Dämmerung schaffte sie den Handkoffer +nach der Bahn. +</p> + +<p> +Um halb acht wurde zu Abend gegessen. Um halb +neun ging der Zug. +</p> + +<p> +Mette klagte während des Essens über Kopfschmerzen. +Der Onkel gab ihr auf ihre Bitte ein +Pyramidon und empfahl ihr, sich gleich hinzulegen. +</p> + +<p> +Mette sagte: „Gute Nacht!“ während die anderen +noch bei Tisch saßen. +</p> + +<p> +Um vom Eßzimmer nach dem Treppenflur zu kommen, +mußte sie durch das dunkle Wohnzimmer. +Während sie aus dem Nebenzimmer die Stimmen +hörte und jeden Augenblick das Stuhlrücken der Aufstehenden +zu hören glaubte, schloß sie das Schreibtischfach +auf und stopfte eine Handvoll Scheine in ihre +Bluse. +</p> + +<p> +Im Treppenflur hing ihr Mantel schon vorsorglich +bereit. Sie schlüpfte hinein und öffnete die kleine +Hintertür, die an der Küche vorbei in den Garten +führte. Vorne an den Fenstern des Speisezimmers +vorbeizugehen, wagte sie nicht. +</p> + +<p> +Über das niedrige Gartenstaket sich zu schwingen, +war keine Schwierigkeit. Noch einmal sah sie sich +<a id="page-200" class="pagenum" title="200"></a> +um. Von dieser Seite war das Haus ganz dunkel. +Sie horchte. Keine Tür ging, kein Fenster klirrte. +Dann wandte sie sich und lief wie gejagt querfeldein +– dem Bahnhof zu. – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Während der Bahnfahrt kämpfte sie manchmal mit +einer qualvollen Bangigkeit. Sie sah sich verfolgt, +gefesselt – der Zug schien unerträglich langsam +zu fahren, auf allen Stationen über Gebühr zu +halten. +</p> + +</div> + +<p> +Sie hatte mitunter das Gefühl, daß es besser wäre, +auszusteigen und zu laufen, vorwärtszujagen, bis +Atem und Muskelkraft versagten, als so in untätiger +Unrast gefangen zu sein und zu warten, bis die träge +Maschine sie ans Ziel brachte. +</p> + +<p> +Mit einem plötzlichen Erschrecken dachte sie an die +Möglichkeit, daß ihr Telegramm nicht zur Zeit angekommen +sein könne oder Olga nicht zu Hause getroffen +habe. +</p> + +<p> +Was sollte sie nur um Gottes willen anfangen, +wenn Olga nicht an der Bahn war! +</p> + +<p> +Nach Hause zu fahren, war eine Unmöglichkeit. Sie +glaubte schon Zwangsjacke und Handschellen zu +spüren. +</p> + +<p> +In der Nacht zu Olga? An einem fremden Haus +<a id="page-201" class="pagenum" title="201"></a> +klingeln, die Leute in der Pension wecken? Mit +welchem Recht? +</p> + +<p> +Ihr blieb nichts übrig, als sich für die Nacht in +einem Hotel einzumieten. Aber wo war sie sicher? +Morgen früh würde man überall nach ihr suchen. Ihr +graute vor dem, was ihr dann bevorstand. +</p> + +<p> +Und ihr graute vor der einsamen Nacht in einem +fremden Zimmer. +</p> + +<p> +Es kamen Augenblicke, wo sie verwundert ihrem +eigenen Tun gegenübersaß und erschrak vor ihrer +eigenen Kühnheit. Wo sie bei einer Bewegung plötzlich +das Knittern der Scheine in ihrer Bluse fühlte +und voll Staunen und fast voll Bewunderung sich +fragte: „Herrgott, wie hab’ ich das eigentlich fertiggebracht?“ +– – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Um elf Uhr zwanzig lief der Zug in den Bahnhof +ein. Licht und Lärm in der dröhnenden Halle, deren +weite Wölbung sich im Dunkeln verlor, waren fast +noch beängstigender als die schweigende Nacht auf den +Feldern. +</p> + +</div> + +<p> +Aber da war Olga Radó. +</p> + +<p> +Zwischen hastenden, suchenden, hin und her wimmelnden +Menschen stand sie ganz ruhig, noch ein +wenig höher gereckt als sonst. Zwischen dummen, +stumpfen, mißgeformten, vor Aufregung verzerrten +Gesichtern leuchtete ihr weißes, klares Gesicht. Unter +<a id="page-202" class="pagenum" title="202"></a> +den dunklen, wie drohend zusammengezogenen Brauen +hervor schimmerten die scharfen Augen und flogen +prüfend an der Wagenreihe entlang. +</p> + +<p> +Mette stieß die Tür auf, ehe noch der Zug hielt. +Sie bahnte sich rücksichtslos einen Weg, stieß ihren +Handkoffer den Leuten in die Kniekehlen, streckte ihr +die Hand entgegen, nein, griff nach ihr, wie ein +Fallender nach einem Halt und rief zwischen Lachen +und Weinen: +</p> + +<p> +„Olga!“ +</p> + +<p> +Olgas Gesicht, das sich erst jetzt mit jäher Wendung +ihr zudrehte, blieb ernst. Nicht der Schimmer eines +Lächelns flog über die gespannten Züge. +</p> + +<p> +„Mette!“ sagte sie mit ihrer tiefen Stimme. „Kind! +Was machst du für Dummheiten!“ +</p> + +<p> +Mette erschrak ein wenig. Nicht sehr. Ein anderer +Empfang wäre ihr lieber gewesen – aber was taten +ihr diese Worte oder der Ton der Worte. Olga war +da. Sie sah ihr Gesicht, sie hielt ihre Hand, sie hörte +ihre Stimme. +</p> + +<p> +Nun war alles gut. +</p> + +<p> +„Bist du böse?“ fragte Mette mit lachenden Augen, +ohne Olgas Hand loszulassen. „Wenn du jetzt schon +böse bist, alter Philister, dann wag’ ich gar nicht zu +erzählen, was ich alles ausgefressen habe!“ +</p> + +<p> +„Ich bin nicht böse,“ sagte Olga ernsthaft, „ich lehne +<a id="page-203" class="pagenum" title="203"></a> +nur jede Verantwortung ab. Wenn du durchgehst, +ist das deine Sache. Ich habe dich nicht mit einem +Wort, mit einem Blick dazu verleitet. Ich habe nichts +davon gewußt. Das möchte ich nur von vornherein +konstatieren.“ +</p> + +<p> +„Ja,“ sagte Mette, „aber nachdem du das nun konstatiert +hast, kannst du mir vielleicht sagen, ob es dir +persönlich angenehm oder unangenehm ist, daß ich +hier bin.“ +</p> + +<p> +„Wenn ich ehrlich sein soll,“ sagte Olga mit einem +halben Lächeln und ohne Metten anzusehen, „so ist +es mir nicht unangenehm; aber ich bin eigentlich ein +bißchen verzweifelt. Hast du vielleicht darüber nachgedacht, +was nun mit dir werden soll?“ +</p> + +<p> +Mette hatte daran gedacht. Darüber nachgedacht? +– Nein, das war wohl nicht das richtige Wort. Sie +hatte die Vorstellung gehabt, daß sie zu Olga käme, +um bei Olga zu sein, um bei Olga zu bleiben. Sie +hatte sich in Olgas behaglichem Zimmer gesehen – +in dem einzigen Zimmer, in dem sie je glückliche +Stunden verlebt hatte – hatte sich da verbergen +wollen, nie auf die Straße gehen, nie nach Hause +gehen – nun fühlte sie das Unsinnige dieser Gedanken +und wagte sie den klugen Augen gegenüber +nicht auszusprechen. +</p> + +<p> +„Ich weiß nicht,“ sagte sie kleinlaut. „Ich weiß +<a id="page-204" class="pagenum" title="204"></a> +nur, daß ich nicht nach Hause kann, nie, nie, nie, nie! +Ich kann mir ja eine Stellung suchen als Kindermädchen, +als Kellnerin – was weiß ich!“ +</p> + +<p> +„Dazu hättest du eigentlich ebensogut bleiben können, +wo du warst. Sie werden dich ja nicht gerade +geprügelt haben oder Hunger leiden lassen. Oder +glaubst du, daß du als Kindermädchen sehr viel mehr +Freiheit haben wirst?“ +</p> + +<p> +„Ja,“ sagte Mette trotzig, „dann hab’ ich wenigstens +meinen freien Sonntag, wo mir kein Mensch verbieten +kann, mit dir zusammen zu sein!“ +</p> + +<p> +„Meinetwegen!“ Olga blieb stehen und schloß einen +Moment wie in tödlichem Erschrecken die Augen. „Du +bist geradezu grausam, Mette. Fühlst du denn nicht, +wie ungeheuer du mich damit belastest? Ich kann +diese Verantwortung nicht tragen, ich kann nicht!“ +</p> + +<p> +Sie standen immer noch auf dem Bahnsteig, der +jetzt von den wimmelnden Menschenmassen fast geleert +war. Nur ein paar Nachzügler strebten noch +nach dem Ausgang. +</p> + +<p> +Mette fühlte sich müde und zerschlagen und empfand +den leichten Handkoffer wie eine Zentnerlast. +Die kühle Zugluft in der weiten Halle machte sie +frösteln. +</p> + +<p> +„Wollen wir nicht zehn Minuten in den Wartesaal +gehen?“ fragte sie bedrückt. „Vielleicht fällt mir bei +<a id="page-205" class="pagenum" title="205"></a> +ruhiger Überlegung irgend etwas ein, was ich tun +könnte. Aber wenn du zu müde bist, kannst du ja auch +ruhig nach Hause gehen!“ +</p> + +<p> +„Ja,“ sagte Olga kurz, „und dich hier die Nacht +allein auf dem Bahnhof sitzen lassen! Du bist wohl +ganz verrückt, mein liebes Kind?“ – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Sie saßen in dem leeren Wartesaal und wärmten +sich die kalten Finger an den heißen Teegläsern. +Mette erzählte die Geschichte ihrer Flucht. Sie nahm +die zerknitterten Geldscheine aus ihrer Bluse und +stopfte sie in die Tasche. +</p> + +</div> + +<p> +Mette hatte fast erwartet, daß Olga lachen würde. +Während sie erzählte, kam ihr selber die Sache ungeheuer +komisch und abenteuerlich vor. Aber Olgas +Gesicht blieb tiefernst. +</p> + +<p> +„Und nun?“ fragte sie. +</p> + +<p> +„Ich gehe in ein Hotel!“ sagte Mette eigensinnig. +</p> + +<p> +„Und ich?“ +</p> + +<p> +„Du gehst in deine Pension!“ +</p> + +<p> +„Ich lasse dich nicht allein.“ +</p> + +<p> +„Komm mit,“ sagte Mette mit dem Aufblitzen einer +Hoffnung. +</p> + +<p> +„Ja,“ sagte Olga bitter, „und morgen früh kommt +die Polizei und bringt uns in Gewahrsam. Ich danke. +Dann hab’ ich dich womöglich zu schwerem Einbruchsdiebstahl +verführt.“ +</p> + +<p> +<a id="page-206" class="pagenum" title="206"></a> +„Weißt du,“ sagte Mette, nach einer Pause des +Nachdenkens, „dann müssen wir’s schon machen wie +richtige Defraudanten. Uns in den nächsten Zug setzen +und weiterfahren. Einfach auf irgendeiner Station +aussteigen und in ein Hotel gehen. Von da aus +schreib ich dann an meinen Vater und bitte ihn vor +allen Dingen, die Geldangelegenheit in Ordnung zu +bringen. Vielleicht ist er auch sonst vernünftig, und +ich kann mich irgendwie mit ihm einigen. In einem +halben Jahr bekomme ich ja mein Vermögen ausgezahlt, +von meiner Großmutter her. Wenn mir +mein Vater bis dahin nichts gibt, mache ich eben +Schulden daraufhin, das muß doch irgendwie gehen. +Also“ – Mette sah nach der großen Abfahrtstafel – +„um zwölf Uhr vier geht der nächste Zug!“ +</p> + +<p> +Olgas Gesicht verlor den strengen Ausdruck. Eine +große Freude lachte aus ihren Augen. Aber sie zögerte +noch. +</p> + +<p> +„Du bist doch ganz verrückt!“ sagte sie. „Ohne +Nachthemd und ohne Zahnbürste!“ +</p> + +<p> +„Wäsche habe ich genug,“ sagte Mette eifrig. „Eine +Zahnbürste können wir in Buxtehude auch kaufen!“ +</p> + +<p> +„Was du für Ideen hast!“ sagte Olga langsam. +</p> + +<p> +Mette sah, daß sie schon halb überwunden war. +</p> + +<p> +„Großartige Ideen!“ sagte sie strahlend. „Äußerst +reizvolle Ideen. Findest du etwa nicht?“ +</p> + +<p> +<a id="page-207" class="pagenum" title="207"></a> +„Ja, aber ich wäre nie darauf gekommen,“ sagte +Olga betont. „Du hast mich überredet. Es ist ausschließlich +deine Idee!“ +</p> + +<p> +„Selbstverständlich! Ich bin viel zu stolz darauf, +um mir die Autorschaft von irgend jemand streitig +machen zu lassen.“ – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Der Zug zwölf Uhr vier war ein Personenzug. Sie +saßen allein in einem Nichtraucherabteil, das dämmerig +erhellt war durch die zur Hälfte blau verdeckte +Glaskugel an der Decke. Sie bemühten sich vergebens, +diesen Lichtschirm zurückzustoßen, um die Leuchtkraft +des Gasflämmchens voll zu entfachen. +</p> + +</div> + +<p> +„Laß nur gut sein,“ scherzte Mette. „Es ist gut, +wenn wir im dunklen Coupé sitzen, dann können uns +unsere Verfolger nicht gleich von draußen erkennen.“ +</p> + +<p> +Mette war so voll übermütiger Freude, daß sie +diesen Gedanken zu einer lustigen Komödie ausspann +und auch Olga mit fortriß. +</p> + +<p> +Sie spielten Flucht. Sie duckten sich, wenn draußen +einer vorbeiging. Sie atmeten erlöst auf, als der +Zug abfuhr. Mette veränderte ihre Haartracht, um +nicht erkannt zu werden. Sie „bestach“ den Schaffner +mit der „Summe“ von drei Mark, damit er niemand +hineinlassen sollte. Und ängstigte sich nachher, daß +<a id="page-208" class="pagenum" title="208"></a> +die Höhe des Trinkgeldes sie unzweifelhaft als Defraudanten +verdächtig machen würde. +</p> + +<p> +„Weißt du,“ sagte Mette geheimnisvoll, „wir +dürfen natürlich nicht da aussteigen, wohin wir Karten +genommen haben. Dann sind sie uns ja sofort +auf der Spur. Wir steigen einfach bei irgendeiner +Station aus.“ +</p> + +<p> +„Ja,“ sagte Olga, „bei der siebenten. Sieben ist +eine heilige Zahl!“ +</p> + +<p> +Mette glühte vor Begeisterung. „Ist das schön! +Ist das wundervoll! Wir fahren – und wissen nicht +wohin! Wir steigen aus – und wissen nicht wo! +Wir wachen morgen früh in einer fremden Stadt auf +– und wissen nicht, wie sie heißt.“ +</p> + +<p> +„Wie das klingt!“ sagte Olga und machte ihr nach. +„Wie eine ganz tiefsinnige Angelegenheit. Wir leben +– und wissen nicht wie! Wir lieben – und wissen +nicht warum! Wir sterben und wissen nicht wann!“ +</p> + +<p> +„Nein,“ sagte Mette, „dein ‚wann‘ weiß ich nicht. +Gott sei Dank! Aber das ‚warum‘ weiß ich. Gott +sei Dank!“ +</p> + +<p> +Es flog ein leichter Schatten über Olgas Gesicht, +als ob sie nicht hören wollte, was Mette sagte. +</p> + +<p> +„Ich habe mir früher immer so glühend gewünscht +zu wissen, wann ich sterbe,“ sagte sie nachsinnend. +„Ich finde es so ungerecht, daß man absolut nicht +<a id="page-209" class="pagenum" title="209"></a> +weiß, wieviel Zeit einem zur Verfügung steht. Man +müßte doch die Möglichkeit haben, sich einzurichten. +Ich habe meine Freundin beneidet, die an der +Schwindsucht gestorben ist. Sie wußte genau: So +viel ist jetzt noch von meiner Lunge vorhanden – so +lange kann ich noch leben, wenn ich geize, wenn ich +mich schone – ich kann aber auch verschwenden und +den Rest auf einmal wegwerfen. Schön muß das +sein. Du weißt ja: Ich kann nie aus meinem Zimmer +fortgehen, ehe es nicht aufgeräumt ist, weil ich doch +immer die fixe Idee habe, wer weiß, ob ich wiederkomme. +Mir ist der Gedanke schrecklich, daß ich einmal +aus dem Leben fort muß und alles in Unordnung +hinterlasse.“ +</p> + +<p> +Metten waren die Tränen nahe. Sie wollte die +Traurigkeit, die sie quälte, verbergen und verscheuchen +und sagte mit erzwungener Derbheit: +</p> + +<p> +„Du bist wohl ganz verrückt, ja? Vielleicht suchst +du dir zu dieser melancholischen Nachtfahrt ein anderes +Gesprächsthema aus?! Sonst setz’ ich mich so lange +ins Nebencoupé, bis du mit deinen Meditationen +fertig bist!“ +</p> + +<p> +„Kind!“ sagte Olga lächelnd und griff nach ihrer +Hand. „Du hast ganz recht. Schimpf nur tüchtig. +Das kommt von dem blöden Orakeln.“ +</p> + +<p> +„Orakeln?“ fragte Mette erstaunt. +</p> + +<p> +<a id="page-210" class="pagenum" title="210"></a> +„Kennst du das noch nicht an mir? Ich mach’s doch +wie die alten Bauernweiber, die in allen schwierigen +Lebenslagen mit der Stricknadel in die Bibel stechen +und sich dann irgendeinen Rat herausdeuten.“ +</p> + +<p> +„Du hast ja gar keine Stricknadeln!“ sagte Mette +lachend. +</p> + +<p> +„Nein – eine Bibel nebenbei auch nicht. Eine +Bibel muß etwas Ererbtes sein. Eine zu kaufen, hat +gar keinen Wert. Aber es muß ja zu diesem Zweck +keine Bibel sein – ich nehme einfach irgendein Buch +und schlage es auf. Es ist merkwürdig, was für +klare Antworten man manchmal bekommt. Ich habe +heut’ auch gefragt ... als deine Depesche kam ... +ob ich nach der Bahn gehen sollte ...“ +</p> + +<p> +„Na, und?“ fragte Mette erwartungsvoll. +</p> + +<p> +„Ach ... es ist ja alles Unsinn ...“ sagte Olga mit +einem gequälten Lächeln. Sie drehte den Kopf und +sah angelegentlich aus dem Fenster in die schwarze +Nacht, die draußen vorbeiflog. +</p> + +<p> +„Sicher ist es Unsinn,“ sagte Mette herzlich. „Aber +es quält dich doch. Wenn du es aussprichst, wirst du +erst einsehen, <em>wie</em> unsinnig es ist. Sag’ es mir +doch – dann lachen wir beide darüber.“ +</p> + +<p> +Olga wandte ihr das Gesicht wieder zu. Sie +mühte sich, ein unsicheres Lächeln festzuhalten. +</p> + +<p> +„Als Radomonte Gozaga in Genua einzog – in +<a id="page-211" class="pagenum" title="211"></a> +irgendeinem Rachefeldzug – ich weiß nicht, in welchem +– da trug er ein Wams, auf dem ein Skorpion +gestickt war und darunter sein Spruch: <span class="antiqua">Qui vivens +laedit, morte medetur.</span> Ist das noch keine Antwort?“ +</p> + +<p> +Mette faßte nach Olgas Hand. Sie mußte erst +einen Schleier zerreißen, den die schwer gesprochenen +Worte über sie gebreitet hatten. +</p> + +<p> +„Du bist ja verrückt!“ sagte sie. Aber ihre Stimme +klang nicht klar. Sie mußte eine plötzliche Heiserkeit +wegräuspern. – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Das Knirschen der Bremse lief unter den Wagen +durch. +</p> + +</div> + +<p> +„Die sechste Station!“ sagte Mette geheimnisvoll +mit großen Augen. „Die nächste ist unser Schicksal. +Gebe Gott, daß es keine große Stadt ist!“ +</p> + +<p> +Als der Zug sich wieder in Bewegung setzte, fingen +sie an, sich zum Aussteigen fertigzumachen. Die +nächste Haltestelle konnte in zehn Minuten oder in +einer Stunde erreicht sein. Sie wußten es nicht. +</p> + +<p> +Sie hatten den Handkoffer auf den Sitz heruntergehoben +und standen nebeneinander an der Tür, die +Stirn an die Scheibe gelegt, bemüht, mit den scharfen +Augen das vorübersausende Dunkel zu durchdringen. +</p> + +<p> +„Es ist viel Wald in der Gegend,“ sagte Olga. +„Nadelwald.“ +</p> + +<p> +<a id="page-212" class="pagenum" title="212"></a> +„Ja,“ frohlockte Mette, „darin gehen wir morgen +spazieren.“ +</p> + +<p> +Der Wald hörte auf. Schiefergrauer, wolkiger +Himmel schied sich von weit hingebreiteten, sanft gehügelten +dunklen Feldern. Wieder Bäume, erst vereinzelt, +dann dichter schwarzer Wald, der bis an den +Bahndamm herantrat und nicht ein Streifchen Himmel +mehr über den Gipfeln sehen ließ. +</p> + +<p> +Wieder wurden die Bäume spärlicher, verschwanden. +Wieder breiteten sich Felder in breiten Flächen. +Aber in einer Entfernung, die man nicht schätzen +konnte, wie eingebettet zwischen den sanft geschwungenen +Linien, blinkte ein winziges Licht. Noch eins +... und noch eins ... +</p> + +<p> +„Da ... da! Da!“ rief Mette entzückt. „Ob wir +das sind?“ +</p> + +<p> +„Seltsam,“ sagte Olga, „vielleicht ist eins von diesen +Lichtern morgen unser helles Fenster. Und vielleicht +hat man nach zehn Jahren ein Heimatsgefühl, wenn +man an diesen Lichtlein vorüberfährt. Und jetzt hat +man keine Ahnung, wie der Ort da heißt!“ +</p> + +<p> +Ein Bahnwärterhäuschen glitt vorüber. Hier und +da gleißte ein Stück der blanken Schienen im Lichtschein +einer Laterne auf. Wieder traten Baumbestände +bis dicht an den Zug, aber gelichteter, von vielen +Wegen durchzogen. Dann lief eine Hecke ein Stück +<a id="page-213" class="pagenum" title="213"></a> +mit. Dann vor der beschnittenen Hecke ein hellgestrichenes +Holzstaket. Dahinter, ganz nah, dunkelten +schon die Umrisse einzelner Häuser. Nun kamen +trüb brennende Laternen, eine Barriere, die eine +dunkle, baumbestandene Chaussee abschloß. +</p> + +<p> +Wieder ein Stückchen Wald oder Garten, im Hintergrund +aufblinkend ein Lichtlein nach dem anderen +– schon fuhr der Zug langsam, knirschte, puffte – +hölzerne Säulen schoben sich heran, die ein schmales +Schutzdach trugen ... er hielt. +</p> + +<p> +Olga griff nach dem Handkoffer, drückte die Klinke +auf und sprang die hohen Stufen hinunter. +</p> + +<p> +Mette folgte ihr in einem seltsamen Traumzustand +befangen. Sie war durch die beiden schlaflosen Nächte +überwach, und ihre Sinne schienen, tausendfach geschärft, +jeden Eindruck aufzunehmen. +</p> + +<p> +Der dünne Hauch von Reif, der den Boden, die +Holzstangen überzog, die groben Gesichter von zwei +bäuerlich gekleideten Frauen, die an ihnen vorüberhasteten, +der langgezogene Ruf des Schaffners, das +gemächliche Zuschlagen der Türen, die roten Hände +des Mannes an der Sperre, die aus gestrickten Pulswärmern +herauswuchsen, der kleine dämmerige Raum +mit papierbeklebten Wänden und abgescheuerten Holzbänken, +durch den sie hindurch mußten, das Pfeifen +des abfahrenden Zuges in ihrem Rücken – das alles +<a id="page-214" class="pagenum" title="214"></a> +prägte sich ihrem Gehirn mit unauslöschlicher Deutlichkeit +ein. +</p> + +<p> +Olga stieß eine Tür auf, trat ein paar steinerne +Stufen hinunter, und sie standen auf dem holperigen +Steinpflaster eines großen Platzes, der von dem Licht +des Bahnhofs schwach erhellt war. +</p> + +<p> +Rechts und links war tiefes Dunkel. Soviel man +unterscheiden konnte, kahle zerzauste Laubbäume, ungepflasterte, +aufgeweichte, leicht überfrorene Wege. +</p> + +<p> +Geradeaus sah man in einiger Entfernung etwas, +das aussah wie der Anfang einer Straße. +</p> + +<p> +Olga blieb stehen und sah Metten lächelnd an. +</p> + +<p> +„Nun,“ sagte sie, „graust’s dich schon? Was gäbst +du darum, wenn du jetzt zu Hause unter der Daunendecke +lägst und das elektrische Licht anknipsen +könntest?“ +</p> + +<p> +„Gar nichts!“ sagte Mette trotzig. „Im Gegenteil, +ich finde es hier äußerst gemütlich. Und wenn wir +kein Unterkommen finden, so wäre es mir doch nur +deinetwegen schlimm. Ich hab’ dich ja zu dieser Exkursion +verleitet!“ +</p> + +<p> +„Ach, meinetwegen!“ sagte Olga wegwerfend. +„Meinetwegen können wir die Nacht im Bahnhof auf +den Holzbänken zubringen. Aber wenn du ängstlich +bist, kehren wir um und fragen den Mann an der +Sperre nach einem Gasthaus.“ +</p> + +<p> +<a id="page-215" class="pagenum" title="215"></a> +„Nein,“ drängte Mette. „Nicht fragen! Komm +vorwärts.“ +</p> + +<p> +Nach ein paar hundert Schritten fingen die Häuser +an. Dunkel, verschlafen, ohne ein helles Fenster. +Und ein wenig vereinzelt noch, von Gärten und Ackerstreifen +umgeben. Aber der Weg war mit Katzenköpfen +gepflastert, und nach einer Biegung rückten die +Häuser näher zusammen, schlossen sich zur Straße, die +von flackernden Laternen beleuchtet wurde. +</p> + +<p> +Die Straße erweiterte sich zu einer Art Marktplatz. +Es war ein nüchternes Vieleck, ohne jedes malerische +Gepräge, ohne Linden und ohne rieselnden Brunnen. +An einer Seite fand sich ein langgestreckter, niedriger, +grauer Kasten mit breit herunterreichendem Dach und +vielen Mansardenfenstern. Über der breitgewölbten +dunkeln Toreinfahrt schaukelte ein blecherner Stern, +einem Barbierbecken nicht unähnlich, und darüber ließ +eine große blaue, am schön geschwungenen Arm +schwebende Laterne die aufgenagelten Buchstaben +über dem Rundbogen erkennen. +</p> + +<p> +„Hotel zum blauen Sternen. Gasthaus und Ausspann.“ +</p> + +<p> +„Sogar Hotel,“ sagte Olga, „sieh mal an!“ +</p> + +<p> +Sie suchten nach einer Nachtglocke. Aber sie fanden +noch nicht einmal eine Tür. Neben der Einfahrt war +ein Handgriff, der an einer verrosteten Eisenstange +<a id="page-216" class="pagenum" title="216"></a> +eine große Glocke in Bewegung setzte. Aber er war +in kaum erreichbarer Höhe. Mette bemühte sich. +</p> + +<p> +„Laß nur,“ sagte Olga, „der ist nicht für armselige +Fußgänger wie wir. Außerdem wecken wir die ganze +Stadt. Laß uns lieber einmal von der Innenseite +versuchen.“ +</p> + +<p> +Sie wagten sich in die dunkle Höhlung des Tors. +Aber sie kamen nicht weit. Noch ehe der Gang sich zum +Hof öffnete, versperrte ein riesiger Leiterwagen den +Weg. Aber neben dem Wagen fanden sich ein paar +Stufen und eine kleine hölzerne Tür in der Wand. +Sie ertasteten einen Metallknopf, zogen an ihm und +lösten damit ein kräftig schepperndes Geklingel aus, +das sie fast zusammenschrecken ließ, so jäh zerschnitt es +die tiefe Stille. +</p> + +<p> +Schritte, Stimmen, ein Lichtschein. +</p> + +<p> +Ein verschlafener Mensch erschien in der offenen Tür, +Pantoffeln an den nackten Füßen, in Unterhosen von +graugelber Wolle, über die er höchst merkwürdigerweise +einen Frack gezogen hatte, den er mit der linken +Hand unterm Kinn zusammenhielt, während er in der +erhobenen Rechten einen brennenden Wachsstock trug. +</p> + +<p> +Olga übernahm die Führung der Verhandlung. +</p> + +<p> +Sie erzählte dem schlaftrunkenen Mann eine lange +Geschichte von dem Zug, mit dem sie eben eingetroffen, +und daß ihr das Hotel zum blauen Sternen schon in +<a id="page-217" class="pagenum" title="217"></a> +Berlin empfohlen, sie bedauerte, ihn in seinem Schlaf +gestört zu haben, aber der Zug käme zu so ungünstiger +Zeit hier an, und sie hätten doch nicht auf der Straße +bleiben können, und am Bahnhof hätte man sie natürlich +auch hierher gewiesen. +</p> + +<p> +Der Mann ermunterte sich so weit, daß er „Einen +Augenblick, bitte!“ sagte, verschwand und sie stehen +ließ. +</p> + +<p> +Sie sahen sich lachend an und warteten geduldig. +Nach einer Weile wurde oben auf der Treppe eine in +offener Schale brennende Gasflamme entzündet, und +der Mann erschien wieder, jetzt mit schwarzen Hosen +angetan. +</p> + +<p> +Daß er ein kragenloses Wollhemd und weder Weste +noch Strümpfe anhatte, hinderte ihn nicht, eine gewisse +Gewandtheit der Bewegungen zu zeigen, die ihn +sofort als den „Ober“ verriet. +</p> + +<p> +Er führte sie in ein großes dunkles und kaltes +Zimmer, schwang sich auf einen Polstersessel und entzündete +eine Gasflamme. Es war entschieden das +Fürstenzimmer des blauen Sternen. +</p> + +<p> +Die hohen und breiten Betten, das wuchtige Plüschsofa +verschwanden fast in dem weiten Raum. Zwischen +den Fenstern prangte ein großer goldgerahmter +Spiegel, auf dessen Konsole ein Makartstrauß unter +einer Glasglocke stand, und die Wände zierten +<a id="page-218" class="pagenum" title="218"></a> +zahlreiche Buntdrucke, die meisten in dicken Goldrahmen. +</p> + +<p> +Der „Ober“ bückte sich und steckte einen Gasofen an. +Eine ganze Reihe spitzer blauer Flämmchen puffte +auf, spiegelte sich in einer Nische aus gerieftem Kupfer +und warf einen warmen rötlichen Schein auf den abgeschabten +Teppich. +</p> + +<p> +„Herrlich!“ sagte Olga und warf ihre Handschuhe +auf den großen, runden, plüschüberdeckten Tisch. +„Jetzt wird es auch noch warm hier, dann ist es einfach +ideal. Nein, Herr Ober, wir brauchen weiter +nichts. Danke schön, wenn wir morgen früh vielleicht +auf dem Zimmer frühstücken können? – Hier ist die +Klingel – ja, herrlich. Danke schön! Gute Nacht!“ +</p> + +<p> +Die Tür schloß sich hinter ihm. +</p> + +<p> +„Wundervoll!“ sagte Olga und reckte übermütig +die Arme. +</p> + +<p> +„Ist das dein Ernst?“ fragte Mette zaghaft. „Ich +denke immer, dein Schönheitssinn muß Qualen leiden! +Diese Bilder ... und das Makartbukett und die +Plüschgarnitur ...“ +</p> + +<p> +„Prachtvoll!“ sagte Olga. „Das <em>muß</em> doch überhaupt +so sein. Ich wäre geradezu enttäuscht, wenn +diese kämpfenden Hirsche nicht hier wären, oder die +duftigen Empiremädchen unter dem blühenden Apfelbaum. +Glaubst du, ich möchte im Hotel zum blauen +<a id="page-219" class="pagenum" title="219"></a> +Sternen Chippendale-Möbel finden oder einen Kokoschka? +Gott soll mich bewahren! Ich finde es einfach +himmlisch!“ +</p> + +<p> +Mette packte den Handkoffer aus, breitete Nachthemden +über die Betten, stellte Flaschen und Dosen +auf den Waschtisch. Olga ging mit unhörbaren +Schritten im Zimmer hin und her, pfiff mit leisen, +süßen Flötentönen vor sich hin, blieb vor jedem Bild +stehen, betrachtete es mit kindischem Entzücken und +erzählte eine lange romantische Geschichte dazu. +</p> + +<p> +„Hier!“ sagte Mette und legte ihren seidenen +Kimono über einen Stuhl, „den kannst du anziehen.“ +</p> + +<p> +„Und du?“ +</p> + +<p> +„Ich hab’ noch einen Frisiermantel, der genügt +mir.“ +</p> + +<p> +Olga legte Rock und Bluse ab und wickelte sich in +den Kimono. +</p> + +<p> +„Wundervoll,“ sagte sie, „nun müßte ich nur noch +warme Füße haben und die Haarnadeln aus dem +Kopf. Dann bin ich wunschlos glücklich.“ +</p> + +<p> +Sie rollte einen Sessel vor den Gasofen und fing +an, sich die hohen Stiefel aufzuschnüren. +</p> + +<p> +„Soll ich dir helfen?“ fragte Mette dienstbereit. +</p> + +<p> +„Das fehlte noch!“ sagte Olga empört. „Nicht +einem Dienstmädchen würd’ ich das zumuten!“ +</p> + +<p> +„Das ist auch etwas anderes,“ sagte Mette lächelnd. +<a id="page-220" class="pagenum" title="220"></a> +„Es ist eine Auszeichnung, die man einem Dienstmädchen +nicht gönnen darf.“ +</p> + +<p> +„Du bist ja verrückt!“ Über Olgas Gesicht schoß +wieder das dunkle flüchtige Rot. +</p> + +<p> +Sie hatte jetzt auch die dünnen seidenen Strümpfe +abgestreift und hielt die nackten Füße gegen die +Flammen. Sie hob die Arme und zog langsam Nadel +auf Nadel aus dem Haar, bis die schweren schwarzen +Strähnen ihr über den Rücken stürzten. +</p> + +<p> +Mette sprang auf einen Stuhl und drehte die Gasflamme +aus. +</p> + +<p> +„So!“ sagte sie lachend, „nun kannst du dich malen +lassen oder gleich öldrucken und dich goldgerahmt an +die Wand hier hängen. Unterschrift: <span class="antiqua">Au coin du feu</span>, +oder die Hexe, oder Feuersgluten, oder sonst was +Gutes. Wie kann ein Mensch so unverschämt schön +sein?!“ +</p> + +<p> +„So!“ sagte Olga trocken. „Das hast du hübsch gemacht. +Jetzt haben wir keine Streichhölzer.“ +</p> + +<p> +„Erstens genügt mir die Beleuchtung,“ sagte Mette +und setzte sich auf die Erde in den rötlichen Feuerschein, +„und zweitens können wir uns hier immer einen +Fidibus anstecken. Wenn wir nichts anderes finden, +nehmen wir einen Hundertmarkschein. Davon haben +wir ja genug ... Kind, was hast du für märchenhafte +Füße ... aber kalt sind sie immer noch wie Eis!“ +</p> + +<p> +<a id="page-221" class="pagenum" title="221"></a> +Sie legte beide Hände um Olgas Fuß. Er war so +edel geformt, so schön in Linie und Farbe, als hätte +eine Meisterhand ihn aus Marmor gebildet, aber er +war auch so kalt und schwer wie Stein. +</p> + +<p> +Mette versuchte, ihn in ihren Händen zu wärmen, +sie hauchte darauf, und dann konnte sie der Versuchung +nicht widerstehen, sie legte die Lippen auf die kühle, +glatte, weiße Haut. +</p> + +<p> +Olga machte sich los, sprang auf und lief durch das +dunkle Zimmer bis nach dem Fenster. +</p> + +<p> +„Olla,“ sagte Mette erschrocken und stand zögernd +auf. „Was ist dir denn? Was hast du denn?“ +</p> + +<p> +Es kam keine Antwort. Mette ging ihr nach. Aber +als sie ans Fenster kam und die Hand nach ihr streckte, +lief Olga wie gejagt nach der Wand. +</p> + +<p> +Sie stand in die Ecke gedrückt und Mette vertrat ihr +den Weg. +</p> + +<p> +Das schöne blasse Gesicht schimmerte unheimlich +durch das Dunkel. In den angespannten Zügen lag +Angst und Drohung zugleich, wie bei einem angeschossenen +Tier, das sich umstellt sieht und sich verzweiflungsvoll +zur Wehr setzt. +</p> + +<p> +Mette erschrak vor dem Ausdruck des gepreßten +Mundes, der dunkel lohenden Augen. Sie legte zaghaft +die Hand auf Olgas über der Brust gekreuzte +Arme. +</p> + +<p> +<a id="page-222" class="pagenum" title="222"></a> +Olga zuckte zusammen und drückte sich tiefer in die +Ecke. +</p> + +<p> +„Geh doch!“ sagte sie mit zusammengebissenen +Zähnen. „Laß mich doch in Ruh!“ +</p> + +<p> +„Du sollst nicht mit den nackten Füßen auf der +bloßen Diele stehen,“ bat Mette, den Tränen nahe. +„Du erkältest dich zu Tode. Ich will ja nichts, als daß +du dich an den Ofen setzest. Dann kann ich mich ja +auf den Korridor vor die Tür schlafen legen, oder ich +kann mir ein anderes Zimmer geben lassen, oder ich +kann aus dem Fenster springen. Aber komm aus der +Ecke heraus, ich kann es nicht mehr mit ansehen.“ +</p> + +<p> +Sie faßte sie an beiden Schultern, aber Olga schüttelte +ihre Hände von sich ab. +</p> + +<p> +„Laß mich doch!“ sagte sie böse. „Siehst du denn +nicht, daß du mich zu Tode marterst? Wie kann ein +Mensch so wahnsinnig grausam sein?“ +</p> + +<p> +Die Stimme brach ihr, und ganz jählings stürzten +die Tränen über ihr Gesicht. +</p> + +<p> +Jetzt konnte sich Mette nicht mehr beherrschen. Auch +ihre Augen liefen über. +</p> + +<p> +„Ich verstehe dich nicht!“ sagte sie mit zitternden +Lippen. „Wenn ich dir so zuwider bin, daß du mich +nicht erträgst, warum bist du dann hier? Warum gibst +du dich dann überhaupt mit mir ab? Man kann nicht +einen Menschen gern haben, dessen Nähe einen derart +<a id="page-223" class="pagenum" title="223"></a> +quält! Ich weiß ja aber auch, warum du mich nicht +leiden kannst!“ +</p> + +<p> +„Warum?“ fragte Olga erstaunt. +</p> + +<p> +Mette schüttelte stumm den Kopf und kämpfte die +Tränen hinunter. +</p> + +<p> +„Warum soll ich dich nicht leiden können?“ forschte +Olga drängender. „Antworte! Ich will das jetzt +wissen.“ +</p> + +<p> +Mette vermied es immer noch, sie anzusehen. +</p> + +<p> +„Weil ich dich zu sehr liebe!“ sagte sie bitter und +traurig. „Es muß furchtbar sein, von einem Menschen +geliebt zu werden, den man nicht liebt! Beinah +ekelhaft!“ +</p> + +<p> +„Du Schaf,“ sagte Olga und strich ganz weich mit +der Hand über Mettens Haar. +</p> + +<p> +„Ach, laß,“ sagte Mette und entzog sich der streichelnden +Hand. „Man muß sich nicht zwingen.“ +</p> + +<p> +Olga ließ den Arm schwer herabsinken. +</p> + +<p> +„Man muß sich doch zwingen,“ sagte sie leise +und mühsam atmend. „Wenn ich mich jetzt nicht +zwingen würde, würd’ ich dich so mit Zärtlichkeiten +ersticken, daß du zu Tod erschrecken tätst und davonlaufen.“ +</p> + +<p> +Mette fühlte die Adern in ihrem Hals schlagen, daß +sie kaum atmen konnte. Sie versuchte zu lächeln, +während noch die Tränen von ihren Lidern rollten. +</p> + +<p> +<a id="page-224" class="pagenum" title="224"></a> +„Tu es nicht,“ sagte sie, „ich würde ganz bestimmt +nicht davonlaufen. Aber vielleicht würde ich wahnsinnig +vor Glück!“ +</p> + +<p> +Da hob Olga langsam die beiden weißen, schlanken +Arme und legte sie um Mettens Schultern. Mette +fühlte den wohltuend kraftvollen Druck fester und +fester werden. +</p> + +<p> +Jetzt, da Olga auf bloßen Füßen stand, waren ihre +Gesichter fast in gleicher Höhe. +</p> + +<p> +Sie bohrten die Augen ineinander, ernsthaft und +unverwandt und spürten in allen Adern das rasende +Hämmern ihrer Herzen. +</p> + +<p> +Dann neigten sie sich gegeneinander wie zwei Verdurstende +und legten Mund auf Mund. +</p> + +<p> +Sie ließen einander nicht mehr los. Sie küßten sich +nur immer durstiger eins am anderen. Sie gingen +durch das Zimmer aneinandergeschmiegt, sie saßen +auf dem Bettrand ineinander verschlungen. Die Kleider +glitten von ihnen nieder, achtlos, blieben auf der +Erde liegen. +</p> + +<p> +Die groben und feuchten Laken atmeten Schauer der +Kühle. Sie spürten es kaum, so brannte das Blut +in ihren jungen Leibern. +</p> + +<p> +Sie drängten sich aneinander, als wollten sie ineinander +übergehen, verschmelzen, eins werden. +</p> + +<p> +Ihre schlanken, geschmeidigen Glieder flochten sich +<a id="page-225" class="pagenum" title="225"></a> +ineinander, wie Bäume des Urwalds unlöslich sich +ineinander verschlingen. +</p> + +<p> +Sie sprachen nichts. Aber wie rauschende Musik +hörte eines des anderen dröhnenden Herzschlag und +das rasche und raschere Atmen. +</p> + +<p> +Ihre Leiber bäumten sich gegeneinander wie wilde +Tiere, wenn sie an Käfiggittern rütteln. Sie gruben +einander die Nägel in die Glätte der Haut und +schlugen einander die Zähne in die geschwellten +Muskeln. +</p> + +<p> +Und sie lagen aneinandergeschmiegt wie müde gespielte +Kinder, und ihre Lippen berührten des anderen +Lider und Wangen so sanft, so leise, wie Schmetterlingsflügel +schwankende Blüten. +</p> + +<p> +„Kleines,“ sagte Olga, und alle Glocken schwangen +in ihrer Stimme. „Mein Schönes, mein Gutes!“ +</p> + +<p> +„Oh, du!“ sagte Mette. „Du Wunder des Himmels. +Was bist du nur? Bist du ein wildes Tier +... oder ein Gott ... oder der Geist einer weißen +Orchidee?“ +</p> + +<p> +„Ich weiß nicht,“ sagte Olga. „Ich glaube, daß +ich ein Gott bin. Aber vor einer Stunde war ich ein +armes gepeinigtes Tier. Bist du nicht stolz, kleines +Mädchen, daß du solche Wunder tun kannst?“ +</p> + +<p> +„Ich wollte, ich könnte Wunder tun,“ sagte Mette +sehnsüchtig. +</p> + +<p> +<a id="page-226" class="pagenum" title="226"></a> +Ein hartes Lächeln flog um Olgas Mund. +</p> + +<p> +„Dann würdest du mich in einen Mann verwandeln!“ +sagte sie. +</p> + +<p> +„Um Gottes willen!“ rief Mette und schlang erschrocken +beide Arme um sie. „Nie, nie, nie! ... +Aber wenn ich Wunder tun könnte, so würde ich diese +Nacht niemals aufhören lassen. Ich würde sie dauern +lassen in alle Ewigkeit!“ +</p> + +<p> +Der rote Schein des Kupfers hinter den Gasflämmchen +erhellte das ganze Zimmer mit warmem +Dämmerlicht. Die spitzen Flämmchen zitterten leicht, +und der helle Fleck auf dem bunten abgetretenen Teppich +zitterte mit. +</p> + +<p> +Olga richtete sich auf den Ellbogen auf und stützte +den Kopf in die Hand. Zwischen den weißen Fingern +hindurch rieselten die Strähnen des schwarzen Haares. +Aus dem blassen Gesicht leuchteten die helldunklen +Augen in unendlicher Hoheit und Klarheit wie zwei +Sterne. +</p> + +<p> +„Ewig!“ sagte sie leise. „Alles, was Gottes ist, ist +ewig. Fühlst du nicht, daß diese Nacht Gott gehört? +Zeit ist eine Erfindung des Teufels. Der Satan hat +die Vergänglichkeit erfunden, um die Menschen von +Gott abtrünnig zu machen. Aber Gott blieb ewig, +und Gottes Herrlichkeit bleibt ewig. Da hat Satan +alles mögliche andere erfunden: Krankheit, Schmerz, +<a id="page-227" class="pagenum" title="227"></a> +Ungeziefer und Geld ... vor allem das Geld. Aber +nun war Zeit da und Vergänglichkeit da. Und ließ +sich nicht wieder ungeschaffen machen. Und haftet +nun an allen Erfindungen des Teufels. Aber, was +Gottes ist, ist ewig. Immer verlöscht neues Glück die +alte Qual, als wäre sie nie gewesen. Aber das Glück +bleibt. Und keine Qual kann es ungeschehen machen. +– Ich würde sterben vor Scham, wenn ich dächte, daß +nur die Nervenenden unserer Haut unter unseren +Händen vibrieren. Spürst du nicht, daß deiner Seele +etwas geschehen ist, was ihr bleiben muß über allen +Tod hinaus? Spürst du nicht, daß diese Stunde dich +weit mehr verändert hat, als dich das bißchen Sterben +verändern kann?“ +</p> + +<p> +„Ja,“ sagte Mette. „Und mehr als das bißchen +Geborenwerden auch. Heut’ bin ich geboren worden +und nicht vor zwanzig Jahren. Jetzt kann ich zum +erstenmal mit Bewußtsein sagen: Ich lebe!“ +</p> + +<p> +„Wir leben!“ sagte Olga, sie an sich reißend, +mit einem Aufjauchzen in der Stimme, das klang +wie der frohlockende Ruf eines auffliegenden Wildvogels. +</p> + +<p> +„Wir leben, Süßes. Ewig, ewig, ewig leben wir!“ +– – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +<a id="page-228" class="pagenum" title="228"></a> +Als Mette am anderen Morgen aufwachte, schien +eine helle, fröhliche Wintersonne ins Zimmer. +</p> + +</div> + +<p> +Ihr erster Gedanke suchte Olga. Sie war nicht da. +Auch ihr Mantel hing nicht mehr am Haken. Ein +jähes Erschrecken schlug sie. Sie war fort, für immer, +kam nicht wieder, war <a id="corr-3"></a>unwiederbringlich verloren. +</p> + +<p> +Mette sprang aus dem Bett, mit einemmal hellwach. +</p> + +<p> +Da sah sie Olgas Hut und Handschuhe. Sie nahm +die Handschuhe vom Tisch, streichelte sie und preßte +sie an die Wange. Von dem weichen grauen Leder +schien ein Strom von Freude und Beruhigung auszugehen. +Es war kein Traum und kein Zauberspuk. +Sie war dagewesen, sie würde wiederkommen – noch +zeigten die Handschuhe die Form ihrer schönen schlanken +Hände, waren noch wie erfüllt von ihrem +Leben ... +</p> + +<p> +Von unten herauf drang ein wohlbekanntes knirschendes +und schrapendes Geräusch. +</p> + +<p> +Mette lief auf bloßen Füßen zum Fenster und zog +den dicken weißen Köpervorhang ein wenig zur Seite. +Auf den Fensterbrettern lag ein dickes Polster von +weißem Schnee. Die niedrigen Häuser drüben hatten +Dächer von blendendem Weiß und darüber funkelte +ein Himmel von reinstem Blau. +</p> + +<p> +Vorm Hotel kratzte der Hausknecht mit dem Schneeschieber +<a id="page-229" class="pagenum" title="229"></a> +einen dunklen Weg in den weißen Teppich, +und neben ihm stand Olga, den Mantel offen, beide +Hände in den Taschen vergraben, den Kopf ein wenig +vorgeneigt und führte eine angelegentliche Unterredung +mit dem alten Mann. +</p> + +<p> +Mette sah eine Weile hinunter und freute sich an +jeder Linie ihrer Gestalt. Sie sah sie sprechen und +glaubte den Ton ihrer Stimme zu hören. Sie dachte +darüber nach, was sie sich mit dem Hausknecht wohl +zu erzählen haben könne. Sie bewunderte die +Gabe an ihr, mit allen Leuten ein Gespräch anzuknüpfen +und jedem gegenüber den richtigen Ton zu +treffen. +</p> + +<p> +Mette kannte das an ihr. Wenn sie bei Laune war, +wirkte sie so unwiderstehlich, daß der brummigste +Kellner oder Schaffner sie anstrahlte. +</p> + +<p> +Nach ein paar Sekunden sah Olga plötzlich hinauf, +sie mußte Mettens Blick gefühlt haben. Sie sah +Metten am Fenster stehen oder sah vielleicht auch nur +die verschobene Gardine, winkte mit der Hand und +lief ins Haus. +</p> + +<p> +Sie brachte einen Hauch von frischer Schneeluft ins +Zimmer. Ihre Augen waren hell und durchsichtig wie +Eis und hoben sich scharf ab von der schwarzen Pupille, +und auf ihrem weißen Gesicht lag ein ganz leichter +Schimmer von rosiger Farbe. +</p> + +<p> +<a id="page-230" class="pagenum" title="230"></a> +„Wo kommst du her, du Rumtreiber?“ fragte +Mette. +</p> + +<p> +„Ausgeschlafen, mein Deern?“ fragte Olga zur Antwort. +„Ich war schon spazieren. Ich war in der +Stadt. Ich wollte dir Blumen auf den Frühstückstisch +stellen. Aber Blumen im Winter – so sündhafte +Dinge kennt man hier nicht. Herr Thielemann hat +nur Stechapfelkränze mit Wachsrosen. Aber eine +Konditorei ist da drüben, so mit einer Geländertreppe +vor der Tür, weißt du? Und einem goldenen Kringel +in der Luft! Und es roch nach frischem Brot. Mach +dich schnell fertig, Mettulein, ich habe einen wahnsinnigen +Hunger.“ +</p> + +<p> +Sie frühstückten auf dem Zimmer. +</p> + +<p> +Dann drängte Mette zum Spazierengehen. Schnee +und Sonne lockten sie hinaus. +</p> + +<p> +„Du mußt erst an deinen Vater schreiben,“ sagte +Olga ernsthaft. +</p> + +<p> +„Ja,“ sagte Mette und schnitt eine Grimasse. „Du +willst keine Verantwortung übernehmen – ich weiß +schon.“ +</p> + +<p> +Sie setzte sich hin und schrieb einen langen und +wohlüberlegten Brief. Sie bat um Verzeihung. Sie +schilderte die Vorgänge bei Onkel Jürgen mit viel +Humor. Sie nannte ihren Aufenthalt, bat ihren +Vater herzlich, sie hier zu lassen, wo sie sich wohl fühle +<a id="page-231" class="pagenum" title="231"></a> +und niemandem im Wege sei. Bat ihn, ihr zu glauben, +daß sie ein reifer und klarer Mensch sei und +genau wisse, was zu ihrem Besten wäre. Bat ihn, +das Geld, das Onkel Jürgen ihr unfreiwillig geliehen, +zurückzuzahlen – die kurze Zeit bis zu ihrer Mündigkeit +sie zu unterstützen oder ihr einen Vorschuß auf +das großmütterliche Erbe auszahlen zu lassen. – +Aber davon, daß sie nicht allein sei, schrieb sie kein +Wort. +</p> + +<p> +Sie trugen den Brief zusammen nach der Post. +Olga wußte schon den Weg dahin. Als der Umschlag +in den blauen Kasten versenkt war, atmete sie auf und +nahm Mettens Arm. +</p> + +<p> +„Komm,“ sagte sie, „was zu tun war, ist getan. +In drei Tagen kann die Antwort da sein. Aber die +drei Tage wollen wir genießen.“ +</p> + +<p> +„Glaubst du,“ sagte Mette mit finsterer Stirn, „daß +eine Macht der Welt mich zwingen kann, nach Hause +zurückzugehen? Wenn sie mir kein Geld schicken, geh +ich als Waschfrau oder als Nähmädchen, oder ich +mache Schulden.“ +</p> + +<p> +„Ich weiß nicht,“ sagte Olga. „Ich weiß nur, solange +dieser Brief noch unterwegs ist, sind wir sicher. +Kein Mensch weiß, wo wir sind – das ist ein herrliches +Gefühl – als ob man hinter Mauern und +Gräben säße. Wenn der Brief erst angekommen ist, +<a id="page-232" class="pagenum" title="232"></a> +dann ist die Zugbrücke heruntergelassen – was dann +geschieht, das weiß ich nicht. Nichts weiß ich, nichts, +nichts, nichts! Aber es ist immerhin möglich, daß +wir in Stücke gerissen werden.“ +</p> + +<p> +„Warum haben wir die Zugbrücke heruntergelassen?“ +fragte Mette stehenbleibend. „Warum hast +du mich gezwungen zu schreiben?“ +</p> + +<p> +Olga lächelte schwermütig. +</p> + +<p> +„<em>Weil ich die Verantwortung nicht +übernehmen will!</em>“ sagte sie, mit einem Versuch +zu scherzen. – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Sie gingen durch die breiten Straßen mit den +kleinen, niedrigen Häusern. Einen besonderen Reiz +hatte es, die Schaufenster zu betrachten. +</p> + +</div> + +<p> +Wo ein kleiner Laden sichtbar wurde, mußten sie +über den Damm laufen und die Auslagen mustern. +Da war ein Korbflechter und Bürstenmacher. Da +war ein Schuhmacher, der einen halbmeterlangen +Filzschuh in seinem Fenster hatte und daneben einen +winzigen nadelspitzen Ballschuh aus verstaubtem +perlgestickten Rosaatlas. +</p> + +<p> +„Ein Märchen!“ sagte Olga begeistert. „Sieh nur, +ein Schuhmacher, der Märchen dichtet. Und er weiß +es. Ganz sicher, er weiß es!“ +</p> + +<p> +<a id="page-233" class="pagenum" title="233"></a> +Da war ein Geschäftchen mit Kurz-, Weiß- und +Wollwaren. Girlanden von Handschuhen und Kinderjäckchen +hingen im Fenster. Wasserfälle von Maschinenspitzen +stürzten hernieder. Nähgarne und +Häkelwolle legten sich zu symmetrischen Figuren. Und +überall dazwischen hingen weiße Pappschildchen: +„Hier werden Puppen zu Weihnachten angezogen.“ +„Hier werden Gardinen kunstgestopft.“ „Unterricht in +allen weiblichen Handarbeiten.“ „Hier wird Klavierunterricht +erteilt, gründlich und gewissenhaft, für Anfänger +und Fortgeschrittene.“ „Hier werden Strümpfe +mit der Maschine angestrickt.“ +</p> + +<p> +„Geschwister Basch,“ sagte Olga und sah zu dem +Firmenschild auf. „Sicher sind es zwei alte Schwestern. +Die eine hat einen Mops und die andere einen +Kanarienvogel. Oh, in solchen Städten gibt es noch +Möpse! Die eine, die den Klavierunterricht erteilt, +das ist eine schönheitsdurstige Seele. Sie hat sicher +einmal von Ruhm und Beifall geträumt, als sie mit +fünfzehn ‚<span class="antiqua">La prière d’une vierge</span>‘ spielte. Und die +andere, die praktische, vielleicht von einem Mann und +sieben Kindern. Und nun sitzen sie hier und trösten +sich miteinander. Vielleicht hat die praktische ein aufopferungsfreudiges +Gemüt und hat den einzigen in +Betracht kommenden Mann ausgeschlagen, nur um +ihre Schwester nicht zu verlassen. Die mit dem +<a id="page-234" class="pagenum" title="234"></a> +Klavierunterricht, das ist sicher auch die, die die Puppen +anzieht. Aber die andere strickt die Strümpfe an. +Weißt du, ich möchte in einer Novelle den Tag beschreiben, +da die Strickmaschine ins Haus kam. Wahrscheinlich +haben sie zehn Jahre daraufhin gespart – +und dann haben sie sie gefürchtet und geliebt – so ein +bißchen wie Teufelsspuk und Feenzauber – ach, vielleicht +wäre es gut, ein solcher Mensch zu sein ... oder +ob sie ganz klein und neidisch und giftig sind?“ +</p> + +<p> +Da war ein Kaufmannsladen, ein „Kolonialwarenhändler“, +es war erstaunlich, was sein Fenster für +eine prunkvolle Ausstattung aufwies. Getrocknete +Aprikosen bildeten Sterne auf weißem Reis. Grotten +aus Zuckerkand türmten sich auf, mystisch erhellt durch +Fenster aus roter Gelatine. Da war ein See aus +Stanniol, auf dem ein kleiner hohler Schwan mit aufgeplatztem +Rücken schwamm. Da waren tausend +bunte Dinge, und wie um die Farbenpracht zu mildern, +lag über allem eine gleichmäßige graue Staubschicht +– eingefressener, unverwüstlicher, wohlberechtigter +Staub. +</p> + +<p> +Und dann, ganz am Ende der Stadt, wo die Häuser +vereinzelt standen und das Pflaster aufhörte und die +Hühner gackernd über den Weg liefen, da war ein +ganz kleiner Laden, der hatte in seinem schmalen +Fensterchen alles – alles, was das Herz nur begehren +<a id="page-235" class="pagenum" title="235"></a> +konnte. Hohe Gläser mit bunten Bonbons und blaue +Glanzpapiertafeln mit Zwirnknöpfen, Kränze von getrockneten +Feigen und Postkarten, auf denen liebende +Paare in flammenden oder blumenumkränzten Herzen +sich küßten. Schnürsenkel und saure Gurken, Schuhwichse +und Backpulver und irdene Töpfchen und +Kämme und ... +</p> + +<p> +„Abziehbilder!“ sagte Olga mit andächtigem Entzücken. +„Sieh nur, Mette, veritable Abziehbilder! +Ganz richtig mit dem blauen Hauch darüber, mit dem +mystischen Schleier, daß man nur ahnen kann, was +daraus wird, wenn sie abgezogen sind. Oh, es war +kein Kachelofen vor meinen Abziehbildern sicher! +Wer sie immer nur hübsch auf einem Tisch verarbeitet +hat, ahnt gar nicht, wie schwer es ist, sie auf einer +senkrechten Fläche anzubringen. Sie waren immer +durcheinander gerutscht. Ich glaube, ich hatte keine +ruhige Hand. Ob ich es jetzt besser könnte? Ich +bitte dich, Mette, um aller Heiligen willen, geh hinein +und kauf mir für einen Groschen Abziehbilder – +aber ein Bogen mit Schiffen muß dabei sein.“ – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Hinter den letzten Häusern fing die Landstraße an: +Breit, gerade, mit kahlen Bäumen bestanden, schneebedeckte +Felder rechts und links, am Horizont ein +Streifen dunkelblauen Waldes. +</p> + +</div> + +<p> +Sie schritten scharf aus. Der Schnee knirschte unter +<a id="page-236" class="pagenum" title="236"></a> +ihren Schuhen. Bei jedem Schritt flogen krächzende +Krähen vor ihnen auf, der Wind rauschte in den Telegraphendrähten +und blies manchmal eine Schneelast +von einem Zweiggewirr auf sie herab. Der unberührte, +unbetretene Schnee war weich wie Watte +und blitzte in der Sonne wie zerstoßenes Glas. +</p> + +<p> +Der Wald, der so fern erschienen war, schien ihnen +entgegenzulaufen. +</p> + +<p> +Hundert Schritte davor bog die Landstraße ab. Aber +ein breiter Weg führte hinein. Das Stückchen über +das freie Feld war kaum als Weg zu erkennen, so +schneeverweht war es. Aber drüben tat sich in den +hohen schneebedeckten Tannen eine Öffnung auf, +wie der Eingang zu einem Tunnel. Da strebten +sie hin. +</p> + +<p> +Als der Wald sie umfing, wurde es mit einem +Male still und warm – so warm, daß ihre windgepeitschten +Gesichter anfingen zu brennen. +</p> + +<p> +Hoch über ihnen in den Wipfeln rauschte der Wind +und schüttelte zuweilen silberne Sterne auf den +dunklen Boden. Aber sein kalter Atem traf sie nicht. +</p> + +<p> +Sie wanderten in versunkenem Schweigen. Nur +wenn bunte Meisen vor ihnen herflatterten oder ein +Eichhörnchen an einem Stamm hinaufflitzte, machte +eines das andere durch ein Flüstern, durch eine Bewegung +aufmerksam. Und wenn dann ihre Blicke sich +<a id="page-237" class="pagenum" title="237"></a> +trafen, dann blieben sie ineinander hängen, bis sie +lächelten und die Augen schlossen – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +„Aha! Da ist es!“ sagte Olga nach einer guten +Weile. +</p> + +</div> + +<p> +„Was? Wo?“ fragte Mette erstaunt. +</p> + +<p> +Olga wies mit der Hand vorwärts. Zwischen den +Stämmen wurde plötzlich eine rote Backsteinmauer +sichtbar. +</p> + +<p> +„Hast du denn gewußt, wo wir hingehen?“ wunderte +sich Mette. +</p> + +<p> +„Natürlich, Kind! Ich werde dich doch nicht aufs +Geratewohl in der Irre herumführen. Dieses muß +nach menschlichem Ermessen der Waldkater sein. Im +Sommer gibt’s hier Kaffeekochen, Musik und Tanzvergnügen. +Im Winter kriegen wir vielleicht was +zu essen – wenn wir Glück haben. Das hat mir alles +unser Hausknecht heute früh erzählt. Außer seiner +Lebensgeschichte – – es gibt so ein schönes Märchen +– – Bechstein, glaub’ ich – – von der verwunschenen +Mühle, wo nur der Esel, die Katz und die +Taube sind. Und noch irgendein Tier. Siehst du, da +fliegt die Taube auf, und da ist die Katz. Aber kein +Mensch zu erblicken. Graust dir’s schon, Mette? Ganz +sicher, die Katze will uns was sagen!“ +</p> + +<p> +Sie durchschritten eine Art Wirtschaftshof und rüttelten +an ein paar verschlossenen Türen. +</p> + +<p> +<a id="page-238" class="pagenum" title="238"></a> +„Es kann nicht ausgestorben sein,“ sagte Olga und +deutete auf ein Rauchwölkchen, das aus dem Schornstein +aufstieg. „Oder die Katz hat Feuer angemacht. +Aber wenn sie das kann, kann sie uns auch was zu +essen kochen.“ +</p> + +<p> +Sie fanden eine Tür offen. Durch einen leeren +und kalten Saal, von dessen Decke zerfetzte und verstaubte +Papiergirlanden herunterhingen, kamen sie +an eine andere Tür, die einem Druck auf die Klinke +nachgab. Dieser nächste Raum war erfüllt von behaglicher +Wärme und durchdringendem Kohlgeruch. Ein +eiserner Ofen fauchte glühende Luft und auf ihm +brodelte ein blauer Emailletopf mit einem dampfenden +Inhalt. An einem der Tische, breit aufgestützt, +saß eine grobknochige Magd und messerte ihr Kohlgericht +aus einem blechernen Napf. +</p> + +<p> +„Guten Tag, Fräulein Anna,“ sagte Olga strahlend +liebenswürdig. „Na, wie geht’s Ihnen denn? +Schmeckt’s?“ +</p> + +<p> +Das Mädchen stand langsam auf und grinste. +</p> + +<p> +„Ich heiß’ nicht Anna,“ sagte sie, „die vorvorige war +die Anna. Ich heiß’ Berta.“ +</p> + +<p> +„Schön warm haben Sie’s hier, Fräulein Berta.“ +Olga zog die Handschuhe aus und hielt die Finger +vor die Ofenglut. „Und herrlich riecht’s hier nach +<a id="page-239" class="pagenum" title="239"></a> +Kraut. Wollen Sie uns nicht was abgeben von +Ihrem Mittagbrot?“ +</p> + +<p> +Das grinsende Mädchen wischte mit der Schürze +über einen Tisch. +</p> + +<p> +„Wenn die Damen was zu essen haben möchten, +kann ich ja mal die Frau fragen.“ +</p> + +<p> +„Herrlich, Fräulein Berta! Und wenn wir was zu +trinken kriegen könnten – einen Grog oder Glühwein +oder sonst so was Gutes.“ Olga blinzte dem Mädchen +zu, als hätte sie ihr ein Geheimnis anvertraut. „Wir +sind nämlich mächtig durchgefroren.“ +</p> + +<p> +Sie stemmte die Füße gegen den heißen Ofen, daß +die nassen Sohlen anfingen zu zischen. +</p> + +<p> +„Sagen Sie, was ist eigentlich aus der Anna geworden? +Daß ich Sie verwechselt habe! Die war ja +viel kleiner als Sie!“ +</p> + +<p> +„Ja,“ sagte Berta, „die war man schwächlich. Sie +hat geheirat’t.“ +</p> + +<p> +„Geheiratet?“ sagte Olga überrascht. „Sieh mal +an! Dabei war sie doch gar nicht mal so hübsch.“ +</p> + +<p> +„Ne,“ sagte Berta, „hübsch war sie nich. Un +schwächlich war sie auch man. Aber sie hatte ’n +Mundwerk, ’n Mundwerk hatte sie. Un das sticht +manch einen ins Auge.“ +</p> + +<p> +Olga blieb ganz ernst. +</p> + +<p> +„Na, lassen Sie man, Berta,“ sagte sie begütigend, +<a id="page-240" class="pagenum" title="240"></a> +„Sie werden ja auch bald heiraten. Es ist doch immer +das beste. Man will ja gerne schuften. Aber es ist +doch immer was anderes, wenn man für die eigene +Wirtschaft schuftet.“ +</p> + +<p> +„Ja,“ sagte Berta überzeugt und blieb eine Weile +gedankenvoll mit offenem Munde stehen, „nun will ich +aber mal nach was zu essen fragen.“ +</p> + +<p> +Damit machte sie kehrt und schoß hinaus. +</p> + +<p> +„Herrlich,“ sagte Olga und witterte wie ein Jagdhund +mit erhobener Nase. „Es riecht so gut nach +Kraut und Hammelfleisch.“ +</p> + +<p> +Mette schüttelte den Kopf. +</p> + +<p> +„Ein komischer Kerl bist du,“ sagte sie lachend. „Hier +findest du das herrlich, und wenn’s in der Motzstraße +nach Kohl riecht, kriegst du Ohnmachten und Tobsuchtsanfälle.“ +</p> + +<p> +„Erlaube mal, das ist vielleicht ein Unterschied, +wenn’s in einem Berliner Zimmer mit Jugendstilmöbeln +und einem Prismenkronleuchter halb nach +Kohl riecht und halb nach billigem Heliotropparfüm, +so erzeugt das einen Nervenzustand, der einen direkt +zum Selbstmord treiben kann. Hier muß es einfach +ein bißchen nach Ofendunst riechen und ein bißchen +nach Schweinestall und kräftig nach Kümmelkohl – +das ist gerade das Richtige. Wenn meine Freundin +Berta hier mit dem Messer ißt, stört mich das gar +<a id="page-241" class="pagenum" title="241"></a> +nicht. Aber wenn ich’s im Schweizer Hof in Luzern +sehe, könnt’ ich aus der Haut fahren.“ – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Die schwarzweiß gefleckte Katze kam ins Zimmer geschlichen. +</p> + +</div> + +<p> +„Da hast du den Waldkater!“ sagte Olga. „Komm +her, Mies! Komm zu mir!“ +</p> + +<p> +Die Katze ließ sich greifen und halten. Olga streichelte +sie, drückte sie an sich, erzählte ihr im Flüsterton +lange Geschichten und richtete teilnehmende Fragen +an sie. +</p> + +<p> +„Daß du Katzen so liebst und Hunde nicht leiden +kannst,“ sagte Mette ein wenig mißbilligend, „das ist +eigentlich bezeichnend für dich!“ +</p> + +<p> +Olga hob rasch den Kopf und zog die Brauen hoch. +</p> + +<p> +„Bezeichnend? Wieso?“ +</p> + +<p> +„Weil du die Grazie mehr schätzt als die Treue,“ +sagte Mette mit einem wehmütigen Lächeln. „Weil +dir das lieber ist, was heimlich kratzt, als das, was +sich schlagen läßt und die Hand leckt. Ich glaube, ich +muß mich in acht nehmen, daß ich dir nicht verächtlich +werde.“ +</p> + +<p> +Olga schüttelte die Katze von ihrem Schoß herunter. +</p> + +<p> +„Nein, Mette,“ sagte sie mit großen ernsten Augen, +„da verkennst du mich vollständig. Ich habe eine Antipathie +gegen Hunde, aber nicht, weil sie treu sind, +sondern weil sie schamlos sind. Weil sie ihr Liebesleben +<a id="page-242" class="pagenum" title="242"></a> +auf die Straße tragen.“ Der rote Schatten flog +wieder über ihr Gesicht. „Katzen haben darin mehr +Kultur – um dies oft mißbrauchte Wort zu mißbrauchen. +Es gibt Kerfe, die sich nur in tiefster Nacht, +nur in den verstecktesten Winkeln paaren – so daß es +noch keinem Forscher gelungen ist, diesen Prozeß zu +beobachten. Ich denke immer, es wird einmal eine +Zeit kommen, da wird man von den barbarischen Gebräuchen +dieser Jahrhunderte oder Jahrtausende wie +von Märchen erzählen. Denke dir nur, wie unendlich +komisch das einen feinfühligen Menschen berühren +muß: Wenn zwei Menschen Sehnsucht haben, miteinander +in einem Bett zu liegen, so setzen sie einen +bestimmten Tag dafür fest. Sie setzen öffentliche Institutionen, +den Staat und die Kirche, davon in +Kenntnis. Sie benachrichtigen Freunde und Verwandte, +ihre eigenen Eltern, ihre eigenen Geschwister! +An dem Tag, der dieser Nacht vorangeht, versammeln +sie alle Leute um sich, die sie nur irgend kennen, sitzen +Hand in Hand und lassen sich betrachten, umgeben sich +mit Leuten, die gefüttert und getränkt werden, bis +ihnen übel wird, lassen sich anzügliche Lieder vorsingen +und anzügliche Reden halten – und fühlen +sich vielleicht sogar wohl dabei. – Ich habe immer +das Gefühl gehabt, Hochzeit zu halten auf die Art, +wie man das jetzt handhabt, müßte eine Strafe für +<a id="page-243" class="pagenum" title="243"></a> +Schwerverbrecher sein. Es ist eine so grausame +Quälerei, eine so ausgesuchte Folter ... Mette, +Kind, tu mir den Gefallen, wenn du dich einmal +einem Manne hingeben willst, den du liebst, tu’s, +wenn dir danach zumute ist und nicht an einem vorher +festgesetzten Tag – tu’s ganz heimlich, daß keine +lebende Seele die Möglichkeit eines solchen Geschehens +ahnt ...“ +</p> + +<p> +„Ich?“ sagte Mette mit Augen voll traumverlorenen +Entsetzens. „Ich?“ +</p> + +<p> +„Ja, du!“ sagte Olga lächelnd. „Ach, Kind – +meinst du, du hast eine Ahnung, was in deinem +Leben noch alles geschehen kann?!“ – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Am anderen Tag saßen sie in der Konditorei von +Ferdinand Brausewetter am Roßmarkt. +</p> + +</div> + +<p> +Sie hatten einen weiten Spaziergang gemacht und +waren hungrig und durchfroren. +</p> + +<p> +Nun saßen sie auf dem roten Samtsofa, das mit +Häkeldeckchen belegt war, als ob es in der guten Stube +stünde. +</p> + +<p> +Olga hatte eine – wie sie sagte – „prähistorische“ +Nummer der „Meggendorfer“ entdeckt und belustigte +sich königlich an den harmlosen Witzen. +</p> + +<p> +Eine dicke behagliche Frau mit glatten grauen Scheiteln +<a id="page-244" class="pagenum" title="244"></a> +und einer gutgestärkten weißen Schürze, die noch +vom Wäscheschrank her die scharfen Kniffe zeigte, +brachte ihnen dampfenden Kaffee in einer braunen +Bunzlauer Kanne und duftenden frisch gebackenen +Kuchen. +</p> + +<p> +Dann, als die frühe Dämmerung fiel, steckte sie eine +Gasflamme an. +</p> + +<p> +Da die Lampe zu hoch war und sie sich einen Stuhl +herbeiholte, sprang Olga auf, um ihr zu helfen. +</p> + +<p> +Sie kamen in ein Gespräch, und die freundliche +Frau blieb an ihrem Tisch stehen, um ein wenig zu +schwatzen. +</p> + +<p> +Olga lobte den Kuchen, sprach vom Wetter, von der +Stadt – dann rückte sie einen Stuhl. +</p> + +<p> +„Aber Frau Brausewetter, setzen Sie sich doch ein +bissel zu uns, wenn’s Ihre Zeit erlaubt. – Sie wissen +so gut Bescheid hier, ich hätt’ mich gern noch nach Verschiedenem +erkundigt.“ +</p> + +<p> +Mette folgte mit stummer Verwunderung der Unterhaltung, +die sich entspann. +</p> + +<p> +Olga erkundigte sich angelegentlich nach dem Papiergeschäft +an der anderen Seite des Marktes. Eine +Tafel zeigte an, daß das Grundstück samt gutgehendem +Geschäft zu verkaufen sei. Sie hatten es schon in +der Zeitung inseriert gelesen ... +</p> + +<p> +„Im Kreisanzeiger wohl?“ +</p> + +<p> +<a id="page-245" class="pagenum" title="245"></a> +„Ja, natürlich im Kreisanzeiger,“ ... und sie wären +hergekommen, um es sich anzusehen und sich erst mal +unter der Hand zu erkundigen ... ob denn das +Geschäft ginge? Und warum es eigentlich zu verkaufen +sei? Ein Garten wäre wohl nicht bei dem +Haus? +</p> + +<p> +Doch, ein kleiner Garten mit alten Birnbäumen und +einer Fliederlaube – durch den Treppenflur könne +man ihn sehen. +</p> + +<p> +Und sie möchten eine Leihbibliothek mit dem Geschäft +verbinden – ob das wohl lohne? +</p> + +<p> +Frau Brausewetter war Feuer und Flamme für +diesen Plan. Das hätte sie den Kilians schon immer +gesagt. Aber sie hätten nie was reinstecken wollen ins +Geschäft. Und hätten gemeint, die Anschaffung der +Bücher rentiere sich nicht. Aber es würde sich ganz +gewiß rentieren; denn den ewigen Journallesezirkel +hätten sie alle schon über. Und die Frau Bürgermeisterin +hätte neulich schon gesagt ... +</p> + +<p> +„Denke dir!“ sagte Olga, als sie über den dämmerigen +Marktplatz nach dem Hotel hinüber schritten. +„Alte Birnbäume und eine Fliederlaube. Und nichts +zu sehen von der Straße aus! Ein altes häßliches +graues Häuschen. Ich habe in solchen Städten im +Sommer in alle Haustüren geguckt. Dann sieht man +so oft jenseits der Treppe eine zweite Tür und wenn +<a id="page-246" class="pagenum" title="246"></a> +die offen steht, so ein Stückchen Hof oder Garten mit +blühendem Flieder. Dann hab’ ich immer so ein ganz +starkes Gefühl von Neid oder Sehnsucht gehabt. Vielleicht +hab’ ich gewußt, daß ich noch mal in so einem +Haus ende. Oder daß ich ihm ganz nahe komme und +daran vorüber muß.“ +</p> + +<p> +„Aber Olga!“ sagte Mette und blieb vor Erstaunen +mitten auf dem Platz stehen. „Möchtest du denn da +enden? Ich habe immer das Gefühl, du machst dich +lustig über mich und meine Ideale. Wie du der guten +Frau Brausewetter da die Komödie vorgespielt hast +– mir hat sich das Herz zusammengezogen vor Sehnsucht, +daß das Wahrheit wäre. Ach, wenn ich hier +bleiben könnte, ein Häuschen mit einem Garten haben +und so ein puppiges kleines Geschäft mit Schulheften +und Ansichtskarten und Bibelsprüchen und eine Leihbibliothek +– und dich, dich, dich! Von morgens bis +abends und von abends bis morgens ... aber nach +drei Wochen wärst du mir durchgegangen und ich säße +allein hier ...“ +</p> + +<p> +„Glaubst du?“ sagte Olga ohne Spott. „Wie du +mich kennst!“ +</p> + +<p> +„Ich kenne dich!“ beharrte Mette lächelnd. „Vielleicht +kenn’ ich dich besser als du dich kennst.“ +</p> + +<p> +„Kein Mensch kennt einen anderen,“ sagte Olga in +einem müden und gleichgültigen Ton und heftete die +<a id="page-247" class="pagenum" title="247"></a> +Augen unter den zusammengezogenen Brauen unverwandt +auf die blaue Laterne über dem Torweg. +</p> + +<p> +„Aber es läßt sich so wenig dagegen tun ...“ – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Sie hatten nach dem Abendessen noch in dem überheizten +Gastzimmer eine Partie Schach gespielt und +dabei mit viel heimlichem Entzücken den Unterhaltungen +gelauscht, die die Honoratioren nebenan an +ihrem Stammtisch führten. +</p> + +</div> + +<p> +Als sie, die Mäntel überm Arm, an der Treppe anlangten, +bat Olga: +</p> + +<p> +„Komm, laß uns noch eine halbe Stunde an die +Luft gehen, daß wir nicht den ganzen Rauch in Haaren +und Kleidern mit hinauf schleppen – das heißt, wenn +du nicht etwa müd’ bist, natürlich.“ +</p> + +<p> +Der häßliche Platz, die nüchternen Straßen lagen +in Schnee und Mondlicht wie verzaubert da. +</p> + +<p> +Der Himmel war hoch, blauschwarz und so klar, +daß er wie erfüllt erschien von dem unabsehbaren Gewimmel +funkelnder Sterne. +</p> + +<p> +Olga hatte den Kopf tief in den Nacken gelegt. Der +Nachthimmel und die Gestirne schienen sich in ihren +Augen zu spiegeln. +</p> + +<p> +„Unendlichkeit!“ sagte sie leise. „Du glaubst nicht, +wie ich dieses Wort liebe. Es ist mein Vaterunser +<a id="page-248" class="pagenum" title="248"></a> +und mein Evangelium. Kein Anfang, kein Ende. +Unendlichkeit der Zeit, Ewigkeit des Raumes. Ich +glaube, wenn ich ganz klein und verzweifelt wäre, +braucht ich nur zu denken: Unendlichkeit! Und es +wäre wie ein Orgelton, der alles von mir abspült. +Wird man nicht ganz fromm, wenn man dies Unbegreifliche +fühlt? Darum lieb’ ich den Sternenhimmel +so. Darum lieb’ ich die Nacht so.“ +</p> + +<p> +„Mich hat nichts so gequält,“ sagte Mette, „als deine +Unendlichkeit. Als kleines Kind schon. Ich wollte sie +immer begreifen. Ich wollte. Ich lag im Bett und +stellte mir den Raum vor. Und dann schloß ich einen +Kreis wie eine Mauer um ihn. Und was war dahinter? +Wieder Raum. Ich zog einen größeren Kreis. +Ringsum war wieder Raum. Ich dachte manchmal, +ich müßte verrückt werden, wenn all der Raum in +mein armes kleines Gehirn hineinstürzen wollte.“ +</p> + +<p> +„Das ist ja das Schöne, daß es etwas gibt, was +wir nicht begreifen können. Nicht der Gelehrteste und +nicht der Gefühlvollste. Das eine Unbegreifliche ist +Bürgschaft für tausend Möglichkeiten. Wenn es Ewigkeit +gibt, warum nicht Unsterblichkeit, Seligkeit, Göttlichkeit? +Warum nicht eine Liebe über aller irdischen? +Alles wissen sie, alles erklären sie. Wie die Spermatozoen +ins Ei dringen, beobachten sie, und Sterne +machen sie ausfindig, von denen das Licht achtzig +<a id="page-249" class="pagenum" title="249"></a> +Millionen Jahre braucht, um zu uns zu gelangen, +und Theorien stellen sie auf, worin sie Liebe durch +Fortpflanzungswillen und Sympathie durch Geruchsnerven +begründen. Von allem reißen sie den Schleier +des Mysteriums. Sie wissen, wie wir entstehen und +wie wir vergehen und warum wir lieben. Aber wenn +sie dich quälen und du ihnen nicht glauben willst, dann +sag’ dir ganz leise: Unendlichkeit! Und fühle, daß es +Dinge gibt, die über aller Vernunft sind. Kein +Lebender kann sie erfassen ... Aber die Toten vielleicht. +Oder die Sterbenden schon. Darum lächeln +die Toten alle. Sie lächeln alle so erlöst und überlegen, +als wollten sie sagen: ‚Herrgott, ist das lächerlich +einfach‘ ... Ich freue mich manchmal auf den +Moment, wo man die Stufe hinaufsteigt, daß man +endlich über die Mauer sehen kann.“ +</p> + +<p> +„Freu’ dich nicht zu sehr,“ sagte Mette und griff wie +in Angst nach ihrer Hand, „ertrag nur die Mauer noch +eine Weile.“ +</p> + +<p> +„Kind,“ sagte Olga weich, „ich sehe ja die Mauer +nicht. Sie ist ganz und gar von Rosen überhangen.“ +– – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Auch am anderen Morgen war noch kein Brief aus +Berlin da. +</p> + +</div> + +<p> +<a id="page-250" class="pagenum" title="250"></a> +„Gesegnete Post!“ sagte Olga. „Sie kommt hier +nur einmal am Tage.“ +</p> + +<p> +Mette schüttelte den Kopf. „Ich versteh’ dich nicht. +Ich hab’ erst die richtige Ruhe, wenn Antwort da ist. +So sitzt man ja doch immer auf dem <span class="antiqua">qui vive</span> oder +dem Pulverfaß oder ähnlichem! Wenn wir wissen, +woran wir sind, können wir uns danach richten. Ich +muß dann eventuell an den Rechtsanwalt schreiben, +der der Testamentsvollstrecker meiner Großmutter war. +Der wird mir sicher eine Summe vorschießen, von der +wir das halbe Jahr leben können, bis ich mündig bin. +Aber ich wollte, ich hätte alle diese Dinge schon hinter +mir.“ +</p> + +<p> +Olga spielte mit den Fransen der Tischdecke und +lächelte. +</p> + +<p> +„Warum lächelst du so?“ fragte Mette. +</p> + +<p> +„Weil du so weitgehende Pläne machst. Dein Vater +wird schreiben: ‚Komm!‘ Und dann wirst du +kommen.“ +</p> + +<p> +„Du weißt ganz genau, daß das ausgeschlossen ist!“ +sagte Mette fast zornig. +</p> + +<p> +Olga stand mit einem Ruck auf und ging ans +Fenster. +</p> + +<p> +„Vielleicht schick’ ich dich auch!“ sagte sie hart. – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +<a id="page-251" class="pagenum" title="251"></a> +Am Nachmittag machten sie wieder einen weiten +Spaziergang über die Felder. Der frühe Abend überraschte +sie, und sie kamen erst in der Dunkelheit heim. +</p> + +</div> + +<p> +Sie gingen auf der Landstraße, hart ankämpfend +gegen den Wind und sahen vor sich im blauen Dämmern +die aufblitzenden Lichter der Stadt. +</p> + +<p> +„Seltsam,“ sagte Olga, „wir gehen nach Hause. +Da liegt eine Stadt vor uns, deren Namen ich vor +drei Tagen noch nicht gekannt habe, und da bin ich +zu Hause. Da liegt ein Hotelzimmer, in dem vor +drei Tagen vielleicht noch irgendein Kommis nächtigte, +ein Zimmer, in dem nicht ein Möbelstück nach +meinem Geschmack ist, in dem nicht ein Bild und nicht +ein Buch mich lockt – und da bin ich zu Hause. +Wenn ich an unseren Gasofen denke und an den +Feuerschein auf dem schäbigen Teppich, dann wird +mir so warm, daß ich den Wind nicht spüre. Wie +muß einem Menschen zumute sein, der wirklich ein +eigenes Heim hat. Wo er jeden Sessel liebt und die +Farbe des Teppichs und das Licht der Lampe und +jedes Kissen und jedes Bild und jede Tasse.“ +</p> + +<p> +„Das könntest du doch haben,“ sagte Mette. +</p> + +<p> +„Ich?! – Nie, nie, nie!“ +</p> + +<p> +„Doch!“ sagte Mette etwas zaghaft. „Wenn du +Geduld hättest ... in einem halben Jahr.“ +</p> + +<p> +Olga lachte kurz auf. „Kind!“ rief sie und drückte +<a id="page-252" class="pagenum" title="252"></a> +Mettens Arm fester an sich. „Liebes, süßes, wundervolles, +kleines Geschöpf! In einem halben Jahr! +Wo bist du da und wo bin ich da? Vielleicht bist du +verheiratet – und ich bin tot.“ – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Als sie in das Zimmer traten, leuchtete von der +dunklen Tischdecke etwas Weißes ihnen entgegen. +Mette nahm es auf und lief damit ans Fenster. Der +Schein einer Laterne draußen gab ein schwaches Licht. +</p> + +</div> + +<p> +Es war ein dringendes Telegramm. +</p> + +<p> +„Mach hell, bitte!“ bat sie mit ein wenig unsicherer +Stimme. +</p> + +<p> +Sie riß das Papier auseinander. +</p> + +<p> +Sie las es in dem Dämmerlicht am Fenster. Sie las +es noch einmal bei der aufflammenden Gaslampe. +Es änderte sich nicht. +</p> + +<p> +„Dein Vater vom Schlage getroffen. Sein Ableben +stündlich zu erwarten.“ +</p> + +<p> +Sie reichte das offene Telegramm, ohne ein Wort +zu sagen, Olga hinüber und ging an ihr vorbei nach +dem Ofen. +</p> + +<p> +Sie hielt die Hände vor die Glut und war erfüllt +von der seltsam peinlichen Empfindung, nicht zu +wissen, wie sie sich benehmen sollte. +</p> + +<p> +Kein Gefühl quoll unwiderstehlich, jeden Gedanken +<a id="page-253" class="pagenum" title="253"></a> +verdunkelnd, aus ihrer Tiefe: weder Schmerz, noch +Angst, noch Liebe. +</p> + +<p> +Nur häßliche, quälende Gedanken: „Ich werde hinfahren +und zu spät kommen,“ dachte sie. „Es wird +also ganz unnütz sein, daß ich fahre. Wenn er wirklich +sterben muß – warum hab’ ich dann nicht lieber +die Nachricht bekommen, daß er tot ist. Dann würde +keine Macht der Welt mich hier wegbekommen.“ +</p> + +<p> +Sie warf einen verstohlenen Blick auf Olga, die +ihr noch immer den Rücken zudrehte. +</p> + +<p> +„Sie wird erwarten, daß ich irgend etwas tue,“ +dachte sie. „Ich muß mich doch irgendwie äußern. Ich +glaube, das Natürlichste wäre, wenn ich jetzt weinte. +Aber ich kann doch nicht. Ich finde es schrecklich, gewiß. +Aber es ist nichts, was mir die Tränen in die +Augen treibt. Was würde Olga in meiner Lage tun? +Seltsam, wie wenig wir uns eigentlich kennen. Ich +weiß nicht, was sie tun würde. Und ich weiß auch +nicht, was sie von mir erwartet.“ +</p> + +<p> +Endlich drehte Olga sich um und legte mit einer +schönen und merkwürdig behutsamen Bewegung das +Papier auf den Tisch. Ihr Gesicht war ruhig, aber +ganz weiß. +</p> + +<p> +„Ich will nach den Zügen fragen!“ sagte sie und +schritt still hinaus. +</p> + +<p> +Mette war fast froh, noch einen Augenblick allein +<a id="page-254" class="pagenum" title="254"></a> +zu sein. Sie konnte nun in Ruhe überlegen, was zu +tun sei. Wenn Olga ging, um nach den Zügen zu +fragen, so nahm sie als selbstverständlich an, daß +Mette mit dem nächsten Zug nach Hause fuhr. Es +war ja auch wohl selbstverständlich, freilich, das +war es. +</p> + +<p> +Sie stand seufzend von ihrem Sessel am Kamin +auf, stellte den offenen Handkoffer zurecht und fing +an einzupacken. Dabei flogen ihre Gedanken hin +und her. +</p> + +<p> +Vielleicht war es gar nicht wahr! +</p> + +<p> +Vielleicht hatte Tante Emilie sich das ausgedacht, +um sie nach Hause zu locken! Sie ins Gefängnis +zurückzulocken! +</p> + +<p> +Wenn doch jetzt eine Depesche von Vater käme, die +die erste Nachricht widerriefe! +</p> + +<p> +Oder, wenn es doch wahr war – wenn jetzt eine +Depesche von Tante Emilie käme, daß alles vorbei +wäre. Dann brauchte sie nicht zu fahren. Oder ob +Olga es von ihr verlangen würde? +</p> + +<p> +Wenn doch Olga jetzt heraufkäme und sagte: Es +geht kein Zug, heute nicht, morgen nicht, nie mehr. +Die Züge bleiben im Schnee stecken – oder der Bahndamm +ist eingestürzt ... +</p> + +<p> +Oder wenn Olga jetzt käme und sagte: Fahr’ +nicht! Verlaß mich nicht! Laß uns weiterfahren, +<a id="page-255" class="pagenum" title="255"></a> +irgendwohin, wo sie uns nicht finden. Beweise mir, +wie du mich liebst, gib alles auf. Was ist dir der +fremde Mann, der da im Sterben liegt? Nichts! Zu +mir gehörst du, mein bist du! Ich verlange von dir, +daß du bei mir bleibst, ich will mich nicht von dir +trennen, nicht auf eine Stunde mehr. +</p> + +<p> +Ja, das wäre das Schönste. Aber von allem Unmöglichen +war es das Unmöglichste. +</p> + +<p> +Olga machte die Tür auf. Ihre Bewegungen, obgleich +rasch, waren so leise, als beträte sie ein Krankenzimmer. +</p> + +<p> +„Um drei Viertel zehn,“ sagte sie und warf einen +Blick auf die Armbanduhr. „Wir haben also noch +reichlich Zeit, einzupacken und etwas zu essen.“ +</p> + +<p> +In Mette zuckte etwas wie Empörung auf. Sie +mußte fahren. Sie wurde einfach geschickt. Vielleicht +wäre Olga selber an ihrer Stelle nicht gefahren. +Olga durfte frei handeln und entgegen allem, was +Sitte und Gebrauch war – aber für Mette galt das +Normale, das Alltägliche, das Schickliche. Um drei +Viertel zehn ging der Zug – sie wurde gar nicht gefragt, +ob sie ihn benutzen wollte. Es war der nächste +Zug, und also hatte sie damit zu fahren. +</p> + +<p> +Sie packte mit verbissenem Gesicht ihren Koffer +weiter. +</p> + +<p> +„Darf ich dir helfen?“ fragte Olga ernst und sanft. +</p> + +<p> +<a id="page-256" class="pagenum" title="256"></a> +„Danke!“ sagte Mette kurz. +</p> + +<p> +Der rücksichtsvolle Ton quälte sie. Sie hätte so gern +ganz brutal die Wahrheit gesagt: +</p> + +<p> +„Du brauchst mich nicht zu behandeln, als wäre ich +schwer krank. Das Schlimmste an dieser Sache ist für +mich, daß wir uns trennen sollen, daß ich hier fort +soll, daß unser Märchen hier ein Ende hat“ – aber +sie hatte den Mut nicht, es auszusprechen. Und sie +fühlte doch, daß Olga sich beinah scheu zurückhielt, so, +als hätte sie kein Recht, Metten in ihrem heiligen, +kindlichen Schmerz zu stören. +</p> + +<p> +Mettens Hände stießen beim Packen zufällig auf +einen sorgfältig in Seidenpapier gehüllten Gegenstand +unten am Boden des Handkoffers. Sie riß +das Seidenpapier ab, daß die Fetzen zur Erde flatterten +und hielt das goldene Etui in der Hand. +</p> + +<p> +„O Mette!“ rief Olga mit einem leisen, überraschten +Aufschrei. „Da ist es ja wieder! Seit +wann?“ +</p> + +<p> +„Es ist nie woanders gewesen,“ sagte Mette mit +einem etwas bedrückten Lächeln. „Ich konnte mich +nicht entschließen, es in fremde schmutzige Hände zu +geben. Ich wollte dir eigentlich nichts davon sagen +– ich wollte es dir zu Weihnachten schenken – +aber es ist ja Unsinn – ich will es dir lieber gleich +geben.“ +</p> + +<p> +<a id="page-257" class="pagenum" title="257"></a> +Mette ging hinüber und legte es in Olgas Hände, +die ihr nicht entgegenkamen. +</p> + +<p> +Olga hielt es ganz still auf den Flächen der Finger, +ohne es zu umschließen und sah es mit gedankenschwerem +Lächeln an. +</p> + +<p> +„Seltsam,“ sagte sie, ohne die Augen aufzuheben. +„Warum jetzt? Warum heute? Man sollte nicht +abergläubisch sein, aber manchmal ist es schwer ...“ +</p> + +<p> +Mette verstand den Sinn dieser Worte nicht, aber +sie fragte auch nicht danach. Sie spürte mit zorniger +Eifersucht, daß Olgas Gedanken in einer Vergangenheit +waren, die ihr fern, fremd und verschlossen blieb. +Aber sie spürte keinerlei Beziehung auf sich selbst. +</p> + +<p> +Es war eine schweigsame Fahrt durch die kalte, +dunkle und unfreundliche Nacht. +</p> + +<p> +Mette lehnte mit halbgeschlossenen Augen in einer +Ecke und sehnte sich danach, mit viel Zärtlichkeit getröstet +zu werden – aber sie hätte nicht gewagt, diese +Sehnsucht auszusprechen, auch wenn nicht fremde +Menschen mit dumm verschlafenen, glotzenden Gesichtern +im Wagen gesessen hätten. +</p> + +<p> +Als Mette fröstelte, zog Olga wortlos ihren Mantel +aus und legte ihn ihr über die Knie. Aber Mette +wies ihn fast schroff zurück. +</p> + +<p> +„Laß das, bitte! Ich möchte nicht, daß du dich +erkältest!“ +</p> + +<p> +<a id="page-258" class="pagenum" title="258"></a> +Olga nahm den Mantel fort. Aber sie zog ihn +nicht an. Sie legte ihn neben sich auf das Polster, +mit einer so achtlosen Bewegung, als sei er zu nichts +mehr nütze. – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +In der Wohnung roch es nach Krankheit und Tod. +Die Mädchen saßen schlaftrunken mit verschwollenen +Augen und stumpfen Gesichtern herum. +</p> + +</div> + +<p> +Überall brannte Licht. Aber nicht helles, heiteres, +strahlendes Licht, nur immer eine einzelne Lampe, die +ein oder zwei Räume dämmerig erhellte. Die Türen +standen offen oder waren angelehnt – man sah, daß +nicht Nacht war in dieser Wohnung. Daß niemand +schlief, daß unablässig hin und her gelaufen wurde. +Und durch die offenen Türen drang das gleichmäßige +röchelnde Atmen des Sterbenden in alle Räume, erfüllte +alle Räume. +</p> + +<p> +Tante Emilie, mit wachen Eulenaugen in dem zerkniffenen +Gesicht, geisterte gespenstig hin und her. +</p> + +<p> +„Du kommst zu spät!“ sagte sie mit eisigem +Triumph, als sie Mettens ansichtig wurde. „Wir +haben keine Hoffnung mehr.“ +</p> + +<p> +Mette fühlte, daß ihr etwas Böses zugefügt werden +sollte. Und das plötzliche Bewußtsein, so verworfen, +so gefühlsroh zu sein, daß dies Böse sie nicht +<a id="page-259" class="pagenum" title="259"></a> +traf, daß selbst diese Frau in ihrem maßlosen Haß sie +noch überschätzte, trieb ihr, müde und überreizt wie sie +war, die Tränen in die Augen. +</p> + +<p> +Tante Emilie ahnte nichts von diesen Vorgängen. +</p> + +<p> +„Auch diese Tränen kommen zu spät!“ sagte sie geringschätzig. +</p> + +<p> +Von den zwanzig Stunden, die nun kamen, hatte +jede Stunde tausend Minuten. +</p> + +<p> +Mette ging hin und her, saß hier und dort und +fühlte sich überall am falschen Platz, im Wege, von +bösen Augen beobachtet. +</p> + +<p> +Sie war zerschlagen an allen Gliedern und hatte +das Bedürfnis, nur für eine Stunde sich in ihrem +Zimmer einzuschließen und sich aufs Bett zu werfen. +Aber sie fand den Mut nicht dazu. +</p> + +<p> +Sie wußte, man erwartete von ihr, daß sie, in +Reuetränen zerfließend, am Sterbebette ihres Vaters +saß oder womöglich auf den Knien lag. +</p> + +<p> +Sie versuchte das Grauen, das sie schüttelte, zu +überwinden und ging hinein, immer wieder. Die +dumpfe Luft roch nach Verwesung und Medikamenten. +In den vielen weißen Kissen lag ein kleiner, sonderbar +knöcherner Schädel, ein fremdes, schief gezerrtes Gesicht +mit geschlossenen Augen, dem der röchelnde Atem leise +die gelblichen Lippen bewegte. +</p> + +<p> +<a id="page-260" class="pagenum" title="260"></a> +Mette saß eine Weile still neben dem Bett und +ängstigte sich davor, daß dieses schreckliche Röcheln mit +einem Male aufhören könne. – Und ängstigte sich fast +noch mehr davor, daß dies fremde Etwas plötzlich die +Augen auftun und reden könne. +</p> + +<p> +Ärzte kamen, sprachen miteinander in gedämpftem +Ton, maßen sie mit mitleidigen Blicken und gingen +wieder. +</p> + +<p> +Das Mädchen deckte den Tisch zur gewohnten Zeit +und bat im Flüsterton zum Essen. +</p> + +<p> +Tante Emilie ließ alle Verbindungstüren offen und +horchte mit gespannter Aufmerksamkeit, während sie +ihre Suppe löffelte, ob in dem gleichmäßigen Röcheln +eine Veränderung einträte. +</p> + +<p> +Mette vermochte kaum einen Bissen hinunterzuwürgen. +</p> + +<p> +Die frühe Dämmerung kam, und die Lampen wurden +wieder angemacht. +</p> + +<p> +Mette wollte ein Buch in die Hand nehmen, aber +ein so empörter Blick von Tante Emilie traf sie, daß +sie es wieder wegstellte und mutlos die Hände in den +Schoß legte. +</p> + +<p> +Gegen Abend wurde das Röcheln schwächer. Der +Nasenrücken trat messerscharf aus dem winzigen versunkenen +Gesicht. +</p> + +<p> +Der Arzt, der am Abend kam, ging nicht wieder +<a id="page-261" class="pagenum" title="261"></a> +fort. Nun saß noch einer herum und schritt lautlos +über die dicken Teppiche auf und ab und wartete. +</p> + +<p> +Das Röcheln wurde schwächer und schwächer. Dann +kam noch ein paarmal in kurzen Pausen ein stärkeres +knarrendes Ausatmen, und mit einem Male wurde +es still. +</p> + +<p> +Man hörte plötzlich, als setzten sie eben ein, alle +Uhren im Hause ticken. +</p> + +<p> +Der Arzt beugte sich über das Bett, richtete sich dann +wieder auf und ging auf Metten zu, um ihr die Hand +zu geben. +</p> + +<p> +Tante Emilie wischte sich über die trockenen Augen, +die Mädchen draußen schluchzten auf. +</p> + +<p> +Mette sah und hörte alles wie durch dichte Schleier. +Sie hatte Angst, ohnmächtig zu werden. +</p> + +<p> +Der Arzt bemerkte wohl ihr grünlich fahles Aussehen +und legte ihr die Hand aufs Haar. „Legen Sie +sich hin, Kind!“ sagte er sanft. +</p> + +<p> +„Sie können nichts mehr nützen hier. Sie haben +schwere Tage hinter sich und vor sich. Jugend braucht +Schlaf.“ – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Mette war froh, in ihrem Zimmer zu sein. Aber +sie dachte nicht daran, sich hinzulegen. Als sie nach +einer Weile den Arzt gehen hörte, faßte sie eine namenlose +Angst. Sie war so sterbensmüde und fürchtete +sich davor, einzuschlafen, so, als müßten gräßliche +<a id="page-262" class="pagenum" title="262"></a> +Träume sie peinigen, wenn sie die Herrschaft über die +Gedanken verlöre. +</p> + +</div> + +<p> +Wenn sie nur für einen Moment die schweren +Augenlider schloß, sah sie die verzerrten Züge des +Sterbenden, oder Tante Emilie reckte die Krallen nach +ihr aus, um sie zu erwürgen, oder Onkel Jürgen holte +mit einem riesigen Schlüsselbund zu einem Hieb aus, +der ihr den schmerzenden Schädel zerschmettern sollte. +</p> + +<p> +Mette streckte die Hand sehnsüchtig in die Luft nach +einer anderen Hand, die die ihre fest und warm +umschließen sollte. Aber ihre kalten Finger blieben +leer. +</p> + +<p> +Sie ertrug die angstvolle Unruhe nicht mehr. Sie +schlüpfte in ihren Mantel und schlich über die Hintertreppe +hinunter aus dem Haus. +</p> + +<p> +Die kalte Nachtluft weckte sie wie aus schwerem +Traum. Sie lief mehr als sie ging durch die Straßen +bis zu Olgas Haus. +</p> + +<p> +Das Haus war verschlossen. Mette stand eine +Weile unschlüssig. Vielleicht kam irgendein Hausbewohner +heim, oder der Mann von der Wach- und +Schließgesellschaft machte ihr gegen ein Trinkgeld die +Tür auf. +</p> + +<p> +Sie wartete eine ganze Weile. Die Kälte schüttelte +sie. +</p> + +<p> +Schließlich klingelte sie den Portier heraus. Aber +<a id="page-263" class="pagenum" title="263"></a> +oben vor der Tür zögerte sie wieder, eh’ sie wagte zu +klingeln. +</p> + +<p> +Sie setzte sich auf die Treppe und lehnte die Stirn +an die hölzernen Pfosten der Tür. +</p> + +<p> +Sie versuchte, durch angestrengte Gedanken, durch +inbrünstiges Flehen, durch gesteigertes Wollen Olga +zu wecken, sie herbeizurufen. +</p> + +<p> +Sie glaubte immer, ihren leisen Schritt sich der Tür +nähern zu hören und lauschte atemlos und merkte, daß +sie sich getäuscht hatte. +</p> + +<p> +Sie mußte sich endlich doch entschließen zu klingeln. +Es dauerte eine ganze Weile, bis ein schlaftrunkenes, +halb angezogenes Mädchen ihr öffnete. Sie erzählte +eine Geschichte, daß sie eben von der Bahn komme und +zu Hause nicht hinein könne, weil sie ihre Schlüssel bei +Fräulein Radó gelassen habe. Sie lachte dazwischen +und hatte das Gefühl, vollkommen idiotisch zu wirken. +</p> + +<p> +Als sie sich durch den wohlbekannten Türgang entlang +tastete – sie fürchtete sich, aus irgendeinem unbegreiflichen +Grunde davor, Licht zu machen – vielleicht +hatte sie die Vorstellung, das Geräusch oder der +Schein könne jemanden wecken, oder vielleicht hatte sie +unbewußte Angst, gesehen zu werden und fühlte sich +sicherer im Dunkel. +</p> + +<p> +Als sie schon vor Olgas Tür stand, hatte sie mit +jähem Erschrecken das qualvolle Empfinden – so +<a id="page-264" class="pagenum" title="264"></a> +stark, daß sie es für Ahnung nahm – als wäre Olga +nicht allein. Als stände diesem furchtbaren Tag noch +ein furchtbarster Abschluß bevor. +</p> + +<p> +Sie stand an die Wand gelehnt und wagte nicht zu +klopfen, nicht die Klinke zu berühren. Eine Stimme, +die sie deutlich außer sich zu hören glaubte, sagte: +</p> + +<p> +„Was suchst du hier? Mit welchem Recht dringst du +hier ein? Wie kommst du zu der maßlosen Kühnheit, +dich hier zu Hause zu fühlen?“ +</p> + +<p> +Die Tür ging geräuschlos auf, und ein matter Lichtschein +fiel heraus. +</p> + +<p> +In dem Lichtschein stand Olga Radó, groß und +schlank, in einem dunkelbunten Kimono, eine Hand +auf der Klinke und spähte unter zusammengezogenen +Brauen scharf hinaus. Sie sah und erkannte Metten +sofort. +</p> + +<p> +„Mette!“ rief sie leise und schloß einen Moment, +wie erschrocken, die Augen. „Ich hab’ es doch gewußt! +Was ist geschehen, Kind? Wie bist du heraufgekommen?“ +</p> + +<p> +Mette taumelte mehr als sie ging. Sie kam ins +Zimmer, sah das sanfte Licht der verschleierten Lampe +auf den Papieren des Schreibtisches, auf den Bücherrücken, +auf den Bildern, auf den seidenen Kissen – +Farben und Formen stürzten wie ein Gefühl unendlichen +trunkenen Glücks in sie hinein – sie ließ sich +<a id="page-265" class="pagenum" title="265"></a> +auf die Erde niedergleiten, legte die Stirn gegen den +Sessel und sagte zwischen Lachen und Weinen, zwischen +Wachen und Schlaf: +</p> + +<p> +„Laß mich hier, es ist so gut.“ +</p> + +<p> +Olga hob sie auf, zog sie aus wie ein kleines Kind +und legte sie ins Bett. Als die Kühle der Laken ihre +Glieder berührte, fingen Kälte und Grauen wieder +an, sie zu schütteln. Sie war mit einem Schlage wieder +hellwach, saß steif aufgerichtet im Bett und bemühte +sich vergebens, das gewaltsame Aufeinanderschlagen +der Zähne zu unterdrücken. +</p> + +<p> +„Leg’ dich zu mir,“ bat sie flehentlich, „ich muß +spüren, daß ich nicht allein bin. Ich hab’ so gräßliche +Angst.“ +</p> + +<p> +Olga antwortete nicht. Sie verriegelte die Tür, sie +stellte die Lampe hinter das Bett, breitete noch einen +Seidenschleier über das Licht, ließ den Kimono von +den Schultern gleiten – alles mit einem wehen +Lächeln und schweren langsamen Bewegungen, als +rüste sie sich zu einem Opfergang. Sie schob den Arm +unter Mettens Nacken, breitete die Decke fester über sie, +strich ihr das verwirrte Haar aus der Stirn. +</p> + +<p> +Und da Mette die Wärme dieses geliebten Lebens, +den starken Schlag dieses Herzens spürte, brach sie in +ein leises qualerlöstes Weinen aus. Über diesem +Weinen schlief sie ein. +</p> + +<p> +<a id="page-266" class="pagenum" title="266"></a> +Nach einer Zeit, von der sie nicht wußte, ob es +Stunden oder Minuten waren, wachte sie wieder auf. +Das Licht brannte immer noch. Olga lag reglos +neben ihr, mit weit offenen Augen. Mette richtete sich +auf und gab ihren Arm frei. +</p> + +<p> +„Warum weckst du mich nicht?“ sagte sie vorwurfsvoll. +„Armes, ich habe dir sicher den ganzen Arm +zerbrochen, und darum konntest du nicht schlafen.“ +</p> + +<p> +Olga drehte ein wenig den Kopf. „Ich hätte auch +sonst nicht schlafen können. Ich bin so wach.“ +</p> + +<p> +„Woran hast du gedacht?“ fragte Mette und versuchte, +in ihren Augen zu forschen. +</p> + +<p> +Olga lächelte ein wenig mühsam. +</p> + +<p> +„Daran, daß deine Leute dich jetzt vielleicht im +ganzen Haus suchen. Ich möchte wissen – oder ich +möchte lieber nicht wissen, was jetzt in Tante Emiliens +Gehirn vorgeht. Sie muß doch rein denken, du bist +von der Tarantel gestochen!“ +</p> + +<p> +Mette lachte leise auf und schlang ihren Arm um +Olga. +</p> + +<p> +„Vom Skorpion!“ sagte sie zärtlich. „Und es gibt +kein Gegengift als sein eigenes Gift. Das weißt du +doch!“ +</p> + +<p> +Olga richtete sich auf und faltete die Hände über +den hochgezogenen Knien. Die beiden schwarzen +Flechten lagen wie zwei breite schwere Bänder auf +<a id="page-267" class="pagenum" title="267"></a> +dem weißen Hemd. Ihre Augen starrten geradeaus, +und die weitgeöffnete Pupille überdunkelte die +ganze Iris. +</p> + +<p> +„O wunderliches Schicksal über mir!“ sagte sie mit +einer leisen, tiefen, wie ein Cello klingenden Stimme. +</p> + +<div class="poem-container"> + <div class="poem"> + <div class="stanza"> + <p class="verse">„Als wär’ ich von dem Skorpion gestochen</p> + <p class="verse">Und hoffte Heilung durch dasselbe Tier. – <span class="antiqua">Qui vivens laedit – morte medetur.</span>“</p> + </div> + </div> +</div> + +<p class="noindent"> +Ein Ausdruck gewaltsamer, schmerzlicher und fast +unheimlicher Energie trat in das weiße schöne Gesicht. +</p> + +<p> +Mette erschrak, daß ihr der Herzschlag stockte. Sie +hatte den Mut nicht, sie anzurühren, sie an sich zu +reißen. +</p> + +<p> +„Olla!“ rief sie mit einem leisen Klagelaut und +streckte die Hände nach ihr. +</p> + +<p> +Da trat wieder das mühevolle Lächeln um den +blassen Mund. +</p> + +<p> +Sie schlang mit einer jähen Bewegung beide Arme +um Metten und preßte sie an sich, als wollte sie sie +in dieser Umarmung ersticken, vernichten, zerstören. +</p> + +<p> +„Ach, Mettulein,“ sagte sie mit einem zersprungenen +Lachen, „es hilft ja alles nichts ... du mußt mich erst +in sanftem Öl verenden lassen – dann wird vielleicht +noch alles gut!“ – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +<a id="page-268" class="pagenum" title="268"></a> +Mette hörte im Traum heftiges Klingeln. Dann +wachte sie auf von Türengehen, näher kommenden +Schritten, vielen und erregten Stimmen. +</p> + +</div> + +<p> +Sie machte die Augen auf und sah Olga vor dem +Bett stehen, schon fertig angekleidet. Sie war sehr +blaß, hatte dunkelflammende Augen und herrschte sie +an in einem Ton, der wie atemlos klang vor Erregung. +</p> + +<p> +„Steh auf, Mette, ich bitte dich um Gottes und +aller Heiligen willen, zieh dich schnell an.“ +</p> + +<p> +Mette schlüpfte in wahnsinniger Hast in ihre Sachen. +Unterdessen wurde schon heftig an die Tür geklopft. +</p> + +<p> +Olga ging sofort hin, riegelte auf und öffnete die +Tür zur Hälfte. +</p> + +<p> +„Wer ist denn da?“ +</p> + +<p> +Draußen wurden erregte Stimmen laut, erregte Gesichter +drängten sich in den Spalt. +</p> + +<p> +„Ich bedauere, Sie können momentan nicht in mein +Zimmer,“ sagte Olga mit eiskalter Höflichkeit. +</p> + +<p> +Die Stimmen draußen überschrien sich. Das war +Tante Emilie. Das war Onkel Jürgen. Das war +Frau Flesch. Das war das Mädchen, das ihr die +Nacht geöffnet hatte. +</p> + +<p> +Mettens Hände zitterten wie in einem Angsttraum. +Sie konnte mit keinem Knopf zustande kommen. Sie +hatte den brennenden Wunsch, unsichtbar zu sein oder +<a id="page-269" class="pagenum" title="269"></a> +aus dem Fenster zu springen oder in tiefe Bewußtlosigkeit +zu fallen. +</p> + +<p> +Olgas Stimme überklang den Tumult, tief und +ruhig, aber kalt und scharf wie geschliffenes Eisen. +</p> + +<p> +„<em>Muß</em> diese Unterhaltung auf dem Flur stattfinden?“ +</p> + +<p> +Dann klang plötzlich eine sanfte, zarte Stimme: +</p> + +<p> +„Darf ich den Herrschaften mein Zimmer anbieten? +Ich mache gern Platz.“ +</p> + +<p> +Die Stimmen verzogen sich nach nebenan, und ein +paar Augenblicke später – Mette hatte schon das Kleid +übergeworfen – schlüpfte Peterchen ins Zimmer. +</p> + +<p> +„Kann ich dir helfen, Mette?“ flüsterte er mit verstörten +Augen. +</p> + +<p> +Im selben Augenblick klang es von nebenan, als +ob ein Stock auf den Tisch geschmettert würde. +</p> + +<p> +„Ich werde Sie ins Gefängnis bringen!“ donnerte +Onkel Jürgens Stimme. +</p> + +<p> +Mette wollte hinüberstürzen. Peterchen hielt sie +mit flehender Gewalt zurück. +</p> + +<p> +„Nicht so!“ bat er. „Mach dir schnell das Haar! +Zieh dir Schuh an!“ Während sie die Haare glatt +strich und aufsteckte, kniete er vor ihr und schnürte ihr +die Stiefel zu. +</p> + +<p> +Sie gab ihm recht. Sie konnte nicht auf +Strümpfen, mit gelöstem Haar hinüberlaufen, zum +<a id="page-270" class="pagenum" title="270"></a> +Gaudium aller Leute, die hinter den Türritzen +lauschten. +</p> + +<p> +Als Mette über den Flur nach dem anderen Zimmer +ging, ganz ruhig und aufrecht ging, war sie +voll einer starken, kühnen, heißen und beinah frohen +Entschlossenheit. +</p> + +<p> +Im Hintergrund des Flurs stand ein fremder Herr +in Hut und Überzieher, der sie mit einem durchdringenden +Blick musterte. +</p> + +<p> +„Von der Leiche des Vaters weg!“ wimmerte Tante +Emilie mit hohem Pathos. +</p> + +<p> +„Die Kriminalpolizei in meinem ehrlichen Hause!“ +kreischte Frau Flesch. „Noch nie in meinem Leben +hab’ ich was mit der Polizei zu tun gehabt!“ +</p> + +<p> +Mette klinkte die Tür mit hartem Griff auf. Das +Herz schlug ihr bis an den Hals. Einen Augenblick +durchzuckte sie der Gedanke: Vielleicht war alles gut +so. Vielleicht war es gut, daß sie jetzt den Mut haben +mußte, neben Olga hinzutreten und zu sagen: „Ich +gehöre zu diesem Menschen und verlasse ihn nicht und +wenn ihr mich und euch in Stücke reißt. Wenn ihr +den Mut und das Recht habt, so wendet Gewalt an, +freiwillig gehe ich nicht einen Schritt mit euch.“ +</p> + +<p> +Olga stand gegen den Tisch gelehnt, die Arme über +der Brust gekreuzt, die Ellbogen mit den Fingern umklammert. +</p> + +<p> +<a id="page-271" class="pagenum" title="271"></a> +Als die Tür aufging, stürzte Tante Emilie mit dem +fast geschluchzten Ausruf: „Da ist das unglückliche +Kind!“ auf Metten zu. +</p> + +<p> +Mette stand einen Augenblick wie erstarrt. Sie +hatte einen Moment das Gefühl, unter Irrsinnige zu +kommen oder selber irrsinnig zu sein. Mit einem +flüchtigen Blick erfaßte sie, daß Jürgen von Seyblitz +mit seiner straffen Haltung, mit den blitzblauen +Augen und dem eisgrauen Schnurrbart in dem zornroten +Gesicht sehr gut aussah. +</p> + +<p> +Er kam auf sie zu und sagte mit einer tiefen, rauhen +Stimme, in der etwas wie Rührung zitterte: +</p> + +<p> +„Mette, Kind, was tust du hier? Morgen +begraben sie deinen armen Vater, und du bist +hier?!“ +</p> + +<p> +Er legte ihr schwer die Hand auf die Schulter. +</p> + +<p> +Mette sah ihn nicht an. Sie sah Olga an. +</p> + +<p> +„Ich bin hier zu Hause –“ sagte sie. Ihre Stimme +sollte eine strahlende Festigkeit haben, aber sie konnte +sie nicht zwingen, sie klang leise und bebend. +</p> + +<p> +„Wenn ihr glaubt, das Recht zu haben, so wendet +Gewalt an, freiwillig gehe ich nicht einen Schritt mit +euch.“ +</p> + +<p> +Es war schwer, sehr schwer, das auszusprechen. +Sehr schwer, das auszusprechen vor Onkel Jürgens +ehrlichem, wut- und schmerzverzerrtem Gesicht, vor +<a id="page-272" class="pagenum" title="272"></a> +Tante Emiliens blinzelnden Vogelaugen, vor dem +schwammigen Gesicht der Frau Flesch, das in einem +widerlich-gierigen Grinsen wie erstarrt schien, vor dem +fremden Mann, vor den Mädchen, die hinter den +Türen lauschten. +</p> + +<p> +Aber nun war es ausgesprochen. Und damit mußte +alles gut sein. Nun mußte Olga kommen und sie in +die Arme nehmen, mußte Mettens Kopf so an ihre +Brust drücken, daß sie nichts mehr zu sehen und zu +hören brauchte, mußte mit einer ihrer unglaublich +stolzen und herrischen Bewegungen all diesen fremden +und peinigenden Gesichtern die Tür weisen, mußte +einen Revolver diesen Eindringlingen entgegenrecken +und sie hinausjagen mit einem einzigen Wort ... +</p> + +<p> +Olga wandte den Kopf, ohne ihre Haltung zu verändern +und sah Metten an. Alle glaubten, daß sie +Metten ansah und machten eine unwillkürliche Geste +der Spannung, der Erwartung. +</p> + +<p> +In Wahrheit lagen ihre Augen auf Mettens Stirn +oder auf ihren Brauen oder auf ihren Haaren. +</p> + +<p> +Mette wollte ihren Blick treffen, sie bohrte ihre +Augen in Olgas Gesicht, aber sie konnte ihren Blick +nicht zwingen. Er lag unverändert auf ihrer Stirn +oder ihren Brauen oder ihren Haaren – eine Linie +über ihren Augen. +</p> + +<p> +„Mein liebes Kind,“ sagte Olga mit einer eisig +<a id="page-273" class="pagenum" title="273"></a> +kühlen Sanftmut, „Ihre Anhänglichkeit an mich ist +rührend, aber ich habe sie durch nichts verdient. Wenn +Sie mir wirklich soviel Sympathien entgegenbringen, +so gehen Sie jetzt mit Ihren Angehörigen und betragen +sich wie ein vernünftiger Mensch und verschonen +mich künftig mit Ihren Besuchen. Sie sehen +doch, daß Sie mir nichts als Ungelegenheiten bereiten!“ +</p> + +<p> +Mette zögerte noch einen Augenblick. „Es muß +doch irgend etwas geschehen,“ dachte sie, „sie muß mich +doch ansehen, sie muß mir durch einen Blick, durch +eine Geste ein Zeichen geben, daß dies Verstellung ist, +Komödie, daß ich ihr vertrauen soll, an sie glauben, +auf Nachricht warten ...“ +</p> + +<p> +Es geschah nichts. +</p> + +<p> +Mette suchte in ihren Gedanken irgend etwas Unerhörtes, +womit sie diese steinerne Maske zerschmettern +könnte. Konnte sie nicht sagen: „Du hast mich +gerufen, gelockt, gezwungen und jetzt verleugnest du +mich?“ Nein – sie hatte kein Recht dazu. +</p> + +<p> +Fiel ihr denn nichts ein, irgendein Schmähwort, +ein treffendes, verletzendes, grausames? +</p> + +<p> +Sie wälzte dumme, kindische Schimpfwörter, schwer +wie Steinblöcke, in ihrem Gehirn hin und her. +</p> + +<p> +„Du Kanaille!“ dachte sie. „Du Dirne!“ Das war +nicht das, was sie suchte. Ihr war, als müsse sie in +<a id="page-274" class="pagenum" title="274"></a> +fieberhaftem Suchen die polternden Steinblöcke hin +und her schieben, um irgend etwas zu finden, ein +scharfes Wort, das sich schleudern ließe. +</p> + +<p> +Plötzlich schien es ihr, als ob sie schon eine unendliche +Zeit so dagestanden hätte, mit hängenden Armen, +mit blöden Augen und offenem Mund. +</p> + +<p> +Sie richtete sich auf und machte den Versuch zu +einem Lächeln, das hochmütig und liebenswürdig sein +sollte. Aber sie hatte das Gefühl dabei, als ob der +Irrsinn in ihren verzerrten Muskeln tanze. +</p> + +<p> +„Willst du um einen Wagen telephonieren, Onkel +Jürgen?“ sagte sie. +</p> + +<p> +„Seltsam,“ dachte sie dabei, „das ‚um‘ habe ich mir +auch von Olga angewöhnt – hier sagt man ‚nach‘, +glaube ich.“ +</p> + +<p> +„Ich bin zu müde zum Laufen.“ +</p> + +<p> +Dann ging sie nach der Tür. „Ich will mir nur +meine Sachen holen – einen Augenblick!“ +</p> + +<p> +Sie ging in das Nebenzimmer, setzte sich vorm +Spiegel den Hut auf, sehr sorgfältig, zog den Mantel +an, suchte ihre Handtasche. Sie beeilte sich nicht. Sie +hatte immer noch das törichte Gefühl, als müßte +Olga jetzt hereinschlüpfen und ihr irgend etwas zuflüstern +... wo sie sich treffen wollten, wo sie hinschreiben +sollte, wann sie ihr alles erklären wollte. Es +kam niemand. +</p> + +<p> +<a id="page-275" class="pagenum" title="275"></a> +Als Mette ihre Handtasche aufmachte, fand sie ein +Päckchen zusammengedrückter Geldscheine darin. Die +waren noch von der Reise. +</p> + +<p> +Sie nahm sie heraus und lachte bitter auf. Nun +würde sie wohl nie mehr in die Versuchung kommen +zu stehlen. +</p> + +<p> +Nun würde sie wohl nie in ihrem Leben mehr Geld +brauchen. +</p> + +<p> +Sie hob die Hand und öffnete sie und ließ die +Scheine über das zerwühlte Bett flattern. +</p> + +<p> +Dann ging sie hinaus, an dem fremden Mann vorbei, +an den Mädchen vorbei, die Treppe hinunter und +aus dem Haus, ohne sich umzusehen. +</p> + +<p> +Auf der Straße holte der Wagen mit ihren Leuten +sie ein. – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Onkel Jürgen blieb noch eine Zeit lang in Berlin. +Er benahm sich recht merkwürdig. Er war still und +gütig und richtete auf Metten immer ein paar ehrliche, +angstvolle, blaue Augen und sprach zu ihr immer in +einem leicht gerührten Ton. Von dem Geld und der +Flucht war nie mehr die Rede. +</p> + +</div> + +<p> +Wenn Mette zuweilen – oft geschah es ja nicht – +über dieses Benehmen nachdachte, meinte sie, es nur +auf <em>eine</em> Weise erklären zu können. Sie glaubte +<a id="page-276" class="pagenum" title="276"></a> +nicht, daß es Reue war, weil sein heftiger Brief ihres +armen Vaters Tod verschuldet hatte. Sie kam auch +nicht auf den Gedanken, daß er versuchte, sie durch +Liebe und Güte zu gewinnen. Nein, wahrscheinlich +tat sie ihm leid. Er hatte Olga Radó gesehen. Er +hatte ihre Stimme gehört. Er hatte einen Hauch +ihrer Macht gespürt. Wenn Mette das dachte, liebte +sie ihn fast. +</p> + +<p> +Und er hatte es gehört, wie Olga sie verleugnet und +verraten und gedemütigt hatte. Nun hatte er Mitleid +mit ihr. – Wenn Mette das dachte, so haßte +sie ihn. +</p> + +<p> +Auch Tante Emilie war von einer sonderbaren +Sanftmut. Mette dachte später manchmal, daß es +besser gewesen wäre, wenn die Leute in dieser Zeit sie +gequält und gepeinigt hätten und sie stark gemacht +hätten in stählendem Haß. – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Tante Emilie und die ganze Familie war sehr dafür, +die Tiefe der Trauer durch die Länge der Schleier +auszusprechen. +</p> + +</div> + +<p> +Es sollte niemand sagen können, daß Mette, die +verlorene Tochter, das ungeratene Kind nicht über den +Tod ihres Vaters trauere. +</p> + +<p> +Als Mette sich zum erstenmal im Spiegel sah, von +Kopf zu Füßen in schwarzem Krepp, schmal und blaß, +mit erloschenen Augen und schmerzgezeichnetem Mund, +<a id="page-277" class="pagenum" title="277"></a> +dachte sie: „Wie eine Witwe“, und ihr Herz zog sich +qualvoll zusammen. +</p> + +<p> +Als sie zur Beerdigung fuhren und nebeneinander +saßen, hielt Tante Emilie mit der schwarz behandschuhten +Rechten das weiße Taschentuch an die zitternden +Lippen und mit der Linken hielt sie Mettens Hand. +Und Onkel Jürgen sah aus dem Fenster, und von Zeit +zu Zeit rollte eine Träne aus seinen blauen Augen bis +in den Schnurrbart. +</p> + +<p> +Metten war zumut, als sei sie ein Berg gewesen, +an dessen steinerner Unverletzlichkeit jedes Geschoß abgeprallt +war – nun war durch eine Explosion ein +Trichter in sie hineingesprengt, in ihr war Leere, +in ihr war ein tiefer, dunkler, zerklüfteter Abgrund. +Die wild zerrissene Wunde lag offen am Tage und +alles fiel ungehindert in sie hinein, blieb schwer wie +Steine in ihr liegen, erfüllte sie mit Qual – alles, +Blicke, Worte, Tränen, Bewegungen. +</p> + +<p> +„Weh über den, der mich zersprengt hat!“ dachte sie +bitter. +</p> + +<p> +Dann schloß sie ihre Finger einen Augenblick fester +um Tante Emiliens Hand. +</p> + +<p> +„Wir gehören zusammen,“ dachte sie, „Verlassene +und Ungeliebte, bitter- und hartgewordene Unglückliche +– wir gehören zusammen. Zwei große Familien +gibt es auf der Welt, Reiche und Arme, Gesunde +<a id="page-278" class="pagenum" title="278"></a> +und Kranke, Lachende und Weinende ... Olga Radó +gehört zu den Frohen, sie hat triumphiert, sie hat sich +gerechtfertigt, sie hat sich von mir befreit – nun geht +sie lachend einem neuen Abenteuer entgegen.“ +</p> + +<p> +Nicht immer dachte Mette so. Die widerstreitendsten +Empfindungen schüttelten sie durcheinander. +</p> + +<p> +Es kamen wache Nächte, in denen sie glaubte, daß +alles gut werden mußte, wenn sie Olgas Hand hielt +und fragte: +</p> + +<p> +„Kind, wie ist das nur gekommen? Wie konnte +das nur geschehen? Was hast du dir nur dabei gedacht?“ +</p> + +<p> +Dann lief sie am Tage die Motzstraße auf und ab +und starrte zu der Haustür hinüber – aber immer +vergebens. +</p> + +<p> +Dann kamen Tage, an denen Tante Emilie ein +widerlich-freundliches Bedauern zur Schau trug und +sich in Anspielungen erging, über die Undankbarkeit +der Welt im allgemeinen und im besonderen, und +wie Mette nun vereinsamt sei, weil sie ihre ganze Zeit +und ihr ganzes Gefühl an eine solche Person verschleudert +habe. +</p> + +<p> +Dann haßte Mette mit glühendem Haß alle beide, +Tante Emilien und Olga. Aber mehr noch Olga – +Olga, die sie zu Boden geworfen hatte, damit Tante +Emilie auf ihr herumtreten konnte, Olga, die ihr die +<a id="page-279" class="pagenum" title="279"></a> +Wunde gerissen hatte, in der Tante Emilie mit +schmutzigen Fingern wühlte. +</p> + +<p> +Manchmal beschloß sie zu sterben. Viel öfter aber +noch zu fliehen. Ein Bündel zu packen und die Landstraßen +entlang zu laufen, auf Wiesen, in Gräben zu +nächtigen, den ewigen Sternenhimmel als Decke +über sich. +</p> + +<p> +Der Gedanke an fremde Erdteile war das einzige, +was ihr in dieser Zeit zuweilen wohl tat. Mit +diesem Gefühl der Gleichgültigkeit gegen Tod und +Leben mußte es schön sein, irgendwo im Dschungel +mit gespannter Büchse zu liegen und im kaum schwankenden +Rohr die Augen eines Tigers auf sich gerichtet +zu sehen. Oder an einem Wachtfeuer zu liegen, um +das nackte, schwarze Gestalten zu eintöniger Musik +sich verrenkten. Oder von den leise schaukelnden, +kissenweichen Tritten eines Kamels durch unermeßliche, +flirrende, weiße Glut getragen zu werden. +</p> + +<p> +Dann wieder schien es ihr, als ob ein solches Leben +– auch ein <em>solches</em> Leben nur unablässige Qual +wäre ohne Olga – unendlicher Reichtum, unausdenkbares +Glück mit Olga. +</p> + +<p> +Sie versuchte, sich in den Gedanken zu fügen, daß +Olga sie nicht liebte. Aber es konnte nicht sein, daß +sie sie haßte. Sie hatte sie geopfert, leichten Herzens +aufgegeben, um ihren Ruf zu wahren, um sich Unannehmlichkeiten +<a id="page-280" class="pagenum" title="280"></a> +abzuwehren. Sie liebte sie nicht. +Aber darum waren ihre Worte doch Lüge gewesen. +Sie hatte sich gefreut, wenn sie kam. Immer. Sie würde +sich wieder freuen, wenn sie wieder kommen würde. +</p> + +<p> +Sie wollten ein Leben zusammen führen, ein herrliches, +freies Leben, in allen Städten der Welt, auf +Dörfern, im Walde, in Indien, auf Madagaskar. +</p> + +<p> +Dazu kam, daß Metten jetzt tagtäglich klargemacht +wurde, wie reich sie war. Franz Rudloff war kein +Geizhals gewesen, aber er wußte nicht, wie und wofür +man Geld ausgeben sollte. Und Tante Emilie +war viel zu musterhaft, um auch nur in der kleinsten +Kleinigkeit verschwenderisch zu sein. +</p> + +<p> +Mette hatte keine allzu genaue Kenntnis von Geld +und Geldeswert. Aber das wußte sie doch: Die +Summen, die man ihr jetzt nannte, die verbürgten +Freiheit, volle Freiheit, die versprachen ihr: in wenig +Monaten kannst du ein Leben führen, wo du willst +und wie du willst ... +</p> + +<p> +Ein Leben ohne Olga ...? +</p> + +<p> +Mette faßte den Entschluß, an Olga zu schreiben. +Nicht, wie es in ihr aussah, nichts von Sehnsucht und +Liebe, oh, um Gottes willen nicht. +</p> + +<p> +Aber ein paar ganz kühle, sozusagen geschäftsmäßige +Zeilen, die nur den Versuch machen sollten, +eine Aussprache herbeizuführen. +</p> + +<p> +<a id="page-281" class="pagenum" title="281"></a> +Sie verfaßte mit vieler Mühe einen Brief, den sie +aufsetzte, verbesserte, abschrieb und war mit ihrem +Machwerk sehr zufrieden. +</p> + +<p> +Kein Mensch konnte darin einen Hauch von Herzlichkeit +oder gar Demut wahrnehmen. Eher einen +scharfen, spöttischen, ein wenig herausfordernden Ton. +</p> + +<p> +Sie schickte den Brief ab und wartete auf Antwort. +Es kam keine. – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Unterdessen bemühte sich Tante Emilie, an Mettens +Aufklärung zu arbeiten. Und zwar auf eine +merkwürdige Art. +</p> + +</div> + +<p> +Sie war viel zu vorbildlich, um mit einem jungen +Mädchen über sittlich anstößige Dinge zu reden. +Außerdem hatte sie wohl auch Angst vor Mettens +Wutausbrüchen. (Obgleich Feigheit eigentlich sonst +ihre Sache nicht war.) +</p> + +<p> +Mette hatte die Gewohnheit angenommen, in ihres +Vaters Studierzimmer zu sitzen. Sie las und las +den ganzen Tag die schwierigsten, die unverständlichsten +Dinge, nur um ihre Gedanken zu knebeln. Hier +hatte sie alle Bücher zur Hand. Es war bequemer, +sich gleich damit am Schreibtisch niederzulassen, als +die manchmal schweren Folianten erst in einen anderen +Raum zu schleppen. +</p> + +<p> +Außerdem war ihr hübsches, helles Mädchenzimmer +ihr verhaßt. +</p> + +<p> +<a id="page-282" class="pagenum" title="282"></a> +Wenn sie an dem schweren schwarzen Diplomatenschreibtisch +saß, mit müde hängenden Schultern über +die Bücher gebeugt, war es ihr manchmal, als hätte +man Metten da draußen begraben, ein junges, lebensgieriges, +heißblütiges Mädel – und hier säße nun +ein alter, stiller, einsamer Mann. Sie fühlte fast mit +Grauen, daß etwas von dem Toten – seine halben, +scheuen und schwerfälligen Bewegungen, seine gebückte +Haltung, sein abwesendes, um Verzeihung bittendes +Lächeln auf sie übergegangen war. +</p> + +<p> +Auf diesem Schreibtischplatz nun fand sie von Zeit +zu Zeit Bücher, Hefte, Broschüren, scheinbar ganz +verschiedenen Inhalts – Romane, medizinische +Werke, angestrichene Tageszeitungen – aber alle behandelten +dasselbe Thema. +</p> + +<p> +Da waren seltsame und unheimliche Geschichten von +Gräfinnen, die sich in Männerkleidung in Kaschemmen +herumtrieben, bis sie in irgendeinen Hinterhalt +gelockt und gräßlich ermordet wurden. +</p> + +<p> +Oder Berichte von widerlichen Orgien in großen +Klubs, wo Hunderte von Weibern sich als Männer +anzogen und gebärdeten, oder Männer, geschminkt, +mit Lockenperücken und in durchbrochenen Seidenstrümpfen +und nackten gepuderten Armen und Schultern +herumliefen. +</p> + +<p> +Da waren statistische Feststellungen aller der unglücklichen +<a id="page-283" class="pagenum" title="283"></a> +Opfer, die infolge widernatürlicher Unzucht +an Gehirnerweichung, Rückenmarksschwindsucht und +ähnlichem zugrunde gegangen oder in Wahnsinn verfallen +waren. +</p> + +<p> +Oder Schilderungen aus dem Seelenleben Konträr-Sexualer, +die vermuten ließen, daß diese Tausende +von Menschen alle miteinander eine große Gemeinde +bildeten, eine Gemeinde, die durch nichts verbrüdert +wurde, durch keine gemeinsamen Interessen, keine +Gleichheit der Bildung, der Familie, des Geschmacks, +der Weltanschauung, durch keine Liebe, durch nichts +als den Trieb zur gleichen Ausschweifung. +</p> + +<p> +Da war die Biographie eines großen Mannes, der +elend ermordet war durch einen erpresserischen Kellner, +einen Kellner, mit dem er in intimen Beziehungen +gestanden – den er <em>geliebt</em> hatte! +</p> + +<p> +Mette schauderte, wenn sie das Wort Liebe in +diesem Zusammenhange nur dachte. Manchmal war +ihr, als müsse sie ersticken in Kot und Unflat. Ihr +wurde körperlich übel, wenn sie die Bücher nur anrührte. +Sie las sie nicht mehr – eine Weile lang. +Sie las geschichtliche, philosophische, naturwissenschaftliche +Werke. Aber sie wußte oft seitenlang nicht, +was sie las. Ihre Augen gingen über die Zeilen und +spiegelten die Worte. Und ihre Gedanken wälzten +die furchtbaren Dinge, die wie Steinblöcke auf sie geschleudert +<a id="page-284" class="pagenum" title="284"></a> +wurden, um sie zu erschlagen. Dann nahm +sie wieder die anderen Bücher vor, die schlimmen, und +suchte nach Erklärungen und zog Schlüsse und stellte +Vergleiche an. +</p> + +<p> +Wenn von männlich veranlagten Frauen gesprochen +wurde, war viel von ihrem überlegenen Geist, von +ihrem Wissensdurst und Bildungsdrang die Rede. +Auch von einer krankhaften Verschwendungssucht mitunter, +von einem leidenschaftlichen Hang zum Luxus, +von einer unnatürlichen Vorliebe für schöne Stiefel. +</p> + +<p> +Oder auch von unheimlichen Don-Juan-Naturen, +die mit unersättlicher Genußgier von Abenteuer zu +Abenteuer rasten. +</p> + +<p> +Mette geriet vor solchen Dingen in die qualvollste +Verwirrung. Diese Bücher sollten sie den Menschen +verstehen lehren, der ihr auf der Welt am nächsten gewesen +war. Hundertmal in den letzten Monaten +hatte sie sich gesagt: diese Frau ist ein unlösliches +Rätsel, ein unergründliches Geheimnis, mir ewig +fremd und fern, nie zu erfassen und nie zu begreifen. +Und ebensooft hatte sie in jedem Nerv gespürt: Dies +ist die Lösung, nun ist alles klar, alles gut, nie wieder +kann ein Mißverstehen uns trennen. +</p> + +<p> +Und jetzt? Und nun? +</p> + +<p> +Mitunter spürte Mette das quälende Bedürfnis, +diese Schriften zusammenzupacken und damit zu +<a id="page-285" class="pagenum" title="285"></a> +Olga Radó zu gehen: erklär mir das. Gibt es solche +Menschen? Bist du so? Bin ich so? Was weißt du +darüber und wie denkst du darüber? +</p> + +<p> +Über alles, was sie im letzten Jahr gehört oder gelesen +hatte, hatte Olga Radó ihre Meinung äußern +müssen. Und fast immer war Olgas Meinung auch +die ihre gewesen, oder aber eine andere Meinung in +ihr wurde geweckt, gekräftigt, klargestellt. +</p> + +<p> +Nun zum erstenmal sollte sie mit so Ungeheuerlichem +allein fertig werden und tappte völlig hilflos +im Dunkel. Wo sie Licht, wo sie einen Ausweg zu +finden glaubte, kam sie nur auf neue Irrwege. Sie +gelangte nicht um einen Schritt vorwärts, nicht +zurück. +</p> + +<p> +In dieser Wirrnis konnte nur Olga Radó helfen. +Olga Radó mußte klar und deutlich ihre Meinung +über Olga Radó äußern. Und diese Meinung galt. +</p> + +<p> +Da schrieb Mette zum zweitenmal. Auch in diesem +Brief stand kein Wort von Liebe oder Sehnsucht – +nur eine dringende Bitte um Hilfe, viel Klage über +das, was jetzt in ihr geschah und auch ein wenig Anklage: +Du hast mich so weit gebracht, du mußt mir +jetzt die Hand geben und mich aus diesem Sumpfland +hinausführen. +</p> + +<p> +Es kam keine Antwort. – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Aber der Frühling kam über alle diesem. +</p> + +</div> + +<p> +<a id="page-286" class="pagenum" title="286"></a> +Warme, schmeichelnde Lüfte kamen und breite, +glitzernde Sonnenstreifen und Knospenschleier auf +allem Gesträuch und Schneeglöckchen und Krokus, die +sich mühsam ihren Weg bahnten durch schwarzviolettes +fauliges Laub. +</p> + +<p> +Mette konnte die weiche schwere Luft nicht vertragen. +Sie schlief nicht mehr und hatte Kopfschmerzen Tag +und Nacht. +</p> + +<p> +Das Lesen hielt ihre Gedanken nicht mehr fest. Sie +saß über die Bücher gebeugt und starrte aus dem +Fenster. Stundenlang lag dieselbe Seite vor ihr und +wurde nicht umgeschlagen. +</p> + +<p> +Sie fing an, Romane zu lesen. Man konnte darüber +nicht so hinauslesen wie über eine trockene wissenschaftliche +Darstellung, weil sie die Phantasie anregten +und Bilder wachriefen. +</p> + +<p> +Aber diese Bilder wurden zur Qual. +</p> + +<p> +Immer waren da Menschen, die sich liebten, sich +sehnten, um einander, miteinander kämpften, sich +fanden, vereinten oder sich trennten, aneinander zugrunde +gingen, starben, sich verließen. Von Liebe zu +lesen tat weh. +</p> + +<p> +Oder es war vom Meer die Rede, von Bergen und +Wäldern, vom Frühling oder Sommer. Und Mette +dachte: „Nie waren wir am Meer zusammen, nie in +den Bergen, nie in einem Juniwald, nie zwischen +<a id="page-287" class="pagenum" title="287"></a> +reifenden Kornfeldern. Wenn wir in dem engen +Zimmer da oben saßen und auf die graue, regennasse +Wand sahen, war ich so glücklich, weil ich fühlte, daß +alle Schönheit der Welt uns bevorstand. +</p> + +<p> +Olga Radó wird am Meer liegen oder durch reifende +Felder gehen oder durch die Domgewölbe smaragdener +Buchenwälder – aber nie mehr mit mir. Mit wem +nur? Mit wem?“ +</p> + +<p> +„Ich bin verdammt dazu, blind und taub durch die +Welt zu gehen oder mit ewig schmerzenden Sinnen. +Alle Schönheit wird mir zur Marter werden und jeder +Genuß zur Qual.“ +</p> + +<p> +Sie las von Reichtum und Luxus – von Autos, die +über die Landstraße jagten, von weißen Hotels an +blauen Wassern, von Bällen und Festen und Segeljachten +und Schlittenfahrten – dann fing sie an, ihr +Vermögen zu berechnen und dachte: „So ein Leben +hätte Olga Radó führen können, wenn sie bei mir geblieben +wäre.“ +</p> + +<p> +Oder sie las von Armut und Schmutz und Not, +von Verbrechen, die der ewige Druck der Sorge erpreßte, +von Elend und Krankheit und schauriger Einsamkeit. +</p> + +<p> +Dann schnitt ihr die Angst wie mit Messern ins +Herz: „Dahin wird Olga Radó kommen, wenn ich sie +nicht halte. So wird sie enden, wenn ich sie verlasse.“ +</p> + +<p> +<a id="page-288" class="pagenum" title="288"></a> +Die Kirschbäume blühten. Nun fuhr Olga Radó +sicher mit einer schönen Frau auf einem weißen +Dampfer über die blauen Wasser der Havel. Und die +Welt um sie war voll Schönheit und Sonne und +Glanz. +</p> + +<p> +Und Metten faßte eine irrsinnige Sehnsucht, dabei +zu sein, Olgas Leben zu führen. Aller Stolz fiel von +ihr ab wie verbrannte Fetzen. Sie stand nackt vor +sich und schrie vor Weh. +</p> + +<p> +Da schrieb sie zum drittenmal an Olga Radó. +</p> + +<p> +Sie schrieb, daß sie nicht mehr leben und nicht mehr +atmen könne ohne sie. Daß sie nichts von ihr wolle, +keine Liebe, keine Zärtlichkeit, keine Freundschaft. Daß +sie nur um sie sein wolle, wie eine Magd, wie ein +Hund, daß sie nichts wolle, als ihr aus allen Kräften +dienen und zum Lohn dafür sich schlagen und treten +lassen. Daß sie keine Eifersucht kenne oder gar Herrschsucht +oder Besitzerwahn. Daß sie jedem dienen wolle, +Mann oder Weib, den Olga liebte, und daß sie ihre +Liebe so tief in sich anketten und einmauern wolle, daß +nie, nie, nie ein Mensch davon ahnen solle, auch Olga +nicht. +</p> + +<p> +Und sie wartete auf Antwort. Aber es kam keine. +</p> + +<p> +Plötzlich kam sie auf den Gedanken, daß Olga vielleicht +ihre Briefe nicht erhalten hätte ... ganz gewiß +nicht erhalten hätte. +</p> + +<p> +<a id="page-289" class="pagenum" title="289"></a> +Sie ging nach der Motzstraße und jeder Schritt war +ihr, als wenn sie auf Nadeln träte. +</p> + +<p> +Das Mädchen machte ihr auf, das ihr damals in +der Nacht aufgemacht hatte. Da bekam sie den Namen +nicht über die Lippen und fragte nach Petermann. +</p> + +<p> +Der war verzogen, unbekannt wohin. Sie quälte +sich wieder durch zehn Tage hindurch. Dann ging sie +zum zweiten Male hin. +</p> + +<p> +Ein fremdes Mädchen öffnete ihr die Tür. „Ich +habe Glück,“ dachte Mette, und einen Augenblick lang +wurde ihr schwindlig bei dem flüchtigen Gedanken an +die Möglichkeit, daß Olga hier sein könne, daß Mette +vielleicht in der nächsten Minute in ihrem Zimmer ihr +gegenüberstünde. Was nachher geschah, das war ja +im Grunde einerlei. +</p> + +<p> +Fräulein Radó war verzogen – unbekannt wohin. +</p> + +<p> +Mette ging aufs Einwohnermeldeamt. Sie füllte +den vorschriftsmäßigen Zettel aus und gab ihn mit +rasendem Herzklopfen dem grauköpfigen Beamten. +</p> + +<p> +Der freundliche alte Herr ging und suchte und kam +wieder und fragte, ob die Dame eigene Wohnung +hätte. +</p> + +<p> +Nein – Leute, die in Pensionen wohnten, führten +sie nicht. +</p> + +<p> +Da ging Mette den letzten und schwersten Gang. +Sie ging zu Möbiussens. +</p> + +<p> +<a id="page-290" class="pagenum" title="290"></a> +Die Mädchen grinsten ihr frech ins Gesicht, als sie +nach Olga Radó fragte. +</p> + +<p> +Nein, sie wüßten nichts von ihr. Sie hatte sich +natürlich nicht mehr sehen lassen, Vater hätte sie ja +auch wohl höflichst an die Luft gesetzt. Sie hatten auch +plötzlich keine Erinnerung mehr an eine Verwandtschaft. +Sie wußten den Namen des Preßburger +Onkels nicht mehr oder des Budapester Schwagers. +Aber sie <em>wollten</em> gern wissen. Glühend vor Neugier +und Lüsternheit fingen sie an, Fragen zu stellen, +ob es denn wahr wäre, daß ... +</p> + +<p> +Mette wurde rot und blaß und heiß und kalt. Sie +hätte einen Mord begehen können, wenn sie nicht viel +zu müde dazu gewesen wäre. Sie sagte: „Ich weiß +nicht!“ Auf alle Fragen immer nur: „Ich weiß +nicht.“ +</p> + +<p> +Vielleicht hätte sie sich entrüsten sollen und Olga +Radó verteidigen. Vielleicht hätte sie sie verlästern +sollen und geheimnisvolle Andeutungen machen. +Vielleicht hätte sie lachen sollen und die Mädchen an +der Nase herumführen. Sie hielt sich mit beiden Händen +am Stuhl fest und sagte: „Ich weiß nicht!“ +</p> + +<p> +Als sie das Haus verließ, wußte sie, daß sie es +nie wieder betreten würde. Ein sinnloses Wort ging +ihr wie im Fieber immer wieder durch den Kopf: In +der Leute Mäuler sein ... +</p> + +<p> +<a id="page-291" class="pagenum" title="291"></a> +Sie hatte sich noch nie etwas dabei gedacht. Nun +war ihr ganz körperlich so zumute, als hätte man sie +durchgekaut und aufs Pflaster gespien. Der Ekel +schüttelte sie. – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Von Zeit zu Zeit – in immer kürzeren Zwischenräumen +– trat an die Oberfläche ihrer Empfindungen +ein dumpfer, peinigender Haß gegen Olga Radó. +Alles, was sie jetzt litt, hatte diese Frau verschuldet. +Leichtsinnig und kaltherzig und ganz gewissenlos verschuldet. +</p> + +</div> + +<p> +In dieser Zeit war Mette sehr ungerecht gegen Olga +Radó. Denn es schien ihr, als wäre sie aus einer +glücklichen, wohlbehüteten Jugend herausgerissen, als +wäre ein tiefer, heiterer Frieden in ihr zerstört, ein +wundervolles Gleichgewicht in ihr erschüttert worden. +</p> + +<p> +Und es erschien ihr als das Endziel aller Wünsche, +daß es wieder so werden solle, wie es vorher gewesen +war. Sie hatte nur die eine Sehnsucht, das letzte +Jahr aus ihrem Leben zu streichen, zu löschen, zu +vergessen. +</p> + +<p> +Dann nahm sie wieder die schlimmen Bücher vor +und las absichtlich das, was sie am meisten angewidert +hatte. Sie steigerte sich künstlich in Haß und Zorn +und Angst hinein. +</p> + +<p> +<a id="page-292" class="pagenum" title="292"></a> +Es kamen Tage, wo sie sich sagte: Nun bin ich +frei! Ich bin wie aus schwerer Krankheit genesen, +ich fühle, daß mein Blut wieder rein ist – ich werde +leben können wie alle die anderen Menschen auch, +ein Leben ohne Qual und Freude, ohne Sehnsucht +und ohne Erfüllung. +</p> + +<p> +Und es kamen Nächte, wo sie glaubte, daß ein +brennendes Gift in all ihren Adern fräße. Wo die +Angst vor einer unnennbar grauenhaften Zukunft sie +schüttelte. Wo sie glaubte, den eigenen zügellosen +Begierden erliegen zu müssen, wehrlos jeder Dirne +ausgeliefert zu sein, die aus verbrecherischen Gründen +ihre Leidenschaft weckte, wo sie sich von Erpressern gehetzt, +von Kriminalbeamten verfolgt, siech, irrsinnig, +eingekerkert oder ermordet sah. +</p> + +<p> +In einer solchen Periode grenzenlosester Verzweiflung +verlobte sie sich. +</p> + +<p> +Irgendein anständiger und solider Mann bewarb +sich um sie. +</p> + +<p> +Sie wußte nichts von ihm. Sie wußte nicht, wann +und wo sie ihn zum erstenmal gesehen hatte, sie wußte +nicht, wie er aussah, wußte kaum etwas von seinem +Charakter oder seinen Neigungen – sie fühlte nur +eines Tages, seit einiger Zeit war immer ein Mensch +neben ihr, der sich bemühte, gut zu ihr zu sein. Jemand, +der ihr sehr sorgfältig den Mantel um die +<a id="page-293" class="pagenum" title="293"></a> +Schultern legte, sich bückte, wenn ihr etwas hinfiel, ihr +Blumen brachte, sich bemühte, ihr irgend etwas Heiteres +zu erzählen, um ihr Gesicht ein wenig zu erhellen. +</p> + +<p> +Dieser Mann wußte so angenehm wenig von ihr. +Und Tante Emilie überfloß in seiner Gegenwart von +sanfter mütterlicher Freundlichkeit. Es wäre ihr geradeso +gut zuzutrauen gewesen, daß sie vor ihm +bissige Bemerkungen oder vielsagende Andeutungen +gemacht hätte. +</p> + +<p> +Aber er paßte ihr wohl in ihr Programm. +</p> + +<p> +Er bedauerte Metten so unendlich, weil sie Waise +war. Er schrieb all das Weh auf ihrem blassen Gesicht +der Trauer um den geliebten Vater zu. +</p> + +<p> +Manchmal wagte er es, ihre kalten Finger in seinen +beiden Händen zu halten oder sie sanft zu streicheln. +Dann schloß Mette die Augen und prüfte in Angst +ihr Gefühl. +</p> + +<p> +Es ging Wärme und wohltuende Ruhe von seinen +großen starken Händen aus. Seine weiche Zärtlichkeit +war eher angenehm als widerwärtig. Dann +sagte sie sich mit einer aufschimmernden Hoffnung: +„Vielleicht wird noch alles gut. Vielleicht gewinne ich +es über mich, ihn zu heiraten. Ich werde immer +einen Menschen um mich haben, der gut zu mir ist, ich +werde Kinder haben, ich werde ein Heim haben, ich +<a id="page-294" class="pagenum" title="294"></a> +werde immerfort zu tun haben – vielleicht kann +man das Leben auf solche Weise noch am ehesten ertragen.“ +</p> + +<p> +Und dann stachelte sie der unbändige Wunsch nach +Rache. Es würde Olga Radós Eitelkeit vielleicht doch +verletzen, wenn sie erfuhr, daß sie so schnell vergessen +worden war. +</p> + +<p> +Der Mann war reich. Das paßte Tante Emilien, +und es paßte mitunter sogar Metten. +</p> + +<p> +Sie sah sich zuweilen in der Loge der Oper brillantenblitzend +neben diesem Mann – einem sehr hübschen, +stattlichen Mann – sie sah ihn manchmal aus +solchen Gedanken heraus daraufhin an – niemand +würde auf den Gedanken kommen, daß sie ihn nicht +aus Liebe geheiratet hätte – und sah dann plötzlich +Olga Radó irgendwo auftauchen. Oder sie sah sich +in einer Equipage an Olga Radó vorüberjagen – +oder – am liebsten dachte sie, sie zu treffen, wenn sie +mit ihren süßen kleinen, blondlockigen, weiß angezogenen +Kindern spazieren ginge. Dann würde sie die +Kinder vor ihr zurückreißen wie vor einem giftigen +Tier. Damit, ja, damit würde sie sie am schmerzlichsten +verletzen. +</p> + +<p> +Als der Mann anhielt, sagte Mette ja. Sie hatte +Zeit genug gehabt, sich an diesen Gedanken zu gewöhnen. +Sie setzte selbst die Verlobungsanzeigen +<a id="page-295" class="pagenum" title="295"></a> +auf und sorgte dafür, daß sie in verschiedene Zeitungen +kamen. +</p> + +<p> +An ihrem einundzwanzigsten Geburtstag war ein +kleines Gartenfest in der Villa ihrer Schwiegereltern. +Es war ein sehr heißer Sommertag, der neunzehnte +Juni, und auf Tante Emiliens Zureden zog Mette +zum erstenmal wieder ein weißes, schwarzgesticktes +Kleid an. +</p> + +<p> +Alls sie draußen in der fremden Wohnung unter +vielen fremden Menschen an einem Spiegel vorüberstreifte, +erkannte sie sich nicht. +</p> + +<p> +Sie erschrak und wurde den Gedanken nicht wieder +los, daß sie nicht das hübsche, weiß gekleidete Mädchen +sei, was am Arm eines fremden Mannes ihr aus dem +Spiegel entgegenlächelte. +</p> + +<p> +Sie suchte sich selbst und konnte sich nicht darauf besinnen, +wo sie wohl sein könne. Aber ihr war, als +sähe sie sich selbst, schmal und schwarz wie ein Gespenst, +durch große, dunkle, leere Räume wandern. +Dann war es ihr wieder, als sei sie doch dieses hier, +und die andere Mette, die so deutlich ihre Züge trug, +sei eine Fremde. Traum und Wirklichkeit begannen, +sich heillos ineinander zu verschlingen, alle ihre Nerven +schienen ihr zu klirren wie losgerissene Saiten, +sie sehnte sich in Todesangst nach völliger Bewußtlosigkeit +oder plötzlich hereinbrechender Klarheit – es +<a id="page-296" class="pagenum" title="296"></a> +war wie Nebel, die vorbeizogen oder ein vorübergehender +Schwindel – eine Minute später konnte sie +sich nicht besinnen, was es eigentlich gewesen war, und +konnte ihrem Verlobten, der besorgt nach der Ursache +ihrer Blässe fragte, keine Antwort geben. +</p> + +<p> +Nur das seltsame Gefühl blieb ihr den ganzen +Abend, als sei dies alles nur ein Traum oder ein +Spiel. Die ganze Verlobung eine scherzhafte Komödie, +und jeden Moment könne, wie ein gestrenger +Regisseur, ein Schicksal hervortreten und sagen: +„Genug! Die Wirklichkeit fängt wieder an!“ – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Am zwanzigsten Juni morgens wurde Mette ans +Telephon gerufen. +</p> + +</div> + +<p> +Eine dünne Männerstimme sprach aus dem Hörer, +seltsam verhalten und zögernd. +</p> + +<p> +„Ist das gnädige Fräulein selbst am Apparat? – +Mette, sind Sie es? Verzeihung, wenn ich störe – +ich hätte dich gern gesprochen!“ +</p> + +<p> +Mette fühlte, wie ihr Herz sich losriß und in einen +unermeßlichen dunklen Abgrund stürzte. +</p> + +<p> +„Peterchen?“ sagte sie und erquälte ein Lächeln, +ohne daran zu denken, daß niemand ihr Gesicht sehen +konnte. Und keiner hätte dem bebenden Ton ihrer +Stimme dies Lächeln anhören können. +</p> + +<p> +<a id="page-297" class="pagenum" title="297"></a> +„Ja ... könnte ich dich sprechen, Mette? Das +heißt ...“ Wieder war dies scheue Zögern in der +Stimme. „Wenn du willst, natürlich ... ich weiß +ja nicht, wie weit du noch Interesse hast für deine +alten Freunde.“ +</p> + +<p> +„Selbstverständlich,“ sagte Mette fest, „jederzeit +kannst du mich sprechen ... wann und wo du +willst.“ +</p> + +<p> +Sie fragte nicht, was geschehen sei. Sie wollte +nicht fragen. +</p> + +<p> +„Ich kann doch nicht gut kommen ...“ Wieder +dieser zaghafte Ton. „Und ich möchte auch nicht gern +auf der Straße ... oder im Kaffeehaus ... es geht +wirklich nicht ...“ +</p> + +<p> +„Ich komme zu dir,“ sagte Mette rasch. „Sag’ mir +nur, wo du wohnst!“ +</p> + +<p> +„... ja ... aber ... geht denn das? ... Schließlich +... wenn du nachher Unannehmlichkeiten hast ... +du bist verlobt ...“ +</p> + +<p> +„Blödsinn!“ sagte Mette schroff. – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +Während sie über die Straße lief, dachte sie mit +keinem Wort an das, was geschehen war. Sie wollte +es vor sich selber nicht aussprechen. „Vielleicht ist Olga +krank und hat Sehnsucht nach mir,“ dachte sie. „Vielleicht +<a id="page-298" class="pagenum" title="298"></a> +weiß sie auch nichts davon, und Peterchen ruft +mich aus eigenem Antrieb.“ +</p> + +</div> + +<p> +Sie malte sich aus, daß sie Olga sehen würde, daß +sie ihre Hand halten würde – und sie sagte sich dabei: +„Das erzähle ich mir vor, wie man einem fiebernden +Kinde Märchen erzählt. Ich male es mir mit den +schönsten Farben aus und glaube so wenig daran, +wie man an Feen und Zauberer glaubt.“ +</p> + +<p> +Aber es war besser, Märchen zu erzählen, Wiegenlieder +zu singen, als nach der Stimme zu hören, die +ganz tief in ihr die Wahrheit schrie. +</p> + +<p> +Es war seltsam, daß sie – ohne sich umzusehen – +die Straße und das Haus fand, so, als wäre sie +hundertmal dagewesen. +</p> + +<p> +Als sie klingelte, stand Petermann schon auf der +Diele. Das ersparte ihr jede Fragerei. Sie spürte +auch jetzt, dem Dienstmädchen gegenüber, dem ersten +Menschengesicht, das sie bemerkte, daß sie dazu kaum +imstande gewesen wäre. +</p> + +<p> +Er nahm sie bei der Hand und zog sie wortlos, an +dem erstaunten Mädchen vorüber, in eine offene +Zimmertür. +</p> + +<p> +Er schloß die Tür und sagte währenddessen, ohne +sie anzusehen: +</p> + +<p> +„Setz dich doch, Mette!“ +</p> + +<p> +Das erste, was Mette in dem Zimmer sah, war auf +<a id="page-299" class="pagenum" title="299"></a> +der dunklen Platte des Schreibtisches die goldene +Zigarettendose. +</p> + +<p> +Ein Sonnenstrahl blitzte darauf. +</p> + +<p> +Sie wollte sich beherrschen. Es war, als ob sie +beide Hände um die Zügel krampfte, um sich zu halten. +</p> + +<p> +Aber als Petermann sich ihr zuwandte und sie sah, +wie seine Hände hilflos waren, wie sein kleines, +weißes Gesicht zitterte, wie mühsam er um Fassung +kämpfte – da zerbrach die ihre. Sie fing an zu +weinen. +</p> + +<p> +Peterchen setzte sich neben sie und streichelte eine +Weile schweigend ihre Hände. +</p> + +<p> +„Weine nur,“ sagte er schließlich mit zitterndem +Kinn, während die Tränen aus seinen Augen stürzten. +„Weine nur, sie war es wert, daß um sie geweint +wird, das kannst du mir glauben ...“ +</p> + +<p> +„Dir glauben?“ sagte Mette mit herzzerreißender +Bitterkeit. Sie legte das Tuch über die Augen und +stützte den Kopf in die Hand. +</p> + +<p> +Ihre andere Hand streichelte zuckend über die seine. +</p> + +<p> +„Und nun sag’ mir alles, Peterchen – du siehst, +ja, daß ich ganz ruhig bin – ganz, ganz ruhig. Wann +geschah es? ... und wie ... und warum? ... +Sag’ mir alles, alles, was du weißt ...“ +</p> + +<p> +„Du solltest es nicht wissen, Mette. Nicht vor +deinem einundzwanzigsten Geburtstag. Der war +<a id="page-300" class="pagenum" title="300"></a> +gestern, nicht wahr? Ich habe ihn hier auf dem +Kalender vermerkt – aus einem anderen Grunde ... +das muß ich dir alles noch erzählen ... ich hatte einen +Auftrag an dich ... aber ich hatte natürlich keine +Ahnung ... man ist ja manchmal wie mit Blindheit +geschlagen.“ +</p> + +<p> +Mette hob einen Augenblick den Kopf: +</p> + +<p> +„Sie hat es selbst getan.“ +</p> + +<p> +Es lag keine Frage in dem Ton. +</p> + +<p> +„Ja.“ +</p> + +<p> +„Erschossen.“ +</p> + +<p> +„Ja.“ +</p> + +<p> +Sie deckte das Tuch wieder über die Augen. +</p> + +<p> +„Weiter.“ +</p> + +<p> +„Sie war einmal krank im Frühjahr, es war eine +leichte Influenza. Sie fieberte ein bißchen, da saß ich +drüben bei ihr, und sie sprach in einemfort von Tod +und Begräbnis, ganz heiter und ausgelassen, wie es +ihre Art war. Du weißt ja, man wußte nie, ob es +Scherz oder Ernst bei ihr war. Da sagte sie noch: +Peterchen, wenn ich jetzt sterbe, dann sorge dafür, daß +es geheim bleibt. Es soll in keine Zeitung, kein +Mensch soll es wissen. Auch die Mette nicht. Am +liebsten wär’ es mir, du streutest meine Asche ins Meer +oder wenigstens in den Wannsee. Aber das erlaubt der +Staat, glaub’ ich, nicht. Nur mach schnell, daß der +<a id="page-301" class="pagenum" title="301"></a> +Rest verbrannt wird. Ich will kein Gfrett haben mit +meinem Leichnam, ich will’s nicht. Ich bin nicht drin, +merkt’s euch. Nicht eine Minute länger, als unbedingt +nötig, halt ich mich in dem Kadaver auf.“ +</p> + +<p> +Metten war, als höre sie Olga reden. So deutlich +hörte sie ihre Stimme, daß ihr Herz sich mit einer +innigen Freude füllte und sie lächelte. +</p> + +<p> +„Ich hab’ damals auch gelacht,“ sagte Peterchen +wehmütig, „da wurde sie ganz ernst und richtete sich +auf und sah mich an. Du weißt ja, wie sie einen ansehen +konnte mit so gewaltsamen Augen und sagte: +</p> + +<p> +‚Es ist mein heiliger Ernst. Versprich es mir, gib +mir dein Ehrenwort!‘ Ich versprach es ihr auch, aber +ich sagte noch: +</p> + +<p> +‚Du bist ja verrückt, in drei Tagen bist du doch wieder +gesund.‘ +</p> + +<p> +Sie <em>war</em> ja auch in drei Tagen wieder gesund.“ +</p> + +<p> +Er schwieg. Irgendwo tickte eine Uhr und Fliegen +stießen surrend gegen das Fensterglas. +</p> + +<p> +Irgend etwas erfüllte Metten ein paar Sekunden +lang mit Beruhigung und Freude. Eine unklare +Empfindung: wie gut, daß Olga in ein paar Tagen +gesund geworden war. Es steckte so viel kraftvolles +Leben in diesem schönen Körper. +</p> + +<p> +Dann schlug ihr das Jetzt wie eine geballte Faust +aufs Herz. +</p> + +<p> +<a id="page-302" class="pagenum" title="302"></a> +Und jetzt? Und jetzt? +</p> + +<p> +Sie mußte ein paarmal ansetzen, um das furchtbare +Wort auszusprechen. +</p> + +<p> +„Habt ihr sie schon begraben?“ fragte sie ganz leise. +</p> + +<p> +„Sie ist verbrannt worden. Die Urne ist nach Wien +gekommen. Ihre Schwester lebt jetzt da.“ – +</p> + +<p> +„Hat sie hier gewohnt zuletzt?“ +</p> + +<p> +„Um die Ecke, zwei Häuser von hier.“ +</p> + +<p> +„Und da ist es auch geschehen?“ +</p> + +<p> +„Ja.“ +</p> + +<p> +„Kann man ...“ Mette schluckte ein paarmal, „kann +man nicht das Zimmer sehen?“ +</p> + +<p> +Petermann hob zögernd die Achseln: +</p> + +<p> +„Wozu? Es ist alles umgestellt. Nichts von ihren +Sachen mehr da. Es ist auch schon wieder vermietet.“ +</p> + +<p> +Mette sank in sich zusammen. „Es ist gut so,“ +sagte sie leise, „es ist auch ganz gut so.“ +</p> + +<p> +Sie hatte ein eigenartiges Empfinden. Es war +wie eine Wohltat, daß jede Form zerstört war, die +dieser Geist geschaffen hatte. Nicht einmal ein +Zimmer war mehr auf der Welt, das diese Hände, +dieser Sinn geordnet hatten und in das ein Teil ihres +Wesens gebannt geblieben wäre. Metten war halb +unbewußt so zumute, als hätte man durch das Umrücken +von Möbelstücken Steine aus einer Kerkerwand +gebrochen. +</p> + +<p> +<a id="page-303" class="pagenum" title="303"></a> +Nun war Olga Radó ganz frei. +</p> + +<p> +Ein leiser Windhauch bewegte den offenen Fensterflügel +und hob die Gardine. Eine süße weiche Kühle +strich über Mettens brennende Augen. Sie lächelte. +</p> + +<p> +„Es ist gut so!“ sagte sie noch einmal. +</p> + +<p> +Sie wußte plötzlich, daß Olga ihre Briefe nicht erhalten +hatte. Sie hätte nicht danach zu fragen +brauchen. +</p> + +<p> +Aber Peterchen wär schließlich der einzige Mensch, +an dessen Meinung ihr noch ein wenig gelegen war. +Sie hatte das Gefühl, sich vor ihm rechtfertigen zu +müssen. +</p> + +<p> +„Ich habe dreimal an Olga geschrieben!“ sagte sie. +</p> + +<p> +„Ich habe es mir beinah gedacht,“ sagte Peterchen +mit trübem Lächeln. „Sie hat nie eine Zeile erhalten.“ +</p> + +<p> +„Du wüßtest es sonst?“ +</p> + +<p> +„Selbstverständlich. Wir haben doch oft genug über +dich gesprochen.“ +</p> + +<p> +„Habt ihr? Was?“ +</p> + +<p> +Während Petermann sprach, hatte Mette die seltsame +Empfindung, als durchlebe sie in diesen wenigen +Minuten mit stärkster Intensität das letzte halbe Jahr +ihres Lebens. So, als wäre damals, an jenem unglückseligen +Morgen der Faden des Gewebes abgerissen +und mühsam, Tag um Tag, ein Muster, das nicht +<a id="page-304" class="pagenum" title="304"></a> +passen wollte, angestückelt. Nun trennte das falsche +Gewebe sich, rückwärts laufend, blitzschnell von selber +auf – ein Knoten wurde geknüpft, wo der Faden abgerissen +war, und die wirkliche Zeichnung lief weiter, +ein wenig verkürzt, ein wenig matt in den Farben – +aber sie lief weiter und gab eine Brücke zum heutigen +Tag und den Tagen, die kommen sollten. +</p> + +<p> +„Was habt ihr von mir gesprochen?“ +</p> + +<p> +„O viel ... Ich habe ihr sooft zugeredet, an dich +zu schreiben, irgendwie eine Verbindung mit dir zu +suchen. Sie hatte die Überzeugung, es nicht tun zu +dürfen. Du weißt ja, wie halsstarrig sie war. +Manchmal hatte ich die Absicht: ich telephoniere dir +oder ich lauere dir irgendwo auf – gegen ihren +Willen. Einmal hab’ ich ihr das auch gesagt. Da hat +sie mich angefunkelt mit ihren großen Augen: ‚Wenn +du dich das unterstehst, ist es aus mit unserer Freundschaft, +für ewige Zeiten aus. Willst du das arme Kind +auch noch zugrunde richten?‘ +</p> + +<p> +Sie glaubte immer, du wärest glücklich, und es +ginge dir gut. Ich war der Meinung, du müßtest erfahren, +was vorgeht. Ich hab’ so gekämpft, du glaubst +es nicht. Einmal hab’ ich dir eine Stunde lang +Fensterpromenade gemacht. Ich dachte immer, wenn +ich dich sprechen würde, wir würden irgendeinen Ausweg +finden. Ich dachte immer, es würde noch alles +<a id="page-305" class="pagenum" title="305"></a> +gut. Dann hast du dich ja verlobt. Ja, da mußte ich +ihr ja schließlich recht geben.“ +</p> + +<p> +„Oh, du Idiot!“ sagte Mette und lachte unter hervorstürzenden +Tränen. +</p> + +<p> +„Ich weiß den Tag noch so genau. Olga kam zu +mir herüber, am frühen Morgen schon. Sie hockte +hier neben mir auf dem Sessel und rauchte eine +Zigarette nach der anderen. Eine halbe Stunde lang +sprach sie kein Wort. Ich saß hier am Schreibtisch und +tat so, als ob ich arbeitete. Ich hatte die Zeitung weggeschoben, +als ich sie kommen hörte. Aber wie sie so +dasaß, da wußte ich: sie weiß es schon. Und sie +wußte, daß ich es wußte, aber keiner wollte anfangen, +davon zu sprechen. Wie sie dann schließlich anfing, +sagte sie immerfort: ‚Ich bin so glücklich. Ich bin ja +so froh.‘ Und sie verlangte von mir, daß ich mich +freuen sollte. Wir gingen am Abend eine Flasche +Wein zusammen trinken. Sie zwang mich direkt dazu. +Wir müßten doch auf deine Zukunft trinken. Ich +seh’ sie noch immer am Tisch sitzen und das Weinglas +drehen. Sie hatte so ein merkwürdiges Lächeln den +ganzen Tag. Und dann sagte sie immer wieder: ‚Die +kleine Mette wird heiraten. So gut ist das. So gut. +Unsere kleine Mette wird Kinder haben, lauter Jungens, +denen geht’s immer gut.‘ – Dann wollte sie +immer wieder von mir hören, daß ich es gut fände, +<a id="page-306" class="pagenum" title="306"></a> +daß ich mich freute. Und ich muß sagen – wie die +Dinge lagen – es war ja auch wohl das Beste ... +aber von dem Tage an hatte sie eine nervöse Angst, dir +irgendwo zu begegnen. Manchmal, wenn sie etwas +zu besorgen hatte, bat sie mich darum. Manchmal saß +sie vor mir, blaß und mit gefalteten Händen: ‚Bitte, +bitte, Peterchen, ich kann nicht nach dem Kaufhaus +gehen.‘ Die letzten acht bis zehn Tage hat sie überhaupt +ihr Zimmer kaum mehr verlassen. Sie telephonierte +mich an, ich sollte rüberkommen, sie wollte +nicht auf die Straße. Aber das hatte wohl auch noch +einen anderen Grund ...“ +</p> + +<p> +„Was für einen?“ fragte Mette, nachdem er eine +ganze Weile schweigend aus dem Fenster gesehen hatte. +</p> + +<p> +Er warf einen raschen und gleichsam prüfenden Blick +auf sie. +</p> + +<p> +„Du weißt es nicht?“ sagte er wie erleichtert. „Nicht +wahr, du weißt nichts davon ... ich hab’ es auch +eigentlich nie anders angenommen ... Sie haben sie +beobachten lassen ... deine Leute. Wo sie ging und +stand war ein Detektiv hinter ihr her. Oh, und sie litt +so wahnsinnig darunter.“ +</p> + +<p> +„Warum nur?“ fragte Mette mit verlorenen Augen, +„warum haben sie denn das getan? Sie hatten mich +doch in der Hand. Sie wußten doch, wo ich jede +Stunde des Tages zubrachte.“ +</p> + +<p> +<a id="page-307" class="pagenum" title="307"></a> +„Sie fürchteten wohl ... vielleicht dachten sie, +wenigstens damals ... im Anfang, vor deiner Verlobung, +du könntest in deinen Entschlüssen wankend +werden ... oder sie könnte versuchen, dich wieder zu +beeinflussen, sie wollten ihr irgend etwas nachsagen +können, um sie als lästige Ausländerin ausweisen zu +lassen. Herr von Seyblitz hat ihre ganzen Schulden +aufgekauft. Das wußtest du auch nicht, nicht wahr? +Sie haben sie so in die Enge getrieben ... täglich +kamen Briefe von Rechtsanwälten, vom Gericht ... +Sie hat sie nachher nicht mehr aufgemacht ... Sie ließ +sie auf dem Schreibtisch sich anhäufen. Ich sagte +manchmal: Kind, das geht nicht, du mußt antworten, +du mußt hingehen, du mußt Entschlüsse fassen ... +Dann lächelte sie so unendlich melancholisch: ‚Ich +habe meinen Humor nicht mehr, Peterchen, ich +bin alt und müde. Mir ist das gar ka’ Hetz +mehr.‘ Und sie zeigt so mit einer Handbewegung auf +die Papiere. +</p> + +<p> +Es kamen auch Drohbriefe – so gemein – sag’ ich +dir. Mit Ausdrücken, die man nicht wiederholen +kann. Von deiner Tante Emilie, glaub’ ich. Aber +so, als wären sie in deinem Sinne geschrieben. Du +wüßtest nun, wes Geistes Kind sie wäre, und sie sollte +jeden Annäherungsversuch unterlassen und nicht versuchen, +ihre Erpressungen an dir fortzusetzen. Es wäre +<a id="page-308" class="pagenum" title="308"></a> +ja genug, daß sie dich zu Diebstahl und Einbruch verführt +hätte, daß sie deine Gesundheit untergraben +hätte, daß sie den Tod deines Vaters verschuldet hätte +– ach, und was weiß ich. Und dann Dinge, die du +über sie gesagt haben solltest ... es muß Furchtbares +gewesen sein; denn sie wollte es selbst mir nicht sagen +oder zeigen. +</p> + +<p> +Sie saß mir gegenüber, ganz weiß im Gesicht und +mit glühenden Augen und hielt mich am Handgelenk +gepackt, daß ich dachte, sie zerbricht mir die Knochen +und sagte immer wieder: ‚Davon weiß die Mette +nichts, nicht wahr, Peterchen? Davon weiß die Mette +nichts?‘ +</p> + +<p> +Und dann ein andermal wieder sagte sie: +</p> + +<p> +‚Wie können Menschen nur so wahnsinnig grausam +sein. Sie haben doch direkt ihren Spaß daran, mich +langsam zu Tode zu quälen. Sie machen einen Kranz +von glühender Kohle um mich her – wo ich mich nach +einem Ausweg wende, sperren sie zu, bloß um zu +beobachten, wie ich mich gebärde, wenn sie mich glücklich +bis zur Raserei gebracht haben.‘ Ich weiß noch, +dabei rannte sie hier im Zimmer auf und ab und ich +dachte wirklich, die Wände werden ihr zu enge, sie ist +wie ein gefangenes wildes Tier. Ich sagte noch: Du +kannst doch dem allen entgehen. Du kannst doch nach +Hause reisen. Da wurde sie ganz ruhig und sagte: +<a id="page-309" class="pagenum" title="309"></a> +‚Ja, ich kann dem allen entgehen. Ich kann abreisen. +Ich kann nach Hause reisen!‘ +</p> + +<p> +Damals fiel mir ihr Ton nicht auf. Jetzt, wenn er +mir wieder im Ohr klingt, begreife ich nicht, daß ich +sie nicht verstanden habe. Von der Zeit an sprach sie +oft von der Reise. ‚Am zweiundzwanzigsten Juni +fahre ich nach Hause.‘ Das war ihre ständige Rede. +Ich fragte sie einmal, warum sie gerade diesen Tag +festgesetzt hätte. Da lachte sie und sagte: +</p> + +<p> +‚Weil es drei Tage nach dem neunzehnten ist.‘ Ich +dachte wohl darüber nach. Aber der Zusammenhang +wurde mir damals nicht klar ... +</p> + +<p> +Aber dann nach deiner Verlobung wurde das anders. +Sie sagte plötzlich: wenn ich reise – nächste +Woche ... oder übermorgen. Ich neckte sie noch und +sagte: Nanu? Bist du deinen Vorsätzen untreu geworden? +Ich denke, du fährst erst drei Tage nach dem +neunzehnten Juni?! Da sieht sie mich so rätselvoll an +und schüttelt den Kopf und sagt: ‚Ach nein, Peterchen, +<em>darauf</em> brauche ich nun nicht mehr zu warten!‘ +</p> + +<p> +Am Abend des ... an einem Montagabend, kam +sie plötzlich her, wie es mir vorkam, in einer gewissen +heiteren Erregung. Sie legte das Zigarettenetui hier +auf den Schreibtisch, hier, wo es noch liegt – und +sagte zu mir, ich solle ihr den Gefallen tun und es in +deine Hände gelangen lassen. Sie wollte reisen und +<a id="page-310" class="pagenum" title="310"></a> +wäre schon am Packen. Wenn sie es dir schickte, +würde man es wahrscheinlich als Erpressungsversuch +deuten. +</p> + +<p> +Ich sollt’ es dir geben, wenn sie fort wäre. Erst an +deinem Geburtstag. Und sie verlangte, ich sollte mir +den Tag im Kalender ankreuzen. Ich sagte, ich behalt +es so. Aber sie schlug das Datum in meinem Kalender +auf und zeichnete es selbst ein.“ +</p> + +<p> +Er schlug mit einer fast andächtigen Bewegung das +letzte Blatt zurück und schob Metten den Kalender hin. +</p> + +<p> +Auf dem weißen Blatt stand unter den neunzehnten +Juni in Olgas großer schöner Handschrift langsam, +sorgfältig hingezirkelt: +</p> + +<p> +Mettes Geburtstag. Nicht vergessen, Peterchen! – +Und darunter waren drei Kreuze hingemalt, kleine, +schwarze, spielerische Tintenkreuze. +</p> + +<p> +Mette sagte nichts. Sie legte die flache Hand auf +das Blatt und nahm sie nicht wieder herunter. +</p> + +<p> +Peterchen räusperte sich ein paarmal, dann sprach +er weiter: +</p> + +<p> +„Eh’ sie hinüberging, verabredeten wir alles für +den andern Tag. Wir wollten uns vormittags nach +den Zügen erkundigen, abends wollte ich sie an die +Bahn bringen. Wie sie fort war, wurde ich so unruhig. +Irgend etwas schien mir nicht zu stimmen, +ich wußte nicht was. Ich versuchte, hinüber zu telephonieren, +<a id="page-311" class="pagenum" title="311"></a> +bekam keine Verbindung. Ich saß hier am +Schreibtisch in einer ganz unbeschreiblichen Nervosität. +Das Ding lag vor mir,“ er nahm das Etui in die +Hand, „ich nehm’ es auf, ganz in Gedanken. Plötzlich +fiel mir ein – verzeih’ mir, Mette, wenn es indiskret +war, aber ich war in einer so peinigenden +Unruhe, plötzlich fiel mir ein, es aufzumachen. Es +war halb Spielerei und halb die Ahnung, daß ich +irgend etwas finden könnte, irgend etwas Aufklärendes. +Wie ich das Ding aufknipse,“ er tat es, +„find’ ich diesen Zettel darin.“ +</p> + +<p> +Er gab es Metten in die Hand. Unter die Bänder, +die die Zigaretten auf der goldenen Fläche festhalten +sollten, war ein Blatt Papier geschoben, darauf stand +in Olgas unverkennbarer Handschrift: +</p> + +<p> +„<span class="antiqua">Qui vivens laedit, morte medetur!</span>“ +</p> + +<p> +„<span class="antiqua">Qui vivens laedit, morte medetur!</span>“ wiederholte +Petermann. „Ein paarmal las ich das wie ein Blödsinniger, +ohne etwas zu begreifen, dann stürzte ich +hinunter. Ohne Hut, ohne Schlüssel. Unten war +das Haus verschlossen. Ich klingelte dem Portier. +Er kam nicht sofort. Ich raste die Treppen wieder +hinauf, um mir die Schlüssel zu holen. Ehe ich das +Haus aufschloß, eh’ ich über die Straße kam, eh’ ich +drüben den Portier rausklingelte – das dauerte alles +Ewigkeiten. Auf der Treppe begegnete mir das +<a id="page-312" class="pagenum" title="312"></a> +Mädchen, das mich holen sollte. Schreiend und +schluchzend. Da war es schon geschehen.“ +</p> + +<p> +Mette legte die Stirn auf die Kante des Schreibtisches. +Es wurde kein Laut hörbar. Petermann +strich ein paarmal mit zitternden Fingern über +Mettens Haar. +</p> + +<p> +„Ich muß dir noch etwas erzählen,“ sagte er leise, +„Sie hat ganz in deinen Blumen gelegen – vielleicht +tut dir der Gedanke wohl. Du weißt doch, damals +– als ihr euch trenntet – du liefst weg und +deine Leute dir nach, ich hatte den Wortwechsel ja +von draußen so halb und halb mit angehört – ich +ging nach einer ganzen Weile in mein Zimmer – da +stand Olga noch immer mitten im Zimmer, an den +Tisch gelehnt. Und wie ich hereinkomme, sieht sie +mich an, als wecke ich sie aus dem Schlaf. Ich nehme +sie an beiden Armen und rüttle sie. Was ist denn +geschehen, Olga? Was hast du denn der Mette getan? +Sie sieht mich ganz verstört an und sagt immer +wieder: Ich habe etwas Furchtbares getan, oh, Gott, +Peterchen, ich habe etwas Furchtbares getan. Sie +hatte dich ganz formell fortgeschickt, nicht wahr? Hatte +gesagt, du solltest sie nicht mehr belästigen oder so +etwas, nicht wahr? +</p> + +<p> +Dann sagte sie wieder: es wäre zu deinem Besten, +sie hätte dich fortschicken müssen, es wäre verbrecherischer +<a id="page-313" class="pagenum" title="313"></a> +Egoismus, dich zu halten. Ich sah, wie +aufgeregt sie war und stimmte ihr zu, wenigstens +halb und halb. Ich war ja doch im Grunde etwas +erbittert auf sie. Ich sagte, glaub’ ich, Tante Emilie +hätte alle Ursache, ihr dankbar zu sein. +</p> + +<p> +Da nahm sie mich plötzlich bei der Hand und sagte +ganz ruhig: ‚Ich lüge ja, Peterchen, ich lüge ja. Es +war ja nichts wie hundserbärmliche Feigheit. Aber +Mette mußte das wissen, sie kannte mich doch. Ich +hätt’ mich auf die Schienen gelegt, oder ich wär’ aus +dem Fenster gesprungen, aber ich kann mir nicht von +solchen Leuten die Kleider vom Leibe reißen lassen, +ich kann es nicht, ich kann es nicht. Ich weiß, ich +bin erbärmlich und verächtlich, aber ich kann es nicht, +ich kann es nicht.‘ Und immer wieder: ‚Ich kann es +nicht!‘ Ich fragte sie, was du geantwortet hättest. +Da wurde sie ganz blaß und sagte: ‚Nichts hat sie +geantwortet. Nicht ein Wort. Das ist ja das Furchtbare. +Sie stand meiner Gemeinheit so wehrlos +gegenüber.‘ +</p> + +<p> +Sie hatte dann noch eine Auseinandersetzung mit +der Flesch. Die Flesch hat sich nebenbei noch unglaublich +benommen. Olga wollte keine Stunde +länger in dem Hause bleiben. Was ich ihr auch gar +nicht verdenken konnte. Sie ging dann hinüber, um +ihre Sachen zu packen. Nach einer Weile kommt sie +<a id="page-314" class="pagenum" title="314"></a> +und packt mich am Handgelenk und zieht mich in ihr +Zimmer. +</p> + +<p> +‚Da hast du ihre Antwort,‘ sagt sie und zeigt mir +das ausgestreute Geld. ‚Sie kann antworten. Wir +haben sie unterschätzt.‘ Oh, Mette, warum hast du +das nur getan? Wenn ich ehrlich sein soll – ich war +damals furchtbar böse auf dich! Sie sagte immer: +‚Was tue ich nur? was tue ich nur?‘ Ich sagte: du +packst das Geld in ein Kuvert und schickst es hin, +ohne ein Wort dazu. Aber sie schüttelte nur den +Kopf. ‚<em>Die</em> Ohrfeige hab’ ich verdient, Peterchen,‘ +sagte sie schließlich, ‚die muß ich ganz ruhig hinnehmen.‘ +Sie suchte die Scheine zusammen, beinahe +liebevoll, möcht’ ich sagen, und sagte ein paarmal +ganz leise: ‚Der Kindskopf! sie hat ja nicht gewußt, +was sie tut! sie hat ja nicht gewußt, was sie tut!‘ +Dann gab sie mir das Bündel Scheine. ‚Heb’ mir +das auf, Peterchen. Vielleicht kommt einmal eine +Zeit, wo ich es nötig brauche, und vielleicht ist es mir +dann eine Freude zu wissen, daß es von Metten +kommt.‘ +</p> + +<p> +Ich habe sie in der letzten Zeit so oft daran erinnert, +wenn sie vor Sorgen buchstäblich nicht mehr aus noch +ein wußte. Aber sie schüttelte nur immer den Kopf +und sagte: ‚Noch nicht, noch nicht!‘ +</p> + +<p> +Als sie ... tot war,“ die Stimme brach ihm, +<a id="page-315" class="pagenum" title="315"></a> +„da hab’ ich weiße Orchideen gekauft, für das ganze +Geld und hab’ sie überschüttet damit. Das sah aus +wie ein Märchen.“ +</p> + +<p> +Er kam nicht weiter. Die Lippen zitterten ihm, +die Tränen stürzten über sein Gesicht. +</p> + +<p> +Nach einer langen, langen Stille richtete Mette sich +ruhig auf, mit trockenen Augen. +</p> + +<p> +Neben dem Etui auf dem Schreibtisch lag eine +Waffe. +</p> + +<p> +„Das ist der Revolver?“ fragte Mette und griff +danach. +</p> + +<p> +„Ja.“ +</p> + +<p> +„Gib ihn mir,“ sagte sie und legte die Hand fest +um den Griff. +</p> + +<p> +Petermann machte eine erschrockene Bewegung. +</p> + +<p> +Mette schüttelte langsam den Kopf. +</p> + +<p> +Petermann sah ihr in die Augen, dann zog er +zögernd die ausgestreckte Hand zurück. +</p> + +<p> +„Ich will ihn nicht behalten,“ sagte er, „er liegt da +wie eine ständige Versuchung. Und nicht jeder hat +eine so sichere Hand wie Olga Radó. Du hast ein +Recht darauf. Natürlich. Aber ich möchte nicht, daß +du ihn behältst. Versprich mir etwas, Mette – gib +ihn dem Mann, den du liebst. Dann ist er in den +besten Händen.“ +</p> + +<p> +Sie war aufgestanden. „Ich verspreche es dir,“ sagte +<a id="page-316" class="pagenum" title="316"></a> +sie fast feierlich, „ich will ihn dem Manne geben, den +ich liebe.“ +</p> + +<p> +„Schwöre mir, daß du keine Dummheiten machen +wirst ... auch nicht leichtsinnig oder fahrlässig damit +umgehen.“ +</p> + +<p> +„Ich schwöre es dir,“ sagte Mette. „Wobei nur? +Ich kann dir doch nicht bei meinem Leben schwören, +daß ich mich nicht erschieße. Ich schwöre es dir bei +meiner ewigen Seligkeit. Und bei Olga Radós zehntausendfach +geheiligtem Gedächtnis.“ +</p> + +<p> +Irgend etwas in ihrem Ton machte ihn betroffen. +Er stand langsam von seinem Stuhl auf, wie um +seine forschenden Augen den ihren zu nähern. +</p> + +<p> +„Sag mir, Mette,“ sagte er zögernd, „ich möchte +nicht, daß ich mir Vorwürfe machen müßte. Ich +möchte nicht, daß das, was ich dir erzählt habe, dich +in deinen Entschließungen beeinflußt.“ +</p> + +<p> +Mette umschloß seine ausgestreckten Finger mit +einem kurzen festen Druck. In der leichten Bewegung, +mit der sie die Brust hochreckte und mit der Hand über +die Hüfte strich, lag eine aufs äußerste gespannte Kraft. +</p> + +<p> +„Ich schwöre dir,“ sagte sie, „daß von dieser Stunde +an nichts und niemand mehr mich in meinen Entschließungen +beeinflussen kann.“ – – – +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<div class="chapter"> + +<p class="break"> +<a id="page-317" class="pagenum" title="317"></a> +Mette ging nicht direkt nach Hause. In wenigen +Sekunden tauchten Pläne in ihr auf, formten sich zu +Entschließungen. Nichts schwankte hin und her, eh’ +es Gestalt annahm, alles trat mit einem Schritt aus +der Verborgenheit ans Licht und stand unumstößlich +fest. +</p> + +</div> + +<p> +Sie ging zu einer Speditionsfirma und zu dem +Wirt des Hauses, in dem sie lange Jahre gewohnt +hatten. Es gab eine Zeit, wo sie sich vor solchen +Gängen gefürchtet hätte. Jetzt fühlte sie, daß nie +im Leben jemand ihr derlei Unannehmlichkeiten abnehmen +würde. +</p> + +<p> +Es tat fast wohl, sich solche winzigen Lasten aufzuladen +und die eigene Kraft zu spüren, wenn man +sie spielend trug. +</p> + +<p> +Es tat wohl, entschlossen zu sein, mit Umsicht Anordnungen +zu treffen, mit Überlegung Unterhandlungen +zu führen. +</p> + +<p> +Als sie in ihrem Zimmer den Hut in den Schrank +legte, streifte ihre Hand das schwarze Kleid, das sie +zu ihres Vaters Begräbnis getragen hatte. Einen +Augenblick fühlte sie den Wunsch, es anzuziehen, das +stumpfe Düster des Krepps an sich zu sehen, an sich zu +fühlen. +</p> + +<p> +Aber sie straffte sich auf. „Unsinn!“ sagte sie halblaut, +biß die Zähne aufeinander und schloß den Schrank. +</p> + +<p> +<a id="page-318" class="pagenum" title="318"></a> +Sie ging in ihres Vaters Studierzimmer, setzte sich +an den Schreibtisch und schrieb verschiedene Briefe, an +den Rechtsanwalt, an die Bank. +</p> + +<p> +Nach einer Weile kam das Mädchen herein: +</p> + +<p> +„Das gnädige Fräulein läßt Fräulein Mette zu +Tisch bitten.“ +</p> + +<p> +Mette hob den Kopf nicht. +</p> + +<p> +„Sagen Sie dem gnädigen Fräulein, ich käme nicht +zu Tisch, ich hätte schon gegessen. Aber ich lasse das +gnädige Fräulein bitten, nach dem Essen herzukommen.“ +</p> + +<p> +Das Mädchen stand eine Weile mit offenem Mund +in der Tür. Aber als Mette sich nicht rührte, nichts +hinzufügte, nichts widerrief, nur weiter die Feder +eilig über das Papier rascheln ließ, trollte sie davon. +</p> + +<p> +Nach einer Weile erschien Tante Emilie, sichtlich +unentschlossen, ob sie empört oder liebenswürdig sein +sollte. +</p> + +<p> +Mette legte die Feder aus der Hand und gab ihrem +Stuhl eine leichte Wendung. +</p> + +<p> +„Bitte nimm Platz,“ sagte sie in einem Ton, so geschäftlich, +eilig, fest und undurchdringlich höflich, daß +dieser Ton allein schon Tante Emilien in einen Abgrund +von Verwirrung stürzte und ihr jede Redemöglichkeit +nahm. +</p> + +<p> +„Verzeih, wenn ich dir deinen Nachmittagsschlaf +<a id="page-319" class="pagenum" title="319"></a> +kürze, aber ich habe mit dir zu reden, und zwar Dringliches.“ +</p> + +<p> +Mette nahm das Falzbein, drehte es, bog es, schlug +damit auf die ausgestreckten Finger und sah diesem +Spiel angelegentlich zu, während sie sprach. +</p> + +<p> +„Du wirst dich rasch entscheiden müssen, wo du hinzugehen +gedenkst, ich reise ...“ +</p> + +<p> +„Du?“ +</p> + +<p> +„Ich reise. Der Haushalt wird aufgelöst. Die +Wohnung wird vermietet. Newes entbindet mich vom +Vertrag. Ich habe schon mit ihm gesprochen. Die +Sachen kommen auf den Speicher. In den nächsten +Tagen schon. Ich fange heut’ schon an. Morgen +kommen die Packer. Du wirst der Kramerei sicher gern +aus dem Wege gehen wollen. Ich empfehle dir, in +ein Hotel oder in eine Pension zu gehen, bis du dich +endgültig entschieden hast. Wenn du heut’ nachmittag +die Mädchen brauchst zum Packen deiner Sachen, sie +stehen zu deiner Verfügung. Ja, und – ich möchte +nicht, daß dir durch meine Entschließungen ein pekuniärer +Nachteil entsteht. Am liebsten wäre es mir, +wenn du deine Wünsche schriftlich formulierst und an +Rosenbaum gibst. Ich habe ihm schon diesbezüglich +geschrieben.“ +</p> + +<p> +Mette legte das Falzbein hin. +</p> + +<p> +„Ja, das wäre wohl alles!“ Sie stand auf und +<a id="page-320" class="pagenum" title="320"></a> +stützte beide Hände hinter sich auf den Schreibtischrand. +</p> + +<p> +„Also, wenn wir uns nicht mehr sehen sollten, Gott +befohlen, und laß es dir recht gut gehen.“ +</p> + +<p> +Tante Emilie stand auf mit zitternden Knien, und +ihr Gesicht spielte in allen Farbentönen vom Zitronengelben +ins Aschgraue. +</p> + +<p> +„Und ... und Alfred?“ fragte sie, mit vergeblichem +Bemühen, eine süße rührende Weichheit in ihren +scharfen Ton zu legen. +</p> + +<p> +„Wie? Wer?“ Mette kniff die Augen zusammen, +als müsse sie sich besinnen. „Ja so, nein, danke. Da +brauchst du keinerlei Mitteilung zu machen. Ich werde +alles Erforderliche selbst besorgen.“ +</p> + +<p> +„Mette!“ sagte Tante Emilie feierlich. „Wenn das +dein seliger Vater wüßte! Ich habe dich von deinem +ersten Tag an behütet und gepflegt, und zum Dank +wird man so vor die Tür gesetzt ...“ +</p> + +<p> +Mette griff wieder nach dem Falzbein. +</p> + +<p> +„Ich habe schon an Rosenbaum geschrieben, daß von +meinem Vermögen fünfzigtausend Mark an dich übergehen. +Mit dem, was du hast und mit dem, was dir +von Vater kommt, kannst du dann ganz deiner Bequemlichkeit +leben. Ich will morgen vormittag hingehen +und ihm die nötigen Vollmachten geben.“ +</p> + +<p> +„Mette,“ sagte Tante Emilie mit gesteigertem +<a id="page-321" class="pagenum" title="321"></a> +Pathos. „Ich habe dich vor einem entsetzlichen Schicksal +behütet. Das solltest du mir auf Knien danken!“ +</p> + +<p> +„Gewiß, gewiß,“ sagte Mette und verzerrte ein +wenig den Mund. „Ich werde Rosenbaum schreiben: +Hunderttausend.“ +</p> + +<p> +Da wandte sich Tante Emilie und rauschte hinaus. +</p> + +<p> +Mette packte die Sachen in fieberhafter Eile, wie +auf der Flucht. Sie arbeitete Tag und Nacht und ließ +sich von niemandem helfen, auch von Peterchen nicht +und von mir nicht. +</p> + +<p> +Aber am Abend, als sie reiste, holten wir beide sie +aus der Wohnung ab und brachten sie an die Bahn. +</p> + +<p> +Die Wohnung war leer und dunkel. Alle Möbel +fort. Die Kronen abgenommen, die Fenster ohne Gardinen. +Hie und da starrte ein Spiegelhaken trostlos +aus der nackten Wand oder ein Fleck der Tapete zeigte +die Form eines Bildes, das lange Jahre da gehangen +hatte. Ein großer Koffer, ein wenig Handgepäck +standen mitten in dem leeren Raum. Mette hatte eine +brennende Kerze auf dem Fensterbrett festgeklebt. Das +gab ein seltsames flackerndes Halblicht. Unsere +Schatten glitten groß und verbogen an Wand und +Decke entlang. +</p> + +<p> +Peterchen sah immerfort nach der Uhr. +</p> + +<p> +„Ist es nicht Zeit, daß ich nach einem Wagen gehe?“ +fragte er unruhig. +</p> + +<p> +<a id="page-322" class="pagenum" title="322"></a> +Mette hob die Hand. „Laß doch! Wir haben noch +endlos Zeit. Was sollen wir auf dem Bahnsteig? +Und was schadet es, wenn ich den Zug versäume? Ich +lauf’ ja niemandem nach. Und mir läuft niemand +nach. Dann fahr’ ich eben morgen früh.“ +</p> + +<p> +„Ach ja,“ sagte Peterchen erleichtert, „das wäre mir +überhaupt viel lieber. Ich verstehe gar nicht, wie man +so in die Nacht hineinfahren kann.“ +</p> + +<p> +„Ich fahre ja in den Morgen hinein,“ sagte Mette +mit leisem Lächeln. „In ein paar Stunden kommt die +Dämmerung. Außerdem lieb’ ich die Nacht. Wer die +Sterne liebt, muß auch die Nacht lieben. Sag, Peterchen, +hast du eigentlich schon einmal daran gedacht, daß +sie am Tage auch da sind? Genau so fern und so nah +wie des Nachts. Manchmal such’ ich sie am sonnenhellen +Himmel – ich fühle ganz genau – da steht der, und +da steht der, und dann kann ich in der Dämmerung +ganz ungeduldig werden, bis sie endlich sichtbar sind.“ +</p> + +<p> +„Das hast du auch von ihr,“ sagte Peterchen wehmütig, +„diese verrückte Sternenliebe.“ +</p> + +<p> +„Ja,“ sagte Mette, und ihre tiefe Stimme klang wie +eine Glocke, „was hab’ ich <em>nicht</em> von ihr? Alles. Und +alle Liebe ganz gewiß. Himmel und Erde sind voll +von Dingen, an denen ihre Liebe hängt. Und von all +diesen Dingen strömt ihre Liebe wieder auf mich zurück. +Herrgott, was liebte sie alles! Berge und Meer +<a id="page-323" class="pagenum" title="323"></a> +und Blumen und Spinnen und kleine Kinder und +Leder und Seide und Kristall und die Günderode und +den heiligen Franziskus von Assisi – und – mich. +Wahrhaftig, sie hat mich die Liebe gelehrt. O Gott! +Wenn Tante Emilie das hörte, würde sie es sicherlich +falsch auffassen. +</p> + +<p> +Einmal hat sie zu mir gesagt, Olga, ich glaube, es +war auf der Reise, und wir sprachen wohl von unserer +Zukunft, und ich sagte, daß ich mich nicht von ihr +trennen lassen wollte, bis zu meiner Mündigkeit. Da +wurde sie ganz ungeduldig und sagte: +</p> + +<p> +‚Herrgott, was ist das für ein jämmerlicher Standpunkt, +immer nur das lieben zu können, was man an +der Hand hält!‘ +</p> + +<p> +Hat sie nicht recht? Warum soll man nicht die Toten +lieben und die Kommenden und die ganz Fernen, +deren Sein wir nur ahnen oder deren Schaffen uns +einen Hauch von ihrer Seele gibt? Und warum nur +einen, warum nicht Tausende – die, nach denen wir +uns sehnen und die, die sich nach uns sehnen – die, +die in unerfüllter Sehnsucht nach uns gestorben sind, +und die, die mit unerfüllter Sehnsucht nach uns leben +werden, wenn wir lange tot sind. Mir ist manchmal, +als sollt ich meine beiden Hände in die Weite strecken +und rufen: ich liebe euch, ich liebe euch, ich liebe euch!“ +</p> + +<p> +„Es ist merkwürdig,“ sagte Peterchen scheu und sah +<a id="page-324" class="pagenum" title="324"></a> +kopfschüttelnd zu Metten empor, die unheimlich groß +und schlank aufgereckt in dem gespenstischen Licht stand, +„es ist merkwürdig, wie ähnlich du ihr manchmal bist.“ +</p> + +<p> +„Es ist viel merkwürdiger,“ sagte Mette lächelnd, +„wie unähnlich ich ihr <em>war</em>. Fern, fremd, unverwandt. +So entsetzlich unähnlich, daß ich sie eigentlich +nie verstanden habe. Ich glaube, ich hätte sie mit +Eifersucht und Mißtrauen zu Tode gequält.“ +</p> + +<p> +„Und jetzt?“ fragte Peterchen. „Würdest du nicht +eifersüchtig und mißtrauisch sein? Wer weiß, wenn +ihr zusammen geblieben wäret, vielleicht hättest du in +ein paar Monaten Ursache dazu gehabt.“ +</p> + +<p> +Mette schüttelte langsam den Kopf. „Das soll ein +Trost für mich sein, Peterchen. Aber es ist keiner. Ich +hatte so unbändige Freude an ihr. Und wenn tausendmal +nur die Form zerstört ist. Auch um die Form ist +es ein Jammer. <em>Die</em> Freude hätt’ ich immer an ihr +haben können. Und so wie ich sie jetzt sehe – ich hätte +eben einsehen müssen, daß ich nicht aus Geiz Himmel +und Erde ihrer Liebe hätte berauben dürfen. Aber belogen +hätte Olga Radó mich nie. Nie, nie, nie!“ +</p> + +<p> +„Der Zug, Mette!“ mahnte Peterchen. +</p> + +<p> +Mette warf einen Blick auf ihr Handgelenk. +</p> + +<p> +„Ja, wir müssen gehen.“ +</p> + +<p> +Peterchen ging, einen Wagen zu holen. Der Kutscher +trug das Gepäck hinunter. +</p> + +<p> +<a id="page-325" class="pagenum" title="325"></a> +Ich wollte die Kerze löschen, als wir gingen. +</p> + +<p> +„Nein, laß!“ sagte Mette. Sie lief ein paarmal +hin und her und brachte Wasser in den hohlen Händen, +das sie um die Kerze träufelte, bis sich ein kleiner +See bildete. +</p> + +<p> +„Nun kann es kein Feuer geben,“ sagte sie. „Seltsam, +wenn ich schon im Zug sitze, brennt vielleicht hier +in der leeren Wohnung noch das Licht. Ich muß +immer an die arme Johanna denken, schon den ganzen +Abend, als das Licht so im Fenster brannte.“ +</p> + +<p> +„Wer ist das?“ fragte ich. +</p> + +<p> +„Die arme Johanna? Das war eine Frau, die Olga +liebte. Sie ist an der Schwindsucht gestorben. Und +Olga konnte nicht um sie sein, als sie im Sterben +lag. Aber die Schwester, die sie pflegte, stellte nachts +immer eine brennende Kerze ans Fenster. Das hatte +die arme Johanna alles selber so verabredet und +bestimmt. Solange sie lebte, solange sollte die Kerze +brennen. Und da ist Olga manchmal drei-, viermal +in der Nacht, wenn sie es vor Unruhe nicht mehr aushalten +konnte, nach dem Haus gelaufen und hat auf +der Straße gestanden, um nur die Kerze brennen zu +sehen.“ – „Schau,“ Mette wandte sich um, während +wir in den Wagen stiegen, „da oben brennt meine +Kerze und leuchtet mir nach!“ +</p> + +<p> +Sie winkte mit den Handschuhen einen Gruß zurück. +</p> + +<p> +<a id="page-326" class="pagenum" title="326"></a> +„Und da, schau,“ sie richtete sich auf, mit einem seltsamen +Entzücken im Gesicht und wies nach dem +Sternenhimmel, „da ist der Antares! Das Herz des +Skorpions. Dem zieh’ ich jetzt nach, immer weiter +nach Süden. Wir können zusammen bleiben, oder ich +kann auf ihn warten, bis er wieder kommt, mit der +unbedingtesten Zuverlässigkeit, wie der treueste Freund.“ +</p> + +<p> +„Trotzdem,“ sagte Peterchen, „ich habe das Gefühl, +daß es doch ein bißchen wenig Schutz und Freundschaft +für dich ist. Wenn ich denke, daß du in der nächsten +Nacht in einer fremden Stadt, in einem fremden Hotelbett +schlafen sollst ...“ +</p> + +<p> +„Schön!“ sagte Mette. „Das ist ja das, was mir +Ruhe geben kann. Ein Raum, den ich noch nie gesehen +habe. Trotzdem ist dieser Raum jetzt schon da. +Ein anderer Mensch bewohnt ihn und erfüllt ihn ganz +mit seinen Leiden und Freuden und Sorgen und Gedanken. +Muß man sich denn immer nur mit einem +peinlichen Gefühl des Ekels in ein fremdes Bett legen? +In einem frisch bezogenen Hotelbett sind keine fremden +Mikroben und Bakterien – aber auf den Tapeten +liegen noch Schatten und Lichter fremder Schicksale. +Und die tönen das eigene zum Schweigen. +</p> + +<p> +Man soll nicht in den Wänden bleiben, wo einen +der eigene Schmerz immer von den Tapeten anschreit. +</p> + +<p> +Das fremde Bett wird mir morgen erzählen, was +<a id="page-327" class="pagenum" title="327"></a> +es alles erlebt hat. Weißt du, auch das ist Feengabe. +Ich bin nicht mehr bange, weil die Dinge anfangen, +mit mir zu reden. Das sind immer die Glückskinder +in den Märchen oder die Weisen in den Sagen – +König Salomo, vogelsprachekund – denen die Dinge +und die Tiere und die Bäume ihre Geheimnisse erzählen. +Du glaubst nicht, was das bedeutet. Die +ganze Welt war so entsetzlich stumm. Und nun höre +ich überall so liebe, vertraute, unhörbare Stimmen. +Ihr ahnt gar nicht, mit was für einem Entzücken und +einem Stolz das einen erfüllt. Siehst du, Peterchen +– das ist <em>auch</em> etwas, was ich von Olga habe.“ +</p> + +<p> +„Ja,“ sagte Peterchen nachdenklich, „ich fühle deine +Kraft – fast mit Neid. Sie hat dir unendlich viel +gegeben. Ich kann nicht los von dem Gedanken ... +vielleicht hatte sie doch recht: ‚<span class="antiqua">Qui vivens laedit, +morte medetur</span>‘ – was lebend verwundet, heilet +im Tod.“ +</p> + +<p> +„Nein, nein, sag das nicht!“ sagte Mette mit einer +fast flehenden Bewegung. „Ich will es nicht hören, +weil es nicht wahr ist. Aber ich habe die heilige +Überzeugung – und <em>das</em> dank ich ihr tausendfach +mehr als alles andere – daß der Satz <em>umgekehrt</em> +wahr ist – hilf mir, Peterchen, mit meinem Latein +ist es schwach bestellt: <span class="antiqua">Qui vivens laeditur, morte</span> ... +nein, es geht nicht ... <span class="antiqua">medetur</span> ... das sind die +<a id="page-328" class="pagenum" title="328"></a> +verflixten Deponentia, davon kann ich keine Passivform +bilden. Aber du weißt ja, was ich meine: Was +lebend verwundet wird, wird im Tode geheilt ... +das heilt der Tod ... <span class="antiqua">mors medetur</span>, nicht wahr, +das kann man sagen? +</p> + +<p> +Und siehst du, das ist das größte: die Stunde Lust, +die ich auf diesem Maskenball des Lebens vielleicht +noch finden kann, die dank ich ihr – aber wenn mir +das Treiben zuwider wird, dann dank ich ihr den +Schlüssel zur Ausgangstür.“ +</p> + +<p> +„Ja,“ sagte Peterchen ein wenig bitter, „einen sechsläufigen +Revolver!“ +</p> + +<p> +„Oh,“ sagte Mette, „mehr als das: damit allein +ist es nicht getan. Weißt du nicht, was die kleine +Seejungfer sich wünschte, um was sie sich die Zunge +herausschneiden ließ, um was sie bei jedem Schritt +tausendfältige Schmerzen litt, was nur eine große, +große Liebe ihr geben konnte? Mir hat es Olga gegeben. +Mir hat Olga alles gegeben, was man +braucht, um allen Möglichkeiten der verhüllten Zukunft +mit unzerstörbarer Ruhe entgegenzugehen: einen +sechsläufigen Revolver ... <em>und</em> eine unsterbliche +Seele!“ +</p> + +<div class="ads chapter"> +<p class="header"> +Askanischer Verlag Berlin SW +</p> + +<p class="aut"> +<span class="line1">In unserem Verlage erschien von</span><br> +<span class="line2">Anna Elisabet Weirauch</span> +</p> + +<p class="book"> +<span class="line1">Der Tag der Artemis</span><br> +<span class="line2">Drei Novellen</span> +</p> + +<p class="noindent"> +„Der Tag der Artemis“ – das ist der Tag, der Knaben zu Männern +macht, der Tag, an dem im jungen Menschenkinde unerkannt, gebieterisch, +erschreckend oder beglückend zum erstenmal das Geschlecht sich regt. +</p> + +<p> +Die erste der Novellen ist eine Institutsgeschichte. Schwärmerische +Neigung, ehrliche Kameradschaft, Eifersucht, Haß, gekränkter Ehrgeiz +– alle Leidenschaften toben und gären in diesen unreifen Knabenseelen, +bis sie in einer Katastrophe explodieren. +</p> + +<p> +„Gere“ ist die Geschichte eines Schülerselbstmordes. Der Gequälte, +der in dem unverstandenen natürlichen Trieb nur Schmutz und Laster +sieht, verliert seinen letzten Halt, den Glauben an die Heiligkeit der +Mutter, und greift zum Revolver. +</p> + +<p> +„Der Statist“ variiert das Thema des erwachenden Liebesgefühls +in heiterer Form. Einen armseligen Drogistenlehrling bringt ein +Zufall als Statisten ans Theater. Die schwärmerische Leidenschaft +für die Heldin des Hoftheaterchens macht einen Menschen aus ihm +und führt ihn auf einen Weg, den er weitergehen wird, auch wenn +die Leidenschaft längst verlodert ist. +</p> + +<p> +Erzählungen aus jenen Lebensjahren, wo die Erotik noch schlummert, +wo sie aber im geheimen heftiger wühlt als wir ahnen und ahnen wollen. +</p> + +<p class="price"> +<span class="line1">Schön gebunden M. 10,–</span><br> +<span class="line2">Zu beziehen durch alle Buchhandlungen</span> +</p> + +<p class="book"> +<span class="line1">Sogno</span><br> +<span class="line2">Das Buch der Träume</span><br> +<span class="line3">Ein Roman</span> +</p> + +<p class="noindent"> +„Sogno“ ist der Roman eines überfeinerten Phantasten, der alle +seine müßigen Gedanken um ein stolzes und rätselvolles Weib spielen +läßt – so lange, bis die heiße blutvolle Wirklichkeit dieser Natur +in sein Dasein einbricht und er erkennt, daß er nicht die Kraft und +Gesundheit der Seele und der Sinne hat, Erträumtes in lebendige +Realität umzusetzen. +</p> + +<p> +Die hohe Kunst der durch ihre Romane „Die kleine Dagmar“ und +„Der Skorpion“ rasch berühmt gewordenen Verfasserin offenbart +sich in diesem Buche in intimster Stimmungsmalerei und seltener +Schönheit der Sprache. +</p> + +<p class="price"> +<span class="line1">Schön gebunden M. 10,–</span><br> +<span class="line2">Zu beziehen durch alle Buchhandlungen</span> +</p> + +<p class="footer"> +Askanischer Verlag Berlin SW +</p> + +</div> + +<div class="trnote chapter"> +<p class="transnote"> +Anmerkungen zur Transkription +</p> + +<p> +Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. +Weitere Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher): +</p> + + + +<ul> + +<li> +... Der <span class="underline">Hand</span> drehte den Kopf und leckte mit der Zunge ...<br> +... Der <a href="#corr-0"><span class="underline">Hund</span></a> drehte den Kopf und leckte mit der Zunge ...<br> +</li> + +<li> +... Herr mehr in meiner eigenen Wohnung<span class="underline">.</span> Nimm ...<br> +... Herr mehr in meiner eigenen Wohnung<a href="#corr-2"><span class="underline">?</span></a> Nimm ...<br> +</li> + +<li> +... kam nicht wieder, war <span class="underline">unwiderbringlich</span> verloren. ...<br> +... kam nicht wieder, war <a href="#corr-3"><span class="underline">unwiederbringlich</span></a> verloren. ...<br> +</li> +</ul> +</div> + + +<div style='text-align:center'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75397 ***</div> +</body> +</html> + diff --git a/75397-h/images/cover.jpg b/75397-h/images/cover.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..dec7981 --- /dev/null +++ b/75397-h/images/cover.jpg diff --git a/LICENSE.txt b/LICENSE.txt new file mode 100644 index 0000000..6312041 --- /dev/null +++ b/LICENSE.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +This eBook, including all associated images, markup, improvements, +metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be +in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES. + +Procedures for determining public domain status are described in +the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org. + +No investigation has been made concerning possible copyrights in +jurisdictions other than the United States. 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