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+
+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75397 ***
+
+
+ Der Skorpion
+ I
+
+
+ Alle Rechte vorbehalten
+ Copyright by Askanischer Verlag
+ Berlin 1919
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+ Druck von Herrosé & Ziemsen, G. m. b. H., Wittenberg
+ Einband von C. Albert Kindle, Berlin SW
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+ Anna Elisabet Weirauch
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+ Der Skorpion
+
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+ Ein Roman
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+ Qui vivens laedit
+ Morte medetur
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+ Erster Band
+
+ Askanischer Verlag Berlin
+ 1919
+
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+
+ «Vous que dans votre enfer mon âme a poursuivies,
+ Pauvres sœurs, je vous aime autant que je vous plains,
+ Pour vos mornes douleurs, vos soifs inassouvies,
+ Et les urnes d’amour dont vos grands cœurs sont pleins!»
+
+ Baudelaire.
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+
+
+
+Wenn ich ehrlich sein soll – daß ich durchaus Melitta Rudloffs
+Bekanntschaft machen wollte, geschah ihres schlechten Rufes wegen. Die
+geraden, gesunden und reinlichen Durchschnittsmenschen hatten für mich
+keine Bedeutung. Ich suchte die Kranken, die Verlorenen, die
+Ausgestoßenen. – Ich suchte sie mit geteiltem Gefühl, und – seltsam, wie
+wir Menschen nun einmal sind – ich bin stolz darauf, daß ich sie suchte
+mit der klaren und kalten Freude des Forschers, daß ich sie suchte, um
+sie zu vivisezieren, zu analysieren, sie in Systeme einzuschachteln –
+und ich schäme mich ein bißchen, zu gestehen, daß ich sie suchte in dem
+überheblichen Wahn, helfen zu können, bessern zu können – sie mit reinen
+und gütigen Händen hellere Wege zu führen.
+
+Es geschah durch Tante Antonie, daß ich zuerst von Melitta Rudloff
+erzählen hörte. Tante Antonie war eine sehr fromme und ehrenwerte Frau,
+und Lüge und Verleumdung lagen ihr fern. Sie sah die Dinge mit scharfen
+Augen, aber sie sah sie von ihrem unverrückbaren Standpunkt aus.
+
+Nach diesen Erzählungen hatte Melitta – oder Mette, wie sie genannt
+wurde – als Kind schon einen sonderbaren Hang zum Lügen und Stehlen
+gezeigt. Auf der Schule galt sie als dumm und faul. Als junges Mädchen
+lief sie einer merkwürdigen Frau nach, einer Hochstaplerin mit
+ausgesprochen männlichem Gebaren. Vielleicht verführt von dieser
+Freundin, von der sie nebenbei späterhin hinausgeworfen wurde – stahl
+sie im väterlichen Hause das Silberzeug und trug es aufs Leihamt. Nach
+einem Tobsuchtsanfall, bei dem sie ihre Tante, die treue Pflegerin ihrer
+mutterlosen Kindheit, erwürgen wollte, wurde sie zu ihrem Onkel nach
+einer kleinen Stadt gebracht. Dort stahl sie, was im Hause nicht niet-
+und nagelfest war, erbrach schließlich auf raffinierteste Weise den
+Schreibtisch, entwendete eine größere Summe Geldes und entfloh.
+
+Ihr Vater, eine feinsinnige Gelehrtennatur, überlebte die Nachricht von
+diesen Geschehnissen nicht lange – er wurde vom Schlage getroffen.
+
+Mettens Mutter war bei ihrer Geburt gestorben. Wie Jürgen von Seyblitz
+stets bitter zu sagen pflegte: „Zum Glück“.
+
+Mette war nicht dieser Meinung. Sie hatte eine phantastische Vorstellung
+von der Wesenheit einer Mutter und glaubte immer, daß der frühe Tod der
+ihren alles Unheil ihres Lebens verursacht hätte.
+
+Ich meinesteils weiß nicht, welcher Ansicht ich mich anschließen soll.
+Ganz sicher hätte Mette nicht eine so trübe und freudlose Kindheit
+gehabt, wie unter Tante Emiliens knochigen Fingern – aber selbst die
+weichste Mutterhand hätte die schwersten Kämpfe ihres Lebens nicht von
+ihr fernhalten können. Und wenn ich an diese Zeiten denke, begreife ich
+Onkel Jürgens „Zum Glück“ recht wohl. Vielleicht hatte er ein besseres
+Bild von seiner Schwester, als Mette es von ihrer Mutter haben konnte.
+
+Wenn ich nun versuchen will, zu erzählen, was ich von Mette Rudloff und
+von ihren Beziehungen zu Olga Radó weiß, so muß ich fürchten, falsch
+gedeutet zu werden. Ich habe keinerlei Ähnlichkeit mit Peterchen,
+unserem gemeinsamen kleinen Freund, den Olga Metten gegenüber in
+herzlichem Spott „Unser Baudelairechen“ zu nennen pflegte. Peterchen war
+bei allem, was seine Freunde betraf, mit überschwenglichem Gefühl
+beteiligt. Ich sehe ihn noch immer mit seinen aufgeregten Schrittchen
+durch sein Zimmer hin und her laufen und flammende Reden führen. Er
+machte Welt und Vorwelt verantwortlich für Olgas Tod und Mettens Leben.
+Wenn es nach ihm gegangen wäre – er hätte ein Gemälde entworfen, auf dem
+er Olga und Mette mit schimmernder Gloriole umgeben und Jürgen von
+Seyblitz und Tante Emilie und Frau Flesch und noch einige andere, die er
+nicht leiden konnte, an den Pranger gestellt hätte. Er hätte sich mit
+dem Stock des Ausrufers auf den Markt begeben und auf seine Heiligen
+gedeutet und geschrien: Seht her, so sind sie, die Verfemten, die
+Verworfenen, die ihr haßt und verachtet und fürchtet – und nicht kennt!
+
+Nach allem, was ich von Olga Radó weiß, hätte er ihr damit einen
+schlechten Dienst erwiesen. Was ihr die meiste und glühendste
+Feindschaft eingetragen hat, war nicht ihr lasterhaftes Leben, ihre
+Verschwendungssucht, ihre unnatürlichen Leidenschaften – nicht einmal
+ihr Geist oder ihre Schönheit – nein, es war ihr grenzenloser Hochmut.
+
+Sie haßte es, verallgemeinert zu werden. Und wir alle, die wir sie
+kannten, haben hundertmal aus ihrem Munde das Wort gehört – so oft, daß
+es zur scherzhaften Redensart bei uns wurde:
+
+„Bitte! Nix ihr, nix euch!“
+
+Ich habe keine Ähnlichkeit mit Peterchen. Ich bin nicht dazu geschaffen,
+zu verteidigen oder anzuklagen. Ich verfolge keinen Zweck, wenn ich
+etwas erzähle. Ich habe keine Ziele und keine Absichten, nicht einmal
+eine Meinung oder ein Urteil, und kaum ein Gefühl. Keine andere Absicht,
+als Bilder und Worte, die unendlich flüchtig vorüberrauschen, mit allen
+Sinnen festzuhalten, und sie in Form zu bannen, und kein ander Gefühl,
+als die weltabgewandte, weltaufsaugende Hingabe, mit der der Zeichner
+den Silberstift über das Papier führt.
+
+
+
+
+Einmal war Mette einen Sommer lang bei ihren Großeltern auf dem Gut.
+Vielleicht war es dieser Sommer, der ihr den irrsinnigen Hang zum Leben
+ins Blut goß. Woher hätte sie sonst auch wissen sollen, daß das Leben
+mitunter schön sein konnte? Immer, wenn sie in späteren Jahren sich nach
+Glück sehnte, hatte sie die qualvoll-süße Vorstellung von einem
+Glücksgefühl, das sie ganz erfüllt hatte, als sie auf einer blühenden
+Wiese lag und das Blau des Himmels zwischen säulenhohen Grashalmen sah,
+als der heuduftende Wind über ihr sonneglühendes Gesicht blies, und
+Tausende von Bienen und Hummeln und Wespen in der Luft läuteten, wie
+tiefe und hohe, ferne und nahe Glockenstimmen. Wann hätte das sein
+können, wenn es nicht in jenem Sommer war?
+
+Oh, es war so viel Herrliches in jenem Sommer gewesen.
+
+Da war ein Gartenhäuschen gewesen, aus Birkenstämmen und borkebenagelten
+Brettern. Und von der Birkenrinde konnte man eine dünne, durchsichtige
+Haut abziehen. Sie zerriß leicht, und es war sehr schwer, aber auch sehr
+ehrenvoll, ein großes Stück unversehrt loszulösen.
+
+Dies Gartenhäuschen hatte Glasfenster nach allen Seiten. Und jedes
+Fenster hatte einen Rand, einen Rahmen gleichsam, von kleinen Vierecken
+aus Buntglas. Da konnte man die Welt in allen Farben sehen.
+
+Immer sah Mette zuerst durch das blaue Glas. Da lag alles in einem
+geheimnisvollen Dunkel, alles wurde still und weit, die Sonne stand
+strahlenlos am Himmel wie der Mond – es war wie eine Nacht aus dem
+Märchen, und über die blauen Wiesen, unter den blauen Bäumen, hätten
+Elfen mit wehenden Schleiern tanzen müssen.
+
+Dann kam das grüne.
+
+Da leuchteten die Bäume und Wiesen wie von innerem Licht. Aber die
+apfelgrüne Luft war voll Unheil geladen, und die schweren dunkelgrünen
+Wolken waren zum Bersten belastet mit furchtbaren Dingen.
+
+Dann war ein goldgelbes.
+
+Man muß nicht etwa denken, daß der Garten hell und heiter aussah im
+goldfarbenen Licht. Das Grün war fahl und wie verbrannt, die Luft schien
+gewitterig. Es war so, wie es ganz gewiß am jüngsten Tag aussehen mußte,
+wenn die Erzengel in die Posaune stießen, wenn Teufel mit
+Fledermausflügeln durch die Luft schwirrten, und die Gräber sich
+auftaten.
+
+Zuletzt kam das rote, weil es das schönste war. Es war so schön und so
+schrecklich, daß Mette jedesmal Herzklopfen bekam. Wenn es nach ihr
+gegangen wäre, hätte die Welt ganz gewiß immer so ausgesehen. Die Bäume
+so dunkel wie Blutbuchen, und die Wiesen so glührot, der Himmel so
+brennend mit tiefpurpurnen Wolken.
+
+Wenn man dann wieder durch das klare Glas sah, war alles unsagbar fad
+und nüchtern und blaßfarbig. Trotzdem – man konnte erleichtert aufatmen.
+Alles Unheimliche war geschwunden – in einer Welt, die so hell und
+harmlos und ein bißchen langweilig aussah, wo es keine blauen Wiesen und
+keine purpurnen Bäume gab – da gab es auch keine Feen und Teufel, da gab
+es nichts, wovor man sich zu fürchten hatte.
+
+Manchmal, in späteren Jahren, dachte Mette darüber nach, ob sie dies
+alles damals schon in klar ausgesprochenen Gedanken gedacht hatte. Und
+dann rechnete sie nach, und es schien ihr, als wäre sie damals noch viel
+zu klein gewesen. Aber später hat sie ja nie mehr durch die bunten
+Glasscheiben in dem Birkenhäuschen sehen können; denn in dem Winter, der
+auf jenen Sommer folgte, starb der Großvater, das Majorat ging auf den
+Erben über, und die Großmutter zog zu ihrem Bruder nach Güstrow.
+
+Die Großmutter schwankte damals lange Zeit. Trotz ihrer Abneigung gegen
+die große Stadt wäre sie damals gern zu ihrem Schwiegersohn gezogen, um
+der kleinen Mette nahe zu sein. Aber sie wagte es nicht, den Kampf mit
+Tante Emilie aufzunehmen.
+
+Tante Emilie war viel zu musterhaft, als daß nicht jeder andere sich
+überflüssig gefühlt hätte. Und Tante Emilie von ihrem Posten vertreiben
+– um Gottes willen! Dazu gehörte eine kampflustigere Persönlichkeit als
+es Conrad von Seyblitz’ arme, kleine Witwe jemals war.
+
+Die Großmutter zog nach Güstrow, wo sie die paar Jahre bis zu ihrem Tode
+lebte – und Tante Emilie blieb – blieb unumschränkte Herrscherin des
+Hauses.
+
+Das heißt, daß Mette nicht in die Schule gehen sollte, das ordnete Franz
+Rudloff selber an. Er hatte eine fast krankhafte Scheu vor allem, was
+„Masse“ und „Gemeinschaft“ hieß. Es schien ihm, als müßten die kühlen,
+hohen Räume seiner Wohnung sich mit dem Dunst schlecht gelüfteter
+Klassenzimmer füllen, als müßten die stillen Wände hallen von hundert
+hohen Stimmen, von hundert trappelnden Füßen, wenn er sein Kind in eine
+Schule schickte.
+
+Und also kam das „Fräulein“ ins Haus.
+
+Tante Emilie war innerlich von vornherein dagegen. Sie selbst war in die
+Schule gegangen, und die Schule hatte ihr nicht geschadet. Im Gegenteil.
+
+Sie war absolut nicht dafür, daß irgend jemand auf der Welt es in irgend
+etwas besser haben sollte, als sie es selbst hatte oder gehabt hatte. Zu
+den wenigen Freuden, die sie im Leben hatte, gehörte die Freude an der
+„ausgleichenden Gerechtigkeit“, wie sie es nannte: Wenn nämlich jemand,
+dem es ganz ohne Würdigkeit sehr gut ging, sein unverdientes Glück durch
+einen schweren Schicksalsschlag abbüßen mußte.
+
+Andere Leute haben für diese Art Freude eine andere Bezeichnung.
+
+Tante Emilie war gegen das Fräulein. Aber Tante Emilie war viel zu
+musterhaft, um zu widersprechen, wenn der Herr des Hauses einen Wunsch
+äußerte. Sie wußte, daß sie sich in solchen Fällen schweigend zu fügen
+hatte. Nicht etwa, daß der arme Franz das von ihr verlangt hätte, o
+nein! Aber so war es vorbildlich und musterhaft. Und also kniff sie die
+Mundwinkel noch etwas fester zusammen und fügte sich schweigend.
+
+Das Fräulein hatte so krauses, widerspenstiges Haar, daß die braunen
+Löckchen sich in keinen Scheitel fügen wollten und ihr immer ums Gesicht
+tanzten. Sie hatte auch den Sinn, den das Sprichwort mit solchem Haar
+verbindet. Alle die Männer, die in ihrem Leben eine längere oder kürzere
+Rolle gespielt hatten, sagten, sie wäre eine entzückende Geliebte
+gewesen. Zur Erziehung eines kleinen Mädchens eignete sie sich weniger
+gut.
+
+Tante Emilie hatte sie nicht ausgesucht. Das hatten Franz Rudloff und
+Mette ganz allein besorgt. Eins hatten Vater und Tochter gemeinsam: all
+ihre Sinne dursteten nach Schönheit und Harmonie. Sie gaben was aufs
+Äußerliche, wie Tante Emilie das nannte.
+
+Das Fräulein hatte ein so liebliches Jung-Mädchengesicht, so weiche
+Bewegungen, eine so schöne klingende Stimme.
+
+Es war nicht die geringste persönliche Sympathie, die Franz Rudloff zu
+diesem Fräulein hinzog. Nur, wenn er schon einen fremden Menschen ins
+Haus nehmen mußte, so war ihm lieber, wenn es ein angenehmes Wesen war.
+Vielleicht hatte er – uneingestandenermaßen – an _einem_ unangenehmen
+genug.
+
+Bei Mette war es etwas anders. Sie hatte noch nie einen Menschen
+gesehen, der ihr so gefiel. Ihr ganzes sehnsüchtiges Kinderherz, das
+noch niemals Liebe oder Zärtlichkeit gefühlt hatte, flog dieser Fremden
+entgegen, dieser Fremden, die sie in den Arm nahm, ihr mit weichen
+Händen das Haar aus der Stirn strich, sie mit kosender Stimme „Mädi“ und
+„Herzblatt“ nannte. Die Aussicht, diesen Menschen immer um sich zu
+haben, erschien ihr wie ein unfaßbares, berauschendes Glück.
+
+Sie bat ihren Vater nicht. Sie konnte nicht bitten, Mette Rudloff, nie,
+und wenn es um ihr Leben ging, nicht.
+
+Aber als ihr Vater sie fragte, ob das Fräulein kommen sollte, sagte sie:
+„Ja.“
+
+Und das Fräulein kam.
+
+Tante Emilie aber kniff die Mundwinkel zusammen und fügte sich
+schweigend.
+
+In den nun folgenden drei oder vier Jahren, die das Fräulein im Hause
+blieb, durchlebte Mette Rudloff das ganze Martyrium einer unglücklichen
+Liebe.
+
+Die ersten Monate ging alles herrlich. Das ist ja eben das Unglück einer
+unglücklichen Liebe, daß sie immer mit einem überschwenglichen Glück
+anfängt.
+
+Das Fräulein hatte Mette sehr lieb, und Mette hatte das Fräulein sehr
+lieb, und sie lernten miteinander und spielten miteinander und gingen
+miteinander spazieren. Es war eine wundervolle Zeit. Aber wie alle
+wundervollen Zeiten nur von kurzer Dauer.
+
+Es war sicher der Teufel, der den früheren Husarenleutnant von Hanstein
+plötzlich in den Weg warf; den Husarenleutnant, den das Fräulein glühend
+geliebt hatte, als sie noch kein Fräulein war, sondern Friedel
+Eggebrecht hieß und aufs Seminar ging und in ihrer Vaterstadt auf ihren
+ersten Jung-Mädchen-Bällen tanzte.
+
+Dieser frühere Husarenleutnant hatte keine ganz saubere Karriere hinter
+sich. Er hatte schuldenhalber den Dienst quittieren müssen, hatte sich
+in allen möglichen Berufen herumgetrieben und sprach sich über seine
+jeweilige Beschäftigung immer nur in sehr unklaren, aber hochtönenden
+Worten aus.
+
+Das hinderte nicht, daß in dem Fräulein sehr bald die alte, nicht
+rostende Liebe erwachte, und daß Mette, die kleine, süße, goldige Mette,
+jetzt überall lästig und im Wege war.
+
+Zuerst war Mette nur ärgerlich, wenn das Fräulein Besuch von ihrem
+„Bruder“ bekam und Mette ins Schlafzimmer geschickt wurde, weil das
+Fräulein Herrenbesuch nicht in einem Raum empfangen konnte, in dem ein
+Bett stand. (Späterhin wurde das anders.)
+
+Im Schlafzimmer war es kalt und langweilig. Mette stand am Fenster und
+sah den Spatzen zu, die auf dem kahlen Baum im Hofe lärmten. Nebenan
+waren ihre Bücher, ihre Puppen, ihre Spielsachen. Aber sie durfte nicht
+hinein, solange der Besuch da war, und der Besuch dachte nicht daran,
+wegzugehen.
+
+Es war recht ärgerlich. Und wenn es so weitergegangen wäre mit Besuchen
+und Eingesperrtwerden und dem kalten und unfreundlichen Ton, den das
+Fräulein jetzt meistens hatte, so wäre Mettes glühende Liebe vielleicht
+bald in Haß umgeschlagen – und es wäre alles gut gewesen.
+
+Aber mochte der Teufel wissen – derselbe Teufel, der den Herrn von
+Hanstein eines Vormittags auf den Viktoria-Luise-Platz warf – was diesem
+Herrn von Hanstein gerade über die Leber lief. Hatte er Sorgen oder
+Schulden oder irgendeine andere Liebelei – kurz – das Fräulein fing an,
+sich gekränkt zu fühlen, sich zu grämen, des Nachts zu weinen.
+
+Das war zuviel für Mette.
+
+Mette Rudloff weinte schwer. Sie begriff nicht, daß ein Mensch weinen
+konnte, ohne bis an die Grenzen des Wahnsinns zu leiden. Darum hätte sie
+sich das Herz aus der Brust herausreißen mögen, um einen Weinenden zu
+trösten.
+
+Wenn Friedel Eggebrecht um ihren Husarenleutnant weinte, so litt Mette
+alle Qualen der Hölle.
+
+Im Anfang, als das Fräulein das Kind nicht wecken wollte, weinte sie
+leise und weinte sich nach einer Viertelstunde in den Schlaf. Aber als
+sie merkte, daß Mette doch aufwachte oder vielleicht auch nicht
+einzuschlafen wagte, sich mühsam wach hielt, um auf jeden Atemzug zu
+lauschen, da war es ihr ganz bequem, sich einem lauten Schmerz
+hinzugeben und sich trösten zu lassen.
+
+Beim ersten Aufschluchzen sprang Mette aus dem Bettchen und kam auf
+bloßen Füßen über die Dielen gelaufen. Dann kauerte sie auf dem Bettrand
+und weinte und zitterte und tröstete mit ihrem süßen, zärtlichen
+Stimmchen, mit ihren weichen, guten Kinderhänden.
+
+Und das Fräulein ließ sich streicheln und trösten und stieß mit den
+Füßen gegen die Bettkante, warf den Kopf nach hinten, krallte die Nägel
+in die Kissen und schrie:
+
+„Der Hund! Der Schuft! Ich ertrage es nicht mehr. Ich sterbe! Er mordet
+mich!“
+
+Zu der Zeit, als diese Szenen sich abspielten, wußte Mette schon längst,
+daß diese Ausbrüche dem Bruder galten, und daß dieser Bruder kein Bruder
+war.
+
+Sie empfand einen so wütenden, qualvollen Haß gegen diesen Mann, daß sie
+oft angestrengt darüber nachdachte, wie sie es bewerkstelligen könnte,
+ihn zu ermorden.
+
+Diese durchweinten, durchwachten Nächte waren schlimm. Aber sie waren
+nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war, wenn am nächsten Tage der Herr
+Bruder wieder ankam und empfangen wurde zwischen Lachen und Weinen, mit
+offenen Vorwürfen und kaum verhehlter Zärtlichkeit, und Mette ins
+Schlafzimmer geschickt wurde.
+
+Dann rieb Mette die Zähne aufeinander und bohrte die Nägel in die
+Handflächen, und zerpeinte sich in schmerzlicher Wut.
+
+Bei solchen Anlässen konnte Mette auch sehr ungezogen werden. Es lag ihr
+nicht, Traurigkeit zu zeigen, wenn sie litt. Sie zog es vor, ungezogen
+zu werden. Es war mitunter ganz begreiflich, daß das Fräulein eine
+maßlose Wut auf sie hatte.
+
+Wenn Mette hätte zeigen können, wie es in ihr aussah, so hätte sie
+geweint und gesagt: „Ich liebe dich, und ich bin eifersüchtig, doppelt
+eifersüchtig, weil deine Liebe einem Mann gehört, der dich quält, und
+den zu verachten du vorgibst. Ich leide, daß ich einen Menschen lieben
+muß, der so wenig Stolz und Charakter besitzt.“
+
+Wenn die kleine Mette ihre unklaren Gefühle in Worten hätte ausdrücken
+können, so würden diese Worte ungefähr so gelautet haben.
+
+Wer von uns, die wir reife und kluge Menschen sein wollen, die wir
+gelernt haben, die Worte zu wählen, zu wägen, zu setzen, vermag das
+auszusprechen, was er empfindet? Selten wollen wir es tun. Und die
+wenigen Male, die wir uns bemühen, können wir es nicht und werden
+mißverstanden.
+
+Mette wollte es nicht und konnte es nicht. Sie verlangte Liebe. Aber die
+konnte sie nicht erbetteln, da beanspruchte sie ihr Recht.
+
+Haben nicht ältere und vernünftigere Leute manchmal so gehandelt?
+
+Mette ging hinein in das Zimmer, in _ihr_ Zimmer, das sie nicht betreten
+durfte, solange der verhaßte „Kerl“ dasaß. (Mette nannte ihn so in
+Gedanken, und das war kein Wunder, sie hatte ihn zu oft so nennen hören,
+wenn das Fräulein in Wut war.) Sie ging hinein, ohne anzuklopfen, sie
+reckte den Kopf sehr hoch und setzte die schmalen Füße sehr fest auf.
+
+Sie legte die Bücher und Hefte auf den Tisch, klappte den Deckel vom
+Tintenfaß auf, tat, als ob sie nach der Uhr sähe (sie tat so; denn in
+Wirklichkeit wurde es ihr schwer, die richtige Zeit festzustellen, so
+klein war sie noch) und sagte:
+
+„Ich habe jetzt Stunde!“
+
+Der „Kerl“ grinste höhnisch und empfahl sich. Das Fräulein fauchte sie
+an, wie sie sich unterstehen könne ...?
+
+Mette bemühte sich, etwas sehr Häßliches zu sagen. Und es gelang ihr.
+
+„Bloß, daß der ‚Kerl‘ hier immerfort sitzt, dafür bezahlt Sie mein Vater
+nicht!“ sagte sie.
+
+Das Fräulein wollte sie schlagen. Aber sie schrak zurück vor dem
+drohenden Ernst in dem blassen Kindergesicht.
+
+Niemals hat jemand gewagt, Mette Rudloff zu schlagen, obgleich
+vielleicht manch einer die Lust dazu verspürte.
+
+Das Fräulein packte sie am Arm und rüttelte sie. So fest packte sie, daß
+noch nach Tagen der Abdruck ihrer Finger in bläulichen Flecken auf der
+zarten Haut zu sehen war.
+
+Es geschah nicht einmal, es geschah hundertmal, daß Mette blaue Flecken
+am Arm hatte, oder Striemen über der Schulter, oder Kratzwunden an den
+Händen.
+
+Wenn sie sich hätte beklagen wollen, so wäre ihr Hilfe sicher gewesen.
+Wenn sie einmal Tante Emilien die Spuren einer solchen Szene gezeigt
+hätte, statt sie angstvoll zu verbergen, so wäre die „Person“ geflogen.
+Das wußte Mette, aber das wollte sie nicht. Darum mußte sie diesen Kampf
+ganz allein auskämpfen.
+
+Als die Eggebrecht einsah, daß das Kind ihr überlegen war, änderte sie
+ihre Taktik. Es ging nicht mehr an, Mette als Feindin zu behandeln,
+darum wurde sie zur Vertrauten gemacht. In Mettes kleines verschwiegenes
+Herz wurde alles ausgeschüttet, alle Freuden und Kümmernisse dieses
+Verhältnisses und eine ganze Masse Unrat dazu.
+
+Mette mußte Horchposten stehen, Mette mußte Briefe befördern und
+Telephongespräche führen, und Mette wurde mit Liebkosungen und
+Süßigkeiten überschüttet.
+
+Vielleicht hätte ein anderes Kind sich in diesem Zustand sehr wohl
+befunden. Mette fuhr fort zu leiden.
+
+Es lag wohl auch daran, daß ihr der Mann so widerwärtig war. Wenn es
+jemand gewesen wäre, der ihr gefallen hätte, hätte sie sich vielleicht
+eher in die Sachlage gefunden.
+
+Manchmal, wenn das Fräulein in der Laune war, ihren Liebsten zu
+beschimpfen, dann warf das Kind sich vor ihr auf die Knie und beschwor
+sie, von diesem schrecklichen Manne zu lassen. Dann wurde unter Tränen
+und Eiden alles versprochen.
+
+„... ja, mein Süßes, ja, mein Engel, er betritt mir die Schwelle nicht
+mehr, der verfluchte Hund, ich habe ja dich, mein Süßes, mein Trost, ich
+will nur noch für dich leben!“
+
+Das waren für Mette Momente qualvoller Seligkeit.
+
+Aber es waren immer nur Momente; denn wenn das Telephon klingelte, oder
+wenn ein Brief kam, oder wenn man dem Herrn „zufällig“ im Tiergarten
+begegnete, dann war alles wieder vergessen.
+
+Mette begriff, daß da etwas war, wogegen sie nicht ankonnte.
+
+Sie begriff dunkel, daß sie nicht das Recht hatte, einen Menschen ganz
+für sich zu verlangen, weil sie noch ein Kind war. Und sie wünschte sich
+glühend, schnell, schnell erwachsen zu sein, um das, was sie liebte,
+ganz und ungeteilt zu besitzen.
+
+Es kam noch eins dazu, das Leben zu erschweren. Das Fräulein hatte nicht
+viel Zeit und Lust, mit Mette zu arbeiten. Es war so unendlich viel
+anderes zu tun. Das Fräulein mußte Briefe schreiben, oder spannende
+Bücher lesen – oder Handarbeiten machen. Das Fräulein machte gern
+Handarbeiten und hatte flinke und geschickte Hände. Sie nähte sich
+allerliebste Blusen und stickte sich zierliche Hemdpassen – oder sie
+häkelte Schlipse und stopfte seidene Herrensocken. Von alledem hatte
+Mette weiter keinen Nutzen.
+
+Sie war nicht böse, daß sie mit dem langweiligen Lernen ziemlich
+verschont blieb. Aber Tante Emilie kam bald dahinter. Es war ein so
+ernster Fall, daß der Vater zugezogen wurde. In solchen Dingen, und nur
+in solchen Dingen konnte man mit Franz Rudloffs Anteilnahme rechnen. Er
+stellte eine eingehende Prüfung mit seiner Tochter an. Das Ergebnis war
+derart, daß er allen Ernstes erschrak.
+
+Er rechnete nach, daß er im selben Alter ein fehlerfreies _Dicté_
+geschrieben, _verba irregularia_ auswendig gelernt und Schillers Don
+Carlos mit Begeisterung verschlungen hatte.
+
+Mette las lateinische Druckschrift mühsam und stockend.
+
+Von dem Tage an ließ sich Franz Rudloff die schmerzliche Überzeugung
+nicht nehmen, daß sein armes Kind geistig zurückgeblieben sei. Damit
+zerbrach das letzte Brett, das zu einer Brücke zwischen ihnen hätte
+werden können. Er hörte nicht auf, seine Tochter mit Zartheit und
+Höflichkeit zu behandeln. Im Gegenteil. Aber sie war ihm so fremd, daß
+sie ihm mitunter beinah unheimlich erschien.
+
+Obgleich Tante Emilie Metten gern alle nur mögliche Trägheit und
+Unbegabung zugetraut hätte, wußte sie doch, daß sie nicht die
+Alleinschuldige sein konnte. Das Fräulein mußte verschiedentlich recht
+scharfe Bemerkungen hören, die sie veranlaßten, einige Tränen zu
+vergießen und Metten bitterliche Vorwürfe zu machen.
+
+„Ich gehe,“ das war der ständige Schluß ihrer Rede. Und das war das, was
+Metten jedesmal mit tödlichem Schrecken erfüllte. Sie fühlte zu gut, daß
+die Drohung Wahrheit werden konnte, Wahrheit werden mußte, wenn Tante
+Emilie bei einer nächsten Prüfung wieder auf so „krasse Unwissenheit“
+stieß.
+
+Also fing Mette mit zähem und verbissenem Eifer an zu lernen. Das
+Fräulein half ihr nicht oft dabei, sie störte sie höchstens.
+
+Aber sie streichelte ihr manchmal das Haar, oder preßte sie an sich,
+oder küßte sie fast leidenschaftlich auf den Mund.
+
+Und um sich diese flüchtigen Liebkosungen zu erhalten, mußte Mette
+lernen.
+
+Sie war zu begabt, als daß sie nicht bald am Lernen und Lesen selbst
+Freude gehabt hätte. Aber das wußte sie nicht. Sie bildete sich ein, daß
+sie nur um des geliebten Fräuleins willen mit so fanatischer Inbrunst
+über den Büchern saß.
+
+Sie fing an zu lügen. Etwas, was sie in dieser Weise auch in späteren
+Jahren mit wahrer Leidenschaft tat. Wenn die Rede – dem Vater, der Tante
+oder Gästen gegenüber – einmal auf irgend etwas kam, was Mette in ihren
+Büchern gefunden hatte – in Büchern, in die das Fräulein niemals ihr
+hübsches Näschen steckte – und Mette ein wenig erstaunt gefragt wurde:
+„Wo hast du denn die Weisheit her?“ dann war sie sehr stolz darauf, zu
+antworten: „Von Fräulein!“
+
+Und Fräulein widersprach nie. Mette glaubte, jedesmal zu sehen, daß sie
+rot wurde. Und sie liebte sie doppelt, weil sie ihr leid tat. Aber es
+war ein Irrtum. Sie wurde nicht rot. Sie hörte meistens gar nicht danach
+hin. Sie hatte so viel andere Gedanken im Kopf ...
+
+Und dann kam die merkwürdige Angelegenheit mit dem Silberzeug.
+
+Eines Nachts gab das Fräulein Metten die Schlüssel zum Silberschrank und
+einem flachen, lederbezogenen Kasten. Mette sollte den Kasten in den
+Schrank zurücktragen. Das Fräulein hatte ihn sich heimlich ausgeliehen,
+weil ihr Bräutigam das Silber gern einmal sehen wollte.
+
+Mette wollte auch gern einmal sehen. Sie drängelte so lange, bis das
+Fräulein den Kasten öffnete. Da lagen die dicken, blanken Löffel in Reih
+und Glied, jeder auf seinem Einschnitt im dunkelblauen Samt. Keiner
+fehlte.
+
+Es machte Metten ein unbändiges Vergnügen, unhörbar wie auf
+Katzenpfötchen durch den langen Korridor zu schleichen, sich im
+Speisezimmer zurechtzutasten, ohne Licht anzumachen, behutsam den
+Schrank aufzuschließen, ohne daß die Schlüssel klirrten oder die Tür
+knarrte, den Kasten an seinen Platz zu stellen, abzusperren – und dann
+mit mühsam unterdrücktem Jubel in Fräuleins Arm zu fliegen und sich
+beloben zu lassen.
+
+Dieses erste Mal war nur eine Einleitung.
+
+Mette lernte mit staunender Bewunderung die schätzenswerte Einrichtung
+eines Leihamtes kennen. Es war eine ganz fabelhafte Angelegenheit, daß
+man Silber oder Schmuckstücke nur zu verleihen brauchte, um eine Menge
+Geld dafür zu bekommen. Nach einiger Zeit bekam man seine Sachen
+unversehrt zurück. Ja, sie wurden nicht einmal benutzt in der Zeit, wie
+Fräulein auf Mettens Fragen lachend versicherte. Es war eine schöne,
+aber merkwürdige Einrichtung.
+
+Immerhin! Es gab so viele merkwürdige Einrichtungen. Zum Beispiel: daß
+man Geld auf eine Bank legte – daß es nicht irgendeine beliebige
+Gartenbank sein durfte, das hatte Mette unterdessen schon gelernt – daß
+man dann immerfort Geld geschickt bekam, von dem man leben konnte, und
+das Geld auf dieser seltsamen Bank doch niemals weniger wurde – das war
+auch so eine merkwürdige Tatsache. So ähnlich würde es sich wohl mit dem
+Leihamt auch verhalten. Es lohnte nicht, sich darüber den Kopf zu
+zerbrechen. Man begriff es doch nicht.
+
+Also wanderte das Silberzeug aufs Leihamt. Und bei Gelegenheit wanderte
+es wieder zurück in den Schrank.
+
+Es war so lustig, abends im Bett zu liegen und zu schwatzen und Konfekt
+zu knabbern. Aber das Konfekt kostete so rasend viel Geld. Darum wurde
+von Zeit zu Zeit das Silber „verliehen“. Es schadete ihm ja nichts. Und
+die Heimlichkeit, mit der es geholt und wieder zurückgebracht werden
+mußte, machte einen Heidenspaß.
+
+Aber einmal war der große Kasten fort und kam und kam nicht wieder. So
+ewig lange war er schon fort, es dachte kaum mehr ein Mensch an ihn.
+
+Da verfiel Tante Emilie eines Tages beim Reinmachen auf die Idee, das
+ganze Silber nachsehen und putzen zu lassen. Tante Emilie wußte ganz
+genau, wieviel Silber im Haushalt vorhanden war. Sie wußte sogar, von
+welcher Großmutter oder Schwiegermutter oder Tante jedes einzelne Stück
+stammte. Aber Tante Emilie war viel zu musterhaft, um sich in so
+wichtigen Dingen auf ihr Gedächtnis zu verlassen.
+
+Auf der Innenseite jeder Büfettür war mit vier Reißnägeln ein Papier
+befestigt, auf dem in Tante Emiliens sehr deutlicher und leserlicher
+Schrift stand:
+
+ Inhalt:
+
+ Ein Lederetui mit 12 Suppenlöffeln, gezeichnet L. R.
+
+ Ein Holzkasten mit 12 Dessertlöffeln, gezeichnet G. v. S.
+
+ Ein Kasten mit 12 Mokkalöffeln, vergoldet.
+
+ Ein brauner Pappkarton mit 9 großen Gabeln, Alfenid.
+
+ Usw. usw.
+
+Ja, und an der Hand dieses Zettels ließ es sich mit unfehlbarer
+Sicherheit feststellen, daß da ein Kasten fehlte.
+
+Mette erschrak gar nicht, als sie Tante Emiliens scharfe, empörte Stimme
+hörte und das Aufweinen des gekränkten Hausmädchens.
+
+Sie war nur froh, die Sache richtigstellen zu können. Gott sei Dank.
+Sonst wäre die arme Berta womöglich in den Verdacht des Diebstahls
+gekommen! Mette trat ins Zimmer und sagte sehr kühl und ein wenig
+hochmütig:
+
+„Du brauchst dich nicht aufregen, Tante. Das Silber ist da. Ich hab’ es
+nur verliehen!“ –
+
+Aus dem, was sich in den nächsten Tagen ereignete, wurde Metten
+allmählich klar, daß sie etwas getan hatte, wozu sie nach Ansicht der
+anderen nicht berechtigt war.
+
+Das Hausmädchen erzählte jedem, der es hören wollte, daß in diesem Hause
+ehrliche Leute verdächtigt würden, weil das „Quack“ das Silber „klaue“
+und zum Juden trage.
+
+Die alte dicke Köchin weinte und schlug jammernd die Hände zusammen.
+
+Die Tante ging umher, als hätte das Entsetzen sie versteinert. Dem Vater
+traten die Tränen in die Augen, wenn er sein unseliges Kind ansah. Sogar
+ein Kinderarzt erschien auf der Bildfläche, der den grauenerregenden und
+unheimlichen Titel „Psychiater“ führte und ein langes Examen mit ihr
+anstellte.
+
+Und das Fräulein tobte und weinte und schrie und schimpfte sie
+„idiotisch“ und „blödsinnig“ und stieß und kratzte sie und fiel dann
+wieder vor ihr auf die Knie und nannte sie „kleine Heilige“ und flehte
+sie an, zu schweigen.
+
+Und Mette schwieg. Da sie aber nicht wußte, was sie verschweigen sollte,
+so schwieg sie auf alles. Sie ließ sich fragen, in Ruhe, im Zorn, in
+stundenlangem Verhör, sie ließ sich rütteln, sie ließ sich anflehen, sie
+ließ sich einsperren – und schwieg. Das Schweigen wuchs wie eine Mauer
+um sie herum. Sie hätte nun nicht mehr hindurch gekonnt, auch wenn sie
+gewollt hätte.
+
+Dennoch mußte das Fräulein aus dem Hause. Ob sie nun beteiligt war oder
+gänzlich ahnungslos – es war klar, daß ein Kind nicht so verwahrlosen
+konnte, wenn die Erziehung in den richtigen Händen lag.
+
+Das Fräulein ging. Und Mette litt alle Todesqualen der Trennung und
+Einsamkeit.
+
+Ich möchte über Friedel Eggebrecht kein Urteil sprechen. Wenn ich die
+Geschichte ihres Lebens schreiben sollte, würde ich versuchen, alles zu
+verstehen, was sie getan hat. Sie liebte – und immer ist Liebe gut und
+schön und edel. So liebte sie, daß sie fähig war, um ihrer Liebe willen
+ihre Pflichten zu vergessen und zu lügen, zu stehlen, zu betrügen. Wer
+von uns kann sich rühmen, dessen fähig zu sein?
+
+Immer, wo Liebe ist, ist Leid. Und fast immer, wo zwei sich lieben,
+leidet ein Dritter.
+
+Es wäre unsinnig, deswegen zu klagen oder anzuklagen.
+
+Nur Kinder sollten nicht darunter leiden müssen.
+
+Es ist genug, wenn man sie mit Frühaufstehen peinigt und mit
+Schularbeiten und mit langweiligen Sonntags-Spaziergängen.
+
+Aber von Haß und Liebe und Eifersucht, von solchen Dingen sollten Kinder
+nicht zu leiden haben. – – –
+
+ * * * * *
+
+Mette wurde in die Schule geschickt.
+
+Dafür, daß man ihr das Fräulein genommen hatte, rächte sie sich nun,
+indem sie sich dagegen wehrte, irgend etwas zu lernen.
+
+Während der Schulstunden schickte sie ihre Gedanken auf Wanderschaft.
+Manchmal schlug irgend etwas an ihr Ohr, das ihr Interesse weckte. Dann
+war die Versuchung da, hinzuhören, und man mußte eine gewisse
+Kraftanstrengung anwenden, um an etwas anderes zu denken.
+
+Aber diese Versuchung kam nicht oft.
+
+Es dauerte über ein Jahr, bis dieser trotzige Widerstand nach und nach
+zerbröckelte.
+
+Da war es zu spät, nachzuholen. Sie wollte auch nicht. Gott bewahre! Sie
+wendete nicht die geringste Mühe an, um vorwärts zu kommen. Aber es
+lohnte auch nicht mehr, sich zur Wehr zu setzen. Sie tat, was man von
+ihr verlangte. Sie tat es darum, weil es weniger störend war, das
+unsagbar Geringfügige zu lernen, als immer lange Straf- und
+Ermahnpredigten stehend anzuhören.
+
+Sie wuchs unglaublich rasch in dieser Zeit und war immer müde. – – –
+
+ * * * * *
+
+Als sie mit der Schule fertig war, saß sie ein paar Jahr im Hause herum
+und langweilte sich. Sie nahm den üblichen Klavierunterricht und übte
+die vorgeschriebene Zeit. Aber sie hatte keine anererbte musikalische
+Begabung, dagegen eine übertriebene Empfindsamkeit, so, daß sie litt
+unter der Unzulänglichkeit ihres eigenen Spiels, ohne die Fähigkeit oder
+auch nur das Streben zu haben, sich selbst Genüge zu tun.
+
+In diesen Jahren wechselten ihre Stimmungen wie Sonne und Regen im
+April.
+
+Sie sehnte sich danach, tot zu sein, oder mündig, in einem andern
+Jahrhundert zu leben, oder in einem andern Erdteil, Nonne zu werden,
+oder schön genug zu sein, um alle Menschen der Welt zu berücken.
+
+Es kamen Märztage, wo sie meinte, zerspringen zu müssen in ungeduldiger
+Erwartung des unendlichen Glücks, dem sie an der nächsten Straßenecke in
+die Arme laufen konnte – und es kamen Juninächte, wo sie aus dem Fenster
+springen wollte, um sich zu lösen von den schnürenden Fesseln einer
+quälenden Leiblichkeit, um aufzustrahlen gegen das sternhelle Firmament,
+um sich auszubreiten, zu zerfließen im unendlichen Äther, groß zu
+werden, gewaltig, grenzenlos, allumfassend.
+
+Es kamen Tage, an denen sie sich vornahm, wie ein Heiland durch die Welt
+zu gehen und alle Menschen zu lieben – an denen sie mit Tante Emilie in
+einem Ton so leidenschaftlicher Demut sprach, wie Griseldis zu ihrem
+Herrn – und es kamen Tage, da alle Menschen ihr so verhaßt waren, daß
+sie körperlich Qualen ausstand, wenn sie bei Tisch ihrem Vater gegenüber
+saß und ihn essen sah.
+
+An Ereignissen waren diese Jahre arm. So arm, daß Mette selten in ihrem
+Leben daran zurückdachte, und wenn die Rede auf etwas kam, was in diesen
+Jahren geschehen war – eine Reise, eine Geburt oder Trauerfall im
+Bekanntenkreis, ein öffentliches Begebnis – sie immer erst lange
+nachrechnen mußte, wann sich das zugetragen haben könne und wie alt sie
+gewesen sei, während sie sonst ein auffallendes Gedächtnis hatte für den
+Zeitpunkt, an dem Menschen oder Dinge flüchtig an ihr vorübergestreift
+waren, weil sie alles in Verbindung brachte mit den Tagen, die wie
+Denksteine in ihr aufgemauert waren – vor oder nach Olgas Tod – als sie
+mit Olga zusammen oder von ihr getrennt war.
+
+Es ist unwichtig, von diesen Jahren zu sprechen – es wäre auch nicht
+nötig gewesen, von Friedel Eggebrecht des Längeren und Breiteren zu
+reden, aber Mette sagte selbst so oft in späteren Jahren, wenn sie auf
+das „Fräulein“ zu sprechen kam, sagte es mit einem etwas bitteren
+Lächeln: „Es war der Auftakt zu meinem Leben!“
+
+Als ihr Leben wirklich einsetzte, mit hundert brausenden Stimmen, mit
+einem vollen, klingenden und singenden Motiv, das nie wieder stumm
+wurde, das in Dur, in Moll, bald von allen Geigen und Celli, bald von
+einer einzigen klagenden Hoboe, in tausend Verschlingungen, aus tausend
+Verschleierungen immer wieder durchklang und durchklingen wird bis zum
+Schlußakkord – das war in derselben Minute, da bei Konsul Möbius die Tür
+aufging und Olga Radó ins Zimmer trat.
+
+Gegen Konsul Möbius war im allgemeinen nichts einzuwenden. Es war der
+Verkehr, den Tante Emilie selbst ausgesucht hatte. Die Familie stammte
+irgendwoher aus Lübeck oder Bremen, und sie sprachen ein spitzes „st“,
+was ihren ohnehin manierlichen Umgangsformen noch einen leisen
+besonderen Duft von kühler Vornehmheit verlieh.
+
+Es waren zwei Töchter da, Fanni und Emmi, beide jünger als Mette, beide
+rotblond und sehr ordentlich in Anzug und Haartracht, dabei beide so
+merkwürdig belanglos, daß man nach wochenlangem Umgang noch nicht wußte,
+ob sie eigentlich hübsch oder häßlich waren.
+
+Wie es sich mit der Verwandtschaft zu Olga Radó verhielt, wird sich wohl
+jetzt mit Sicherheit nicht mehr feststellen lassen. Als Olga damals in
+Berlin auftauchte und alle Welt von ihr begeistert war, hieß es immer:
+„Unsere Cousine.“ Später – zu der Zeit, als Jürgen von Seyblitz schon
+das Wort von der „kriminellen Hochstaplerin“ auf sie geprägt hatte – da
+war in Frau Konsul Möbius’ Gedächtnis jede Erinnerung an eine
+Verwandtschaft völlig erloschen. Ihr Schwager, der Mann ihrer
+verstorbenen Schwester, hatte eine Preßburgerin geheiratet, diese hatte
+einen Vetter in Budapest, der eine Schwester der Olga Radó zur Frau
+hatte ... oder so ähnlich.
+
+Olga selbst hat nebenbei von dieser „Verwandtschaft“ mit Konsul Möbius
+nie viel Gebrauch gemacht, weder in guten noch in schlechten Zeiten. Es
+ist nicht vorgekommen, daß sie das Haus betreten hat, wenn sie nicht
+dreimal darum gebeten wurde.
+
+Mette hatte mit den Möbiusschen Mädchen und Erika Hannemann ein
+Kränzchen. Einmal in der Woche kamen sie zusammen und machten
+Handarbeiten und lasen französische Theaterstücke mit verteilten Rollen.
+
+Mette langweilte sich wahnsinnig dabei, sie hörte nie danach hin, wenn
+die anderen lasen und versäumte immer, zur rechten Zeit einzufallen. Am
+schlimmsten aber war es, wenn sie selber einen langen Absatz zu lesen
+hatte. Dann mußte sie bei jeder Zeile ein Gähnen unterdrücken, so, daß
+sie nachher immer förmlich einen Kinnbackenkrampf hatte.
+
+Und an einem solchen Mittwochnachmittag im April, als die vier wieder in
+den weißlackierten Stühlen des zierlichen Mädchenzimmers saßen, an einem
+Nachmittag, an dem Fliegen nicht mehr herumschwirrten, sondern träge
+über die Kuchenschüsseln krochen, weil ihnen die Langeweile in der Luft
+wie ein Bleigewicht auf den Flügeln lastete, in dem Augenblick, da Fanni
+Möbius – sie war die einzige, die eine gewisse Leidenschaft für die
+Sache hatte und den Ehrgeiz besaß, immer die dankbarsten Rollen zu lesen
+– mit überschwenglichem Pathos und miserabler Aussprache die Worte las:
+
+ „_Impitoyable honneur, mortel à mes plaisirs,_
+ _que tu me vas coûter de pleurs et de soupirs!_“
+
+in dem Augenblick ging die Tür auf, und Olga Radó kam herein.
+
+Es mußte durch einen Zufall irgendwo eine Tür offenstehen – mit Olga
+zugleich kam ein Luftzug, frisch wie ein Windstoß, ins Zimmer. Das
+angelehnte Fenster sprang auf, die weiße Mullgardine blähte sich und
+flog in die Höhe, die Seiten der Bücher blätterten sich knisternd um,
+die Fliegen schwirrten aufgestört um die Lampe, eine Hand am Himmel riß
+einen Wolkenfetzen von der Sonne – blendende Helligkeit und wehende Luft
+füllte das Zimmer bis in seinen letzten Winkel.
+
+Dann schloß sich die Tür mit einem harten Krachen, die Fensterflügel
+bewegten sich knarrend, die Gardine fiel schwer wie ein Sack herunter,
+eine neue dunklere Wolke schob sich vor die Sonne – aber dies alles
+bemerkte Mette Rudloff nicht – denn sie hatte vollauf zu tun, Olga Radó
+zu betrachten und konnte ihre Sinne und ihre Gedanken nicht wieder von
+ihr abwenden – für lange Zeit nicht.
+
+Olga war sehr groß und sehr schlank. Ihr Gesicht war schön und kühn
+geschnitten. Das schlichte, dunkle, reiche Haar ließ viel von der hohen
+und wundervoll durchgebildeten Stirne frei, die schmalen, schwarzen
+Brauen flossen über der Nasenwurzel zusammen, was den scharfen,
+metallisch-grauschimmernden Augen einen fast drohenden Ausdruck gab.
+Ihre Sprache war scharf und hart. Aber ihre Stimme hatte einen tiefen,
+weichen Celloklang. Das gab einen sonderbaren Kontrast.
+
+Es war etwas in ihrer Art, sich zu kleiden, was Mette gefiel, ohne daß
+sie sagen konnte, warum. Man konnte es mit einem Wort wie
+„geschmackvoll“ oder gar „elegant“ oder „adrett“ nicht abtun. Mette
+empfand dunkel: so möchte ich angezogen gehen.
+
+Woran das lag, das wurde ihr erst viel später klar. Olga Radó hatte eine
+fast krankhafte Abneigung gegen alles, was billig war. Ein billiger
+Stoff, ein billiger Schneider waren ihr ein Greuel.
+
+Außerdem hatte sie – wie sie Mette viel später einmal mit ihrem
+bezauberndsten Lächeln sagte – „das sehr ehrenwerte Prinzip, lieber
+einem Millionär etwas schuldig zu bleiben, als einer armen kleinen,
+hungernden Schneiderin“ – also ließ sie nur in den teuersten Geschäften
+arbeiten.
+
+Als sie hineinkam, machte Emmi Möbius den mißglückten Versuch einer
+feierlichen Vorstellung, den Olga mit einem kurzen „Ja, ja, schon gut –
+und so weiter und so weiter –“ abschnitt, worauf sie jedem flüchtig ihre
+große, schmale, kühle Hand reichte, sich mit einem:
+
+„Bitte, laßt euch nicht stören“ – ein wenig abseits in den Schaukelstuhl
+setzte, Fannis kleinen, schwarzen dicken Hund, der sie wie unsinnig
+anblaffte und anwedelte, am Genick packte und auf ihre Knie setzte.
+
+Fanni fuhr fort zu lesen. Vielleicht dachte sie ihrer Cousine durch
+diese ernsten wissenschaftlichen Bestrebungen zu imponieren.
+
+Mette war gezwungen, ins Buch zu sehen und Olga den Rücken zuzuwenden.
+Sie hörte nur den Schaukelstuhl leise auf und ab gehen, ein leichtes
+Rauschen der Röcke und manchmal eine halblaute Bemerkung, die dem Hunde
+galt.
+
+Mette verspürte Trockenheit im Hals und rasendes Herzklopfen, als sie
+lesen sollte. Nie hatte sie sich in der Schule so geängstigt, und wenn
+sie noch so unpräpariert „drangekommen“ war. In jedem Wort schien ihr
+eine Fußangel versteckt. Sie würde alles falsch aussprechen und sich
+unrettbar blamieren. Es war wirklich ein Skandal, so wenig Französisch
+zu können. Morgen wollte sie zu Vater gehen und ihn um französische
+Konversationsstunden bitten. Er würde sich freuen, wenn sie ihm einmal
+mit solchem Anliegen kam.
+
+Sie war glücklich, als sie ihre paar Sätzchen hervorgewürgt hatte. Dann
+kam Erika, und dann las Fanni wieder mit allem ihr zu Gebote stehenden
+Pathos.
+
+Plötzlich flog der Schaukelstuhl mit einem hörbaren Ruck nach vorn, und
+eine tiefe, verwunderte Stimme fragte mitten in den Satz hinein:
+
+„Sagt mal, was lest ihr denn da eigentlich?“
+
+„Den Cid!“ sagte Fanni in einem unendlich ausdrucksvollen Ton.
+
+Es sollte ganz leicht hingesagt werden, und doch zitterte die Ehrfurcht
+vor der eigenen Gelehrsamkeit darin. Es sollte ausdrücken: Das hört doch
+ein gebildeter Mensch beim ersten Wort, und zugleich: Freilich,
+dergleichen liest du ja nicht, das ist dir zu klassisch, zu langweilig.
+
+Olga schenkte diesem Ton gar keine Beachtung. Sie schien mit einer
+leichten ungeduldigen Handbewegung die Antwort als unzulänglich beiseite
+zu werfen.
+
+„Was für eine Sprache, meine ich?!“
+
+Die Mädchen sahen sich an und lachten, halb erstaunt und halb verlegen.
+Nur Mette lachte nicht, sondern schämte sich qualvoll.
+
+Die Möbiussens kannten ihre Cousine zu gut, um zu antworten. Aber Erika
+Hannemann war wirklich der Meinung, Olga Radó wäre in fremden Sprachen
+nicht so bewandert wie sie und sagte mit der ganzen Herablassung der
+höheren Tochter:
+
+„Französisch!“
+
+Der Schaukelstuhl glitt wieder zurück. Über Olgas Gesicht zuckte nicht
+der Schein eines Lächelns. Sie sagte mit so langgezogener Verwunderung,
+als hätte ihr jemand im Ernst eine überraschende Mitteilung gemacht:
+
+„Französisch soll das sein?!“
+
+Nun wollte Emmi ihr das Buch aufdrängen. Ob es wirklich Bildungstrieb
+bei ihr war oder die Absicht, sich vor den anderen mit Olgas
+wunderschönem Französisch großzutun, sie quälte und quängelte:
+
+„Lies _du_ doch, ach bitte, bitte, nur eine halbe Seite, nur einen
+Satz!“
+
+„Hältst du mich für verrückt?“
+
+„Ach bitte, bitte!“
+
+„Den Deibel auch! Ich bin doch nicht eure Gouvernante!“
+
+Und da das Buch sich nicht von ihr entfernen wollte, knipste sie mit den
+Fingern dagegen, daß es mit einem schönen großen Bogen auf den Teppich
+hüpfte und mit zugeschlagenen Deckeln liegen blieb.
+
+Mette war sehr froh. Nun war die Leserei für heute beendet. Sie brauchte
+nicht die langen Sätze des Königs zu lesen, vor denen sie sich schon
+gefürchtet hatte. Sie brauchte sich nicht zu blamieren und nicht zu
+langweilen. Und vor allem – sie konnte ihren Stuhl herumdrehen und Olga
+Radó anstarren.
+
+Es war so interessant, ihren Bewegungen oder dem fortwährend wechselnden
+Ausdruck ihres Gesichtes zuzusehen.
+
+Mette war sich klar darüber, daß diese Frau ihr gefiel. Und doch spürte
+sie in ihrem Empfinden mehr Feindseligkeit als Zuneigung. Niemand von
+den andern schien beleidigt. Mette war es, als ob der scharfe Spott nur
+sie getroffen hätte, nur sie hätte treffen sollen.
+
+Sie hätte viel darum gegeben, wenn sie die Spitze hätte zurückwerfen
+können, oder sich wenigstens mit Trotz und Verachtung panzern. Aber sie
+fühlte sich wehrlos, hilflos preisgegeben und wünschte sich, unsichtbar
+zu sein, sich in ein Mauseloch zu verkriechen, um zu sehen, zu hören, zu
+beobachten, ohne bemerkt zu werden – um jeden Blick dieser Augen, jedes
+Wort dieser Stimme gierig in sich aufzunehmen, ohne davor zu zittern,
+daß ein scharfer Blick, ein scharfes Wort sie treffen, sie verletzen,
+sie demütigen konnte.
+
+Olga Radó schenkte ihr indessen keine Beachtung. Sie hatte auf dem
+Fußbrett eines Tischchens eine Zigarettenschachtel entdeckt und zog sie
+hervor. Daneben, in zierlichem Kästchen, lag ein Spiel Karten.
+
+„Da, schau her! Zigaretten haben die Mäderln auch hier! Ihr seid mir ja
+ein schöner Klub der Harmlosen! Offiziell wird der Cid gelesen, und wenn
+kein Erwachsener es merkt, dann wird hier geraucht und gepokert!“
+
+Fanni Möbius wollte sich halbtot lachen, sowohl über die Zumutung, daß
+sie pokern sollte, als darüber, daß sie mit ihren achtzehn Jahren noch
+nicht zu den Erwachsenen gerechnet wurde.
+
+„Es sind Emmis Karten!“
+
+„Nein!“ schrie Emmi.
+
+„Doch! Ich sag’s, Emmi, ich sag’s! Sie legt sich jeden Abend Patiencen –
+und fragt ...“
+
+„Tu doch nicht so – du legst dir ja auch welche ...“
+
+„... und fragt ...“
+
+„... Sie lügt, sie lügt, sie lügt!“
+
+„... und fragt ... soll ich’s sagen, Emmi? ...“
+
+„... sei still! ...“
+
+Zwischen den beiden Schwestern entspann sich ein Handgemenge, das
+Tischchen kam ins Schwanken. Olga rettete es mit einem raschen und
+kraftvollen Zugreifen.
+
+„Kinder, tobt nicht so!“ sagte sie ruhig. „Bist du so neugierig, deine
+Zukunft zu erfahren, Emmilein?“
+
+Das „Emmilein“ gab Metten einen leisen Stich. Wie kam der alberne
+Backfisch dazu, von dieser Frau mit solcher Vertraulichkeit angeredet zu
+werden?!
+
+„Soll ich dir mal die Karten legen?“
+
+„Kannst du das, Olga? Oh, fein!“
+
+„Ja, mach, bitte, bitte, mir auch!“
+
+„Wirklich, ja? Kannst du das?“
+
+„Natürlich!“ sagte Olga ernsthaft. „Das ist doch das einzige, was ich
+kann. Das hab’ ich wenigstens gelernt von den Zigeunern. Wenn’s einmal
+schief mit mir geht, etablier ich mich als Kartenlegerin. Weißt du, mit
+Eule und Totenkopf und Kaffeegrund und allem Zubehör. Im Dutzend
+billiger. Nimmst du Abonnement bei mir?“
+
+„Ehrensache!“ versprach Emmi. „Aber heut’ machst du’s noch umsonst!“
+
+„Nein,“ sagte Olga, „für eine Zigarette.“
+
+Sie nahm den Kasten auf und schob eine zwischen die Zähne. „Ich hab’
+nämlich keine bei mir!“
+
+Erika Hannemann beeilte sich, ihr ein brennendes Streichholz zu reichen.
+Sie sog ein paarmal an der Zigarette, bis sie aufflammte und schlug das
+Streichholz durch die Luft, daß es erlosch.
+
+„Danke!“ sagte sie dann erst.
+
+Mit einem flüchtigen Blick sah sie, daß Mette sich eine Zigarette
+genommen hatte.
+
+„O Verzeihung!“ sagte sie so bedauernd, als hätte sie ein wirkliches
+Unrecht abzubitten, während ein halber Blick die Aschenschale mit dem
+verglimmenden Streichholz streifte. Rasch, fast eilig nahm sie aus ihrer
+Tasche ein kleines goldenes Feuerzeug, strich es an und reichte Metten
+das Flämmchen hinüber. In ihren Bewegungen, die die einfachsten, die
+ungezwungensten von der Welt waren, lag ein eigener Ausdruck.
+
+Es war weit mehr als Höflichkeit, und doch lag keine Spur von
+Unterwürfigkeit darin. Es war eine Mischung von Zuvorkommenheit und
+Zurückhaltung, von Adel und Dienstbeflissenheit, die man nicht gut
+anders als mit dem Wort „chevaleresk“ bezeichnen konnte.
+
+Sie bot auch den andern Zigaretten und Feuer.
+
+„Raucht, Kinder, raucht! Wenn die Mutter nachher schimpft, bin ich’s
+gewesen.“
+
+Sie hielt immer noch den kleinen schwarzen Hund auf den Knien und blies
+ihm den Zigarettenrauch um die Nase. Der Hund schnitt possierliche
+Grimassen, und sie bemühte sich, ihm nachzumachen. –
+
+Sie hatte überhaupt die Angewohnheit, ihr Gesicht zu verzerren, ohne im
+geringsten Rücksicht darauf zu nehmen, ob es sie kleidete oder
+entstellte, so daß man sich manchmal qualvoll danach sehnte, das allzu
+lebhafte Mienenspiel zu unterbrechen, um die regelmäßige Schönheit der
+Züge genießen zu können.
+
+Nur sagen durfte man ihr das nicht, sonst bekam sie es fertig, ohne
+Aufhören die greulichsten Fratzen zu schneiden.
+
+Der Hund rümpfte die Nase, drehte den Kopf und hustete und prustete in
+beleidigter Würde.
+
+„Ihr dürft eure Sophonisbe nicht so verfüttern, Kinder!“ sagte Olga.
+„Sie hat ja schon Asthma vor Fettsucht, das arme Viech!“
+
+Die Mädchen lachten kreischend auf.
+
+„Sophonisbe! Wie kommst du nur auf Sophonisbe?“
+
+„Er heißt doch Mäuschen.“
+
+„Er?“ sagte Olga spöttisch und legte das zappelnde Tier mit einem festen
+Griff auf den Rücken. „Er ist ganz bestimmt eine Sie. Und sie sieht aus
+wie Sophonisbe!“
+
+Die Mädchen erröteten bis über die Ohren und kicherten nur noch in
+gedämpften Tönen.
+
+„Nein, Olga, wie du aber auch bist!“
+
+„_Warum_ sieht sie aus wie Sophonisbe?“
+
+„Ich weiß nicht,“ sagte Olga plötzlich müde. Ihr Gesicht war einen
+Augenblick ganz ruhig, ihre Augen sahen irgendwohin, an den Mädchen
+vorüber, durch die Wände hindurch.
+
+„Danach dürft ihr mich doch nicht fragen. Auf die Frage: Wie? kann ich
+manchmal antworten, aber niemals auf die Frage: Warum?“
+
+Sie zog den Hund wieder in die Höhe und versuchte, ihm die Zigarette in
+die Schnauze zu stecken.
+
+„Magst du rauchen, Sophonisbe? Da! Schmeckt’s, Alterchen?“
+
+Der Hund drehte den Kopf und leckte mit der Zunge nach ihrer Hand, die
+ihn im Genick festhielt. Mit einer Gebärde des Widerwillens warf sie die
+Zigarette in die Aschenschale und ließ den Hund auf die Erde gleiten.
+
+„Du mußt dem Köter das Lecken abgewöhnen, Fanni,“ sagte sie. „Ich sehe
+dich ja doch noch am Hundewurm zugrunde gehen.“
+
+„Ach, Unsinn!“ sagte Fanni und nahm den beleidigten Hund zärtlich in die
+Arme. „Mein Hund hat keine Würmer! Nicht wahr, Mäuschen, wo du doch so
+schön rein gehalten wirst?“
+
+Der Hund schnupperte zärtlich nach ihrem Gesicht.
+
+Olga zog die Brauen zusammen und machte eine hastige Bewegung, als
+wollte sie ihr den Hund wegnehmen. Aber sie unterbrach sich und lehnte
+sich in den Schaukelstuhl zurück.
+
+„Meinetwegen,“ sagte sie, „der Mensch muß an dem zugrunde gehen, was er
+liebt. Mir wär ja so ein Köter das nicht wert. Aber wenn es dir
+Vergnügen macht. Schließlich, ob du nun am Echinokokkus krepierst, oder
+ob dich nachher ein Liebster oder kirchlich angetrauter Gatte mit
+Syphilis behaftet ...“
+
+Die drei Mädchen kriegten glühendrote Köpfe und fingen an zu kichern.
+
+Auch Olga Radó wurde rot. Aber es war eine andere Art zu erröten. Die
+hellen Gesichter der blonden Mädchen waren wie gedunsen vom Blut und vom
+unterdrückten Lachen. Über Olgas Gesicht lief das tiefe Rot wie ein
+flüchtiger Schatten, wie eine Wolke, die für einen Herzschlag selbst die
+Augen verdunkelte.
+
+„Gänse!“ sagte sie zornig, „da ist doch, weiß Gott, nichts zu lachen.“
+
+Die Mädchen wollten sich entschuldigen und konnten vor Prusten und
+Kichern nicht reden.
+
+Olga hob die Hand und ließ sie fallen – durch die abendliche Dämmerung
+leuchtete die lange, schmale Hand mit einem seltsamen Glanz wie Silber
+oder Perlmutter – mit einer Geste, die ganz deutlich „Ach, laßt doch!“
+sagte, so deutlich, als stände es in der Luft geschrieben.
+
+Sie saß jetzt ganz vornübergebeugt. Ihre Hände lagen wie müde zwischen
+ihren Knien. Sie starrte hinaus in das blaue Dämmerlicht und das
+knospenbedeckte Gewirr der braunen Zweige.
+
+Sie schwiegen alle eine Weile. Dann fingen Emmi und Erika ein Gespräch
+an, im Flüsterton, als wagten sie kaum, sich bemerkbar zu machen.
+
+So plötzlich stand Olga auf, daß der Schaukelstuhl nach rückwärts flog.
+
+„Macht Licht an!“ sagte sie beinah herrisch. „Ich werd’ euch die Karten
+legen!“ –
+
+Sie saß am Tisch unter der Lampe. Das gelbe Licht fiel schimmernd auf
+ihr Haar und auf ihre hellen Hände, die mit raschen Bewegungen die
+Karten mischten und ausbreiteten.
+
+„Wem zuerst? Dir, Fanni? Dann mußt du abheben – dreimal – so! Muß ich
+nun auch erst Hokuspokus sagen, oder glaubt ihr mir so? – Die Karodame
+bist du – da liegt ein schwarzer Jüngling – da liegt eine Reise, in der
+Vergangenheit – ein heimlicher Brief – in der nächsten Woche – oh, Ärger
+im Haus – das hängt mit dem Brief zusammen – Trennung – viele Tränen –
+siehst du die Treffzehn? – Da liegt eine große Veränderung – eine neue
+Bekanntschaft – ein blonder Herr – Verlobung und Heirat – viel Glück ins
+Haus – aber der Schwarze liegt doch dazwischen – neben dem Blonden liegt
+Reichtum und große Ehre ...“
+
+Die Mädchen horchten in fieberhafter Spannung, Fanni preßte die Hand mit
+dem Taschentuch vor die Zähne und kniff Emmi bei jedem Wort in den Arm,
+während Emmi und Erika mit mühsam unterdrücktem Gekreische in halb
+artikulierte Rufe ausbrachen, die man ganz gut als „Max“ und
+„Travemünde“ deuten konnte.
+
+„Ich glaube nicht an Kartenlegen,“ sagte Erika Hannemann überlegen,
+„aber aus der Hand wahrsagen, da ist schon eher was dran. Meinem Vetter
+hat mal eine Zigeunerin gewahrsagt ...“
+
+„Kannst du aus der Hand wahrsagen?“ schrie Emmi. „Ach, bitte, bitte,
+Olga, kannst du nicht aus der Hand wahrsagen? Oder besser aus den
+Karten?“
+
+„Ich kann auch aus der Hand wahrsagen,“ sagte Olga, „genau so gut wie
+aus den Karten.“
+
+Sie nahm Emmis kleine, rundliche Hand und zog gedankenvoll die Linien
+nach.
+
+„Die Lebenslinie ist ganz, siehst du? Du wirst ein langes Leben haben –
+aber die Linie des Hirns ist zerschnitten – die Linie des Tisches hast
+du überhaupt nicht – – –“
+
+„Was bedeutet die?“ forschte Emmi dringend.
+
+„Je nachdem – Güte oder Bosheit – du bist jenseits von gut und böse.“
+Dabei zuckte es um ihre Mundwinkel. „Aber hier, Ordnung und Sparsamkeit,
+die sind sehr ausgeprägt bei dir – das scheinen deine Haupteigenschaften
+–“
+
+Jetzt war die Reihe zu lachen an Fanni.
+
+„Aber nimm dich nur in acht, dir steht eine unglückliche Liebe bevor –
+in Verbindung mit einer Kunst – mit Musik, glaub’ ich ...“
+
+Emmi wurde blutrot und Fanni tanzte auf einem Bein herum und schrie:
+
+„Wassermüller, Wassermüller!“
+
+Das war der Klavierlehrer.
+
+Mette war befangen in einem sonderbaren Zwiespalt. Sie hätte so gern
+sich wahrsagen lassen – schon, um die schöne Frau anreden zu dürfen.
+
+Dabei schien es ihr aufdringlich, sie zu belästigen. Sie wollte auch
+nicht gern für abergläubisch gehalten werden.
+
+Olga Radó belustigte sich sicherlich über den Feuereifer, mit dem die
+Mädels bei der Sache waren. Und dann wieder hatte Mette eine Angst, die
+sie selbst kindisch schalt: so, als wäre doch vielleicht ein
+geheimnisvoller Zauber in dieser Spielerei, und es könnte klar und
+deutlich eine furchtbare Eigenschaft in ihrer Handfläche stehen, eine,
+die sie selbst nicht kannte, oder ein entsetzliches Schicksal.
+
+Vielleicht würde die schöne Zigeunerin vor Schreck erblassen und sagen:
+„Quälen Sie mich nicht, ich kann Ihnen die Wahrheit nicht sagen, die da
+zu lesen ist.“
+
+Und plötzlich stand sie doch neben Emmi und streckte die Hand aus und
+sagte:
+
+„Ach, bitte, bitte, mir auch!“
+
+Olga sah zu ihr auf, und zum erstenmal trafen sich ihre Augen und
+blieben für ein paar Sekunden ineinander haften.
+
+Olga lächelte. Und Metten wurde bewußt, daß sie dies Lächeln zum
+erstenmal sah. In dem fortwährend wechselnden Mienenspiel blieb das
+Gesicht fast immer ernst. Sie runzelte die Brauen, kniff die Augen
+zusammen, schob den Unterkiefer vor, legte die Zähne auf die Lippe,
+zuckte mit den Nasenflügeln, verzog die Mundwinkel in leichtem Spott,
+aber sie lächelte sehr selten. Jetzt zum erstenmal lächelte sie,
+lächelte Metten an, und es schien wirklich, als ob das ganze Gesicht
+seltsam erhellt wurde von einem plötzlich durchbrechenden Licht.
+
+„Aber, Mädelchen!“ sagte sie halblaut mit ihrer tiefen Stimme. „Von
+Ihnen weiß ich doch nix! ...“
+
+Als sie nachher auf der Diele nebeneinander standen und vorm Spiegel die
+Hüte aufsetzten, sah Mette mit einer unerklärlichen Freude, daß sie fast
+ebenso groß war wie Olga Radó, viel größer als die drei blonden,
+rundlichen Mädels.
+
+Sie gingen zu dritt die Treppen hinunter und ein Stück die Straßen
+entlang. Erika Hannemann führte das Gespräch.
+
+„Nein, wie Sie das wissen konnten, Fräulein Radó, von Travemünde die
+Sache und von Wassermüller ... von Fannis Max weiß ich ja alles, weil
+ich es direkt miterlebt habe – ich war ja auch in Travemünde ... kennen
+Sie es? – Ach, Travemünde ist entzückend ... Ich möchte dies Jahr zu
+gern wieder hin, es hat so feines Publikum, soviel gute Hamburger und
+Lübecker Familien ... aber meine Eltern wollen ins Gebirge ... ins
+Salzkammergut, glaub’ ich ... wissen Sie da nicht irgendeinen hübschen
+Ort? Aber einen, wo ein bißchen was los ist?!“
+
+Olga Radó sagte von Zeit zu Zeit: „Ja, nicht?“ – „nein!“ – „so!“ –
+„ach!“ – „nein!“ –
+
+Mette schwieg.
+
+An irgendeiner Ecke nahm Erika Hannemann Abschied und bog links um.
+
+Olga und Mette gingen eine Weile schweigend mit raschen Schritten
+nebeneinander her.
+
+Mette hätte längst abbiegen müssen, wenn sie auf dem nächsten Weg nach
+Hause wollte. Sie kam sich aufdringlich vor, daß sie immer noch nebenher
+lief, aber sie war viel zu froh, daß Erika endlich fort war – so, als
+sei nun die Luft reiner geworden und man könne freier ausschreiten – es
+war eine Freude, sich dem Takt dieser schönen und gleichmäßigen Schritte
+anzupassen, und sie tröstete sich damit, daß ja niemand wußte, wo sie
+wohnte, und daß sie ein Recht auf die Straße hatte, gerade so gut wie
+jeder andere auch.
+
+Mette sah jedem Haus mit einer gewissen Beklommenheit entgegen: War es
+nun dies oder das nächste, an dem Olga Radó stehenblieb, nach einem
+flüchtigen Gruß hineinging, eine schwere Tür hinter sich verschloß und
+die Straße sehr einsam und öde hinter sich zurückließ?
+
+Nach einem minutenlangen Schweigen sagte Olga plötzlich:
+
+„Es war nicht richtig, in Gegenwart dieser Kälber von Syphilis zu reden,
+gelt? – Sie werden sehr chokiert gewesen sein.“
+
+„Ich?“ sagte Mette und bekam einen roten Kopf.
+
+„Nein, nein! Sie nicht! Sie – klein geschrieben – die Kälber.“
+
+„Aber, gnädiges Fräulein! Machen Sie sich darüber Gedanken?“ Es schien
+Metten wirklich höchst lächerlich, sich über das Urteil der Kälber
+Gedanken zu machen.
+
+„Ja doch!“ Olga Radó wandte den Kopf und heftete die Augen einen Moment
+lang scharf und ernst auf ihr Gesicht. „Denken Sie, ich mache mir
+darüber Gedanken. So etwas kann mich direkt quälen. Ich verkehre nur mit
+so erwachsenen Menschen, daß ich ganz die Schätzung verloren habe, was
+man in einer solchen Gesellschaft sagen darf. Ich glaube, die jungen
+Mädchen aus guter Familie dürfen von Syphilis nicht eher etwas hören,
+als bis sie sie selber haben.“
+
+Mette lachte mit geschlossenen Zähnen leise auf.
+
+„Es wäre schon zum Lachen,“ sagte Olga Radó, „wenn es nur nicht so
+furchtbar traurig wäre. Ich habe jetzt wieder so einen Fall erlebt.
+Darum komme ich mit den Gedanken nicht los davon ... Sagen Sie, war ich
+sehr unliebenswürdig zu dem kleinen Ekel?“
+
+Jetzt lachte Mette hell auf.
+
+„Zu wem?“
+
+„Ich weiß nicht, wie das heißt. Was hier neben uns herlief. Sie sind
+doch nicht befreundet, gell, nein? Verzeihen Sie, das war eine dumme
+Frage!“
+
+Metten war, als hätte noch nie im Leben jemand ihr ein solches Lob
+gespendet. Sie war stolz und dankbar zu gleicher Zeit.
+
+„Ich bin mit keinem Menschen befreundet,“ sagte sie, ernster und
+schwerer, als es eigentlich ihre Absicht gewesen war.
+
+Nun war doch das Haus da, vor dem Olga Radó plötzlich stehenblieb.
+
+„Hier bin ich daheim,“ sagte sie, „wenn man ein Pensionszimmer ‚daheim‘
+nennen darf. Aber – schließlich – was darf man so nennen? Kennen Sie die
+Pension Flesch?“
+
+„Ich kenne überhaupt keine Pensionen.“
+
+„Sie Glückliche! Sie wohnen bei Ihren Eltern!?“
+
+„Bei meinem Vater.“
+
+„Ach, die Pension ist ganz nett. Ich habe in schlimmeren gehaust. Kommen
+Sie doch gelegentlich mal hinauf zu mir und schaun’s sich meine Bude
+an!“
+
+„Aber gern!“ – – –
+
+ * * * * *
+
+Dies „gern“ war keine leicht hingesprochene Redensart.
+
+Mette dachte in der nächsten Zeit Tag und Nacht darüber nach, wie sie es
+anstellen sollte, dieser Aufforderung zu folgen und Olga Radó
+aufzusuchen.
+
+Sie war manchmal schon auf dem Wege, hinzugehen. Dann kehrte sie um,
+weil sie sich lieber vorher telephonisch anmelden wollte. Wieder schien
+es ihr unpassend, einen Menschen durch telephonischen Anruf zu stören.
+Sie wollte ihr schreiben. Aber das gab der Sache einen solchen Anstrich
+von Wichtigkeit und Förmlichkeit, nahm ihr alles Zufällige,
+Gelegentliche. Und dann – wenn sie eine höfliche Absage bekam, war ihr
+jede Möglichkeit genommen, einen weiteren Versuch zu machen. Wenn sie
+dagegen einfach hinging und sie nicht antraf, konnte sie ihre Karte mit
+ein paar Worten dalassen – und auf eine Nachricht warten.
+
+Sie ging – ging bis vors Haus und ging doch wieder nicht hinauf. Aber
+sie ging ein paarmal die Straße auf und ab und stand sehr lange und
+versunken vor einigen äußerst reizlosen Auslagen. Es hätte doch sein
+können, daß Olga Radó zufällig gerade um diese Zeit das Haus verließ,
+oder besser noch, heimkam, und sie aufforderte, mit hinaufzugehen.
+
+Außerdem pflegte Mette den Verkehr mit Möbiussens mit rührendem Eifer.
+Sie lud sie ein, sooft es Tante Emilie erlaubte, sie ging hin, sooft sie
+aufgefordert wurde; sie hatte zwischendurch hundertmal zu telephonieren,
+um irgendeine Verabredung festzustellen. Sie lieh sich Bücher aus, die
+sie holen und wiederbringen mußte und bemühte sich bei alledem, so
+liebenswürdig zu sein, daß Frau Konsul ganz entzückt von ihr war und
+Tante Emilien gegenüber nicht oft genug betonen konnte, wie Mette sich
+zu ihrem Vorteil verändere – was Tante Emilie meist mit einem stummen
+und fast beleidigten Achselzucken erwiderte.
+
+Das ging durch Wochen so. Aber Mette verlor die Geduld nicht. Es war
+genug, wenn von Zeit zu Zeit ein Wort fiel, „... wie Olga immer sagt“
+oder „das hat Olga so gern“. Es war genug und fast zu viel, wenn Fanni
+sagte:
+
+„Gestern abend war Olga auf einen Sprung oben, ich finde, sie sieht
+schlecht aus!“
+
+Oder, wenn Emmi, die sich in dieser Zeit so etwas wie eine Schwärmerei
+für Mette zurechtlegte, sagte:
+
+„Mette hat so wunderschöne Hände, beinah so schöne wie Olga ...“
+
+Ach, es war genug, den kleinen schwarzen Hund auf den Knien zu halten
+und ihn lachend „Sophonisbe“ zu nennen.
+
+All das gab Hoffnung und Spannung für Tage. Mette fing in dieser Zeit
+an, das Leben schön zu finden.
+
+Aber sie wußte nicht, warum. – – –
+
+ * * * * *
+
+Eines Abends – die Mädels saßen noch im Dämmer zusammen – weil es sich
+besser reden ließ als beim grellen Lampenlicht, und Mette ließ sich zum
+drittenmal die Geschichte von Max und Travemünde erzählen, und wie es
+„angefangen“ hatte – schrillte die Klingel, und ein paar Sekunden später
+klang im Nebenzimmer mit Frau Konsuls dünnem, sanftem Organ die tiefe,
+tönende Stimme, die Metten ein Erschrecken bis ins Herz jagte.
+
+Sie kannte diese Stimme so genau und fürchtete doch, daß sie sich
+täuschen könnte. Sie wollte fragen: „Ist das nicht Olga?“ und fürchtete,
+ein „Nein“ als Antwort zu bekommen. Und mehr als alles fürchtete sie,
+daß dies Gespräch nebenan verstummen könnte – daß die Türen gehen
+könnten und es nachher heißen würde: „Eben war Olga auf einen Moment
+hier“.
+
+Die Stimmen verstummten nicht. Sie wurden lauter, kamen näher, die Tür
+wurde rasch und weit aufgemacht, und im Rahmen stand Olgas hohe
+Erscheinung, abgehoben von dem gelben Licht, das das Nebenzimmer füllte,
+wie ein gedunkeltes Bild von goldenem Grund.
+
+„Kinder, wollt ihr morgen bei mir Tee trinken?“ rief sie in das dunkle
+Zimmer. „Ich habe ‚Kugler‘ geschickt bekommen.“
+
+Die beiden Möbius-Mädchen juchten auf.
+
+Emmi rückte einen Stuhl und wollte Olga hineinziehen, aber die wehrte ab
+und ließ die Hand nicht von der Türklinke.
+
+„Nein, nein, Kinder, ich habe keine Minute Zeit. Aber kommt morgen
+zeitig, um vier, halb fünf spätestens, ich muß abends in die Oper.“
+
+Mette rührte sich nicht. Als die Tür aufging, hatte sie ein halblautes
+„Guten Abend“ gesagt. Nun schien es ihr aufdringlich, sich irgendwie
+bemerkbar zu machen. Vielleicht hatte Olga sie in ihrer dämmerigen Ecke
+gar nicht gesehen. Vielleicht hatte sie sie aber auch nicht sehen
+wollen. Es wäre ja begreiflich gewesen. Aber irgend etwas tat weh dabei.
+
+„Wollen Sie nicht mitkommen, Fräulein Rudloff? Wenn Sie nix Besseres
+vorhaben – Sie sind herzlichst eingeladen ...“
+
+„Gern!“ sagte Mette, und wurde blaß vor Freude. – – –
+
+ * * * * *
+
+Am andern Tag brachte Mette so viel Zeit damit hin, sich anzuziehen und
+herzurichten, als ob sie zum Ball gehen wollte.
+
+Tante Emilie war für Ordnung und Sauberkeit in der Kleidung, soweit das
+eben zur Musterhaftigkeit gehörte, aber beileibe nicht für mehr. Ein
+Mensch, der mit aller Gewalt hübsch aussehen wollte, der war schon halb
+in den Krallen des Satans.
+
+(Ach, wie recht hatte doch Tante Emilie manchmal mit ihren Ansichten!)
+
+Mette wollte heute mit aller Gewalt hübsch aussehen. Sie schnitt und
+feilte und polierte eine Stunde an ihren Nägeln. Sie versuchte dreimal
+eine neue Haartracht. Sie überlegte, unter welchem Vorwand sie das blaue
+Taffetkleid anziehen sollte, es war das gute, das neue, das einzige, in
+dem sie, ihrer Meinung nach, erträglich aussah. Aber Tante Emilie würde
+es ihr ja für einen einfachen, kleinen Nachmittagstee nie gestatten.
+
+Tante Emilie ging _schon_ herum, als wollte sie durch fortdauernde
+Spionage die Bestätigung eines furchtbaren Verdachtes erbringen.
+
+Alle paar Minuten wurde die Tür zu Mettes Zimmer aufgerissen.
+
+„Herr Gott im Himmel! Du frisierst dich _noch_?“
+
+Und nach fünf Minuten:
+
+„In _welcher_ Straße ist das, wo ihr nachmittag hingeht?“
+
+Nach zwei Minuten:
+
+„... _noch_ dünnere Strümpfe konntest du wohl nicht anziehen?! Es ist
+heut absolut nicht so übermäßig warm. Ich weiß nicht, in _meiner_ Jugend
+war das überhaupt nicht Mode ...“
+
+„Holen Möbiussens dich ab, oder holst du sie ab?“
+
+„Ich würde mir doch an deiner Stelle eine Maniküre kommen lassen!“
+
+„Wer ist denn da _noch_? _Bloß_ ihr drei?“
+
+Angesichts dieser Inquisition beschloß Mette, lieber in Rock und Bluse
+zu gehen und des blauen Taffetkleides lieber gar nicht erst Erwähnung zu
+tun. – – –
+
+ * * * * *
+
+Als Mette die Wohnung verlassen wollte, stand Tante Emilie mit
+Kapotthütchen und Regenschirm bereits an der Flurtür. Sie kam mit bis zu
+Möbiussens. Sie hatte schon längst die Absicht gehabt, Frau Konsul
+einmal aufzusuchen.
+
+Nun sei ja sehr gute Gelegenheit. Ihrer Nichte sei doch hoffentlich die
+Begleitung nicht unangenehm?
+
+Mette schwieg. Sie fühlte das lauernde Mißtrauen und glühte vor Zorn.
+Sie konnte keine liebenswürdige Antwort geben. Sie gingen wortlos
+nebeneinander her, und in beiden brannte der Haß mit schwelender Flamme.
+– – –
+
+ * * * * *
+
+Mette hatte den Druck der Mißstimmung, der auf ihr lag, noch nicht
+abschütteln können, als sie schon längst mit den beiden schwatzenden
+Mädchen auf dem Weg war. Immer wieder verstärkte sich ihre Pein, wenn
+sie dachte: ... und ich hatte mich _so_ gefreut.
+
+Erst als sie das Haus wiedersah, als sie die Tür öffnete, die Treppen
+hinaufstieg, mit dem stolzen Gefühl, vollauf dazu berechtigt zu sein, da
+schlug die Freude wieder in ihr hoch, wie eine helle Flammenlohe durch
+Qualm und Rauch.
+
+Mette brannte vor Neugier, das Zimmer zu sehen. Als das zierliche
+Hausmädchen sie durch den Türgang führte, empfand sie ein Gefühl, dem
+ähnlich, mit dem sie als Kind im Theater vorm geschlossenen Vorhang
+gesessen hatte, wenn die Musiker anfingen, ihre Instrumente zu stimmen.
+
+Das Zimmer lag fast im Dunkel. Rolläden und Vorhänge waren so fest
+geschlossen, daß kaum ein Schimmer des regnerischen Tages die
+Fenstervierecke heller zeichnete. Direkt neben dem kleinen, niedrigen
+Teetisch stand eine hohe, buntbeschirmte Lampe, die ein blendendes Licht
+über das weiße Tuch, über das dünne, goldgeränderte Porzellan und über
+ein dunkelblaues, mit gelben Primeln angefülltes Jean-Beck-Glas warf.
+
+Von dem übrigen Zimmer konnte man auf den ersten Blick nicht viel
+erkennen. Die Möbel schienen schwer und dunkel, an einer Wand glänzten
+im ungewissen Licht lange Reihen von Bücherrücken, hie und da gleißte
+die Ecke eines Bilderrahmens auf oder ein Stückchen spiegelnden Glases.
+
+Olga empfing ihre Gäste mit einer Freude, die herzlich und aufrichtig
+schien.
+
+Metten erschien es unbegreiflich, daß diese Frau sich nicht in kalten
+Hochmut wie in einen Panzer hüllte.
+
+Die Mädchen konnten nicht aufhören, sich über die künstliche Dunkelheit
+zu belustigen.
+
+„Ja,“ sagte Olga, „ich wollte doch meine Bude im vorteilhaftesten Licht
+präsentieren. Und am vorteilhaftesten ist so wenig Licht wie möglich.
+Außerdem – wenn vor der entsetzlichen grauen Brandmauer da drüben noch
+der Regen in Strippen herunterläuft, dann ist das auch weiter kein
+erfreulicher Anblick. So kann man denken, da draußen liegt ein
+Tannenwald im Schnee, oder Terrassen, die nach dem Meer hinunterführen
+oder der Donau-Kai in einer Mainacht, wenn die Akazien blühen.“
+
+Mette wurde in einen tiefen Sessel genötigt.
+
+„Ja, das müssen Sie sich schon gefallen lassen, Sie sind hier unser
+Ehrengast, Sie sind doch die Älteste! Jetzt sind Sie wahrscheinlich noch
+stolz darauf, wenn Sie erst so alt sind wie ich, dann hört es schon auf,
+eine Schmeichelei zu sein.“
+
+Mette hatte sich in ihrem ganzen Leben noch nie so zu Hause gefühlt, wie
+in diesem Sessel.
+
+Ihr gegenüber hockte Olga auf einem niedrigen Taburett, hatte schon
+längst die unvermeidliche Zigarette zwischen den Fingern und hielt sie
+zwischen den Zähnen fest, wenn sie die Hände brauchte, um Tee
+einzugießen oder Kuchen herumzureichen.
+
+Sie war ersichtlich bemüht, ihre Gäste zu unterhalten, aber als Fanni
+und Emmi erst ins Schwatzen kamen und sich gegenseitig nicht mehr zu
+Wort kommen ließen, wurde sie still und hörte lächelnd zu – wie ein
+Erwachsener spielenden Kindern lauscht.
+
+Wenn eine Pause im Gespräch eintrat, holte sie einen Kasten mit
+Photographien hervor, die sie auf Reisen aufgenommen hatte, oder ein
+Buch mit Dulacillustrationen oder eine Zeitschrift mit den Porträts der
+neuesten Filmstars.
+
+In Metten wuchs schon wieder ein Gefühl der Pein auf. Sie bekam es kaum
+fertig, sich mit einem „Ja“ oder „Nein“ am Gespräch zu beteiligen.
+
+„Sie gibt sich so krampfhaft Mühe, uns zu unterhalten,“ dachte sie. „Und
+im Grunde sind wir ihr langweilig und lästig. Wenn die Tür nachher
+hinter uns zufällt, atmet sie auf und sagt: ‚Gott sei Dank‘! Ich kann es
+ihr ja auch nicht verdenken. Warum sie uns nur erst eingeladen hat!“
+
+Sie hatte die größte Lust, zu gehen, nur um Olga Radó von diesem Besuch
+zu befreien. Dabei fühlte sie – wenn sie jetzt mit irgendeiner Ausrede
+aufbrechen wollte, und man würde sie fragen, sie bitten, die allgemeine
+Aufmerksamkeit würde sich auf sie lenken, dann würden ihr unhaltbar die
+Tränen aus den Augen stürzen, die ihr drohend und stechend hinter der
+Nasenwurzel saßen.
+
+Sie war fast froh und tief unglücklich, als Olga plötzlich auf die Uhr
+sah und sagte:
+
+„Kinder, ich muß euch hinauswerfen, so leid es mir tut. Ich muß mich
+umziehen, aber schleunigst – die Zeit ist so rasend schnell vergangen.“
+
+Im tiefsten Innern litt Mette darunter, daß der ersehnte Nachmittag
+schon vorüber war. Aber ihre Gedanken sagten laut und deutlich: „Gott
+sei Dank!“ Und sie war erst recht erbittert, daß sie nun eigentlich froh
+sein mußte, statt unglücklich zu sein. – – –
+
+ * * * * *
+
+Mette war leicht geneigt, sich zur Verantwortung zu ziehen. Sie ging am
+selben Abend noch scharf mit sich ins Gericht. Sie klagte sich an, dumm,
+faul, unwissend und ungewandt zu sein.
+
+Warum kannte sie die Bücher nicht, die Olga Radó in ihrem Besitz hatte
+und las und liebte? Vater hatte sie sicher alle vorn in seinem
+Studierzimmer, aber Mette war noch nie auf den Gedanken gekommen, sie zu
+lesen.
+
+Warum war es ihr nicht möglich, _einmal_ etwas Geistreiches zu sagen?
+Irgend etwas, das sie mit einem Schlage über das flache Gewimmel dieser
+Alltagsbackfische hinaushob.
+
+Olga Radó merkte sicher an einem Wort, wes Geistes Kind einer war.
+Vielleicht hatte sie etwas von ihr erwartet, weil sie ein bißchen anders
+aussah als die anderen.
+
+Mette stand prüfend vorm Spiegel. Sie war hochgewachsen, hatte eine
+kluge Stirn und ernste Augen. Und was war dahinter? Nichts, nichts,
+nichts!
+
+Mette schnitt ihrem Spiegelbild zornige Fratzen.
+
+Was hatte sie den ganzen Nachmittag geredet? „Ja,“ „nein“ und ein paar
+alberne Phrasen.
+
+Aber das kam davon, wenn man blind und taub durchs Leben ging.
+
+Dann wußte man selbst solche Dinge nicht, von denen die Möbius-Mädeln
+schwatzen konnten. Und an alledem war Tante Emilie schuld!
+
+Das schlimmste aber war – Mette drehte das Licht aus und verkroch sich
+unter die Bettdecke, weil das Blut ihr brennendheiß in die Stirn stieg –
+das schlimmste war, daß sie, als die anderen vom „Kammersänger von
+Wedekind“ gesprochen hatten, allen Ernstes gedacht hatte, es wäre ein
+adliger Hofopernsänger und gefragt: „Wie heißt er denn mit Vornamen?“
+
+Aber das hatte Olga Radó hoffentlich nicht gehört. – – –
+
+ * * * * *
+
+Eine Woche lang gab Mette ihre zwecklosen Spaziergänge auf und übte zu
+Hause Klavier und lernte französische Vokabeln, und wenn sie eine halbe
+Stunde geübt und gelernt hatte, warf sie sich auf den Diwan und starrte
+in das Stückchen Himmelblau, von silbrigen Telephondrähten durchschrägt,
+das sie von ihrem Platz aus sehen konnte. Und dann flogen ihre Gedanken
+– wie das herrlich wäre, alle Sprachen der Welt zu verstehen, oder ein
+Instrument vollkommen zu beherrschen, oder eine wundervolle Stimme zu
+haben, oder bezaubernd schön zu sein. Aber da man all so etwas doch nie
+erreichen konnte, so wäre es vielleicht am angenehmsten, tot zu sein. –
+– –
+
+ * * * * *
+
+Dann kamen dringende Besorgungen, die einen gezwungenermaßen in die
+Motzstraße führten. Und wenn man an dem Haus vorüber mußte, war es
+natürlich, daß man ein wenig langsamer ging, zu den Fenstern hinaufsah,
+die Straße entlang spähte.
+
+Und wenn man in der Stadt war und nach Hause gehen wollte, konnte man
+genau so gut durch die Motzstraße gehen wie durch die Kleiststraße. Und
+wenn man ging, um ein wenig an der frischen Luft zu sein, war es das
+natürlichste von der Welt, daß man sich auf den Viktoria-Luise-Platz auf
+eine Bank setzte und den spielenden Kindern zusah.
+
+Jeden Tag stand Mette vor einem Geschäft mit Handschuhen, Bändern und
+Spitzen und starrte tiefsinnig auf die Auslagen – weil im Hintergrund
+des Glaskastens ein Spiegel war, und weil man in diesem Spiegel die
+Haustür gegenüber beobachten konnte.
+
+Jedesmal zuckte Mette zusammen, wenn die Haustür sich auftat.
+
+Und als einmal Olga Radó durch die Haustür trat, hätte Mette sie beinah
+nicht erkannt. Sie hatte einen losen Mantel an, beide Hände in den
+weiten Taschen vergraben und keinen Hut auf. Sie lief mehr als sie ging,
+zwei Häuser weiter nach dem Briefkasten und steckte einen Brief unter
+die Klappe.
+
+Mette ging rasch über den Damm, um ihr den Rückweg abzuschneiden. Dabei
+klopfte ihr Herz so, daß sie nach Atem ringen mußte. Sie faßte in
+flüchtigster Geschwindigkeit der Gedanken hundert Entschlüsse, die sie
+wieder verwarf.
+
+Sie wollte sie anreden – sie wollte mit stummem Gruß an ihr vorübergehen
+– aber vielleicht wurde sie gar nicht erkannt – sie wollte sie doch
+lieber anreden – aber wie?
+
+Als sie noch auf dem Damm war, hatte Olga sie gesehen und schwenkte ihr
+die Hand entgegen.
+
+„Hallo, Fräulein Mette! Wollten Sie mich besuchen?“
+
+„Eigentlich nicht!“ sagte Mette und wurde blaß vor Aufregung. Vielleicht
+war es wieder eine Dummheit. Vielleicht hätte sie „ja“ sagen sollen ...
+
+„Aber uneigentlich ja“ – sagte Olga und schob ihre Hand in Mettens Arm.
+„Kommen Sie eine Stunde mit hinauf. Oder haben Sie etwas zu versäumen?
+Nein? Na also! Warten Sie – ich muß nur noch zu meinem Freund an der
+Ecke, mir Zigaretten holen – gehen Sie mit?“
+
+Nie in ihrem Leben hatte Mette einen so reizenden kleinen Tabaksladen
+gesehen, wie dies Geschäft an der Ecke. Nie war ein Mensch so auf den
+ersten Blick gewinnend gewesen, wie dieses weißhaarige, schmunzelnde
+Männchen mit den dürren, zittrigen Händen, bei dem Olga Radó ihre
+Zigaretten kaufte – – –
+
+ * * * * *
+
+Olga saß vor dem breiten Diplomatenschreibtisch aus schwarzgebeiztem
+Eichenholz im Lutherstuhl, die Beine übereinander geschlagen, ein wenig
+vorgebeugt, beide Ellenbogen auf den hohen Seitenlehnen.
+
+Mette saß ihr gegenüber im Sessel. Ihr war ein wenig zumute wie beim
+Examen. Irgend etwas in ihrem Innern straffte sich auf, biß gleichsam
+die Zähne zusammen und sagte: Ich will bestehen. Ich will bestehen.
+
+Eine Weile ging es ganz gut. Sie sprachen von den Möbius-Mädeln und von
+Erika Hannemann und Tante Konsul. Und Mette erzählte von zu Hause, von
+Tante Emilie und von den schönsten Tagen ihrer Kindheit – von dem Gut
+und dem Gartenhäuschen aus Birkenrinde und dem Brückchen aus
+Birkenstämmen, das über ein ganz kleines Wässerlein führte – und von den
+Perlhühnern, die immer auf die Veranda kamen, wenn gefrühstückt wurde
+...
+
+Und dann sagte Olga plötzlich:
+
+„Sagen Sie mir bloß, wie kommen Sie eigentlich zu der Freundschaft mit
+meinen sogenannten Cousinen?“
+
+„Ich weiß nicht,“ sagte Mette – „Tante Emilie ...“
+
+„Ich will nichts gegen sie sagen,“ sagte Olga rasch, „es sind
+herzensgute Kinder. Aber langweilen Sie sich nicht zu Tode in diesem
+beständigen Verkehr?“
+
+„Ja,“ gab Mette zu, „aber ich langweile mich eigentlich immer.“
+
+„Hören Sie, das ist ja furchtbar!“ sagte Olga ernsthaft erschrocken.
+„Ich möchte lieber tot sein, als mich langweilen. Haben Sie denn keinen
+anderen Menschen als Fanni und Emmi und Tante Emilie?“
+
+„Nein“ – sagte Mette zögernd. „Es liegt wohl an mir. Ich habe nie eine
+Freundin gefunden. Aber ich habe auch nie eine gemocht.“
+
+„Es ist nicht leicht“ – sagte Olga nachdenklich. „An unseren besten
+Freunden gehen wir meist um ein paar Jahrhunderte vorüber. Von manchen
+wissen wir. Wenn wir von ihnen lesen oder ihre Bilder sehen. Aber das
+sind doch nur die wenigsten. Und von denen, die nach uns geboren werden,
+wissen wir gar nichts. Darum beneide ich die Schaffenden so. Sie können
+denen, die nach ihnen kommen, einen Gruß zuwinken. Sie können sich
+selbst festhalten in Worten, in Bildern, in Taten. Ja, in Taten auch.
+Das ist dann wie ein Schrei: So bin ich! So war ich! Habt mich lieb! Und
+wenn sie bei ihren Lebzeiten niemand gefunden haben, so wird vielleicht
+in hundert Jahren einer geboren, oder in zweihundert, der sie liebt, so
+wie sie geliebt sein wollten. Der sie versteht, so wie sie verstanden
+sein wollten. – Wir armen Hunde – wenn wir tot sind, werden wir ganz
+gewiß nicht mehr geliebt. Nicht in zehn Jahren mehr, ach, nicht in zehn
+Monaten. Ich möchte manchmal ...“
+
+Ihre Augen standen tief dunkel und drohend unter den zusammengezogenen
+Brauen.
+
+Sie brach ab und setzte mit einer anderen Stimme wieder ein:
+
+„Wissen Sie, unter den Menschen der Renaissance sind sehr viel
+sympathische Leute. Man hätte doch wohl vier, fünf Jahrhunderte früher
+leben müssen. Ich wäre ganz sicher mit Margherita Sforza befreundet
+gewesen. Ich hab’ vorhin gerade so eine famose Geschichte von ihr
+gelesen, wie sie ihrem Bruder seine Besitzungen erhielt, als Julius
+Cäsar gegen sie abgeschickt wurde.“
+
+In Mettens Kopf erhob sich ein Wirbel, der einem Schwindelgefühl nicht
+unähnlich war.
+
+Renaissance – das war ihr ein vertrauter Begriff.
+
+Mit dem Namen Sforza verband sie eine dämmernde Vorstellung.
+
+Aber – „Julius Cäsar?“ murmelte sie fassungslos.
+
+Olga lachte: „Nein, nein, nicht _der_! Julius Cäsar von Capua.“ Und dann
+setzte sie gleich wie begütigend hinzu: „Ein kleines, dummes Fürstchen!
+Sie brauchen ihn nicht zu kennen.“
+
+„Ach,“ seufzte Mette aufrichtig, „ich kenne so viele nicht, die ich
+kennen müßte.“
+
+„Na,“ sagte Olga, „es wird so schlimm nicht sein. Die Königin Johanna
+kennen Sie doch?“
+
+„Welche?“ fragte Mette ratlos. „Ich kenne nur die Erzählungen der
+Königin von Navarra ...“
+
+„Die kennen Sie hoffentlich nicht!“ sagte Olga belustigt. „Im übrigen
+war das eine Margarete. Aber die Sforza kennen Sie doch?“ Sie fragte so
+zart, so zuredend, als spräche sie zu einem Kinde, dem man nicht wehtun
+will.
+
+„Ich weiß nicht ... nein ... ja ...“
+
+„Na, was wissen Sie von ihnen?“
+
+„Nichts“ – sagte Mette verstört –, „nur das Bild von Rubens – das kleine
+Mädchen mit der Leberwurst ...“
+
+Olga horchte einen Augenblick mit hochgezogenen Brauen, als dächte sie
+nach. Dann lachte sie laut und lustig, so lustig, wie Mette sie noch nie
+hatte lachen hören. Aber merkwürdigerweise tat diese Lustigkeit Metten
+nicht weh, obgleich sie sich über ihre eigene Unempfindlichkeit
+wunderte. Es war so hübsch, Olga Radó so herzlich lachen zu sehen. Auch
+dann, wenn man selber ausgelacht wurde.
+
+„Mädchen!“ rief Olga immer noch lachend. „Wie sieht das in deinem Gehirn
+aus! Ach! Da möcht ich einmal Ordnung schaffen!“
+
+„Tun Sie das!“ sagte Mette glühend. „Bitte, bitte, tun Sie das!“
+
+Olgas Gesicht wurde einen Augenblick ernst und nachdenklich.
+
+„Nein, nein,“ sagte Mette sofort erschrocken, „das war eine
+Unverschämtheit. Sie sind ja schließlich nicht unsere Gouvernante!“
+
+„Kind!“ sagte Olga, und legte mit einem raschen Sichvorbeugen ihre Hand
+auf Mettens. „Sind Sie so empfindlich? Das galt doch gar nicht Ihnen!
+Wollen Sie lesen lernen bei mir? Weiter kann ich Ihnen ja auch nix
+beibringen! Kommen Sie, ja? Kommen Sie zu mir herauf, sooft Sie wollen,
+bis es Ihnen langweilig wird.“
+
+„Nie!“ sagte Mette, als spräche sie einen heiligen Eid.
+
+„Aber wissen Sie, ehe wir uns irgendwo festhaken, müssen Sie erst mal
+einen Überblick haben. Sie müssen sich durch eine Weltgeschichte
+durcharbeiten. Soll ich Ihnen den Schlosser mitgeben? Es sind achtzehn
+Bände. Immer einen Band nach dem andern. Ja – Mädel, da hilft dir kein
+Gott! Wenn du weiter nix tust, kannst du gut hundert Seiten im Tag lesen
+– ach mehr – und wenn du fertig bist – alle drei, vier Tage – je nachdem
+– kommen Sie her und tauschen sich den Band ein und trinken hier Tee,
+und wir plaudern ein bissel. Gell, ja? Wollen wir’s so halten?“
+
+So fing es an. – – –
+
+ * * * * *
+
+Und so ging es eine ganze Weile.
+
+Mette las mit einem Feuereifer die Bücher, die Olga Radó ihr gab. Und
+wenn sie das Buch sinken ließ, mit brennendem Gesicht, dann war ihr, als
+ob Olga ihr gegenüber säße, und sie fing an, lange Gespräche mit ihr zu
+führen. Auf jeder Seite stand etwas, etwas Grauenhaftes oder Schönes,
+etwas Merkwürdiges oder Unverständliches, irgend etwas, was sie Olga
+erzählen, wonach sie Olga fragen mußte.
+
+Manchmal führte sie diese Gespräche auch in Wirklichkeit, manchmal
+sprach sie das aus, was sie sich in Gedanken zurechtgelegt hatte, sagte,
+was zu sagen sie sich vorgenommen hatte – aber nur selten.
+
+Es war das sonderbar Beglückende und Überraschende, was Mette wohl
+empfand, aber sich viel, viel später erst klarmachte: daß man Olga Radó
+nicht führen konnte. So stark waren ihre Gedanken, ihre Stimmungen, daß
+sie im ganzen Zimmer eine Atmosphäre schufen, in der es unmöglich
+schien, anderer Laune zu sein als sie. Und wer kein Gefühl dafür hatte
+und einen anderen Ton anschlug als den, in dem Holz und Glas und Luft
+und Seide leise zu schwingen schienen, der erweckte eine schreiende
+Dissonanz.
+
+Mette spürte das später manchesmal, wenn Fremde ins Zimmer kamen. Sie
+selbst rief nie, nicht in den ersten Tagen, einen Mißklang hervor, weil
+sie still war, weil sie sich selbst ausschaltete, um halb unbewußt und
+doch beinah ängstlich jede Schwingung aufzufangen, die in der Luft
+zitterte.
+
+Im Anfang war es halb unbewußt. Sie kam sich so bodenlos klein und dumm
+vor, daß sie kaum wagte, in Olgas Gegenwart einen Gedanken für sich zu
+haben. Später, als ihre gesunden Nerven längst fein und dünn bis zum
+Zerreißen ausgespannt waren, hatte sie es zu einer bewußten
+Meisterschaft gebracht. Sie pflegte manchmal scherzend zu sagen:
+
+„Heut mußt du in sehr schlechter Laune die Straße entlang gegangen sein.
+Die Häuser schneiden jetzt noch Fratzen hinter dir her!“ – –
+
+Es war das dritte- oder viertemal, daß Mette oben war. Olga lag auf dem
+Diwan und rauchte so ununterbrochen, daß die blauen Wolken Mühe hatten,
+sich zum Fenster hinauszuschieben.
+
+Mette saß im Sessel und las ihr Jean Paul vor:
+
+„Einen anderen freilich, wenigstens den Leser und mich, würde die
+durchsichtige Nacht, womit sich der April beschloß, die weite Stille,
+auf welche die Trommelstöcke schlugen, die Sehnsucht nach dem Geliebten,
+mit welchem der Morgen wieder das öde Herz und das zerstückte Leben
+ergänzte, alles dieses würde uns beide mit sanften Bebungen und Träumen
+erfüllt haben ...“
+
+„Bitte, laß!“ sagte Olga gequält und preßte die Hand gegen die Schläfen.
+„Sei nicht böse, ich kann es heut’ nicht vertragen, sei lieb, Kind, da
+oben steht der Walt Whitman – im obersten Fach – weiter nach rechts –
+oder nein, laß – geh mal nebenan an meinen Toilettentisch, da liegt eine
+silberne Bürste – nein, die mit dem Stiel – die bring mal her.“
+
+Mette brachte gehorsam die Bürste.
+
+Olga nahm sie ihr aus der Hand, ohne sich aufzurichten und schlug mit
+dem Rücken einen kräftigen Daktylus gegen die Wand, nach kurzer Pause
+noch einen und einen dritten.
+
+Mette lachte. „Muß dazu die Bürste sein?“
+
+„Ja,“ sagte Olga. „Das ist mein Morseapparat. Nach langjähriger
+Erfahrung der beste. Was soll ich nehmen? Das Tintenfaß geht doch nicht
+gut. Ein Buch gibt keinen Schall, wär’ mir auch zu schade ...“
+
+Währenddessen klopfte es an die Tür.
+
+„Ja, ja, ja!“ rief Olga.
+
+Die Tür wurde nur halb geöffnet, und ein blonder Männerkopf schob sich
+durch den Spalt.
+
+„Ah, Besuch?!“ sagte eine hohe, dünne, heisere und trotzdem nicht
+unangenehme Stimme.
+
+„Komm rein, Peterchen,“ sagte Olga, „es ist nur die Mette.“
+
+Das Wort gab Metten ein großes Glücksgefühl. Es gab ihr eine gewisse
+Heimatsberechtigung in diesem Zimmer, wo nur _geduldet_ zu sein, schon
+Stolz und Freude war.
+
+Der kleine Mann, der seinen zarten und verwachsenen Körper durch die Tür
+schob, kannte sie, wußte ihren Vornamen, wußte, daß sie „nur“ die Mette
+war – das war keine Beleidigung in diesem Falle, sondern eine Erhöhung.
+„Nur die Mette“ – das hieß: kein Besuch, niemand Fremdes, jemand, der
+dazugehört, der nicht störend wirkt – es ist so gut, als ob ich allein
+bin.
+
+Mettens ganze Sympathien flogen dem kleinen Mann entgegen. Vielleicht,
+wenn es ein stattlicher, schöner Mensch gewesen wäre, hätte sie sich in
+einem Gefühl der Eifersucht gegen ihn gewehrt. Aber er war nichts
+weniger als schön, trotz seiner sanften blauen Augen und seiner feinen
+gepflegten Hände.
+
+Mette liebte ihn vom ersten Augenblick an, wie sie den Zigarrenhändler
+an der Ecke liebte, mit einer fast zärtlichen Liebe.
+
+Diese erste Begegnung war der Anfang einer treuen und langjährigen
+Freundschaft.
+
+Otto Petermann war im allgemeinen gewiß nicht geneigt, sich selbst oder
+Neigungen, die seiner Persönlichkeit galten, zu überschätzen – aber ob
+es nicht doch manchmal Momente gab, in denen er glaubte, Mettens Gefühle
+ihm gegenüber für etwas anderes als ihre Liebe für den kleinen
+Zigarrenhändler halten zu dürfen?
+
+„– Peterchen,“ sagte Olga, „hol’ die Geige und spiel’ uns was!“
+
+„Ja, was?“ fragte Petermann.
+
+„Etwas Anständiges. Für das kleine Mädchen ist nichts zu schade.“
+
+Und Petermann spielte. Spielte das, was sie beide am meisten liebten,
+Olga und er, und was er nicht spielen wollte und nicht spielen durfte,
+wenn ihn Leute hörten, für die es „zu schade“ war.
+
+Mette saß ganz still. Ihr war, als ob die Töne sie wie ein sanft
+flutender Strom dahintrügen, immer weiter, immer weiter, alles blieb
+zurück, die graue, schmutzige Stadt, ein Gemenge von keifenden und
+johlenden Leuten – blieb zurück, wurde kleiner, verschwand im Nebel,
+immer klarer wurde die Luft, immer reiner, immer tiefer das Wasser,
+immer lieblicher, immer freier die Ufer. Eine Insel tauchte auf,
+blühende Bäume ließen ihre tief herniederhängenden Zweige von den
+ziehenden Wellen tränken.
+
+„Das ist die selige Insel,“ dachte Mette. „Nur Könige wandeln auf dieser
+Insel. Nur Könige trägt unser Schiff. Aber ich werde mitgenommen. Ohne
+all mein Verdienst und Würdigkeit. Ich will dankbar sein. Mein ganzes
+Leben lang. Vielleicht werde ich über Bord geworfen, eh wir an Land
+gehen. Aber nun weiß ich den Weg. Dann will ich versuchen zu schwimmen
+oder will untergehen. Aber ich will nicht mehr zurück. Nie, nie, nie
+mehr zurück!“ – – –
+
+ * * * * *
+
+Peterchens Geige sang noch durch die Dämmerung.
+
+An diesem Tage kam Mette das erstemal zu spät zum Abendessen nach Hause.
+Die lange, erregte und boshafte Rede, mit der Tante Emilie sie empfing,
+machte ihr den Eindruck, als ob schmutziges Wasser über sie ausgegossen
+würde. Sie schüttelte sich vor Ekel, aber sie empfand keinen Schmerz. –
+– –
+
+ * * * * *
+
+Auf Olga Radós Schreibtisch stand ein schöner Kasten aus schwerem,
+kantigem Kristall mit einem glatten Silberdeckel. Er war fast immer
+leer; denn die Zigaretten wurden so schnell aufgeraucht, daß es nicht
+lohnte, sie aus der Originalpackung herauszunehmen.
+
+Eines Abends nahm Olga wieder einmal die letzte von fünfundzwanzig aus
+der Schachtel.
+
+„O weh – das ist bös – Mette, sieh mal auf dem Schreibtisch nach – da
+sind natürlich auch keine ... ich bin doch ein Schaf!“
+
+„Ich spring’ schnell hinunter und hole welche!“
+
+„Nein, laß, du sollst nicht darum die Treppen laufen – wart’, gib mir
+einmal die Handtasche ’rüber. In meinem Etui müssen noch welche sein!“
+
+Olga lag wieder auf dem Diwan, richtete sich halb auf, kramte Schlüssel,
+Taschentücher, Briefe aus der Tasche heraus und öffnete schließlich das
+Etui.
+
+„Hurra! _Dieu soit loué!_ Bei weiser Einteilung können wir durchhalten
+bis morgen früh! Magst du?!“
+
+Sie reichte das offene Etui hinüber.
+
+„Nein,“ sagte Mette, „ich verzichte liebend gern, sonst reichen sie am
+Ende doch nicht bis morgen.“
+
+„Engel!“ sagte Olga und drückte das Schloß zu. „Mein einziger Trost ist,
+daß du dir nicht allzuviel daraus machst.“
+
+„Darf ich einmal das Etui sehen?“ fragte Mette.
+
+„Da, mein Engel!“ Olga gab es ihr. „Ist es nicht schön?“
+
+Mette drehte das glatte, spiegelnde Gold in behutsamen Händen. „Es ist
+unglaublich schön. Ich mag auch die breite, niedrige Fasson so
+schrecklich gern. Aber was soll der Krebs? Ist das ein Wappentier?“
+
+„Mein Wappen!“ lachte Olga. „Das Wappen meiner Familie. Es bedeutet, daß
+es mit uns den Krebsgang geht.“
+
+„Nein ...“ sagte Mette zögernd und wurde rot.
+
+„Nein? Woher weißt du? Aber nebenbei ist es leider kein so nützliches
+und angenehmes Tier. Es soll ein Skorpion sein.“
+
+„Pfui!“ sagte Mette. „Und warum so ein Ungeheuer? Aus einer besonderen
+Vorliebe heraus?“
+
+Sie vermied es, wo sie nur konnte, eine direkte Anrede zu gebrauchen.
+
+„Ja,“ sagte Olga. „Man hat dies Etui einmal für mich machen lassen, weil
+ich gesagt habe, der Skorpion ist das anständigste Tier von der Welt. Er
+ist mein Lieblingstier.“
+
+„Das ist nicht Ihr Ernst!“ rief Mette erschrocken.
+
+„Doch, Fräulein Rudloff. Im übrigen möchte ich nur bemerken, daß das
+Dienstbotenniveau ist, sich von einem Menschen Du nennen zu lassen, ohne
+ihm ebenso zu erwidern.“
+
+„Aber Sie sagen zu allen Menschen du,“ sagte Mette verlegen.
+
+„Ja, und ich unterscheide die Leute danach, ob sie sich das gefallen
+lassen und mich weiter begnädigen, oder ob sie selbstverständlich darauf
+eingehen. Wenn du denkst, ich mache deinetwegen eine offizielle
+Angelegenheit daraus mit Anstoßen und Bruderkuß, dann irrst du dich.
+Wenn du noch ein einziges Mal Sie sagst, muß ich annehmen, daß dir diese
+Familiarität lästig ist, und dann bleibt mir nichts übrig, als dich
+gnädiges Fräulein zu nennen oder dir einen harten Gegenstand an den Kopf
+zu werfen. Es ist nebenbei doch mein Ernst – mit dem Skorpion. Weißt du
+nicht, daß er der einzige Selbstmörder unter den Tieren ist? Er _läßt_
+sich nicht von menschlicher Neugier und Grausamkeit langsam zu Tode
+quälen. Er kämpft wie ein Wahnsinniger – und wenn er weiß, daß keine
+Rettung mehr ist, bringt er sich um. Ist das nicht fabelhaft?“
+
+Olga hatte sich aufgerichtet. Ihre Augen sahen groß und dunkel an Metten
+vorüber. Auf ihrem schönen, blassen Gesicht lag ein seltsamer,
+schmerzlich-heroischer Ausdruck.
+
+Mette erschrak. „Und du?!“ sagte sie und faßte mit einer unwillkürlichen
+Bewegung nach Olgas Hand. „Hast du es darum zu deinem Wappentier
+gemacht?“
+
+Olga lächelte ein weiches, gutes Lächeln.
+
+„Schäfchen,“ sagte sie, „das hat einen ganz anderen Zusammenhang. Ich
+sollte ein Skorpion sein, weil ich einen giftigen Stachel hätte. Weil
+‚mein Witz Skorpionstich‘ wäre. Ein Mensch, der mich liebte, hat das
+einmal behauptet. Und hat behauptet, wenn ich in die Enge getrieben
+würde, richtete ich den Giftstachel gegen mich selber und zerfleischte
+mich. Ich weiß nicht, ob das wahr ist. Es macht mir im Grunde keinen
+Spaß, über mich nachzudenken. Aber dieser Mensch sah mich so. Und darum
+ließ er mir das Etui machen. Schau“ – sie machte es auf. Die kleinen
+Rubinen, aus denen der Skorpion geformt war, waren _à jour_ gefaßt. Die
+Zeichnung war auch auf der Innenseite deutlich. Und direkt darunter war
+der Namenszug eingraviert: Olga Radó.
+
+Mette schalt sich selber töricht, aber sie konnte es nicht hindern: Ihr
+Herz war zum Springen voll von einer brennenden Eifersucht gegen diesen
+fremden Menschen, der Olga Radó liebte und ihr goldene Zigarettenetuis
+schenkte.
+
+„Eine schöne Handschrift!“ sagte sie gedankenlos.
+
+„Es ist nicht meine,“ sagte Olga. Sie schloß langsam das Etui und legte
+die glatte Fläche mit einer weichen Geste an die Wange.
+
+„Es ist so schön. Ich liebe es so. Und ich bin so froh, daß ich es
+lieben kann ... Es war ein Abschiedsgeschenk ... und es war ein so
+schöner Abschied.“
+
+In Metten regte sich qualvoller Widerspruch.
+
+„Ein schöner Abschied!“ sagtet sie bitter. „Gibt es so etwas auch?“
+
+Olga richtete sich hastig auf.
+
+„Ja, Mette,“ sagte sie voll Eifer. „Und es sollte es noch viel, viel
+öfter geben. Es ist ein Unglück, daß die Leute nicht verstehen,
+auseinanderzugehen. Lern’ es, Mette, lern’ es beizeiten.“
+
+„Nein,“ sagte Mette verstockt, „ich werd’ es wohl niemals lernen. Leute,
+denen die Liebe nur ein Spiel ist, die können sich auch aus dem Abschied
+ein Spiel machen.“
+
+„Mette,“ sagte Olga ernst, „du bist ein Kindskopf. Glaubst du, daß das
+ein Beweis großer Liebe ist, wenn ich mich an einen Menschen klammere,
+bis er meiner überdrüssig ist? Ich will lieber zehntausend Tode sterben,
+als einem Menschen lästig sein, den ich liebe. Es ist keine Kunst, einen
+Anfang zu finden. Ich glaube, daß jeder Mensch jeden Menschen erobern
+kann. Und immer wird der Anfang schön sein. Und immer das Ende
+scheußlich, bitter, qualvoll, ekelhaft. Es ist eine schwere Kunst, ein
+Ende zu machen. Zur rechten Zeit. Und auf die rechte Art. Lern’ es,
+Mette, lern’ es beizeiten!“ – – –
+
+ * * * * *
+
+Die drei saßen zusammen: Peterchen, Mette und Olga.
+
+„Ich begreife dich nicht,“ sagte Peterchen mit seiner leisen,
+gebrochenen Stimme, „ich begreife dich nicht, Olga, daß du die Bettine
+nicht lieben kannst. Ich dachte _gerade_, das müßte ein Mensch für dich
+sein. Ein Mensch von so reicher Begabung, von fast unheimlicher
+Phantasie, von beinah wildem Temperament, dabei solche Anmut, solche
+Zartheit der Empfindung. Wenn man von der Frau weiter nichts wüßte, als
+die Geschichte ihrer Verheiratung, müßte sie einem doch schon
+sympathisch sein.“
+
+„Ja,“ sagte Olga, „dann ja! Aber man weiß eben zu viel von ihr. Oh, sie
+ist so aufdringlich und so verlogen, so gemacht genialisch, so mit
+Koketterie unbändig, mit Vorsatz leidenschaftlich. Nichts auf der Welt
+ist mir so verhaßt. Denk dir – so sehr ich Klemens liebe – wenn ich
+manchmal glaube, die Verwandtschaft zu spüren, mag ich ihn nicht. Und
+dann – du weißt ja – verzeih ich ihm auch seine unglückliche Liebe zu
+Mariannen nicht.“
+
+„Richtig, die kannst du ja auch nicht leiden!“
+
+„Kann ich auch nicht, Peterchen, und wenn du mir den Kopf abreißt. Ich
+weiß nicht, woran es liegt. Irgend etwas an ihr macht auf mich immer den
+Eindruck von ‚Biederkeit‘. Und du weißt, das ist eine Eigenschaft,
+die ich in den Tod nicht ausstehen kann. Schon diese ewige
+Alte-Herren-Liebe. Nein, nein, geh mir mit ihr, ich mag sie nicht.“
+
+„Olga, wie kannst du über diese Frau so leichtfertig urteilen?“
+
+„_Diese_ Frau! Sag’ nur noch, diese vortreffliche Frau. Mit _dem_ Wort
+kannst du sie mir ganz gewiß verekeln. Und es paßt eben leider ein
+bißchen auf sie. Herrgott! Man kann doch seine Gefühle nicht zwingen.
+Sie hätte mich wahrscheinlich auch nicht leiden können. Und das fühl’
+ich so.“
+
+„Aber Bettine hätte dich wahrscheinlich glühend geliebt.“
+
+„Vielleicht! Aber daß ich Bettinen so hasse, das hat ja auch noch eine
+besondere Bewandtnis.“
+
+„Du bist eifersüchtig auf sie!“ sagte Petermann sehr leise.
+
+Olga fuhr mit einer fast heftigen Bewegung herum. Ihre Augen flackerten
+in dem weißen Gesicht.
+
+„Ja, ich bin auch eifersüchtig auf sie!“
+
+„Wegen der Günderode!“
+
+„Wegen der Günderode.“ –
+
+Petermann wurde ans Telephon gerufen. Es war so still im Zimmer, daß
+Mette eine ganze Weile nicht zu sprechen wagte.
+
+„Merkwürdig seid ihr,“ sagte sie endlich gepreßt, „wie ihr von diesen
+Leuten redet – als wären sie euer täglicher Umgang.“
+
+„Das sind sie doch auch,“ sagte Olga fast verwundert. „Das ist doch die
+einzige Lebensmöglichkeit. Meinst du, ich möchte leben, wenn ich nur
+Verkehr mit den Menschen hätte, mit denen du mich so zurzeit verkehren
+siehst? Weißt du – es ist auch die einzige Art zu lesen, ich meine, wenn
+du zum erstenmal einen Briefwechsel oder einen Memoirenband vornimmst –
+einen, wo nicht hohe geistige Probleme behandelt werden, dann ist einem
+doch zumut, als wenn man in einer fremden Gesellschaft sitzt. Die Leute
+klatschen miteinander und erzählen sich was von Herrn Müller und Frau
+Schultze, und man sitzt dabei und langweilt sich zu Tode. Wenn man aber
+Herrn Müller und Frau Schultze _kennt_, ist’s schon wesentlich
+amüsanter. Und wenn man in einen _verliebt_ ist und wartet dann mit
+klopfendem Herzen, ob vielleicht sein Name genannt wird, und was nun der
+oder der über ihn sagen wird, dann wird’s spannend und aufregend.
+Peterchen versteht mich so darin. Er ist überhaupt ein feiner kleiner
+Kerl. Findest du nicht?“
+
+„Ja,“ sagte Mette gleichgültig. „Er ist sehr nett.“
+
+Olga lächelte. „Er ist direkt verliebt in Bettinen und begreift mich
+nicht.“
+
+„Aber du,“ sagte Mette leise, fast widerwillig, „du liebst die
+Günderode.“
+
+„Ja,“ sagte Olga mit großen, seltsam glänzenden Augen, „oh, ich liebe
+sie so! Du glaubst nicht, was ich für Qualen ihretwegen ausgestanden
+habe. Und ich konnte nichts tun für sie! Vielleicht hat sie Sehnsucht
+nach Ruhm gehabt – nach äußerlicher Unsterblichkeit – und sie ist so
+vergessen. Wer weiß denn von ihr? Ich habe mir so gewünscht, etwas
+Unerhörtes leisten zu können, um sie zu verewigen. Ich wollte
+Michelangelo sein oder Dante oder Homer – um ihr ein Denkmal zu setzen,
+und um unsere Namen für tausend Jahre unauflöslich miteinander zu
+verknüpfen. Oh, es war eine Zeitlang wie eine Krankheit in mir. Es
+marterte mich einfach, daß ich diese lumpigen hundert Jahre, die uns
+trennten, nicht überspringen konnte. Weißt du – so muß einem Gelähmten
+sein, oder einem Gefesselten, der im Nebenzimmer eine Stimme hört, die
+ihn in allen Nerven erzittern macht, und er kann sich nicht rühren.
+Manchmal hab’ ich gedacht, man muß es können. Man muß nur wollen. – Ich
+weiß noch, daß ich eine Nacht auf dem Balkon lag im Liegestuhl und zum
+Antares hinaufstarrte. Da war es mir wieder, als riefe sie mich. Ich
+wollte aus meinem Körper hinaussteigen, ich wollte. Und denke dir, ich
+hatte das Gefühl, als ob es mir gelänge. Ich schwebte über mir. Mein
+Körper war eiskalt, ich hätte kein Glied rühren können, und da faßte
+mich plötzlich eine rasende Angst. Ich wußte, ich würde mich verfliegen
+und nie mehr, nie mehr zurück können. Da kroch ich wieder in mich hinein
+und trieb mein Herz an und erwärmte mich durch meinen Willen, und
+nachher schalt ich mich feige und erbärmlich. – Es muß seltsam sein,
+wenn uns einmal diese Fesseln abgenommen werden. Manchmal freue ich mich
+direkt darauf.“
+
+„Alles deswegen,“ sagte Mette ein wenig bitter. „So hast du sie
+geliebt?“
+
+„Ja,“ sagte Olga, „jetzt ist es nicht mehr so schlimm. Ich hätte doch
+früher zu keinem anderen Menschen davon reden können. Ich habe Bettinens
+Bücher versteckt, damit kein Mensch sie bei mir findet. Ich wurde rot
+und blaß, wenn jemand ihren Namen nannte, oder mir etwas sagte, was mich
+an sie erinnerte. Du mußt nicht denken, daß ich jetzt darüber lache.
+Mein Gefühl ist genau dasselbe, ich fühle mich ihr so absolut verbunden
+– aber ich gehöre ihr nicht so ausschließlich, wie in der ersten Zeit,
+als ich sie fand.“
+
+Sie schwiegen beide. Stille Dämmerung senkte sich langsam.
+
+„Ich habe nie ein Bild von ihr gesehen,“ sagte Olga. „Ich weiß auch gar
+nicht, ob es Bilder von ihr gibt. Ich möchte auch keins sehen. Ich habe
+eine so deutliche Vorstellung von ihr. Ich glaube, wenn ich ein Bild
+sähe, würde ich erschrecken. Ich würde sicher namenlos enttäuscht sein.
+Ich habe direkt Angst davor, einmal ganz unerwartet ein Bild von ihr zu
+finden.“
+
+„Ich wollte, ich fände eins,“ sagte Mette, ohne Olga anzusehen, „ein
+recht häßliches!“
+
+„Pfui!“ sagte Olga mit ihrer tiefen Stimmen. Kein Wort weiter.
+
+In Mette kämpften Scham und Schmerz. Sie haßte sich selbst. Sie kam sich
+vor wie ein ungezogenes Kind, dem man ein wunderfeines Gebilde aus
+venezianischem Glas zeigt, und das aus Bosheit und Rohheit mit dem Stock
+nach der Herrlichkeit schlägt. Aber zugleich regte sich ein dumpfer
+Trotz in ihr: warum quält sie mich? Ich will mich nicht quälen lassen!
+
+Sie hatte das Gefühl, daß sie um Verzeihung bitten müsse. Aber das
+konnte sie nicht.
+
+Wenn sie jetzt ging, dann würde Olga sie nie wieder rufen. Und ungerufen
+durfte sie nie mehr kommen. Sie würde nie mehr in diesem Sessel sitzen.
+Sie würde nie mehr den Duft von Lavendel und Zigaretten in diesem Zimmer
+atmen. Sie würde nie mehr diese Stimme hören.
+
+Das Schweigen dauerte so unheimlich lange. Ja, sie mußte nun wohl
+eigentlich aufstehen und gehen. Aber es war, als ob der Stuhl sie
+festhielte, oder die graue Wand drüben, an der ihre Augen hingen. Sie
+fühlte, im Moment, da sie aufstehen wollte, würden ihr die Tränen aus
+den Augen stürzen. Das durfte nicht sein. Sie bemühte sich, an irgend
+etwas anderes zu denken – an etwas ganz Fernliegendes. Nächste Woche
+wollte sie ins Theater gehen. Darauf hatte sie sich gefreut. Eigentlich
+war bei jedem Theater- oder Konzertbesuch doch das hübscheste, nachher
+hier zu sitzen und über das Gehörte und Gesehene zu sprechen. Das würde
+nun nicht sein. Nächste Woche nicht. Vielleicht nie wieder.
+
+Die Stille im Zimmer war atemraubend. Wenn Olga nur reden wollte. Irgend
+etwas, sie ausschelten, sie demütigen. Es war so grausam von ihr, zu
+schweigen.
+
+Mette machte den Versuch, aufzustehen. Sie machte eine Bewegung, die
+unsichtbar blieb, aber die sie inwendig in allen Muskeln spürte.
+Zugleich aber konnten die mühsam aufgehaltenen Lider das unaufhörlich
+quellende Wasser nicht mehr zurückdrängen, sie zitterten, schlossen
+sich, und die schweren Tropfen stürzten nieder.
+
+Mette schämte sich maßlos. Irgend etwas in ihr kroch ganz in sich
+zusammen. Sie hätte sich so gern äußerlich auch zusammengezogen, sich
+geduckt, das Gesicht versteckt. Aber sie wagte nicht, sich zu rühren.
+Sie wollte nicht durch eine Bewegung Aufmerksamkeit erregen. Vielleicht
+war Olga mit ihren Gedanken weit fort und achtete nicht auf sie.
+
+Die Tränen fielen ihr auf die Hände. Sie wagte nicht, sie abzutrocknen.
+
+Plötzlich schreckte sie zusammen. Sie hörte den Diwan knarren, ein
+leises Rauschen der Röcke. Olga war aufgestanden.
+
+Jetzt sagte eine unendlich weiche, leise Stimme neben ihr:
+
+„Mette, Kind! Warum weinst du eigentlich?“
+
+Mette sah nicht auf, sondern senkte den Kopf noch tiefer.
+
+Da kniete Olga mit einer raschen Bewegung nieder, wie man vor einem
+weinenden Kinde kniet und versuchte von unten herauf ihr ins Gesicht zu
+sehen.
+
+„Warum weinst du eigentlich?“
+
+Mette sah das schöne Gesicht vor sich durch einen Schleier von
+stürzendem Wasser. Sie lächelte.
+
+„Ich weiß nicht!“ sagte sie.
+
+Sie sah auf die weiße schlanke Hand, die auf ihren Knien lag, ihre
+beiden gefalteten Hände fest überspannend. Sie neigte sich langsam auf
+diese Hand und preßte den Mund, die heißen, tränenfeuchten Wangen
+dagegen.
+
+„Kind!“ sagte Olga beinah ungeduldig und versuchte mit der anderen Hand
+ihr die Stirn zu heben. „Wenn ich nur wüßte, warum du weinst!“
+
+Mette schreckte vor diesem Ton zurück. Sie hob den Kopf und starrte
+wieder auf die graue Mauer jenseits des Hofes.
+
+Olga war aufgestanden. Ihre Hand lag immer noch auf Mettens Kopf. Die
+kühle, glatte Handfläche preßte sich fest und beinah schwer auf ihre
+Stirn und ihr Haar. Mette empfand diesen Druck als etwas unendlich
+Wohltuendes. So, als müßte sie zerspringen, wenn diese kräftige Hand
+aufhören würde, sie zu halten.
+
+„Ich weiß doch nicht,“ sagte sie leise, „ich möchte auch seit hundert
+Jahren tot sein. Vielleicht würdest du mich dann auch lieben.“
+
+Da riß Olga Radó mit einer jähen Bewegung Mettens Kopf an ihre Schulter
+und preßte die Lippen hart und fast gewaltsam auf ihre Stirn.
+
+„Und so? Und jetzt?“ fragte sie kurz. In ihrer tiefen Stimme war ein
+seltsam vibrierender Klang, wie von mühsam gebändigtem Groll.
+
+Mette fühlte bis in die Schläfen, bis in die Fingerspitzen das rasende
+Hämmern eines Herzschlags. Aber sie wußte nicht, wessen Herz so schlug.
+
+Sie hatte das Gefühl, daß es nun ihre Pflicht sei, etwas unendlich
+Großes zu tun. Ihr war, als müsse Olga Radó jetzt in überirdischer Größe
+vor ihr aufstehen und eine ungeheure Tat von ihr verlangen.
+
+Mette fühlte sich heilig entschlossen, auf ein einziges Wort hin aus dem
+Fenster zu springen oder sich die Brust mit einem Dolch aufzureißen und
+ihr zuckendes Herz in beide Hände zu nehmen.
+
+Olga Radó verlangte nichts von alledem. Sie ließ sie plötzlich los und
+trat aus Fenster. Sie legte die Finger um den Fensterriegel und die
+Stirn gegen die Scheibe. Und so, ohne sich umzuwenden, ohne den Kopf zu
+drehen, sagte sie nach einer Weile in einem seltsam ruhigen, ja
+sachlichen Ton:
+
+„Geh nach Hause, Kind!“
+
+„Warum?“ fragte Mette erschrocken. Sie stand auf, die Füße zitterten
+unter ihr. Das beklemmende Gefühl von etwas Rätselhaftem, Unheimlichem
+legte sich ihr schwer auf die Brust. Warum wurde sie fortgeschickt? Was
+hatte sie begangen?
+
+Sie wollte irgendeine Erklärung haben. Sie wollte die Hände auf Olgas
+Schultern legen und wollte sie mit Gewalt herumreißen und auf ihrem
+Gesicht nach einer Antwort suchen. „Ich habe ein Recht dazu“ – dachte
+sie mit aufsteigendem Zorn – „wahrhaftig, ich habe ein Recht dazu“.
+
+Wie sie den ersten Schritt nach dem Fenster zu machte, fuhr Olga mit
+einer heftigen Bewegung herum. Sie kreuzte die Arme über der Brust und
+umklammerte mit gespreizten Fingern die Ellbogen. In dem weißen Gesicht
+flackerten die Augen tiefdunkel und drohend.
+
+„Du sollst nach Hause gehen,“ sagte sie mit so gezwungener Ruhe, als
+bändige sie mühsam eine maßlose Wut. „Kannst du nicht hören? Bin ich
+nicht Herr mehr in meiner eigenen Wohnung? Nimm deinen Hut und geh. Geh,
+geh, geh, geh!“
+
+Der aufflammende Zorn in Mette war erloschen. Nur noch Angst war in ihr
+und eine tiefe, tiefe Traurigkeit.
+
+Irgend etwas wollte sie wie mit Peitschenhieben zu Olga hintreiben. Sie
+wollte vor ihr auf die Erde fallen, sie wollte ihre Knie umklammern, sie
+wollte sie anflehen:
+
+„Weine doch, schreie, schlag’ mich, aber tu dir nicht so Gewalt an – sag
+mir, was du hast – ich will sterben für dich, aber schick mich nicht
+fort, wenn du leidest!“
+
+Sie stand und rührte sich nicht.
+
+„Geh, geh, geh!“ sagte Olga.
+
+Da griff Mette Rudloff nach ihrem Hut und ging. Sie mühte sich, gerade
+und aufrecht zu gehen. Sie taumelte ein wenig, als sie die Tür hinter
+sich ins Schloß zog und mußte sich gegen die Wand lehnen. Sie stützte
+sich mit ihrer ganzen Schwere gegen das Geländer, weil die Treppe unter
+ihr wie ein rasender Strudel kreiste.
+
+Aber sie ging. – – –
+
+ * * * * *
+
+Eine Handvoll Tage verlebte Mette in stumpfer Qual.
+
+Im dämmernden Erwachen fiel ihr ein, daß sie heute nicht den Weg nach
+der Motzstraße nehmen dürfe. Heute nicht, morgen nicht, vielleicht nie
+mehr. Sie war verbannt, verstoßen, ausgeschlossen von allen Freuden des
+Lebens.
+
+Lang, grau und öde dehnte sich der Tag vor ihr. Bleischwere Müdigkeit
+lag ihr in allen Gliedern. Wenn die Telephonklingel schrillte, fuhr sie
+mit rasendem Herzschlagen auf, wie aus tiefer Lethargie. Aber niemals
+galt es ihr.
+
+Es war schlechtes Wetter in diesen Tagen, kühl und regnerisch.
+
+In einer Sonntagnacht fegte der Wind den Himmel blank von Wolken und die
+Straßen trocken.
+
+Am Morgen funkelte ein blauer Sommerhimmel über der Stadt.
+
+Die Sonnenstrahlen, die auf einer Kante des Schrankspiegels tanzten,
+weckten Mette.
+
+Sie fühlte sich beim Erwachen so befreit, so voll unbändiger
+Lebenskraft, als sei mit einem Schlage alles Trübe hell, alles Schwere
+leicht geworden.
+
+Sie fühlte sich fähig, den Kampf mit allen Hemmungen und Hindernissen
+aufzunehmen. Ja, es schienen ihr gar keine Hemmungen und Hindernisse
+mehr vorhanden.
+
+Sie würde heut’ die Bücher hintragen, die sie von Olga Radó geliehen
+hatte.
+
+Und dann würde sie sie zur Rede stellen. Sie ganz frank und heiter
+fragen, was ihr eigentlich eingefallen wäre. Und ob sie die Absicht
+hätte, sie wieder hinauszuwerfen – dann solle sie diese Absicht nur
+ruhig aussprechen ...
+
+Aber sie würde es nicht tun. Es war eine Laune gewesen, eine Gereiztheit
+– aber im Grunde doch gar keine ernstliche Verstimmung, kein Streit
+zwischen ihnen.
+
+Und wenn sie irgend etwas begangen hatte in Olgas Augen, so wollte sie
+Aufklärung haben, und dann wollte sie – ach was, ihretwegen ja! – dann
+wollte sie sogar um Verzeihung bitten.
+
+Mette pfiff und summte vor sich hin, während sie sich anzog und ihr Haar
+aufsteckte. – – –
+
+ * * * * *
+
+Als sie klingelte, schlug das dumme Herz wieder so atemraubend. Dass kam
+vom raschen Treppensteigen.
+
+Erna machte ihr auf. Mette war nicht mehr gewohnt, sich melden zu
+lassen. Sehr oft wußten die Mädchen gar nicht, ob die Gäste der Pension
+zu Hause waren. Sie wollte mit einem: „Guten Morgen, Erna!“ vorüber.
+
+Das Mädchen machte ein erstauntes Gesicht.
+
+„Fräulein Radó ist doch verreist,“ sagte sie zögernd. „Weiß das gnädiges
+Fräulein gar nicht?“
+
+Im ersten Augenblick war die Scham dieses Nichtwissens in Metten größer
+als das Erschrecken. Sie fühlte sich vor dem Mädchen in lächerlichster
+Weise bloßgestellt.
+
+„Doch, doch,“ sagte sie hastig. „Ich wollte nur die Bücher ins Zimmer
+legen. Aber ich kann sie ja auch Ihnen geben. Sie sind so gut, Fräulein
+Erna, und tragen sie hinein. Dann brauch’ ich mich gar nicht damit
+aufzuhalten. Ich hab’s sehr eilig. Auf Wiederschauen!“
+
+Die erste Treppe sprang sie hinunter, damit das Mädchen ihre Hast hören
+sollte. Erst als die Tür oben längst ins Schloß gefallen war, ging sie
+langsamer.
+
+Olga war fort. Ohne ihr ein Wort zu sagen, ohne sie noch einmal
+anzurufen, ohne ihr eine Zeile zu schreiben, ohne dem Mädchen eine
+Nachricht für sie zu hinterlassen.
+
+Sie war fort. Ohne zu sagen, wohin. Ohne zu sagen, auf wie lange.
+
+Mette senkte den Kopf sehr tief auf die Brust und ging ganz langsam,
+Stufe für Stufe. – – –
+
+ * * * * *
+
+Einige Tage später hörte Mette das Telephon schrillen und das Mädchen im
+eiligen Trab den langen Türgang entlanglaufen.
+
+Mette macht ihre Zimmertür auf.
+
+„Für mich, Hedwig?“
+
+„Ja, für Fräulein – ein Herr wünscht Fräulein zu sprechen – ein Herr
+Petersen oder Petermann, ich hab’ nicht ganz verstanden.“
+
+Auf dem runden Gesicht des Mädchens stand unverhohlene Verwunderung. Es
+war das erstemal, daß eine Männerstimme das gnädige Fräulein verlangte.
+
+„Peterchen!“ rief Mette erregt in den Trichter, ohne die geringste
+Rücksicht darauf, daß Tante Emilie im Nebenzimmer saß. „Ja, hier ist
+Mette. Was ist los? Es ist doch nichts passiert?“
+
+„Nein, nein, bewahre. Ich soll Ihnen nur einen schönen Gruß bestellen,
+ich habe heut’ eine Karte bekommen.“
+
+„Woher denn?“ – „Von wem?“ brauchte sie nicht zu fragen.
+
+„Aus Kissingen. Ich mußte mir erst Ihre Adresse im Buch suchen. Ich
+wußte keine Telephonnummer, keine Straße, eigentlich ja nicht einmal
+Ihren Namen genau ...“
+
+„Ach Gott, Sie Ärmster, kann ich Sie nicht einmal sehen, oder haben Sie
+keine Zeit für mich?“
+
+„Aber natürlich, aber gerne ...“
+
+„Wollen wir eine Stunde zusammen spazieren gehen? Ja? Bitte, bitte!
+Heute noch, wenn’s geht! Gleich? Ja? Herrlich! Und Sie bringen mir die
+Karte mit!“ – – –
+
+ * * * * *
+
+Sie trafen sich. Nach zwei Worten der Begrüßung fragte Mette:
+
+„Haben Sie die Karte? Bitte, bitte, zeigen Sie!“
+
+Neben der Adresse stand in einer festen, mühsam zusammengezwängten
+Schrift:
+
+„Bitte, Peterchen, sei so gut und gib die Bücher aus der Kgl. Bibl.
+zurück. Eins liegt auf meinem Schreibtisch, zwei stehen auf dem Regal
+links vom Fenster, 3. Fach v. o. ganz rechts. Und nimm meine Araukarie
+zu Dir hinüber, bei mir vergessen die Frauenzimmer sie doch, und ich
+möchte nicht, daß sie verkommt.“
+
+Auf der anderen Seite war in den Himmel der Landschaft
+hineingeschrieben:
+
+„Klingele, bitte, das Mädelchen an und grüße sie von mir. Die Nummer
+mußt Du Dir im Buch suchen. Sie soll mir nicht böse sein. Euch allen
+alles Gute. O. R.“
+
+Hunderte und Tausende von Ansichtskarten waren in Mettens Leben schon
+durch ihre Hände gegangen, und es war das erstemal, daß ihr der Gedanke
+kam: „Was ist das eigentlich für eine wunderhübsche Erfindung, daß man
+gleich ein Bild des Ortes schicken kann, wo man sich aufhält. So sieht
+es also da aus, wo Olga Radó jetzt ist. Diese Häuser sieht sie Tag für
+Tag, unter diesen Bäumen geht sie spazieren, diese Berge grüßen sie –
+jeden Morgen, jeden Abend – wirklich eine wunderhübsche Erfindung.“
+
+Sie hätte die Karte gern behalten. Aber sie hatte den Mut nicht,
+Petermann darum zu bitten. – – –
+
+ * * * * *
+
+„Es ging so schnell“ – sagte sie – „mit dieser Abreise.“ Es widerstrebte
+ihr, davon zu sprechen, daß sie nichts gewußt, nichts geahnt hatte. Es
+widerstrebte ihr auch, direkte Fragen an ihn zu richten. Halb unbewußt
+sprach sie in Worten, die alles unentschieden ließen, so gleichsam erst
+sondierend.
+
+„Ja,“ sagte Peterchen, „ganz merkwürdig schnell. Am Dienstag waren wir
+doch noch da – richtig, da saßen wir ja noch zusammen. Am Dienstagabend
+kommt Olga zu mir herüber:
+
+‚Gib mir dein Kursbuch!‘ Und immer in dem Kursbuch hin und her
+geblättert und mich gefragt: ‚Kennst du den Schwarzwald – ist es schön
+da? – Was meinst du – soll ich an die Nordsee fahren?‘ Und so, wie es
+gar nicht ihre Art war – so unentschlossen – ich möchte beinah sagen: so
+ratlos ... und am Mittwoch wurden die Koffer gepackt und Mittwoch abend
+fuhr sie ab – sagte keinem Menschen wohin – mir nicht und Frau Flesch
+nicht. Ihnen ja auch nicht, nicht wahr? – Ich hatte ja eigentlich erst
+den Verdacht – den Gedanken, wollt’ ich sagen, die Idee,“ – Peterchen
+zögerte, und sein blasses Gesicht überflog eine leichte Röte – „Sie
+beide wären zusammen weggefahren.“
+
+Mette antwortete nicht. Sie dachte nicht einen Augenblick daran, ob ihr
+tiefes Stillschweigen vielleicht einen verwunderlichen Eindruck machen
+könnte.
+
+Das Wort hatte wie ein erhellender Blitz in sie eingeschlagen, und nun
+stand sie in Flammen.
+
+Reisen! Mit Olga reisen! Der Gedanke an diese Möglichkeit hatte etwas
+unwahrscheinlich Beglückendes. Einige Sekunden durchlebte sie in ihrer
+Vorstellung das, was hätte sein können. Wenn sie am Dienstag zusammen
+diesen Entschluß gefaßt hätten! Wenn sie auch am Mittwoch ihren Koffer
+gepackt hätte! Sie fühlte sich neben Olga im Zug sitzen und hinausfahren
+in den warmen, blauen Sommerabend, in dem hier und da die ersten Lichter
+aufflammten. Sie sah sich in einem dieser weißen Häuser, auf der
+Terrasse, an einem gedeckten, blumengeschmückten Tisch, Olga gegenüber.
+Sie wanderte mit Olga diesen Bergen entgegen, deren schön geschwungene
+Linien verlockend auf dem blauen Himmel sich zeichneten.
+
+Jäh und schmerzlich kam es ihr zum Bewußtsein: Das war ein törichter,
+unerfüllter, vielleicht ewig unerfüllbarer Traum. Die Wirklichkeit war,
+daß sie hier war – allein – und daß Olga fort war – auch allein? Mit
+wem? Nichts in der Welt hatte ihr ein Recht gegeben, auch nur danach zu
+fragen. – – –
+
+ * * * * *
+
+In diesen Wochen war es Mettens einzige Freude, mit Peterchen spazieren
+gehen. Sie machten Ausflüge miteinander, fuhren nach Wannsee, nach dem
+Grunewald, lagen halbe Tage am Wasser oder nahmen sich ein Ruderboot,
+tranken Kaffee in irgendeiner versteckten Gartenwirtschaft und sprachen
+von Büchern, von fremden Städten und fernen Bergen, von Tieren und
+Pflanzen, von längst verstorbenen Menschen – und von Olga.
+
+Manchmal, wenn sie zusammen waren, schrieben sie an Olga, schickten ihr
+eine Ansichtskarte oder machten ihr lange Gedichte in Knittelversen, und
+hin und wieder kam eine flüchtige Antwort von ihr und einmal die
+Nachricht, daß sie in drei Wochen wiederzukommen gedächte.
+
+Mette war ruhig und glücklich in dieser Zeit. Das Zusammensein mit
+Peterchen tat ihr wohl. – Wenn sie zu Hause war, so las und lernte sie
+nach seiner Anleitung und zählte die Tage bis zu Olgas Rückkehr. Sie
+hatte sich ein ganzes Verzeichnis gemacht von Büchern, die sie bis dahin
+gelesen, von Arbeiten, die sie bis dahin erledigt haben wollte. Sie
+wollte überraschen durch all die Kenntnisse, die sie in der Zwischenzeit
+erworben hatte, und mühte sich mit brennendem Eifer.
+
+Es wäre alles schön und gut gegangen, wenn Tante Emilie nicht gewesen
+wäre. Tante Emilie beobachtete und schwieg und speicherte Gift und Galle
+in sich auf. Und eines Tages brach es aus.
+
+Es war nach Tisch. Mette wollte mit einem kurzen „Mahlzeit“ aufstehen
+und sich aus ihrem Zimmer den Hut holen.
+
+Tante Emilie, die während des Essens schon in Positur gesessen hatte,
+fegte mit zierlichen Fingern ein paar Krümchen auf dem Tischtuch
+zusammen, und auf Mettens „Mahlzeit“ hin räusperte sie sich kurz und
+scharf und sagte betont:
+
+„Vielleicht hast du die Güte, sitzen zu bleiben, bis _ich_ vom Tisch
+aufstehe.“
+
+Geduldig und gelangweilt setzte Mette sich wieder hin. Sie wußte nicht,
+daß es die Vorrede zu größeren Dingen sein sollte. Sie nahm es für eine
+der täglichen kleinen Schikanen, die einen am wenigsten Zeit und Kraft
+kosteten, wenn man sie mit größter Gelassenheit hinnahm.
+
+Mette warf einen heimlichen Blick nach der Uhr. „Sie wird jetzt
+natürlich noch fünf Minuten sitzen, ehe sie das Zeichen zum Aufstehen
+gibt,“ dachte sie. „Gut, komm’ ich also fünf Minuten zu spät. Peterchen
+wartet.“
+
+Tante Emilie fegte Krümchen und räusperte sich.
+
+„Willst _du_ so gut sein, Franz,“ begann sie (man könnte vielleicht
+besser sagen: sie hub an) „und deine Tochter fragen, wohin sie heute
+nachmittag zu gehen beabsichtigt, und mit wem sie geht? Wenn _ich_ sie
+frage, so gibt sie mir zur Antwort ‚spazieren – mit Bekannten‘ oder
+ähnliche Geistreichigkeiten. Also bitte, frag’ du sie selbst. Vielleicht
+hat sie wenigstens vor dir noch so viel Achtung, daß sie dir die
+Wahrheit sagt.“
+
+Franz Rudloff rollte seine Serviette zusammen und wieder auseinander,
+schob sie in den Ring und zog sie wieder heraus und saß in tödlichster
+Verlegenheit.
+
+„Du weißt doch, liebe Emilie,“ sagte er, ohne aufzusehen, „daß ich dir
+die Erziehung meiner Tochter übergeben habe, weil ich weiß, daß sie
+nirgend so gut aufgehoben wäre, als in deinen bewährten Händen. Mette
+ist dir so gut Gehorsam schuldig wie mir. Du bist im Vollbesitz aller
+erzieherischen Gewalt ...“
+
+„Gewalt!“ sagte Tante Emilie hohnlachend. „Was soll ich denn machen? Man
+kann doch einen zwanzigjährigen Menschen nicht schlagen oder
+einsperren.“
+
+„Nicht gut,“ sagte Mette ruhig, „Gott sei Dank! Aber vielleicht darf ich
+auch mal eine Frage stellen: Möchtest du vielleicht sagen, warum und
+wozu du solche Maßregeln anwenden möchtest?!“
+
+„Wozu? Zu deinem besten!“ sagte Tante Emilie in einem Ton, der flammende
+Empörung ausdrücken sollte. Aber der Ton blieb spitz – es war nur eine
+Stichflamme. „Warum? Um zu verhindern, daß du vollständig verkommst.“
+
+„Nanu?“ Mette war immer noch mehr belustigt als erregt. „Warum soll ich
+denn eigentlich total verkommen? Weil ich mit einem jungen Mann
+spazieren gehe? Ach Gott, der arme kleine Petermann. Hast du ihn
+vielleicht gesehen? Ich kann ihn dir ja mal vorführen, vielleicht bist
+du dann beruhigt!“
+
+„Was ist denn das für ein Mann?“ fragte jetzt Franz Rudloff mit
+gerunzelten Brauen. Es sollte vielleicht energisch und streng klingen.
+Es klang eher schüchtern.
+
+Mette empfand für ihren Vater ein zärtliches Mitleid, das nicht frei von
+Verachtung war.
+
+„Ach Gott, Papa,“ sagte sie, „ein netter, intelligenter Mensch. Aber ein
+armes, krankes, verwachsenes Kerlchen. Wahrhaftig, kein Mann, der der
+Tugend oder dem Rufe eines jungen Mädchens gefährlich werden könnte.“
+
+„Einem normalen jungen Mädchen vielleicht nicht,“ sagte Tante Emilie,
+zitternd vor Bosheit. „Leider weiß ich ja nicht, wie weit bei dir die
+Voraussetzung der Normalität zutrifft. Es gibt ja leider Frauen genug,
+die sich in krankhafter Geschmacksverirrung zu allem Abstoßenden und
+Ungesunden hingezogen fühlen. Gerade wie es leider Gottes Frauen gibt,
+die jedem Neger nachlaufen.“
+
+Mette schob ihren Stuhl zurück, daß er hart den Boden schrammte.
+
+„Du bist ja total irrsinnig!“ sagte sie. Weiter nichts. Dann ging sie
+mit ihren großen, festen Schritten ins Nebenzimmer ans Telephon und
+stellte die Verbindung her.
+
+„Kann ich Herrn Petermann sprechen? ... Verzeihen Sie, Peterchen, ich
+muß Sie heut’ versetzen ... Meine Tante erlaubt nicht, daß ich mit Ihnen
+spazieren gehe ... ja, es tut mir auch leid – aber da kann man nix
+machen – meine Tante findet es unschicklich ... nein, nein, klingeln Sie
+lieber nicht an, das ist vielleicht auch unpassend. Grüß Sie Gott.
+Lassens sich’s gut gehen!“
+
+Ohne sich umzuwenden, ohne nur einen Blick ins Nebenzimmer
+zurückzuwerfen, ging sie in ihre Stube und schloß und riegelte sich ein.
+
+Damit hatte der freundschaftliche Verkehr mit Petermann fürs erste ein
+Ende. – – –
+
+ * * * * *
+
+Franz Rudloffs stille und empfindsame Natur litt schwer unter der
+gespannten Stimmung im Hause. Die Mahlzeiten verliefen in peinlichem
+Schweigen, jedes gemeinsame Unternehmen, ein Spaziergang, ein
+Theaterbesuch schien ausgeschlossen.
+
+Er beschloß, einen Frieden zu vermitteln und versuchte, seine Tochter zu
+einer Bitte um Verzeihung zu bewegen. Er suchte sie zu diesem Zweck, was
+er selten tat, sogar in ihrem Zimmer auf.
+
+Mette saß mit aufgestütztem Kopf über ihren Büchern. Als ihr Vater
+eintrat, sprang sie auf und empfing ihn wie einen verehrten Besuch. Sie
+rückte ihm den bequemsten Sessel zurecht und bot ihm eine Zigarette an.
+
+Er wußte nicht recht, wie er anfangen und einleiten sollte und war
+voller Verlegenheit.
+
+Mette versuchte, ihm die Lage zu erleichtern, weil es ihr peinlich war
+zu sehen, wie er sich quälte.
+
+Sie versprach die Bitte um Entschuldigung, sie versprach, bei Tisch
+Konversation zu machen, sie versprach ein freundliches Gesicht und einen
+sanften Ton von morgens bis abends.
+
+„Ich verspreche dir, mich zu beherrschen, Vater,“ sagte sie.
+
+Beherrschung! Das war es nicht, was Franz Rudloff verlangte.
+
+„Könntest du nicht versuchen,“ sagte er zaghaft, „innerlich in ein
+anderes Verhältnis zu Tante Emilie zu kommen? Sie hat wirklich so sehr
+schätzenswerte Eigenschaften. Es würde ein viel erquicklicheres
+Familienleben werden, wenn du – ich weiß, Gefühle lassen sich nicht
+zwingen – aber wenn du wenigstens den _Versuch_ machtest, sie lieb zu
+haben.“
+
+„Liebhaben!“ wiederholte Mette. Sie sah mit steinern ruhigem Gesicht an
+ihm vorüber, aus dem Fenster, aber ihr Atem ging rascher. „Ich kann dir
+eins versprechen: ich habe mich Zeit meines Lebens nur auf das eine
+gefreut, habe nur auf das eine gewartet, daß sie sterben soll. Ich habe
+jeden Abend den lieben Gott gebeten, er soll sie bald, bald sterben
+lassen.“
+
+Franz Rudloff wurde ganz blaß.
+
+„Mette!“ sagte er mit großen Augen.
+
+„Ich verspreche dir, das nicht mehr zu tun!“ sagte Mette mit einem
+leisen, trüben Lächeln. „Es wäre jetzt auch zu spät. Jetzt bitte ich
+Gott nur, daß er mich bald einundzwanzig werden läßt. Daß er dies
+unglückselige Jahr schnell, schnell vorübergehen läßt. Wenn ich mündig
+bin, wird sich ja irgendein Weg finden lassen. Wenn sie mir’s dann zu
+bunt treibt, geh’ ich eben aus dem Hause. Wenn’s sein muß, als
+Kindermädchen. Wenn ich nicht mehr mit ihr zusammen zu sein brauche,
+soll sie meinetwegen hundert Jahr alt werden. Früher, ich kann dir
+sagen, früher hätte ich sie manchmal mit Genuß mit eigenen Händen
+umgebracht.“
+
+Vor Franz Rudloff taten sich klaffende Abgründe auf. Er klammerte sich
+an den Seitenlehnen des Stuhles fest, so gewaltsam und stoßweise ging
+sein armes schwächliches Herz.
+
+„Dann allerdings,“ sagte er mühsam, der Atem versagte ihm, „dann
+allerdings wird wohl meine Bitte auf unfruchtbaren Boden fallen. Dann,
+dann habe ich dir wohl auch nichts mehr zu sagen.“
+
+Er erhob sich und ging hinaus, schwerfällig wie ein alter Mann.
+
+Mette fühlte einen Moment den Trieb, aufzuspringen, ihn zu halten, ihn
+wieder zu dem Sessel zurückzuführen. Ob es nicht doch irgendeinen Weg
+gab, sich zu erklären, eine Möglichkeit, sich verständlich zu machen!?
+
+„Er geht, weil er sich fürchtet,“ dachte sie, „er geht, weil er die Luft
+in meiner Nähe nicht mehr atmen kann, die Luft, die vergiftet ist mit
+dem Gift meiner bösen Gedanken. Er fragt sich jetzt verzweifelt, warum
+er so hart gestraft wird, daß er einer Mörderin das Leben gegeben hat.
+Wer weiß, womöglich geht er jetzt zu Tante Emilie und fragt sie um Rat,
+was er mit seiner verlorenen Tochter anfangen soll. Vielleicht
+konsultieren sie mal wieder einen Irrenarzt. Ich hätte die Absicht
+geäußert, meine Familie eigenhändig umzubringen. Nein, nein, es hat
+keinen Zweck, mit Erklärungen anzufangen. Vater versteht mich ja doch
+nicht.“
+
+Er ging. Und sie ließ ihn gehen, ohne sich zu rühren. – – –
+
+ * * * * *
+
+Es vergingen drei Wochen – vier Wochen, fünf Wochen – Olga Radó ließ
+nichts von sich sehen noch hören.
+
+In ihrer Verzweiflung nahm Mette den lange vernachlässigten Verkehr mit
+den Möbius-Mädeln wieder auf. Sie quälte sich durch ein paar langweilige
+Nachmittage hindurch und fand den Mut nicht, nach Olga zu fragen. Und
+als sie endlich fragte, wußte niemand von ihr.
+
+Aber eines Nachmittags stürmte Emmi ins Zimmer, gerade als Fanni Metten
+die höchst aufregende Geschichte erzählte, von einem Brief an sie, den
+ihre Mutter aufgemacht hätte. Mette wurde nicht klug aus der Sache, aber
+sie hatte es zu einer Art Meisterschaft darin gebracht, an passenden
+Stellen „Ja?“ „Ach!“ „Wirklich?“ zu sagen, ohne eine Ahnung zu haben,
+wovon die Rede war; also Emmi stürmte herein, warf ein paar Paketchen,
+die sie in der Hand trug, auf den Tisch, und rief:
+
+„Also, wißt ihr, Kinder, wen ich eben getroffen habe? Die Olga!“
+
+In Metten kämpften Schmerz und Freude. Also sie war hier! Man hatte die
+Möglichkeit, sie zu treffen, ganz unvermutet ihr plötzlich gegenüber zu
+stehen – das war ihr erster Gedanke. Aber ihr zweiter war: „Sie ist hier
+und sagt es mir nicht. Sie will mich nicht sehen. Sie ist abgereist,
+ohne es mir zu sagen, sie ist wiedergekommen, ohne es mir zu sagen, sie
+ist meiner so überdrüssig, daß sie sich Mühe gibt, mich loszuwerden. Was
+soll ich nur tun? Was soll ich nur tun?“
+
+Zwischen den Schwestern entspann sich ein langes Gespräch über Olga.
+
+„Sie hat Launen,“ sagte Fanni, „eine Zeitlang kommt sie jeden dritten
+Tag, und dann läßt sie sich ein Vierteljahr nicht sehen.“
+
+„Sie will mich hier nicht treffen!“ dachte Mette bitter, „darum kommt
+sie nicht hierher.“
+
+„Sie war doch so lange verreist,“ sagte Emmi entschuldigend.
+
+„Ach, und vorher?“ fragte Fanni. „Das Vierteljahr vor der Reise? Hat sie
+sich da vielleicht um uns gekümmert? Da hatte sie ja auch keine Zeit!“
+
+„Aber für mich,“ dachte Mette mit schmerzlichem Stolz, „oh, für mich
+hatte sie Zeit – jeden Tag, jeden Tag –.“
+
+„Du kommst mir vor wie Tante Sophie,“ sagte Emmi und bemühte sich, ihr
+Puppengesichtchen zu verrenken, um der Tante nachzumachen. „Diese Olga
+ist eine ganz gefährliche Person. Sie spielt mit Menschen wie mit
+Puppen. Wenn sie sie satt hat, wirft sie sie beiseite. Und dabei ist sie
+faszinierend, ich gebe es zu, sie ist faszinierend!“
+
+„Ja,“ dachte Mette, „diese Tante Sophie mag sonst so idiotisch wie
+möglich sein. Aber sie hat recht. _Darin_ hat sie recht. Sie _ist_
+faszinierend. Oh, so faszinierend! Und sie hat mich beiseite geworfen.
+Für immer! Für ewig! Was _soll_ ich nur tun? Was _kann_ ich nur tun?“ –
+– –
+
+ * * * * *
+
+Mette grübelte Tage und Nächte nach einem Ausweg. Sie fühlte, daß sie es
+nicht aushalten würde, sich an ihren Stolz zu klammern und zu sagen: Sie
+mag mich nicht, also existiert sie nicht mehr für mich. Sie sagte es
+sich, gewiß, nicht einmal, hundertmal. Aber ein viel stärkeres Gefühl
+sagte ihr: es sind Mißverständnisse, die uns trennen, es sind
+Hindernisse, die sich mit einem offenen Wort beseitigen lassen. Ich
+_muß_ sie sprechen, ich _muß_ sie fragen. Sie hat Mut genug und Härte
+genug, um mir die Wahrheit zu sagen. Ich will es ihr leicht machen. Ich
+will sie so fragen, daß sie es mir sagen kann, daß sie es mir sagen muß.
+Und wenn sie sagt: geh und komm nie wieder, dann will ich gehen und nie
+wiederkommen, dann will ich versuchen, mein Leben irgendwie ohne sie
+einzurichten, dann will ich stolz sein, aber dann erst! Erst dann!
+
+Mette kaufte eine Handvoll weißer Rosen von eigentümlich steifer und
+schwermütiger Schönheit und ging hinauf zu Olga.
+
+Das Mädchen, das ihr aufmachte, empfing sie mit strahlender Freude.
+
+„Gnädiges Fräulein sind ja so lange nicht hier gewesen! Fräulein Radó
+ist hinten in ihrem Zimmer. Fräulein weiß ja Bescheid!“
+
+Es erschien Metten unmöglich, sich durch das Mädchen melden zu lassen.
+Wenn Olga sich etwa verleugnen ließe, so konnte das eine unendlich
+peinvolle Situation herbeiführen. Wenn Olga nicht in der Laune war, sie
+zu sehen, so war es schon am besten, sich das ins Gesicht sagen zu
+lassen und nicht durch Vermittlung des Mädchens zu erfahren.
+
+Sie schritt sehr rasch und fest den endlosen Türgang hinunter. Aber das
+Herz klopfte ihr doch ein wenig schneller dabei.
+
+Sie pochte kurz an die Tür und drückte die Klinke nieder.
+
+Olga saß am Schreibtisch, wie sie immer zu sitzen pflegte: die eine Hand
+auf dem aufgeschlagenen Buch, die Schläfe gegen den Ballen der anderen
+gestützt, zwischen deren Fingern sie die Zigarette hielt.
+
+Als die Tür ging, wandte sie den Kopf ein wenig unwillig, mit
+zusammengezogenen Brauen. Das Erkennen lief wie ein heller Schein über
+ihr Gesicht.
+
+„Mette!“ sagte sie. „Bist du wieder da? Wo kommst du her? Was willst du
+hier?“
+
+Mette riß das Papier von den Blumen, warf es in den Papierkorb und legte
+die Rosen auf den Schreibtisch.
+
+„Was ich will?“ sagte sie währenddessen, ohne die Augen von ihrer
+Beschäftigung aufzuheben. „Dich besuchen. Sehen, wie es dir geht. Aber
+wenn es dir nicht paßt, kann ich ja wieder gehen.“
+
+„Nein!“ Olga streckte mit einer raschen und fast heftigen Bewegung die
+Hand nach ihr aus. Mette legte ihre Finger hinein, die Olga fest
+umschloß. „Aber – gerufen habe ich dich nicht!“
+
+Sie sah zu Metten auf, mit dem seltsam zwingenden und fast drohenden
+Ausdruck in Stirn und Augen.
+
+„Ich weiß es,“ sagte Mette mit einem bitteren Lächeln. „Es wäre dir auch
+nicht eingefallen, mich zu rufen. Ich habe selber das Gefühl, daß ich
+aufdringlich bin. Du brauchst es mir gar nicht so deutlich zu sagen.“
+
+Sie wollte ihre Hand zurückziehen, aber Olga hielt sie fest und
+lächelte.
+
+„Kind,“ sagte sie, „Mädelchen! Ich freue mich doch! Mehr als du
+annimmst. Ich glaube, wenn du wüßtest, wie ich mich freue – dann würdest
+du ganz eingebildet werden. Aber gerufen habe ich dich doch nicht.“
+
+„Ja,“ sagte Mette beinah ungeduldig, „ich weiß nicht, warum du solches
+Gewicht auf diese Feststellung legst.“
+
+„Aber ich weiß es,“ sagte Olga ruhig. „Du sollst mir niemals vorwerfen
+können, ich wäre egoistisch gewesen.“
+
+„So,“ sagte Mette, „das ist ja heiter. Damit dich nicht irgendwann ein
+Vorwurf treffen kann – ich wüßte nebenbei nicht wann – darum läßt du
+mich sterben und verderben und kümmerst dich nicht um mich! Oh, bist du
+egoistisch!“
+
+Olga lachte. „Ich geb’ es auf. Es kommt ja doch alles auf mich. So oder
+so. Also tragen wir, was wir tragen können, solange wir aufrecht gehen.
+Es ist herbstlich heut’ draußen.“
+
+Sie schloß die Augen und zog fröstelnd die Schultern zusammen.
+
+„Es ist gut, daß du da bist. Steck den Samowar an und mach uns Tee,
+Mettulein. Und wir wollen Peterchen rufen, daß er kommt und uns was
+vorspielt.“ – – –
+
+ * * * * *
+
+Als Mette ins Zimmer trat, saß Olga auf dem Diwan, die Ellbogen auf den
+Knien, das Gesicht in die Hände gelegt.
+
+„Gott, siehst du tiefsinnig aus!“ rief Mette. „Denkst du über die
+Unsterblichkeit der Maikäfer nach?“
+
+„Ja!“ Olga hob mit einem Ruck den Kopf. „Und ich meine, daß das das
+einzige ist, was noch das Nachdenken lohnt! Sag’, hast du noch nie
+darüber nachgedacht?“
+
+„Nein!“ lachte Mette. „Ganz gewiß nicht.“
+
+„Dann ist es Zeit, daß du anfängst, darüber nachzudenken!“ sagte Olga
+sehr ernst.
+
+„Ausgerechnet über die Unsterblichkeit der Maikäfer?“
+
+„Ja, ausgerechnet über die Unsterblichkeit der Maikäfer. Ich möchte
+wissen, von wem das Wort stammt. Man kann nämlich über nichts so
+tiefsinnig werden.“
+
+„Als gerade über die Maikäfer?“
+
+„Meinetwegen auch über die Stubenfliegen. Oder über die Skorpione. Oder
+über die Kellerasseln. Glaubst du, daß eine Stubenfliegenseele in einen
+Maikäfer fahren kann? Oder umgekehrt? Oder glaubst du, daß sie gleich in
+den Himmel kommt? Oder glaubst du, daß Elefanten auf einer höheren Stufe
+stehen als Menschen? Oder daß es mehr als sechzehnhundert Millionen
+Elefanten gibt?“
+
+„Olga!“ rief Mette zwischen Lachen und Verzweiflung und hielt sich die
+Ohren zu. „Hör’ auf! Bist du denn verrückt geworden?“
+
+„Nein, nein, nein!“ sagte Olga eigensinnig. „Ich denke fortgesetzt
+darüber nach.“
+
+„Worüber eigentlich?“
+
+„Über die Unsterblichkeit der Maikäfer. Glaubst du, daß sie eine
+unsterbliche Seele haben? Ich will dir sagen, wie ich darauf kam. Ich
+las da eben vom Regenerationsvermögen gewisser niederer Tiere. Weißt du,
+wenn man sie halbiert, wächst einfach jedem die fehlende Hälfte nach,
+und es sind nun zwei da. Der Mann macht da auch die tiefsinnige
+Bemerkung, in welcher Hälfte sitzt nun die unsterbliche Seele? Oder
+teilt sich die Seele? Oder hat der Mensch die Macht, durch das
+Seziermesser eine neue Seele zu schaffen? Oder herbeizulocken? Wenn man
+anfängt, kommt man in ein solches Labyrinth.“
+
+„Glaubst du denn an die unsterbliche Seele?“ fragte Mette zweifelnd.
+
+„Bei niederen und niedersten Tieren? Gewiß! Aber wenn dich das Wort
+Seele stört, lassen wir’s fort. Ich möchte dir’s so gern klarmachen.“
+
+Sie sah ein paar Sekunden zu Boden, hob dann die unbeschreiblich klaren
+und leuchtenden Augen auf und sagte betont:
+
+„Alles, was Leben hat, hat auch Unsterblichkeit. Leben an sich kann
+nicht sterblich sein. – Das klingt wie ein Sophismus, ist aber keiner.
+Es wechselt nur die Form. Nun möchte ich wissen, ob es nur die uns
+wahrnehmbare, die Erscheinungsform wechselt, das heißt, ob jede
+Maikäferseele ein in sich abgeschlossenes ist, das wieder nur dazu
+dient, einem neu entstehenden Maikäfer Leben zu geben, oder ob Sterben
+und Geborenwerden ist, wie Tropfen, die ins Meer zurückfließen und
+wieder aus dem Meer geschöpft werden. Die Tropfen bleiben nicht in sich
+zusammenhängend, verstehst du? Und viele Tropfen geben einen Eimer.
+Vielleicht ist nur die Quantität ausschlaggebend und nicht die Qualität
+... Vielleicht hat ein Mensch Millionen Maikäferseelen in sich. Man
+müßte einmal die Maikäfer auf der ganzen Erde zählen. Wenn eine
+Maikäferseele sich in Ewigkeit gleich bliebe, so müßte immer die gleiche
+Anzahl von Maikäfern existieren. Wo sind aber dann die Seelen der Tiere,
+die positiv ausgestorben sind? Oder flutet das Leben von einem Stern zum
+andern ungehindert hinüber? –
+
+Aber ich glaube das alles nicht. Ich glaube eigentlich an eine
+Entwicklung, an einen Fortschritt. Man kommt von da ganz unten her –
+weißt du? – aus Abgründen viehischen Lebens – oh, ich weiß ganz genau,
+daß ich von da her komme – aber jedes Leben heißt ‚Aufwärtsentwicklung‘,
+jedes neue Leben fangen wir eine Stufe höher an.“
+
+„Ach, Unsinn!“ sagte Mette ungläubig. „Woher willst du das wissen! Ich
+glaube nicht an unsterbliche Maikäferseelen. Ich glaube nicht einmal an
+meine eigene Unsterblichkeit. Alles Leben ist chemische Veränderung. Und
+das, was du Seele nennst, alle Eigenschaften des Geistes und des
+Charakters, das ist Blutzusammensetzung.“
+
+„Mette!“ sagte Olga ganz erschrocken. „Und mit dem Gedanken kannst du
+leben? Und mit dem Gedanken willst du sterben? Ich würde mich fürchten
+vorm Tode, wenn ich nicht wüßte, daß ich unzerstörbar bin. Ich empfinde
+mich selbst so stark, viel stärker als den Tod. – Ich bin genau das, was
+ich als kleines Kind war. Nicht unverändert. Ich bin mehr geworden. Aber
+nicht ein Körnchen ist abgebröckelt. Und das, was ich jetzt bin, erhalt
+ich mir. Ich gebe nichts her davon. Das weiß ich. Aber ich nehme zu, ich
+wachse. Manchmal ist es wie ein Stillstand – dann geht es wieder
+ruckweise – manchmal eine ganze Strecke in rasendem Tempo, immer
+aufwärts –“ Sie schwieg, und sah mit weiten Augen geradeaus.
+
+„Und dann?“ fragte Mette, immer noch mit leisem Widerspruch im Ton. „Was
+wird dann? Kommst du in den Himmel und wirst ein Engel mit weißen
+Flügeln?“
+
+„Ich weiß nicht,“ sagte Olga nachdenklich. „So wenig weiß ich, daß ich
+selbst das nicht abstreiten kann. Eigentlich bin ich überzeugt, daß ich
+zunächst ein Mann werde. Und danach ein Heiliger oder ein Genie. Das ist
+das Höchste, was wir kennen. Die andere höhere Form, die dann kommt –
+davon weiß ich nichts. Aber wir müssen die fragen, die ihr am nächsten
+stehen – die vielleicht schon ein Vorgefühl davon haben können – die
+Genies – oder die Heiligen.“ – – –
+
+ * * * * *
+
+Einmal, als Mette ins Zimmer kam, sah sie, daß Olga etwas versteckte.
+Sie schob einen offenen Brief, den sie in der Hand hielt, rasch unter
+die Bücher auf dem Schreibtisch. Mette glaubte zu bemerken, daß sie
+während der Begrüßung irgendwie zerstreut, ärgerlich, verlegen war.
+
+„Was hast du?“ fragte sie, ohne ihre Hand loszulassen. „Hast du Ärger
+gehabt? Du kommst mir heut’ so komisch vor.“
+
+„Ich?“ Olga errötete. Es lief wieder die rasche, dunkelnde Blutwelle
+über ihr Gesicht, die es im nächsten Augenblick um so weißer erscheinen
+ließ. „Was fällt dir ein? Warum soll ich Ärger gehabt haben? Im
+Gegenteil.“
+
+„Im Gegenteil?“ sagte Mette mit etwas erzwungener Heiterkeit. „Du hast
+Freude gehabt, die dich so okkupiert? Dann wäre es allerdings indiskret,
+weiter zu fragen. Sprechen wir von etwas anderem. – Ich habe dir deinen
+Chamberlain wieder mitgebracht. Und habe dir auch gleich den Herz
+mitgebracht. Vater hatte ihn in der Bibliothek.“
+
+Sie sprachen von dem und jenem. Aber Mette konnte den Brief nicht
+vergessen. Während sie redete, gingen ihre Gedanken immer andere Wege.
+
+„Was ist das nur?“ dachte sie. „Eifersucht? Hab’ ich denn ein Recht
+dazu? Wie komme ich eigentlich dazu, verletzt, mißtrauisch, ja _zornig_
+zu sein, weil diese Frau einen Brief erhält, den sie mich nicht sehen
+lassen will? Herrgott im Himmel, sie ist doch durch nichts an mich
+gebunden, mir in Nichts verpflichtet. Sie kann heimlich verlobt sein,
+sie kann ein Dutzend Liebschaften haben – wie käme sie dazu, mir alles
+zu erzählen, mich zu ihrer Vertrauten zu machen? Was geht es mich
+überhaupt an, was sie für Briefe bekommt?“
+
+Mette war böse auf sich selbst und schalt sich aus. Und dabei war sie
+gequält und traurig, kämpfte dagegen an und konnte es nicht überwinden.
+
+„Es _ist_ nicht Eifersucht,“ dachte sie, „es _ist_ nicht
+Besitzer-Wahnsinn. Es ist einfach die Erkenntnis, daß man das Leben nur
+ertragen kann, wenn man Hand in Hand geht. Es ist das Bewußtsein, daß
+ich nur weiterkomme, wenn Olga meine Hand hält und mich führt. Ich habe
+das Gefühl, daß sie meine Hand losgelassen hat, daß zwischen uns eine
+Tür ins Schloß gefallen ist, daß ich allein stehe, hilflos, im Dunkeln,
+und daß sie lachend weitergeht – ich weiß nicht, mit wem ...“
+
+Olga wurde ans Telephon gerufen. Es dauerte lange, ehe sie wiederkam.
+
+Mette saß einen halben Meter vom Schreibtisch entfernt. Unter einem
+Bücherstoß ragte eine Ecke des weißen Briefblatts hervor. Wenn sie den
+Arm ausstreckte, konnte sie es berühren, konnte es hervorziehen, ohne
+von ihrem Platz aufzustehen.
+
+Es war ein qualvoller Kampf. Sie hätte sich ohrfeigen mögen, weil sie
+nur auf den Gedanken einer Möglichkeit kam.
+
+Es war ein Verbrechen, was sie begehen wollte – oh, es war schlimmer, es
+war unfein, taktlos, verächtlich. Aber sie fand tausend Gründe, sich zu
+entschuldigen:
+
+„Es ist ja nicht Neugier –“ schrie es innerlich in ihr, „wem tu ich
+damit weh? Wem tu ich ein Leid? Niemandem. Nicht ihr, nicht dem, der den
+Brief geschrieben hat. Und für mich ist es von so unendlicher Bedeutung.
+Ich klammere mich mit allen Fasern an diesen Menschen und weiß gar
+nicht, was es für ein Mensch ist. Warum _ist_ sie so verschlossen? Wenn
+ich mir eine Gewißheit verschaffen kann, die vielleicht mit einem
+Schlage mein ganzes Leben ändert, so tue ich das um jeden Preis – und
+wenn es um den Preis eines Verbrechens ist.“
+
+Mit einem Ruck zog sie das Blatt hervor. Ihr Herz hämmerte wie rasend,
+vor ihren Augen war ein dichter Schleier, die Buchstaben flackerten auf
+dem Papier. Es war ein Bogen mit Firmenaufdruck, wenige Worte – Zahlen
+...
+
+Mette hörte Olgas Stimme vor der Tür und schob das Blatt hastig in die
+Tasche. Olga würde es kaum vermissen. Und in Metten, obgleich sie kaum
+gelesen, kaum begriffen hatte, was da stand, war schon ein Plan fertig.
+
+Mette hatte es heut’ sonderbar eilig, nach Hause zu kommen. Sie war
+zerstreut und einsilbig, so, daß Olga einmal fragte:
+
+„Was hast du heut’? Ist dir was passiert? Bist du schlechter Laune?“
+
+Mette erinnerte sich belustigt des Gespräches beim Kommen.
+
+„Im Gegenteil!“ sagte sie mit übertriebener Betonung, deren Ursache aber
+Olga nicht ins Gedächtnis kam – „Ich bin sogar sehr guter Laune!“ –
+
+Mette schloß sich daheim in ihrer Stube ein und studierte den Brief wie
+ein wichtiges Dokument – das also war das Liebesglück, das vor ihr
+geheim gehalten wurde.
+
+Die Firma ersuchte „nochmals“ um Zahlung von einigen Hundert Mark,
+„widrigenfalls wir die Sache zu unserem Bedauern unserem Rechtsanwalt
+überweisen müßten“.
+
+Mettens Herz war zum Überfließen voll von zärtlichem Mitleid.
+
+„Armes, Liebes!“ dachte sie, „so quälen sie dich!“
+
+Sie hob das Blatt auf und war einen Augenblick in Versuchung, es an die
+Lippen zu führen.
+
+Dann fing sie an zu rechnen. Die paar Mark Ersparnisse, die sie von
+ihrem Taschengeld machen konnte – nein, das langte nicht. Sie hatte zu
+sehr verschwendet, namentlich mit den Blumen. – Aber hatte sie sonst
+nichts? Sie ließ wie suchend die Blicke durch den Raum gleiten. Bücher?
+Nein, die gab sie nur im letzten Notfall her. Aber Schmuck. Den ganzen
+Kram, aus dem sie sich so absolut nichts machte. Es würde niemand danach
+fragen, wo Armbänder und Ringe, Halskettchen und Vorstecknadeln
+geblieben waren. Sie trug ja doch dergleichen Dinge nie.
+Schlimmstenfalls konnte man vorgeben, etwas verloren zu haben. Oder man
+konnte am ersten, wenn es Taschengeld gab, diese oder jene Kleinigkeit
+wieder einlösen.
+
+Der ganze Inhalt der Schmucktruhe wurde in Seidenpapier gewickelt und in
+die Tiefe der Manteltaschen versenkt.
+
+Der Gang zum Leihamt war leicht. Mette entsann sich fast mit Vergnügen,
+daß sie bei einem solchen Unternehmen nicht ohne Übung war.
+
+Schlimmer war es, Geld und Rechnung in das Modeatelier zu bringen. Mette
+hatte dabei ein Gefühl, als ob sie einen schweren Betrug verüben sollte.
+Die Schmucksachen zu versetzen, die ihr geschenkt waren, dazu hatte sie
+ein gutes Recht. Aber für Olga Radó zu handeln, in Olga Radós Namen
+etwas zu tun, das schien ihr ein unerhörtes Wagnis. Und es war so
+schwer, den richtigen Ton zu treffen. Schulden zu haben, war nach allem,
+was Mette je gelernt und erfahren hatte, etwas sehr Entwürdigendes und
+beinah Schmutziges.
+
+Wenn man also kam, um Schulden zu bezahlen, endlich, nach langem Mahnen,
+so mußte man ganz demütig kommen und um Verzeihung bitten. Anders, wenn
+man von Olga Radó kam. Dann konnte man nur mit der Miene eines
+fürstlichen Abgesandten auftreten und mit hoheitsvoller Überlegenheit
+den vergessenen Bettel erledigen.
+
+Mette zog ihr bestes Kleid an und machte ihr hochmütigstes Gesicht. Es
+ging viel besser als sie erwartet hatte. Die Leute behandelten sie
+wirklich wie einen fürstlichen Abgesandten – sie war sehr stolz darauf,
+doppelt stolz, weil sie annahm, daß diese fast unterwürfige
+Liebenswürdigkeit Olga Radó galt.
+
+Ja, das war alles ganz leicht. Aber nun trug sie die quittierte Rechnung
+in der Tasche und hätte nicht um alles in der Welt den Mut gefunden, sie
+Olga zurückzugeben. Sie beruhigte sich damit, daß es ja auch wohl kaum
+nötig wäre. Die Leute würden nun nicht mehr mahnen, und Olga würde die
+ganze Angelegenheit vergessen.
+
+Nach acht Tagen triumphierte Mette schon heimlich und hielt jede Gefahr
+für glücklich vorübergegangen. Da wurde sie eines Tages von Olga mit
+eiskaltem Gesicht empfangen.
+
+„Was fällt dir eigentlich ein?!“ sagte Olga statt jeder Begrüßung, „wie
+_kommst_ du eigentlich dazu, mir so etwas zu machen.“
+
+„Ich?“ sagte Mette und bemühte sich, ein harmloses Gesicht zu machen,
+„was hab’ ich denn gemacht?“
+
+„Du weißt ganz genau, was du gemacht hast!“ sagte Olga streng. „Du hast
+dich unverantwortlich benommen. Unverantwortlich! Ich dulde es nicht,
+daß sich jemand in meine Angelegenheiten mengt. Und von dir dulde ich es
+am allerwenigsten. Siehst du nicht ein, was für eine unerhörte Anmaßung
+in deinem Benehmen liegt? Willst du mich unter Kuratel stellen? Oder
+willst du mich aushalten? Was denkst du dir denn eigentlich?“ Sie ging
+mit großen Schritten hin und her. Ihr Ton war immer hitziger und
+heftiger geworden. Jetzt blieb sie plötzlich, an den Schreibtisch
+gelehnt, stehen, kreuzte die Arme und sagte ganz ruhig, nur mit einer
+leisen Bewegung des Kopfes:
+
+„Wie bist du denn überhaupt zu der Rechnung gekommen?“
+
+Mette schrak zusammen. Das war der Augenblick, den sie gefürchtet hatte.
+Alles andere war vielleicht Torheit, aber es war gutmütig, selbstlos
+gehandelt, sie konnte es mit einem Schein des Rechtes verteidigen,
+wenigstens vor sich selber. Aber auf diese Frage konnte sie keine
+Entschuldigung hervorbringen.
+
+Jetzt war doch alles aus. Mit keiner Lüge konnte sie sich mehr retten.
+Da beschloß sie in verzweifeltem Trotz die Wahrheit zu sagen. Sie warf
+den Kopf zurück und sah zu Olga auf, mit einem Gesicht, als wollte sie
+sagen: ich habe den Tod verdient, aber ich fürchte ihn nicht.
+
+„Ich habe sie gestohlen!“ sagte sie. „Von deinem Schreibtisch.“
+
+Olga blieb ganz ruhig. Sie zog nur ein wenig die Brauen zusammen als
+müsse sie sich besinnen. „Sie war gekommen, während du da warst, nicht
+wahr?“
+
+„Ja!“
+
+„Aber ich habe sie doch nicht offen liegen lassen. Ich weiß jetzt ganz
+genau – ich hatte sie irgendwo unter die Bücher geschoben.“
+
+„Ja,“ sagte Mette mit zusammengebissenen Zähnen, „aber ich habe sie da
+vorgezogen.“
+
+„Wann?“ fragte Olga in höchstem Erstaunen.
+
+„Während du am Telephon warst.“
+
+Olga antwortete nichts. Sie senkte den Kopf und sah schweigend auf den
+Boden. Mette sah, daß sie mit festgeschlossenem Mund mit den Zähnen an
+der Unterlippe nagte ...
+
+Das Schweigen war fürchterlicher als jedes harte Wort. Mette kam sich
+unglaublich verworfen vor. Und die Inquisition hatte noch kein Ende. Es
+kamen noch schlimmere Fragen, ganz gewiß, noch viel schrecklichere.
+
+Nach einer Weile hob Olga den Kopf. „Du konntest doch aber gar nicht
+wissen, was das war. Es konnte doch gerade so gut ein ganz persönlicher
+Brief an mich sein?!“
+
+Mettes Stirn fing an zu brennen. „Jetzt müßte ich lügen“ – dachte sie
+einen Moment – „sagen, ich habe die Zahlen gesehen, oder den
+Firmenaufdruck.“ Aber sie konnte nicht lügen. Sie hatte etwas so
+Verächtliches getan, sie hatte kein Recht, sich Olgas Verzeihung durch
+eine Lüge zu erkaufen. Sie mußte eingestehen, abbitten – büßen.
+
+„Das _dachte_ ich ja!“ sagte sie mit fast heftiger Entschlossenheit.
+Aber dabei konnte sie nicht in Olgas Gesicht sehen. Sie sah an ihr
+vorüber aus dem Fenster. Aber ohne hinzusehen, sah sie, daß Olga eine
+hastig auffahrende und gleich wieder unterdrückte Bewegung machte.
+
+„Das hast du dir gedacht?“ sagte sie.
+
+Metten schien es, als ob sie mühsam, mit gewaltsamer Beherrschung so
+leise spräche, um nicht zu schreien.
+
+„Aber ich bitte dich, du mußt doch irgendeinen Grund gehabt haben. Ich
+kann doch nicht annehmen, daß du aus einer ganz dienstmädchenhaften
+Neugier in jedes fremden Menschen Briefen stöberst.“
+
+„Nein,“ sagte Mette verstockt. „Ich hatte auch einen Grund, natürlich
+hatte ich einen Grund. Aber ich kann ihn nicht sagen.“
+
+„Wenn du ihn nicht sagen kannst,“ sagte Olga mit einem sanften Lächeln,
+„dann will ich dich auch nicht danach fragen. Aber ob mit, ob ohne Grund
+– sag’ mal – findest du es eigentlich schön?“
+
+„Nein!“ gestand Mette ehrlich.
+
+„Nicht wahr?“ sagte Olga rasch. „Ich finde es auch nicht schön.“ Und
+nach einer Pause fügte sie nachdenklich und fast schmerzlich hinzu:
+„Aber begreiflich. Trotzdem – laß’ es. Mißtrauen ist etwas so Häßliches.
+Wenn ich etwas geheim halten will, liebes Kind, dann mach’ ich das so
+raffiniert, daß man mir mit so törichten kleinen Streichen nicht
+dahinter kommt!“
+
+Es war in ihrem Ton eine so hohnvolle Überlegenheit, daß Mette erschrak.
+Sie fühlte die Wahrheit dieser Worte, sie fühlte, daß Olga wie mit
+Mauern umgeben war, durch die sie – die dumme, kleine Mette – niemals
+zum Kern ihres Wesens gelangen konnte, auch wenn sie ihr nachspürte wie
+ein Verbrecher und heimlich ihre Briefe las.
+
+Es schien, als ob Olga Mettens wortloses Erschrecken gefühlt hätte.
+
+Sie sagte plötzlich mit ihrer tiefen, warmen Stimme:
+
+„Im übrigen verberge ich dir ja nichts. Nichts, was dich interessiert.
+Ich schreibe keine Liebesbriefe und kriege keine. Wenn’s dich aber
+einmal reizt, irgend etwas in Erfahrung zu bringen – frag’ mich – es ist
+der glätteste Weg.“
+
+Der gute und herzliche Ton tat Metten unendlich wohl, zehnfach wohl nach
+der Angst, die sie ausgestanden hatte. Sie machte eine unwillkürliche
+Bewegung. Ein heiß aufwallendes Gefühl trieb sie zu Olga hin, um ihr in
+Dankbarkeit die Hände zu küssen. Olga sah oder fühlte diese Regung – sie
+wehrte sie ab. Es war nur ein kaum merkliches Zucken, das um ihre Brauen
+lief und das Metten zurückscheuchte und an ihren Platz bannte.
+
+„Ich möchte Arabisch lernen,“ sagte Olga rasch, beinah hastig, mit einem
+gewaltsamen Sprung der Gedanken. „Ich habe mir neulich die
+Schriftzeichen erklären lassen. Die Schrift ist wie die Erfindung eines
+klugen und unendlich sympathischen Mannes. Alles logisch, einfach und
+dabei von ästhetischem Reiz.“
+
+„Olga!“ sagte Mette. „Wie kommst du _darauf_?! Wozu soll man Arabisch
+lernen, was man nie im Leben braucht?!“
+
+„Brauchen?“ fragte Olga. „Lernt man Sprachen, um sie zu brauchen?
+Glaubst du, daß mir jemand imponiert, der in zweiundzwanzig Sprachen ein
+Zimmer mit zwei Betten bestellen kann? Das kann man doch auch
+praktischer mit _alba duo_ abmachen. Wenn ich Sprachen lerne, so ist das
+ein rein psychologisches Interesse. Wie ein Satz sich aus Zeichen
+aufbaut – darin spiegelt sich die Seele eines ganzen Volkes. Ähnlichkeit
+der Sprache, das macht Verwandtschaft, das _ist_ Verwandtschaft – aber
+nicht, ob der Haardurchschnitt dreikantig oder elliptisch ist“ – – –
+
+ * * * * *
+
+Erst als Mette sich den Hut aufsetzte, um zu gehen, sagte Olga
+plötzlich:
+
+„Willst du mir einen Gefallen tun, Mette?“
+
+„Jeden!“ sagte Mette mit Überzeugung.
+
+„Aber es ist keine leichte Aufgabe – ich“ ...
+
+„Desto besser!“
+
+„Nein, nein, keine romantische Heldentat. Etwas ganz kleinlich
+Unangenehmes!“ Sie nagte die Lippen und zögerte. „Ich würde es gern
+anders machen, aber ich weiß wirklich nicht wie. Du sollst etwas tun,
+was du sicher in deinem ganzen Leben noch nicht getan hast. Du sollst
+für mich etwas aufs Leihamt tragen.“
+
+Mette lachte hellauf. „Da unterschätzt du mich bedeutend. Das Leihhaus
+ist eine meiner vertrautesten Kindheitserinnerungen!“
+
+„Aber Mette!“
+
+„Das ist eine lange Geschichte. Das muß ich dir mal erzählen. Aber sag,
+was du jetzt wolltest!“
+
+„Du sollst das da für mich zum Pfandleiher tragen!“
+
+Olga nahm mit einer raschen Bewegung das Zigarettenetui vom Schreibtisch
+und reichte es hinüber.
+
+Mette hielt es erschrocken in beiden Händen.
+
+„Olga, das kannst du nicht tun!“
+
+Olga sah aus dem Fenster. „Laß das, bitte!“ sagte sie hart, ohne den
+Kopf zu wenden. „Ich weiß allein, was ich tun kann, und was ich tun
+muß!“
+
+Mette schwieg. Auf diesen Ton gab es keine Widerrede. Aber sie war nicht
+überzeugt. – – –
+
+ * * * * *
+
+Mette sah immer noch die zärtliche Geste, mit der Olga das Etui an die
+Wange gepreßt hatte. Und dann sah sie die behaarte Hand des Pfandleihers
+mit den platten, schwarzgeränderten Nägeln. Nein, in diese Hände durfte
+sie den Skorpion nicht legen.
+
+Sie trug das Etui zum Goldarbeiter und ließ es schätzen.
+
+Sie hatte nicht so viel Geld in ihrem Besitz, um den frommen Betrug, den
+sie vorhatte, ausführen zu können.
+
+Aber sie wußte sich zu helfen. Sie war nicht umsonst Friedel Eggebrechts
+Schülerin gewesen. Sie wußte so gut, wie man an das Silberzeug
+herankonnte, und in welchem Kasten das wertvollste war.
+
+Während Mette heimlich an das Büfett ging, dachte sie ein Dutzend Jahre
+zurück und lächelte. Es war nicht mehr so aufregend wie damals.
+Obgleich, wenn Tante Emilie es entdeckte, würde es genau dieselben
+Unannehmlichkeiten geben. Sie war fähig, wieder einen Psychiater zu
+rufen. Was war es doch im Grunde für eine lächerliche Komödie! In einem
+Jahr war sie mündig und durfte über ihr großmütterliches Erbe frei
+verfügen, und heute mußte sie, um sich ein paar hundert Mark zu
+verschaffen, in ihres Vaters Hause stehlen gehen! – – –
+
+ * * * * *
+
+„Willst du so gut sein und mir den Schein geben?“ fragte Olga das
+nächste Mal.
+
+„Den Schein?!“ Mette wurde ein wenig verlegen und kramte in ihrer
+Tasche. „Ja, sofort! Wo habe ich ihn denn? Du brauchst keine Angst zu
+haben, er ist da! Ich will dir nur erst das Geld aufzählen!“
+
+„Das laß, bitte!“ sagte Olga bestimmt. „Das Geld ist da, wo es
+hingehört. Keine Szenen, bitte. Ich habe dir kein Recht gegeben, mich zu
+beleidigen.“
+
+„Ich verstehe dich nicht,“ sagte Mette ratlos. „Was soll denn das
+heißen?“
+
+„Das soll heißen, daß ich mich bedeutend lieber an eine Straßenecke
+setzen will und betteln, als daß ich dir Geld schuldig sein will. Ich
+hab’ auch nur deswegen dich zum Leihamt geschickt, damit du das Geld
+gleich in Händen hast. Sonst hätt’ ich dir’s aufdrängen müssen, und ich
+hasse solche Szenen. Und jetzt genug davon geredet, ich will kein Wort
+mehr hören!“
+
+„Aber ...“
+
+„Kein Wort – hab’ ich gesagt. Im übrigen kannst du den Schein behalten.
+Du kannst es mir wieder einlösen. Ich will lieber nicht sehen, in wessen
+Händen es war. Ich werde dir gelegentlich das Geld geben –“ sie lachte
+kurz auf. „Wann, mögen die Götter wissen! Komm, wir wollen eine Partie
+Schach spielen. Ich gebe dir einen Turm vor.“ – – –
+
+ * * * * *
+
+Mette litt unter ihrer Unselbständigkeit. Sie spürte eine Art Neid gegen
+alle Frauen, die sie arbeiten sah. Nicht nur gegen die, die in der
+Öffentlichkeit standen, Reichtümer erwarben, laute Anerkennung fanden –
+sie hätte gern mit einer kleinen, blassen Lehrerin getauscht, die jeden
+Morgen an ihrem Fenster vorüber nach der Schule hastete. Oder mit ihrer
+Zahnärztin, die nach ihrer eigenen Aussage jeden Abend müde zum Umfallen
+war und die dabei doch immer brannte vor Arbeitseifer und Arbeitsfreude.
+
+Mette suchte ihren Vater in seinem Zimmer auf, in der Absicht, eine
+recht ernsthafte Unterredung mit ihm zu führen. Sie konnte nicht in
+Tante Emiliens Gegenwart die Rede auf das bringen, was sie beschäftigte.
+
+Mette holte weit aus, um sich ihrem Vater verständlich zu machen.
+
+„... siehst du, Papa, es ist doch heutzutage nicht mehr wie in deiner
+Jugend, daß die Mädchen aus gutem Hause hübsch still zu sitzen hatten
+und weiter nichts lernen durften, als Kochen, Plätten und Nähen.
+Heutzutage ist es eigentlich für ein Mädchen ebenso selbstverständlich
+wie für einen Jungen, daß er irgendeinen Beruf, irgendein Studium
+ergreift. Und außerdem, selbst, wenn ich Hausarbeit tun wollte. – Du
+weißt ja selber, daß ich hier überflüssig bin. Tante Emilie macht alles
+so musterhaft, nein, Papa, du brauchst nicht aufzufahren, das soll keine
+Ironie sein, sondern aufrichtige Anerkennung, auch kein Vorwurf; denn
+ich dränge mich gar nicht danach, die Wirtschaft selber zu besorgen. Nur
+– ich kann doch nicht mein Leben lang zu Hause sitzen und die Hände in
+den Schoß legen und warten, ob der Freiersmann kommt. Es würde mir so
+Freude machen, irgendeine wirkliche Arbeit zu verrichten.“
+
+„Arbeit,“ sagte Franz Rudloff zögernd, „über den Begriff ‚Arbeit‘ gehen
+die Ansichten sehr weit auseinander. Die meisten Menschen pflegen nur
+das für Arbeit zu erklären, was ihnen unangenehm ist. Ein schwächlicher
+Mensch wird Steine tragen für eine Arbeit erklären und ein
+hartschädeliger: Vokabeln lernen. Es gibt Leute, die das, was ich
+treibe, für Arbeit erklären. Ich nenne es einen fortgesetzten,
+intensiven Genuß. Was verstehst du nun unter Arbeit?“
+
+„Etwas, das bezahlt wird, Papa!“ sagte Mette ernsthaft. „Ich möchte gern
+Geld verdienen.“
+
+„Geld!“ Franz Rudloff verzog leise das Gesicht wie in Schmerz und Ekel.
+„Merkwürdig! Wie kommt meine Tochter zu der Sehnsucht nach Geld?! Es
+schafft ungesunde Zustände, wenn durch Generationen Kapital auf Kapital
+aufgehäuft wird. Wer kein Geld hat, soll welches zu erwerben trachten,
+und wer es hat, soll es ausgeben. – Du hast doch nicht nötig, Geld zu
+verdienen. Versteh’ mich nicht falsch. Ich fände es nicht im mindesten
+unehrenhaft oder nicht standesgemäß, wenn meine Tochter gegen Bezahlung
+arbeitete, ich würde dir das gern zugestehen – wenn du es müßtest. Aber
+das Reizvollste, was das Leben bietet, sind doch nun einmal die
+brotlosen Künste. Wer soll sich ihnen widmen, wenn nicht der, der
+auskömmlich zu leben hat? Sollen sie alle vernachlässigt werden, weil
+auch der Wohlhabende kein anderes Streben hat, als Geld zu verdienen?“
+
+„Du hast vollkommen recht, Papa,“ sagte Mette gequält. „Aber es ist für
+einen erwachsenen Menschen schrecklich, wenn er um jeden Pfennig bitten
+muß. Wenn ich ein Paar Handschuhe brauche, dann geht Tante Emilie mit
+mir und kauft sie. Und wenn ich graue haben möchte, nimmt sie braune.
+Und wenn ich welche für sechs Mark fünfzig haben möchte, nimmt sie
+welche für sechs Mark fünfundzwanzig. Und ich darf nichts sagen, weil
+ich ja tatsächlich nicht imstande bin, mir fünfundzwanzig Pfennige zu
+verdienen. Das ist doch ein schrecklich beschämendes Gefühl.“
+
+„Aber du hast doch Geld,“ sagte Rudloff eigensinnig. „Wozu willst du
+etwas verdienen?“
+
+„Ich habe es _nicht_,“ sagte Mette ungeduldig. „Ich höre immer, daß ich
+reich bin und habe _de facto_ nicht einen Pfennig zur Verfügung.“
+
+„Sei doch froh,“ beharrte Rudloff. „Danke doch Gott, wenn alle deine
+Bedürfnisse befriedigt werden, ohne daß das Geld durch deine Finger
+geht. Deine Mutter hat sich immer geweigert, Geld anzufassen. Aber wenn
+du gern –“ er räusperte sich verlegen – „wenn du gern etwas nach deinem
+Geschmack auswählen möchtest, so verstehe ich das ja vollkommen.“ (Das
+verstand er wirklich.) „Du kannst ja dann in Geschäfte gehen, wo man
+mich kennt und kannst die Rechnungen ins Haus schicken lassen. Solange
+sich das in vernünftigen Grenzen hält, wird ja kein Mensch etwas dagegen
+haben.“
+
+„Und was soll ich mit meiner freien Zeit anfangen?“ fragte Mette
+unüberzeugt.
+
+„Lernen, studieren! Nimm Unterricht in fremden Sprachen! Höre Vorträge
+über Literatur und Kunstgeschichte! Da bist du meiner Unterstützung
+immer sicher. Zu diesem Zweck kannst du auch meine Börse in Anspruch
+nehmen, soviel es dir beliebt. Das weißt du!“ – – –
+
+ * * * * *
+
+Herbstlicher Regen prasselte auf das Blech der Fenstersimse.
+
+Olga hatte die Vorhänge zugezogen und zusammengesteckt. In dem sanften
+Lichtkreis der buntverschleierten Lampe schwebte und wallte der
+bläuliche Nebel der Zigaretten.
+
+Olga lag auf dem Diwan, bäuchlings, die Ellbogen in einen Berg
+zerdrückter Seidenkissen gestützt. Im Sessel kauerte Mette mit
+hochgezogenen Füßen, und auf dem Schreibtischstuhl hockte Peterchen.
+
+„Ja,“ sagte Mette trübselig. „Ich hatte so schöne Pläne und nun wird
+wieder nichts daraus. Ich wollte so gerne irgendeinen Beruf ergreifen
+und Geld verdienen. Aber mein Vater sagt, ich hätte genug.“
+
+„Sei doch froh,“ sagte Olga. „Es gibt nichts Angenehmeres, als Geld zu
+haben und es auszugeben. Und nichts Widerlicheres, als es zu brauchen
+und nicht zu haben.“
+
+„Ich hab’ es doch aber nicht!“ widersprach Mette. „Das ist’s ja eben! In
+der Theorie hab’ ich es! In der Praxis brauch’ ich es und hab’ es
+nicht!“
+
+„Du brauchst es!“ sagte Olga entrüstet. „Lächerlich! Wozu denn? Um mir
+Orchideen mitzubringen. Wenn ich Tante Emilie wäre, ich würde dir ja
+dein Taschengeld entziehen. Wenn _ich_ noch auf solche phantastische
+Ideen käme. Geld zu verdienen, mein’ ich. Geld verdienen zu wollen, wenn
+wir uns korrekt ausdrücken wollen.“
+
+„Du hättest es sicher leicht!“ sagte Peterchen. „Du mit deinen eminenten
+Begabungen!“
+
+„Ja,“ sagte Olga ironisch. „Es fehlen mir bloß die Leute, die meine
+Begabung anerkennen. Ich könnte mich bei einem großen Modeatelier
+engagieren lassen und sagen: ‚Bitte, macht das so und macht das so!‘
+Aber man darf mich nicht zwingen, jemals eine Nadel anzurühren. Ich
+könnte auch zu einem Bildhauer oder Maler gehen und ihm sagen, wie er’s
+machen müßte. Oder ich könnte Theaterkritiker werden.“
+
+„Du könntest schreiben,“ sagte Peterchen. „Du hast sicher Talent dafür.“
+
+„Weißt du, was ich schreiben möchte?“ Olga fuhr mit einem Ruck in die
+Höhe, „die Geschichte der Fürstin von Massa, die das Volk liebte; denn
+ich glaube nicht, daß sie aus feiger Angst den Fürsten bewog ... Kennst
+du sie? Es ist eine grauenhafte und wundervolle Geschichte:
+
+Masaniello war tot. Aber der Aufstand in Neapel tobte weiter. Von Madrid
+aus schickte man den Don Juan d’Austria mit einer Flotte ab. Das Volk
+war führerlos, ein Ungeheuer ohne Kopf. Die Massen brauchten einen
+Führer, sie schrien nach ihm – sie zogen vor den Palast des Fürsten von
+Massa und riefen nach ihm.
+
+Francesco Toraldo, der Fürst von Massa, war ein kühner und gerader und
+gerechter Mann. Er war sicher dem König und der Regierung ergeben; denn
+als die Unruhen anfingen, hatte er die Truppen des Vizekönigs angeführt,
+hatte Castelnuovo und Castel Sant Elmo verteidigt. Er liebte das Volk
+nicht. Aber er liebte seine schöne Frau. Und die Fürstin liebte das
+Volk. Sie bat ihren Gatten – ihren Gatten, den sie anbetete – die
+Führerschaft der Massen zu übernehmen.
+
+Sie liebte das Volk. Und sie fühlte sich von dem Volke geliebt. Wenn sie
+durch die Straßen fuhr, drängten sich die jauchzenden Kinder um ihren
+Wagen, und die Frauen hoben ihr die Säuglinge entgegen, und die Männer
+neigten sich tief und sahen ihr lächelnd nach.
+
+Aber sie liebte auch die Fürsten und Edlen – sie liebte Giuseppe Carafa,
+den sie ermordet hatten, und Diomede Carafa, der geflohen war, und
+dessen herrlicher Palast eine wüste Trümmerstätte war. Sie liebte alles
+und alle, glaube ich – weil sie Francesco Toraldo liebte, und weil sie
+glücklich war.
+
+Sie glaubte so unerschütterlich an Gott und an das Gute im Menschen. Sie
+hatte so unendliches Mitleid mit dem armen Volk, das von Gaunern und
+Wahnsinnigen in die Irre geführt wurde – sie hatte so felsenfestes
+Vertrauen auf die starken Hände Francescos, die die Zügel aufnehmen
+sollten, die am Boden schleiften, so felsenfestes Vertrauen, daß keinem,
+keinem mehr ein Unrecht geschehen könne, wenn nur Toraldo hinausträte
+unter die aufjauchzenden Massen und sagte:
+
+‚Folget mir nach!‘
+
+Francesco Toraldo übernimmt den Oberbefehl über die Aufständischen.
+Gezwungen, gegen sein innerstes Gefühl. Aber da er ihre Sache nun einmal
+zu seiner eigenen gemacht hat, setzt er sich auch mit ganzer Kraft
+für sie ein – wie es für seine gerade und ehrenhafte Natur
+selbstverständlich ist.
+
+Irgendeinem Schlächterburschen, der lieber morden will als Krieg führen,
+lieber plündern, als für geringen Sold arbeiten, ist Toraldo im Wege. Er
+beschuldigt ihn des geheimen Einverständnisses mit Don Juan und den
+königlichen Truppen.
+
+Der Pöbel, ohne ihm auch nur eine Stunde Zeit zu lassen, daß er sich
+rechtfertigen könnte, schleppt den vergötterten Führer auf den
+Fischmarkt, schlägt ihm auf einer Steinbank den Kopf ab, reißt ihm das
+Herz aus dem Leibe und trägt es auf silberner Schüssel nach dem Kloster,
+wo die Fürstin von Massa Zuflucht genommen hat. Die zitternden Nonnen
+verrammeln die Türen. Die rasenden Horden häufen Stroh und Holz um das
+Kloster und beginnen es anzuzünden.
+
+Da geht die schöne Fürstin von Massa durch die jammernden Nonnen
+hindurch und läßt sich die Tore aufriegeln und tritt hinaus und steht
+auf den Stufen und nimmt aus den Händen der Mörder auf silberner
+Schüssel das Herz des Francesco, noch dampfend von der Wärme seines
+Lebens.
+
+Und keiner wagt, sie anzurühren.
+
+Aber den Körper des Francesco Toraldo hängen sie an einen Galgen, und
+sein blutiges Haupt tragen sie auf einer Pike durch die Straßen der
+Stadt.
+
+Nach zwei Tagen wissen sie es alle, daß er niemals daran gedacht hat,
+sie zu verraten.
+
+Sie schneiden den Leichnam vom Galgen und waschen ihn und salben ihn und
+hüllen ihn in kostbare Seide. Mit schwarzen Floren bedecken sie die
+Trommeln, mit schwarzen Floren umwinden sie die Kerzen, sie schleifen
+die Fahnen und Standarten am Boden hin. Weinend und Gebete murmelnd,
+folgt das ganze Volk von Neapel dem Sarge, und über der ganzen Stadt
+hallen unablässig die klagenden Glocken.“ –
+
+Sie schwiegen alle drei.
+
+Nach einer ganzen Weile sagte Peterchen nachdenklich:
+
+„Weißt du, Olga, es wäre ein wundervoller Vorwurf für eine Tragödie. Die
+Szene im Palast zwischen dem Fürsten und der Fürstin, wenn die Menge
+draußen nach ihm schreit, und sie ihn überredet ... und die Szene mit
+den Nonnen ...“
+
+„Schreib’ sie!“ sagte Olga kurz.
+
+„Nein, du sollst sie schreiben!“ wehrte sich Peterchen. „Ich kann doch
+nicht!“
+
+„Ich kann auch nicht,“ sagte Olga schwermütig, „ich empfinde es als so
+stark, daß man kein Wort hinzuzusetzen braucht. Solche Dinge sind immer
+am schönsten, wie sie in jeder Chronik stehen. Ich bin nicht für die
+Kunst geboren. Ich könnte mich auch nicht hinsetzen und einen Wald
+abmalen, der nicht rauscht, oder eine Wiese, die nicht duftet. Ich
+glaube, Künstler sein, heißt: respektlos sein. Sich einbilden, daß man
+es besser machen könnte als das Schicksal oder die Natur oder die
+Geschichte. Wenn mir irgend etwas begegnet, was nach der Meinung anderer
+Leute wert wäre, beschrieben oder abgemalt oder sonst wie bearbeitet zu
+werden – ich weiß nicht – ich habe weder den Mut noch das Verlangen, da
+hineinzupfuschen. Es ist mir einfach zu schade dazu.“ – – –
+
+ * * * * *
+
+„Weißt du?“ sagte Olga das nächstemal, „ich hab’ eine Idee! Meinst du
+nicht, Mette, ich könnte Sprachunterricht geben? Jeden Tag fünf Stunden
+à 2 Mark sind 10 Mark, davon müßte man doch eigentlich leben können,
+wenn man sich sehr einrichtet.“
+
+„Eine reizende Idee!“ sagte Mette entrüstet. „Erstens sehe ich dich von
+zehn Mark täglich leben, und zweitens hab’ ich dann überhaupt gar nichts
+mehr von dir!“
+
+„Darüber kannst du dich allerdings beklagen!“ sagte Olga lachend, „du
+bist ja auch nur jeden Tag, den Gott werden läßt, von morgens bis
+mittags und von nachmittags bis abends mit mir zusammen.“
+
+„Wenn es dir zuviel ist,“ – Mette war ernstlich etwas gekränkt – „dann
+brauchst du es ja nur zu sagen.“
+
+„Hab’ keine Angst,“ sagte Olga beruhigend, „ich kann mich wehren. Wenn
+ich einen Menschen los sein will, werd’ ich deutlich!“
+
+„Gott sei Dank! Wenn ich mich darauf verlassen kann. Aber jetzt habe ich
+wirklich eine Idee: wir werden das Angenehme mit dem Nützlichen
+verbinden. Du kannst _mir_ die fünf Stunden täglich Unterricht in
+fremden Sprachen erteilen, und ich werde mir von meinem Vater das Geld
+dafür geben lassen – auf seinen eigensten Wunsch.“ – – –
+
+ * * * * *
+
+Es ging nicht ganz so glatt, wie Mette es sich gedacht hatte. Tante
+Emilie suchte die Sprachlehrer selber aus – ein paar sehr würdevolle
+ältere Damen – ein vierundsechzigjähriger Professor schien ihr schon
+bedenklich, weil er unverheiratet war, und sie ging selber mit Metten
+hin und meldete ihre Nichte an.
+
+Dadurch hatte Mette nachher die peinliche Aufgabe, den Unterricht wieder
+abzusagen.
+
+Wenigstens hatte sie es erreicht, daß der Vater ihr das Stundengeld
+übergab und nicht – wie er wollte – es per Postscheck zahlte oder durch
+die Bank überweisen ließ.
+
+Olga nahm es sehr genau mit den Stunden. Sie hielt sie mit
+gewissenhaftester Pünktlichkeit ein und gab sich streng und pedantisch
+als Lehrerin. Mette lernte mit Feuereifer, um ihre Ansprüche zu
+erfüllen.
+
+Soweit ging alles wie geplant, nur daß Olga nicht daran dachte, sich
+einzurichten und von dem Stundengeld zu leben.
+
+Es kamen so wundervolle, durchsonnte Oktobertage. Und es machte so
+unbändiges Vergnügen, im offenen Auto durch den flammenden Wald zu
+jagen, nach Wannsee oder die Heerstraße hinunter, irgendwo an die breite
+blaue Havel.
+
+Natürlich sahen sie ein, daß sie sich das eigentlich nicht leisten
+durften, das heißt, Olga sah es ein, und wenn sie wieder Waldsehnsucht
+hatten, fuhren sie mit dem Vorortzug dritter Klasse, um zu sparen, und
+ließen sich in der denkbar schlechtesten Luft geduldig schieben und
+drücken.
+
+Aber am anderen Tag hatten sie einen unbezwinglichen Hunger nach Musik,
+und in der Oper gab es „Tristan“ und natürlich nur noch die teuersten
+Plätze. Auf solche Weise ließen sich nicht gut Ersparnisse machen. – – –
+
+ * * * * *
+
+Sie fuhren am frühen Nachmittag nach Wannsee. Weil es ja eigentlich
+„Stunde“ sein sollte, sprachen sie in der Bahn Italienisch miteinander,
+im gedämpften Ton. – Es war vielleicht deswegen, daß der Herr in dem
+braunen Überzieher ihnen gegenüber immer über den Rand seiner Zeitung
+schielte und sich augenscheinlich bemühte, ein Wort von ihrer
+Unterhaltung aufzufangen.
+
+Metten machte das Spaß. Sie empfand einen geradezu kindischen Stolz,
+wenn sie bemerkte – was oft geschah – daß Olga beobachtet wurde. Sie
+nahm es keinem Menschen übel, wenn er ihre schöne Freundin in der
+ungezogensten Weise anstarrte. Sie hätte manchmal direkt sagen mögen:
+„Ja, seht sie euch nur an! Ist sie nicht schön? Und das darf ich alle
+Tage sehen, alle Tage!“
+
+Und dann betrachtete sie sie wieder, als sähe sie sie zum erstenmal, und
+die reinen edlen Linien ihres Profils, die lässig-anmutigen Bewegungen
+ihrer königlichen und doch geschmeidigen Gestalt, der bezaubernde Klang
+ihrer tiefen Stimme – alles erfüllte sie immer wieder mit einem
+Entzücken, das an Andacht und Rührung grenzte. – – –
+
+ * * * * *
+
+Sie bummelten durch die Straßen, bewunderten die Gärten in ihren
+wunderbar leuchtenden Herbstfarben und suchten sich eine Villa aus. Das
+taten sie oft auf ihren Spaziergängen.
+
+Und wenn sie ein Haus gefunden hatten, das ihnen gefiel – aber auch der
+Garten mußte danach sein, und die Garage und die Spitzengardinen an den
+Fenstern – dann konnte es Olga plötzlich einfallen zu sagen, daß sie
+eigentlich noch eine Abendgesellschaft größeren Stils geben müßten – vor
+ihrer Abreise nach Kairo – und Mette sollte doch mit Schmidt
+telephonieren, der Blumen wegen, und dann kam eine lange Beratung, in
+welcher Farbe sie diesmal den Tafelschmuck nehmen sollten. – Und sie
+einigten sich auf blaßlila Treibhausflieder und Orchideen und was es
+sonst noch in der Farbe gab. Aber dann konnten sie nicht das
+Sèvres-Porzellan nehmen; denn das Kobaltblau vertrug sich nicht mit
+hellila – und ob sie das Essen bestellen oder alles im Hause machen
+ließen? Ob sie sich vom Grafen Oriola seinen französischen Koch
+ausleihen sollen? Dann wurde die Speisenfolge beraten und die Weine
+dazu. Aber das hübscheste war immer die Liste der Gäste aufzusetzen und
+Tischordnung zu machen.
+
+Gerhart Hauptmann sollte Julia Culp zu Tisch führen.
+
+„Nein, er muß _dich_ doch führen,“ bestimmte Mette. „Du bist doch die
+Hausfrau!“
+
+„Ich?“ sagte Olga. „Nein, das bist du doch!“
+
+Sie standen vor einem breiten schmiedeeisernen Portal und sahen in einen
+wunderschönen Garten.
+
+„Schade,“ sagte Olga mit einem bewundernden Blick auf die breite
+Terrasse, „es ist schon zu spät, um im Freien decken zu lassen. Aber
+nächstes Jahr müssen wir in einer Juninacht ein Gartenfest geben – hier
+auf der Terrasse essen – und plötzlich erscheinen auf dem Wasser lauter
+kleine Barken, ganz, ganz voll Rosen, jede mit einer bunten Lampe, und
+alle Gäste steigen in die Boote, immer zwei, und fahren hinaus, wohin
+sie wollen, auf das weite, dunkle Wasser ...“
+
+„Und mit wem möchtest du mir davonfahren?“ fragte Mette mißtrauisch.
+
+Olga stampfte mit dem Fuß auf. „So seid ihr nun!“ sagte sie mit Empörung
+flammenden Augen. „Willst du dir jetzt vielleicht den Tag verderben,
+weil ich dir davonfahren könnte, wenn wir in dieser Villa ein Gartenfest
+geben. Wenn man sich schon etwas Unsinniges ausdenkt, dann muß es doch
+wenigstens etwas Schönes sein.“
+
+Ein Herr in braunem Überzieher streifte sehr dicht an ihnen vorüber und
+sah sich in einiger Entfernung mit einer merkwürdig vorsichtigen Geste
+nach ihnen um.
+
+„Das war der Mann aus der Bahn,“ sagte Mette. „Der hält dich für eine
+schöne Römerin und möchte für sein Leben gern mit dir anbandeln. Ich
+glaube, ich werde diskret sein und mich zurückziehen.“
+
+Olga fuhr bei Mettes ersten Worten zusammen.
+
+„Wir wollen umkehren!“ sagte sie hastig. „Trinken wir oben bei
+Schultheiß Kaffee. Der geht jetzt sicher nach dem schwedischen Pavillon,
+und ich habe keine Lust, ihm nachzulaufen.“
+
+Mette lachte hell auf. „Meinetwegen kannst du! So hab’ ich mir den nicht
+vorgestellt, mit dem du mir davongehst! Einen so perversen Geschmack
+hätt’ ich dir nicht zugetraut! Aber da du so vor ihm fliehst, scheint es
+gefährlich.“
+
+Olga antwortete mit keinem Wort, mit keinem Lächeln auf Mettens
+Neckereien. Sie preßte die Lippen aufeinander, zog die Brauen zusammen
+und ging so rasch, ein wenig vornüber geneigt, den Kopf gesenkt, die
+Schultern hochgezogen, als liefe sie vor einer unsichtbaren Peitsche.
+
+Sie saßen oben beim Schultheiß und tranken ihren Kaffee. Aber Olgas gute
+Laune schien verflogen. Sie saß da, beide Hände in den Jackentaschen
+vergraben, als ob sie fröre und war zerstreut und einsilbig.
+
+Sie hatte sich eben mit einem: „Du entschuldigst, ich _muß_ rauchen“,
+eine Zigarette angezündet, als Mette den Herrn im braunen Überzieher in
+den Garten treten sah. Er stand einen Augenblick still, ließ einen
+prüfenden Blick über alle Tische gleiten, ging dann in entgegengesetzter
+Richtung, um nach einem weiten Bogen plötzlich wieder in ihrer Nähe
+aufzutauchen und, zwei, drei Tische von ihnen entfernt, Platz zu nehmen.
+
+Metten erschien das sehr komisch.
+
+„Der Mann aus der Bahn!“ frohlockte sie laut. „Jetzt ist es klar, Olga,
+du hast es ihm angetan.“
+
+„Schweig’!“ sagte Olga hart. Und dann, als sie Mettens bestürztes
+Gesicht sah – wie mühsam gebändigt, mit schwergehendem Atem: „Er kann
+dich ja hören, Kind!“
+
+Sie nahm die eben angerauchte Zigarette mit einer zornigen Bewegung aus
+dem Mundwinkel, preßte die Brandfläche gegen den Teller und drehte und
+drückte so lange mit nervösen Fingern daran herum, bis der Tabak aus dem
+zerrissenen Papier rieselte.
+
+Mette fühlte, daß irgend etwas vorging, was sie nicht verstand. Eine
+dumpfe Beklommenheit schien plötzlich in der Luft zu liegen, teilte sich
+ihr mit und machte sie angstvoll und unsicher.
+
+Nach einer kleinen Weile stand Olga auf. Mette griff nach ihrem Hut, der
+neben ihr auf dem Stuhl lag.
+
+„Nein, laß!“ sagte Olga sehr bestimmt und lauter, als es sonst ihre Art
+war. Sie haßte es, in öffentlichen Lokalen, auf der Straße, in der Bahn
+so laut zu sprechen, daß auch nur der nächste Nachbar sie verstehen
+konnte. „Wir bleiben doch noch. Ich will nur eben telephonieren. Ich bin
+gleich wieder da.“
+
+Mette wartete geduldig. Olga kam nicht wieder.
+
+Schließlich fing sie an, sich zu ängstigen. Wenn ihr schlecht geworden
+wäre? Sie sah sie schon irgendwo hilflos, ohnmächtig liegen.
+
+Sie lief ins Haus. Am Telephon war sie nicht. Wie sie sich suchend
+umsah, kam der Kellner, der sie bedient hatte, hinter ihr her. Sie suche
+wohl die andere Dame? Die hätte gezahlt und wäre gegangen – aber sie
+hätte einen Zettel am Büfett hinterlassen.
+
+Mette holte sich den Zettel. Ja, die Dame hätte telephoniert und hätte
+nach dem nächsten Zug gefragt und wäre sehr eilig fortgegangen. Sie
+hätte nur noch dies hier aufgeschrieben. Der Kellner hätte es
+hinausbringen wollen, aber sie hätte gesagt, es wäre nicht nötig, die
+Dame würde es sich schon holen.
+
+Mette dankte und lächelte und tat, als ob das alles die natürlichste
+Sache von der Welt wäre und wunderte sich, wie gut sie ihre Angst und
+Aufregung beherrschen konnte.
+
+Sie ging erst ein paar Schritte weiter, ehe sie die verschlossene Hülle
+aufriß. Auf dem Bogen standen nur wenige Worte.
+
+„Sei nicht bös, ich mußte fort. Wenn du kannst, komm abends zu mir. Aber
+nicht direkt, fahr erst nach Hause.“
+
+Mette faltete das Blatt zusammen und schob es mechanisch in die Tasche.
+Sie ging langsam und mit schweren Füßen wieder durch den Garten und an
+ihren Platz.
+
+Sie versuchte, sich von ihren Gedanken und Empfindungen Rechenschaft zu
+geben.
+
+Sie wäre froh gewesen, wenn sie Olgas rätselvolles Betragen als Laune,
+als Rücksichtslosigkeit hätte nehmen können und sich einfach darüber
+ärgern und entrüsten.
+
+Aber sie fühlte, daß ein Mehr dahinter war. Irgend etwas Dunkles,
+Drohendes, wovon sie nichts wußte. Mit wem hatte Olga gesprochen? Wer
+hatte sie so dringend fortgerufen?
+
+Für sie war Olga Radó das Leben, das wußte Mette. Alles andere war eine
+dumpfe Qual oder Vorfreude auf die Stunden, die sie mit ihr zusammen
+sein durfte, oder Erinnerung an die Stunden, die sie mit ihr verbracht
+hatte.
+
+Aber was war sie für Olga?
+
+Irgendein Nebenher, ein beiläufiger Zeitvertreib, eine Episode eines
+reichen, bunten, starken Lebens, eine gehorsame kleine Sklavin, ein
+Haustierchen, das man verhätschelt, ein bequemes Etwas, das man rufen
+und fortschicken kann, und das noch nicht einmal fragen durfte, _warum_
+es gerufen oder fortgeschickt wurde. Nichts wußte sie davon, nichts, was
+eigentlich dieses Leben erfüllte, was ihm Inhalt gab, nichts wußte sie
+von den Menschen, die für Olga Schicksal waren, die _ihr_ den Mut zum
+Leben gaben, den sie von ihr empfing – nichts wußte sie von dem, der sie
+jetzt fortgerufen hatte, dem sie folgte, ohne daran zu denken, daß sie
+der armen kleinen Mette den Tag zerstörte, auf den sie sich so gefreut.
+
+Mette konnte sich nicht zum Heimweg entschließen. Sie trug ihren Hut in
+der Hand und ging in tiefen und traurigen Gedanken an den Ufern des Sees
+entlang.
+
+Erst die plötzlich einfallende Dämmerung weckte sie auf und trieb sie
+nun in Hast dem Bahnhof zu.
+
+Im Moment, als sie im Begriff war, auf dem Bahnsteig eine Wagentür des
+einfahrenden Zuges zu öffnen, fühlte sie einen Blick, der sie zwang,
+sich umzuwenden.
+
+Sie sah in das völlig ausdruckslose Gesicht des Mannes in dem braunen
+Überzieher. Er öffnete die Tür zum Nebenabteil und stieg in den Zug.
+
+Mette erschrak tödlich und wußte nicht warum. Dieser Mann lief nicht
+hinter ihr her, weil er Gefallen an ihr fand. Das wußte sie deutlich.
+War es Zufall? Was in aller Welt konnte es sonst für einen Zweck haben?
+Plötzlich faßte sie ein unerklärliches Grauen. Er hatte so ein
+merkwürdig leeres Gesicht und einen starren und dabei doch scheuen
+Blick. Vielleicht war es ein Irrsinniger. Einer, der irgendwo
+entsprungen war.
+
+Am Bahnhof Zoo bemühte sie sich, unter der drängenden Menschenmenge sich
+zu verstecken. Aber sie fühlte den Fremden unentwegt hinter sich. Ihr
+schien es, als klammerte sich seine Hand in der Manteltasche um einen
+Revolver oder um ein Stilett. In jedem Augenblick konnte das blitzende
+Eisen oder die Kugel sie in den Rücken treffen. Sie fühlte schon den
+scharfen Schmerz zwischen den Schulterblättern und preßte unwillkürlich
+die Rückenmuskeln zusammen.
+
+Während sie die dämmerigen Straßen hinunterjagte, wagte sie nicht, sich
+umzusehen. Erst, als sie das Haus aufschloß, spähte sie die Straße
+hinunter. Er war natürlich nicht gefolgt. Es war alles eine lächerliche
+Einbildung.
+
+Als sie innen im Treppenflur stand, warf sie noch einen Blick durch die
+Glasscheibe der Tür.
+
+Auf der anderen Seite der Straße, das Haus von oben bis unten aufmerksam
+betrachtend, ging der Mann in dem braunen Überzieher. – – –
+
+ * * * * *
+
+Die Tischunterhaltung quälte sich mühsam hin.
+
+Als Mette mit Essen fertig war, sagte sie (sie hatte es sich zur
+Gewohnheit gemacht, sich mit allen Sachen ausdrücklich an ihren Vater zu
+wenden):
+
+„Du erlaubst doch, Papa, daß ich noch eine Stunde zu meiner Freundin
+gehe? Ich bin um zehn wieder hier.“
+
+Da geschah etwas Seltsames. Franz Rudloff legte eine zur Faust geballte
+Hand auf den Tisch, richtete den Oberkörper ein wenig aus seiner
+zusammengesunkenen Haltung auf und sagte:
+
+„Mette!“ ... so, als wenn er zu einer längeren Rede ansetzen wollte.
+
+Da traf ihn ein Blick von Tante Emilie. Mette fühlte diesen Blick die
+Luft durchschneiden und fing ihn noch auf. Es war ein kurzer und
+scharfer Blick, befehlend und fast erschrocken, ein Blick, der
+unzweideutig hieß: „Schweig!“
+
+Franz Rudloff fiel wieder in sich zusammen, schlug die Augen nieder,
+rollte seinen silbernen Serviettenring hin und her und sagte:
+
+„Gewiß, ... also ja ... wenn du meinst ... schön!“
+
+Mette fühlte, daß auch hier irgendwas vorging, wovon sie nichts wußte.
+Das verursachte ihr weder Angst noch Schmerz – aber ein peinvolles
+Unbehagen.
+
+Die Welt war heute fremd und rätselhaft. Sie spürte plötzlich Moorboden
+unter den Füßen und wußte nicht, wie sie die Schritte setzen sollte.
+Olga hätte sie heute nicht verlassen dürfen, nicht heute, nicht an
+diesem Tage.
+
+Eine heiße, schmerzhafte Sehnsucht quoll in ihr auf, wie schon sooft,
+stark wie ein mühsam unterdrückter Schrei:
+
+„Mutter!“ – – –
+
+ * * * * *
+
+Unterwegs waren ihre Gedanken nur noch bei Olga. Was da geschehen sein
+mochte? Ob sie das wenigstens erfahren würde? Vielleicht war jemand
+krank? Verunglückt? Jemand, der Olga nahestand. Vielleicht konnte sie
+sich irgendwie betätigen, helfen. Sie fühlte die Kraft, jede Anwandlung
+von Eifersucht zu unterdrücken, sich selbst zu vergessen und
+hintanzusetzen, wenn man sie nur teilnehmen ließ an dem, was geschah und
+nicht alle Türen vor ihr zuschlug. Das hatte sie nicht verdient, es gab
+so qualvolle Unrast – jeder schneidende Schmerz war zehnmal besser als
+dieses hilflose Im-Dunkeln-Tappen.
+
+Während Mette die Stufen hinaufstieg, fühlte sie sich irgendwie
+kampfgerüstet. Sie wollte es Olga sagen, daß sie das nicht mehr ertrug.
+Ertrug? Nein, daß sie es sich nicht mehr gefallen lassen wollte, daß sie
+kein dummes Kind sei, das man ohne ein Wort der Erklärung einfach sitzen
+lassen könne – daß alle diese Dinge sie nervös machten – oh, so nervös!
+Und daß ihr – bei Gott! – nächstens auch einmal die Galle überlaufen
+werde!
+
+Olga hatte noch einen Schleier über die Lampe gehängt, so daß eine
+matte, violette Dämmerung im Zimmer war. Sie lag auf dem Diwan, bis an
+die Schultern in ihre große Felldecke gewickelt.
+
+Als Mette sich zu ihr setzte, spürte sie, daß sie zitterte wie vor
+Frost. Da war all der Zorn und Trotz, der noch in dem kalten „Guten
+Abend“ gelegen hatte, verflogen. Sie legte die Hand auf ihre Stirn:
+
+„Hast du Fieber?“ fragte sie besorgt.
+
+Olga schüttelte nur den Kopf. Es schien, als ob ihr irgend etwas in der
+Kehle saß, was sie am Sprechen hinderte.
+
+Dann machte sie plötzlich mit einer ungeduldigen Bewegung beide Arme von
+der Decke frei und griff nach Mettens Händen.
+
+„Du bist mir böse, Kind!“ sagte sie hastig, wie gejagt. „Du hast ja auch
+allen Grund. Verachtest du mich? Du kannst mich ruhig verachten. Ich bin
+ja so feige, Mette, so erbärmlich feige! Ach, Kind, du kannst alles von
+mir verlangen, ich will dich aus einem brennenden Haus holen – dich?!
+Ach! Einen Hund, ein Spielzeug, an dem dir liegt – ich will durchgehende
+Pferde aufhalten, ich will – ach, ich weiß nicht, was ich will – aber
+darin bin ich feige. Ich kann es nicht noch einmal durchmachen in meinem
+Leben, ich kann es nicht. Du weißt nicht, was ich ausgestanden habe. Ich
+habe nächtelang dagesessen mit dem geladenen Revolver und habe gesagt:
+Tu’s, tu’s, damit nicht wieder so ein Tag kommt ... und dann war das
+Leben wieder so wahnsinnig schön, und ich hab’s nicht getan. Dann bin
+ich stundenlang in der Galerie herumgelaufen und habe vor allen Bildern
+gestanden und gestarrt und nichts gesehen. Und immer den Blick in meinem
+Rücken gefühlt. Dann bin ich nach Mödling hinausgefahren, wie ich
+eingestiegen bin, der Mann hinter mir, wie ich ausgestiegen bin, der
+Mann hinter mir – ach, ich weiß, einmal bin ich in meiner Verzweiflung
+in ein fremdes Haus hineingelaufen, alle Treppen hinauf, und hab’ immer
+gedacht, ich will klingeln und die Menschen bitten, sie sollen mich um
+Gottes und aller Heiligen willen eine Stunde in ihrer Wohnung behalten.
+Oder ich wollte ihnen etwas erzählen von irgendwelchen Leuten, die sie
+grüßen lassen – die mich hinschicken – und dann dacht ich, sie halten
+mich sicher für geisteskrank oder für eine Schwerverbrecherin und lassen
+mich erst recht festnehmen. Und dann bin ich bis auf den Boden gelaufen
+und bin da oben herumgeirrt und habe geheult wie ein kleines Kind. Und
+wie ich mich endlich hinuntergetraut habe, stand der Kerl immer noch da
+und starrte auf die Haustür. O Mette, in der Zeit hab’ ich immer die
+ganzen Nächte das Licht brennen lassen, weil ich im Dunkeln überall das
+Gesicht gesehen habe.“
+
+Mette hielt Olgas eiskalte, unruhige Hände in den ihren fest.
+
+„Wessen Gesicht?“ fragte sie leise und verwirrt, als Olga schwieg. „Ich
+verstehe dich nicht, Liebes.“
+
+„Das ist gut, Kind!“ sagte Olga. „Das ist ja so gut! Sonst hätt’ ich
+dich ja auch nicht allein gelassen. Aber dir konnte ja nichts geschehen.
+Dir konnte ja gar nichts geschehen! Bist du nach Hause gegangen? Ja?
+Wann? Gleich? War er noch da? Hat er dich nach Hause gehen sehen?“
+
+Nun fiel Metten die Erinnerung an den Heimweg wieder wie eine Last aufs
+Herz. Die Erinnerung an den Heimweg, die Erinnerung an den verdorbenen
+Tag.
+
+Sie ließ Olgas Hände los.
+
+„Vielleicht darf ich auch mal fragen,“ sagte sie, „ich bin doch
+schließlich kein kleines Kind, das einfach alles hinnehmen muß und dem
+man sagen kann: das verstehst du nicht. Ich hab’ es bis _dahin_ satt,
+mich ewig von Geheimnissen umgeben zu fühlen. _Was_ hätte mir geschehen
+sollen? Was hat es für eine Bewandtnis mit diesem Mann? Kennst du ihn
+persönlich? Aus Wien? Und woher? Ich meine, was hast du für Beziehungen
+zu ihm?“
+
+Mette wunderte sich selbst, woher sie die Kühnheit hatte, in einem so
+strengen und schulmeisterlichen Ton zu reden.
+
+„Unsinn!“ sagte Olga mit einem nervösen Lachen. „Doch nicht _den_! Das
+ist doch nicht derselbe!“
+
+„Nicht derselbe?!“ sagte Mette beinah ärgerlich, mit hochgezogenen
+Brauen. „Was heißt das wieder? Wer nicht derselbe? Nicht derselbe was?“
+
+„Laß mich doch in Ruh,“ sagte Olga böse, „ich laß mich nicht
+inquirieren! Du kannst mir ja gleich Daumenschrauben anlegen. Wenn du
+mich nicht mehr leiden magst, dann geh! Ich halt’ dich nicht! Ich halt’
+keinen Menschen! Aber laß mich in Ruh!“
+
+Sie sprach zornig, aber mit einer seltsam vibrierenden Stimme und suchte
+unter dem Berg von Kissen nach ihrem Taschentuch.
+
+Als sie es gefunden hatte, riß es ihr Mette mit einer halb
+unwillkürlichen Bewegung aus den Fingern. Der kleine weiße Ballen war
+fest zusammengedrückt und ganz feucht.
+
+„Hast du geweint?“ fragte Mette in grenzenlosem Erstaunen.
+
+„Darf ich das nicht?“ fragte Olga trotzig zurück, und über ihr Gesicht,
+das von Blässe fahl schien, flog wieder das dunkle Rot.
+
+„Nein, ich weiß, ich darf mir das nicht leisten. Ich bin hysterisch. Ich
+bin überspannt. Es ist mir ja _so_ egal, wofür du mich hältst. Wenn mir
+danach zumute ist, dann wein’ ich eben!“
+
+Sie versuchte umsonst, die zitternden Lippen aufeinander zu pressen. Aus
+den Augen, deren übergroße Pupille schwarz die ganze Iris überdeckte,
+stürzten die Tränen und fluteten über die weißen Wangen. Sie versuchte,
+den Kopf nach der Wand zu drehen. Aber Mette hielt sie fest. Sie wußte
+selbst nicht, woher ihr der Mut kam.
+
+Nie war Olga ihr gegenüber zärtlich gewesen. Nie hatte Mette es gewagt,
+zärtlich zu sein.
+
+Aber als sie das schöne blasse Gesicht jetzt vor sich sah,
+tränenüberströmt, zerwühlt von einem fremden Schmerz, mit den großen,
+tiefen Augen, die schrien von einer mühsam verborgenen Qual, da quoll
+das heiße Mitleid in Mettens Herzen über, sie preßte die Lippen auf
+diese nassen Wangen, die nassen Augen, den armen zitternden Mund.
+
+„Nicht weinen, Süßes,“ bat sie leise, selbst mit den Tränen kämpfend.
+„Nicht weinen, Liebes, ich frag’ ja nicht mehr, ich will ja nichts
+wissen. Nur nicht mehr traurig sein. Tu mir an, was du willst, aber
+weine nicht so! Ich kann dich nicht weinen sehen. Hör’ auf, Liebes, ich
+bitt’ dich, weine nicht mehr!“
+
+Olga ließ sich zur Ruhe schmeicheln wie ein unglückliches Kind. Sie
+schloß die zitternden Augenlider und lächelte, während noch die Tropfen
+über ihr Gesicht rollten. Sie legte den Kopf müde in die Kissen zurück.
+Durch den ganzen schlanken Körper ging eine Bewegung wie ein erlöstes
+Sichstrecken.
+
+Sie nahm Mettens Hand und legte sie auf ihre heiße Stirn.
+
+„Gutes!“ sagte sie leise und dankbar. „Mein Gutes!“
+
+Und dann immer noch mit geschlossenen Augen hob sie Mettens willenlose
+Hand von der Stirn und legte die Innenfläche der kühlen Finger auf ihren
+Mund. Und hielt sie da mit beiden Händen fest, lange, lange.
+
+Und Mette saß ganz still und fühlte seltsam wehe Lust und süße
+Traurigkeit und horchte, wie in einem Traum befangen, auf das harte
+Pochen ihres Blutes. – – –
+
+ * * * * *
+
+Die fremden und seltsamen Begebenheiten mehrten sich.
+
+Eines Tages tauchte plötzlich Onkel Jürgen in Berlin auf. Mette hatte
+für Onkel Jürgen immer eine besondere Vorliebe gehabt. Es war eigentlich
+der einzige unter ihren Verwandten, der durch seine stattliche und
+vornehme Erscheinung, seine betont männliche Haltung und einen gewissen
+sachlichen Ernst ihr gefiel, und ihr sogar Achtung abnötigte.
+
+Er begrüßte Mette auf eine merkwürdige Art, mit einer gewollten
+Liebenswürdigkeit, die zu sagen schien: ich tue ganz harmlos, du
+brauchst ja nicht gleich zu merken, weshalb ich hier bin, und was ich
+gegen dich habe.
+
+In Mettens feinem Gefühl wurde sofort ein Mißtrauen rege.
+
+Es steigerte sich, als sie das Knacken des Schlüssels vernahm, nachdem
+die drei – Vater, Tante Emilie und Onkel Jürgen – sich in das
+Studierzimmer zurückgezogen hatten.
+
+Sie schlossen sich ein? Was hatte das zu bedeuten? Galt das den
+Dienstboten oder galt das ihr?
+
+Sie hatte noch nie Interesse für die Verhandlungen ihrer Familie gehabt.
+Aber das leise Geräusch des Schließens hatte eine unbehagliche Neugier
+in ihr erweckt. Sie streifte ein paarmal dicht an der Tür vorüber. Aber
+sie hörte nur ein undeutliches Gemurmel. Es war kein Zweifel, sie
+flüsterten darin.
+
+Mette sehnte sich danach, aus der bedrückenden und unfreundlichen Luft
+des Hauses fortzukommen.
+
+Nach dem Essen – bei welchem nur Onkel Jürgen sprach, und in lauten und
+wohlgesetzten Worten die Schönheiten der kleinen Stadt und die Tugenden
+seiner Kinder pries – wagte Mette endlich die Frage:
+
+„Ihr legt euch doch nach Tisch alle schlafen, nicht wahr? Dann möchte
+ich vorm Kaffee noch eine Stunde zu meiner Freundin gehen.“
+
+Es entstand eine allgemeine Stille. Die drei sahen einander an, niemand
+sah Metten an, niemand antwortete.
+
+Vater sah mit einem unruhigen und fast hilfeflehenden Blick von einem
+zum andern, Onkel Jürgen trommelte auf den Tisch und sah erwartungsvoll
+aus, Tante Emilie räusperte sich und verzog die Winkel des
+zusammengekniffenen Mundes zu einer süßlichen Grimasse, die ein
+freundliches Lächeln vorstellen sollte.
+
+Niemand sprach. Tante Emilie wollte sich nicht vordrängen. Sie hielt mit
+der Antwort zurück und wartete, ob nicht einer der beiden Herren das
+Wort ergreifen wollte. Aber sie schwiegen und sahen nicht aus, als ob
+sie gedächten, in der nächsten Minute die peinliche Stille zu
+unterbrechen.
+
+Also war es an ihr, also durfte sie reden. Sie reckte sich auf und legte
+das Gesicht in Falten, die inniges Mitleid und eine ernste Besorgnis
+ausdrücken sollten. Aber Metten schien es, als ob die kleinen scharfen
+Äuglein funkelten, als ob der steif gestreckte magere Oberkörper
+zitterte in einer bösen Freude.
+
+„Das wirst du wohl ausnahmsweise heute unterlassen müssen, mein liebes
+Kind!“ sagte sie mit sanftem Tonfall und messerscharfer Stimme. „Wir
+erwarten Nachmittag einen Besuch, der dich aufs dringendste angeht.“
+
+„Mich?“ fragte Mette, und sah dabei ihren Vater an.
+
+Aber Rudloff deckte die Augen mit den Lidern und bemühte sich, ein
+nervöses Zucken seines Mundes zu unterdrücken. Er antwortete nicht.
+
+„Ja, dich!“ sagte Tante Emilie so liebenswürdig, als wollte sie ihr eine
+große Freude verkünden.
+
+Mette fühlte in diesem Moment, daß irgend etwas Furchtbares sie
+bedrohte. Ihr war, als sähe sie sich von einem engmaschigen Netz
+umgeben, das in der nächsten Minute durch einen leisen Ruck von Tante
+Emiliens knochigen Fingern über ihrem Kopf zusammengezogen werden
+konnte.
+
+Sie hatte die Empfindung, als ob alle Türen verschlossen, durch Wachen
+verstellt seien, und als ob nichts sie mehr retten könne, als im selben
+Augenblick, ohne Zögern, ohne Überlegung aus dem Fenster zu springen –
+und, was die Lunge hergab – durch die Straßen zu laufen, zu rasen, in
+wildester Flucht, zu Olga.
+
+Sie wurde blaß und machte eine halbe Bewegung. Es war nicht einmal eine
+halbe, es war nur der Ansatz, es war nur der Wille zu einer Bewegung,
+der durch ihre Muskeln lief. Onkel Jürgen mußte es trotzdem bemerkt
+haben.
+
+„Na, Mette!“ sagte er in einem etwas gezwungen gütigen und
+zuversichtlichen Ton, „nur ruhig Blut, mein Deern. Es will dir kein
+Mensch an den Kragen. Du mußt nur Vertrauen zu uns haben und mußt dir
+sagen, daß alles, was geschieht, ausschließlich zu deinem Besten
+geschieht. Und mußt dich bemühen, uns ein bißchen zu unterstützen in
+unseren Bestrebungen, die nur auf dein Wohl gerichtet sind und nicht
+etwa durch kindischen Trotz uns unsere Aufgabe erschweren. Dann werden
+wir auch in gemeinsamer Arbeit über diese Zeit wegkommen, und du wirst
+uns später sehr dankbar sein, daß wir dich mit liebevoller Gewalt auf
+den richtigen Weg geführt haben. Und wirst an diese Zeit jetzt
+zurückdenken, wie an einen schweren Traum, der gar keine Bedeutung hat
+für dein späteres Leben.“
+
+Diese feierliche Ansprache steigerte Mettens dumpfes Unbehagen zu einem
+beinah irrsinnigen Angstgefühl. Das alles war fremd und unverständlich.
+Sie wußte, daß Tante Emilie jetzt nur auf eine Frage wartete, um mit
+einem Wortschwall loszubrechen. Darum fragte sie nicht: Was ist denn
+geschehen? Was wird denn geschehen?
+
+„Aus dem Fenster! Aus dem Fenster!“ war das einzige, was sie dachte. Und
+im Moment, als sie draußen die Flurklingel schrillen hörte, zuckte sie
+zusammen und wußte: „Jetzt ist es zu spät!“
+
+Das Hausmädchen kam hereingeschlichen, als käme sie in ein Krankenzimmer
+und brachte Franz Rudloff eine Karte.
+
+Seine Hand zitterte, als er sie von dem kleinen silbernen Tablett nahm.
+Er mußte sich auf den Tisch stützen, um aufzustehen. Sein Gesicht sah
+verzerrt und verfallen aus.
+
+„Haben Sie den Herrn Professor in mein Zimmer geführt? Ich komme!“
+
+Er goß sich schnell noch einen Schluck Wasser in sein Glas. Die
+hartgestärkte Manschette rasselte gegen die Flasche.
+
+Er ging hinaus mit einem sichtlichen Bemühen, gerade und aufrecht zu
+schreiten.
+
+Die drei blieben schweigend zurück. Mette hielt es nicht aus, am Tisch
+sitzen zu bleiben.
+
+Als sie aufstand, machte Onkel Jürgen eine hastige Bewegung, als wollte
+er sie zurückhalten. Aber sie ging nicht nach der Tür, sie machte gar
+nicht mehr den Versuch, zu entkommen. Sie ging an das Fenster und sah
+durch den geschlossenen Spitzenvorhang hindurch auf die Straße.
+
+Die eintönigen Rufe spielender Kinder drangen herauf. Ein Geschäftswagen
+rollte heran, hielt vor dem Haus drüben. Der Mitfahrer sprang herunter,
+schloß auf, belud sich mit Paketen und schlug die Tür mit scharfem Knall
+wieder zu.
+
+Jede Bewegung, jedes Geräusch prägte sich mit ungewohnter Deutlichkeit
+in Mettens Gehirn. Es ging nichts in ihr vor, als die scharfe
+Beobachtung dieser alltäglichen Dinge.
+
+Hinter ihrem Rücken tat die Tür sich auf. Sie hörte des Vaters gedrückte
+und etwas heisere Stimme:
+
+„Emilie, willst du bitte so gut sein?“
+
+Mette hörte das Stuhlrücken und das Rauschen der Röcke, ohne sich
+umzudrehen.
+
+Die Tür schloß sich wieder.
+
+Jetzt war sie mit Onkel Jürgen allein. Jetzt hätte sie ihn um irgendeine
+Erklärung fragen sollen. Er war ja doch von diesen drei Menschen immer
+noch der vernünftigste. Ach, aber trotzdem, es war zwecklos. Er war ihr
+ja doch fremd, unendlich fremd.
+
+„Mutter!“ dachte sie, und etwas wie ein krampfhaftes Schluchzen quoll in
+ihrem Halse auf.
+
+„Liebe, gute Mutter, warum hast du mich allein gelassen, ganz allein auf
+der Welt?“
+
+„Allein!?“ Ihr war, als hörte sie stark und deutlich dies Wort von Olgas
+Stimme. Und sie sah die ernsten Augen forschend und beinah drohend auf
+sich gerichtet.
+
+Eine heiße Welle flutete über ihr Herz. Sie krampfte die verschlungenen
+Hände ineinander und lächelte, während ihr die Tränen in die Augen
+traten.
+
+„Nein, ich bin nicht allein,“ dachte sie mit einem so andächtigen
+Gefühl, als spräche sie ein Gebet, „ich habe dich, Liebes, Schönes,
+Großes. _Dich_ kann mir das alte böse Weib nicht nehmen, dich nicht! Und
+wenn sie mich foltern und mich in Stücke reißen – mir kann nichts
+geschehen – ich hab’ ja dich!“
+
+Eine große Ruhe und Zuversicht kam über sie. Ihr war, als hätte sie
+einen schlimmen und gefährlichen Weg vor sich. Sie mußte über Moorboden
+gehen und durch Schmutz und Schlamm waten und reißende Wasser
+durchschwimmen – aber drüben stand Olga Radó und streckte beide Hände
+nach ihr und sagte: „Komm!“
+
+Und da wurde der Weg leicht und beinah lockend.
+
+Als jetzt die Tür ging und Vater erschien und zaghaft sagte:
+
+„Mette, komm bitte einmal her!“ hatte sie fast ein Gefühl von Freude. So
+wie einer, der gut gelernt hat, sich aufs Examen freut oder ein Mutiger
+sich auf den Kampf.
+
+Sie ging sehr gerade und fest durch das Zimmer und lächelte ein
+überlegenes und fast höhnisches Lächeln.
+
+Bei ihrem Eintritt erhob sich aus Vaters Studierstuhl ein schmächtiger
+Mann mit scharfen Zügen und durchdringenden Augen, in dessen
+wohlgepflegtem schwarzen Spitzbart sich einige frühe weiße Fäden
+zeigten.
+
+Da niemand Miene machte, ihn vorzustellen, murmelte er selbst mit
+leichter Verbeugung seinen Namen und warf dann den anderen einen Blick
+zu, der einem Befehl zu schleunigem Rückzug gleichkam.
+
+Rudloff atmete sichtlich auf, während Tante Emilie zögerte und sich
+ungern trennte. Sie warf noch in der Tür einen langen, neugierigen Blick
+zurück; aber der Professor sprach kein Wort, machte keine Geste, ehe
+sich nicht die Tür geschlossen hatte.
+
+Dann rückte er einen Sessel:
+
+„Wollen Sie bitte Platz nehmen.“
+
+Mette setzte sich gehorsam.
+
+Der Mann ihr gegenüber beugte sich ein wenig vor und sagte mit einer
+sanften und fast einschmeichelnden Stimme:
+
+„Und nun sagen Sie mir erst mal, mein liebes Kind, daß Sie Vertrauen zu
+mir haben wollen.“
+
+Mette richtete sich steif auf.
+
+„Oh – durchaus nicht, Herr Professor!“ sagte sie ruhig.
+
+Der Mann fuhr etwas zurück.
+
+„Was heißt das?“ fragte er befremdet.
+
+„Das heißt,“ sagte Mette kühl, während ihr das Herz zum Zerspringen
+klopfte, „daß meine Tante Sie hergerufen hat, und daß ich allem
+mißtraue, was mir von dieser Seite kommt. Wahrscheinlich hat sie die
+Absicht, mich in ein Irrenhaus zu sperren, und Sie sollen konstatieren,
+daß ich geistig defekt bin. Sie hat mir so was Ähnliches schon einmal
+angestellt, als ich noch ein kleines Kind war. Aber wenn Sie Psychiater
+sind, so werden Sie wissen, daß das Gefühl, auf den Geisteszustand
+beobachtet zu werden, in den normalsten Menschen etwas Irrsinnähnliches
+auslösen kann. Und Sie werden mir das in Anrechnung bringen.“
+
+Der Arzt lächelte – ein feines Lächeln.
+
+„Ich habe nicht die geringste Veranlassung, an Ihren außerordentlichen
+geistigen Fähigkeiten zu zweifeln – im Gegenteil – kein Mensch zweifelt
+daran. Und kein Mensch denkt daran, Sie in ein Irrenhaus sperren zu
+wollen. Ich bin hergekommen, um mich ein wenig mit Ihnen zu unterhalten
+– aus wissenschaftlichem und menschlichem Interesse. Darf ich ein paar
+Fragen an Sie richten?“
+
+„Gewiß!“ sagte Mette. „Aber ich würde wahrscheinlich imstande sein,
+präziser auf diese Fragen zu antworten, wenn Sie mir gestatteten, dabei
+eine Zigarette zu rauchen.“
+
+„Gern!“ sagte der Professor zuvorkommend.
+
+Mette nahm den Zigarettenkasten vom Schreibtisch und bot ihm an.
+
+Er nahm, und während er sein Feuerzeug aufknipste und ihr das Flämmchen
+hinüber reichte, fragte er in beiläufigem Ton:
+
+„Sie sind passionierte Raucherin?“
+
+„Ich habe es mir beim Lernen angewöhnt,“ sagte sie. „Es hilft mir, die
+Gedanken zusammen zu halten. Und da ich doch den Verdacht noch nicht
+ganz los bin, daß Sie mir aus irgendeiner dummen Antwort einen
+Schwachsinn konstruieren ...“
+
+Der Professor lachte:
+
+„Das sollte mir schwer fallen – aber Sie haben recht, es plaudert sich
+viel gemütlicher bei der Zigarette. Nun erzählen Sie mir doch erst mal,
+was war das eigentlich für eine Angelegenheit, die Sie mir vorher
+andeuteten? Was hat Ihre Frau Tante für böse Absichten gehabt, als Sie
+noch ein kleines Kind waren?“
+
+„Ach,“ sagte Mette, „sie hat mir einen Kinderpsychiater kommen lassen,
+weil ich Silberzeug aus dem Büfett genommen hatte.“
+
+„Ach,“ sagte der Professor interessiert mit einem belustigten Lächeln.
+„Und warum taten Sie das? Hatten Sie Freude am Silber?“
+
+„Nein, ich hab’ es versetzt!“
+
+„Versetzt!“ Der Professor lachte hell auf. „Wie sind Sie als kleines
+Kind auf diese Idee gekommen?“
+
+„Nicht aus mir selbst!“ sagte Mette ernsthaft. Aus Nebeln der
+Vergangenheit stieg plötzlich klar und deutlich Friedel Eggebrechts Bild
+auf. „Mein Kinderfräulein hat mich dazu verleitet. Ich stand vollständig
+unter ihrem Einfluß – der nicht gerade sehr günstig war.“
+
+„Ach!“ sagte der Professor mit leichtem Erstaunen. „Sind Sie
+beeinflußbar? Das sieht man Ihnen nicht an! Jetzt würde Sie
+wahrscheinlich keine Macht der Welt mehr zu solchen Dingen bringen!“
+
+„Ach, verflucht!“ sagte Mette mit einem plötzlichen Erschrecken, „jetzt
+hab’ ich ja das blöde Silber verfallen lassen!“
+
+Der Professor amüsierte sich köstlich, oder er tat wenigstens so.
+
+„Welches?“ fragte er. „Das, was Sie vor zehn Jahren versetzt haben? Das
+wird nun wohl allerdings verfallen sein!“
+
+„Nein,“ sagte Mette unbefangen, „das, was ich jetzt versetzt habe. Das
+hatt’ ich ja in den Tod vergessen!“
+
+„Sie brauchen sich darum nicht zu ängstigen,“ sagte der Professor
+liebenswürdig, „es ist eingelöst worden.“
+
+Mette faßte im Moment nicht ganz.
+
+„Wieso? Es hat doch niemand davon gewußt.“
+
+„Man hat den Schein bei Ihnen gefunden.“
+
+„Gefunden!“ Mette sprang auf. „Gefunden?! Das heißt, daß diese schamlose
+Person heimlich über meine Sachen geht und darin herumwühlt. Oh, schade,
+daß ich sie nicht dabei ertappt habe – ich hätte sie mit meinen eigenen
+Händen erwürgt, glaube ich!“
+
+„Bitte, setzen Sie sich!“ sagte der Professor, noch ohne Schärfe, aber
+so zwingend, daß Mette gehorchte.
+
+„Wenn Sie mit dieser Person Ihre Frau Tante meinen, so muß ich ihr als
+Mensch und als Arzt das Recht zugestehen, Sie als ihre Pflegebefohlene
+ein wenig intensiver zu beaufsichtigen, als es sonst zwischen
+erwachsenen Menschen üblich ist.“
+
+„Ich _bin_ ein erwachsener Mensch!“ sagte Mette zornig.
+
+„Sie sind ein Kind,“ sagte der Arzt sehr milde, „ein Kind, das gar nicht
+weiß, in welcher Gefahr es schwebt – und das uns allen sehr dankbar sein
+wird, wenn es einmal erwachsen sein wird und einsehen lernt, wovor wir
+es behütet haben.“
+
+„Ich glaube, Sie sind im Irrtum!“ sagte Mette eiskalt. „Ich bin in
+keiner Gefahr. Und wenn, dann behüte ich mich selber.“
+
+„Solange Sie nicht mündig sind, werden Sie schon unsere helfende Hand
+nicht zurückweisen dürfen.“
+
+Das klang gütig, aber sehr bestimmt.
+
+„Ich zweifle, daß Sie aus eigener Kraft den Entschluß aufbringen werden,
+sich von Ihrer Freundin zu trennen, unter deren Einfluß Sie stehen.“
+
+Metten strömte das Blut jäh zum Herzen. Sie fühlte, daß sie weiß wurde
+wie Leinen.
+
+„Was wissen Sie von meiner Freundin?“ fragte sie schroff. Der Atem
+drohte ihr zu versagen.
+
+Der Arzt lächelte überlegen.
+
+„Jedenfalls mehr als Sie.“
+
+„Das bezweifle ich,“ unterbrach ihn Mette in einem harten und
+spöttischen Ton.
+
+Er war nicht aus seiner Ruhe zu bringen.
+
+„Ich weiß,“ sagte er in gelassenem, aber festem Ton, „daß Sie unter dem
+Einfluß einer Frau stehen, der für Sie höchst verderblich ist. Ich
+begreife Sie ja. Sie _sind_ ein Kind. Ich will dieser Frau Geist und
+Liebenswürdigkeit gewiß nicht absprechen. Sie sind stolz auf diese
+Freundschaft und würden ihr alles zum Opfer bringen. Sie lassen sich
+durch diese Freundschaft auf die Bahn des Verbrechens treiben ...“
+
+„Ach, Unsinn!“ sagte Mette.
+
+„Ich verstehe, daß Sie mir widersprechen. Aber nehmen Sie einmal Ihren
+klaren Verstand zu Hilfe, und denken Sie logisch nach. Sie entwenden das
+Silberzeug aus dem Büfett Ihrer Eltern. Sie lassen sich von Ihrem Vater
+Stundengeld geben und legen das Geld dafür an, mit Ihrer Freundin Auto
+zu fahren, Sekt zu trinken, die Oper zu besuchen. Sie bezahlen die
+Schneiderrechnungen dieser Freundin mit Geld, welches Sie sich auf
+unrechtmäßige Weise verschafft haben. Ja, Kind, sehen Sie denn nicht
+selbst, auf welchen Abgrund Sie zusteuern?“
+
+Woher wußten sie das alles? Wie durch einen aufflammenden Blitz
+erleuchtet, lagen die Zusammenhänge klar vor Metten.
+
+Man hatte sie durch einen Detektiv beobachten lassen, auf Schritt und
+Tritt. Wo sie ging und stand, hatten fremde Augen an ihr geklebt, fremde
+Augen und Tante Emiliens Gedanken.
+
+Der Mann in Wannsee ... und da vielleicht ... und dort auch. Das war es,
+was Olga so geängstigt hatte. Sie hatte es gewußt, gekannt, schon einmal
+durchgemacht. Arme Olla ...
+
+Mette saß ganz still und rührte sich nicht. Ihr war, als ob
+erbarmungslose Hände ihr Stück für Stück der Kleidung vom Leibe rissen.
+Es waren nicht die Hände dieses fremden Mannes, es waren Tante Emiliens
+Hände, die das taten, es war Tante Emiliens Gesicht, das sie vor sich
+sah, hohngrinsend, geifernd vor böser Lust – langsam, langsam krampften
+sich Mettens Finger zu Fäusten zusammen – sie reckte den Hals vor,
+senkte die Stirn, verzerrte die Mundwinkel und schluckte gewaltsam.
+
+Die Stimme des Professors wurde wieder ganz sanft und begütigend:
+
+„Denken Sie doch einmal zurück an Ihre Kinderzeit! Haben Sie dieses
+Kinderfräulein, unter deren Einfluß Sie damals standen, nicht auch
+geliebt? Und sind Sie jetzt nicht froh und dankbar, daß man Sie von ihr
+getrennt hat? Genau so dankbar werden Sie uns später sein, wenn Sie erst
+zur Einsicht gekommen sind. Wenn Sie nachdenken, so wissen Sie ja jetzt
+schon in Ihrem tiefsten Innern Bescheid. _Sie_ sind die treue Freundin.
+_Sie_ lieben, _Sie_ opfern sich auf. Und Sie werden ausgenutzt, als
+Spielzeug behandelt, bei Gelegenheit verleugnet und über kurz oder lang
+beiseite geworfen. Denken Sie denn, das wäre der erste Fall, der uns vor
+Augen kommt? Dann sind Sie fürs Leben verdorben, körperlich und seelisch
+krank, jeder Glücksmöglichkeit beraubt – was bleibt Ihnen dann? – Je
+nach Ihrer Veranlagung: Mord oder Selbstmord! Ich habe furchtbare
+Tragödien auf diese Art entstehen sehen ...“
+
+Mette kämpfte vergeblich gegen den Eindruck an, den diese Worte auf sie
+machten. Ihre gereizten Nerven spürten einen eiskalten Hauch, der sie
+bis in das innerste Herz erschauern machte. Es schien ihr wie ein
+mahnender Gruß aus einer dunkel verhüllten Zukunft. Tod – Ende! Ein
+grauenhaftes Etwas schritt unbeirrbar auf sie zu und warf seinen kühlen
+Schatten voraus.
+
+Sie fröstelte.
+
+Sie mußte sich anstrengen, um eine äußerliche Ruhe zu erzwingen. Sie
+krallte die Finger um die Sessellehnen und schluckte ein paarmal.
+
+„Das alles tut ja nichts zur Sache,“ sagte sie endlich mühsam.
+„Vielleicht sind Sie so gut und teilen mir mit, weshalb man Sie
+eigentlich gerufen hat, und was man über mich beschlossen hat. Denn es
+_ist_ doch irgend etwas über mich beschlossen. Wenn nicht in ein
+Irrenhaus – will man mich dann in ein Kloster sperren, oder in eine
+Besserungsanstalt, oder nach Amerika verschicken?“
+
+Der Arzt lächelte. „Aber nichts von alledem. Sie werden auf einige Zeit
+mit Ihrem Onkel, mit Herrn von Seyblitz, zu seiner Familie fahren. – Sie
+werden in guter Luft und einem ruhigen Leben Ihre Nerven kräftigen und
+werden dann selbständig zu gesunden und willensstarken Entschlüssen
+kommen.“
+
+„Wann soll ich fahren?“ stieß Mette kurz hervor.
+
+„Heute noch!“
+
+„Ich muß doch erst einen Koffer packen!“
+
+„Der wird jetzt während unserer Unterredung schon gepackt!“
+
+Das war das, was sie gefürchtet hatte. Mette fühlte die Mauern, die
+Handfesseln. Sie warf einen Blick um sich wie ein gehetztes, in die Enge
+getriebenes Tier. Nirgends ein Ausweg, nirgends eine Möglichkeit zur
+Flucht.
+
+Man trennte sie von Olga. Das war schlimm, aber nicht das Schlimmste.
+Man tat ihr Gewalt an. Man hätte diese Reise von ihr erbitten sollen,
+man hätte ihr Zeit lassen sollen, Zeit zu einem Abschied, zu einer
+Erklärung, Zeit, ihre Sachen selber einzupacken, ihre Bücher ... jetzt
+war Tante Emilie an ihrer Kommode und packte ihre Sachen ein, wühlte
+darin herum ... in einer Stunde saß sie vielleicht schon im Zug, ohne
+Olga Nachricht geben zu können ... und Onkel Jürgen saß ihr gegenüber
+als Gefangenenwärter ... und was würde unterdessen hier geschehen? mit
+ihrem Schreibtisch ... mit ihren Büchern ... mit Olga ...?
+
+Sie spürte Lust, irgend etwas zu zerreißen, zu zerschlagen, mit dem Kopf
+gegen die Wände anzurennen. Sie tat nichts. Sie stand von ihrem Stuhl
+auf, sehr blaß, sehr ruhig und sagte:
+
+„Also ... ist das nun alles?“
+
+„Es freut mich,“ sagte der Professor, ebenfalls sich aus seinem Sessel
+erhebend, „daß Sie sich mit dieser Reise einverstanden erklären.“
+
+„Einverstanden?“ sagte Mette mit einem verächtlichen Zucken der Lippen.
+„Ich füge mich dem Zwang, weil ich weiß, daß jeder Widerstand nutzlos
+ist. Wenn meine Tante mich hier forthaben will, läßt sie mich in Ketten
+wegschleifen, und mein Vater sieht zu, und alle Gerichte der Welt geben
+ihr recht.“
+
+Der Professor ging an ihr vorüber und machte die Tür auf.
+
+„Fräulein Melitta und ich sind uns ganz einig!“ rief er heiter. „Ich
+habe ihr eine kleine Luftveränderung verschrieben, und sie freut sich
+sehr, ein paar Wochen in Ihrem gastlichen Hause zu verbringen, Herr von
+Seyblitz!“
+
+Onkel Jürgen rieb sich die kräftigen Hände, Franz Rudloff versuchte ein
+farbloses Lächeln, und Tante Emilie machte ein überraschtes und – wie es
+Metten schien – sichtlich enttäuschtes Gesicht.
+
+Sie schoß auf den Professor los und zischte halblaut, aber doch laut
+genug, daß alle es hören konnten:
+
+„Sie sagten mir doch, Herr Professor, daß Sie eine Untersuchung
+vornehmen wollten, um möglicherweise irgendwelche körperlichen Anomalien
+festzustellen ... ich glaube bestimmt ...“
+
+Der Professor versuchte umsonst, sie durch eine leichte Geste der Hand
+und der Augenlider zum Schweigen zu bringen. Es war zu spät.
+
+Mette hatte schon begriffen. Ganz jäh und mit einem Schlage alles
+begriffen.
+
+Sie spürte nur die eine brennende Sehnsucht, dies widerliche Geschöpf da
+unter ihren Händen verenden zu sehen.
+
+Sie wußte nicht, daß sie eine Bewegung machte. Der Boden wich unter
+ihren Füßen zurück. Sie hörte ein Röcheln, das fremd und grauenhaft war,
+und das doch aus ihrer eigenen Kehle kam. Sie spürte, daß ihre Finger
+sich um einen dürren, faltigen Hals krallten und spürte im selben
+Moment, daß eisenfeste Hände ihre Gelenke umklammerten, so fest
+umklammerten, daß das Blut ihr in den Adern zu stocken schien, und ihr
+war, als müßte sie ersticken.
+
+Sie fühlte, daß sie diese Folter nicht einen Herzschlag länger ertragen
+konnte.
+
+„Loslassen!“ knirschte sie. „Loslassen!“
+
+Der Arzt gab sofort ihren rechten Arm frei. Eine Sekunde später Onkel
+Jürgen den linken.
+
+Jetzt fing die Haut über den Gelenken an zu schmerzen. Sie rieb sie ganz
+mechanisch. Sie fühlte sich müde, ruhig, zerschlagen.
+
+Der Gedanke tat ihr fast wohl, daß sie fort sollte, aus diesem Haus, von
+diesen Leuten fort, jetzt gleich, in dieser Stunde noch.
+
+Sie wandte sich mit ihren Fragen nur noch an den Arzt:
+
+„Wann geht der Zug? Wird es nicht Zeit, daß ich mich fertig mache?“ –
+
+Als das Auto vor der Tür stand, fragte der Professor beiläufig:
+
+„Wir haben, glaube ich, denselben Weg. Haben Sie nicht einen Platz im
+Wagen frei?“
+
+Mette sah ihn groß an und lächelte ein wenig spöttisch:
+
+„Sie brauchen gar keine Ausrede, Herr Professor, wenn Sie mich an die
+Bahn bringen wollen. Meine Familie wird auf das Vergnügen verzichten. Es
+ist besser für alle Beteiligten.“
+
+Sie reichte ihrem Vater die Fingerspitzen, die dieser mit beiden Händen
+umschloß.
+
+„Adieu, Papa, laß dir’s gut gehen.“
+
+Tante Emilie zog sich mit gespielter Ängstlichkeit an die Wand zurück,
+als befürchtete sie einen neuen Anschlag auf ihr Leben.
+
+Mette streifte sie nur mit einem verächtlichen Blick. –
+
+Die Bahnfahrt war doch länger, als sie gedacht hatte. Mette sah
+angespannt aus dem Fenster und bemühte sich, die Namen der Stationen,
+jedes Dorf und jedes Bahnwärterhäuschen ihrem Gedächtnis einzuprägen. Es
+wäre doch möglich, daß sie zu Fuß zurück müßte.
+
+Sie hatte kein Geld – ob sie Gelegenheit hatte, Wertsachen zu versetzen
+oder zu verkaufen, war fraglich. Sie sah nach den Kilometerschildern, 87
+Kilometer bis Berlin. Fünf Kilometer in der Stunde schaffte sie glatt.
+Es war nur schade, daß nicht Sommer war. Bei zwei Grad unter Null ließ
+sich’s nicht gut im Freien nächtigen. – – –
+
+ * * * * *
+
+Mette saß in der hellen und freundlichen Mansardenstube auf dem
+Fenstertritt, rauchte eine Zigarette und polierte ihre Nägel.
+
+Auf der weißen Decke des Nähtisches, den Mette zum Toilettentisch
+degradiert oder befördert hatte, lag aufgeschlagen ein kleines, dickes,
+schwarzes Buch: das Neue Testament.
+
+Die Tür wurde aufgemacht, und ihr Vetter Hermann schob sich durch den
+Spalt. Er blieb in der offenen Tür stehen und spielte mit der Klinke.
+
+„Ob du zum Abendbrot runterkommst, oder ob du noch Kopfschmerzen hast?“
+fragte er lakonisch.
+
+„Mach’ die Tür zu, Junge!“ herrschte Mette gedämpft. Sie wollte nicht,
+daß der Zigarettenrauch auf den Treppenflur und in Tante Antoniens feine
+Nase zöge.
+
+Der Junge machte die Tür zu, aber ließ die Klinke nicht los.
+
+„Warum klebst du eigentlich an der Türe?“ fragte Mette belustigt.
+„Bitte, tritt näher. Nimm Platz!“
+
+Der Junge zögerte.
+
+„Wir sollen eigentlich nicht zu dir hinein,“ meinte er. „Aber wenn deine
+Kopfschmerzen besser sind, dann wirst du ja auch nicht mehr so krank
+sein ...“
+
+„Krank?“ sagte Mette verwundert. „Sollt ihr nicht zu mir hereinkommen,
+weil ich krank bin?“
+
+„Ja!“ sagte der Zwölfjährige altklug. „Wegen der Ansteckungsgefahr!“
+
+„Ach, Männe!“ Mette lachte kurz auf. „Die Krankheit, die ich habe,
+steckt ganz gewiß nicht an.“
+
+„Was hast du denn für eine Krankheit?“ Der Junge kam neugierig näher.
+
+Mette zögerte mit der Antwort.
+
+Der Junge warf einen begehrlichen Blick auf die Zigaretten.
+
+„Schenk’ mir eine!“ bettelte er plötzlich.
+
+„Ja,“ sagte Mette rasch. „So viel du willst. Aber du mußt mir einen
+Brief auf die Post bringen, ganz heimlich, so, daß es keiner sieht. Kann
+man sich auf dich verlassen?“
+
+Mette sah ihn scharf und prüfend an. Der Ehrgeiz des Jungen war geweckt.
+
+„Aber!“ sagte er überzeugt, „meinst du, daß ich mich erwischen lasse?
+Ich bin doch nicht dämlich.“
+
+Er bekam den Brief und die Zigaretten und verstaute beides so
+kunstgerecht in der Bluse, daß Mette lächelnd dachte: „Es ist nicht das
+erstemal, daß er da etwas vor Mutters scharfen Augen versteckt.“
+
+Er zögerte noch zu gehen. Er druckste ein bißchen und platzte dann
+heraus:
+
+„Sag’ mir doch, was du für eine Krankheit hast?!“
+
+Mette dachte nach, was sie ihm antworten sollte. Ihr Blick fiel auf das
+Zigarettenetui.
+
+„Weißt du, Männe,“ sagte sie nach einer Weile, „mich hat ein Skorpion
+gestochen. Nun ist mein ganzes Blut vergiftet. Und du weißt doch: gegen
+Skorpionengift hilft nur Skorpionengift. Und hier gibt es keinen
+Skorpion. Aber daß es ansteckt, das ist ein Aberglaube. Das sind die
+Phalangien, die so giftig sind, daß man sich ansteckt, wenn man sich im
+Waschwasser eines Gestochenen wäscht. Das hat deine Mutter verwechselt.“
+
+„Es ist nicht ansteckend?“ fragte der Junge und wagte sich noch ein
+Schrittchen näher.
+
+„Nein!“ Mette schüttelte den Kopf mit einem wehen Lächeln. „Ich glaube
+wohl, daß es _tödlich_ sein kann – aber ansteckend ist es nicht.“ – – –
+
+ * * * * *
+
+Der kleine Hermann, der den Brief mit viel Heimlichkeit und
+Wichtigtuerei nach der Post besorgte, war fest überzeugt, daß es ein
+Liebesbrief sein müsse, den man ihm anvertraut hatte. Er wäre sehr
+erstaunt gewesen, wenn er erfahren hätte, daß in dem Brief mehr von ihm,
+von dem kleinen Hermann selbst, die Rede war, als von Liebe.
+
+„... Ich habe die Kinder meines Onkels früher gehaßt“ ... das schrieb
+sie, nachdem sie von den Begebenheiten der letzten Tage eine sachliche
+Schilderung gegeben hatte. „... Ich hatte keinen Grund, sie zu hassen,
+als daß sie so abstehende Ohren hatten. Sag’ mir, Liebes, wodurch bin
+ich ein so ganz anderer Mensch geworden? Ich sehe jetzt Charaktere in
+jedem kindischen Benehmen, und ich sehe Schicksale, die an diese
+Charaktere unlöslich festgekettet sind. Ich sehe, daß die kleine Annemie
+einmal ein schweres Leben haben wird – nicht nur, weil sie abstehende
+Ohren hat – und darum habe ich immer das Gefühl, ich möchte ihr helfen,
+ich möchte ihr schenken, um die paar glücklichen Stunden in ihrem Leben
+zu vermehren ...
+
+Ich habe eine Entdeckung gemacht, Olla. Du wirst mich auslachen. Meine
+Tante Antonie hat den Bücherschrank vor mir verschlossen und hat mir das
+Neue Testament aufs Zimmer gelegt. Ich habe sie in Verdacht, sie wollte
+mich damit strafen. Vor einem Jahr hätt’ ich es voll Empörung an die
+Wand geworfen und wäre gar nicht auf den Gedanken gekommen, daß man es
+lesen könnte. Und jetzt habe ich mich so damit befreundet! Was ist das
+doch für ein herrliches Buch! Aber ich mache mich lächerlich vor Dir mit
+meiner Entdeckung. Gibt es wohl etwas Schönes auf der Welt, was Du nicht
+kennst und liebst?“ – – –
+
+ * * * * *
+
+Onkel Jürgen und Tante Antonie waren aufs angenehmste überrascht von
+Mettens Betragen. Sie hatten ein widerspenstiges Kind erwartet, das sie
+nötigenfalls unter Anwendung von Gewalt zähmen mußten und fanden eine
+junge Dame von formvollendeter Liebenswürdigkeit. So wirkte es peinlich,
+sie überall zu beschränken und zu beaufsichtigen, und man gewährte ihr
+eine Freiheit nach der anderen.
+
+Mette nutzte diese Freiheiten aus und traf Vorbereitungen zur Flucht.
+Sie hatte Tag und Nacht keinen anderen Gedanken, und die dauernde
+Beschäftigung mit diesen Plänen stimmte sie zu fast ausgelassen-heiterer
+Erregung.
+
+Es handelte sich vor allem darum, sich Geld zu verschaffen. Mette
+verkaufte von ihren Sachen, was ihr irgend entbehrlich schien. Aber das
+brachte nicht genug. Sie fing an, Sachen aus dem Haushalt zu
+verschleudern. Es war schwierig und unpraktisch. Erstens konnte es
+herauskommen, ehe sie fort war, dann war alles verloren, und zweitens
+lohnte es nicht die aufgewendete Mühe, und es tat ihr auch leid,
+wertvolle Dinge um einen Spottpreis wegzugeben.
+
+Eines Tages empfing Onkel Jürgen mit der Post eine größere Summe, die er
+in Mettens Gegenwart in den Schreibtisch einschloß.
+
+Mette starrte wie hypnotisiert auf den verschlossenen Kasten. Da war
+alles, was sie brauchte, aber wie dazugelangen?
+
+Sie lag eine ganze Nacht, ohne Schlaf zu finden, oder auch nur zu
+suchen. Ihre Gedanken arbeiteten fieberhaft.
+
+Nachts den Schreibtisch gewaltsam erbrechen. Es ging kein Zug mehr, der
+sie dann vor Tagesanbruch in Sicherheit brachte.
+
+Einen Wachsabdruck des Schlosses nehmen. Der Schlosser würde Verdacht
+schöpfen, wenn sie sich einen Schlüssel danach machen ließ.
+
+Das Schlüsselbund stehlen? Man würde es sofort vermissen und das ganze
+Haus durchsuchen.
+
+Den Schreibtischschlüssel vom Bund lösen? Man würde auch das Fehlen
+dieses einen wichtigsten Schlüssels sofort bemerken.
+
+Am anderen Tag holte sich Mette vom Schlosser ein halb Dutzend
+Schlüssel. Sie erzählte eine Geschichte von einem verlorenen
+Schrankschlüssel und freute sich fast darüber, wie sicher und unbefangen
+sie ihre Märchen vortrug.
+
+In der Nacht schlich sie hinunter und probierte die gekauften Schlüssel.
+Sie hatte die Form und Größe des Schlüssels sich gut gemerkt. Fast alle
+ließen sich ins Schloß schieben. Aber keiner schloß.
+
+Am anderen Tag erbat sie die Schlüssel, um ein Buch aus der Bibliothek
+zu nehmen. Während sie vor dem Bücherschrank kniete, löste sie den
+Schreibtischschlüssel vom Bund. Einen bereitgehaltenen, der ihm
+äußerlich gleich sah, fügte sie an seine Stelle.
+
+Sie nahm ein Buch aus dem Schrank, ohne zu wissen, welches.
+
+In dem Augenblick, in dem sie Onkel Jürgen das Schlüsselbund zurückgab,
+glaubte sie, er müsse das rasende Schlagen ihres Herzens spüren. Sie
+fühlte, daß ihr Gesicht weiß aussehen mußte wie Kalk und bemühte sich,
+mit steifgefrorenen Lippen zu lächeln.
+
+Der Onkel nahm ihr die Schlüssel ab, ohne von seiner Zeitung aufzusehen
+und ließ sie mit einem flüchtigen „Danke!“ in die Hosentasche gleiten.
+
+Mette packte ihren Handkoffer und gab eine Depesche auf. In der
+Dämmerung schaffte sie den Handkoffer nach der Bahn.
+
+Um halb acht wurde zu Abend gegessen. Um halb neun ging der Zug.
+
+Mette klagte während des Essens über Kopfschmerzen. Der Onkel gab ihr
+auf ihre Bitte ein Pyramidon und empfahl ihr, sich gleich hinzulegen.
+
+Mette sagte: „Gute Nacht!“ während die anderen noch bei Tisch saßen.
+
+Um vom Eßzimmer nach dem Treppenflur zu kommen, mußte sie durch das
+dunkle Wohnzimmer. Während sie aus dem Nebenzimmer die Stimmen hörte und
+jeden Augenblick das Stuhlrücken der Aufstehenden zu hören glaubte,
+schloß sie das Schreibtischfach auf und stopfte eine Handvoll Scheine in
+ihre Bluse.
+
+Im Treppenflur hing ihr Mantel schon vorsorglich bereit. Sie schlüpfte
+hinein und öffnete die kleine Hintertür, die an der Küche vorbei in den
+Garten führte. Vorne an den Fenstern des Speisezimmers vorbeizugehen,
+wagte sie nicht.
+
+Über das niedrige Gartenstaket sich zu schwingen, war keine
+Schwierigkeit. Noch einmal sah sie sich um. Von dieser Seite war das
+Haus ganz dunkel. Sie horchte. Keine Tür ging, kein Fenster klirrte.
+Dann wandte sie sich und lief wie gejagt querfeldein – dem Bahnhof zu. –
+– –
+
+ * * * * *
+
+Während der Bahnfahrt kämpfte sie manchmal mit einer qualvollen
+Bangigkeit. Sie sah sich verfolgt, gefesselt – der Zug schien
+unerträglich langsam zu fahren, auf allen Stationen über Gebühr zu
+halten.
+
+Sie hatte mitunter das Gefühl, daß es besser wäre, auszusteigen und zu
+laufen, vorwärtszujagen, bis Atem und Muskelkraft versagten, als so in
+untätiger Unrast gefangen zu sein und zu warten, bis die träge Maschine
+sie ans Ziel brachte.
+
+Mit einem plötzlichen Erschrecken dachte sie an die Möglichkeit, daß ihr
+Telegramm nicht zur Zeit angekommen sein könne oder Olga nicht zu Hause
+getroffen habe.
+
+Was sollte sie nur um Gottes willen anfangen, wenn Olga nicht an der
+Bahn war!
+
+Nach Hause zu fahren, war eine Unmöglichkeit. Sie glaubte schon
+Zwangsjacke und Handschellen zu spüren.
+
+In der Nacht zu Olga? An einem fremden Haus klingeln, die Leute in der
+Pension wecken? Mit welchem Recht?
+
+Ihr blieb nichts übrig, als sich für die Nacht in einem Hotel
+einzumieten. Aber wo war sie sicher? Morgen früh würde man überall nach
+ihr suchen. Ihr graute vor dem, was ihr dann bevorstand.
+
+Und ihr graute vor der einsamen Nacht in einem fremden Zimmer.
+
+Es kamen Augenblicke, wo sie verwundert ihrem eigenen Tun gegenübersaß
+und erschrak vor ihrer eigenen Kühnheit. Wo sie bei einer Bewegung
+plötzlich das Knittern der Scheine in ihrer Bluse fühlte und voll
+Staunen und fast voll Bewunderung sich fragte: „Herrgott, wie hab’ ich
+das eigentlich fertiggebracht?“ – – –
+
+ * * * * *
+
+Um elf Uhr zwanzig lief der Zug in den Bahnhof ein. Licht und Lärm in
+der dröhnenden Halle, deren weite Wölbung sich im Dunkeln verlor, waren
+fast noch beängstigender als die schweigende Nacht auf den Feldern.
+
+Aber da war Olga Radó.
+
+Zwischen hastenden, suchenden, hin und her wimmelnden Menschen stand sie
+ganz ruhig, noch ein wenig höher gereckt als sonst. Zwischen dummen,
+stumpfen, mißgeformten, vor Aufregung verzerrten Gesichtern leuchtete
+ihr weißes, klares Gesicht. Unter den dunklen, wie drohend
+zusammengezogenen Brauen hervor schimmerten die scharfen Augen und
+flogen prüfend an der Wagenreihe entlang.
+
+Mette stieß die Tür auf, ehe noch der Zug hielt. Sie bahnte sich
+rücksichtslos einen Weg, stieß ihren Handkoffer den Leuten in die
+Kniekehlen, streckte ihr die Hand entgegen, nein, griff nach ihr, wie
+ein Fallender nach einem Halt und rief zwischen Lachen und Weinen:
+
+„Olga!“
+
+Olgas Gesicht, das sich erst jetzt mit jäher Wendung ihr zudrehte, blieb
+ernst. Nicht der Schimmer eines Lächelns flog über die gespannten Züge.
+
+„Mette!“ sagte sie mit ihrer tiefen Stimme. „Kind! Was machst du für
+Dummheiten!“
+
+Mette erschrak ein wenig. Nicht sehr. Ein anderer Empfang wäre ihr
+lieber gewesen – aber was taten ihr diese Worte oder der Ton der Worte.
+Olga war da. Sie sah ihr Gesicht, sie hielt ihre Hand, sie hörte ihre
+Stimme.
+
+Nun war alles gut.
+
+„Bist du böse?“ fragte Mette mit lachenden Augen, ohne Olgas Hand
+loszulassen. „Wenn du jetzt schon böse bist, alter Philister, dann wag’
+ich gar nicht zu erzählen, was ich alles ausgefressen habe!“
+
+„Ich bin nicht böse,“ sagte Olga ernsthaft, „ich lehne nur jede
+Verantwortung ab. Wenn du durchgehst, ist das deine Sache. Ich habe dich
+nicht mit einem Wort, mit einem Blick dazu verleitet. Ich habe nichts
+davon gewußt. Das möchte ich nur von vornherein konstatieren.“
+
+„Ja,“ sagte Mette, „aber nachdem du das nun konstatiert hast, kannst du
+mir vielleicht sagen, ob es dir persönlich angenehm oder unangenehm ist,
+daß ich hier bin.“
+
+„Wenn ich ehrlich sein soll,“ sagte Olga mit einem halben Lächeln und
+ohne Metten anzusehen, „so ist es mir nicht unangenehm; aber ich bin
+eigentlich ein bißchen verzweifelt. Hast du vielleicht darüber
+nachgedacht, was nun mit dir werden soll?“
+
+Mette hatte daran gedacht. Darüber nachgedacht? – Nein, das war wohl
+nicht das richtige Wort. Sie hatte die Vorstellung gehabt, daß sie zu
+Olga käme, um bei Olga zu sein, um bei Olga zu bleiben. Sie hatte sich
+in Olgas behaglichem Zimmer gesehen – in dem einzigen Zimmer, in dem sie
+je glückliche Stunden verlebt hatte – hatte sich da verbergen wollen,
+nie auf die Straße gehen, nie nach Hause gehen – nun fühlte sie das
+Unsinnige dieser Gedanken und wagte sie den klugen Augen gegenüber nicht
+auszusprechen.
+
+„Ich weiß nicht,“ sagte sie kleinlaut. „Ich weiß nur, daß ich nicht nach
+Hause kann, nie, nie, nie, nie! Ich kann mir ja eine Stellung suchen als
+Kindermädchen, als Kellnerin – was weiß ich!“
+
+„Dazu hättest du eigentlich ebensogut bleiben können, wo du warst. Sie
+werden dich ja nicht gerade geprügelt haben oder Hunger leiden lassen.
+Oder glaubst du, daß du als Kindermädchen sehr viel mehr Freiheit haben
+wirst?“
+
+„Ja,“ sagte Mette trotzig, „dann hab’ ich wenigstens meinen freien
+Sonntag, wo mir kein Mensch verbieten kann, mit dir zusammen zu sein!“
+
+„Meinetwegen!“ Olga blieb stehen und schloß einen Moment wie in
+tödlichem Erschrecken die Augen. „Du bist geradezu grausam, Mette.
+Fühlst du denn nicht, wie ungeheuer du mich damit belastest? Ich kann
+diese Verantwortung nicht tragen, ich kann nicht!“
+
+Sie standen immer noch auf dem Bahnsteig, der jetzt von den wimmelnden
+Menschenmassen fast geleert war. Nur ein paar Nachzügler strebten noch
+nach dem Ausgang.
+
+Mette fühlte sich müde und zerschlagen und empfand den leichten
+Handkoffer wie eine Zentnerlast. Die kühle Zugluft in der weiten Halle
+machte sie frösteln.
+
+„Wollen wir nicht zehn Minuten in den Wartesaal gehen?“ fragte sie
+bedrückt. „Vielleicht fällt mir bei ruhiger Überlegung irgend etwas ein,
+was ich tun könnte. Aber wenn du zu müde bist, kannst du ja auch ruhig
+nach Hause gehen!“
+
+„Ja,“ sagte Olga kurz, „und dich hier die Nacht allein auf dem Bahnhof
+sitzen lassen! Du bist wohl ganz verrückt, mein liebes Kind?“ – – –
+
+ * * * * *
+
+Sie saßen in dem leeren Wartesaal und wärmten sich die kalten Finger an
+den heißen Teegläsern. Mette erzählte die Geschichte ihrer Flucht. Sie
+nahm die zerknitterten Geldscheine aus ihrer Bluse und stopfte sie in
+die Tasche.
+
+Mette hatte fast erwartet, daß Olga lachen würde. Während sie erzählte,
+kam ihr selber die Sache ungeheuer komisch und abenteuerlich vor. Aber
+Olgas Gesicht blieb tiefernst.
+
+„Und nun?“ fragte sie.
+
+„Ich gehe in ein Hotel!“ sagte Mette eigensinnig.
+
+„Und ich?“
+
+„Du gehst in deine Pension!“
+
+„Ich lasse dich nicht allein.“
+
+„Komm mit,“ sagte Mette mit dem Aufblitzen einer Hoffnung.
+
+„Ja,“ sagte Olga bitter, „und morgen früh kommt die Polizei und bringt
+uns in Gewahrsam. Ich danke. Dann hab’ ich dich womöglich zu schwerem
+Einbruchsdiebstahl verführt.“
+
+„Weißt du,“ sagte Mette, nach einer Pause des Nachdenkens, „dann müssen
+wir’s schon machen wie richtige Defraudanten. Uns in den nächsten Zug
+setzen und weiterfahren. Einfach auf irgendeiner Station aussteigen und
+in ein Hotel gehen. Von da aus schreib ich dann an meinen Vater und
+bitte ihn vor allen Dingen, die Geldangelegenheit in Ordnung zu bringen.
+Vielleicht ist er auch sonst vernünftig, und ich kann mich irgendwie mit
+ihm einigen. In einem halben Jahr bekomme ich ja mein Vermögen
+ausgezahlt, von meiner Großmutter her. Wenn mir mein Vater bis dahin
+nichts gibt, mache ich eben Schulden daraufhin, das muß doch irgendwie
+gehen. Also“ – Mette sah nach der großen Abfahrtstafel – „um zwölf Uhr
+vier geht der nächste Zug!“
+
+Olgas Gesicht verlor den strengen Ausdruck. Eine große Freude lachte aus
+ihren Augen. Aber sie zögerte noch.
+
+„Du bist doch ganz verrückt!“ sagte sie. „Ohne Nachthemd und ohne
+Zahnbürste!“
+
+„Wäsche habe ich genug,“ sagte Mette eifrig. „Eine Zahnbürste können wir
+in Buxtehude auch kaufen!“
+
+„Was du für Ideen hast!“ sagte Olga langsam.
+
+Mette sah, daß sie schon halb überwunden war.
+
+„Großartige Ideen!“ sagte sie strahlend. „Äußerst reizvolle Ideen.
+Findest du etwa nicht?“
+
+„Ja, aber ich wäre nie darauf gekommen,“ sagte Olga betont. „Du hast
+mich überredet. Es ist ausschließlich deine Idee!“
+
+„Selbstverständlich! Ich bin viel zu stolz darauf, um mir die
+Autorschaft von irgend jemand streitig machen zu lassen.“ – – –
+
+ * * * * *
+
+Der Zug zwölf Uhr vier war ein Personenzug. Sie saßen allein in einem
+Nichtraucherabteil, das dämmerig erhellt war durch die zur Hälfte blau
+verdeckte Glaskugel an der Decke. Sie bemühten sich vergebens, diesen
+Lichtschirm zurückzustoßen, um die Leuchtkraft des Gasflämmchens voll zu
+entfachen.
+
+„Laß nur gut sein,“ scherzte Mette. „Es ist gut, wenn wir im dunklen
+Coupé sitzen, dann können uns unsere Verfolger nicht gleich von draußen
+erkennen.“
+
+Mette war so voll übermütiger Freude, daß sie diesen Gedanken zu einer
+lustigen Komödie ausspann und auch Olga mit fortriß.
+
+Sie spielten Flucht. Sie duckten sich, wenn draußen einer vorbeiging.
+Sie atmeten erlöst auf, als der Zug abfuhr. Mette veränderte ihre
+Haartracht, um nicht erkannt zu werden. Sie „bestach“ den Schaffner mit
+der „Summe“ von drei Mark, damit er niemand hineinlassen sollte. Und
+ängstigte sich nachher, daß die Höhe des Trinkgeldes sie unzweifelhaft
+als Defraudanten verdächtig machen würde.
+
+„Weißt du,“ sagte Mette geheimnisvoll, „wir dürfen natürlich nicht da
+aussteigen, wohin wir Karten genommen haben. Dann sind sie uns ja sofort
+auf der Spur. Wir steigen einfach bei irgendeiner Station aus.“
+
+„Ja,“ sagte Olga, „bei der siebenten. Sieben ist eine heilige Zahl!“
+
+Mette glühte vor Begeisterung. „Ist das schön! Ist das wundervoll! Wir
+fahren – und wissen nicht wohin! Wir steigen aus – und wissen nicht wo!
+Wir wachen morgen früh in einer fremden Stadt auf – und wissen nicht,
+wie sie heißt.“
+
+„Wie das klingt!“ sagte Olga und machte ihr nach. „Wie eine ganz
+tiefsinnige Angelegenheit. Wir leben – und wissen nicht wie! Wir lieben
+– und wissen nicht warum! Wir sterben und wissen nicht wann!“
+
+„Nein,“ sagte Mette, „dein ‚wann‘ weiß ich nicht. Gott sei Dank! Aber
+das ‚warum‘ weiß ich. Gott sei Dank!“
+
+Es flog ein leichter Schatten über Olgas Gesicht, als ob sie nicht hören
+wollte, was Mette sagte.
+
+„Ich habe mir früher immer so glühend gewünscht zu wissen, wann ich
+sterbe,“ sagte sie nachsinnend. „Ich finde es so ungerecht, daß man
+absolut nicht weiß, wieviel Zeit einem zur Verfügung steht. Man müßte
+doch die Möglichkeit haben, sich einzurichten. Ich habe meine Freundin
+beneidet, die an der Schwindsucht gestorben ist. Sie wußte genau: So
+viel ist jetzt noch von meiner Lunge vorhanden – so lange kann ich noch
+leben, wenn ich geize, wenn ich mich schone – ich kann aber auch
+verschwenden und den Rest auf einmal wegwerfen. Schön muß das sein. Du
+weißt ja: Ich kann nie aus meinem Zimmer fortgehen, ehe es nicht
+aufgeräumt ist, weil ich doch immer die fixe Idee habe, wer weiß, ob ich
+wiederkomme. Mir ist der Gedanke schrecklich, daß ich einmal aus dem
+Leben fort muß und alles in Unordnung hinterlasse.“
+
+Metten waren die Tränen nahe. Sie wollte die Traurigkeit, die sie
+quälte, verbergen und verscheuchen und sagte mit erzwungener Derbheit:
+
+„Du bist wohl ganz verrückt, ja? Vielleicht suchst du dir zu dieser
+melancholischen Nachtfahrt ein anderes Gesprächsthema aus?! Sonst setz’
+ich mich so lange ins Nebencoupé, bis du mit deinen Meditationen fertig
+bist!“
+
+„Kind!“ sagte Olga lächelnd und griff nach ihrer Hand. „Du hast ganz
+recht. Schimpf nur tüchtig. Das kommt von dem blöden Orakeln.“
+
+„Orakeln?“ fragte Mette erstaunt.
+
+„Kennst du das noch nicht an mir? Ich mach’s doch wie die alten
+Bauernweiber, die in allen schwierigen Lebenslagen mit der Stricknadel
+in die Bibel stechen und sich dann irgendeinen Rat herausdeuten.“
+
+„Du hast ja gar keine Stricknadeln!“ sagte Mette lachend.
+
+„Nein – eine Bibel nebenbei auch nicht. Eine Bibel muß etwas Ererbtes
+sein. Eine zu kaufen, hat gar keinen Wert. Aber es muß ja zu diesem
+Zweck keine Bibel sein – ich nehme einfach irgendein Buch und schlage es
+auf. Es ist merkwürdig, was für klare Antworten man manchmal bekommt.
+Ich habe heut’ auch gefragt ... als deine Depesche kam ... ob ich nach
+der Bahn gehen sollte ...“
+
+„Na, und?“ fragte Mette erwartungsvoll.
+
+„Ach ... es ist ja alles Unsinn ...“ sagte Olga mit einem gequälten
+Lächeln. Sie drehte den Kopf und sah angelegentlich aus dem Fenster in
+die schwarze Nacht, die draußen vorbeiflog.
+
+„Sicher ist es Unsinn,“ sagte Mette herzlich. „Aber es quält dich doch.
+Wenn du es aussprichst, wirst du erst einsehen, _wie_ unsinnig es ist.
+Sag’ es mir doch – dann lachen wir beide darüber.“
+
+Olga wandte ihr das Gesicht wieder zu. Sie mühte sich, ein unsicheres
+Lächeln festzuhalten.
+
+„Als Radomonte Gozaga in Genua einzog – in irgendeinem Rachefeldzug –
+ich weiß nicht, in welchem – da trug er ein Wams, auf dem ein Skorpion
+gestickt war und darunter sein Spruch: _Qui vivens laedit, morte
+medetur._ Ist das noch keine Antwort?“
+
+Mette faßte nach Olgas Hand. Sie mußte erst einen Schleier zerreißen,
+den die schwer gesprochenen Worte über sie gebreitet hatten.
+
+„Du bist ja verrückt!“ sagte sie. Aber ihre Stimme klang nicht klar. Sie
+mußte eine plötzliche Heiserkeit wegräuspern. – – –
+
+ * * * * *
+
+Das Knirschen der Bremse lief unter den Wagen durch.
+
+„Die sechste Station!“ sagte Mette geheimnisvoll mit großen Augen. „Die
+nächste ist unser Schicksal. Gebe Gott, daß es keine große Stadt ist!“
+
+Als der Zug sich wieder in Bewegung setzte, fingen sie an, sich zum
+Aussteigen fertigzumachen. Die nächste Haltestelle konnte in zehn
+Minuten oder in einer Stunde erreicht sein. Sie wußten es nicht.
+
+Sie hatten den Handkoffer auf den Sitz heruntergehoben und standen
+nebeneinander an der Tür, die Stirn an die Scheibe gelegt, bemüht, mit
+den scharfen Augen das vorübersausende Dunkel zu durchdringen.
+
+„Es ist viel Wald in der Gegend,“ sagte Olga. „Nadelwald.“
+
+„Ja,“ frohlockte Mette, „darin gehen wir morgen spazieren.“
+
+Der Wald hörte auf. Schiefergrauer, wolkiger Himmel schied sich von weit
+hingebreiteten, sanft gehügelten dunklen Feldern. Wieder Bäume, erst
+vereinzelt, dann dichter schwarzer Wald, der bis an den Bahndamm
+herantrat und nicht ein Streifchen Himmel mehr über den Gipfeln sehen
+ließ.
+
+Wieder wurden die Bäume spärlicher, verschwanden. Wieder breiteten sich
+Felder in breiten Flächen. Aber in einer Entfernung, die man nicht
+schätzen konnte, wie eingebettet zwischen den sanft geschwungenen
+Linien, blinkte ein winziges Licht. Noch eins ... und noch eins ...
+
+„Da ... da! Da!“ rief Mette entzückt. „Ob wir das sind?“
+
+„Seltsam,“ sagte Olga, „vielleicht ist eins von diesen Lichtern morgen
+unser helles Fenster. Und vielleicht hat man nach zehn Jahren ein
+Heimatsgefühl, wenn man an diesen Lichtlein vorüberfährt. Und jetzt hat
+man keine Ahnung, wie der Ort da heißt!“
+
+Ein Bahnwärterhäuschen glitt vorüber. Hier und da gleißte ein Stück der
+blanken Schienen im Lichtschein einer Laterne auf. Wieder traten
+Baumbestände bis dicht an den Zug, aber gelichteter, von vielen Wegen
+durchzogen. Dann lief eine Hecke ein Stück mit. Dann vor der
+beschnittenen Hecke ein hellgestrichenes Holzstaket. Dahinter, ganz nah,
+dunkelten schon die Umrisse einzelner Häuser. Nun kamen trüb brennende
+Laternen, eine Barriere, die eine dunkle, baumbestandene Chaussee
+abschloß.
+
+Wieder ein Stückchen Wald oder Garten, im Hintergrund aufblinkend ein
+Lichtlein nach dem anderen – schon fuhr der Zug langsam, knirschte,
+puffte – hölzerne Säulen schoben sich heran, die ein schmales Schutzdach
+trugen ... er hielt.
+
+Olga griff nach dem Handkoffer, drückte die Klinke auf und sprang die
+hohen Stufen hinunter.
+
+Mette folgte ihr in einem seltsamen Traumzustand befangen. Sie war durch
+die beiden schlaflosen Nächte überwach, und ihre Sinne schienen,
+tausendfach geschärft, jeden Eindruck aufzunehmen.
+
+Der dünne Hauch von Reif, der den Boden, die Holzstangen überzog, die
+groben Gesichter von zwei bäuerlich gekleideten Frauen, die an ihnen
+vorüberhasteten, der langgezogene Ruf des Schaffners, das gemächliche
+Zuschlagen der Türen, die roten Hände des Mannes an der Sperre, die aus
+gestrickten Pulswärmern herauswuchsen, der kleine dämmerige Raum mit
+papierbeklebten Wänden und abgescheuerten Holzbänken, durch den sie
+hindurch mußten, das Pfeifen des abfahrenden Zuges in ihrem Rücken – das
+alles prägte sich ihrem Gehirn mit unauslöschlicher Deutlichkeit ein.
+
+Olga stieß eine Tür auf, trat ein paar steinerne Stufen hinunter, und
+sie standen auf dem holperigen Steinpflaster eines großen Platzes, der
+von dem Licht des Bahnhofs schwach erhellt war.
+
+Rechts und links war tiefes Dunkel. Soviel man unterscheiden konnte,
+kahle zerzauste Laubbäume, ungepflasterte, aufgeweichte, leicht
+überfrorene Wege.
+
+Geradeaus sah man in einiger Entfernung etwas, das aussah wie der Anfang
+einer Straße.
+
+Olga blieb stehen und sah Metten lächelnd an.
+
+„Nun,“ sagte sie, „graust’s dich schon? Was gäbst du darum, wenn du
+jetzt zu Hause unter der Daunendecke lägst und das elektrische Licht
+anknipsen könntest?“
+
+„Gar nichts!“ sagte Mette trotzig. „Im Gegenteil, ich finde es hier
+äußerst gemütlich. Und wenn wir kein Unterkommen finden, so wäre es mir
+doch nur deinetwegen schlimm. Ich hab’ dich ja zu dieser Exkursion
+verleitet!“
+
+„Ach, meinetwegen!“ sagte Olga wegwerfend. „Meinetwegen können wir die
+Nacht im Bahnhof auf den Holzbänken zubringen. Aber wenn du ängstlich
+bist, kehren wir um und fragen den Mann an der Sperre nach einem
+Gasthaus.“
+
+„Nein,“ drängte Mette. „Nicht fragen! Komm vorwärts.“
+
+Nach ein paar hundert Schritten fingen die Häuser an. Dunkel,
+verschlafen, ohne ein helles Fenster. Und ein wenig vereinzelt noch, von
+Gärten und Ackerstreifen umgeben. Aber der Weg war mit Katzenköpfen
+gepflastert, und nach einer Biegung rückten die Häuser näher zusammen,
+schlossen sich zur Straße, die von flackernden Laternen beleuchtet
+wurde.
+
+Die Straße erweiterte sich zu einer Art Marktplatz. Es war ein
+nüchternes Vieleck, ohne jedes malerische Gepräge, ohne Linden und ohne
+rieselnden Brunnen. An einer Seite fand sich ein langgestreckter,
+niedriger, grauer Kasten mit breit herunterreichendem Dach und vielen
+Mansardenfenstern. Über der breitgewölbten dunkeln Toreinfahrt
+schaukelte ein blecherner Stern, einem Barbierbecken nicht unähnlich,
+und darüber ließ eine große blaue, am schön geschwungenen Arm schwebende
+Laterne die aufgenagelten Buchstaben über dem Rundbogen erkennen.
+
+„Hotel zum blauen Sternen. Gasthaus und Ausspann.“
+
+„Sogar Hotel,“ sagte Olga, „sieh mal an!“
+
+Sie suchten nach einer Nachtglocke. Aber sie fanden noch nicht einmal
+eine Tür. Neben der Einfahrt war ein Handgriff, der an einer verrosteten
+Eisenstange eine große Glocke in Bewegung setzte. Aber er war in kaum
+erreichbarer Höhe. Mette bemühte sich.
+
+„Laß nur,“ sagte Olga, „der ist nicht für armselige Fußgänger wie wir.
+Außerdem wecken wir die ganze Stadt. Laß uns lieber einmal von der
+Innenseite versuchen.“
+
+Sie wagten sich in die dunkle Höhlung des Tors. Aber sie kamen nicht
+weit. Noch ehe der Gang sich zum Hof öffnete, versperrte ein riesiger
+Leiterwagen den Weg. Aber neben dem Wagen fanden sich ein paar Stufen
+und eine kleine hölzerne Tür in der Wand. Sie ertasteten einen
+Metallknopf, zogen an ihm und lösten damit ein kräftig schepperndes
+Geklingel aus, das sie fast zusammenschrecken ließ, so jäh zerschnitt es
+die tiefe Stille.
+
+Schritte, Stimmen, ein Lichtschein.
+
+Ein verschlafener Mensch erschien in der offenen Tür, Pantoffeln an den
+nackten Füßen, in Unterhosen von graugelber Wolle, über die er höchst
+merkwürdigerweise einen Frack gezogen hatte, den er mit der linken Hand
+unterm Kinn zusammenhielt, während er in der erhobenen Rechten einen
+brennenden Wachsstock trug.
+
+Olga übernahm die Führung der Verhandlung.
+
+Sie erzählte dem schlaftrunkenen Mann eine lange Geschichte von dem Zug,
+mit dem sie eben eingetroffen, und daß ihr das Hotel zum blauen Sternen
+schon in Berlin empfohlen, sie bedauerte, ihn in seinem Schlaf gestört
+zu haben, aber der Zug käme zu so ungünstiger Zeit hier an, und sie
+hätten doch nicht auf der Straße bleiben können, und am Bahnhof hätte
+man sie natürlich auch hierher gewiesen.
+
+Der Mann ermunterte sich so weit, daß er „Einen Augenblick, bitte!“
+sagte, verschwand und sie stehen ließ.
+
+Sie sahen sich lachend an und warteten geduldig. Nach einer Weile wurde
+oben auf der Treppe eine in offener Schale brennende Gasflamme
+entzündet, und der Mann erschien wieder, jetzt mit schwarzen Hosen
+angetan.
+
+Daß er ein kragenloses Wollhemd und weder Weste noch Strümpfe anhatte,
+hinderte ihn nicht, eine gewisse Gewandtheit der Bewegungen zu zeigen,
+die ihn sofort als den „Ober“ verriet.
+
+Er führte sie in ein großes dunkles und kaltes Zimmer, schwang sich auf
+einen Polstersessel und entzündete eine Gasflamme. Es war entschieden
+das Fürstenzimmer des blauen Sternen.
+
+Die hohen und breiten Betten, das wuchtige Plüschsofa verschwanden fast
+in dem weiten Raum. Zwischen den Fenstern prangte ein großer
+goldgerahmter Spiegel, auf dessen Konsole ein Makartstrauß unter einer
+Glasglocke stand, und die Wände zierten zahlreiche Buntdrucke, die
+meisten in dicken Goldrahmen.
+
+Der „Ober“ bückte sich und steckte einen Gasofen an. Eine ganze Reihe
+spitzer blauer Flämmchen puffte auf, spiegelte sich in einer Nische aus
+gerieftem Kupfer und warf einen warmen rötlichen Schein auf den
+abgeschabten Teppich.
+
+„Herrlich!“ sagte Olga und warf ihre Handschuhe auf den großen, runden,
+plüschüberdeckten Tisch. „Jetzt wird es auch noch warm hier, dann ist es
+einfach ideal. Nein, Herr Ober, wir brauchen weiter nichts. Danke schön,
+wenn wir morgen früh vielleicht auf dem Zimmer frühstücken können? –
+Hier ist die Klingel – ja, herrlich. Danke schön! Gute Nacht!“
+
+Die Tür schloß sich hinter ihm.
+
+„Wundervoll!“ sagte Olga und reckte übermütig die Arme.
+
+„Ist das dein Ernst?“ fragte Mette zaghaft. „Ich denke immer, dein
+Schönheitssinn muß Qualen leiden! Diese Bilder ... und das Makartbukett
+und die Plüschgarnitur ...“
+
+„Prachtvoll!“ sagte Olga. „Das _muß_ doch überhaupt so sein. Ich wäre
+geradezu enttäuscht, wenn diese kämpfenden Hirsche nicht hier wären,
+oder die duftigen Empiremädchen unter dem blühenden Apfelbaum. Glaubst
+du, ich möchte im Hotel zum blauen Sternen Chippendale-Möbel finden oder
+einen Kokoschka? Gott soll mich bewahren! Ich finde es einfach
+himmlisch!“
+
+Mette packte den Handkoffer aus, breitete Nachthemden über die Betten,
+stellte Flaschen und Dosen auf den Waschtisch. Olga ging mit unhörbaren
+Schritten im Zimmer hin und her, pfiff mit leisen, süßen Flötentönen vor
+sich hin, blieb vor jedem Bild stehen, betrachtete es mit kindischem
+Entzücken und erzählte eine lange romantische Geschichte dazu.
+
+„Hier!“ sagte Mette und legte ihren seidenen Kimono über einen Stuhl,
+„den kannst du anziehen.“
+
+„Und du?“
+
+„Ich hab’ noch einen Frisiermantel, der genügt mir.“
+
+Olga legte Rock und Bluse ab und wickelte sich in den Kimono.
+
+„Wundervoll,“ sagte sie, „nun müßte ich nur noch warme Füße haben und
+die Haarnadeln aus dem Kopf. Dann bin ich wunschlos glücklich.“
+
+Sie rollte einen Sessel vor den Gasofen und fing an, sich die hohen
+Stiefel aufzuschnüren.
+
+„Soll ich dir helfen?“ fragte Mette dienstbereit.
+
+„Das fehlte noch!“ sagte Olga empört. „Nicht einem Dienstmädchen würd’
+ich das zumuten!“
+
+„Das ist auch etwas anderes,“ sagte Mette lächelnd. „Es ist eine
+Auszeichnung, die man einem Dienstmädchen nicht gönnen darf.“
+
+„Du bist ja verrückt!“ Über Olgas Gesicht schoß wieder das dunkle
+flüchtige Rot.
+
+Sie hatte jetzt auch die dünnen seidenen Strümpfe abgestreift und hielt
+die nackten Füße gegen die Flammen. Sie hob die Arme und zog langsam
+Nadel auf Nadel aus dem Haar, bis die schweren schwarzen Strähnen ihr
+über den Rücken stürzten.
+
+Mette sprang auf einen Stuhl und drehte die Gasflamme aus.
+
+„So!“ sagte sie lachend, „nun kannst du dich malen lassen oder gleich
+öldrucken und dich goldgerahmt an die Wand hier hängen. Unterschrift:
+_Au coin du feu_, oder die Hexe, oder Feuersgluten, oder sonst was
+Gutes. Wie kann ein Mensch so unverschämt schön sein?!“
+
+„So!“ sagte Olga trocken. „Das hast du hübsch gemacht. Jetzt haben wir
+keine Streichhölzer.“
+
+„Erstens genügt mir die Beleuchtung,“ sagte Mette und setzte sich auf
+die Erde in den rötlichen Feuerschein, „und zweitens können wir uns hier
+immer einen Fidibus anstecken. Wenn wir nichts anderes finden, nehmen
+wir einen Hundertmarkschein. Davon haben wir ja genug ... Kind, was hast
+du für märchenhafte Füße ... aber kalt sind sie immer noch wie Eis!“
+
+Sie legte beide Hände um Olgas Fuß. Er war so edel geformt, so schön in
+Linie und Farbe, als hätte eine Meisterhand ihn aus Marmor gebildet,
+aber er war auch so kalt und schwer wie Stein.
+
+Mette versuchte, ihn in ihren Händen zu wärmen, sie hauchte darauf, und
+dann konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, sie legte die Lippen
+auf die kühle, glatte, weiße Haut.
+
+Olga machte sich los, sprang auf und lief durch das dunkle Zimmer bis
+nach dem Fenster.
+
+„Olla,“ sagte Mette erschrocken und stand zögernd auf. „Was ist dir
+denn? Was hast du denn?“
+
+Es kam keine Antwort. Mette ging ihr nach. Aber als sie ans Fenster kam
+und die Hand nach ihr streckte, lief Olga wie gejagt nach der Wand.
+
+Sie stand in die Ecke gedrückt und Mette vertrat ihr den Weg.
+
+Das schöne blasse Gesicht schimmerte unheimlich durch das Dunkel. In den
+angespannten Zügen lag Angst und Drohung zugleich, wie bei einem
+angeschossenen Tier, das sich umstellt sieht und sich verzweiflungsvoll
+zur Wehr setzt.
+
+Mette erschrak vor dem Ausdruck des gepreßten Mundes, der dunkel
+lohenden Augen. Sie legte zaghaft die Hand auf Olgas über der Brust
+gekreuzte Arme.
+
+Olga zuckte zusammen und drückte sich tiefer in die Ecke.
+
+„Geh doch!“ sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen. „Laß mich doch in
+Ruh!“
+
+„Du sollst nicht mit den nackten Füßen auf der bloßen Diele stehen,“ bat
+Mette, den Tränen nahe. „Du erkältest dich zu Tode. Ich will ja nichts,
+als daß du dich an den Ofen setzest. Dann kann ich mich ja auf den
+Korridor vor die Tür schlafen legen, oder ich kann mir ein anderes
+Zimmer geben lassen, oder ich kann aus dem Fenster springen. Aber komm
+aus der Ecke heraus, ich kann es nicht mehr mit ansehen.“
+
+Sie faßte sie an beiden Schultern, aber Olga schüttelte ihre Hände von
+sich ab.
+
+„Laß mich doch!“ sagte sie böse. „Siehst du denn nicht, daß du mich zu
+Tode marterst? Wie kann ein Mensch so wahnsinnig grausam sein?“
+
+Die Stimme brach ihr, und ganz jählings stürzten die Tränen über ihr
+Gesicht.
+
+Jetzt konnte sich Mette nicht mehr beherrschen. Auch ihre Augen liefen
+über.
+
+„Ich verstehe dich nicht!“ sagte sie mit zitternden Lippen. „Wenn ich
+dir so zuwider bin, daß du mich nicht erträgst, warum bist du dann hier?
+Warum gibst du dich dann überhaupt mit mir ab? Man kann nicht einen
+Menschen gern haben, dessen Nähe einen derart quält! Ich weiß ja aber
+auch, warum du mich nicht leiden kannst!“
+
+„Warum?“ fragte Olga erstaunt.
+
+Mette schüttelte stumm den Kopf und kämpfte die Tränen hinunter.
+
+„Warum soll ich dich nicht leiden können?“ forschte Olga drängender.
+„Antworte! Ich will das jetzt wissen.“
+
+Mette vermied es immer noch, sie anzusehen.
+
+„Weil ich dich zu sehr liebe!“ sagte sie bitter und traurig. „Es muß
+furchtbar sein, von einem Menschen geliebt zu werden, den man nicht
+liebt! Beinah ekelhaft!“
+
+„Du Schaf,“ sagte Olga und strich ganz weich mit der Hand über Mettens
+Haar.
+
+„Ach, laß,“ sagte Mette und entzog sich der streichelnden Hand. „Man muß
+sich nicht zwingen.“
+
+Olga ließ den Arm schwer herabsinken.
+
+„Man muß sich doch zwingen,“ sagte sie leise und mühsam atmend. „Wenn
+ich mich jetzt nicht zwingen würde, würd’ ich dich so mit Zärtlichkeiten
+ersticken, daß du zu Tod erschrecken tätst und davonlaufen.“
+
+Mette fühlte die Adern in ihrem Hals schlagen, daß sie kaum atmen
+konnte. Sie versuchte zu lächeln, während noch die Tränen von ihren
+Lidern rollten.
+
+„Tu es nicht,“ sagte sie, „ich würde ganz bestimmt nicht davonlaufen.
+Aber vielleicht würde ich wahnsinnig vor Glück!“
+
+Da hob Olga langsam die beiden weißen, schlanken Arme und legte sie um
+Mettens Schultern. Mette fühlte den wohltuend kraftvollen Druck fester
+und fester werden.
+
+Jetzt, da Olga auf bloßen Füßen stand, waren ihre Gesichter fast in
+gleicher Höhe.
+
+Sie bohrten die Augen ineinander, ernsthaft und unverwandt und spürten
+in allen Adern das rasende Hämmern ihrer Herzen.
+
+Dann neigten sie sich gegeneinander wie zwei Verdurstende und legten
+Mund auf Mund.
+
+Sie ließen einander nicht mehr los. Sie küßten sich nur immer durstiger
+eins am anderen. Sie gingen durch das Zimmer aneinandergeschmiegt, sie
+saßen auf dem Bettrand ineinander verschlungen. Die Kleider glitten von
+ihnen nieder, achtlos, blieben auf der Erde liegen.
+
+Die groben und feuchten Laken atmeten Schauer der Kühle. Sie spürten es
+kaum, so brannte das Blut in ihren jungen Leibern.
+
+Sie drängten sich aneinander, als wollten sie ineinander übergehen,
+verschmelzen, eins werden.
+
+Ihre schlanken, geschmeidigen Glieder flochten sich ineinander, wie
+Bäume des Urwalds unlöslich sich ineinander verschlingen.
+
+Sie sprachen nichts. Aber wie rauschende Musik hörte eines des anderen
+dröhnenden Herzschlag und das rasche und raschere Atmen.
+
+Ihre Leiber bäumten sich gegeneinander wie wilde Tiere, wenn sie an
+Käfiggittern rütteln. Sie gruben einander die Nägel in die Glätte der
+Haut und schlugen einander die Zähne in die geschwellten Muskeln.
+
+Und sie lagen aneinandergeschmiegt wie müde gespielte Kinder, und ihre
+Lippen berührten des anderen Lider und Wangen so sanft, so leise, wie
+Schmetterlingsflügel schwankende Blüten.
+
+„Kleines,“ sagte Olga, und alle Glocken schwangen in ihrer Stimme. „Mein
+Schönes, mein Gutes!“
+
+„Oh, du!“ sagte Mette. „Du Wunder des Himmels. Was bist du nur? Bist du
+ein wildes Tier ... oder ein Gott ... oder der Geist einer weißen
+Orchidee?“
+
+„Ich weiß nicht,“ sagte Olga. „Ich glaube, daß ich ein Gott bin. Aber
+vor einer Stunde war ich ein armes gepeinigtes Tier. Bist du nicht
+stolz, kleines Mädchen, daß du solche Wunder tun kannst?“
+
+„Ich wollte, ich könnte Wunder tun,“ sagte Mette sehnsüchtig.
+
+Ein hartes Lächeln flog um Olgas Mund.
+
+„Dann würdest du mich in einen Mann verwandeln!“ sagte sie.
+
+„Um Gottes willen!“ rief Mette und schlang erschrocken beide Arme um
+sie. „Nie, nie, nie! ... Aber wenn ich Wunder tun könnte, so würde ich
+diese Nacht niemals aufhören lassen. Ich würde sie dauern lassen in alle
+Ewigkeit!“
+
+Der rote Schein des Kupfers hinter den Gasflämmchen erhellte das ganze
+Zimmer mit warmem Dämmerlicht. Die spitzen Flämmchen zitterten leicht,
+und der helle Fleck auf dem bunten abgetretenen Teppich zitterte mit.
+
+Olga richtete sich auf den Ellbogen auf und stützte den Kopf in die
+Hand. Zwischen den weißen Fingern hindurch rieselten die Strähnen des
+schwarzen Haares. Aus dem blassen Gesicht leuchteten die helldunklen
+Augen in unendlicher Hoheit und Klarheit wie zwei Sterne.
+
+„Ewig!“ sagte sie leise. „Alles, was Gottes ist, ist ewig. Fühlst du
+nicht, daß diese Nacht Gott gehört? Zeit ist eine Erfindung des Teufels.
+Der Satan hat die Vergänglichkeit erfunden, um die Menschen von Gott
+abtrünnig zu machen. Aber Gott blieb ewig, und Gottes Herrlichkeit
+bleibt ewig. Da hat Satan alles mögliche andere erfunden: Krankheit,
+Schmerz, Ungeziefer und Geld ... vor allem das Geld. Aber nun war Zeit
+da und Vergänglichkeit da. Und ließ sich nicht wieder ungeschaffen
+machen. Und haftet nun an allen Erfindungen des Teufels. Aber, was
+Gottes ist, ist ewig. Immer verlöscht neues Glück die alte Qual, als
+wäre sie nie gewesen. Aber das Glück bleibt. Und keine Qual kann es
+ungeschehen machen. – Ich würde sterben vor Scham, wenn ich dächte, daß
+nur die Nervenenden unserer Haut unter unseren Händen vibrieren. Spürst
+du nicht, daß deiner Seele etwas geschehen ist, was ihr bleiben muß über
+allen Tod hinaus? Spürst du nicht, daß diese Stunde dich weit mehr
+verändert hat, als dich das bißchen Sterben verändern kann?“
+
+„Ja,“ sagte Mette. „Und mehr als das bißchen Geborenwerden auch. Heut’
+bin ich geboren worden und nicht vor zwanzig Jahren. Jetzt kann ich zum
+erstenmal mit Bewußtsein sagen: Ich lebe!“
+
+„Wir leben!“ sagte Olga, sie an sich reißend, mit einem Aufjauchzen in
+der Stimme, das klang wie der frohlockende Ruf eines auffliegenden
+Wildvogels.
+
+„Wir leben, Süßes. Ewig, ewig, ewig leben wir!“ – – –
+
+ * * * * *
+
+Als Mette am anderen Morgen aufwachte, schien eine helle, fröhliche
+Wintersonne ins Zimmer.
+
+Ihr erster Gedanke suchte Olga. Sie war nicht da. Auch ihr Mantel hing
+nicht mehr am Haken. Ein jähes Erschrecken schlug sie. Sie war fort, für
+immer, kam nicht wieder, war unwiederbringlich verloren.
+
+Mette sprang aus dem Bett, mit einemmal hellwach.
+
+Da sah sie Olgas Hut und Handschuhe. Sie nahm die Handschuhe vom Tisch,
+streichelte sie und preßte sie an die Wange. Von dem weichen grauen
+Leder schien ein Strom von Freude und Beruhigung auszugehen. Es war kein
+Traum und kein Zauberspuk. Sie war dagewesen, sie würde wiederkommen –
+noch zeigten die Handschuhe die Form ihrer schönen schlanken Hände,
+waren noch wie erfüllt von ihrem Leben ...
+
+Von unten herauf drang ein wohlbekanntes knirschendes und schrapendes
+Geräusch.
+
+Mette lief auf bloßen Füßen zum Fenster und zog den dicken weißen
+Köpervorhang ein wenig zur Seite. Auf den Fensterbrettern lag ein dickes
+Polster von weißem Schnee. Die niedrigen Häuser drüben hatten Dächer von
+blendendem Weiß und darüber funkelte ein Himmel von reinstem Blau.
+
+Vorm Hotel kratzte der Hausknecht mit dem Schneeschieber einen dunklen
+Weg in den weißen Teppich, und neben ihm stand Olga, den Mantel offen,
+beide Hände in den Taschen vergraben, den Kopf ein wenig vorgeneigt und
+führte eine angelegentliche Unterredung mit dem alten Mann.
+
+Mette sah eine Weile hinunter und freute sich an jeder Linie ihrer
+Gestalt. Sie sah sie sprechen und glaubte den Ton ihrer Stimme zu hören.
+Sie dachte darüber nach, was sie sich mit dem Hausknecht wohl zu
+erzählen haben könne. Sie bewunderte die Gabe an ihr, mit allen Leuten
+ein Gespräch anzuknüpfen und jedem gegenüber den richtigen Ton zu
+treffen.
+
+Mette kannte das an ihr. Wenn sie bei Laune war, wirkte sie so
+unwiderstehlich, daß der brummigste Kellner oder Schaffner sie
+anstrahlte.
+
+Nach ein paar Sekunden sah Olga plötzlich hinauf, sie mußte Mettens
+Blick gefühlt haben. Sie sah Metten am Fenster stehen oder sah
+vielleicht auch nur die verschobene Gardine, winkte mit der Hand und
+lief ins Haus.
+
+Sie brachte einen Hauch von frischer Schneeluft ins Zimmer. Ihre Augen
+waren hell und durchsichtig wie Eis und hoben sich scharf ab von der
+schwarzen Pupille, und auf ihrem weißen Gesicht lag ein ganz leichter
+Schimmer von rosiger Farbe.
+
+„Wo kommst du her, du Rumtreiber?“ fragte Mette.
+
+„Ausgeschlafen, mein Deern?“ fragte Olga zur Antwort. „Ich war schon
+spazieren. Ich war in der Stadt. Ich wollte dir Blumen auf den
+Frühstückstisch stellen. Aber Blumen im Winter – so sündhafte Dinge
+kennt man hier nicht. Herr Thielemann hat nur Stechapfelkränze mit
+Wachsrosen. Aber eine Konditorei ist da drüben, so mit einer
+Geländertreppe vor der Tür, weißt du? Und einem goldenen Kringel in der
+Luft! Und es roch nach frischem Brot. Mach dich schnell fertig,
+Mettulein, ich habe einen wahnsinnigen Hunger.“
+
+Sie frühstückten auf dem Zimmer.
+
+Dann drängte Mette zum Spazierengehen. Schnee und Sonne lockten sie
+hinaus.
+
+„Du mußt erst an deinen Vater schreiben,“ sagte Olga ernsthaft.
+
+„Ja,“ sagte Mette und schnitt eine Grimasse. „Du willst keine
+Verantwortung übernehmen – ich weiß schon.“
+
+Sie setzte sich hin und schrieb einen langen und wohlüberlegten Brief.
+Sie bat um Verzeihung. Sie schilderte die Vorgänge bei Onkel Jürgen mit
+viel Humor. Sie nannte ihren Aufenthalt, bat ihren Vater herzlich, sie
+hier zu lassen, wo sie sich wohl fühle und niemandem im Wege sei. Bat
+ihn, ihr zu glauben, daß sie ein reifer und klarer Mensch sei und genau
+wisse, was zu ihrem Besten wäre. Bat ihn, das Geld, das Onkel Jürgen ihr
+unfreiwillig geliehen, zurückzuzahlen – die kurze Zeit bis zu ihrer
+Mündigkeit sie zu unterstützen oder ihr einen Vorschuß auf das
+großmütterliche Erbe auszahlen zu lassen. – Aber davon, daß sie nicht
+allein sei, schrieb sie kein Wort.
+
+Sie trugen den Brief zusammen nach der Post. Olga wußte schon den Weg
+dahin. Als der Umschlag in den blauen Kasten versenkt war, atmete sie
+auf und nahm Mettens Arm.
+
+„Komm,“ sagte sie, „was zu tun war, ist getan. In drei Tagen kann die
+Antwort da sein. Aber die drei Tage wollen wir genießen.“
+
+„Glaubst du,“ sagte Mette mit finsterer Stirn, „daß eine Macht der Welt
+mich zwingen kann, nach Hause zurückzugehen? Wenn sie mir kein Geld
+schicken, geh ich als Waschfrau oder als Nähmädchen, oder ich mache
+Schulden.“
+
+„Ich weiß nicht,“ sagte Olga. „Ich weiß nur, solange dieser Brief noch
+unterwegs ist, sind wir sicher. Kein Mensch weiß, wo wir sind – das ist
+ein herrliches Gefühl – als ob man hinter Mauern und Gräben säße. Wenn
+der Brief erst angekommen ist, dann ist die Zugbrücke heruntergelassen –
+was dann geschieht, das weiß ich nicht. Nichts weiß ich, nichts, nichts,
+nichts! Aber es ist immerhin möglich, daß wir in Stücke gerissen
+werden.“
+
+„Warum haben wir die Zugbrücke heruntergelassen?“ fragte Mette
+stehenbleibend. „Warum hast du mich gezwungen zu schreiben?“
+
+Olga lächelte schwermütig.
+
+„_Weil ich die Verantwortung nicht übernehmen will!_“ sagte sie, mit
+einem Versuch zu scherzen. – – –
+
+ * * * * *
+
+Sie gingen durch die breiten Straßen mit den kleinen, niedrigen Häusern.
+Einen besonderen Reiz hatte es, die Schaufenster zu betrachten.
+
+Wo ein kleiner Laden sichtbar wurde, mußten sie über den Damm laufen und
+die Auslagen mustern. Da war ein Korbflechter und Bürstenmacher. Da war
+ein Schuhmacher, der einen halbmeterlangen Filzschuh in seinem Fenster
+hatte und daneben einen winzigen nadelspitzen Ballschuh aus verstaubtem
+perlgestickten Rosaatlas.
+
+„Ein Märchen!“ sagte Olga begeistert. „Sieh nur, ein Schuhmacher, der
+Märchen dichtet. Und er weiß es. Ganz sicher, er weiß es!“
+
+Da war ein Geschäftchen mit Kurz-, Weiß- und Wollwaren. Girlanden von
+Handschuhen und Kinderjäckchen hingen im Fenster. Wasserfälle von
+Maschinenspitzen stürzten hernieder. Nähgarne und Häkelwolle legten sich
+zu symmetrischen Figuren. Und überall dazwischen hingen weiße
+Pappschildchen: „Hier werden Puppen zu Weihnachten angezogen.“ „Hier
+werden Gardinen kunstgestopft.“ „Unterricht in allen weiblichen
+Handarbeiten.“ „Hier wird Klavierunterricht erteilt, gründlich und
+gewissenhaft, für Anfänger und Fortgeschrittene.“ „Hier werden Strümpfe
+mit der Maschine angestrickt.“
+
+„Geschwister Basch,“ sagte Olga und sah zu dem Firmenschild auf. „Sicher
+sind es zwei alte Schwestern. Die eine hat einen Mops und die andere
+einen Kanarienvogel. Oh, in solchen Städten gibt es noch Möpse! Die
+eine, die den Klavierunterricht erteilt, das ist eine schönheitsdurstige
+Seele. Sie hat sicher einmal von Ruhm und Beifall geträumt, als sie mit
+fünfzehn ‚_La prière d’une vierge_‘ spielte. Und die andere, die
+praktische, vielleicht von einem Mann und sieben Kindern. Und nun sitzen
+sie hier und trösten sich miteinander. Vielleicht hat die praktische ein
+aufopferungsfreudiges Gemüt und hat den einzigen in Betracht kommenden
+Mann ausgeschlagen, nur um ihre Schwester nicht zu verlassen. Die mit
+dem Klavierunterricht, das ist sicher auch die, die die Puppen anzieht.
+Aber die andere strickt die Strümpfe an. Weißt du, ich möchte in einer
+Novelle den Tag beschreiben, da die Strickmaschine ins Haus kam.
+Wahrscheinlich haben sie zehn Jahre daraufhin gespart – und dann haben
+sie sie gefürchtet und geliebt – so ein bißchen wie Teufelsspuk und
+Feenzauber – ach, vielleicht wäre es gut, ein solcher Mensch zu sein ...
+oder ob sie ganz klein und neidisch und giftig sind?“
+
+Da war ein Kaufmannsladen, ein „Kolonialwarenhändler“, es war
+erstaunlich, was sein Fenster für eine prunkvolle Ausstattung aufwies.
+Getrocknete Aprikosen bildeten Sterne auf weißem Reis. Grotten aus
+Zuckerkand türmten sich auf, mystisch erhellt durch Fenster aus roter
+Gelatine. Da war ein See aus Stanniol, auf dem ein kleiner hohler Schwan
+mit aufgeplatztem Rücken schwamm. Da waren tausend bunte Dinge, und wie
+um die Farbenpracht zu mildern, lag über allem eine gleichmäßige graue
+Staubschicht – eingefressener, unverwüstlicher, wohlberechtigter Staub.
+
+Und dann, ganz am Ende der Stadt, wo die Häuser vereinzelt standen und
+das Pflaster aufhörte und die Hühner gackernd über den Weg liefen, da
+war ein ganz kleiner Laden, der hatte in seinem schmalen Fensterchen
+alles – alles, was das Herz nur begehren konnte. Hohe Gläser mit bunten
+Bonbons und blaue Glanzpapiertafeln mit Zwirnknöpfen, Kränze von
+getrockneten Feigen und Postkarten, auf denen liebende Paare in
+flammenden oder blumenumkränzten Herzen sich küßten. Schnürsenkel und
+saure Gurken, Schuhwichse und Backpulver und irdene Töpfchen und Kämme
+und ...
+
+„Abziehbilder!“ sagte Olga mit andächtigem Entzücken. „Sieh nur, Mette,
+veritable Abziehbilder! Ganz richtig mit dem blauen Hauch darüber, mit
+dem mystischen Schleier, daß man nur ahnen kann, was daraus wird, wenn
+sie abgezogen sind. Oh, es war kein Kachelofen vor meinen Abziehbildern
+sicher! Wer sie immer nur hübsch auf einem Tisch verarbeitet hat, ahnt
+gar nicht, wie schwer es ist, sie auf einer senkrechten Fläche
+anzubringen. Sie waren immer durcheinander gerutscht. Ich glaube, ich
+hatte keine ruhige Hand. Ob ich es jetzt besser könnte? Ich bitte dich,
+Mette, um aller Heiligen willen, geh hinein und kauf mir für einen
+Groschen Abziehbilder – aber ein Bogen mit Schiffen muß dabei sein.“ – –
+–
+
+ * * * * *
+
+Hinter den letzten Häusern fing die Landstraße an: Breit, gerade, mit
+kahlen Bäumen bestanden, schneebedeckte Felder rechts und links, am
+Horizont ein Streifen dunkelblauen Waldes.
+
+Sie schritten scharf aus. Der Schnee knirschte unter ihren Schuhen. Bei
+jedem Schritt flogen krächzende Krähen vor ihnen auf, der Wind rauschte
+in den Telegraphendrähten und blies manchmal eine Schneelast von einem
+Zweiggewirr auf sie herab. Der unberührte, unbetretene Schnee war weich
+wie Watte und blitzte in der Sonne wie zerstoßenes Glas.
+
+Der Wald, der so fern erschienen war, schien ihnen entgegenzulaufen.
+
+Hundert Schritte davor bog die Landstraße ab. Aber ein breiter Weg
+führte hinein. Das Stückchen über das freie Feld war kaum als Weg zu
+erkennen, so schneeverweht war es. Aber drüben tat sich in den hohen
+schneebedeckten Tannen eine Öffnung auf, wie der Eingang zu einem
+Tunnel. Da strebten sie hin.
+
+Als der Wald sie umfing, wurde es mit einem Male still und warm – so
+warm, daß ihre windgepeitschten Gesichter anfingen zu brennen.
+
+Hoch über ihnen in den Wipfeln rauschte der Wind und schüttelte zuweilen
+silberne Sterne auf den dunklen Boden. Aber sein kalter Atem traf sie
+nicht.
+
+Sie wanderten in versunkenem Schweigen. Nur wenn bunte Meisen vor ihnen
+herflatterten oder ein Eichhörnchen an einem Stamm hinaufflitzte, machte
+eines das andere durch ein Flüstern, durch eine Bewegung aufmerksam. Und
+wenn dann ihre Blicke sich trafen, dann blieben sie ineinander hängen,
+bis sie lächelten und die Augen schlossen – – –
+
+ * * * * *
+
+„Aha! Da ist es!“ sagte Olga nach einer guten Weile.
+
+„Was? Wo?“ fragte Mette erstaunt.
+
+Olga wies mit der Hand vorwärts. Zwischen den Stämmen wurde plötzlich
+eine rote Backsteinmauer sichtbar.
+
+„Hast du denn gewußt, wo wir hingehen?“ wunderte sich Mette.
+
+„Natürlich, Kind! Ich werde dich doch nicht aufs Geratewohl in der Irre
+herumführen. Dieses muß nach menschlichem Ermessen der Waldkater sein.
+Im Sommer gibt’s hier Kaffeekochen, Musik und Tanzvergnügen. Im Winter
+kriegen wir vielleicht was zu essen – wenn wir Glück haben. Das hat mir
+alles unser Hausknecht heute früh erzählt. Außer seiner Lebensgeschichte
+– – es gibt so ein schönes Märchen – – Bechstein, glaub’ ich – – von der
+verwunschenen Mühle, wo nur der Esel, die Katz und die Taube sind. Und
+noch irgendein Tier. Siehst du, da fliegt die Taube auf, und da ist die
+Katz. Aber kein Mensch zu erblicken. Graust dir’s schon, Mette? Ganz
+sicher, die Katze will uns was sagen!“
+
+Sie durchschritten eine Art Wirtschaftshof und rüttelten an ein paar
+verschlossenen Türen.
+
+„Es kann nicht ausgestorben sein,“ sagte Olga und deutete auf ein
+Rauchwölkchen, das aus dem Schornstein aufstieg. „Oder die Katz hat
+Feuer angemacht. Aber wenn sie das kann, kann sie uns auch was zu essen
+kochen.“
+
+Sie fanden eine Tür offen. Durch einen leeren und kalten Saal, von
+dessen Decke zerfetzte und verstaubte Papiergirlanden herunterhingen,
+kamen sie an eine andere Tür, die einem Druck auf die Klinke nachgab.
+Dieser nächste Raum war erfüllt von behaglicher Wärme und
+durchdringendem Kohlgeruch. Ein eiserner Ofen fauchte glühende Luft und
+auf ihm brodelte ein blauer Emailletopf mit einem dampfenden Inhalt. An
+einem der Tische, breit aufgestützt, saß eine grobknochige Magd und
+messerte ihr Kohlgericht aus einem blechernen Napf.
+
+„Guten Tag, Fräulein Anna,“ sagte Olga strahlend liebenswürdig. „Na, wie
+geht’s Ihnen denn? Schmeckt’s?“
+
+Das Mädchen stand langsam auf und grinste.
+
+„Ich heiß’ nicht Anna,“ sagte sie, „die vorvorige war die Anna. Ich
+heiß’ Berta.“
+
+„Schön warm haben Sie’s hier, Fräulein Berta.“ Olga zog die Handschuhe
+aus und hielt die Finger vor die Ofenglut. „Und herrlich riecht’s hier
+nach Kraut. Wollen Sie uns nicht was abgeben von Ihrem Mittagbrot?“
+
+Das grinsende Mädchen wischte mit der Schürze über einen Tisch.
+
+„Wenn die Damen was zu essen haben möchten, kann ich ja mal die Frau
+fragen.“
+
+„Herrlich, Fräulein Berta! Und wenn wir was zu trinken kriegen könnten –
+einen Grog oder Glühwein oder sonst so was Gutes.“ Olga blinzte dem
+Mädchen zu, als hätte sie ihr ein Geheimnis anvertraut. „Wir sind
+nämlich mächtig durchgefroren.“
+
+Sie stemmte die Füße gegen den heißen Ofen, daß die nassen Sohlen
+anfingen zu zischen.
+
+„Sagen Sie, was ist eigentlich aus der Anna geworden? Daß ich Sie
+verwechselt habe! Die war ja viel kleiner als Sie!“
+
+„Ja,“ sagte Berta, „die war man schwächlich. Sie hat geheirat’t.“
+
+„Geheiratet?“ sagte Olga überrascht. „Sieh mal an! Dabei war sie doch
+gar nicht mal so hübsch.“
+
+„Ne,“ sagte Berta, „hübsch war sie nich. Un schwächlich war sie auch
+man. Aber sie hatte ’n Mundwerk, ’n Mundwerk hatte sie. Un das sticht
+manch einen ins Auge.“
+
+Olga blieb ganz ernst.
+
+„Na, lassen Sie man, Berta,“ sagte sie begütigend, „Sie werden ja auch
+bald heiraten. Es ist doch immer das beste. Man will ja gerne schuften.
+Aber es ist doch immer was anderes, wenn man für die eigene Wirtschaft
+schuftet.“
+
+„Ja,“ sagte Berta überzeugt und blieb eine Weile gedankenvoll mit
+offenem Munde stehen, „nun will ich aber mal nach was zu essen fragen.“
+
+Damit machte sie kehrt und schoß hinaus.
+
+„Herrlich,“ sagte Olga und witterte wie ein Jagdhund mit erhobener Nase.
+„Es riecht so gut nach Kraut und Hammelfleisch.“
+
+Mette schüttelte den Kopf.
+
+„Ein komischer Kerl bist du,“ sagte sie lachend. „Hier findest du das
+herrlich, und wenn’s in der Motzstraße nach Kohl riecht, kriegst du
+Ohnmachten und Tobsuchtsanfälle.“
+
+„Erlaube mal, das ist vielleicht ein Unterschied, wenn’s in einem
+Berliner Zimmer mit Jugendstilmöbeln und einem Prismenkronleuchter halb
+nach Kohl riecht und halb nach billigem Heliotropparfüm, so erzeugt das
+einen Nervenzustand, der einen direkt zum Selbstmord treiben kann. Hier
+muß es einfach ein bißchen nach Ofendunst riechen und ein bißchen nach
+Schweinestall und kräftig nach Kümmelkohl – das ist gerade das Richtige.
+Wenn meine Freundin Berta hier mit dem Messer ißt, stört mich das gar
+nicht. Aber wenn ich’s im Schweizer Hof in Luzern sehe, könnt’ ich aus
+der Haut fahren.“ – – –
+
+ * * * * *
+
+Die schwarzweiß gefleckte Katze kam ins Zimmer geschlichen.
+
+„Da hast du den Waldkater!“ sagte Olga. „Komm her, Mies! Komm zu mir!“
+
+Die Katze ließ sich greifen und halten. Olga streichelte sie, drückte
+sie an sich, erzählte ihr im Flüsterton lange Geschichten und richtete
+teilnehmende Fragen an sie.
+
+„Daß du Katzen so liebst und Hunde nicht leiden kannst,“ sagte Mette ein
+wenig mißbilligend, „das ist eigentlich bezeichnend für dich!“
+
+Olga hob rasch den Kopf und zog die Brauen hoch.
+
+„Bezeichnend? Wieso?“
+
+„Weil du die Grazie mehr schätzt als die Treue,“ sagte Mette mit einem
+wehmütigen Lächeln. „Weil dir das lieber ist, was heimlich kratzt, als
+das, was sich schlagen läßt und die Hand leckt. Ich glaube, ich muß mich
+in acht nehmen, daß ich dir nicht verächtlich werde.“
+
+Olga schüttelte die Katze von ihrem Schoß herunter.
+
+„Nein, Mette,“ sagte sie mit großen ernsten Augen, „da verkennst du mich
+vollständig. Ich habe eine Antipathie gegen Hunde, aber nicht, weil sie
+treu sind, sondern weil sie schamlos sind. Weil sie ihr Liebesleben auf
+die Straße tragen.“ Der rote Schatten flog wieder über ihr Gesicht.
+„Katzen haben darin mehr Kultur – um dies oft mißbrauchte Wort zu
+mißbrauchen. Es gibt Kerfe, die sich nur in tiefster Nacht, nur in den
+verstecktesten Winkeln paaren – so daß es noch keinem Forscher gelungen
+ist, diesen Prozeß zu beobachten. Ich denke immer, es wird einmal eine
+Zeit kommen, da wird man von den barbarischen Gebräuchen dieser
+Jahrhunderte oder Jahrtausende wie von Märchen erzählen. Denke dir nur,
+wie unendlich komisch das einen feinfühligen Menschen berühren muß: Wenn
+zwei Menschen Sehnsucht haben, miteinander in einem Bett zu liegen, so
+setzen sie einen bestimmten Tag dafür fest. Sie setzen öffentliche
+Institutionen, den Staat und die Kirche, davon in Kenntnis. Sie
+benachrichtigen Freunde und Verwandte, ihre eigenen Eltern, ihre eigenen
+Geschwister! An dem Tag, der dieser Nacht vorangeht, versammeln sie alle
+Leute um sich, die sie nur irgend kennen, sitzen Hand in Hand und lassen
+sich betrachten, umgeben sich mit Leuten, die gefüttert und getränkt
+werden, bis ihnen übel wird, lassen sich anzügliche Lieder vorsingen und
+anzügliche Reden halten – und fühlen sich vielleicht sogar wohl dabei. –
+Ich habe immer das Gefühl gehabt, Hochzeit zu halten auf die Art, wie
+man das jetzt handhabt, müßte eine Strafe für Schwerverbrecher sein. Es
+ist eine so grausame Quälerei, eine so ausgesuchte Folter ... Mette,
+Kind, tu mir den Gefallen, wenn du dich einmal einem Manne hingeben
+willst, den du liebst, tu’s, wenn dir danach zumute ist und nicht an
+einem vorher festgesetzten Tag – tu’s ganz heimlich, daß keine lebende
+Seele die Möglichkeit eines solchen Geschehens ahnt ...“
+
+„Ich?“ sagte Mette mit Augen voll traumverlorenen Entsetzens. „Ich?“
+
+„Ja, du!“ sagte Olga lächelnd. „Ach, Kind – meinst du, du hast eine
+Ahnung, was in deinem Leben noch alles geschehen kann?!“ – – –
+
+ * * * * *
+
+Am anderen Tag saßen sie in der Konditorei von Ferdinand Brausewetter am
+Roßmarkt.
+
+Sie hatten einen weiten Spaziergang gemacht und waren hungrig und
+durchfroren.
+
+Nun saßen sie auf dem roten Samtsofa, das mit Häkeldeckchen belegt war,
+als ob es in der guten Stube stünde.
+
+Olga hatte eine – wie sie sagte – „prähistorische“ Nummer der
+„Meggendorfer“ entdeckt und belustigte sich königlich an den harmlosen
+Witzen.
+
+Eine dicke behagliche Frau mit glatten grauen Scheiteln und einer
+gutgestärkten weißen Schürze, die noch vom Wäscheschrank her die
+scharfen Kniffe zeigte, brachte ihnen dampfenden Kaffee in einer braunen
+Bunzlauer Kanne und duftenden frisch gebackenen Kuchen.
+
+Dann, als die frühe Dämmerung fiel, steckte sie eine Gasflamme an.
+
+Da die Lampe zu hoch war und sie sich einen Stuhl herbeiholte, sprang
+Olga auf, um ihr zu helfen.
+
+Sie kamen in ein Gespräch, und die freundliche Frau blieb an ihrem Tisch
+stehen, um ein wenig zu schwatzen.
+
+Olga lobte den Kuchen, sprach vom Wetter, von der Stadt – dann rückte
+sie einen Stuhl.
+
+„Aber Frau Brausewetter, setzen Sie sich doch ein bissel zu uns, wenn’s
+Ihre Zeit erlaubt. – Sie wissen so gut Bescheid hier, ich hätt’ mich
+gern noch nach Verschiedenem erkundigt.“
+
+Mette folgte mit stummer Verwunderung der Unterhaltung, die sich
+entspann.
+
+Olga erkundigte sich angelegentlich nach dem Papiergeschäft an der
+anderen Seite des Marktes. Eine Tafel zeigte an, daß das Grundstück samt
+gutgehendem Geschäft zu verkaufen sei. Sie hatten es schon in der
+Zeitung inseriert gelesen ...
+
+„Im Kreisanzeiger wohl?“
+
+„Ja, natürlich im Kreisanzeiger,“ ... und sie wären hergekommen, um es
+sich anzusehen und sich erst mal unter der Hand zu erkundigen ... ob
+denn das Geschäft ginge? Und warum es eigentlich zu verkaufen sei? Ein
+Garten wäre wohl nicht bei dem Haus?
+
+Doch, ein kleiner Garten mit alten Birnbäumen und einer Fliederlaube –
+durch den Treppenflur könne man ihn sehen.
+
+Und sie möchten eine Leihbibliothek mit dem Geschäft verbinden – ob das
+wohl lohne?
+
+Frau Brausewetter war Feuer und Flamme für diesen Plan. Das hätte sie
+den Kilians schon immer gesagt. Aber sie hätten nie was reinstecken
+wollen ins Geschäft. Und hätten gemeint, die Anschaffung der Bücher
+rentiere sich nicht. Aber es würde sich ganz gewiß rentieren; denn den
+ewigen Journallesezirkel hätten sie alle schon über. Und die Frau
+Bürgermeisterin hätte neulich schon gesagt ...
+
+„Denke dir!“ sagte Olga, als sie über den dämmerigen Marktplatz nach dem
+Hotel hinüber schritten. „Alte Birnbäume und eine Fliederlaube. Und
+nichts zu sehen von der Straße aus! Ein altes häßliches graues Häuschen.
+Ich habe in solchen Städten im Sommer in alle Haustüren geguckt. Dann
+sieht man so oft jenseits der Treppe eine zweite Tür und wenn die offen
+steht, so ein Stückchen Hof oder Garten mit blühendem Flieder. Dann hab’
+ich immer so ein ganz starkes Gefühl von Neid oder Sehnsucht gehabt.
+Vielleicht hab’ ich gewußt, daß ich noch mal in so einem Haus ende. Oder
+daß ich ihm ganz nahe komme und daran vorüber muß.“
+
+„Aber Olga!“ sagte Mette und blieb vor Erstaunen mitten auf dem Platz
+stehen. „Möchtest du denn da enden? Ich habe immer das Gefühl, du machst
+dich lustig über mich und meine Ideale. Wie du der guten Frau
+Brausewetter da die Komödie vorgespielt hast – mir hat sich das Herz
+zusammengezogen vor Sehnsucht, daß das Wahrheit wäre. Ach, wenn ich hier
+bleiben könnte, ein Häuschen mit einem Garten haben und so ein puppiges
+kleines Geschäft mit Schulheften und Ansichtskarten und Bibelsprüchen
+und eine Leihbibliothek – und dich, dich, dich! Von morgens bis abends
+und von abends bis morgens ... aber nach drei Wochen wärst du mir
+durchgegangen und ich säße allein hier ...“
+
+„Glaubst du?“ sagte Olga ohne Spott. „Wie du mich kennst!“
+
+„Ich kenne dich!“ beharrte Mette lächelnd. „Vielleicht kenn’ ich dich
+besser als du dich kennst.“
+
+„Kein Mensch kennt einen anderen,“ sagte Olga in einem müden und
+gleichgültigen Ton und heftete die Augen unter den zusammengezogenen
+Brauen unverwandt auf die blaue Laterne über dem Torweg.
+
+„Aber es läßt sich so wenig dagegen tun ...“ – – –
+
+ * * * * *
+
+Sie hatten nach dem Abendessen noch in dem überheizten Gastzimmer eine
+Partie Schach gespielt und dabei mit viel heimlichem Entzücken den
+Unterhaltungen gelauscht, die die Honoratioren nebenan an ihrem
+Stammtisch führten.
+
+Als sie, die Mäntel überm Arm, an der Treppe anlangten, bat Olga:
+
+„Komm, laß uns noch eine halbe Stunde an die Luft gehen, daß wir nicht
+den ganzen Rauch in Haaren und Kleidern mit hinauf schleppen – das
+heißt, wenn du nicht etwa müd’ bist, natürlich.“
+
+Der häßliche Platz, die nüchternen Straßen lagen in Schnee und Mondlicht
+wie verzaubert da.
+
+Der Himmel war hoch, blauschwarz und so klar, daß er wie erfüllt
+erschien von dem unabsehbaren Gewimmel funkelnder Sterne.
+
+Olga hatte den Kopf tief in den Nacken gelegt. Der Nachthimmel und die
+Gestirne schienen sich in ihren Augen zu spiegeln.
+
+„Unendlichkeit!“ sagte sie leise. „Du glaubst nicht, wie ich dieses Wort
+liebe. Es ist mein Vaterunser und mein Evangelium. Kein Anfang, kein
+Ende. Unendlichkeit der Zeit, Ewigkeit des Raumes. Ich glaube, wenn ich
+ganz klein und verzweifelt wäre, braucht ich nur zu denken:
+Unendlichkeit! Und es wäre wie ein Orgelton, der alles von mir abspült.
+Wird man nicht ganz fromm, wenn man dies Unbegreifliche fühlt? Darum
+lieb’ ich den Sternenhimmel so. Darum lieb’ ich die Nacht so.“
+
+„Mich hat nichts so gequält,“ sagte Mette, „als deine Unendlichkeit. Als
+kleines Kind schon. Ich wollte sie immer begreifen. Ich wollte. Ich lag
+im Bett und stellte mir den Raum vor. Und dann schloß ich einen Kreis
+wie eine Mauer um ihn. Und was war dahinter? Wieder Raum. Ich zog einen
+größeren Kreis. Ringsum war wieder Raum. Ich dachte manchmal, ich müßte
+verrückt werden, wenn all der Raum in mein armes kleines Gehirn
+hineinstürzen wollte.“
+
+„Das ist ja das Schöne, daß es etwas gibt, was wir nicht begreifen
+können. Nicht der Gelehrteste und nicht der Gefühlvollste. Das eine
+Unbegreifliche ist Bürgschaft für tausend Möglichkeiten. Wenn es
+Ewigkeit gibt, warum nicht Unsterblichkeit, Seligkeit, Göttlichkeit?
+Warum nicht eine Liebe über aller irdischen? Alles wissen sie, alles
+erklären sie. Wie die Spermatozoen ins Ei dringen, beobachten sie, und
+Sterne machen sie ausfindig, von denen das Licht achtzig Millionen Jahre
+braucht, um zu uns zu gelangen, und Theorien stellen sie auf, worin sie
+Liebe durch Fortpflanzungswillen und Sympathie durch Geruchsnerven
+begründen. Von allem reißen sie den Schleier des Mysteriums. Sie wissen,
+wie wir entstehen und wie wir vergehen und warum wir lieben. Aber wenn
+sie dich quälen und du ihnen nicht glauben willst, dann sag’ dir ganz
+leise: Unendlichkeit! Und fühle, daß es Dinge gibt, die über aller
+Vernunft sind. Kein Lebender kann sie erfassen ... Aber die Toten
+vielleicht. Oder die Sterbenden schon. Darum lächeln die Toten alle. Sie
+lächeln alle so erlöst und überlegen, als wollten sie sagen: ‚Herrgott,
+ist das lächerlich einfach‘ ... Ich freue mich manchmal auf den Moment,
+wo man die Stufe hinaufsteigt, daß man endlich über die Mauer sehen
+kann.“
+
+„Freu’ dich nicht zu sehr,“ sagte Mette und griff wie in Angst nach
+ihrer Hand, „ertrag nur die Mauer noch eine Weile.“
+
+„Kind,“ sagte Olga weich, „ich sehe ja die Mauer nicht. Sie ist ganz und
+gar von Rosen überhangen.“ – – –
+
+ * * * * *
+
+Auch am anderen Morgen war noch kein Brief aus Berlin da.
+
+„Gesegnete Post!“ sagte Olga. „Sie kommt hier nur einmal am Tage.“
+
+Mette schüttelte den Kopf. „Ich versteh’ dich nicht. Ich hab’ erst die
+richtige Ruhe, wenn Antwort da ist. So sitzt man ja doch immer auf dem
+_qui vive_ oder dem Pulverfaß oder ähnlichem! Wenn wir wissen, woran wir
+sind, können wir uns danach richten. Ich muß dann eventuell an den
+Rechtsanwalt schreiben, der der Testamentsvollstrecker meiner Großmutter
+war. Der wird mir sicher eine Summe vorschießen, von der wir das halbe
+Jahr leben können, bis ich mündig bin. Aber ich wollte, ich hätte alle
+diese Dinge schon hinter mir.“
+
+Olga spielte mit den Fransen der Tischdecke und lächelte.
+
+„Warum lächelst du so?“ fragte Mette.
+
+„Weil du so weitgehende Pläne machst. Dein Vater wird schreiben: ‚Komm!‘
+Und dann wirst du kommen.“
+
+„Du weißt ganz genau, daß das ausgeschlossen ist!“ sagte Mette fast
+zornig.
+
+Olga stand mit einem Ruck auf und ging ans Fenster.
+
+„Vielleicht schick’ ich dich auch!“ sagte sie hart. – – –
+
+ * * * * *
+
+Am Nachmittag machten sie wieder einen weiten Spaziergang über die
+Felder. Der frühe Abend überraschte sie, und sie kamen erst in der
+Dunkelheit heim.
+
+Sie gingen auf der Landstraße, hart ankämpfend gegen den Wind und sahen
+vor sich im blauen Dämmern die aufblitzenden Lichter der Stadt.
+
+„Seltsam,“ sagte Olga, „wir gehen nach Hause. Da liegt eine Stadt vor
+uns, deren Namen ich vor drei Tagen noch nicht gekannt habe, und da bin
+ich zu Hause. Da liegt ein Hotelzimmer, in dem vor drei Tagen vielleicht
+noch irgendein Kommis nächtigte, ein Zimmer, in dem nicht ein Möbelstück
+nach meinem Geschmack ist, in dem nicht ein Bild und nicht ein Buch mich
+lockt – und da bin ich zu Hause. Wenn ich an unseren Gasofen denke und
+an den Feuerschein auf dem schäbigen Teppich, dann wird mir so warm, daß
+ich den Wind nicht spüre. Wie muß einem Menschen zumute sein, der
+wirklich ein eigenes Heim hat. Wo er jeden Sessel liebt und die Farbe
+des Teppichs und das Licht der Lampe und jedes Kissen und jedes Bild und
+jede Tasse.“
+
+„Das könntest du doch haben,“ sagte Mette.
+
+„Ich?! – Nie, nie, nie!“
+
+„Doch!“ sagte Mette etwas zaghaft. „Wenn du Geduld hättest ... in einem
+halben Jahr.“
+
+Olga lachte kurz auf. „Kind!“ rief sie und drückte Mettens Arm fester an
+sich. „Liebes, süßes, wundervolles, kleines Geschöpf! In einem halben
+Jahr! Wo bist du da und wo bin ich da? Vielleicht bist du verheiratet –
+und ich bin tot.“ – – –
+
+ * * * * *
+
+Als sie in das Zimmer traten, leuchtete von der dunklen Tischdecke etwas
+Weißes ihnen entgegen. Mette nahm es auf und lief damit ans Fenster. Der
+Schein einer Laterne draußen gab ein schwaches Licht.
+
+Es war ein dringendes Telegramm.
+
+„Mach hell, bitte!“ bat sie mit ein wenig unsicherer Stimme.
+
+Sie riß das Papier auseinander.
+
+Sie las es in dem Dämmerlicht am Fenster. Sie las es noch einmal bei der
+aufflammenden Gaslampe. Es änderte sich nicht.
+
+„Dein Vater vom Schlage getroffen. Sein Ableben stündlich zu erwarten.“
+
+Sie reichte das offene Telegramm, ohne ein Wort zu sagen, Olga hinüber
+und ging an ihr vorbei nach dem Ofen.
+
+Sie hielt die Hände vor die Glut und war erfüllt von der seltsam
+peinlichen Empfindung, nicht zu wissen, wie sie sich benehmen sollte.
+
+Kein Gefühl quoll unwiderstehlich, jeden Gedanken verdunkelnd, aus ihrer
+Tiefe: weder Schmerz, noch Angst, noch Liebe.
+
+Nur häßliche, quälende Gedanken: „Ich werde hinfahren und zu spät
+kommen,“ dachte sie. „Es wird also ganz unnütz sein, daß ich fahre. Wenn
+er wirklich sterben muß – warum hab’ ich dann nicht lieber die Nachricht
+bekommen, daß er tot ist. Dann würde keine Macht der Welt mich hier
+wegbekommen.“
+
+Sie warf einen verstohlenen Blick auf Olga, die ihr noch immer den
+Rücken zudrehte.
+
+„Sie wird erwarten, daß ich irgend etwas tue,“ dachte sie. „Ich muß mich
+doch irgendwie äußern. Ich glaube, das Natürlichste wäre, wenn ich jetzt
+weinte. Aber ich kann doch nicht. Ich finde es schrecklich, gewiß. Aber
+es ist nichts, was mir die Tränen in die Augen treibt. Was würde Olga in
+meiner Lage tun? Seltsam, wie wenig wir uns eigentlich kennen. Ich weiß
+nicht, was sie tun würde. Und ich weiß auch nicht, was sie von mir
+erwartet.“
+
+Endlich drehte Olga sich um und legte mit einer schönen und merkwürdig
+behutsamen Bewegung das Papier auf den Tisch. Ihr Gesicht war ruhig,
+aber ganz weiß.
+
+„Ich will nach den Zügen fragen!“ sagte sie und schritt still hinaus.
+
+Mette war fast froh, noch einen Augenblick allein zu sein. Sie konnte
+nun in Ruhe überlegen, was zu tun sei. Wenn Olga ging, um nach den Zügen
+zu fragen, so nahm sie als selbstverständlich an, daß Mette mit dem
+nächsten Zug nach Hause fuhr. Es war ja auch wohl selbstverständlich,
+freilich, das war es.
+
+Sie stand seufzend von ihrem Sessel am Kamin auf, stellte den offenen
+Handkoffer zurecht und fing an einzupacken. Dabei flogen ihre Gedanken
+hin und her.
+
+Vielleicht war es gar nicht wahr!
+
+Vielleicht hatte Tante Emilie sich das ausgedacht, um sie nach Hause zu
+locken! Sie ins Gefängnis zurückzulocken!
+
+Wenn doch jetzt eine Depesche von Vater käme, die die erste Nachricht
+widerriefe!
+
+Oder, wenn es doch wahr war – wenn jetzt eine Depesche von Tante Emilie
+käme, daß alles vorbei wäre. Dann brauchte sie nicht zu fahren. Oder ob
+Olga es von ihr verlangen würde?
+
+Wenn doch Olga jetzt heraufkäme und sagte: Es geht kein Zug, heute
+nicht, morgen nicht, nie mehr. Die Züge bleiben im Schnee stecken – oder
+der Bahndamm ist eingestürzt ...
+
+Oder wenn Olga jetzt käme und sagte: Fahr’ nicht! Verlaß mich nicht! Laß
+uns weiterfahren, irgendwohin, wo sie uns nicht finden. Beweise mir, wie
+du mich liebst, gib alles auf. Was ist dir der fremde Mann, der da im
+Sterben liegt? Nichts! Zu mir gehörst du, mein bist du! Ich verlange von
+dir, daß du bei mir bleibst, ich will mich nicht von dir trennen, nicht
+auf eine Stunde mehr.
+
+Ja, das wäre das Schönste. Aber von allem Unmöglichen war es das
+Unmöglichste.
+
+Olga machte die Tür auf. Ihre Bewegungen, obgleich rasch, waren so
+leise, als beträte sie ein Krankenzimmer.
+
+„Um drei Viertel zehn,“ sagte sie und warf einen Blick auf die
+Armbanduhr. „Wir haben also noch reichlich Zeit, einzupacken und etwas
+zu essen.“
+
+In Mette zuckte etwas wie Empörung auf. Sie mußte fahren. Sie wurde
+einfach geschickt. Vielleicht wäre Olga selber an ihrer Stelle nicht
+gefahren. Olga durfte frei handeln und entgegen allem, was Sitte und
+Gebrauch war – aber für Mette galt das Normale, das Alltägliche, das
+Schickliche. Um drei Viertel zehn ging der Zug – sie wurde gar nicht
+gefragt, ob sie ihn benutzen wollte. Es war der nächste Zug, und also
+hatte sie damit zu fahren.
+
+Sie packte mit verbissenem Gesicht ihren Koffer weiter.
+
+„Darf ich dir helfen?“ fragte Olga ernst und sanft.
+
+„Danke!“ sagte Mette kurz.
+
+Der rücksichtsvolle Ton quälte sie. Sie hätte so gern ganz brutal die
+Wahrheit gesagt:
+
+„Du brauchst mich nicht zu behandeln, als wäre ich schwer krank. Das
+Schlimmste an dieser Sache ist für mich, daß wir uns trennen sollen, daß
+ich hier fort soll, daß unser Märchen hier ein Ende hat“ – aber sie
+hatte den Mut nicht, es auszusprechen. Und sie fühlte doch, daß Olga
+sich beinah scheu zurückhielt, so, als hätte sie kein Recht, Metten in
+ihrem heiligen, kindlichen Schmerz zu stören.
+
+Mettens Hände stießen beim Packen zufällig auf einen sorgfältig in
+Seidenpapier gehüllten Gegenstand unten am Boden des Handkoffers. Sie
+riß das Seidenpapier ab, daß die Fetzen zur Erde flatterten und hielt
+das goldene Etui in der Hand.
+
+„O Mette!“ rief Olga mit einem leisen, überraschten Aufschrei. „Da ist
+es ja wieder! Seit wann?“
+
+„Es ist nie woanders gewesen,“ sagte Mette mit einem etwas bedrückten
+Lächeln. „Ich konnte mich nicht entschließen, es in fremde schmutzige
+Hände zu geben. Ich wollte dir eigentlich nichts davon sagen – ich
+wollte es dir zu Weihnachten schenken – aber es ist ja Unsinn – ich will
+es dir lieber gleich geben.“
+
+Mette ging hinüber und legte es in Olgas Hände, die ihr nicht
+entgegenkamen.
+
+Olga hielt es ganz still auf den Flächen der Finger, ohne es zu
+umschließen und sah es mit gedankenschwerem Lächeln an.
+
+„Seltsam,“ sagte sie, ohne die Augen aufzuheben. „Warum jetzt? Warum
+heute? Man sollte nicht abergläubisch sein, aber manchmal ist es schwer
+...“
+
+Mette verstand den Sinn dieser Worte nicht, aber sie fragte auch nicht
+danach. Sie spürte mit zorniger Eifersucht, daß Olgas Gedanken in einer
+Vergangenheit waren, die ihr fern, fremd und verschlossen blieb. Aber
+sie spürte keinerlei Beziehung auf sich selbst.
+
+Es war eine schweigsame Fahrt durch die kalte, dunkle und unfreundliche
+Nacht.
+
+Mette lehnte mit halbgeschlossenen Augen in einer Ecke und sehnte sich
+danach, mit viel Zärtlichkeit getröstet zu werden – aber sie hätte nicht
+gewagt, diese Sehnsucht auszusprechen, auch wenn nicht fremde Menschen
+mit dumm verschlafenen, glotzenden Gesichtern im Wagen gesessen hätten.
+
+Als Mette fröstelte, zog Olga wortlos ihren Mantel aus und legte ihn ihr
+über die Knie. Aber Mette wies ihn fast schroff zurück.
+
+„Laß das, bitte! Ich möchte nicht, daß du dich erkältest!“
+
+Olga nahm den Mantel fort. Aber sie zog ihn nicht an. Sie legte ihn
+neben sich auf das Polster, mit einer so achtlosen Bewegung, als sei er
+zu nichts mehr nütze. – – –
+
+ * * * * *
+
+In der Wohnung roch es nach Krankheit und Tod. Die Mädchen saßen
+schlaftrunken mit verschwollenen Augen und stumpfen Gesichtern herum.
+
+Überall brannte Licht. Aber nicht helles, heiteres, strahlendes Licht,
+nur immer eine einzelne Lampe, die ein oder zwei Räume dämmerig
+erhellte. Die Türen standen offen oder waren angelehnt – man sah, daß
+nicht Nacht war in dieser Wohnung. Daß niemand schlief, daß unablässig
+hin und her gelaufen wurde. Und durch die offenen Türen drang das
+gleichmäßige röchelnde Atmen des Sterbenden in alle Räume, erfüllte alle
+Räume.
+
+Tante Emilie, mit wachen Eulenaugen in dem zerkniffenen Gesicht,
+geisterte gespenstig hin und her.
+
+„Du kommst zu spät!“ sagte sie mit eisigem Triumph, als sie Mettens
+ansichtig wurde. „Wir haben keine Hoffnung mehr.“
+
+Mette fühlte, daß ihr etwas Böses zugefügt werden sollte. Und das
+plötzliche Bewußtsein, so verworfen, so gefühlsroh zu sein, daß dies
+Böse sie nicht traf, daß selbst diese Frau in ihrem maßlosen Haß sie
+noch überschätzte, trieb ihr, müde und überreizt wie sie war, die Tränen
+in die Augen.
+
+Tante Emilie ahnte nichts von diesen Vorgängen.
+
+„Auch diese Tränen kommen zu spät!“ sagte sie geringschätzig.
+
+Von den zwanzig Stunden, die nun kamen, hatte jede Stunde tausend
+Minuten.
+
+Mette ging hin und her, saß hier und dort und fühlte sich überall am
+falschen Platz, im Wege, von bösen Augen beobachtet.
+
+Sie war zerschlagen an allen Gliedern und hatte das Bedürfnis, nur für
+eine Stunde sich in ihrem Zimmer einzuschließen und sich aufs Bett zu
+werfen. Aber sie fand den Mut nicht dazu.
+
+Sie wußte, man erwartete von ihr, daß sie, in Reuetränen zerfließend, am
+Sterbebette ihres Vaters saß oder womöglich auf den Knien lag.
+
+Sie versuchte das Grauen, das sie schüttelte, zu überwinden und ging
+hinein, immer wieder. Die dumpfe Luft roch nach Verwesung und
+Medikamenten. In den vielen weißen Kissen lag ein kleiner, sonderbar
+knöcherner Schädel, ein fremdes, schief gezerrtes Gesicht mit
+geschlossenen Augen, dem der röchelnde Atem leise die gelblichen Lippen
+bewegte.
+
+Mette saß eine Weile still neben dem Bett und ängstigte sich davor, daß
+dieses schreckliche Röcheln mit einem Male aufhören könne. – Und
+ängstigte sich fast noch mehr davor, daß dies fremde Etwas plötzlich die
+Augen auftun und reden könne.
+
+Ärzte kamen, sprachen miteinander in gedämpftem Ton, maßen sie mit
+mitleidigen Blicken und gingen wieder.
+
+Das Mädchen deckte den Tisch zur gewohnten Zeit und bat im Flüsterton
+zum Essen.
+
+Tante Emilie ließ alle Verbindungstüren offen und horchte mit gespannter
+Aufmerksamkeit, während sie ihre Suppe löffelte, ob in dem gleichmäßigen
+Röcheln eine Veränderung einträte.
+
+Mette vermochte kaum einen Bissen hinunterzuwürgen.
+
+Die frühe Dämmerung kam, und die Lampen wurden wieder angemacht.
+
+Mette wollte ein Buch in die Hand nehmen, aber ein so empörter Blick von
+Tante Emilie traf sie, daß sie es wieder wegstellte und mutlos die Hände
+in den Schoß legte.
+
+Gegen Abend wurde das Röcheln schwächer. Der Nasenrücken trat
+messerscharf aus dem winzigen versunkenen Gesicht.
+
+Der Arzt, der am Abend kam, ging nicht wieder fort. Nun saß noch einer
+herum und schritt lautlos über die dicken Teppiche auf und ab und
+wartete.
+
+Das Röcheln wurde schwächer und schwächer. Dann kam noch ein paarmal in
+kurzen Pausen ein stärkeres knarrendes Ausatmen, und mit einem Male
+wurde es still.
+
+Man hörte plötzlich, als setzten sie eben ein, alle Uhren im Hause
+ticken.
+
+Der Arzt beugte sich über das Bett, richtete sich dann wieder auf und
+ging auf Metten zu, um ihr die Hand zu geben.
+
+Tante Emilie wischte sich über die trockenen Augen, die Mädchen draußen
+schluchzten auf.
+
+Mette sah und hörte alles wie durch dichte Schleier. Sie hatte Angst,
+ohnmächtig zu werden.
+
+Der Arzt bemerkte wohl ihr grünlich fahles Aussehen und legte ihr die
+Hand aufs Haar. „Legen Sie sich hin, Kind!“ sagte er sanft.
+
+„Sie können nichts mehr nützen hier. Sie haben schwere Tage hinter sich
+und vor sich. Jugend braucht Schlaf.“ – – –
+
+ * * * * *
+
+Mette war froh, in ihrem Zimmer zu sein. Aber sie dachte nicht daran,
+sich hinzulegen. Als sie nach einer Weile den Arzt gehen hörte, faßte
+sie eine namenlose Angst. Sie war so sterbensmüde und fürchtete sich
+davor, einzuschlafen, so, als müßten gräßliche Träume sie peinigen, wenn
+sie die Herrschaft über die Gedanken verlöre.
+
+Wenn sie nur für einen Moment die schweren Augenlider schloß, sah sie
+die verzerrten Züge des Sterbenden, oder Tante Emilie reckte die Krallen
+nach ihr aus, um sie zu erwürgen, oder Onkel Jürgen holte mit einem
+riesigen Schlüsselbund zu einem Hieb aus, der ihr den schmerzenden
+Schädel zerschmettern sollte.
+
+Mette streckte die Hand sehnsüchtig in die Luft nach einer anderen Hand,
+die die ihre fest und warm umschließen sollte. Aber ihre kalten Finger
+blieben leer.
+
+Sie ertrug die angstvolle Unruhe nicht mehr. Sie schlüpfte in ihren
+Mantel und schlich über die Hintertreppe hinunter aus dem Haus.
+
+Die kalte Nachtluft weckte sie wie aus schwerem Traum. Sie lief mehr als
+sie ging durch die Straßen bis zu Olgas Haus.
+
+Das Haus war verschlossen. Mette stand eine Weile unschlüssig.
+Vielleicht kam irgendein Hausbewohner heim, oder der Mann von der Wach-
+und Schließgesellschaft machte ihr gegen ein Trinkgeld die Tür auf.
+
+Sie wartete eine ganze Weile. Die Kälte schüttelte sie.
+
+Schließlich klingelte sie den Portier heraus. Aber oben vor der Tür
+zögerte sie wieder, eh’ sie wagte zu klingeln.
+
+Sie setzte sich auf die Treppe und lehnte die Stirn an die hölzernen
+Pfosten der Tür.
+
+Sie versuchte, durch angestrengte Gedanken, durch inbrünstiges Flehen,
+durch gesteigertes Wollen Olga zu wecken, sie herbeizurufen.
+
+Sie glaubte immer, ihren leisen Schritt sich der Tür nähern zu hören und
+lauschte atemlos und merkte, daß sie sich getäuscht hatte.
+
+Sie mußte sich endlich doch entschließen zu klingeln. Es dauerte eine
+ganze Weile, bis ein schlaftrunkenes, halb angezogenes Mädchen ihr
+öffnete. Sie erzählte eine Geschichte, daß sie eben von der Bahn komme
+und zu Hause nicht hinein könne, weil sie ihre Schlüssel bei Fräulein
+Radó gelassen habe. Sie lachte dazwischen und hatte das Gefühl,
+vollkommen idiotisch zu wirken.
+
+Als sie sich durch den wohlbekannten Türgang entlang tastete – sie
+fürchtete sich, aus irgendeinem unbegreiflichen Grunde davor, Licht zu
+machen – vielleicht hatte sie die Vorstellung, das Geräusch oder der
+Schein könne jemanden wecken, oder vielleicht hatte sie unbewußte Angst,
+gesehen zu werden und fühlte sich sicherer im Dunkel.
+
+Als sie schon vor Olgas Tür stand, hatte sie mit jähem Erschrecken das
+qualvolle Empfinden – so stark, daß sie es für Ahnung nahm – als wäre
+Olga nicht allein. Als stände diesem furchtbaren Tag noch ein
+furchtbarster Abschluß bevor.
+
+Sie stand an die Wand gelehnt und wagte nicht zu klopfen, nicht die
+Klinke zu berühren. Eine Stimme, die sie deutlich außer sich zu hören
+glaubte, sagte:
+
+„Was suchst du hier? Mit welchem Recht dringst du hier ein? Wie kommst
+du zu der maßlosen Kühnheit, dich hier zu Hause zu fühlen?“
+
+Die Tür ging geräuschlos auf, und ein matter Lichtschein fiel heraus.
+
+In dem Lichtschein stand Olga Radó, groß und schlank, in einem
+dunkelbunten Kimono, eine Hand auf der Klinke und spähte unter
+zusammengezogenen Brauen scharf hinaus. Sie sah und erkannte Metten
+sofort.
+
+„Mette!“ rief sie leise und schloß einen Moment, wie erschrocken, die
+Augen. „Ich hab’ es doch gewußt! Was ist geschehen, Kind? Wie bist du
+heraufgekommen?“
+
+Mette taumelte mehr als sie ging. Sie kam ins Zimmer, sah das sanfte
+Licht der verschleierten Lampe auf den Papieren des Schreibtisches, auf
+den Bücherrücken, auf den Bildern, auf den seidenen Kissen – Farben und
+Formen stürzten wie ein Gefühl unendlichen trunkenen Glücks in sie
+hinein – sie ließ sich auf die Erde niedergleiten, legte die Stirn gegen
+den Sessel und sagte zwischen Lachen und Weinen, zwischen Wachen und
+Schlaf:
+
+„Laß mich hier, es ist so gut.“
+
+Olga hob sie auf, zog sie aus wie ein kleines Kind und legte sie ins
+Bett. Als die Kühle der Laken ihre Glieder berührte, fingen Kälte und
+Grauen wieder an, sie zu schütteln. Sie war mit einem Schlage wieder
+hellwach, saß steif aufgerichtet im Bett und bemühte sich vergebens, das
+gewaltsame Aufeinanderschlagen der Zähne zu unterdrücken.
+
+„Leg’ dich zu mir,“ bat sie flehentlich, „ich muß spüren, daß ich nicht
+allein bin. Ich hab’ so gräßliche Angst.“
+
+Olga antwortete nicht. Sie verriegelte die Tür, sie stellte die Lampe
+hinter das Bett, breitete noch einen Seidenschleier über das Licht, ließ
+den Kimono von den Schultern gleiten – alles mit einem wehen Lächeln und
+schweren langsamen Bewegungen, als rüste sie sich zu einem Opfergang.
+Sie schob den Arm unter Mettens Nacken, breitete die Decke fester über
+sie, strich ihr das verwirrte Haar aus der Stirn.
+
+Und da Mette die Wärme dieses geliebten Lebens, den starken Schlag
+dieses Herzens spürte, brach sie in ein leises qualerlöstes Weinen aus.
+Über diesem Weinen schlief sie ein.
+
+Nach einer Zeit, von der sie nicht wußte, ob es Stunden oder Minuten
+waren, wachte sie wieder auf. Das Licht brannte immer noch. Olga lag
+reglos neben ihr, mit weit offenen Augen. Mette richtete sich auf und
+gab ihren Arm frei.
+
+„Warum weckst du mich nicht?“ sagte sie vorwurfsvoll. „Armes, ich habe
+dir sicher den ganzen Arm zerbrochen, und darum konntest du nicht
+schlafen.“
+
+Olga drehte ein wenig den Kopf. „Ich hätte auch sonst nicht schlafen
+können. Ich bin so wach.“
+
+„Woran hast du gedacht?“ fragte Mette und versuchte, in ihren Augen zu
+forschen.
+
+Olga lächelte ein wenig mühsam.
+
+„Daran, daß deine Leute dich jetzt vielleicht im ganzen Haus suchen. Ich
+möchte wissen – oder ich möchte lieber nicht wissen, was jetzt in Tante
+Emiliens Gehirn vorgeht. Sie muß doch rein denken, du bist von der
+Tarantel gestochen!“
+
+Mette lachte leise auf und schlang ihren Arm um Olga.
+
+„Vom Skorpion!“ sagte sie zärtlich. „Und es gibt kein Gegengift als sein
+eigenes Gift. Das weißt du doch!“
+
+Olga richtete sich auf und faltete die Hände über den hochgezogenen
+Knien. Die beiden schwarzen Flechten lagen wie zwei breite schwere
+Bänder auf dem weißen Hemd. Ihre Augen starrten geradeaus, und die
+weitgeöffnete Pupille überdunkelte die ganze Iris.
+
+„O wunderliches Schicksal über mir!“ sagte sie mit einer leisen, tiefen,
+wie ein Cello klingenden Stimme.
+
+ „Als wär’ ich von dem Skorpion gestochen
+ Und hoffte Heilung durch dasselbe Tier. – _Qui vivens laedit – morte
+ medetur._“
+
+Ein Ausdruck gewaltsamer, schmerzlicher und fast unheimlicher Energie
+trat in das weiße schöne Gesicht.
+
+Mette erschrak, daß ihr der Herzschlag stockte. Sie hatte den Mut nicht,
+sie anzurühren, sie an sich zu reißen.
+
+„Olla!“ rief sie mit einem leisen Klagelaut und streckte die Hände nach
+ihr.
+
+Da trat wieder das mühevolle Lächeln um den blassen Mund.
+
+Sie schlang mit einer jähen Bewegung beide Arme um Metten und preßte sie
+an sich, als wollte sie sie in dieser Umarmung ersticken, vernichten,
+zerstören.
+
+„Ach, Mettulein,“ sagte sie mit einem zersprungenen Lachen, „es hilft ja
+alles nichts ... du mußt mich erst in sanftem Öl verenden lassen – dann
+wird vielleicht noch alles gut!“ – – –
+
+ * * * * *
+
+Mette hörte im Traum heftiges Klingeln. Dann wachte sie auf von
+Türengehen, näher kommenden Schritten, vielen und erregten Stimmen.
+
+Sie machte die Augen auf und sah Olga vor dem Bett stehen, schon fertig
+angekleidet. Sie war sehr blaß, hatte dunkelflammende Augen und
+herrschte sie an in einem Ton, der wie atemlos klang vor Erregung.
+
+„Steh auf, Mette, ich bitte dich um Gottes und aller Heiligen willen,
+zieh dich schnell an.“
+
+Mette schlüpfte in wahnsinniger Hast in ihre Sachen. Unterdessen wurde
+schon heftig an die Tür geklopft.
+
+Olga ging sofort hin, riegelte auf und öffnete die Tür zur Hälfte.
+
+„Wer ist denn da?“
+
+Draußen wurden erregte Stimmen laut, erregte Gesichter drängten sich in
+den Spalt.
+
+„Ich bedauere, Sie können momentan nicht in mein Zimmer,“ sagte Olga mit
+eiskalter Höflichkeit.
+
+Die Stimmen draußen überschrien sich. Das war Tante Emilie. Das war
+Onkel Jürgen. Das war Frau Flesch. Das war das Mädchen, das ihr die
+Nacht geöffnet hatte.
+
+Mettens Hände zitterten wie in einem Angsttraum. Sie konnte mit keinem
+Knopf zustande kommen. Sie hatte den brennenden Wunsch, unsichtbar zu
+sein oder aus dem Fenster zu springen oder in tiefe Bewußtlosigkeit zu
+fallen.
+
+Olgas Stimme überklang den Tumult, tief und ruhig, aber kalt und scharf
+wie geschliffenes Eisen.
+
+„_Muß_ diese Unterhaltung auf dem Flur stattfinden?“
+
+Dann klang plötzlich eine sanfte, zarte Stimme:
+
+„Darf ich den Herrschaften mein Zimmer anbieten? Ich mache gern Platz.“
+
+Die Stimmen verzogen sich nach nebenan, und ein paar Augenblicke später
+– Mette hatte schon das Kleid übergeworfen – schlüpfte Peterchen ins
+Zimmer.
+
+„Kann ich dir helfen, Mette?“ flüsterte er mit verstörten Augen.
+
+Im selben Augenblick klang es von nebenan, als ob ein Stock auf den
+Tisch geschmettert würde.
+
+„Ich werde Sie ins Gefängnis bringen!“ donnerte Onkel Jürgens Stimme.
+
+Mette wollte hinüberstürzen. Peterchen hielt sie mit flehender Gewalt
+zurück.
+
+„Nicht so!“ bat er. „Mach dir schnell das Haar! Zieh dir Schuh an!“
+Während sie die Haare glatt strich und aufsteckte, kniete er vor ihr und
+schnürte ihr die Stiefel zu.
+
+Sie gab ihm recht. Sie konnte nicht auf Strümpfen, mit gelöstem Haar
+hinüberlaufen, zum Gaudium aller Leute, die hinter den Türritzen
+lauschten.
+
+Als Mette über den Flur nach dem anderen Zimmer ging, ganz ruhig und
+aufrecht ging, war sie voll einer starken, kühnen, heißen und beinah
+frohen Entschlossenheit.
+
+Im Hintergrund des Flurs stand ein fremder Herr in Hut und Überzieher,
+der sie mit einem durchdringenden Blick musterte.
+
+„Von der Leiche des Vaters weg!“ wimmerte Tante Emilie mit hohem Pathos.
+
+„Die Kriminalpolizei in meinem ehrlichen Hause!“ kreischte Frau Flesch.
+„Noch nie in meinem Leben hab’ ich was mit der Polizei zu tun gehabt!“
+
+Mette klinkte die Tür mit hartem Griff auf. Das Herz schlug ihr bis an
+den Hals. Einen Augenblick durchzuckte sie der Gedanke: Vielleicht war
+alles gut so. Vielleicht war es gut, daß sie jetzt den Mut haben mußte,
+neben Olga hinzutreten und zu sagen: „Ich gehöre zu diesem Menschen und
+verlasse ihn nicht und wenn ihr mich und euch in Stücke reißt. Wenn ihr
+den Mut und das Recht habt, so wendet Gewalt an, freiwillig gehe ich
+nicht einen Schritt mit euch.“
+
+Olga stand gegen den Tisch gelehnt, die Arme über der Brust gekreuzt,
+die Ellbogen mit den Fingern umklammert.
+
+Als die Tür aufging, stürzte Tante Emilie mit dem fast geschluchzten
+Ausruf: „Da ist das unglückliche Kind!“ auf Metten zu.
+
+Mette stand einen Augenblick wie erstarrt. Sie hatte einen Moment das
+Gefühl, unter Irrsinnige zu kommen oder selber irrsinnig zu sein. Mit
+einem flüchtigen Blick erfaßte sie, daß Jürgen von Seyblitz mit seiner
+straffen Haltung, mit den blitzblauen Augen und dem eisgrauen
+Schnurrbart in dem zornroten Gesicht sehr gut aussah.
+
+Er kam auf sie zu und sagte mit einer tiefen, rauhen Stimme, in der
+etwas wie Rührung zitterte:
+
+„Mette, Kind, was tust du hier? Morgen begraben sie deinen armen Vater,
+und du bist hier?!“
+
+Er legte ihr schwer die Hand auf die Schulter.
+
+Mette sah ihn nicht an. Sie sah Olga an.
+
+„Ich bin hier zu Hause –“ sagte sie. Ihre Stimme sollte eine strahlende
+Festigkeit haben, aber sie konnte sie nicht zwingen, sie klang leise und
+bebend.
+
+„Wenn ihr glaubt, das Recht zu haben, so wendet Gewalt an, freiwillig
+gehe ich nicht einen Schritt mit euch.“
+
+Es war schwer, sehr schwer, das auszusprechen. Sehr schwer, das
+auszusprechen vor Onkel Jürgens ehrlichem, wut- und schmerzverzerrtem
+Gesicht, vor Tante Emiliens blinzelnden Vogelaugen, vor dem schwammigen
+Gesicht der Frau Flesch, das in einem widerlich-gierigen Grinsen wie
+erstarrt schien, vor dem fremden Mann, vor den Mädchen, die hinter den
+Türen lauschten.
+
+Aber nun war es ausgesprochen. Und damit mußte alles gut sein. Nun mußte
+Olga kommen und sie in die Arme nehmen, mußte Mettens Kopf so an ihre
+Brust drücken, daß sie nichts mehr zu sehen und zu hören brauchte, mußte
+mit einer ihrer unglaublich stolzen und herrischen Bewegungen all diesen
+fremden und peinigenden Gesichtern die Tür weisen, mußte einen Revolver
+diesen Eindringlingen entgegenrecken und sie hinausjagen mit einem
+einzigen Wort ...
+
+Olga wandte den Kopf, ohne ihre Haltung zu verändern und sah Metten an.
+Alle glaubten, daß sie Metten ansah und machten eine unwillkürliche
+Geste der Spannung, der Erwartung.
+
+In Wahrheit lagen ihre Augen auf Mettens Stirn oder auf ihren Brauen
+oder auf ihren Haaren.
+
+Mette wollte ihren Blick treffen, sie bohrte ihre Augen in Olgas
+Gesicht, aber sie konnte ihren Blick nicht zwingen. Er lag unverändert
+auf ihrer Stirn oder ihren Brauen oder ihren Haaren – eine Linie über
+ihren Augen.
+
+„Mein liebes Kind,“ sagte Olga mit einer eisig kühlen Sanftmut, „Ihre
+Anhänglichkeit an mich ist rührend, aber ich habe sie durch nichts
+verdient. Wenn Sie mir wirklich soviel Sympathien entgegenbringen, so
+gehen Sie jetzt mit Ihren Angehörigen und betragen sich wie ein
+vernünftiger Mensch und verschonen mich künftig mit Ihren Besuchen. Sie
+sehen doch, daß Sie mir nichts als Ungelegenheiten bereiten!“
+
+Mette zögerte noch einen Augenblick. „Es muß doch irgend etwas
+geschehen,“ dachte sie, „sie muß mich doch ansehen, sie muß mir durch
+einen Blick, durch eine Geste ein Zeichen geben, daß dies Verstellung
+ist, Komödie, daß ich ihr vertrauen soll, an sie glauben, auf Nachricht
+warten ...“
+
+Es geschah nichts.
+
+Mette suchte in ihren Gedanken irgend etwas Unerhörtes, womit sie diese
+steinerne Maske zerschmettern könnte. Konnte sie nicht sagen: „Du hast
+mich gerufen, gelockt, gezwungen und jetzt verleugnest du mich?“ Nein –
+sie hatte kein Recht dazu.
+
+Fiel ihr denn nichts ein, irgendein Schmähwort, ein treffendes,
+verletzendes, grausames?
+
+Sie wälzte dumme, kindische Schimpfwörter, schwer wie Steinblöcke, in
+ihrem Gehirn hin und her.
+
+„Du Kanaille!“ dachte sie. „Du Dirne!“ Das war nicht das, was sie
+suchte. Ihr war, als müsse sie in fieberhaftem Suchen die polternden
+Steinblöcke hin und her schieben, um irgend etwas zu finden, ein
+scharfes Wort, das sich schleudern ließe.
+
+Plötzlich schien es ihr, als ob sie schon eine unendliche Zeit so
+dagestanden hätte, mit hängenden Armen, mit blöden Augen und offenem
+Mund.
+
+Sie richtete sich auf und machte den Versuch zu einem Lächeln, das
+hochmütig und liebenswürdig sein sollte. Aber sie hatte das Gefühl
+dabei, als ob der Irrsinn in ihren verzerrten Muskeln tanze.
+
+„Willst du um einen Wagen telephonieren, Onkel Jürgen?“ sagte sie.
+
+„Seltsam,“ dachte sie dabei, „das ‚um‘ habe ich mir auch von Olga
+angewöhnt – hier sagt man ‚nach‘, glaube ich.“
+
+„Ich bin zu müde zum Laufen.“
+
+Dann ging sie nach der Tür. „Ich will mir nur meine Sachen holen – einen
+Augenblick!“
+
+Sie ging in das Nebenzimmer, setzte sich vorm Spiegel den Hut auf, sehr
+sorgfältig, zog den Mantel an, suchte ihre Handtasche. Sie beeilte sich
+nicht. Sie hatte immer noch das törichte Gefühl, als müßte Olga jetzt
+hereinschlüpfen und ihr irgend etwas zuflüstern ... wo sie sich treffen
+wollten, wo sie hinschreiben sollte, wann sie ihr alles erklären wollte.
+Es kam niemand.
+
+Als Mette ihre Handtasche aufmachte, fand sie ein Päckchen
+zusammengedrückter Geldscheine darin. Die waren noch von der Reise.
+
+Sie nahm sie heraus und lachte bitter auf. Nun würde sie wohl nie mehr
+in die Versuchung kommen zu stehlen.
+
+Nun würde sie wohl nie in ihrem Leben mehr Geld brauchen.
+
+Sie hob die Hand und öffnete sie und ließ die Scheine über das zerwühlte
+Bett flattern.
+
+Dann ging sie hinaus, an dem fremden Mann vorbei, an den Mädchen vorbei,
+die Treppe hinunter und aus dem Haus, ohne sich umzusehen.
+
+Auf der Straße holte der Wagen mit ihren Leuten sie ein. – – –
+
+ * * * * *
+
+Onkel Jürgen blieb noch eine Zeit lang in Berlin. Er benahm sich recht
+merkwürdig. Er war still und gütig und richtete auf Metten immer ein
+paar ehrliche, angstvolle, blaue Augen und sprach zu ihr immer in einem
+leicht gerührten Ton. Von dem Geld und der Flucht war nie mehr die Rede.
+
+Wenn Mette zuweilen – oft geschah es ja nicht – über dieses Benehmen
+nachdachte, meinte sie, es nur auf _eine_ Weise erklären zu können. Sie
+glaubte nicht, daß es Reue war, weil sein heftiger Brief ihres armen
+Vaters Tod verschuldet hatte. Sie kam auch nicht auf den Gedanken, daß
+er versuchte, sie durch Liebe und Güte zu gewinnen. Nein, wahrscheinlich
+tat sie ihm leid. Er hatte Olga Radó gesehen. Er hatte ihre Stimme
+gehört. Er hatte einen Hauch ihrer Macht gespürt. Wenn Mette das dachte,
+liebte sie ihn fast.
+
+Und er hatte es gehört, wie Olga sie verleugnet und verraten und
+gedemütigt hatte. Nun hatte er Mitleid mit ihr. – Wenn Mette das dachte,
+so haßte sie ihn.
+
+Auch Tante Emilie war von einer sonderbaren Sanftmut. Mette dachte
+später manchmal, daß es besser gewesen wäre, wenn die Leute in dieser
+Zeit sie gequält und gepeinigt hätten und sie stark gemacht hätten in
+stählendem Haß. – – –
+
+ * * * * *
+
+Tante Emilie und die ganze Familie war sehr dafür, die Tiefe der Trauer
+durch die Länge der Schleier auszusprechen.
+
+Es sollte niemand sagen können, daß Mette, die verlorene Tochter, das
+ungeratene Kind nicht über den Tod ihres Vaters trauere.
+
+Als Mette sich zum erstenmal im Spiegel sah, von Kopf zu Füßen in
+schwarzem Krepp, schmal und blaß, mit erloschenen Augen und
+schmerzgezeichnetem Mund, dachte sie: „Wie eine Witwe“, und ihr Herz zog
+sich qualvoll zusammen.
+
+Als sie zur Beerdigung fuhren und nebeneinander saßen, hielt Tante
+Emilie mit der schwarz behandschuhten Rechten das weiße Taschentuch an
+die zitternden Lippen und mit der Linken hielt sie Mettens Hand. Und
+Onkel Jürgen sah aus dem Fenster, und von Zeit zu Zeit rollte eine Träne
+aus seinen blauen Augen bis in den Schnurrbart.
+
+Metten war zumut, als sei sie ein Berg gewesen, an dessen steinerner
+Unverletzlichkeit jedes Geschoß abgeprallt war – nun war durch eine
+Explosion ein Trichter in sie hineingesprengt, in ihr war Leere, in ihr
+war ein tiefer, dunkler, zerklüfteter Abgrund. Die wild zerrissene Wunde
+lag offen am Tage und alles fiel ungehindert in sie hinein, blieb schwer
+wie Steine in ihr liegen, erfüllte sie mit Qual – alles, Blicke, Worte,
+Tränen, Bewegungen.
+
+„Weh über den, der mich zersprengt hat!“ dachte sie bitter.
+
+Dann schloß sie ihre Finger einen Augenblick fester um Tante Emiliens
+Hand.
+
+„Wir gehören zusammen,“ dachte sie, „Verlassene und Ungeliebte, bitter-
+und hartgewordene Unglückliche – wir gehören zusammen. Zwei große
+Familien gibt es auf der Welt, Reiche und Arme, Gesunde und Kranke,
+Lachende und Weinende ... Olga Radó gehört zu den Frohen, sie hat
+triumphiert, sie hat sich gerechtfertigt, sie hat sich von mir befreit –
+nun geht sie lachend einem neuen Abenteuer entgegen.“
+
+Nicht immer dachte Mette so. Die widerstreitendsten Empfindungen
+schüttelten sie durcheinander.
+
+Es kamen wache Nächte, in denen sie glaubte, daß alles gut werden mußte,
+wenn sie Olgas Hand hielt und fragte:
+
+„Kind, wie ist das nur gekommen? Wie konnte das nur geschehen? Was hast
+du dir nur dabei gedacht?“
+
+Dann lief sie am Tage die Motzstraße auf und ab und starrte zu der
+Haustür hinüber – aber immer vergebens.
+
+Dann kamen Tage, an denen Tante Emilie ein widerlich-freundliches
+Bedauern zur Schau trug und sich in Anspielungen erging, über die
+Undankbarkeit der Welt im allgemeinen und im besonderen, und wie Mette
+nun vereinsamt sei, weil sie ihre ganze Zeit und ihr ganzes Gefühl an
+eine solche Person verschleudert habe.
+
+Dann haßte Mette mit glühendem Haß alle beide, Tante Emilien und Olga.
+Aber mehr noch Olga – Olga, die sie zu Boden geworfen hatte, damit Tante
+Emilie auf ihr herumtreten konnte, Olga, die ihr die Wunde gerissen
+hatte, in der Tante Emilie mit schmutzigen Fingern wühlte.
+
+Manchmal beschloß sie zu sterben. Viel öfter aber noch zu fliehen. Ein
+Bündel zu packen und die Landstraßen entlang zu laufen, auf Wiesen, in
+Gräben zu nächtigen, den ewigen Sternenhimmel als Decke über sich.
+
+Der Gedanke an fremde Erdteile war das einzige, was ihr in dieser Zeit
+zuweilen wohl tat. Mit diesem Gefühl der Gleichgültigkeit gegen Tod und
+Leben mußte es schön sein, irgendwo im Dschungel mit gespannter Büchse
+zu liegen und im kaum schwankenden Rohr die Augen eines Tigers auf sich
+gerichtet zu sehen. Oder an einem Wachtfeuer zu liegen, um das nackte,
+schwarze Gestalten zu eintöniger Musik sich verrenkten. Oder von den
+leise schaukelnden, kissenweichen Tritten eines Kamels durch
+unermeßliche, flirrende, weiße Glut getragen zu werden.
+
+Dann wieder schien es ihr, als ob ein solches Leben – auch ein _solches_
+Leben nur unablässige Qual wäre ohne Olga – unendlicher Reichtum,
+unausdenkbares Glück mit Olga.
+
+Sie versuchte, sich in den Gedanken zu fügen, daß Olga sie nicht liebte.
+Aber es konnte nicht sein, daß sie sie haßte. Sie hatte sie geopfert,
+leichten Herzens aufgegeben, um ihren Ruf zu wahren, um sich
+Unannehmlichkeiten abzuwehren. Sie liebte sie nicht. Aber darum waren
+ihre Worte doch Lüge gewesen. Sie hatte sich gefreut, wenn sie kam.
+Immer. Sie würde sich wieder freuen, wenn sie wieder kommen würde.
+
+Sie wollten ein Leben zusammen führen, ein herrliches, freies Leben, in
+allen Städten der Welt, auf Dörfern, im Walde, in Indien, auf
+Madagaskar.
+
+Dazu kam, daß Metten jetzt tagtäglich klargemacht wurde, wie reich sie
+war. Franz Rudloff war kein Geizhals gewesen, aber er wußte nicht, wie
+und wofür man Geld ausgeben sollte. Und Tante Emilie war viel zu
+musterhaft, um auch nur in der kleinsten Kleinigkeit verschwenderisch zu
+sein.
+
+Mette hatte keine allzu genaue Kenntnis von Geld und Geldeswert. Aber
+das wußte sie doch: Die Summen, die man ihr jetzt nannte, die verbürgten
+Freiheit, volle Freiheit, die versprachen ihr: in wenig Monaten kannst
+du ein Leben führen, wo du willst und wie du willst ...
+
+Ein Leben ohne Olga ...?
+
+Mette faßte den Entschluß, an Olga zu schreiben. Nicht, wie es in ihr
+aussah, nichts von Sehnsucht und Liebe, oh, um Gottes willen nicht.
+
+Aber ein paar ganz kühle, sozusagen geschäftsmäßige Zeilen, die nur den
+Versuch machen sollten, eine Aussprache herbeizuführen.
+
+Sie verfaßte mit vieler Mühe einen Brief, den sie aufsetzte,
+verbesserte, abschrieb und war mit ihrem Machwerk sehr zufrieden.
+
+Kein Mensch konnte darin einen Hauch von Herzlichkeit oder gar Demut
+wahrnehmen. Eher einen scharfen, spöttischen, ein wenig herausfordernden
+Ton.
+
+Sie schickte den Brief ab und wartete auf Antwort. Es kam keine. – – –
+
+ * * * * *
+
+Unterdessen bemühte sich Tante Emilie, an Mettens Aufklärung zu
+arbeiten. Und zwar auf eine merkwürdige Art.
+
+Sie war viel zu vorbildlich, um mit einem jungen Mädchen über sittlich
+anstößige Dinge zu reden. Außerdem hatte sie wohl auch Angst vor Mettens
+Wutausbrüchen. (Obgleich Feigheit eigentlich sonst ihre Sache nicht
+war.)
+
+Mette hatte die Gewohnheit angenommen, in ihres Vaters Studierzimmer zu
+sitzen. Sie las und las den ganzen Tag die schwierigsten, die
+unverständlichsten Dinge, nur um ihre Gedanken zu knebeln. Hier hatte
+sie alle Bücher zur Hand. Es war bequemer, sich gleich damit am
+Schreibtisch niederzulassen, als die manchmal schweren Folianten erst in
+einen anderen Raum zu schleppen.
+
+Außerdem war ihr hübsches, helles Mädchenzimmer ihr verhaßt.
+
+Wenn sie an dem schweren schwarzen Diplomatenschreibtisch saß, mit müde
+hängenden Schultern über die Bücher gebeugt, war es ihr manchmal, als
+hätte man Metten da draußen begraben, ein junges, lebensgieriges,
+heißblütiges Mädel – und hier säße nun ein alter, stiller, einsamer
+Mann. Sie fühlte fast mit Grauen, daß etwas von dem Toten – seine
+halben, scheuen und schwerfälligen Bewegungen, seine gebückte Haltung,
+sein abwesendes, um Verzeihung bittendes Lächeln auf sie übergegangen
+war.
+
+Auf diesem Schreibtischplatz nun fand sie von Zeit zu Zeit Bücher,
+Hefte, Broschüren, scheinbar ganz verschiedenen Inhalts – Romane,
+medizinische Werke, angestrichene Tageszeitungen – aber alle behandelten
+dasselbe Thema.
+
+Da waren seltsame und unheimliche Geschichten von Gräfinnen, die sich in
+Männerkleidung in Kaschemmen herumtrieben, bis sie in irgendeinen
+Hinterhalt gelockt und gräßlich ermordet wurden.
+
+Oder Berichte von widerlichen Orgien in großen Klubs, wo Hunderte von
+Weibern sich als Männer anzogen und gebärdeten, oder Männer, geschminkt,
+mit Lockenperücken und in durchbrochenen Seidenstrümpfen und nackten
+gepuderten Armen und Schultern herumliefen.
+
+Da waren statistische Feststellungen aller der unglücklichen Opfer,
+die infolge widernatürlicher Unzucht an Gehirnerweichung,
+Rückenmarksschwindsucht und ähnlichem zugrunde gegangen oder in Wahnsinn
+verfallen waren.
+
+Oder Schilderungen aus dem Seelenleben Konträr-Sexualer, die vermuten
+ließen, daß diese Tausende von Menschen alle miteinander eine große
+Gemeinde bildeten, eine Gemeinde, die durch nichts verbrüdert wurde,
+durch keine gemeinsamen Interessen, keine Gleichheit der Bildung, der
+Familie, des Geschmacks, der Weltanschauung, durch keine Liebe, durch
+nichts als den Trieb zur gleichen Ausschweifung.
+
+Da war die Biographie eines großen Mannes, der elend ermordet war durch
+einen erpresserischen Kellner, einen Kellner, mit dem er in intimen
+Beziehungen gestanden – den er _geliebt_ hatte!
+
+Mette schauderte, wenn sie das Wort Liebe in diesem Zusammenhange nur
+dachte. Manchmal war ihr, als müsse sie ersticken in Kot und Unflat. Ihr
+wurde körperlich übel, wenn sie die Bücher nur anrührte. Sie las sie
+nicht mehr – eine Weile lang. Sie las geschichtliche, philosophische,
+naturwissenschaftliche Werke. Aber sie wußte oft seitenlang nicht, was
+sie las. Ihre Augen gingen über die Zeilen und spiegelten die Worte. Und
+ihre Gedanken wälzten die furchtbaren Dinge, die wie Steinblöcke auf sie
+geschleudert wurden, um sie zu erschlagen. Dann nahm sie wieder die
+anderen Bücher vor, die schlimmen, und suchte nach Erklärungen und zog
+Schlüsse und stellte Vergleiche an.
+
+Wenn von männlich veranlagten Frauen gesprochen wurde, war viel von
+ihrem überlegenen Geist, von ihrem Wissensdurst und Bildungsdrang die
+Rede. Auch von einer krankhaften Verschwendungssucht mitunter, von einem
+leidenschaftlichen Hang zum Luxus, von einer unnatürlichen Vorliebe für
+schöne Stiefel.
+
+Oder auch von unheimlichen Don-Juan-Naturen, die mit unersättlicher
+Genußgier von Abenteuer zu Abenteuer rasten.
+
+Mette geriet vor solchen Dingen in die qualvollste Verwirrung. Diese
+Bücher sollten sie den Menschen verstehen lehren, der ihr auf der Welt
+am nächsten gewesen war. Hundertmal in den letzten Monaten hatte sie
+sich gesagt: diese Frau ist ein unlösliches Rätsel, ein unergründliches
+Geheimnis, mir ewig fremd und fern, nie zu erfassen und nie zu
+begreifen. Und ebensooft hatte sie in jedem Nerv gespürt: Dies ist die
+Lösung, nun ist alles klar, alles gut, nie wieder kann ein Mißverstehen
+uns trennen.
+
+Und jetzt? Und nun?
+
+Mitunter spürte Mette das quälende Bedürfnis, diese Schriften
+zusammenzupacken und damit zu Olga Radó zu gehen: erklär mir das. Gibt
+es solche Menschen? Bist du so? Bin ich so? Was weißt du darüber und wie
+denkst du darüber?
+
+Über alles, was sie im letzten Jahr gehört oder gelesen hatte, hatte
+Olga Radó ihre Meinung äußern müssen. Und fast immer war Olgas Meinung
+auch die ihre gewesen, oder aber eine andere Meinung in ihr wurde
+geweckt, gekräftigt, klargestellt.
+
+Nun zum erstenmal sollte sie mit so Ungeheuerlichem allein fertig werden
+und tappte völlig hilflos im Dunkel. Wo sie Licht, wo sie einen Ausweg
+zu finden glaubte, kam sie nur auf neue Irrwege. Sie gelangte nicht um
+einen Schritt vorwärts, nicht zurück.
+
+In dieser Wirrnis konnte nur Olga Radó helfen. Olga Radó mußte klar und
+deutlich ihre Meinung über Olga Radó äußern. Und diese Meinung galt.
+
+Da schrieb Mette zum zweitenmal. Auch in diesem Brief stand kein Wort
+von Liebe oder Sehnsucht – nur eine dringende Bitte um Hilfe, viel Klage
+über das, was jetzt in ihr geschah und auch ein wenig Anklage: Du hast
+mich so weit gebracht, du mußt mir jetzt die Hand geben und mich aus
+diesem Sumpfland hinausführen.
+
+Es kam keine Antwort. – – –
+
+ * * * * *
+
+Aber der Frühling kam über alle diesem.
+
+Warme, schmeichelnde Lüfte kamen und breite, glitzernde Sonnenstreifen
+und Knospenschleier auf allem Gesträuch und Schneeglöckchen und Krokus,
+die sich mühsam ihren Weg bahnten durch schwarzviolettes fauliges Laub.
+
+Mette konnte die weiche schwere Luft nicht vertragen. Sie schlief nicht
+mehr und hatte Kopfschmerzen Tag und Nacht.
+
+Das Lesen hielt ihre Gedanken nicht mehr fest. Sie saß über die Bücher
+gebeugt und starrte aus dem Fenster. Stundenlang lag dieselbe Seite vor
+ihr und wurde nicht umgeschlagen.
+
+Sie fing an, Romane zu lesen. Man konnte darüber nicht so hinauslesen
+wie über eine trockene wissenschaftliche Darstellung, weil sie die
+Phantasie anregten und Bilder wachriefen.
+
+Aber diese Bilder wurden zur Qual.
+
+Immer waren da Menschen, die sich liebten, sich sehnten, um einander,
+miteinander kämpften, sich fanden, vereinten oder sich trennten,
+aneinander zugrunde gingen, starben, sich verließen. Von Liebe zu lesen
+tat weh.
+
+Oder es war vom Meer die Rede, von Bergen und Wäldern, vom Frühling oder
+Sommer. Und Mette dachte: „Nie waren wir am Meer zusammen, nie in den
+Bergen, nie in einem Juniwald, nie zwischen reifenden Kornfeldern. Wenn
+wir in dem engen Zimmer da oben saßen und auf die graue, regennasse Wand
+sahen, war ich so glücklich, weil ich fühlte, daß alle Schönheit der
+Welt uns bevorstand.
+
+Olga Radó wird am Meer liegen oder durch reifende Felder gehen oder
+durch die Domgewölbe smaragdener Buchenwälder – aber nie mehr mit mir.
+Mit wem nur? Mit wem?“
+
+„Ich bin verdammt dazu, blind und taub durch die Welt zu gehen oder mit
+ewig schmerzenden Sinnen. Alle Schönheit wird mir zur Marter werden und
+jeder Genuß zur Qual.“
+
+Sie las von Reichtum und Luxus – von Autos, die über die Landstraße
+jagten, von weißen Hotels an blauen Wassern, von Bällen und Festen und
+Segeljachten und Schlittenfahrten – dann fing sie an, ihr Vermögen zu
+berechnen und dachte: „So ein Leben hätte Olga Radó führen können, wenn
+sie bei mir geblieben wäre.“
+
+Oder sie las von Armut und Schmutz und Not, von Verbrechen, die der
+ewige Druck der Sorge erpreßte, von Elend und Krankheit und schauriger
+Einsamkeit.
+
+Dann schnitt ihr die Angst wie mit Messern ins Herz: „Dahin wird Olga
+Radó kommen, wenn ich sie nicht halte. So wird sie enden, wenn ich sie
+verlasse.“
+
+Die Kirschbäume blühten. Nun fuhr Olga Radó sicher mit einer schönen
+Frau auf einem weißen Dampfer über die blauen Wasser der Havel. Und die
+Welt um sie war voll Schönheit und Sonne und Glanz.
+
+Und Metten faßte eine irrsinnige Sehnsucht, dabei zu sein, Olgas Leben
+zu führen. Aller Stolz fiel von ihr ab wie verbrannte Fetzen. Sie stand
+nackt vor sich und schrie vor Weh.
+
+Da schrieb sie zum drittenmal an Olga Radó.
+
+Sie schrieb, daß sie nicht mehr leben und nicht mehr atmen könne ohne
+sie. Daß sie nichts von ihr wolle, keine Liebe, keine Zärtlichkeit,
+keine Freundschaft. Daß sie nur um sie sein wolle, wie eine Magd, wie
+ein Hund, daß sie nichts wolle, als ihr aus allen Kräften dienen und zum
+Lohn dafür sich schlagen und treten lassen. Daß sie keine Eifersucht
+kenne oder gar Herrschsucht oder Besitzerwahn. Daß sie jedem dienen
+wolle, Mann oder Weib, den Olga liebte, und daß sie ihre Liebe so tief
+in sich anketten und einmauern wolle, daß nie, nie, nie ein Mensch davon
+ahnen solle, auch Olga nicht.
+
+Und sie wartete auf Antwort. Aber es kam keine.
+
+Plötzlich kam sie auf den Gedanken, daß Olga vielleicht ihre Briefe
+nicht erhalten hätte ... ganz gewiß nicht erhalten hätte.
+
+Sie ging nach der Motzstraße und jeder Schritt war ihr, als wenn sie auf
+Nadeln träte.
+
+Das Mädchen machte ihr auf, das ihr damals in der Nacht aufgemacht
+hatte. Da bekam sie den Namen nicht über die Lippen und fragte nach
+Petermann.
+
+Der war verzogen, unbekannt wohin. Sie quälte sich wieder durch zehn
+Tage hindurch. Dann ging sie zum zweiten Male hin.
+
+Ein fremdes Mädchen öffnete ihr die Tür. „Ich habe Glück,“ dachte Mette,
+und einen Augenblick lang wurde ihr schwindlig bei dem flüchtigen
+Gedanken an die Möglichkeit, daß Olga hier sein könne, daß Mette
+vielleicht in der nächsten Minute in ihrem Zimmer ihr gegenüberstünde.
+Was nachher geschah, das war ja im Grunde einerlei.
+
+Fräulein Radó war verzogen – unbekannt wohin.
+
+Mette ging aufs Einwohnermeldeamt. Sie füllte den vorschriftsmäßigen
+Zettel aus und gab ihn mit rasendem Herzklopfen dem grauköpfigen
+Beamten.
+
+Der freundliche alte Herr ging und suchte und kam wieder und fragte, ob
+die Dame eigene Wohnung hätte.
+
+Nein – Leute, die in Pensionen wohnten, führten sie nicht.
+
+Da ging Mette den letzten und schwersten Gang. Sie ging zu Möbiussens.
+
+Die Mädchen grinsten ihr frech ins Gesicht, als sie nach Olga Radó
+fragte.
+
+Nein, sie wüßten nichts von ihr. Sie hatte sich natürlich nicht mehr
+sehen lassen, Vater hätte sie ja auch wohl höflichst an die Luft
+gesetzt. Sie hatten auch plötzlich keine Erinnerung mehr an eine
+Verwandtschaft. Sie wußten den Namen des Preßburger Onkels nicht mehr
+oder des Budapester Schwagers. Aber sie _wollten_ gern wissen. Glühend
+vor Neugier und Lüsternheit fingen sie an, Fragen zu stellen, ob es denn
+wahr wäre, daß ...
+
+Mette wurde rot und blaß und heiß und kalt. Sie hätte einen Mord begehen
+können, wenn sie nicht viel zu müde dazu gewesen wäre. Sie sagte: „Ich
+weiß nicht!“ Auf alle Fragen immer nur: „Ich weiß nicht.“
+
+Vielleicht hätte sie sich entrüsten sollen und Olga Radó verteidigen.
+Vielleicht hätte sie sie verlästern sollen und geheimnisvolle
+Andeutungen machen. Vielleicht hätte sie lachen sollen und die Mädchen
+an der Nase herumführen. Sie hielt sich mit beiden Händen am Stuhl fest
+und sagte: „Ich weiß nicht!“
+
+Als sie das Haus verließ, wußte sie, daß sie es nie wieder betreten
+würde. Ein sinnloses Wort ging ihr wie im Fieber immer wieder durch den
+Kopf: In der Leute Mäuler sein ...
+
+Sie hatte sich noch nie etwas dabei gedacht. Nun war ihr ganz körperlich
+so zumute, als hätte man sie durchgekaut und aufs Pflaster gespien. Der
+Ekel schüttelte sie. – – –
+
+ * * * * *
+
+Von Zeit zu Zeit – in immer kürzeren Zwischenräumen – trat an die
+Oberfläche ihrer Empfindungen ein dumpfer, peinigender Haß gegen Olga
+Radó. Alles, was sie jetzt litt, hatte diese Frau verschuldet.
+Leichtsinnig und kaltherzig und ganz gewissenlos verschuldet.
+
+In dieser Zeit war Mette sehr ungerecht gegen Olga Radó. Denn es schien
+ihr, als wäre sie aus einer glücklichen, wohlbehüteten Jugend
+herausgerissen, als wäre ein tiefer, heiterer Frieden in ihr zerstört,
+ein wundervolles Gleichgewicht in ihr erschüttert worden.
+
+Und es erschien ihr als das Endziel aller Wünsche, daß es wieder so
+werden solle, wie es vorher gewesen war. Sie hatte nur die eine
+Sehnsucht, das letzte Jahr aus ihrem Leben zu streichen, zu löschen, zu
+vergessen.
+
+Dann nahm sie wieder die schlimmen Bücher vor und las absichtlich das,
+was sie am meisten angewidert hatte. Sie steigerte sich künstlich in Haß
+und Zorn und Angst hinein.
+
+Es kamen Tage, wo sie sich sagte: Nun bin ich frei! Ich bin wie aus
+schwerer Krankheit genesen, ich fühle, daß mein Blut wieder rein ist –
+ich werde leben können wie alle die anderen Menschen auch, ein Leben
+ohne Qual und Freude, ohne Sehnsucht und ohne Erfüllung.
+
+Und es kamen Nächte, wo sie glaubte, daß ein brennendes Gift in all
+ihren Adern fräße. Wo die Angst vor einer unnennbar grauenhaften Zukunft
+sie schüttelte. Wo sie glaubte, den eigenen zügellosen Begierden
+erliegen zu müssen, wehrlos jeder Dirne ausgeliefert zu sein, die aus
+verbrecherischen Gründen ihre Leidenschaft weckte, wo sie sich von
+Erpressern gehetzt, von Kriminalbeamten verfolgt, siech, irrsinnig,
+eingekerkert oder ermordet sah.
+
+In einer solchen Periode grenzenlosester Verzweiflung verlobte sie sich.
+
+Irgendein anständiger und solider Mann bewarb sich um sie.
+
+Sie wußte nichts von ihm. Sie wußte nicht, wann und wo sie ihn zum
+erstenmal gesehen hatte, sie wußte nicht, wie er aussah, wußte kaum
+etwas von seinem Charakter oder seinen Neigungen – sie fühlte nur eines
+Tages, seit einiger Zeit war immer ein Mensch neben ihr, der sich
+bemühte, gut zu ihr zu sein. Jemand, der ihr sehr sorgfältig den Mantel
+um die Schultern legte, sich bückte, wenn ihr etwas hinfiel, ihr Blumen
+brachte, sich bemühte, ihr irgend etwas Heiteres zu erzählen, um ihr
+Gesicht ein wenig zu erhellen.
+
+Dieser Mann wußte so angenehm wenig von ihr. Und Tante Emilie überfloß
+in seiner Gegenwart von sanfter mütterlicher Freundlichkeit. Es wäre ihr
+geradeso gut zuzutrauen gewesen, daß sie vor ihm bissige Bemerkungen
+oder vielsagende Andeutungen gemacht hätte.
+
+Aber er paßte ihr wohl in ihr Programm.
+
+Er bedauerte Metten so unendlich, weil sie Waise war. Er schrieb all das
+Weh auf ihrem blassen Gesicht der Trauer um den geliebten Vater zu.
+
+Manchmal wagte er es, ihre kalten Finger in seinen beiden Händen zu
+halten oder sie sanft zu streicheln. Dann schloß Mette die Augen und
+prüfte in Angst ihr Gefühl.
+
+Es ging Wärme und wohltuende Ruhe von seinen großen starken Händen aus.
+Seine weiche Zärtlichkeit war eher angenehm als widerwärtig. Dann sagte
+sie sich mit einer aufschimmernden Hoffnung: „Vielleicht wird noch alles
+gut. Vielleicht gewinne ich es über mich, ihn zu heiraten. Ich werde
+immer einen Menschen um mich haben, der gut zu mir ist, ich werde Kinder
+haben, ich werde ein Heim haben, ich werde immerfort zu tun haben –
+vielleicht kann man das Leben auf solche Weise noch am ehesten
+ertragen.“
+
+Und dann stachelte sie der unbändige Wunsch nach Rache. Es würde Olga
+Radós Eitelkeit vielleicht doch verletzen, wenn sie erfuhr, daß sie so
+schnell vergessen worden war.
+
+Der Mann war reich. Das paßte Tante Emilien, und es paßte mitunter sogar
+Metten.
+
+Sie sah sich zuweilen in der Loge der Oper brillantenblitzend neben
+diesem Mann – einem sehr hübschen, stattlichen Mann – sie sah ihn
+manchmal aus solchen Gedanken heraus daraufhin an – niemand würde auf
+den Gedanken kommen, daß sie ihn nicht aus Liebe geheiratet hätte – und
+sah dann plötzlich Olga Radó irgendwo auftauchen. Oder sie sah sich in
+einer Equipage an Olga Radó vorüberjagen – oder – am liebsten dachte
+sie, sie zu treffen, wenn sie mit ihren süßen kleinen, blondlockigen,
+weiß angezogenen Kindern spazieren ginge. Dann würde sie die Kinder vor
+ihr zurückreißen wie vor einem giftigen Tier. Damit, ja, damit würde sie
+sie am schmerzlichsten verletzen.
+
+Als der Mann anhielt, sagte Mette ja. Sie hatte Zeit genug gehabt, sich
+an diesen Gedanken zu gewöhnen. Sie setzte selbst die Verlobungsanzeigen
+auf und sorgte dafür, daß sie in verschiedene Zeitungen kamen.
+
+An ihrem einundzwanzigsten Geburtstag war ein kleines Gartenfest in der
+Villa ihrer Schwiegereltern. Es war ein sehr heißer Sommertag, der
+neunzehnte Juni, und auf Tante Emiliens Zureden zog Mette zum erstenmal
+wieder ein weißes, schwarzgesticktes Kleid an.
+
+Alls sie draußen in der fremden Wohnung unter vielen fremden Menschen an
+einem Spiegel vorüberstreifte, erkannte sie sich nicht.
+
+Sie erschrak und wurde den Gedanken nicht wieder los, daß sie nicht das
+hübsche, weiß gekleidete Mädchen sei, was am Arm eines fremden Mannes
+ihr aus dem Spiegel entgegenlächelte.
+
+Sie suchte sich selbst und konnte sich nicht darauf besinnen, wo sie
+wohl sein könne. Aber ihr war, als sähe sie sich selbst, schmal und
+schwarz wie ein Gespenst, durch große, dunkle, leere Räume wandern. Dann
+war es ihr wieder, als sei sie doch dieses hier, und die andere Mette,
+die so deutlich ihre Züge trug, sei eine Fremde. Traum und Wirklichkeit
+begannen, sich heillos ineinander zu verschlingen, alle ihre Nerven
+schienen ihr zu klirren wie losgerissene Saiten, sie sehnte sich in
+Todesangst nach völliger Bewußtlosigkeit oder plötzlich hereinbrechender
+Klarheit – es war wie Nebel, die vorbeizogen oder ein vorübergehender
+Schwindel – eine Minute später konnte sie sich nicht besinnen, was es
+eigentlich gewesen war, und konnte ihrem Verlobten, der besorgt nach der
+Ursache ihrer Blässe fragte, keine Antwort geben.
+
+Nur das seltsame Gefühl blieb ihr den ganzen Abend, als sei dies alles
+nur ein Traum oder ein Spiel. Die ganze Verlobung eine scherzhafte
+Komödie, und jeden Moment könne, wie ein gestrenger Regisseur, ein
+Schicksal hervortreten und sagen: „Genug! Die Wirklichkeit fängt wieder
+an!“ – – –
+
+ * * * * *
+
+Am zwanzigsten Juni morgens wurde Mette ans Telephon gerufen.
+
+Eine dünne Männerstimme sprach aus dem Hörer, seltsam verhalten und
+zögernd.
+
+„Ist das gnädige Fräulein selbst am Apparat? – Mette, sind Sie es?
+Verzeihung, wenn ich störe – ich hätte dich gern gesprochen!“
+
+Mette fühlte, wie ihr Herz sich losriß und in einen unermeßlichen
+dunklen Abgrund stürzte.
+
+„Peterchen?“ sagte sie und erquälte ein Lächeln, ohne daran zu denken,
+daß niemand ihr Gesicht sehen konnte. Und keiner hätte dem bebenden Ton
+ihrer Stimme dies Lächeln anhören können.
+
+„Ja ... könnte ich dich sprechen, Mette? Das heißt ...“ Wieder war dies
+scheue Zögern in der Stimme. „Wenn du willst, natürlich ... ich weiß ja
+nicht, wie weit du noch Interesse hast für deine alten Freunde.“
+
+„Selbstverständlich,“ sagte Mette fest, „jederzeit kannst du mich
+sprechen ... wann und wo du willst.“
+
+Sie fragte nicht, was geschehen sei. Sie wollte nicht fragen.
+
+„Ich kann doch nicht gut kommen ...“ Wieder dieser zaghafte Ton. „Und
+ich möchte auch nicht gern auf der Straße ... oder im Kaffeehaus ... es
+geht wirklich nicht ...“
+
+„Ich komme zu dir,“ sagte Mette rasch. „Sag’ mir nur, wo du wohnst!“
+
+„... ja ... aber ... geht denn das? ... Schließlich ... wenn du nachher
+Unannehmlichkeiten hast ... du bist verlobt ...“
+
+„Blödsinn!“ sagte Mette schroff. – – –
+
+ * * * * *
+
+Während sie über die Straße lief, dachte sie mit keinem Wort an das, was
+geschehen war. Sie wollte es vor sich selber nicht aussprechen.
+„Vielleicht ist Olga krank und hat Sehnsucht nach mir,“ dachte sie.
+„Vielleicht weiß sie auch nichts davon, und Peterchen ruft mich aus
+eigenem Antrieb.“
+
+Sie malte sich aus, daß sie Olga sehen würde, daß sie ihre Hand halten
+würde – und sie sagte sich dabei: „Das erzähle ich mir vor, wie man
+einem fiebernden Kinde Märchen erzählt. Ich male es mir mit den
+schönsten Farben aus und glaube so wenig daran, wie man an Feen und
+Zauberer glaubt.“
+
+Aber es war besser, Märchen zu erzählen, Wiegenlieder zu singen, als
+nach der Stimme zu hören, die ganz tief in ihr die Wahrheit schrie.
+
+Es war seltsam, daß sie – ohne sich umzusehen – die Straße und das Haus
+fand, so, als wäre sie hundertmal dagewesen.
+
+Als sie klingelte, stand Petermann schon auf der Diele. Das ersparte ihr
+jede Fragerei. Sie spürte auch jetzt, dem Dienstmädchen gegenüber, dem
+ersten Menschengesicht, das sie bemerkte, daß sie dazu kaum imstande
+gewesen wäre.
+
+Er nahm sie bei der Hand und zog sie wortlos, an dem erstaunten Mädchen
+vorüber, in eine offene Zimmertür.
+
+Er schloß die Tür und sagte währenddessen, ohne sie anzusehen:
+
+„Setz dich doch, Mette!“
+
+Das erste, was Mette in dem Zimmer sah, war auf der dunklen Platte des
+Schreibtisches die goldene Zigarettendose.
+
+Ein Sonnenstrahl blitzte darauf.
+
+Sie wollte sich beherrschen. Es war, als ob sie beide Hände um die Zügel
+krampfte, um sich zu halten.
+
+Aber als Petermann sich ihr zuwandte und sie sah, wie seine Hände
+hilflos waren, wie sein kleines, weißes Gesicht zitterte, wie mühsam er
+um Fassung kämpfte – da zerbrach die ihre. Sie fing an zu weinen.
+
+Peterchen setzte sich neben sie und streichelte eine Weile schweigend
+ihre Hände.
+
+„Weine nur,“ sagte er schließlich mit zitterndem Kinn, während die
+Tränen aus seinen Augen stürzten. „Weine nur, sie war es wert, daß um
+sie geweint wird, das kannst du mir glauben ...“
+
+„Dir glauben?“ sagte Mette mit herzzerreißender Bitterkeit. Sie legte
+das Tuch über die Augen und stützte den Kopf in die Hand.
+
+Ihre andere Hand streichelte zuckend über die seine.
+
+„Und nun sag’ mir alles, Peterchen – du siehst, ja, daß ich ganz ruhig
+bin – ganz, ganz ruhig. Wann geschah es? ... und wie ... und warum? ...
+Sag’ mir alles, alles, was du weißt ...“
+
+„Du solltest es nicht wissen, Mette. Nicht vor deinem einundzwanzigsten
+Geburtstag. Der war gestern, nicht wahr? Ich habe ihn hier auf dem
+Kalender vermerkt – aus einem anderen Grunde ... das muß ich dir alles
+noch erzählen ... ich hatte einen Auftrag an dich ... aber ich hatte
+natürlich keine Ahnung ... man ist ja manchmal wie mit Blindheit
+geschlagen.“
+
+Mette hob einen Augenblick den Kopf:
+
+„Sie hat es selbst getan.“
+
+Es lag keine Frage in dem Ton.
+
+„Ja.“
+
+„Erschossen.“
+
+„Ja.“
+
+Sie deckte das Tuch wieder über die Augen.
+
+„Weiter.“
+
+„Sie war einmal krank im Frühjahr, es war eine leichte Influenza. Sie
+fieberte ein bißchen, da saß ich drüben bei ihr, und sie sprach in
+einemfort von Tod und Begräbnis, ganz heiter und ausgelassen, wie es
+ihre Art war. Du weißt ja, man wußte nie, ob es Scherz oder Ernst bei
+ihr war. Da sagte sie noch: Peterchen, wenn ich jetzt sterbe, dann sorge
+dafür, daß es geheim bleibt. Es soll in keine Zeitung, kein Mensch soll
+es wissen. Auch die Mette nicht. Am liebsten wär’ es mir, du streutest
+meine Asche ins Meer oder wenigstens in den Wannsee. Aber das erlaubt
+der Staat, glaub’ ich, nicht. Nur mach schnell, daß der Rest verbrannt
+wird. Ich will kein Gfrett haben mit meinem Leichnam, ich will’s nicht.
+Ich bin nicht drin, merkt’s euch. Nicht eine Minute länger, als
+unbedingt nötig, halt ich mich in dem Kadaver auf.“
+
+Metten war, als höre sie Olga reden. So deutlich hörte sie ihre Stimme,
+daß ihr Herz sich mit einer innigen Freude füllte und sie lächelte.
+
+„Ich hab’ damals auch gelacht,“ sagte Peterchen wehmütig, „da wurde sie
+ganz ernst und richtete sich auf und sah mich an. Du weißt ja, wie sie
+einen ansehen konnte mit so gewaltsamen Augen und sagte:
+
+‚Es ist mein heiliger Ernst. Versprich es mir, gib mir dein Ehrenwort!‘
+Ich versprach es ihr auch, aber ich sagte noch:
+
+‚Du bist ja verrückt, in drei Tagen bist du doch wieder gesund.‘
+
+Sie _war_ ja auch in drei Tagen wieder gesund.“
+
+Er schwieg. Irgendwo tickte eine Uhr und Fliegen stießen surrend gegen
+das Fensterglas.
+
+Irgend etwas erfüllte Metten ein paar Sekunden lang mit Beruhigung und
+Freude. Eine unklare Empfindung: wie gut, daß Olga in ein paar Tagen
+gesund geworden war. Es steckte so viel kraftvolles Leben in diesem
+schönen Körper.
+
+Dann schlug ihr das Jetzt wie eine geballte Faust aufs Herz.
+
+Und jetzt? Und jetzt?
+
+Sie mußte ein paarmal ansetzen, um das furchtbare Wort auszusprechen.
+
+„Habt ihr sie schon begraben?“ fragte sie ganz leise.
+
+„Sie ist verbrannt worden. Die Urne ist nach Wien gekommen. Ihre
+Schwester lebt jetzt da.“ –
+
+„Hat sie hier gewohnt zuletzt?“
+
+„Um die Ecke, zwei Häuser von hier.“
+
+„Und da ist es auch geschehen?“
+
+„Ja.“
+
+„Kann man ...“ Mette schluckte ein paarmal, „kann man nicht das Zimmer
+sehen?“
+
+Petermann hob zögernd die Achseln:
+
+„Wozu? Es ist alles umgestellt. Nichts von ihren Sachen mehr da. Es ist
+auch schon wieder vermietet.“
+
+Mette sank in sich zusammen. „Es ist gut so,“ sagte sie leise, „es ist
+auch ganz gut so.“
+
+Sie hatte ein eigenartiges Empfinden. Es war wie eine Wohltat, daß jede
+Form zerstört war, die dieser Geist geschaffen hatte. Nicht einmal ein
+Zimmer war mehr auf der Welt, das diese Hände, dieser Sinn geordnet
+hatten und in das ein Teil ihres Wesens gebannt geblieben wäre. Metten
+war halb unbewußt so zumute, als hätte man durch das Umrücken von
+Möbelstücken Steine aus einer Kerkerwand gebrochen.
+
+Nun war Olga Radó ganz frei.
+
+Ein leiser Windhauch bewegte den offenen Fensterflügel und hob die
+Gardine. Eine süße weiche Kühle strich über Mettens brennende Augen. Sie
+lächelte.
+
+„Es ist gut so!“ sagte sie noch einmal.
+
+Sie wußte plötzlich, daß Olga ihre Briefe nicht erhalten hatte. Sie
+hätte nicht danach zu fragen brauchen.
+
+Aber Peterchen wär schließlich der einzige Mensch, an dessen Meinung ihr
+noch ein wenig gelegen war. Sie hatte das Gefühl, sich vor ihm
+rechtfertigen zu müssen.
+
+„Ich habe dreimal an Olga geschrieben!“ sagte sie.
+
+„Ich habe es mir beinah gedacht,“ sagte Peterchen mit trübem Lächeln.
+„Sie hat nie eine Zeile erhalten.“
+
+„Du wüßtest es sonst?“
+
+„Selbstverständlich. Wir haben doch oft genug über dich gesprochen.“
+
+„Habt ihr? Was?“
+
+Während Petermann sprach, hatte Mette die seltsame Empfindung, als
+durchlebe sie in diesen wenigen Minuten mit stärkster Intensität das
+letzte halbe Jahr ihres Lebens. So, als wäre damals, an jenem
+unglückseligen Morgen der Faden des Gewebes abgerissen und mühsam, Tag
+um Tag, ein Muster, das nicht passen wollte, angestückelt. Nun trennte
+das falsche Gewebe sich, rückwärts laufend, blitzschnell von selber auf
+– ein Knoten wurde geknüpft, wo der Faden abgerissen war, und die
+wirkliche Zeichnung lief weiter, ein wenig verkürzt, ein wenig matt in
+den Farben – aber sie lief weiter und gab eine Brücke zum heutigen Tag
+und den Tagen, die kommen sollten.
+
+„Was habt ihr von mir gesprochen?“
+
+„O viel ... Ich habe ihr sooft zugeredet, an dich zu schreiben,
+irgendwie eine Verbindung mit dir zu suchen. Sie hatte die Überzeugung,
+es nicht tun zu dürfen. Du weißt ja, wie halsstarrig sie war. Manchmal
+hatte ich die Absicht: ich telephoniere dir oder ich lauere dir irgendwo
+auf – gegen ihren Willen. Einmal hab’ ich ihr das auch gesagt. Da hat
+sie mich angefunkelt mit ihren großen Augen: ‚Wenn du dich das
+unterstehst, ist es aus mit unserer Freundschaft, für ewige Zeiten aus.
+Willst du das arme Kind auch noch zugrunde richten?‘
+
+Sie glaubte immer, du wärest glücklich, und es ginge dir gut. Ich war
+der Meinung, du müßtest erfahren, was vorgeht. Ich hab’ so gekämpft, du
+glaubst es nicht. Einmal hab’ ich dir eine Stunde lang Fensterpromenade
+gemacht. Ich dachte immer, wenn ich dich sprechen würde, wir würden
+irgendeinen Ausweg finden. Ich dachte immer, es würde noch alles gut.
+Dann hast du dich ja verlobt. Ja, da mußte ich ihr ja schließlich recht
+geben.“
+
+„Oh, du Idiot!“ sagte Mette und lachte unter hervorstürzenden Tränen.
+
+„Ich weiß den Tag noch so genau. Olga kam zu mir herüber, am frühen
+Morgen schon. Sie hockte hier neben mir auf dem Sessel und rauchte eine
+Zigarette nach der anderen. Eine halbe Stunde lang sprach sie kein Wort.
+Ich saß hier am Schreibtisch und tat so, als ob ich arbeitete. Ich hatte
+die Zeitung weggeschoben, als ich sie kommen hörte. Aber wie sie so
+dasaß, da wußte ich: sie weiß es schon. Und sie wußte, daß ich es wußte,
+aber keiner wollte anfangen, davon zu sprechen. Wie sie dann schließlich
+anfing, sagte sie immerfort: ‚Ich bin so glücklich. Ich bin ja so froh.‘
+Und sie verlangte von mir, daß ich mich freuen sollte. Wir gingen am
+Abend eine Flasche Wein zusammen trinken. Sie zwang mich direkt dazu.
+Wir müßten doch auf deine Zukunft trinken. Ich seh’ sie noch immer am
+Tisch sitzen und das Weinglas drehen. Sie hatte so ein merkwürdiges
+Lächeln den ganzen Tag. Und dann sagte sie immer wieder: ‚Die kleine
+Mette wird heiraten. So gut ist das. So gut. Unsere kleine Mette wird
+Kinder haben, lauter Jungens, denen geht’s immer gut.‘ – Dann wollte sie
+immer wieder von mir hören, daß ich es gut fände, daß ich mich freute.
+Und ich muß sagen – wie die Dinge lagen – es war ja auch wohl das Beste
+... aber von dem Tage an hatte sie eine nervöse Angst, dir irgendwo zu
+begegnen. Manchmal, wenn sie etwas zu besorgen hatte, bat sie mich
+darum. Manchmal saß sie vor mir, blaß und mit gefalteten Händen: ‚Bitte,
+bitte, Peterchen, ich kann nicht nach dem Kaufhaus gehen.‘ Die letzten
+acht bis zehn Tage hat sie überhaupt ihr Zimmer kaum mehr verlassen. Sie
+telephonierte mich an, ich sollte rüberkommen, sie wollte nicht auf die
+Straße. Aber das hatte wohl auch noch einen anderen Grund ...“
+
+„Was für einen?“ fragte Mette, nachdem er eine ganze Weile schweigend
+aus dem Fenster gesehen hatte.
+
+Er warf einen raschen und gleichsam prüfenden Blick auf sie.
+
+„Du weißt es nicht?“ sagte er wie erleichtert. „Nicht wahr, du weißt
+nichts davon ... ich hab’ es auch eigentlich nie anders angenommen ...
+Sie haben sie beobachten lassen ... deine Leute. Wo sie ging und stand
+war ein Detektiv hinter ihr her. Oh, und sie litt so wahnsinnig
+darunter.“
+
+„Warum nur?“ fragte Mette mit verlorenen Augen, „warum haben sie denn
+das getan? Sie hatten mich doch in der Hand. Sie wußten doch, wo ich
+jede Stunde des Tages zubrachte.“
+
+„Sie fürchteten wohl ... vielleicht dachten sie, wenigstens damals ...
+im Anfang, vor deiner Verlobung, du könntest in deinen Entschlüssen
+wankend werden ... oder sie könnte versuchen, dich wieder zu
+beeinflussen, sie wollten ihr irgend etwas nachsagen können, um sie als
+lästige Ausländerin ausweisen zu lassen. Herr von Seyblitz hat ihre
+ganzen Schulden aufgekauft. Das wußtest du auch nicht, nicht wahr? Sie
+haben sie so in die Enge getrieben ... täglich kamen Briefe von
+Rechtsanwälten, vom Gericht ... Sie hat sie nachher nicht mehr
+aufgemacht ... Sie ließ sie auf dem Schreibtisch sich anhäufen. Ich
+sagte manchmal: Kind, das geht nicht, du mußt antworten, du mußt
+hingehen, du mußt Entschlüsse fassen ... Dann lächelte sie so unendlich
+melancholisch: ‚Ich habe meinen Humor nicht mehr, Peterchen, ich bin alt
+und müde. Mir ist das gar ka’ Hetz mehr.‘ Und sie zeigt so mit einer
+Handbewegung auf die Papiere.
+
+Es kamen auch Drohbriefe – so gemein – sag’ ich dir. Mit Ausdrücken, die
+man nicht wiederholen kann. Von deiner Tante Emilie, glaub’ ich. Aber
+so, als wären sie in deinem Sinne geschrieben. Du wüßtest nun, wes
+Geistes Kind sie wäre, und sie sollte jeden Annäherungsversuch
+unterlassen und nicht versuchen, ihre Erpressungen an dir fortzusetzen.
+Es wäre ja genug, daß sie dich zu Diebstahl und Einbruch verführt hätte,
+daß sie deine Gesundheit untergraben hätte, daß sie den Tod deines
+Vaters verschuldet hätte – ach, und was weiß ich. Und dann Dinge, die du
+über sie gesagt haben solltest ... es muß Furchtbares gewesen sein; denn
+sie wollte es selbst mir nicht sagen oder zeigen.
+
+Sie saß mir gegenüber, ganz weiß im Gesicht und mit glühenden Augen und
+hielt mich am Handgelenk gepackt, daß ich dachte, sie zerbricht mir die
+Knochen und sagte immer wieder: ‚Davon weiß die Mette nichts, nicht
+wahr, Peterchen? Davon weiß die Mette nichts?‘
+
+Und dann ein andermal wieder sagte sie:
+
+‚Wie können Menschen nur so wahnsinnig grausam sein. Sie haben doch
+direkt ihren Spaß daran, mich langsam zu Tode zu quälen. Sie machen
+einen Kranz von glühender Kohle um mich her – wo ich mich nach einem
+Ausweg wende, sperren sie zu, bloß um zu beobachten, wie ich mich
+gebärde, wenn sie mich glücklich bis zur Raserei gebracht haben.‘ Ich
+weiß noch, dabei rannte sie hier im Zimmer auf und ab und ich dachte
+wirklich, die Wände werden ihr zu enge, sie ist wie ein gefangenes
+wildes Tier. Ich sagte noch: Du kannst doch dem allen entgehen. Du
+kannst doch nach Hause reisen. Da wurde sie ganz ruhig und sagte: ‚Ja,
+ich kann dem allen entgehen. Ich kann abreisen. Ich kann nach Hause
+reisen!‘
+
+Damals fiel mir ihr Ton nicht auf. Jetzt, wenn er mir wieder im Ohr
+klingt, begreife ich nicht, daß ich sie nicht verstanden habe. Von der
+Zeit an sprach sie oft von der Reise. ‚Am zweiundzwanzigsten Juni fahre
+ich nach Hause.‘ Das war ihre ständige Rede. Ich fragte sie einmal,
+warum sie gerade diesen Tag festgesetzt hätte. Da lachte sie und sagte:
+
+‚Weil es drei Tage nach dem neunzehnten ist.‘ Ich dachte wohl darüber
+nach. Aber der Zusammenhang wurde mir damals nicht klar ...
+
+Aber dann nach deiner Verlobung wurde das anders. Sie sagte plötzlich:
+wenn ich reise – nächste Woche ... oder übermorgen. Ich neckte sie noch
+und sagte: Nanu? Bist du deinen Vorsätzen untreu geworden? Ich denke, du
+fährst erst drei Tage nach dem neunzehnten Juni?! Da sieht sie mich so
+rätselvoll an und schüttelt den Kopf und sagt: ‚Ach nein, Peterchen,
+_darauf_ brauche ich nun nicht mehr zu warten!‘
+
+Am Abend des ... an einem Montagabend, kam sie plötzlich her, wie es mir
+vorkam, in einer gewissen heiteren Erregung. Sie legte das
+Zigarettenetui hier auf den Schreibtisch, hier, wo es noch liegt – und
+sagte zu mir, ich solle ihr den Gefallen tun und es in deine Hände
+gelangen lassen. Sie wollte reisen und wäre schon am Packen. Wenn sie es
+dir schickte, würde man es wahrscheinlich als Erpressungsversuch deuten.
+
+Ich sollt’ es dir geben, wenn sie fort wäre. Erst an deinem Geburtstag.
+Und sie verlangte, ich sollte mir den Tag im Kalender ankreuzen. Ich
+sagte, ich behalt es so. Aber sie schlug das Datum in meinem Kalender
+auf und zeichnete es selbst ein.“
+
+Er schlug mit einer fast andächtigen Bewegung das letzte Blatt zurück
+und schob Metten den Kalender hin.
+
+Auf dem weißen Blatt stand unter den neunzehnten Juni in Olgas großer
+schöner Handschrift langsam, sorgfältig hingezirkelt:
+
+Mettes Geburtstag. Nicht vergessen, Peterchen! – Und darunter waren drei
+Kreuze hingemalt, kleine, schwarze, spielerische Tintenkreuze.
+
+Mette sagte nichts. Sie legte die flache Hand auf das Blatt und nahm sie
+nicht wieder herunter.
+
+Peterchen räusperte sich ein paarmal, dann sprach er weiter:
+
+„Eh’ sie hinüberging, verabredeten wir alles für den andern Tag. Wir
+wollten uns vormittags nach den Zügen erkundigen, abends wollte ich sie
+an die Bahn bringen. Wie sie fort war, wurde ich so unruhig. Irgend
+etwas schien mir nicht zu stimmen, ich wußte nicht was. Ich versuchte,
+hinüber zu telephonieren, bekam keine Verbindung. Ich saß hier am
+Schreibtisch in einer ganz unbeschreiblichen Nervosität. Das Ding lag
+vor mir,“ er nahm das Etui in die Hand, „ich nehm’ es auf, ganz in
+Gedanken. Plötzlich fiel mir ein – verzeih’ mir, Mette, wenn es
+indiskret war, aber ich war in einer so peinigenden Unruhe, plötzlich
+fiel mir ein, es aufzumachen. Es war halb Spielerei und halb die Ahnung,
+daß ich irgend etwas finden könnte, irgend etwas Aufklärendes. Wie ich
+das Ding aufknipse,“ er tat es, „find’ ich diesen Zettel darin.“
+
+Er gab es Metten in die Hand. Unter die Bänder, die die Zigaretten auf
+der goldenen Fläche festhalten sollten, war ein Blatt Papier geschoben,
+darauf stand in Olgas unverkennbarer Handschrift:
+
+„_Qui vivens laedit, morte medetur!_“
+
+„_Qui vivens laedit, morte medetur!_“ wiederholte Petermann. „Ein
+paarmal las ich das wie ein Blödsinniger, ohne etwas zu begreifen, dann
+stürzte ich hinunter. Ohne Hut, ohne Schlüssel. Unten war das Haus
+verschlossen. Ich klingelte dem Portier. Er kam nicht sofort. Ich raste
+die Treppen wieder hinauf, um mir die Schlüssel zu holen. Ehe ich das
+Haus aufschloß, eh’ ich über die Straße kam, eh’ ich drüben den Portier
+rausklingelte – das dauerte alles Ewigkeiten. Auf der Treppe begegnete
+mir das Mädchen, das mich holen sollte. Schreiend und schluchzend. Da
+war es schon geschehen.“
+
+Mette legte die Stirn auf die Kante des Schreibtisches. Es wurde kein
+Laut hörbar. Petermann strich ein paarmal mit zitternden Fingern über
+Mettens Haar.
+
+„Ich muß dir noch etwas erzählen,“ sagte er leise, „Sie hat ganz in
+deinen Blumen gelegen – vielleicht tut dir der Gedanke wohl. Du weißt
+doch, damals – als ihr euch trenntet – du liefst weg und deine Leute dir
+nach, ich hatte den Wortwechsel ja von draußen so halb und halb mit
+angehört – ich ging nach einer ganzen Weile in mein Zimmer – da stand
+Olga noch immer mitten im Zimmer, an den Tisch gelehnt. Und wie ich
+hereinkomme, sieht sie mich an, als wecke ich sie aus dem Schlaf. Ich
+nehme sie an beiden Armen und rüttle sie. Was ist denn geschehen, Olga?
+Was hast du denn der Mette getan? Sie sieht mich ganz verstört an und
+sagt immer wieder: Ich habe etwas Furchtbares getan, oh, Gott,
+Peterchen, ich habe etwas Furchtbares getan. Sie hatte dich ganz formell
+fortgeschickt, nicht wahr? Hatte gesagt, du solltest sie nicht mehr
+belästigen oder so etwas, nicht wahr?
+
+Dann sagte sie wieder: es wäre zu deinem Besten, sie hätte dich
+fortschicken müssen, es wäre verbrecherischer Egoismus, dich zu halten.
+Ich sah, wie aufgeregt sie war und stimmte ihr zu, wenigstens halb und
+halb. Ich war ja doch im Grunde etwas erbittert auf sie. Ich sagte,
+glaub’ ich, Tante Emilie hätte alle Ursache, ihr dankbar zu sein.
+
+Da nahm sie mich plötzlich bei der Hand und sagte ganz ruhig: ‚Ich lüge
+ja, Peterchen, ich lüge ja. Es war ja nichts wie hundserbärmliche
+Feigheit. Aber Mette mußte das wissen, sie kannte mich doch. Ich hätt’
+mich auf die Schienen gelegt, oder ich wär’ aus dem Fenster gesprungen,
+aber ich kann mir nicht von solchen Leuten die Kleider vom Leibe reißen
+lassen, ich kann es nicht, ich kann es nicht. Ich weiß, ich bin
+erbärmlich und verächtlich, aber ich kann es nicht, ich kann es nicht.‘
+Und immer wieder: ‚Ich kann es nicht!‘ Ich fragte sie, was du
+geantwortet hättest. Da wurde sie ganz blaß und sagte: ‚Nichts hat sie
+geantwortet. Nicht ein Wort. Das ist ja das Furchtbare. Sie stand meiner
+Gemeinheit so wehrlos gegenüber.‘
+
+Sie hatte dann noch eine Auseinandersetzung mit der Flesch. Die Flesch
+hat sich nebenbei noch unglaublich benommen. Olga wollte keine Stunde
+länger in dem Hause bleiben. Was ich ihr auch gar nicht verdenken
+konnte. Sie ging dann hinüber, um ihre Sachen zu packen. Nach einer
+Weile kommt sie und packt mich am Handgelenk und zieht mich in ihr
+Zimmer.
+
+‚Da hast du ihre Antwort,‘ sagt sie und zeigt mir das ausgestreute Geld.
+‚Sie kann antworten. Wir haben sie unterschätzt.‘ Oh, Mette, warum hast
+du das nur getan? Wenn ich ehrlich sein soll – ich war damals furchtbar
+böse auf dich! Sie sagte immer: ‚Was tue ich nur? was tue ich nur?‘ Ich
+sagte: du packst das Geld in ein Kuvert und schickst es hin, ohne ein
+Wort dazu. Aber sie schüttelte nur den Kopf. ‚_Die_ Ohrfeige hab’ ich
+verdient, Peterchen,‘ sagte sie schließlich, ‚die muß ich ganz ruhig
+hinnehmen.‘ Sie suchte die Scheine zusammen, beinahe liebevoll, möcht’
+ich sagen, und sagte ein paarmal ganz leise: ‚Der Kindskopf! sie hat ja
+nicht gewußt, was sie tut! sie hat ja nicht gewußt, was sie tut!‘ Dann
+gab sie mir das Bündel Scheine. ‚Heb’ mir das auf, Peterchen. Vielleicht
+kommt einmal eine Zeit, wo ich es nötig brauche, und vielleicht ist es
+mir dann eine Freude zu wissen, daß es von Metten kommt.‘
+
+Ich habe sie in der letzten Zeit so oft daran erinnert, wenn sie vor
+Sorgen buchstäblich nicht mehr aus noch ein wußte. Aber sie schüttelte
+nur immer den Kopf und sagte: ‚Noch nicht, noch nicht!‘
+
+Als sie ... tot war,“ die Stimme brach ihm, „da hab’ ich weiße Orchideen
+gekauft, für das ganze Geld und hab’ sie überschüttet damit. Das sah aus
+wie ein Märchen.“
+
+Er kam nicht weiter. Die Lippen zitterten ihm, die Tränen stürzten über
+sein Gesicht.
+
+Nach einer langen, langen Stille richtete Mette sich ruhig auf, mit
+trockenen Augen.
+
+Neben dem Etui auf dem Schreibtisch lag eine Waffe.
+
+„Das ist der Revolver?“ fragte Mette und griff danach.
+
+„Ja.“
+
+„Gib ihn mir,“ sagte sie und legte die Hand fest um den Griff.
+
+Petermann machte eine erschrockene Bewegung.
+
+Mette schüttelte langsam den Kopf.
+
+Petermann sah ihr in die Augen, dann zog er zögernd die ausgestreckte
+Hand zurück.
+
+„Ich will ihn nicht behalten,“ sagte er, „er liegt da wie eine ständige
+Versuchung. Und nicht jeder hat eine so sichere Hand wie Olga Radó. Du
+hast ein Recht darauf. Natürlich. Aber ich möchte nicht, daß du ihn
+behältst. Versprich mir etwas, Mette – gib ihn dem Mann, den du liebst.
+Dann ist er in den besten Händen.“
+
+Sie war aufgestanden. „Ich verspreche es dir,“ sagte sie fast feierlich,
+„ich will ihn dem Manne geben, den ich liebe.“
+
+„Schwöre mir, daß du keine Dummheiten machen wirst ... auch nicht
+leichtsinnig oder fahrlässig damit umgehen.“
+
+„Ich schwöre es dir,“ sagte Mette. „Wobei nur? Ich kann dir doch nicht
+bei meinem Leben schwören, daß ich mich nicht erschieße. Ich schwöre es
+dir bei meiner ewigen Seligkeit. Und bei Olga Radós zehntausendfach
+geheiligtem Gedächtnis.“
+
+Irgend etwas in ihrem Ton machte ihn betroffen. Er stand langsam von
+seinem Stuhl auf, wie um seine forschenden Augen den ihren zu nähern.
+
+„Sag mir, Mette,“ sagte er zögernd, „ich möchte nicht, daß ich mir
+Vorwürfe machen müßte. Ich möchte nicht, daß das, was ich dir erzählt
+habe, dich in deinen Entschließungen beeinflußt.“
+
+Mette umschloß seine ausgestreckten Finger mit einem kurzen festen
+Druck. In der leichten Bewegung, mit der sie die Brust hochreckte und
+mit der Hand über die Hüfte strich, lag eine aufs äußerste gespannte
+Kraft.
+
+„Ich schwöre dir,“ sagte sie, „daß von dieser Stunde an nichts und
+niemand mehr mich in meinen Entschließungen beeinflussen kann.“ – – –
+
+ * * * * *
+
+Mette ging nicht direkt nach Hause. In wenigen Sekunden tauchten Pläne
+in ihr auf, formten sich zu Entschließungen. Nichts schwankte hin und
+her, eh’ es Gestalt annahm, alles trat mit einem Schritt aus der
+Verborgenheit ans Licht und stand unumstößlich fest.
+
+Sie ging zu einer Speditionsfirma und zu dem Wirt des Hauses, in dem sie
+lange Jahre gewohnt hatten. Es gab eine Zeit, wo sie sich vor solchen
+Gängen gefürchtet hätte. Jetzt fühlte sie, daß nie im Leben jemand ihr
+derlei Unannehmlichkeiten abnehmen würde.
+
+Es tat fast wohl, sich solche winzigen Lasten aufzuladen und die eigene
+Kraft zu spüren, wenn man sie spielend trug.
+
+Es tat wohl, entschlossen zu sein, mit Umsicht Anordnungen zu treffen,
+mit Überlegung Unterhandlungen zu führen.
+
+Als sie in ihrem Zimmer den Hut in den Schrank legte, streifte ihre Hand
+das schwarze Kleid, das sie zu ihres Vaters Begräbnis getragen hatte.
+Einen Augenblick fühlte sie den Wunsch, es anzuziehen, das stumpfe
+Düster des Krepps an sich zu sehen, an sich zu fühlen.
+
+Aber sie straffte sich auf. „Unsinn!“ sagte sie halblaut, biß die Zähne
+aufeinander und schloß den Schrank.
+
+Sie ging in ihres Vaters Studierzimmer, setzte sich an den Schreibtisch
+und schrieb verschiedene Briefe, an den Rechtsanwalt, an die Bank.
+
+Nach einer Weile kam das Mädchen herein:
+
+„Das gnädige Fräulein läßt Fräulein Mette zu Tisch bitten.“
+
+Mette hob den Kopf nicht.
+
+„Sagen Sie dem gnädigen Fräulein, ich käme nicht zu Tisch, ich hätte
+schon gegessen. Aber ich lasse das gnädige Fräulein bitten, nach dem
+Essen herzukommen.“
+
+Das Mädchen stand eine Weile mit offenem Mund in der Tür. Aber als Mette
+sich nicht rührte, nichts hinzufügte, nichts widerrief, nur weiter die
+Feder eilig über das Papier rascheln ließ, trollte sie davon.
+
+Nach einer Weile erschien Tante Emilie, sichtlich unentschlossen, ob sie
+empört oder liebenswürdig sein sollte.
+
+Mette legte die Feder aus der Hand und gab ihrem Stuhl eine leichte
+Wendung.
+
+„Bitte nimm Platz,“ sagte sie in einem Ton, so geschäftlich, eilig, fest
+und undurchdringlich höflich, daß dieser Ton allein schon Tante Emilien
+in einen Abgrund von Verwirrung stürzte und ihr jede Redemöglichkeit
+nahm.
+
+„Verzeih, wenn ich dir deinen Nachmittagsschlaf kürze, aber ich habe mit
+dir zu reden, und zwar Dringliches.“
+
+Mette nahm das Falzbein, drehte es, bog es, schlug damit auf die
+ausgestreckten Finger und sah diesem Spiel angelegentlich zu, während
+sie sprach.
+
+„Du wirst dich rasch entscheiden müssen, wo du hinzugehen gedenkst, ich
+reise ...“
+
+„Du?“
+
+„Ich reise. Der Haushalt wird aufgelöst. Die Wohnung wird vermietet.
+Newes entbindet mich vom Vertrag. Ich habe schon mit ihm gesprochen. Die
+Sachen kommen auf den Speicher. In den nächsten Tagen schon. Ich fange
+heut’ schon an. Morgen kommen die Packer. Du wirst der Kramerei sicher
+gern aus dem Wege gehen wollen. Ich empfehle dir, in ein Hotel oder in
+eine Pension zu gehen, bis du dich endgültig entschieden hast. Wenn du
+heut’ nachmittag die Mädchen brauchst zum Packen deiner Sachen, sie
+stehen zu deiner Verfügung. Ja, und – ich möchte nicht, daß dir durch
+meine Entschließungen ein pekuniärer Nachteil entsteht. Am liebsten wäre
+es mir, wenn du deine Wünsche schriftlich formulierst und an Rosenbaum
+gibst. Ich habe ihm schon diesbezüglich geschrieben.“
+
+Mette legte das Falzbein hin.
+
+„Ja, das wäre wohl alles!“ Sie stand auf und stützte beide Hände hinter
+sich auf den Schreibtischrand.
+
+„Also, wenn wir uns nicht mehr sehen sollten, Gott befohlen, und laß es
+dir recht gut gehen.“
+
+Tante Emilie stand auf mit zitternden Knien, und ihr Gesicht spielte in
+allen Farbentönen vom Zitronengelben ins Aschgraue.
+
+„Und ... und Alfred?“ fragte sie, mit vergeblichem Bemühen, eine süße
+rührende Weichheit in ihren scharfen Ton zu legen.
+
+„Wie? Wer?“ Mette kniff die Augen zusammen, als müsse sie sich besinnen.
+„Ja so, nein, danke. Da brauchst du keinerlei Mitteilung zu machen. Ich
+werde alles Erforderliche selbst besorgen.“
+
+„Mette!“ sagte Tante Emilie feierlich. „Wenn das dein seliger Vater
+wüßte! Ich habe dich von deinem ersten Tag an behütet und gepflegt, und
+zum Dank wird man so vor die Tür gesetzt ...“
+
+Mette griff wieder nach dem Falzbein.
+
+„Ich habe schon an Rosenbaum geschrieben, daß von meinem Vermögen
+fünfzigtausend Mark an dich übergehen. Mit dem, was du hast und mit dem,
+was dir von Vater kommt, kannst du dann ganz deiner Bequemlichkeit
+leben. Ich will morgen vormittag hingehen und ihm die nötigen
+Vollmachten geben.“
+
+„Mette,“ sagte Tante Emilie mit gesteigertem Pathos. „Ich habe dich vor
+einem entsetzlichen Schicksal behütet. Das solltest du mir auf Knien
+danken!“
+
+„Gewiß, gewiß,“ sagte Mette und verzerrte ein wenig den Mund. „Ich werde
+Rosenbaum schreiben: Hunderttausend.“
+
+Da wandte sich Tante Emilie und rauschte hinaus.
+
+Mette packte die Sachen in fieberhafter Eile, wie auf der Flucht. Sie
+arbeitete Tag und Nacht und ließ sich von niemandem helfen, auch von
+Peterchen nicht und von mir nicht.
+
+Aber am Abend, als sie reiste, holten wir beide sie aus der Wohnung ab
+und brachten sie an die Bahn.
+
+Die Wohnung war leer und dunkel. Alle Möbel fort. Die Kronen abgenommen,
+die Fenster ohne Gardinen. Hie und da starrte ein Spiegelhaken trostlos
+aus der nackten Wand oder ein Fleck der Tapete zeigte die Form eines
+Bildes, das lange Jahre da gehangen hatte. Ein großer Koffer, ein wenig
+Handgepäck standen mitten in dem leeren Raum. Mette hatte eine brennende
+Kerze auf dem Fensterbrett festgeklebt. Das gab ein seltsames
+flackerndes Halblicht. Unsere Schatten glitten groß und verbogen an Wand
+und Decke entlang.
+
+Peterchen sah immerfort nach der Uhr.
+
+„Ist es nicht Zeit, daß ich nach einem Wagen gehe?“ fragte er unruhig.
+
+Mette hob die Hand. „Laß doch! Wir haben noch endlos Zeit. Was sollen
+wir auf dem Bahnsteig? Und was schadet es, wenn ich den Zug versäume?
+Ich lauf’ ja niemandem nach. Und mir läuft niemand nach. Dann fahr’ ich
+eben morgen früh.“
+
+„Ach ja,“ sagte Peterchen erleichtert, „das wäre mir überhaupt viel
+lieber. Ich verstehe gar nicht, wie man so in die Nacht hineinfahren
+kann.“
+
+„Ich fahre ja in den Morgen hinein,“ sagte Mette mit leisem Lächeln. „In
+ein paar Stunden kommt die Dämmerung. Außerdem lieb’ ich die Nacht. Wer
+die Sterne liebt, muß auch die Nacht lieben. Sag, Peterchen, hast du
+eigentlich schon einmal daran gedacht, daß sie am Tage auch da sind?
+Genau so fern und so nah wie des Nachts. Manchmal such’ ich sie am
+sonnenhellen Himmel – ich fühle ganz genau – da steht der, und da steht
+der, und dann kann ich in der Dämmerung ganz ungeduldig werden, bis sie
+endlich sichtbar sind.“
+
+„Das hast du auch von ihr,“ sagte Peterchen wehmütig, „diese verrückte
+Sternenliebe.“
+
+„Ja,“ sagte Mette, und ihre tiefe Stimme klang wie eine Glocke, „was
+hab’ ich _nicht_ von ihr? Alles. Und alle Liebe ganz gewiß. Himmel und
+Erde sind voll von Dingen, an denen ihre Liebe hängt. Und von all diesen
+Dingen strömt ihre Liebe wieder auf mich zurück. Herrgott, was liebte
+sie alles! Berge und Meer und Blumen und Spinnen und kleine Kinder und
+Leder und Seide und Kristall und die Günderode und den heiligen
+Franziskus von Assisi – und – mich. Wahrhaftig, sie hat mich die Liebe
+gelehrt. O Gott! Wenn Tante Emilie das hörte, würde sie es sicherlich
+falsch auffassen.
+
+Einmal hat sie zu mir gesagt, Olga, ich glaube, es war auf der Reise,
+und wir sprachen wohl von unserer Zukunft, und ich sagte, daß ich mich
+nicht von ihr trennen lassen wollte, bis zu meiner Mündigkeit. Da wurde
+sie ganz ungeduldig und sagte:
+
+‚Herrgott, was ist das für ein jämmerlicher Standpunkt, immer nur das
+lieben zu können, was man an der Hand hält!‘
+
+Hat sie nicht recht? Warum soll man nicht die Toten lieben und die
+Kommenden und die ganz Fernen, deren Sein wir nur ahnen oder deren
+Schaffen uns einen Hauch von ihrer Seele gibt? Und warum nur einen,
+warum nicht Tausende – die, nach denen wir uns sehnen und die, die sich
+nach uns sehnen – die, die in unerfüllter Sehnsucht nach uns gestorben
+sind, und die, die mit unerfüllter Sehnsucht nach uns leben werden, wenn
+wir lange tot sind. Mir ist manchmal, als sollt ich meine beiden Hände
+in die Weite strecken und rufen: ich liebe euch, ich liebe euch, ich
+liebe euch!“
+
+„Es ist merkwürdig,“ sagte Peterchen scheu und sah kopfschüttelnd zu
+Metten empor, die unheimlich groß und schlank aufgereckt in dem
+gespenstischen Licht stand, „es ist merkwürdig, wie ähnlich du ihr
+manchmal bist.“
+
+„Es ist viel merkwürdiger,“ sagte Mette lächelnd, „wie unähnlich ich ihr
+_war_. Fern, fremd, unverwandt. So entsetzlich unähnlich, daß ich sie
+eigentlich nie verstanden habe. Ich glaube, ich hätte sie mit Eifersucht
+und Mißtrauen zu Tode gequält.“
+
+„Und jetzt?“ fragte Peterchen. „Würdest du nicht eifersüchtig und
+mißtrauisch sein? Wer weiß, wenn ihr zusammen geblieben wäret,
+vielleicht hättest du in ein paar Monaten Ursache dazu gehabt.“
+
+Mette schüttelte langsam den Kopf. „Das soll ein Trost für mich sein,
+Peterchen. Aber es ist keiner. Ich hatte so unbändige Freude an ihr. Und
+wenn tausendmal nur die Form zerstört ist. Auch um die Form ist es ein
+Jammer. _Die_ Freude hätt’ ich immer an ihr haben können. Und so wie ich
+sie jetzt sehe – ich hätte eben einsehen müssen, daß ich nicht aus Geiz
+Himmel und Erde ihrer Liebe hätte berauben dürfen. Aber belogen hätte
+Olga Radó mich nie. Nie, nie, nie!“
+
+„Der Zug, Mette!“ mahnte Peterchen.
+
+Mette warf einen Blick auf ihr Handgelenk.
+
+„Ja, wir müssen gehen.“
+
+Peterchen ging, einen Wagen zu holen. Der Kutscher trug das Gepäck
+hinunter.
+
+Ich wollte die Kerze löschen, als wir gingen.
+
+„Nein, laß!“ sagte Mette. Sie lief ein paarmal hin und her und brachte
+Wasser in den hohlen Händen, das sie um die Kerze träufelte, bis sich
+ein kleiner See bildete.
+
+„Nun kann es kein Feuer geben,“ sagte sie. „Seltsam, wenn ich schon im
+Zug sitze, brennt vielleicht hier in der leeren Wohnung noch das Licht.
+Ich muß immer an die arme Johanna denken, schon den ganzen Abend, als
+das Licht so im Fenster brannte.“
+
+„Wer ist das?“ fragte ich.
+
+„Die arme Johanna? Das war eine Frau, die Olga liebte. Sie ist an der
+Schwindsucht gestorben. Und Olga konnte nicht um sie sein, als sie im
+Sterben lag. Aber die Schwester, die sie pflegte, stellte nachts immer
+eine brennende Kerze ans Fenster. Das hatte die arme Johanna alles
+selber so verabredet und bestimmt. Solange sie lebte, solange sollte die
+Kerze brennen. Und da ist Olga manchmal drei-, viermal in der Nacht,
+wenn sie es vor Unruhe nicht mehr aushalten konnte, nach dem Haus
+gelaufen und hat auf der Straße gestanden, um nur die Kerze brennen zu
+sehen.“ – „Schau,“ Mette wandte sich um, während wir in den Wagen
+stiegen, „da oben brennt meine Kerze und leuchtet mir nach!“
+
+Sie winkte mit den Handschuhen einen Gruß zurück.
+
+„Und da, schau,“ sie richtete sich auf, mit einem seltsamen Entzücken im
+Gesicht und wies nach dem Sternenhimmel, „da ist der Antares! Das Herz
+des Skorpions. Dem zieh’ ich jetzt nach, immer weiter nach Süden. Wir
+können zusammen bleiben, oder ich kann auf ihn warten, bis er wieder
+kommt, mit der unbedingtesten Zuverlässigkeit, wie der treueste Freund.“
+
+„Trotzdem,“ sagte Peterchen, „ich habe das Gefühl, daß es doch ein
+bißchen wenig Schutz und Freundschaft für dich ist. Wenn ich denke, daß
+du in der nächsten Nacht in einer fremden Stadt, in einem fremden
+Hotelbett schlafen sollst ...“
+
+„Schön!“ sagte Mette. „Das ist ja das, was mir Ruhe geben kann. Ein
+Raum, den ich noch nie gesehen habe. Trotzdem ist dieser Raum jetzt
+schon da. Ein anderer Mensch bewohnt ihn und erfüllt ihn ganz mit seinen
+Leiden und Freuden und Sorgen und Gedanken. Muß man sich denn immer nur
+mit einem peinlichen Gefühl des Ekels in ein fremdes Bett legen? In
+einem frisch bezogenen Hotelbett sind keine fremden Mikroben und
+Bakterien – aber auf den Tapeten liegen noch Schatten und Lichter
+fremder Schicksale. Und die tönen das eigene zum Schweigen.
+
+Man soll nicht in den Wänden bleiben, wo einen der eigene Schmerz immer
+von den Tapeten anschreit.
+
+Das fremde Bett wird mir morgen erzählen, was es alles erlebt hat. Weißt
+du, auch das ist Feengabe. Ich bin nicht mehr bange, weil die Dinge
+anfangen, mit mir zu reden. Das sind immer die Glückskinder in den
+Märchen oder die Weisen in den Sagen – König Salomo, vogelsprachekund –
+denen die Dinge und die Tiere und die Bäume ihre Geheimnisse erzählen.
+Du glaubst nicht, was das bedeutet. Die ganze Welt war so entsetzlich
+stumm. Und nun höre ich überall so liebe, vertraute, unhörbare Stimmen.
+Ihr ahnt gar nicht, mit was für einem Entzücken und einem Stolz das
+einen erfüllt. Siehst du, Peterchen – das ist _auch_ etwas, was ich von
+Olga habe.“
+
+„Ja,“ sagte Peterchen nachdenklich, „ich fühle deine Kraft – fast mit
+Neid. Sie hat dir unendlich viel gegeben. Ich kann nicht los von dem
+Gedanken ... vielleicht hatte sie doch recht: ‚_Qui vivens laedit, morte
+medetur_‘ – was lebend verwundet, heilet im Tod.“
+
+„Nein, nein, sag das nicht!“ sagte Mette mit einer fast flehenden
+Bewegung. „Ich will es nicht hören, weil es nicht wahr ist. Aber ich
+habe die heilige Überzeugung – und _das_ dank ich ihr tausendfach mehr
+als alles andere – daß der Satz _umgekehrt_ wahr ist – hilf mir,
+Peterchen, mit meinem Latein ist es schwach bestellt: _Qui vivens
+laeditur, morte_ ... nein, es geht nicht ... _medetur_ ... das sind die
+verflixten Deponentia, davon kann ich keine Passivform bilden. Aber du
+weißt ja, was ich meine: Was lebend verwundet wird, wird im Tode geheilt
+... das heilt der Tod ... _mors medetur_, nicht wahr, das kann man
+sagen?
+
+Und siehst du, das ist das größte: die Stunde Lust, die ich auf diesem
+Maskenball des Lebens vielleicht noch finden kann, die dank ich ihr –
+aber wenn mir das Treiben zuwider wird, dann dank ich ihr den Schlüssel
+zur Ausgangstür.“
+
+„Ja,“ sagte Peterchen ein wenig bitter, „einen sechsläufigen Revolver!“
+
+„Oh,“ sagte Mette, „mehr als das: damit allein ist es nicht getan. Weißt
+du nicht, was die kleine Seejungfer sich wünschte, um was sie sich die
+Zunge herausschneiden ließ, um was sie bei jedem Schritt tausendfältige
+Schmerzen litt, was nur eine große, große Liebe ihr geben konnte? Mir
+hat es Olga gegeben. Mir hat Olga alles gegeben, was man braucht, um
+allen Möglichkeiten der verhüllten Zukunft mit unzerstörbarer Ruhe
+entgegenzugehen: einen sechsläufigen Revolver ... _und_ eine
+unsterbliche Seele!“
+
+
+
+
+ Askanischer Verlag Berlin SW
+
+
+ In unserem Verlage erschien von
+ Anna Elisabet Weirauch
+
+ Der Tag der Artemis
+ Drei Novellen
+
+ „Der Tag der Artemis“ – das ist der Tag, der Knaben zu Männern
+ macht, der Tag, an dem im jungen Menschenkinde unerkannt,
+ gebieterisch, erschreckend oder beglückend zum erstenmal das
+ Geschlecht sich regt.
+
+ Die erste der Novellen ist eine Institutsgeschichte.
+ Schwärmerische Neigung, ehrliche Kameradschaft, Eifersucht, Haß,
+ gekränkter Ehrgeiz – alle Leidenschaften toben und gären in
+ diesen unreifen Knabenseelen, bis sie in einer Katastrophe
+ explodieren.
+
+ „Gere“ ist die Geschichte eines Schülerselbstmordes. Der
+ Gequälte, der in dem unverstandenen natürlichen Trieb nur Schmutz
+ und Laster sieht, verliert seinen letzten Halt, den Glauben an
+ die Heiligkeit der Mutter, und greift zum Revolver.
+
+ „Der Statist“ variiert das Thema des erwachenden Liebesgefühls in
+ heiterer Form. Einen armseligen Drogistenlehrling bringt ein
+ Zufall als Statisten ans Theater. Die schwärmerische Leidenschaft
+ für die Heldin des Hoftheaterchens macht einen Menschen aus ihm
+ und führt ihn auf einen Weg, den er weitergehen wird, auch wenn
+ die Leidenschaft längst verlodert ist.
+
+ Erzählungen aus jenen Lebensjahren, wo die Erotik noch
+ schlummert, wo sie aber im geheimen heftiger wühlt als wir ahnen
+ und ahnen wollen.
+
+ Schön gebunden M. 10,–
+ Zu beziehen durch alle Buchhandlungen
+
+ Sogno
+ Das Buch der Träume
+ Ein Roman
+
+ „Sogno“ ist der Roman eines überfeinerten Phantasten, der alle
+ seine müßigen Gedanken um ein stolzes und rätselvolles Weib
+ spielen läßt – so lange, bis die heiße blutvolle Wirklichkeit
+ dieser Natur in sein Dasein einbricht und er erkennt, daß er
+ nicht die Kraft und Gesundheit der Seele und der Sinne hat,
+ Erträumtes in lebendige Realität umzusetzen.
+
+ Die hohe Kunst der durch ihre Romane „Die kleine Dagmar“ und „Der
+ Skorpion“ rasch berühmt gewordenen Verfasserin offenbart sich in
+ diesem Buche in intimster Stimmungsmalerei und seltener Schönheit
+ der Sprache.
+
+ Schön gebunden M. 10,–
+ Zu beziehen durch alle Buchhandlungen
+
+
+ Askanischer Verlag Berlin SW
+
+
+Anmerkungen zur Transkription
+
+Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere
+Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):
+
+ [S. 50]:
+ ... Der Hand drehte den Kopf und leckte mit der Zunge ...
+ ... Der Hund drehte den Kopf und leckte mit der Zunge ...
+
+ [S. 99]:
+ ... Herr mehr in meiner eigenen Wohnung. Nimm ...
+ ... Herr mehr in meiner eigenen Wohnung? Nimm ...
+
+ [S. 228]:
+ ... kam nicht wieder, war unwiderbringlich verloren. ...
+ ... kam nicht wieder, war unwiederbringlich verloren. ...
+
+
+
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75397 ***
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+<title>Der Skorpion. Band 1 | Project Gutenberg</title>
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+ <!-- TITLE="Der Skorpion. Band 1" -->
+ <!-- AUTHOR="Anna Elisabet Weirauch" -->
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+ <!-- PUBLISHER="Askanischer Verlag, Berlin" -->
+ <!-- DATE="1919" -->
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+<div class="centerpic">
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+<div class="frontmatter chapter">
+<p class="halftitle">
+Der Skorpion<br>
+I
+</p>
+
+</div>
+
+<div class="frontmatter chapter">
+<p class="cop">
+Alle Rechte vorbehalten<br>
+Copyright by Askanischer Verlag<br>
+Berlin 1919
+</p>
+
+<p class="printer">
+Druck von Herrosé &amp; Ziemsen, G. m. b. H., Wittenberg<br>
+Einband von C. Albert Kindle, Berlin SW
+</p>
+
+</div>
+
+<div class="frontmatter chapter">
+<p class="aut">
+<span class="line1">Anna Elisabet Weirauch</span>
+</p>
+
+<h1 class="title">
+Der Skorpion
+</h1>
+
+<p class="subt">
+Ein Roman
+</p>
+
+<p class="motto">
+Qui vivens laedit<br>
+Morte medetur
+</p>
+
+<p class="vol">
+Erster Band
+</p>
+
+<p class="pub">
+Askanischer Verlag Berlin<br>
+1919
+</p>
+
+</div>
+
+<div class="frontmatter epi chapter">
+ <div class="poem-container">
+ <div class="poem">
+ <div class="stanza">
+ <p class="verse">«Vous que dans votre enfer mon âme a poursuivies,</p>
+ <p class="verse">Pauvres sœurs, je vous aime autant que je vous plains,</p>
+ <p class="verse">Pour vos mornes douleurs, vos soifs inassouvies,</p>
+ <p class="verse">Et les urnes d’amour dont vos grands cœurs sont pleins!»</p>
+ </div>
+ <div class="stanza attr">
+ <p class="verse">Baudelaire.</p>
+ </div>
+ </div>
+ </div>
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="chapter blank" id="chapter-0-1" title="Prolog">
+<span class="keep-nu-validator-happy">&nbsp;</span>
+<a id="page-7" class="pagenum" title="7"></a>
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">W</span><span class="postfirstchar">enn</span> ich ehrlich sein soll – daß ich durchaus
+Melitta Rudloffs Bekanntschaft machen wollte,
+geschah ihres schlechten Rufes wegen. Die geraden,
+gesunden und reinlichen Durchschnittsmenschen hatten
+für mich keine Bedeutung. Ich suchte die Kranken,
+die Verlorenen, die Ausgestoßenen. – Ich suchte sie
+mit geteiltem Gefühl, und – seltsam, wie wir Menschen
+nun einmal sind – ich bin stolz darauf, daß ich
+sie suchte mit der klaren und kalten Freude des Forschers,
+daß ich sie suchte, um sie zu vivisezieren, zu
+analysieren, sie in Systeme einzuschachteln – und ich
+schäme mich ein bißchen, zu gestehen, daß ich sie suchte
+in dem überheblichen Wahn, helfen zu können, bessern zu
+können – sie mit reinen und gütigen Händen hellere
+Wege zu führen.
+</p>
+
+<p>
+Es geschah durch Tante Antonie, daß ich zuerst von
+Melitta Rudloff erzählen hörte. Tante Antonie war
+eine sehr fromme und ehrenwerte Frau, und Lüge und
+<a id="page-8" class="pagenum" title="8"></a>
+Verleumdung lagen ihr fern. Sie sah die Dinge mit
+scharfen Augen, aber sie sah sie von ihrem unverrückbaren
+Standpunkt aus.
+</p>
+
+<p>
+Nach diesen Erzählungen hatte Melitta – oder
+Mette, wie sie genannt wurde – als Kind schon einen
+sonderbaren Hang zum Lügen und Stehlen gezeigt.
+Auf der Schule galt sie als dumm und faul. Als
+junges Mädchen lief sie einer merkwürdigen Frau
+nach, einer Hochstaplerin mit ausgesprochen männlichem
+Gebaren. Vielleicht verführt von dieser Freundin,
+von der sie nebenbei späterhin hinausgeworfen
+wurde – stahl sie im väterlichen Hause das Silberzeug
+und trug es aufs Leihamt. Nach einem Tobsuchtsanfall,
+bei dem sie ihre Tante, die treue Pflegerin
+ihrer mutterlosen Kindheit, erwürgen wollte,
+wurde sie zu ihrem Onkel nach einer kleinen Stadt gebracht.
+Dort stahl sie, was im Hause nicht niet- und
+nagelfest war, erbrach schließlich auf raffinierteste
+Weise den Schreibtisch, entwendete eine größere
+Summe Geldes und entfloh.
+</p>
+
+<p>
+Ihr Vater, eine feinsinnige Gelehrtennatur, überlebte
+die Nachricht von diesen Geschehnissen nicht lange
+– er wurde vom Schlage getroffen.
+</p>
+
+<p>
+Mettens Mutter war bei ihrer Geburt gestorben.
+Wie Jürgen von Seyblitz stets bitter zu sagen pflegte:
+„Zum Glück“.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-9" class="pagenum" title="9"></a>
+Mette war nicht dieser Meinung. Sie hatte eine
+phantastische Vorstellung von der Wesenheit einer
+Mutter und glaubte immer, daß der frühe Tod der
+ihren alles Unheil ihres Lebens verursacht hätte.
+</p>
+
+<p>
+Ich meinesteils weiß nicht, welcher Ansicht ich mich
+anschließen soll. Ganz sicher hätte Mette nicht eine so
+trübe und freudlose Kindheit gehabt, wie unter Tante
+Emiliens knochigen Fingern – aber selbst die weichste
+Mutterhand hätte die schwersten Kämpfe ihres Lebens
+nicht von ihr fernhalten können. Und wenn ich an
+diese Zeiten denke, begreife ich Onkel Jürgens „Zum
+Glück“ recht wohl. Vielleicht hatte er ein besseres Bild
+von seiner Schwester, als Mette es von ihrer Mutter
+haben konnte.
+</p>
+
+<p>
+Wenn ich nun versuchen will, zu erzählen, was ich
+von Mette Rudloff und von ihren Beziehungen zu
+Olga Radó weiß, so muß ich fürchten, falsch gedeutet
+zu werden. Ich habe keinerlei Ähnlichkeit mit Peterchen,
+unserem gemeinsamen kleinen Freund, den Olga
+Metten gegenüber in herzlichem Spott „Unser Baudelairechen“
+zu nennen pflegte. Peterchen war bei allem,
+was seine Freunde betraf, mit überschwenglichem Gefühl
+beteiligt. Ich sehe ihn noch immer mit seinen
+aufgeregten Schrittchen durch sein Zimmer hin und
+her laufen und flammende Reden führen. Er machte
+Welt und Vorwelt verantwortlich für Olgas Tod und
+<a id="page-10" class="pagenum" title="10"></a>
+Mettens Leben. Wenn es nach ihm gegangen wäre
+– er hätte ein Gemälde entworfen, auf dem er Olga
+und Mette mit schimmernder Gloriole umgeben und
+Jürgen von Seyblitz und Tante Emilie und Frau
+Flesch und noch einige andere, die er nicht leiden
+konnte, an den Pranger gestellt hätte. Er hätte sich mit
+dem Stock des Ausrufers auf den Markt begeben und
+auf seine Heiligen gedeutet und geschrien: Seht her,
+so sind sie, die Verfemten, die Verworfenen, die ihr
+haßt und verachtet und fürchtet – und nicht kennt!
+</p>
+
+<p>
+Nach allem, was ich von Olga Radó weiß, hätte er
+ihr damit einen schlechten Dienst erwiesen. Was ihr
+die meiste und glühendste Feindschaft eingetragen hat,
+war nicht ihr lasterhaftes Leben, ihre Verschwendungssucht,
+ihre unnatürlichen Leidenschaften – nicht einmal
+ihr Geist oder ihre Schönheit – nein, es war ihr
+grenzenloser Hochmut.
+</p>
+
+<p>
+Sie haßte es, verallgemeinert zu werden. Und
+wir alle, die wir sie kannten, haben hundertmal aus
+ihrem Munde das Wort gehört – so oft, daß es zur
+scherzhaften Redensart bei uns wurde:
+</p>
+
+<p>
+„Bitte! Nix ihr, nix euch!“
+</p>
+
+<p>
+Ich habe keine Ähnlichkeit mit Peterchen. Ich bin
+nicht dazu geschaffen, zu verteidigen oder anzuklagen.
+Ich verfolge keinen Zweck, wenn ich etwas erzähle.
+Ich habe keine Ziele und keine Absichten, nicht einmal
+<a id="page-11" class="pagenum" title="11"></a>
+eine Meinung oder ein Urteil, und kaum ein Gefühl.
+Keine andere Absicht, als Bilder und Worte, die unendlich
+flüchtig vorüberrauschen, mit allen Sinnen festzuhalten,
+und sie in Form zu bannen, und kein ander
+Gefühl, als die weltabgewandte, weltaufsaugende
+Hingabe, mit der der Zeichner den Silberstift über das
+Papier führt.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="chapter blank" id="chapter-0-2" title="Der Skorpion">
+<span class="keep-nu-validator-happy">&nbsp;</span>
+<a id="page-12" class="pagenum" title="12"></a>
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">E</span><span class="postfirstchar">inmal</span> war Mette einen Sommer lang bei ihren
+Großeltern auf dem Gut. Vielleicht war es dieser
+Sommer, der ihr den irrsinnigen Hang zum Leben ins
+Blut goß. Woher hätte sie sonst auch wissen sollen,
+daß das Leben mitunter schön sein konnte? Immer,
+wenn sie in späteren Jahren sich nach Glück sehnte,
+hatte sie die qualvoll-süße Vorstellung von einem
+Glücksgefühl, das sie ganz erfüllt hatte, als sie auf
+einer blühenden Wiese lag und das Blau des Himmels
+zwischen säulenhohen Grashalmen sah, als der
+heuduftende Wind über ihr sonneglühendes Gesicht
+blies, und Tausende von Bienen und Hummeln und
+Wespen in der Luft läuteten, wie tiefe und hohe, ferne
+und nahe Glockenstimmen. Wann hätte das sein
+können, wenn es nicht in jenem Sommer war?
+</p>
+
+<p>
+Oh, es war so viel Herrliches in jenem Sommer
+gewesen.
+</p>
+
+<p>
+Da war ein Gartenhäuschen gewesen, aus Birkenstämmen
+und borkebenagelten Brettern. Und von
+<a id="page-13" class="pagenum" title="13"></a>
+der Birkenrinde konnte man eine dünne, durchsichtige
+Haut abziehen. Sie zerriß leicht, und es war sehr
+schwer, aber auch sehr ehrenvoll, ein großes Stück unversehrt
+loszulösen.
+</p>
+
+<p>
+Dies Gartenhäuschen hatte Glasfenster nach allen
+Seiten. Und jedes Fenster hatte einen Rand, einen
+Rahmen gleichsam, von kleinen Vierecken aus Buntglas.
+Da konnte man die Welt in allen Farben sehen.
+</p>
+
+<p>
+Immer sah Mette zuerst durch das blaue Glas. Da
+lag alles in einem geheimnisvollen Dunkel, alles
+wurde still und weit, die Sonne stand strahlenlos am
+Himmel wie der Mond – es war wie eine Nacht aus
+dem Märchen, und über die blauen Wiesen, unter den
+blauen Bäumen, hätten Elfen mit wehenden Schleiern
+tanzen müssen.
+</p>
+
+<p>
+Dann kam das grüne.
+</p>
+
+<p>
+Da leuchteten die Bäume und Wiesen wie von
+innerem Licht. Aber die apfelgrüne Luft war voll Unheil
+geladen, und die schweren dunkelgrünen Wolken
+waren zum Bersten belastet mit furchtbaren Dingen.
+</p>
+
+<p>
+Dann war ein goldgelbes.
+</p>
+
+<p>
+Man muß nicht etwa denken, daß der Garten hell
+und heiter aussah im goldfarbenen Licht. Das Grün
+war fahl und wie verbrannt, die Luft schien gewitterig.
+Es war so, wie es ganz gewiß am jüngsten Tag aussehen
+mußte, wenn die Erzengel in die Posaune
+<a id="page-14" class="pagenum" title="14"></a>
+stießen, wenn Teufel mit Fledermausflügeln durch die
+Luft schwirrten, und die Gräber sich auftaten.
+</p>
+
+<p>
+Zuletzt kam das rote, weil es das schönste war. Es
+war so schön und so schrecklich, daß Mette jedesmal
+Herzklopfen bekam. Wenn es nach ihr gegangen wäre,
+hätte die Welt ganz gewiß immer so ausgesehen. Die
+Bäume so dunkel wie Blutbuchen, und die Wiesen so
+glührot, der Himmel so brennend mit tiefpurpurnen
+Wolken.
+</p>
+
+<p>
+Wenn man dann wieder durch das klare Glas sah,
+war alles unsagbar fad und nüchtern und blaßfarbig.
+Trotzdem – man konnte erleichtert aufatmen. Alles
+Unheimliche war geschwunden – in einer Welt, die
+so hell und harmlos und ein bißchen langweilig aussah,
+wo es keine blauen Wiesen und keine purpurnen
+Bäume gab – da gab es auch keine Feen und
+Teufel, da gab es nichts, wovor man sich zu fürchten
+hatte.
+</p>
+
+<p>
+Manchmal, in späteren Jahren, dachte Mette darüber
+nach, ob sie dies alles damals schon in klar ausgesprochenen
+Gedanken gedacht hatte. Und dann
+rechnete sie nach, und es schien ihr, als wäre sie damals
+noch viel zu klein gewesen. Aber später hat sie
+ja nie mehr durch die bunten Glasscheiben in dem
+Birkenhäuschen sehen können; denn in dem Winter,
+der auf jenen Sommer folgte, starb der Großvater,
+<a id="page-15" class="pagenum" title="15"></a>
+das Majorat ging auf den Erben über, und die Großmutter
+zog zu ihrem Bruder nach Güstrow.
+</p>
+
+<p>
+Die Großmutter schwankte damals lange Zeit.
+Trotz ihrer Abneigung gegen die große Stadt wäre
+sie damals gern zu ihrem Schwiegersohn gezogen, um
+der kleinen Mette nahe zu sein. Aber sie wagte es
+nicht, den Kampf mit Tante Emilie aufzunehmen.
+</p>
+
+<p>
+Tante Emilie war viel zu musterhaft, als daß nicht
+jeder andere sich überflüssig gefühlt hätte. Und Tante
+Emilie von ihrem Posten vertreiben – um Gottes
+willen! Dazu gehörte eine kampflustigere Persönlichkeit
+als es Conrad von Seyblitz’ arme, kleine Witwe
+jemals war.
+</p>
+
+<p>
+Die Großmutter zog nach Güstrow, wo sie die paar
+Jahre bis zu ihrem Tode lebte – und Tante Emilie
+blieb – blieb unumschränkte Herrscherin des Hauses.
+</p>
+
+<p>
+Das heißt, daß Mette nicht in die Schule gehen
+sollte, das ordnete Franz Rudloff selber an. Er hatte
+eine fast krankhafte Scheu vor allem, was „Masse“ und
+„Gemeinschaft“ hieß. Es schien ihm, als müßten die
+kühlen, hohen Räume seiner Wohnung sich mit dem
+Dunst schlecht gelüfteter Klassenzimmer füllen, als
+müßten die stillen Wände hallen von hundert hohen
+Stimmen, von hundert trappelnden Füßen, wenn er
+sein Kind in eine Schule schickte.
+</p>
+
+<p>
+Und also kam das „Fräulein“ ins Haus.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-16" class="pagenum" title="16"></a>
+Tante Emilie war innerlich von vornherein dagegen.
+Sie selbst war in die Schule gegangen, und
+die Schule hatte ihr nicht geschadet. Im Gegenteil.
+</p>
+
+<p>
+Sie war absolut nicht dafür, daß irgend jemand
+auf der Welt es in irgend etwas besser haben sollte,
+als sie es selbst hatte oder gehabt hatte. Zu den
+wenigen Freuden, die sie im Leben hatte, gehörte die
+Freude an der „ausgleichenden Gerechtigkeit“, wie sie
+es nannte: Wenn nämlich jemand, dem es ganz ohne
+Würdigkeit sehr gut ging, sein unverdientes Glück
+durch einen schweren Schicksalsschlag abbüßen mußte.
+</p>
+
+<p>
+Andere Leute haben für diese Art Freude eine andere
+Bezeichnung.
+</p>
+
+<p>
+Tante Emilie war gegen das Fräulein. Aber
+Tante Emilie war viel zu musterhaft, um zu widersprechen,
+wenn der Herr des Hauses einen Wunsch
+äußerte. Sie wußte, daß sie sich in solchen Fällen
+schweigend zu fügen hatte. Nicht etwa, daß der
+arme Franz das von ihr verlangt hätte, o nein! Aber
+so war es vorbildlich und musterhaft. Und also kniff
+sie die Mundwinkel noch etwas fester zusammen und
+fügte sich schweigend.
+</p>
+
+<p>
+Das Fräulein hatte so krauses, widerspenstiges
+Haar, daß die braunen Löckchen sich in keinen Scheitel
+fügen wollten und ihr immer ums Gesicht tanzten.
+Sie hatte auch den Sinn, den das Sprichwort mit
+<a id="page-17" class="pagenum" title="17"></a>
+solchem Haar verbindet. Alle die Männer, die in
+ihrem Leben eine längere oder kürzere Rolle gespielt
+hatten, sagten, sie wäre eine entzückende Geliebte gewesen.
+Zur Erziehung eines kleinen Mädchens eignete
+sie sich weniger gut.
+</p>
+
+<p>
+Tante Emilie hatte sie nicht ausgesucht. Das hatten
+Franz Rudloff und Mette ganz allein besorgt. Eins
+hatten Vater und Tochter gemeinsam: all ihre Sinne
+dursteten nach Schönheit und Harmonie. Sie gaben
+was aufs Äußerliche, wie Tante Emilie das nannte.
+</p>
+
+<p>
+Das Fräulein hatte ein so liebliches Jung-Mädchengesicht,
+so weiche Bewegungen, eine so schöne klingende
+Stimme.
+</p>
+
+<p>
+Es war nicht die geringste persönliche Sympathie,
+die Franz Rudloff zu diesem Fräulein hinzog. Nur,
+wenn er schon einen fremden Menschen ins Haus
+nehmen mußte, so war ihm lieber, wenn es ein angenehmes
+Wesen war. Vielleicht hatte er – uneingestandenermaßen
+– an <em>einem</em> unangenehmen
+genug.
+</p>
+
+<p>
+Bei Mette war es etwas anders. Sie hatte noch
+nie einen Menschen gesehen, der ihr so gefiel. Ihr
+ganzes sehnsüchtiges Kinderherz, das noch niemals
+Liebe oder Zärtlichkeit gefühlt hatte, flog dieser Fremden
+entgegen, dieser Fremden, die sie in den Arm
+nahm, ihr mit weichen Händen das Haar aus der
+<a id="page-18" class="pagenum" title="18"></a>
+Stirn strich, sie mit kosender Stimme „Mädi“ und
+„Herzblatt“ nannte. Die Aussicht, diesen Menschen
+immer um sich zu haben, erschien ihr wie ein unfaßbares,
+berauschendes Glück.
+</p>
+
+<p>
+Sie bat ihren Vater nicht. Sie konnte nicht bitten,
+Mette Rudloff, nie, und wenn es um ihr Leben ging,
+nicht.
+</p>
+
+<p>
+Aber als ihr Vater sie fragte, ob das Fräulein kommen
+sollte, sagte sie: „Ja.“
+</p>
+
+<p>
+Und das Fräulein kam.
+</p>
+
+<p>
+Tante Emilie aber kniff die Mundwinkel zusammen
+und fügte sich schweigend.
+</p>
+
+<p>
+In den nun folgenden drei oder vier Jahren, die
+das Fräulein im Hause blieb, durchlebte Mette
+Rudloff das ganze Martyrium einer unglücklichen
+Liebe.
+</p>
+
+<p>
+Die ersten Monate ging alles herrlich. Das ist ja
+eben das Unglück einer unglücklichen Liebe, daß sie
+immer mit einem überschwenglichen Glück anfängt.
+</p>
+
+<p>
+Das Fräulein hatte Mette sehr lieb, und Mette
+hatte das Fräulein sehr lieb, und sie lernten miteinander
+und spielten miteinander und gingen miteinander
+spazieren. Es war eine wundervolle Zeit. Aber
+wie alle wundervollen Zeiten nur von kurzer Dauer.
+</p>
+
+<p>
+Es war sicher der Teufel, der den früheren Husarenleutnant
+von Hanstein plötzlich in den Weg warf;
+<a id="page-19" class="pagenum" title="19"></a>
+den Husarenleutnant, den das Fräulein glühend geliebt
+hatte, als sie noch kein Fräulein war, sondern
+Friedel Eggebrecht hieß und aufs Seminar ging und
+in ihrer Vaterstadt auf ihren ersten Jung-Mädchen-Bällen
+tanzte.
+</p>
+
+<p>
+Dieser frühere Husarenleutnant hatte keine ganz
+saubere Karriere hinter sich. Er hatte schuldenhalber
+den Dienst quittieren müssen, hatte sich in allen möglichen
+Berufen herumgetrieben und sprach sich über
+seine jeweilige Beschäftigung immer nur in sehr unklaren,
+aber hochtönenden Worten aus.
+</p>
+
+<p>
+Das hinderte nicht, daß in dem Fräulein sehr bald
+die alte, nicht rostende Liebe erwachte, und daß Mette,
+die kleine, süße, goldige Mette, jetzt überall lästig und
+im Wege war.
+</p>
+
+<p>
+Zuerst war Mette nur ärgerlich, wenn das Fräulein
+Besuch von ihrem „Bruder“ bekam und Mette ins
+Schlafzimmer geschickt wurde, weil das Fräulein
+Herrenbesuch nicht in einem Raum empfangen konnte,
+in dem ein Bett stand. (Späterhin wurde das
+anders.)
+</p>
+
+<p>
+Im Schlafzimmer war es kalt und langweilig.
+Mette stand am Fenster und sah den Spatzen zu, die
+auf dem kahlen Baum im Hofe lärmten. Nebenan
+waren ihre Bücher, ihre Puppen, ihre Spielsachen.
+Aber sie durfte nicht hinein, solange der Besuch da
+<a id="page-20" class="pagenum" title="20"></a>
+war, und der Besuch dachte nicht daran, wegzugehen.
+</p>
+
+<p>
+Es war recht ärgerlich. Und wenn es so weitergegangen
+wäre mit Besuchen und Eingesperrtwerden
+und dem kalten und unfreundlichen Ton, den das
+Fräulein jetzt meistens hatte, so wäre Mettes
+glühende Liebe vielleicht bald in Haß umgeschlagen –
+und es wäre alles gut gewesen.
+</p>
+
+<p>
+Aber mochte der Teufel wissen – derselbe Teufel,
+der den Herrn von Hanstein eines Vormittags auf
+den Viktoria-Luise-Platz warf – was diesem Herrn
+von Hanstein gerade über die Leber lief. Hatte er
+Sorgen oder Schulden oder irgendeine andere Liebelei
+– kurz – das Fräulein fing an, sich gekränkt zu
+fühlen, sich zu grämen, des Nachts zu weinen.
+</p>
+
+<p>
+Das war zuviel für Mette.
+</p>
+
+<p>
+Mette Rudloff weinte schwer. Sie begriff nicht,
+daß ein Mensch weinen konnte, ohne bis an die Grenzen
+des Wahnsinns zu leiden. Darum hätte sie sich
+das Herz aus der Brust herausreißen mögen, um
+einen Weinenden zu trösten.
+</p>
+
+<p>
+Wenn Friedel Eggebrecht um ihren Husarenleutnant
+weinte, so litt Mette alle Qualen der Hölle.
+</p>
+
+<p>
+Im Anfang, als das Fräulein das Kind nicht
+wecken wollte, weinte sie leise und weinte sich nach
+einer Viertelstunde in den Schlaf. Aber als sie merkte,
+<a id="page-21" class="pagenum" title="21"></a>
+daß Mette doch aufwachte oder vielleicht auch nicht
+einzuschlafen wagte, sich mühsam wach hielt, um auf
+jeden Atemzug zu lauschen, da war es ihr ganz bequem,
+sich einem lauten Schmerz hinzugeben und sich
+trösten zu lassen.
+</p>
+
+<p>
+Beim ersten Aufschluchzen sprang Mette aus dem
+Bettchen und kam auf bloßen Füßen über die Dielen
+gelaufen. Dann kauerte sie auf dem Bettrand und
+weinte und zitterte und tröstete mit ihrem süßen, zärtlichen
+Stimmchen, mit ihren weichen, guten Kinderhänden.
+</p>
+
+<p>
+Und das Fräulein ließ sich streicheln und trösten
+und stieß mit den Füßen gegen die Bettkante, warf
+den Kopf nach hinten, krallte die Nägel in die Kissen
+und schrie:
+</p>
+
+<p>
+„Der Hund! Der Schuft! Ich ertrage es nicht
+mehr. Ich sterbe! Er mordet mich!“
+</p>
+
+<p>
+Zu der Zeit, als diese Szenen sich abspielten, wußte
+Mette schon längst, daß diese Ausbrüche dem Bruder
+galten, und daß dieser Bruder kein Bruder war.
+</p>
+
+<p>
+Sie empfand einen so wütenden, qualvollen Haß
+gegen diesen Mann, daß sie oft angestrengt darüber
+nachdachte, wie sie es bewerkstelligen könnte, ihn zu ermorden.
+</p>
+
+<p>
+Diese durchweinten, durchwachten Nächte waren
+schlimm. Aber sie waren nicht das Schlimmste. Das
+<a id="page-22" class="pagenum" title="22"></a>
+Schlimmste war, wenn am nächsten Tage der Herr
+Bruder wieder ankam und empfangen wurde zwischen
+Lachen und Weinen, mit offenen Vorwürfen und
+kaum verhehlter Zärtlichkeit, und Mette ins Schlafzimmer
+geschickt wurde.
+</p>
+
+<p>
+Dann rieb Mette die Zähne aufeinander und bohrte
+die Nägel in die Handflächen, und zerpeinte sich in
+schmerzlicher Wut.
+</p>
+
+<p>
+Bei solchen Anlässen konnte Mette auch sehr ungezogen
+werden. Es lag ihr nicht, Traurigkeit zu
+zeigen, wenn sie litt. Sie zog es vor, ungezogen zu
+werden. Es war mitunter ganz begreiflich, daß das
+Fräulein eine maßlose Wut auf sie hatte.
+</p>
+
+<p>
+Wenn Mette hätte zeigen können, wie es in ihr aussah,
+so hätte sie geweint und gesagt: „Ich liebe dich,
+und ich bin eifersüchtig, doppelt eifersüchtig, weil
+deine Liebe einem Mann gehört, der dich quält, und
+den zu verachten du vorgibst. Ich leide, daß ich einen
+Menschen lieben muß, der so wenig Stolz und
+Charakter besitzt.“
+</p>
+
+<p>
+Wenn die kleine Mette ihre unklaren Gefühle in
+Worten hätte ausdrücken können, so würden diese
+Worte ungefähr so gelautet haben.
+</p>
+
+<p>
+Wer von uns, die wir reife und kluge Menschen
+sein wollen, die wir gelernt haben, die Worte zu
+wählen, zu wägen, zu setzen, vermag das auszusprechen,
+<a id="page-23" class="pagenum" title="23"></a>
+was er empfindet? Selten wollen wir es tun.
+Und die wenigen Male, die wir uns bemühen, können
+wir es nicht und werden mißverstanden.
+</p>
+
+<p>
+Mette wollte es nicht und konnte es nicht. Sie verlangte
+Liebe. Aber die konnte sie nicht erbetteln, da
+beanspruchte sie ihr Recht.
+</p>
+
+<p>
+Haben nicht ältere und vernünftigere Leute manchmal
+so gehandelt?
+</p>
+
+<p>
+Mette ging hinein in das Zimmer, in <em>ihr</em> Zimmer,
+das sie nicht betreten durfte, solange der verhaßte
+„Kerl“ dasaß. (Mette nannte ihn so in Gedanken,
+und das war kein Wunder, sie hatte ihn zu oft so
+nennen hören, wenn das Fräulein in Wut war.) Sie
+ging hinein, ohne anzuklopfen, sie reckte den Kopf sehr
+hoch und setzte die schmalen Füße sehr fest auf.
+</p>
+
+<p>
+Sie legte die Bücher und Hefte auf den Tisch,
+klappte den Deckel vom Tintenfaß auf, tat, als ob sie
+nach der Uhr sähe (sie tat so; denn in Wirklichkeit
+wurde es ihr schwer, die richtige Zeit festzustellen, so
+klein war sie noch) und sagte:
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe jetzt Stunde!“
+</p>
+
+<p>
+Der „Kerl“ grinste höhnisch und empfahl sich. Das
+Fräulein fauchte sie an, wie sie sich unterstehen
+könne ...?
+</p>
+
+<p>
+Mette bemühte sich, etwas sehr Häßliches zu sagen.
+Und es gelang ihr.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-24" class="pagenum" title="24"></a>
+„Bloß, daß der ‚Kerl‘ hier immerfort sitzt, dafür
+bezahlt Sie mein Vater nicht!“ sagte sie.
+</p>
+
+<p>
+Das Fräulein wollte sie schlagen. Aber sie schrak
+zurück vor dem drohenden Ernst in dem blassen Kindergesicht.
+</p>
+
+<p>
+Niemals hat jemand gewagt, Mette Rudloff zu
+schlagen, obgleich vielleicht manch einer die Lust dazu
+verspürte.
+</p>
+
+<p>
+Das Fräulein packte sie am Arm und rüttelte sie.
+So fest packte sie, daß noch nach Tagen der Abdruck
+ihrer Finger in bläulichen Flecken auf der zarten Haut
+zu sehen war.
+</p>
+
+<p>
+Es geschah nicht einmal, es geschah hundertmal, daß
+Mette blaue Flecken am Arm hatte, oder Striemen
+über der Schulter, oder Kratzwunden an den Händen.
+</p>
+
+<p>
+Wenn sie sich hätte beklagen wollen, so wäre ihr
+Hilfe sicher gewesen. Wenn sie einmal Tante Emilien
+die Spuren einer solchen Szene gezeigt hätte, statt sie
+angstvoll zu verbergen, so wäre die „Person“ geflogen.
+Das wußte Mette, aber das wollte sie nicht. Darum
+mußte sie diesen Kampf ganz allein auskämpfen.
+</p>
+
+<p>
+Als die Eggebrecht einsah, daß das Kind ihr überlegen
+war, änderte sie ihre Taktik. Es ging nicht mehr
+an, Mette als Feindin zu behandeln, darum wurde
+sie zur Vertrauten gemacht. In Mettes kleines verschwiegenes
+Herz wurde alles ausgeschüttet, alle Freuden
+<a id="page-25" class="pagenum" title="25"></a>
+und Kümmernisse dieses Verhältnisses und eine
+ganze Masse Unrat dazu.
+</p>
+
+<p>
+Mette mußte Horchposten stehen, Mette mußte
+Briefe befördern und Telephongespräche führen, und
+Mette wurde mit Liebkosungen und Süßigkeiten überschüttet.
+</p>
+
+<p>
+Vielleicht hätte ein anderes Kind sich in diesem Zustand
+sehr wohl befunden. Mette fuhr fort zu leiden.
+</p>
+
+<p>
+Es lag wohl auch daran, daß ihr der Mann so
+widerwärtig war. Wenn es jemand gewesen wäre,
+der ihr gefallen hätte, hätte sie sich vielleicht eher in
+die Sachlage gefunden.
+</p>
+
+<p>
+Manchmal, wenn das Fräulein in der Laune war,
+ihren Liebsten zu beschimpfen, dann warf das Kind
+sich vor ihr auf die Knie und beschwor sie, von diesem
+schrecklichen Manne zu lassen. Dann wurde unter
+Tränen und Eiden alles versprochen.
+</p>
+
+<p>
+„... ja, mein Süßes, ja, mein Engel, er betritt
+mir die Schwelle nicht mehr, der verfluchte Hund, ich
+habe ja dich, mein Süßes, mein Trost, ich will nur
+noch für dich leben!“
+</p>
+
+<p>
+Das waren für Mette Momente qualvoller Seligkeit.
+</p>
+
+<p>
+Aber es waren immer nur Momente; denn wenn
+das Telephon klingelte, oder wenn ein Brief kam,
+oder wenn man dem Herrn „zufällig“ im Tiergarten
+begegnete, dann war alles wieder vergessen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-26" class="pagenum" title="26"></a>
+Mette begriff, daß da etwas war, wogegen sie
+nicht ankonnte.
+</p>
+
+<p>
+Sie begriff dunkel, daß sie nicht das Recht hatte,
+einen Menschen ganz für sich zu verlangen, weil sie
+noch ein Kind war. Und sie wünschte sich glühend,
+schnell, schnell erwachsen zu sein, um das, was sie
+liebte, ganz und ungeteilt zu besitzen.
+</p>
+
+<p>
+Es kam noch eins dazu, das Leben zu erschweren.
+Das Fräulein hatte nicht viel Zeit und Lust, mit
+Mette zu arbeiten. Es war so unendlich viel anderes
+zu tun. Das Fräulein mußte Briefe schreiben, oder
+spannende Bücher lesen – oder Handarbeiten machen.
+Das Fräulein machte gern Handarbeiten und hatte
+flinke und geschickte Hände. Sie nähte sich allerliebste
+Blusen und stickte sich zierliche Hemdpassen – oder
+sie häkelte Schlipse und stopfte seidene Herrensocken.
+Von alledem hatte Mette weiter keinen Nutzen.
+</p>
+
+<p>
+Sie war nicht böse, daß sie mit dem langweiligen
+Lernen ziemlich verschont blieb. Aber Tante Emilie
+kam bald dahinter. Es war ein so ernster Fall, daß
+der Vater zugezogen wurde. In solchen Dingen, und
+nur in solchen Dingen konnte man mit Franz Rudloffs
+Anteilnahme rechnen. Er stellte eine eingehende Prüfung
+mit seiner Tochter an. Das Ergebnis war derart,
+daß er allen Ernstes erschrak.
+</p>
+
+<p>
+Er rechnete nach, daß er im selben Alter ein fehlerfreies
+<a id="page-27" class="pagenum" title="27"></a>
+<span class="antiqua">Dicté</span> geschrieben, <span class="antiqua">verba irregularia</span> auswendig
+gelernt und Schillers Don Carlos mit Begeisterung
+verschlungen hatte.
+</p>
+
+<p>
+Mette las lateinische Druckschrift mühsam und
+stockend.
+</p>
+
+<p>
+Von dem Tage an ließ sich Franz Rudloff die
+schmerzliche Überzeugung nicht nehmen, daß sein
+armes Kind geistig zurückgeblieben sei. Damit zerbrach
+das letzte Brett, das zu einer Brücke zwischen
+ihnen hätte werden können. Er hörte nicht auf, seine
+Tochter mit Zartheit und Höflichkeit zu behandeln.
+Im Gegenteil. Aber sie war ihm so fremd, daß sie
+ihm mitunter beinah unheimlich erschien.
+</p>
+
+<p>
+Obgleich Tante Emilie Metten gern alle nur mögliche
+Trägheit und Unbegabung zugetraut hätte, wußte
+sie doch, daß sie nicht die Alleinschuldige sein konnte.
+Das Fräulein mußte verschiedentlich recht scharfe Bemerkungen
+hören, die sie veranlaßten, einige Tränen
+zu vergießen und Metten bitterliche Vorwürfe zu
+machen.
+</p>
+
+<p>
+„Ich gehe,“ das war der ständige Schluß ihrer
+Rede. Und das war das, was Metten jedesmal mit
+tödlichem Schrecken erfüllte. Sie fühlte zu gut, daß
+die Drohung Wahrheit werden konnte, Wahrheit werden
+mußte, wenn Tante Emilie bei einer nächsten Prüfung
+wieder auf so „krasse Unwissenheit“ stieß.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-28" class="pagenum" title="28"></a>
+Also fing Mette mit zähem und verbissenem Eifer
+an zu lernen. Das Fräulein half ihr nicht oft dabei,
+sie störte sie höchstens.
+</p>
+
+<p>
+Aber sie streichelte ihr manchmal das Haar, oder
+preßte sie an sich, oder küßte sie fast leidenschaftlich
+auf den Mund.
+</p>
+
+<p>
+Und um sich diese flüchtigen Liebkosungen zu erhalten,
+mußte Mette lernen.
+</p>
+
+<p>
+Sie war zu begabt, als daß sie nicht bald am
+Lernen und Lesen selbst Freude gehabt hätte. Aber
+das wußte sie nicht. Sie bildete sich ein, daß sie nur
+um des geliebten Fräuleins willen mit so fanatischer
+Inbrunst über den Büchern saß.
+</p>
+
+<p>
+Sie fing an zu lügen. Etwas, was sie in dieser
+Weise auch in späteren Jahren mit wahrer Leidenschaft
+tat. Wenn die Rede – dem Vater, der Tante
+oder Gästen gegenüber – einmal auf irgend etwas
+kam, was Mette in ihren Büchern gefunden hatte –
+in Büchern, in die das Fräulein niemals ihr hübsches
+Näschen steckte – und Mette ein wenig erstaunt gefragt
+wurde: „Wo hast du denn die Weisheit her?“
+dann war sie sehr stolz darauf, zu antworten: „Von
+Fräulein!“
+</p>
+
+<p>
+Und Fräulein widersprach nie. Mette glaubte,
+jedesmal zu sehen, daß sie rot wurde. Und sie liebte
+sie doppelt, weil sie ihr leid tat. Aber es war ein
+<a id="page-29" class="pagenum" title="29"></a>
+Irrtum. Sie wurde nicht rot. Sie hörte meistens
+gar nicht danach hin. Sie hatte so viel andere Gedanken
+im Kopf ...
+</p>
+
+<p>
+Und dann kam die merkwürdige Angelegenheit mit
+dem Silberzeug.
+</p>
+
+<p>
+Eines Nachts gab das Fräulein Metten die Schlüssel
+zum Silberschrank und einem flachen, lederbezogenen
+Kasten. Mette sollte den Kasten in den Schrank
+zurücktragen. Das Fräulein hatte ihn sich heimlich
+ausgeliehen, weil ihr Bräutigam das Silber gern einmal
+sehen wollte.
+</p>
+
+<p>
+Mette wollte auch gern einmal sehen. Sie drängelte
+so lange, bis das Fräulein den Kasten öffnete.
+Da lagen die dicken, blanken Löffel in Reih und Glied,
+jeder auf seinem Einschnitt im dunkelblauen Samt.
+Keiner fehlte.
+</p>
+
+<p>
+Es machte Metten ein unbändiges Vergnügen, unhörbar
+wie auf Katzenpfötchen durch den langen
+Korridor zu schleichen, sich im Speisezimmer zurechtzutasten,
+ohne Licht anzumachen, behutsam den Schrank
+aufzuschließen, ohne daß die Schlüssel klirrten oder
+die Tür knarrte, den Kasten an seinen Platz zu stellen,
+abzusperren – und dann mit mühsam unterdrücktem
+Jubel in Fräuleins Arm zu fliegen und sich beloben
+zu lassen.
+</p>
+
+<p>
+Dieses erste Mal war nur eine Einleitung.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-30" class="pagenum" title="30"></a>
+Mette lernte mit staunender Bewunderung die
+schätzenswerte Einrichtung eines Leihamtes kennen.
+Es war eine ganz fabelhafte Angelegenheit, daß man
+Silber oder Schmuckstücke nur zu verleihen brauchte,
+um eine Menge Geld dafür zu bekommen. Nach
+einiger Zeit bekam man seine Sachen unversehrt zurück.
+Ja, sie wurden nicht einmal benutzt in der Zeit,
+wie Fräulein auf Mettens Fragen lachend versicherte.
+Es war eine schöne, aber merkwürdige Einrichtung.
+</p>
+
+<p>
+Immerhin! Es gab so viele merkwürdige Einrichtungen.
+Zum Beispiel: daß man Geld auf eine Bank
+legte – daß es nicht irgendeine beliebige Gartenbank
+sein durfte, das hatte Mette unterdessen schon gelernt
+– daß man dann immerfort Geld geschickt bekam, von
+dem man leben konnte, und das Geld auf dieser seltsamen
+Bank doch niemals weniger wurde – das war
+auch so eine merkwürdige Tatsache. So ähnlich würde
+es sich wohl mit dem Leihamt auch verhalten. Es
+lohnte nicht, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.
+Man begriff es doch nicht.
+</p>
+
+<p>
+Also wanderte das Silberzeug aufs Leihamt. Und
+bei Gelegenheit wanderte es wieder zurück in den
+Schrank.
+</p>
+
+<p>
+Es war so lustig, abends im Bett zu liegen und zu
+schwatzen und Konfekt zu knabbern. Aber das Konfekt
+kostete so rasend viel Geld. Darum wurde von Zeit
+<a id="page-31" class="pagenum" title="31"></a>
+zu Zeit das Silber „verliehen“. Es schadete ihm ja
+nichts. Und die Heimlichkeit, mit der es geholt und
+wieder zurückgebracht werden mußte, machte einen
+Heidenspaß.
+</p>
+
+<p>
+Aber einmal war der große Kasten fort und kam
+und kam nicht wieder. So ewig lange war er schon
+fort, es dachte kaum mehr ein Mensch an ihn.
+</p>
+
+<p>
+Da verfiel Tante Emilie eines Tages beim Reinmachen
+auf die Idee, das ganze Silber nachsehen und
+putzen zu lassen. Tante Emilie wußte ganz genau,
+wieviel Silber im Haushalt vorhanden war. Sie
+wußte sogar, von welcher Großmutter oder Schwiegermutter
+oder Tante jedes einzelne Stück stammte.
+Aber Tante Emilie war viel zu musterhaft, um sich in
+so wichtigen Dingen auf ihr Gedächtnis zu verlassen.
+</p>
+
+<p>
+Auf der Innenseite jeder Büfettür war mit vier
+Reißnägeln ein Papier befestigt, auf dem in Tante
+Emiliens sehr deutlicher und leserlicher Schrift stand:
+</p>
+
+<div class="list">
+<p class="center">
+Inhalt:
+</p>
+
+<p>
+Ein Lederetui mit 12 Suppenlöffeln, gezeichnet L. R.
+</p>
+
+<p>
+Ein Holzkasten mit 12 Dessertlöffeln, gezeichnet
+G. v. S.
+</p>
+
+<p>
+Ein Kasten mit 12 Mokkalöffeln, vergoldet.
+</p>
+
+<p>
+Ein brauner Pappkarton mit 9 großen Gabeln,
+Alfenid.
+</p>
+
+<p class="center">
+Usw. usw.
+</p>
+
+</div>
+
+<p class="noindent">
+<a id="page-32" class="pagenum" title="32"></a>
+Ja, und an der Hand dieses Zettels ließ es sich mit
+unfehlbarer Sicherheit feststellen, daß da ein Kasten
+fehlte.
+</p>
+
+<p>
+Mette erschrak gar nicht, als sie Tante Emiliens
+scharfe, empörte Stimme hörte und das Aufweinen
+des gekränkten Hausmädchens.
+</p>
+
+<p>
+Sie war nur froh, die Sache richtigstellen zu können.
+Gott sei Dank. Sonst wäre die arme Berta womöglich
+in den Verdacht des Diebstahls gekommen! Mette
+trat ins Zimmer und sagte sehr kühl und ein wenig
+hochmütig:
+</p>
+
+<p>
+„Du brauchst dich nicht aufregen, Tante. Das
+Silber ist da. Ich hab’ es nur verliehen!“ –
+</p>
+
+<p>
+Aus dem, was sich in den nächsten Tagen ereignete,
+wurde Metten allmählich klar, daß sie etwas getan
+hatte, wozu sie nach Ansicht der anderen nicht berechtigt
+war.
+</p>
+
+<p>
+Das Hausmädchen erzählte jedem, der es hören
+wollte, daß in diesem Hause ehrliche Leute verdächtigt
+würden, weil das „Quack“ das Silber „klaue“ und
+zum Juden trage.
+</p>
+
+<p>
+Die alte dicke Köchin weinte und schlug jammernd
+die Hände zusammen.
+</p>
+
+<p>
+Die Tante ging umher, als hätte das Entsetzen sie
+versteinert. Dem Vater traten die Tränen in die
+Augen, wenn er sein unseliges Kind ansah. Sogar
+<a id="page-33" class="pagenum" title="33"></a>
+ein Kinderarzt erschien auf der Bildfläche, der den
+grauenerregenden und unheimlichen Titel „Psychiater“
+führte und ein langes Examen mit ihr anstellte.
+</p>
+
+<p>
+Und das Fräulein tobte und weinte und schrie und
+schimpfte sie „idiotisch“ und „blödsinnig“ und stieß und
+kratzte sie und fiel dann wieder vor ihr auf die Knie
+und nannte sie „kleine Heilige“ und flehte sie an, zu
+schweigen.
+</p>
+
+<p>
+Und Mette schwieg. Da sie aber nicht wußte, was
+sie verschweigen sollte, so schwieg sie auf alles. Sie
+ließ sich fragen, in Ruhe, im Zorn, in stundenlangem
+Verhör, sie ließ sich rütteln, sie ließ sich anflehen, sie
+ließ sich einsperren – und schwieg. Das Schweigen
+wuchs wie eine Mauer um sie herum. Sie hätte nun
+nicht mehr hindurch gekonnt, auch wenn sie gewollt
+hätte.
+</p>
+
+<p>
+Dennoch mußte das Fräulein aus dem Hause. Ob
+sie nun beteiligt war oder gänzlich ahnungslos – es
+war klar, daß ein Kind nicht so verwahrlosen konnte,
+wenn die Erziehung in den richtigen Händen lag.
+</p>
+
+<p>
+Das Fräulein ging. Und Mette litt alle Todesqualen
+der Trennung und Einsamkeit.
+</p>
+
+<p>
+Ich möchte über Friedel Eggebrecht kein Urteil sprechen.
+Wenn ich die Geschichte ihres Lebens schreiben
+sollte, würde ich versuchen, alles zu verstehen, was sie
+getan hat. Sie liebte – und immer ist Liebe gut und
+<a id="page-34" class="pagenum" title="34"></a>
+schön und edel. So liebte sie, daß sie fähig war, um
+ihrer Liebe willen ihre Pflichten zu vergessen und zu
+lügen, zu stehlen, zu betrügen. Wer von uns kann
+sich rühmen, dessen fähig zu sein?
+</p>
+
+<p>
+Immer, wo Liebe ist, ist Leid. Und fast immer, wo
+zwei sich lieben, leidet ein Dritter.
+</p>
+
+<p>
+Es wäre unsinnig, deswegen zu klagen oder anzuklagen.
+</p>
+
+<p>
+Nur Kinder sollten nicht darunter leiden müssen.
+</p>
+
+<p>
+Es ist genug, wenn man sie mit Frühaufstehen
+peinigt und mit Schularbeiten und mit langweiligen
+Sonntags-Spaziergängen.
+</p>
+
+<p>
+Aber von Haß und Liebe und Eifersucht, von solchen
+Dingen sollten Kinder nicht zu leiden haben. – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Mette wurde in die Schule geschickt.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Dafür, daß man ihr das Fräulein genommen hatte,
+rächte sie sich nun, indem sie sich dagegen wehrte, irgend
+etwas zu lernen.
+</p>
+
+<p>
+Während der Schulstunden schickte sie ihre Gedanken
+auf Wanderschaft. Manchmal schlug irgend etwas an
+ihr Ohr, das ihr Interesse weckte. Dann war die
+Versuchung da, hinzuhören, und man mußte eine gewisse
+Kraftanstrengung anwenden, um an etwas anderes
+zu denken.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-35" class="pagenum" title="35"></a>
+Aber diese Versuchung kam nicht oft.
+</p>
+
+<p>
+Es dauerte über ein Jahr, bis dieser trotzige Widerstand
+nach und nach zerbröckelte.
+</p>
+
+<p>
+Da war es zu spät, nachzuholen. Sie wollte auch
+nicht. Gott bewahre! Sie wendete nicht die geringste
+Mühe an, um vorwärts zu kommen. Aber es lohnte
+auch nicht mehr, sich zur Wehr zu setzen. Sie tat, was
+man von ihr verlangte. Sie tat es darum, weil es
+weniger störend war, das unsagbar Geringfügige zu
+lernen, als immer lange Straf- und Ermahnpredigten
+stehend anzuhören.
+</p>
+
+<p>
+Sie wuchs unglaublich rasch in dieser Zeit und war
+immer müde. – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Als sie mit der Schule fertig war, saß sie ein paar
+Jahr im Hause herum und langweilte sich. Sie nahm
+den üblichen Klavierunterricht und übte die vorgeschriebene
+Zeit. Aber sie hatte keine anererbte musikalische
+Begabung, dagegen eine übertriebene Empfindsamkeit,
+so, daß sie litt unter der Unzulänglichkeit
+ihres eigenen Spiels, ohne die Fähigkeit oder auch
+nur das Streben zu haben, sich selbst Genüge zu
+tun.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+In diesen Jahren wechselten ihre Stimmungen wie
+Sonne und Regen im April.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-36" class="pagenum" title="36"></a>
+Sie sehnte sich danach, tot zu sein, oder mündig, in
+einem andern Jahrhundert zu leben, oder in einem
+andern Erdteil, Nonne zu werden, oder schön genug
+zu sein, um alle Menschen der Welt zu berücken.
+</p>
+
+<p>
+Es kamen Märztage, wo sie meinte, zerspringen zu
+müssen in ungeduldiger Erwartung des unendlichen
+Glücks, dem sie an der nächsten Straßenecke in die
+Arme laufen konnte – und es kamen Juninächte, wo
+sie aus dem Fenster springen wollte, um sich zu lösen
+von den schnürenden Fesseln einer quälenden Leiblichkeit,
+um aufzustrahlen gegen das sternhelle Firmament,
+um sich auszubreiten, zu zerfließen im unendlichen
+Äther, groß zu werden, gewaltig, grenzenlos,
+allumfassend.
+</p>
+
+<p>
+Es kamen Tage, an denen sie sich vornahm, wie ein
+Heiland durch die Welt zu gehen und alle Menschen
+zu lieben – an denen sie mit Tante Emilie in einem
+Ton so leidenschaftlicher Demut sprach, wie Griseldis
+zu ihrem Herrn – und es kamen Tage, da alle Menschen
+ihr so verhaßt waren, daß sie körperlich Qualen
+ausstand, wenn sie bei Tisch ihrem Vater gegenüber
+saß und ihn essen sah.
+</p>
+
+<p>
+An Ereignissen waren diese Jahre arm. So arm,
+daß Mette selten in ihrem Leben daran zurückdachte,
+und wenn die Rede auf etwas kam, was in diesen
+<a id="page-37" class="pagenum" title="37"></a>
+Jahren geschehen war – eine Reise, eine Geburt oder
+Trauerfall im Bekanntenkreis, ein öffentliches Begebnis
+– sie immer erst lange nachrechnen mußte,
+wann sich das zugetragen haben könne und wie alt
+sie gewesen sei, während sie sonst ein auffallendes Gedächtnis
+hatte für den Zeitpunkt, an dem Menschen
+oder Dinge flüchtig an ihr vorübergestreift waren,
+weil sie alles in Verbindung brachte mit den Tagen,
+die wie Denksteine in ihr aufgemauert waren – vor
+oder nach Olgas Tod – als sie mit Olga zusammen
+oder von ihr getrennt war.
+</p>
+
+<p>
+Es ist unwichtig, von diesen Jahren zu sprechen –
+es wäre auch nicht nötig gewesen, von Friedel Eggebrecht
+des Längeren und Breiteren zu reden, aber
+Mette sagte selbst so oft in späteren Jahren, wenn sie
+auf das „Fräulein“ zu sprechen kam, sagte es mit
+einem etwas bitteren Lächeln: „Es war der Auftakt
+zu meinem Leben!“
+</p>
+
+<p>
+Als ihr Leben wirklich einsetzte, mit hundert brausenden
+Stimmen, mit einem vollen, klingenden und
+singenden Motiv, das nie wieder stumm wurde, das
+in Dur, in Moll, bald von allen Geigen und Celli,
+bald von einer einzigen klagenden Hoboe, in tausend
+Verschlingungen, aus tausend Verschleierungen immer
+wieder durchklang und durchklingen wird bis zum
+Schlußakkord – das war in derselben Minute, da
+<a id="page-38" class="pagenum" title="38"></a>
+bei Konsul Möbius die Tür aufging und Olga Radó
+ins Zimmer trat.
+</p>
+
+<p>
+Gegen Konsul Möbius war im allgemeinen nichts
+einzuwenden. Es war der Verkehr, den Tante Emilie
+selbst ausgesucht hatte. Die Familie stammte irgendwoher
+aus Lübeck oder Bremen, und sie sprachen ein
+spitzes „st“, was ihren ohnehin manierlichen Umgangsformen
+noch einen leisen besonderen Duft von kühler
+Vornehmheit verlieh.
+</p>
+
+<p>
+Es waren zwei Töchter da, Fanni und Emmi, beide
+jünger als Mette, beide rotblond und sehr ordentlich
+in Anzug und Haartracht, dabei beide so merkwürdig
+belanglos, daß man nach wochenlangem Umgang noch
+nicht wußte, ob sie eigentlich hübsch oder häßlich
+waren.
+</p>
+
+<p>
+Wie es sich mit der Verwandtschaft zu Olga Radó
+verhielt, wird sich wohl jetzt mit Sicherheit nicht mehr
+feststellen lassen. Als Olga damals in Berlin auftauchte
+und alle Welt von ihr begeistert war, hieß es
+immer: „Unsere Cousine.“ Später – zu der Zeit, als
+Jürgen von Seyblitz schon das Wort von der „kriminellen
+Hochstaplerin“ auf sie geprägt hatte – da war
+in Frau Konsul Möbius’ Gedächtnis jede Erinnerung
+an eine Verwandtschaft völlig erloschen. Ihr
+Schwager, der Mann ihrer verstorbenen Schwester,
+hatte eine Preßburgerin geheiratet, diese hatte einen
+<a id="page-39" class="pagenum" title="39"></a>
+Vetter in Budapest, der eine Schwester der Olga Radó
+zur Frau hatte ... oder so ähnlich.
+</p>
+
+<p>
+Olga selbst hat nebenbei von dieser „Verwandtschaft“
+mit Konsul Möbius nie viel Gebrauch gemacht,
+weder in guten noch in schlechten Zeiten. Es ist nicht
+vorgekommen, daß sie das Haus betreten hat, wenn
+sie nicht dreimal darum gebeten wurde.
+</p>
+
+<p>
+Mette hatte mit den Möbiusschen Mädchen und
+Erika Hannemann ein Kränzchen. Einmal in der
+Woche kamen sie zusammen und machten Handarbeiten
+und lasen französische Theaterstücke mit verteilten
+Rollen.
+</p>
+
+<p>
+Mette langweilte sich wahnsinnig dabei, sie hörte
+nie danach hin, wenn die anderen lasen und versäumte
+immer, zur rechten Zeit einzufallen. Am schlimmsten
+aber war es, wenn sie selber einen langen Absatz zu
+lesen hatte. Dann mußte sie bei jeder Zeile ein
+Gähnen unterdrücken, so, daß sie nachher immer förmlich
+einen Kinnbackenkrampf hatte.
+</p>
+
+<p>
+Und an einem solchen Mittwochnachmittag im
+April, als die vier wieder in den weißlackierten
+Stühlen des zierlichen Mädchenzimmers saßen, an
+einem Nachmittag, an dem Fliegen nicht mehr herumschwirrten,
+sondern träge über die Kuchenschüsseln
+krochen, weil ihnen die Langeweile in der Luft wie
+ein Bleigewicht auf den Flügeln lastete, in dem
+<a id="page-40" class="pagenum" title="40"></a>
+Augenblick, da Fanni Möbius – sie war die einzige,
+die eine gewisse Leidenschaft für die Sache hatte und
+den Ehrgeiz besaß, immer die dankbarsten Rollen zu
+lesen – mit überschwenglichem Pathos und miserabler
+Aussprache die Worte las:
+</p>
+
+<div class="poem-container">
+ <div class="poem">
+ <div class="stanza">
+ <p class="verse">„<span class="antiqua">Impitoyable honneur, mortel à mes plaisirs,</span></p>
+ <p class="verse"><span class="antiqua">que tu me vas coûter de pleurs et de soupirs!</span>“</p>
+ </div>
+ </div>
+</div>
+
+<p class="noindent">
+in dem Augenblick ging die Tür auf, und Olga Radó
+kam herein.
+</p>
+
+<p>
+Es mußte durch einen Zufall irgendwo eine Tür
+offenstehen – mit Olga zugleich kam ein Luftzug,
+frisch wie ein Windstoß, ins Zimmer. Das angelehnte
+Fenster sprang auf, die weiße Mullgardine
+blähte sich und flog in die Höhe, die Seiten der Bücher
+blätterten sich knisternd um, die Fliegen schwirrten
+aufgestört um die Lampe, eine Hand am Himmel riß
+einen Wolkenfetzen von der Sonne – blendende Helligkeit
+und wehende Luft füllte das Zimmer bis in
+seinen letzten Winkel.
+</p>
+
+<p>
+Dann schloß sich die Tür mit einem harten Krachen,
+die Fensterflügel bewegten sich knarrend, die Gardine
+fiel schwer wie ein Sack herunter, eine neue dunklere
+Wolke schob sich vor die Sonne – aber dies alles bemerkte
+Mette Rudloff nicht – denn sie hatte vollauf
+zu tun, Olga Radó zu betrachten und konnte ihre
+<a id="page-41" class="pagenum" title="41"></a>
+Sinne und ihre Gedanken nicht wieder von ihr abwenden
+– für lange Zeit nicht.
+</p>
+
+<p>
+Olga war sehr groß und sehr schlank. Ihr Gesicht
+war schön und kühn geschnitten. Das schlichte, dunkle,
+reiche Haar ließ viel von der hohen und wundervoll
+durchgebildeten Stirne frei, die schmalen, schwarzen
+Brauen flossen über der Nasenwurzel zusammen, was
+den scharfen, metallisch-grauschimmernden Augen einen
+fast drohenden Ausdruck gab. Ihre Sprache war
+scharf und hart. Aber ihre Stimme hatte einen tiefen,
+weichen Celloklang. Das gab einen sonderbaren
+Kontrast.
+</p>
+
+<p>
+Es war etwas in ihrer Art, sich zu kleiden, was
+Mette gefiel, ohne daß sie sagen konnte, warum.
+Man konnte es mit einem Wort wie „geschmackvoll“
+oder gar „elegant“ oder „adrett“ nicht abtun.
+Mette empfand dunkel: so möchte ich angezogen
+gehen.
+</p>
+
+<p>
+Woran das lag, das wurde ihr erst viel später klar.
+Olga Radó hatte eine fast krankhafte Abneigung gegen
+alles, was billig war. Ein billiger Stoff, ein billiger
+Schneider waren ihr ein Greuel.
+</p>
+
+<p>
+Außerdem hatte sie – wie sie Mette viel später einmal
+mit ihrem bezauberndsten Lächeln sagte – „das
+sehr ehrenwerte Prinzip, lieber einem Millionär etwas
+schuldig zu bleiben, als einer armen kleinen, hungernden
+<a id="page-42" class="pagenum" title="42"></a>
+Schneiderin“ – also ließ sie nur in den teuersten
+Geschäften arbeiten.
+</p>
+
+<p>
+Als sie hineinkam, machte Emmi Möbius den mißglückten
+Versuch einer feierlichen Vorstellung, den
+Olga mit einem kurzen „Ja, ja, schon gut – und so
+weiter und so weiter –“ abschnitt, worauf sie jedem
+flüchtig ihre große, schmale, kühle Hand reichte, sich
+mit einem:
+</p>
+
+<p>
+„Bitte, laßt euch nicht stören“ – ein wenig abseits
+in den Schaukelstuhl setzte, Fannis kleinen, schwarzen
+dicken Hund, der sie wie unsinnig anblaffte und anwedelte,
+am Genick packte und auf ihre Knie setzte.
+</p>
+
+<p>
+Fanni fuhr fort zu lesen. Vielleicht dachte sie ihrer
+Cousine durch diese ernsten wissenschaftlichen Bestrebungen
+zu imponieren.
+</p>
+
+<p>
+Mette war gezwungen, ins Buch zu sehen und
+Olga den Rücken zuzuwenden. Sie hörte nur den
+Schaukelstuhl leise auf und ab gehen, ein leichtes
+Rauschen der Röcke und manchmal eine halblaute
+Bemerkung, die dem Hunde galt.
+</p>
+
+<p>
+Mette verspürte Trockenheit im Hals und rasendes
+Herzklopfen, als sie lesen sollte. Nie hatte sie sich in
+der Schule so geängstigt, und wenn sie noch so unpräpariert
+„drangekommen“ war. In jedem Wort
+schien ihr eine Fußangel versteckt. Sie würde alles
+falsch aussprechen und sich unrettbar blamieren. Es
+<a id="page-43" class="pagenum" title="43"></a>
+war wirklich ein Skandal, so wenig Französisch zu
+können. Morgen wollte sie zu Vater gehen und ihn
+um französische Konversationsstunden bitten. Er
+würde sich freuen, wenn sie ihm einmal mit solchem
+Anliegen kam.
+</p>
+
+<p>
+Sie war glücklich, als sie ihre paar Sätzchen hervorgewürgt
+hatte. Dann kam Erika, und dann las Fanni
+wieder mit allem ihr zu Gebote stehenden Pathos.
+</p>
+
+<p>
+Plötzlich flog der Schaukelstuhl mit einem hörbaren
+Ruck nach vorn, und eine tiefe, verwunderte Stimme
+fragte mitten in den Satz hinein:
+</p>
+
+<p>
+„Sagt mal, was lest ihr denn da eigentlich?“
+</p>
+
+<p>
+„Den Cid!“ sagte Fanni in einem unendlich ausdrucksvollen
+Ton.
+</p>
+
+<p>
+Es sollte ganz leicht hingesagt werden, und doch
+zitterte die Ehrfurcht vor der eigenen Gelehrsamkeit
+darin. Es sollte ausdrücken: Das hört doch ein gebildeter
+Mensch beim ersten Wort, und zugleich: Freilich,
+dergleichen liest du ja nicht, das ist dir zu
+klassisch, zu langweilig.
+</p>
+
+<p>
+Olga schenkte diesem Ton gar keine Beachtung. Sie
+schien mit einer leichten ungeduldigen Handbewegung
+die Antwort als unzulänglich beiseite zu werfen.
+</p>
+
+<p>
+„Was für eine Sprache, meine ich?!“
+</p>
+
+<p>
+Die Mädchen sahen sich an und lachten, halb erstaunt
+<a id="page-44" class="pagenum" title="44"></a>
+und halb verlegen. Nur Mette lachte nicht,
+sondern schämte sich qualvoll.
+</p>
+
+<p>
+Die Möbiussens kannten ihre Cousine zu gut, um
+zu antworten. Aber Erika Hannemann war wirklich
+der Meinung, Olga Radó wäre in fremden Sprachen
+nicht so bewandert wie sie und sagte mit der ganzen
+Herablassung der höheren Tochter:
+</p>
+
+<p>
+„Französisch!“
+</p>
+
+<p>
+Der Schaukelstuhl glitt wieder zurück. Über Olgas
+Gesicht zuckte nicht der Schein eines Lächelns. Sie
+sagte mit so langgezogener Verwunderung, als hätte
+ihr jemand im Ernst eine überraschende Mitteilung
+gemacht:
+</p>
+
+<p>
+„Französisch soll das sein?!“
+</p>
+
+<p>
+Nun wollte Emmi ihr das Buch aufdrängen. Ob
+es wirklich Bildungstrieb bei ihr war oder die Absicht,
+sich vor den anderen mit Olgas wunderschönem Französisch
+großzutun, sie quälte und quängelte:
+</p>
+
+<p>
+„Lies <em>du</em> doch, ach bitte, bitte, nur eine halbe Seite,
+nur einen Satz!“
+</p>
+
+<p>
+„Hältst du mich für verrückt?“
+</p>
+
+<p>
+„Ach bitte, bitte!“
+</p>
+
+<p>
+„Den Deibel auch! Ich bin doch nicht eure Gouvernante!“
+</p>
+
+<p>
+Und da das Buch sich nicht von ihr entfernen wollte,
+knipste sie mit den Fingern dagegen, daß es mit einem
+<a id="page-45" class="pagenum" title="45"></a>
+schönen großen Bogen auf den Teppich hüpfte und
+mit zugeschlagenen Deckeln liegen blieb.
+</p>
+
+<p>
+Mette war sehr froh. Nun war die Leserei für
+heute beendet. Sie brauchte nicht die langen Sätze
+des Königs zu lesen, vor denen sie sich schon gefürchtet
+hatte. Sie brauchte sich nicht zu blamieren und nicht
+zu langweilen. Und vor allem – sie konnte ihren
+Stuhl herumdrehen und Olga Radó anstarren.
+</p>
+
+<p>
+Es war so interessant, ihren Bewegungen oder dem
+fortwährend wechselnden Ausdruck ihres Gesichtes zuzusehen.
+</p>
+
+<p>
+Mette war sich klar darüber, daß diese Frau ihr
+gefiel. Und doch spürte sie in ihrem Empfinden mehr
+Feindseligkeit als Zuneigung. Niemand von den
+andern schien beleidigt. Mette war es, als ob der
+scharfe Spott nur sie getroffen hätte, nur sie hätte
+treffen sollen.
+</p>
+
+<p>
+Sie hätte viel darum gegeben, wenn sie die Spitze
+hätte zurückwerfen können, oder sich wenigstens mit
+Trotz und Verachtung panzern. Aber sie fühlte sich
+wehrlos, hilflos preisgegeben und wünschte sich, unsichtbar
+zu sein, sich in ein Mauseloch zu verkriechen,
+um zu sehen, zu hören, zu beobachten, ohne bemerkt
+zu werden – um jeden Blick dieser Augen, jedes
+Wort dieser Stimme gierig in sich aufzunehmen,
+ohne davor zu zittern, daß ein scharfer Blick, ein
+<a id="page-46" class="pagenum" title="46"></a>
+scharfes Wort sie treffen, sie verletzen, sie demütigen
+konnte.
+</p>
+
+<p>
+Olga Radó schenkte ihr indessen keine Beachtung.
+Sie hatte auf dem Fußbrett eines Tischchens eine
+Zigarettenschachtel entdeckt und zog sie hervor. Daneben,
+in zierlichem Kästchen, lag ein Spiel Karten.
+</p>
+
+<p>
+„Da, schau her! Zigaretten haben die Mäderln
+auch hier! Ihr seid mir ja ein schöner Klub der
+Harmlosen! Offiziell wird der Cid gelesen, und
+wenn kein Erwachsener es merkt, dann wird hier geraucht
+und gepokert!“
+</p>
+
+<p>
+Fanni Möbius wollte sich halbtot lachen, sowohl
+über die Zumutung, daß sie pokern sollte, als darüber,
+daß sie mit ihren achtzehn Jahren noch nicht zu den
+Erwachsenen gerechnet wurde.
+</p>
+
+<p>
+„Es sind Emmis Karten!“
+</p>
+
+<p>
+„Nein!“ schrie Emmi.
+</p>
+
+<p>
+„Doch! Ich sag’s, Emmi, ich sag’s! Sie legt sich
+jeden Abend Patiencen – und fragt ...“
+</p>
+
+<p>
+„Tu doch nicht so – du legst dir ja auch welche ...“
+</p>
+
+<p>
+„... und fragt ...“
+</p>
+
+<p>
+„... Sie lügt, sie lügt, sie lügt!“
+</p>
+
+<p>
+„... und fragt ... soll ich’s sagen, Emmi? ...“
+</p>
+
+<p>
+„... sei still! ...“
+</p>
+
+<p>
+Zwischen den beiden Schwestern entspann sich ein
+Handgemenge, das Tischchen kam ins Schwanken.
+<a id="page-47" class="pagenum" title="47"></a>
+Olga rettete es mit einem raschen und kraftvollen Zugreifen.
+</p>
+
+<p>
+„Kinder, tobt nicht so!“ sagte sie ruhig. „Bist du
+so neugierig, deine Zukunft zu erfahren, Emmilein?“
+</p>
+
+<p>
+Das „Emmilein“ gab Metten einen leisen Stich.
+Wie kam der alberne Backfisch dazu, von dieser Frau
+mit solcher Vertraulichkeit angeredet zu werden?!
+</p>
+
+<p>
+„Soll ich dir mal die Karten legen?“
+</p>
+
+<p>
+„Kannst du das, Olga? Oh, fein!“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, mach, bitte, bitte, mir auch!“
+</p>
+
+<p>
+„Wirklich, ja? Kannst du das?“
+</p>
+
+<p>
+„Natürlich!“ sagte Olga ernsthaft. „Das ist doch
+das einzige, was ich kann. Das hab’ ich wenigstens
+gelernt von den Zigeunern. Wenn’s einmal schief mit
+mir geht, etablier ich mich als Kartenlegerin. Weißt
+du, mit Eule und Totenkopf und Kaffeegrund und
+allem Zubehör. Im Dutzend billiger. Nimmst du
+Abonnement bei mir?“
+</p>
+
+<p>
+„Ehrensache!“ versprach Emmi. „Aber heut’ machst
+du’s noch umsonst!“
+</p>
+
+<p>
+„Nein,“ sagte Olga, „für eine Zigarette.“
+</p>
+
+<p>
+Sie nahm den Kasten auf und schob eine zwischen
+die Zähne. „Ich hab’ nämlich keine bei mir!“
+</p>
+
+<p>
+Erika Hannemann beeilte sich, ihr ein brennendes
+Streichholz zu reichen. Sie sog ein paarmal an der
+<a id="page-48" class="pagenum" title="48"></a>
+Zigarette, bis sie aufflammte und schlug das Streichholz
+durch die Luft, daß es erlosch.
+</p>
+
+<p>
+„Danke!“ sagte sie dann erst.
+</p>
+
+<p>
+Mit einem flüchtigen Blick sah sie, daß Mette sich
+eine Zigarette genommen hatte.
+</p>
+
+<p>
+„O Verzeihung!“ sagte sie so bedauernd, als hätte
+sie ein wirkliches Unrecht abzubitten, während ein
+halber Blick die Aschenschale mit dem verglimmenden
+Streichholz streifte. Rasch, fast eilig nahm sie aus
+ihrer Tasche ein kleines goldenes Feuerzeug, strich es
+an und reichte Metten das Flämmchen hinüber. In
+ihren Bewegungen, die die einfachsten, die ungezwungensten
+von der Welt waren, lag ein eigener Ausdruck.
+</p>
+
+<p>
+Es war weit mehr als Höflichkeit, und doch lag
+keine Spur von Unterwürfigkeit darin. Es war eine
+Mischung von Zuvorkommenheit und Zurückhaltung,
+von Adel und Dienstbeflissenheit, die man nicht gut
+anders als mit dem Wort „chevaleresk“ bezeichnen
+konnte.
+</p>
+
+<p>
+Sie bot auch den andern Zigaretten und Feuer.
+</p>
+
+<p>
+„Raucht, Kinder, raucht! Wenn die Mutter nachher
+schimpft, bin ich’s gewesen.“
+</p>
+
+<p>
+Sie hielt immer noch den kleinen schwarzen Hund
+auf den Knien und blies ihm den Zigarettenrauch um
+die Nase. Der Hund schnitt possierliche Grimassen,
+und sie bemühte sich, ihm nachzumachen. –
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-49" class="pagenum" title="49"></a>
+Sie hatte überhaupt die Angewohnheit, ihr Gesicht
+zu verzerren, ohne im geringsten Rücksicht darauf zu
+nehmen, ob es sie kleidete oder entstellte, so daß man
+sich manchmal qualvoll danach sehnte, das allzu lebhafte
+Mienenspiel zu unterbrechen, um die regelmäßige
+Schönheit der Züge genießen zu können.
+</p>
+
+<p>
+Nur sagen durfte man ihr das nicht, sonst bekam sie
+es fertig, ohne Aufhören die greulichsten Fratzen zu
+schneiden.
+</p>
+
+<p>
+Der Hund rümpfte die Nase, drehte den Kopf und
+hustete und prustete in beleidigter Würde.
+</p>
+
+<p>
+„Ihr dürft eure Sophonisbe nicht so verfüttern,
+Kinder!“ sagte Olga. „Sie hat ja schon Asthma vor
+Fettsucht, das arme Viech!“
+</p>
+
+<p>
+Die Mädchen lachten kreischend auf.
+</p>
+
+<p>
+„Sophonisbe! Wie kommst du nur auf Sophonisbe?“
+</p>
+
+<p>
+„Er heißt doch Mäuschen.“
+</p>
+
+<p>
+„Er?“ sagte Olga spöttisch und legte das zappelnde
+Tier mit einem festen Griff auf den Rücken. „Er ist
+ganz bestimmt eine Sie. Und sie sieht aus wie
+Sophonisbe!“
+</p>
+
+<p>
+Die Mädchen erröteten bis über die Ohren und
+kicherten nur noch in gedämpften Tönen.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, Olga, wie du aber auch bist!“
+</p>
+
+<p>
+„<em>Warum</em> sieht sie aus wie Sophonisbe?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-50" class="pagenum" title="50"></a>
+„Ich weiß nicht,“ sagte Olga plötzlich müde. Ihr
+Gesicht war einen Augenblick ganz ruhig, ihre Augen
+sahen irgendwohin, an den Mädchen vorüber, durch
+die Wände hindurch.
+</p>
+
+<p>
+„Danach dürft ihr mich doch nicht fragen. Auf die
+Frage: Wie? kann ich manchmal antworten, aber niemals
+auf die Frage: Warum?“
+</p>
+
+<p>
+Sie zog den Hund wieder in die Höhe und versuchte,
+ihm die Zigarette in die Schnauze zu stecken.
+</p>
+
+<p>
+„Magst du rauchen, Sophonisbe? Da! Schmeckt’s,
+Alterchen?“
+</p>
+
+<p>
+Der <a id="corr-0"></a>Hund drehte den Kopf und leckte mit der Zunge
+nach ihrer Hand, die ihn im Genick festhielt. Mit
+einer Gebärde des Widerwillens warf sie die Zigarette
+in die Aschenschale und ließ den Hund auf die Erde
+gleiten.
+</p>
+
+<p>
+„Du mußt dem Köter das Lecken abgewöhnen,
+Fanni,“ sagte sie. „Ich sehe dich ja doch noch am
+Hundewurm zugrunde gehen.“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Unsinn!“ sagte Fanni und nahm den beleidigten
+Hund zärtlich in die Arme. „Mein Hund
+hat keine Würmer! Nicht wahr, Mäuschen, wo du
+doch so schön rein gehalten wirst?“
+</p>
+
+<p>
+Der Hund schnupperte zärtlich nach ihrem Gesicht.
+</p>
+
+<p>
+Olga zog die Brauen zusammen und machte eine
+hastige Bewegung, als wollte sie ihr den Hund wegnehmen.
+<a id="page-51" class="pagenum" title="51"></a>
+Aber sie unterbrach sich und lehnte sich in den
+Schaukelstuhl zurück.
+</p>
+
+<p>
+„Meinetwegen,“ sagte sie, „der Mensch muß an dem
+zugrunde gehen, was er liebt. Mir wär ja so ein
+Köter das nicht wert. Aber wenn es dir Vergnügen
+macht. Schließlich, ob du nun am Echinokokkus
+krepierst, oder ob dich nachher ein Liebster oder kirchlich
+angetrauter Gatte mit Syphilis behaftet ...“
+</p>
+
+<p>
+Die drei Mädchen kriegten glühendrote Köpfe und
+fingen an zu kichern.
+</p>
+
+<p>
+Auch Olga Radó wurde rot. Aber es war eine
+andere Art zu erröten. Die hellen Gesichter der blonden
+Mädchen waren wie gedunsen vom Blut und vom
+unterdrückten Lachen. Über Olgas Gesicht lief das tiefe
+Rot wie ein flüchtiger Schatten, wie eine Wolke, die
+für einen Herzschlag selbst die Augen verdunkelte.
+</p>
+
+<p>
+„Gänse!“ sagte sie zornig, „da ist doch, weiß Gott,
+nichts zu lachen.“
+</p>
+
+<p>
+Die Mädchen wollten sich entschuldigen und konnten
+vor Prusten und Kichern nicht reden.
+</p>
+
+<p>
+Olga hob die Hand und ließ sie fallen – durch die
+abendliche Dämmerung leuchtete die lange, schmale
+Hand mit einem seltsamen Glanz wie Silber oder
+Perlmutter – mit einer Geste, die ganz deutlich „Ach,
+laßt doch!“ sagte, so deutlich, als stände es in der Luft
+geschrieben.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-52" class="pagenum" title="52"></a>
+Sie saß jetzt ganz vornübergebeugt. Ihre Hände
+lagen wie müde zwischen ihren Knien. Sie starrte
+hinaus in das blaue Dämmerlicht und das knospenbedeckte
+Gewirr der braunen Zweige.
+</p>
+
+<p>
+Sie schwiegen alle eine Weile. Dann fingen Emmi
+und Erika ein Gespräch an, im Flüsterton, als wagten
+sie kaum, sich bemerkbar zu machen.
+</p>
+
+<p>
+So plötzlich stand Olga auf, daß der Schaukelstuhl
+nach rückwärts flog.
+</p>
+
+<p>
+„Macht Licht an!“ sagte sie beinah herrisch. „Ich
+werd’ euch die Karten legen!“ –
+</p>
+
+<p>
+Sie saß am Tisch unter der Lampe. Das gelbe Licht
+fiel schimmernd auf ihr Haar und auf ihre hellen
+Hände, die mit raschen Bewegungen die Karten
+mischten und ausbreiteten.
+</p>
+
+<p>
+„Wem zuerst? Dir, Fanni? Dann mußt du abheben
+– dreimal – so! Muß ich nun auch erst
+Hokuspokus sagen, oder glaubt ihr mir so? – Die
+Karodame bist du – da liegt ein schwarzer Jüngling
+– da liegt eine Reise, in der Vergangenheit –
+ein heimlicher Brief – in der nächsten Woche – oh,
+Ärger im Haus – das hängt mit dem Brief zusammen
+– Trennung – viele Tränen – siehst du die
+Treffzehn? – Da liegt eine große Veränderung – eine
+neue Bekanntschaft – ein blonder Herr – Verlobung
+und Heirat – viel Glück ins Haus – aber der
+<a id="page-53" class="pagenum" title="53"></a>
+Schwarze liegt doch dazwischen – neben dem Blonden
+liegt Reichtum und große Ehre ...“
+</p>
+
+<p>
+Die Mädchen horchten in fieberhafter Spannung,
+Fanni preßte die Hand mit dem Taschentuch vor die
+Zähne und kniff Emmi bei jedem Wort in den Arm,
+während Emmi und Erika mit mühsam unterdrücktem
+Gekreische in halb artikulierte Rufe ausbrachen, die
+man ganz gut als „Max“ und „Travemünde“ deuten
+konnte.
+</p>
+
+<p>
+„Ich glaube nicht an Kartenlegen,“ sagte Erika
+Hannemann überlegen, „aber aus der Hand wahrsagen,
+da ist schon eher was dran. Meinem Vetter
+hat mal eine Zigeunerin gewahrsagt ...“
+</p>
+
+<p>
+„Kannst du aus der Hand wahrsagen?“ schrie Emmi.
+„Ach, bitte, bitte, Olga, kannst du nicht aus der Hand
+wahrsagen? Oder besser aus den Karten?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich kann auch aus der Hand wahrsagen,“ sagte
+Olga, „genau so gut wie aus den Karten.“
+</p>
+
+<p>
+Sie nahm Emmis kleine, rundliche Hand und zog
+gedankenvoll die Linien nach.
+</p>
+
+<p>
+„Die Lebenslinie ist ganz, siehst du? Du wirst ein
+langes Leben haben – aber die Linie des Hirns ist
+zerschnitten – die Linie des Tisches hast du überhaupt
+nicht – – –“
+</p>
+
+<p>
+„Was bedeutet die?“ forschte Emmi dringend.
+</p>
+
+<p>
+„Je nachdem – Güte oder Bosheit – du bist jenseits
+<a id="page-54" class="pagenum" title="54"></a>
+von gut und böse.“ Dabei zuckte es um ihre
+Mundwinkel. „Aber hier, Ordnung und Sparsamkeit,
+die sind sehr ausgeprägt bei dir – das scheinen
+deine Haupteigenschaften –“
+</p>
+
+<p>
+Jetzt war die Reihe zu lachen an Fanni.
+</p>
+
+<p>
+„Aber nimm dich nur in acht, dir steht eine unglückliche
+Liebe bevor – in Verbindung mit einer Kunst
+– mit Musik, glaub’ ich ...“
+</p>
+
+<p>
+Emmi wurde blutrot und Fanni tanzte auf einem
+Bein herum und schrie:
+</p>
+
+<p>
+„Wassermüller, Wassermüller!“
+</p>
+
+<p>
+Das war der Klavierlehrer.
+</p>
+
+<p>
+Mette war befangen in einem sonderbaren Zwiespalt.
+Sie hätte so gern sich wahrsagen lassen –
+schon, um die schöne Frau anreden zu dürfen.
+</p>
+
+<p>
+Dabei schien es ihr aufdringlich, sie zu belästigen.
+Sie wollte auch nicht gern für abergläubisch gehalten
+werden.
+</p>
+
+<p>
+Olga Radó belustigte sich sicherlich über den Feuereifer,
+mit dem die Mädels bei der Sache waren. Und
+dann wieder hatte Mette eine Angst, die sie selbst kindisch
+schalt: so, als wäre doch vielleicht ein geheimnisvoller
+Zauber in dieser Spielerei, und es könnte klar
+und deutlich eine furchtbare Eigenschaft in ihrer Handfläche
+stehen, eine, die sie selbst nicht kannte, oder ein
+entsetzliches Schicksal.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-55" class="pagenum" title="55"></a>
+Vielleicht würde die schöne Zigeunerin vor Schreck
+erblassen und sagen: „Quälen Sie mich nicht, ich
+kann Ihnen die Wahrheit nicht sagen, die da zu
+lesen ist.“
+</p>
+
+<p>
+Und plötzlich stand sie doch neben Emmi und streckte
+die Hand aus und sagte:
+</p>
+
+<p>
+„Ach, bitte, bitte, mir auch!“
+</p>
+
+<p>
+Olga sah zu ihr auf, und zum erstenmal trafen sich
+ihre Augen und blieben für ein paar Sekunden ineinander
+haften.
+</p>
+
+<p>
+Olga lächelte. Und Metten wurde bewußt, daß sie
+dies Lächeln zum erstenmal sah. In dem fortwährend
+wechselnden Mienenspiel blieb das Gesicht fast immer
+ernst. Sie runzelte die Brauen, kniff die Augen zusammen,
+schob den Unterkiefer vor, legte die Zähne
+auf die Lippe, zuckte mit den Nasenflügeln, verzog
+die Mundwinkel in leichtem Spott, aber sie lächelte
+sehr selten. Jetzt zum erstenmal lächelte sie, lächelte
+Metten an, und es schien wirklich, als ob das ganze
+Gesicht seltsam erhellt wurde von einem plötzlich durchbrechenden
+Licht.
+</p>
+
+<p>
+„Aber, Mädelchen!“ sagte sie halblaut mit ihrer
+tiefen Stimme. „Von Ihnen weiß ich doch nix! ...“
+</p>
+
+<p>
+Als sie nachher auf der Diele nebeneinander standen
+und vorm Spiegel die Hüte aufsetzten, sah Mette mit
+einer unerklärlichen Freude, daß sie fast ebenso groß
+<a id="page-56" class="pagenum" title="56"></a>
+war wie Olga Radó, viel größer als die drei blonden,
+rundlichen Mädels.
+</p>
+
+<p>
+Sie gingen zu dritt die Treppen hinunter und ein
+Stück die Straßen entlang. Erika Hannemann führte
+das Gespräch.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, wie Sie das wissen konnten, Fräulein
+Radó, von Travemünde die Sache und von Wassermüller
+... von Fannis Max weiß ich ja alles, weil
+ich es direkt miterlebt habe – ich war ja auch in
+Travemünde ... kennen Sie es? – Ach, Travemünde
+ist entzückend ... Ich möchte dies Jahr zu gern wieder
+hin, es hat so feines Publikum, soviel gute Hamburger
+und Lübecker Familien ... aber meine Eltern
+wollen ins Gebirge ... ins Salzkammergut, glaub’
+ich ... wissen Sie da nicht irgendeinen hübschen Ort?
+Aber einen, wo ein bißchen was los ist?!“
+</p>
+
+<p>
+Olga Radó sagte von Zeit zu Zeit: „Ja, nicht?“
+– „nein!“ – „so!“ – „ach!“ – „nein!“ –
+</p>
+
+<p>
+Mette schwieg.
+</p>
+
+<p>
+An irgendeiner Ecke nahm Erika Hannemann Abschied
+und bog links um.
+</p>
+
+<p>
+Olga und Mette gingen eine Weile schweigend mit
+raschen Schritten nebeneinander her.
+</p>
+
+<p>
+Mette hätte längst abbiegen müssen, wenn sie auf
+dem nächsten Weg nach Hause wollte. Sie kam sich
+aufdringlich vor, daß sie immer noch nebenher lief,
+<a id="page-57" class="pagenum" title="57"></a>
+aber sie war viel zu froh, daß Erika endlich fort war
+– so, als sei nun die Luft reiner geworden und man
+könne freier ausschreiten – es war eine Freude, sich
+dem Takt dieser schönen und gleichmäßigen Schritte
+anzupassen, und sie tröstete sich damit, daß ja niemand
+wußte, wo sie wohnte, und daß sie ein Recht
+auf die Straße hatte, gerade so gut wie jeder andere
+auch.
+</p>
+
+<p>
+Mette sah jedem Haus mit einer gewissen Beklommenheit
+entgegen: War es nun dies oder das nächste,
+an dem Olga Radó stehenblieb, nach einem flüchtigen
+Gruß hineinging, eine schwere Tür hinter sich verschloß
+und die Straße sehr einsam und öde hinter sich
+zurückließ?
+</p>
+
+<p>
+Nach einem minutenlangen Schweigen sagte Olga
+plötzlich:
+</p>
+
+<p>
+„Es war nicht richtig, in Gegenwart dieser Kälber
+von Syphilis zu reden, gelt? – Sie werden sehr
+chokiert gewesen sein.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich?“ sagte Mette und bekam einen roten Kopf.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nein! Sie nicht! Sie – klein geschrieben
+– die Kälber.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber, gnädiges Fräulein! Machen Sie sich darüber
+Gedanken?“ Es schien Metten wirklich höchst
+lächerlich, sich über das Urteil der Kälber Gedanken
+zu machen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-58" class="pagenum" title="58"></a>
+„Ja doch!“ Olga Radó wandte den Kopf und heftete
+die Augen einen Moment lang scharf und ernst auf ihr
+Gesicht. „Denken Sie, ich mache mir darüber Gedanken.
+So etwas kann mich direkt quälen. Ich verkehre
+nur mit so erwachsenen Menschen, daß ich ganz
+die Schätzung verloren habe, was man in einer solchen
+Gesellschaft sagen darf. Ich glaube, die jungen Mädchen
+aus guter Familie dürfen von Syphilis nicht
+eher etwas hören, als bis sie sie selber haben.“
+</p>
+
+<p>
+Mette lachte mit geschlossenen Zähnen leise auf.
+</p>
+
+<p>
+„Es wäre schon zum Lachen,“ sagte Olga Radó,
+„wenn es nur nicht so furchtbar traurig wäre. Ich
+habe jetzt wieder so einen Fall erlebt. Darum komme
+ich mit den Gedanken nicht los davon ... Sagen
+Sie, war ich sehr unliebenswürdig zu dem kleinen
+Ekel?“
+</p>
+
+<p>
+Jetzt lachte Mette hell auf.
+</p>
+
+<p>
+„Zu wem?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß nicht, wie das heißt. Was hier neben
+uns herlief. Sie sind doch nicht befreundet, gell,
+nein? Verzeihen Sie, das war eine dumme
+Frage!“
+</p>
+
+<p>
+Metten war, als hätte noch nie im Leben jemand
+ihr ein solches Lob gespendet. Sie war stolz und
+dankbar zu gleicher Zeit.
+</p>
+
+<p>
+„Ich bin mit keinem Menschen befreundet,“ sagte
+<a id="page-59" class="pagenum" title="59"></a>
+sie, ernster und schwerer, als es eigentlich ihre Absicht
+gewesen war.
+</p>
+
+<p>
+Nun war doch das Haus da, vor dem Olga Radó
+plötzlich stehenblieb.
+</p>
+
+<p>
+„Hier bin ich daheim,“ sagte sie, „wenn man ein
+Pensionszimmer ‚daheim‘ nennen darf. Aber –
+schließlich – was darf man so nennen? Kennen Sie
+die Pension Flesch?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich kenne überhaupt keine Pensionen.“
+</p>
+
+<p>
+„Sie Glückliche! Sie wohnen bei Ihren Eltern!?“
+</p>
+
+<p>
+„Bei meinem Vater.“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, die Pension ist ganz nett. Ich habe in schlimmeren
+gehaust. Kommen Sie doch gelegentlich mal
+hinauf zu mir und schaun’s sich meine Bude an!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber gern!“ – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Dies „gern“ war keine leicht hingesprochene
+Redensart.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Mette dachte in der nächsten Zeit Tag und Nacht
+darüber nach, wie sie es anstellen sollte, dieser Aufforderung
+zu folgen und Olga Radó aufzusuchen.
+</p>
+
+<p>
+Sie war manchmal schon auf dem Wege, hinzugehen.
+Dann kehrte sie um, weil sie sich lieber vorher
+telephonisch anmelden wollte. Wieder schien es ihr
+unpassend, einen Menschen durch telephonischen Anruf
+<a id="page-60" class="pagenum" title="60"></a>
+zu stören. Sie wollte ihr schreiben. Aber das gab
+der Sache einen solchen Anstrich von Wichtigkeit und
+Förmlichkeit, nahm ihr alles Zufällige, Gelegentliche.
+Und dann – wenn sie eine höfliche Absage bekam,
+war ihr jede Möglichkeit genommen, einen weiteren
+Versuch zu machen. Wenn sie dagegen einfach hinging
+und sie nicht antraf, konnte sie ihre Karte mit ein paar
+Worten dalassen – und auf eine Nachricht warten.
+</p>
+
+<p>
+Sie ging – ging bis vors Haus und ging doch
+wieder nicht hinauf. Aber sie ging ein paarmal die
+Straße auf und ab und stand sehr lange und versunken
+vor einigen äußerst reizlosen Auslagen. Es hätte doch
+sein können, daß Olga Radó zufällig gerade um diese
+Zeit das Haus verließ, oder besser noch, heimkam, und
+sie aufforderte, mit hinaufzugehen.
+</p>
+
+<p>
+Außerdem pflegte Mette den Verkehr mit Möbiussens
+mit rührendem Eifer. Sie lud sie ein, sooft es Tante
+Emilie erlaubte, sie ging hin, sooft sie aufgefordert
+wurde; sie hatte zwischendurch hundertmal zu telephonieren,
+um irgendeine Verabredung festzustellen.
+Sie lieh sich Bücher aus, die sie holen und wiederbringen
+mußte und bemühte sich bei alledem, so
+liebenswürdig zu sein, daß Frau Konsul ganz entzückt
+von ihr war und Tante Emilien gegenüber nicht
+oft genug betonen konnte, wie Mette sich zu ihrem
+Vorteil verändere – was Tante Emilie meist mit
+<a id="page-61" class="pagenum" title="61"></a>
+einem stummen und fast beleidigten Achselzucken erwiderte.
+</p>
+
+<p>
+Das ging durch Wochen so. Aber Mette verlor die
+Geduld nicht. Es war genug, wenn von Zeit zu Zeit
+ein Wort fiel, „... wie Olga immer sagt“ oder „das
+hat Olga so gern“. Es war genug und fast zu viel,
+wenn Fanni sagte:
+</p>
+
+<p>
+„Gestern abend war Olga auf einen Sprung oben,
+ich finde, sie sieht schlecht aus!“
+</p>
+
+<p>
+Oder, wenn Emmi, die sich in dieser Zeit so etwas
+wie eine Schwärmerei für Mette zurechtlegte, sagte:
+</p>
+
+<p>
+„Mette hat so wunderschöne Hände, beinah so schöne
+wie Olga ...“
+</p>
+
+<p>
+Ach, es war genug, den kleinen schwarzen Hund auf
+den Knien zu halten und ihn lachend „Sophonisbe“ zu
+nennen.
+</p>
+
+<p>
+All das gab Hoffnung und Spannung für Tage.
+Mette fing in dieser Zeit an, das Leben schön zu
+finden.
+</p>
+
+<p>
+Aber sie wußte nicht, warum. – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Eines Abends – die Mädels saßen noch im
+Dämmer zusammen – weil es sich besser reden ließ
+als beim grellen Lampenlicht, und Mette ließ sich zum
+drittenmal die Geschichte von Max und Travemünde
+<a id="page-62" class="pagenum" title="62"></a>
+erzählen, und wie es „angefangen“ hatte – schrillte
+die Klingel, und ein paar Sekunden später klang im
+Nebenzimmer mit Frau Konsuls dünnem, sanftem
+Organ die tiefe, tönende Stimme, die Metten ein Erschrecken
+bis ins Herz jagte.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Sie kannte diese Stimme so genau und fürchtete
+doch, daß sie sich täuschen könnte. Sie wollte fragen:
+„Ist das nicht Olga?“ und fürchtete, ein „Nein“ als
+Antwort zu bekommen. Und mehr als alles fürchtete
+sie, daß dies Gespräch nebenan verstummen könnte –
+daß die Türen gehen könnten und es nachher heißen
+würde: „Eben war Olga auf einen Moment hier“.
+</p>
+
+<p>
+Die Stimmen verstummten nicht. Sie wurden
+lauter, kamen näher, die Tür wurde rasch und weit
+aufgemacht, und im Rahmen stand Olgas hohe Erscheinung,
+abgehoben von dem gelben Licht, das das
+Nebenzimmer füllte, wie ein gedunkeltes Bild von
+goldenem Grund.
+</p>
+
+<p>
+„Kinder, wollt ihr morgen bei mir Tee trinken?“ rief
+sie in das dunkle Zimmer. „Ich habe ‚Kugler‘ geschickt
+bekommen.“
+</p>
+
+<p>
+Die beiden Möbius-Mädchen juchten auf.
+</p>
+
+<p>
+Emmi rückte einen Stuhl und wollte Olga hineinziehen,
+aber die wehrte ab und ließ die Hand nicht von
+der Türklinke.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nein, Kinder, ich habe keine Minute Zeit.
+<a id="page-63" class="pagenum" title="63"></a>
+Aber kommt morgen zeitig, um vier, halb fünf
+spätestens, ich muß abends in die Oper.“
+</p>
+
+<p>
+Mette rührte sich nicht. Als die Tür aufging, hatte
+sie ein halblautes „Guten Abend“ gesagt. Nun schien
+es ihr aufdringlich, sich irgendwie bemerkbar zu machen.
+Vielleicht hatte Olga sie in ihrer dämmerigen Ecke gar
+nicht gesehen. Vielleicht hatte sie sie aber auch nicht
+sehen wollen. Es wäre ja begreiflich gewesen. Aber
+irgend etwas tat weh dabei.
+</p>
+
+<p>
+„Wollen Sie nicht mitkommen, Fräulein Rudloff?
+Wenn Sie nix Besseres vorhaben – Sie sind herzlichst
+eingeladen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Gern!“ sagte Mette, und wurde blaß vor Freude.
+– – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Am andern Tag brachte Mette so viel Zeit damit
+hin, sich anzuziehen und herzurichten, als ob sie zum
+Ball gehen wollte.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Tante Emilie war für Ordnung und Sauberkeit in
+der Kleidung, soweit das eben zur Musterhaftigkeit
+gehörte, aber beileibe nicht für mehr. Ein Mensch,
+der mit aller Gewalt hübsch aussehen wollte, der war
+schon halb in den Krallen des Satans.
+</p>
+
+<p>
+(Ach, wie recht hatte doch Tante Emilie manchmal
+mit ihren Ansichten!)
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-64" class="pagenum" title="64"></a>
+Mette wollte heute mit aller Gewalt hübsch aussehen.
+Sie schnitt und feilte und polierte eine Stunde
+an ihren Nägeln. Sie versuchte dreimal eine neue
+Haartracht. Sie überlegte, unter welchem Vorwand
+sie das blaue Taffetkleid anziehen sollte, es war das
+gute, das neue, das einzige, in dem sie, ihrer Meinung
+nach, erträglich aussah. Aber Tante Emilie würde es
+ihr ja für einen einfachen, kleinen Nachmittagstee nie
+gestatten.
+</p>
+
+<p>
+Tante Emilie ging <em>schon</em> herum, als wollte sie
+durch fortdauernde Spionage die Bestätigung eines
+furchtbaren Verdachtes erbringen.
+</p>
+
+<p>
+Alle paar Minuten wurde die Tür zu Mettes
+Zimmer aufgerissen.
+</p>
+
+<p>
+„Herr Gott im Himmel! Du frisierst dich <em>noch</em>?“
+</p>
+
+<p>
+Und nach fünf Minuten:
+</p>
+
+<p>
+„In <em>welcher</em> Straße ist das, wo ihr nachmittag
+hingeht?“
+</p>
+
+<p>
+Nach zwei Minuten:
+</p>
+
+<p>
+„... <em>noch</em> dünnere Strümpfe konntest du wohl
+nicht anziehen?! Es ist heut absolut nicht so übermäßig
+warm. Ich weiß nicht, in <em>meiner</em> Jugend
+war das überhaupt nicht Mode ...“
+</p>
+
+<p>
+„Holen Möbiussens dich ab, oder holst du sie ab?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich würde mir doch an deiner Stelle eine Maniküre
+kommen lassen!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-65" class="pagenum" title="65"></a>
+„Wer ist denn da <em>noch</em>? <em>Bloß</em> ihr drei?“
+</p>
+
+<p>
+Angesichts dieser Inquisition beschloß Mette, lieber
+in Rock und Bluse zu gehen und des blauen Taffetkleides
+lieber gar nicht erst Erwähnung zu tun. – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Als Mette die Wohnung verlassen wollte, stand
+Tante Emilie mit Kapotthütchen und Regenschirm bereits
+an der Flurtür. Sie kam mit bis zu Möbiussens.
+Sie hatte schon längst die Absicht gehabt, Frau Konsul
+einmal aufzusuchen.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Nun sei ja sehr gute Gelegenheit. Ihrer Nichte sei
+doch hoffentlich die Begleitung nicht unangenehm?
+</p>
+
+<p>
+Mette schwieg. Sie fühlte das lauernde Mißtrauen
+und glühte vor Zorn. Sie konnte keine liebenswürdige
+Antwort geben. Sie gingen wortlos nebeneinander
+her, und in beiden brannte der Haß mit schwelender
+Flamme. – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Mette hatte den Druck der Mißstimmung, der auf
+ihr lag, noch nicht abschütteln können, als sie schon
+längst mit den beiden schwatzenden Mädchen auf dem
+Weg war. Immer wieder verstärkte sich ihre Pein,
+wenn sie dachte: ... und ich hatte mich <em>so</em> gefreut.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Erst als sie das Haus wiedersah, als sie die Tür
+öffnete, die Treppen hinaufstieg, mit dem stolzen Gefühl,
+vollauf dazu berechtigt zu sein, da schlug die
+<a id="page-66" class="pagenum" title="66"></a>
+Freude wieder in ihr hoch, wie eine helle Flammenlohe
+durch Qualm und Rauch.
+</p>
+
+<p>
+Mette brannte vor Neugier, das Zimmer zu sehen.
+Als das zierliche Hausmädchen sie durch den Türgang
+führte, empfand sie ein Gefühl, dem ähnlich, mit dem
+sie als Kind im Theater vorm geschlossenen Vorhang
+gesessen hatte, wenn die Musiker anfingen, ihre Instrumente
+zu stimmen.
+</p>
+
+<p>
+Das Zimmer lag fast im Dunkel. Rolläden und
+Vorhänge waren so fest geschlossen, daß kaum ein
+Schimmer des regnerischen Tages die Fenstervierecke
+heller zeichnete. Direkt neben dem kleinen, niedrigen
+Teetisch stand eine hohe, buntbeschirmte Lampe, die ein
+blendendes Licht über das weiße Tuch, über das dünne,
+goldgeränderte Porzellan und über ein dunkelblaues,
+mit gelben Primeln angefülltes Jean-Beck-Glas warf.
+</p>
+
+<p>
+Von dem übrigen Zimmer konnte man auf den ersten
+Blick nicht viel erkennen. Die Möbel schienen schwer
+und dunkel, an einer Wand glänzten im ungewissen
+Licht lange Reihen von Bücherrücken, hie und da
+gleißte die Ecke eines Bilderrahmens auf oder ein
+Stückchen spiegelnden Glases.
+</p>
+
+<p>
+Olga empfing ihre Gäste mit einer Freude, die herzlich
+und aufrichtig schien.
+</p>
+
+<p>
+Metten erschien es unbegreiflich, daß diese Frau sich
+nicht in kalten Hochmut wie in einen Panzer hüllte.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-67" class="pagenum" title="67"></a>
+Die Mädchen konnten nicht aufhören, sich über die
+künstliche Dunkelheit zu belustigen.
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ sagte Olga, „ich wollte doch meine Bude im
+vorteilhaftesten Licht präsentieren. Und am vorteilhaftesten
+ist so wenig Licht wie möglich. Außerdem –
+wenn vor der entsetzlichen grauen Brandmauer da
+drüben noch der Regen in Strippen herunterläuft,
+dann ist das auch weiter kein erfreulicher Anblick. So
+kann man denken, da draußen liegt ein Tannenwald
+im Schnee, oder Terrassen, die nach dem Meer hinunterführen
+oder der Donau-Kai in einer Mainacht,
+wenn die Akazien blühen.“
+</p>
+
+<p>
+Mette wurde in einen tiefen Sessel genötigt.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, das müssen Sie sich schon gefallen lassen, Sie
+sind hier unser Ehrengast, Sie sind doch die Älteste!
+Jetzt sind Sie wahrscheinlich noch stolz darauf, wenn
+Sie erst so alt sind wie ich, dann hört es schon auf,
+eine Schmeichelei zu sein.“
+</p>
+
+<p>
+Mette hatte sich in ihrem ganzen Leben noch nie so
+zu Hause gefühlt, wie in diesem Sessel.
+</p>
+
+<p>
+Ihr gegenüber hockte Olga auf einem niedrigen
+Taburett, hatte schon längst die unvermeidliche Zigarette
+zwischen den Fingern und hielt sie zwischen den
+Zähnen fest, wenn sie die Hände brauchte, um Tee einzugießen
+oder Kuchen herumzureichen.
+</p>
+
+<p>
+Sie war ersichtlich bemüht, ihre Gäste zu unterhalten,
+<a id="page-68" class="pagenum" title="68"></a>
+aber als Fanni und Emmi erst ins Schwatzen
+kamen und sich gegenseitig nicht mehr zu Wort kommen
+ließen, wurde sie still und hörte lächelnd zu – wie ein
+Erwachsener spielenden Kindern lauscht.
+</p>
+
+<p>
+Wenn eine Pause im Gespräch eintrat, holte sie
+einen Kasten mit Photographien hervor, die sie auf
+Reisen aufgenommen hatte, oder ein Buch mit Dulacillustrationen
+oder eine Zeitschrift mit den Porträts
+der neuesten Filmstars.
+</p>
+
+<p>
+In Metten wuchs schon wieder ein Gefühl der Pein
+auf. Sie bekam es kaum fertig, sich mit einem „Ja“
+oder „Nein“ am Gespräch zu beteiligen.
+</p>
+
+<p>
+„Sie gibt sich so krampfhaft Mühe, uns zu unterhalten,“
+dachte sie. „Und im Grunde sind wir ihr
+langweilig und lästig. Wenn die Tür nachher hinter
+uns zufällt, atmet sie auf und sagt: ‚Gott sei Dank‘!
+Ich kann es ihr ja auch nicht verdenken. Warum sie
+uns nur erst eingeladen hat!“
+</p>
+
+<p>
+Sie hatte die größte Lust, zu gehen, nur um Olga
+Radó von diesem Besuch zu befreien. Dabei fühlte sie
+– wenn sie jetzt mit irgendeiner Ausrede aufbrechen
+wollte, und man würde sie fragen, sie bitten, die allgemeine
+Aufmerksamkeit würde sich auf sie lenken,
+dann würden ihr unhaltbar die Tränen aus den Augen
+stürzen, die ihr drohend und stechend hinter der Nasenwurzel
+saßen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-69" class="pagenum" title="69"></a>
+Sie war fast froh und tief unglücklich, als Olga
+plötzlich auf die Uhr sah und sagte:
+</p>
+
+<p>
+„Kinder, ich muß euch hinauswerfen, so leid es mir
+tut. Ich muß mich umziehen, aber schleunigst – die
+Zeit ist so rasend schnell vergangen.“
+</p>
+
+<p>
+Im tiefsten Innern litt Mette darunter, daß der
+ersehnte Nachmittag schon vorüber war. Aber ihre
+Gedanken sagten laut und deutlich: „Gott sei Dank!“
+Und sie war erst recht erbittert, daß sie nun eigentlich
+froh sein mußte, statt unglücklich zu sein. – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Mette war leicht geneigt, sich zur Verantwortung
+zu ziehen. Sie ging am selben Abend noch scharf mit
+sich ins Gericht. Sie klagte sich an, dumm, faul, unwissend
+und ungewandt zu sein.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Warum kannte sie die Bücher nicht, die Olga Radó
+in ihrem Besitz hatte und las und liebte? Vater hatte
+sie sicher alle vorn in seinem Studierzimmer, aber
+Mette war noch nie auf den Gedanken gekommen, sie
+zu lesen.
+</p>
+
+<p>
+Warum war es ihr nicht möglich, <em>einmal</em> etwas
+Geistreiches zu sagen? Irgend etwas, das sie mit
+einem Schlage über das flache Gewimmel dieser Alltagsbackfische
+hinaushob.
+</p>
+
+<p>
+Olga Radó merkte sicher an einem Wort, wes
+<a id="page-70" class="pagenum" title="70"></a>
+Geistes Kind einer war. Vielleicht hatte sie etwas von
+ihr erwartet, weil sie ein bißchen anders aussah als
+die anderen.
+</p>
+
+<p>
+Mette stand prüfend vorm Spiegel. Sie war hochgewachsen,
+hatte eine kluge Stirn und ernste Augen.
+Und was war dahinter? Nichts, nichts, nichts!
+</p>
+
+<p>
+Mette schnitt ihrem Spiegelbild zornige Fratzen.
+</p>
+
+<p>
+Was hatte sie den ganzen Nachmittag geredet?
+„Ja,“ „nein“ und ein paar alberne Phrasen.
+</p>
+
+<p>
+Aber das kam davon, wenn man blind und taub
+durchs Leben ging.
+</p>
+
+<p>
+Dann wußte man selbst solche Dinge nicht, von
+denen die Möbius-Mädeln schwatzen konnten. Und
+an alledem war Tante Emilie schuld!
+</p>
+
+<p>
+Das schlimmste aber war – Mette drehte das Licht
+aus und verkroch sich unter die Bettdecke, weil das
+Blut ihr brennendheiß in die Stirn stieg – das
+schlimmste war, daß sie, als die anderen vom „Kammersänger
+von Wedekind“ gesprochen hatten, allen
+Ernstes gedacht hatte, es wäre ein adliger Hofopernsänger
+und gefragt: „Wie heißt er denn mit Vornamen?“
+</p>
+
+<p>
+Aber das hatte Olga Radó hoffentlich nicht gehört.
+– – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+<a id="page-71" class="pagenum" title="71"></a>
+Eine Woche lang gab Mette ihre zwecklosen Spaziergänge
+auf und übte zu Hause Klavier und lernte
+französische Vokabeln, und wenn sie eine halbe Stunde
+geübt und gelernt hatte, warf sie sich auf den Diwan
+und starrte in das Stückchen Himmelblau, von silbrigen
+Telephondrähten durchschrägt, das sie von
+ihrem Platz aus sehen konnte. Und dann flogen ihre
+Gedanken – wie das herrlich wäre, alle Sprachen der
+Welt zu verstehen, oder ein Instrument vollkommen
+zu beherrschen, oder eine wundervolle Stimme zu
+haben, oder bezaubernd schön zu sein. Aber da man
+all so etwas doch nie erreichen konnte, so wäre es
+vielleicht am angenehmsten, tot zu sein. – – –
+</p>
+
+</div>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Dann kamen dringende Besorgungen, die einen gezwungenermaßen
+in die Motzstraße führten. Und
+wenn man an dem Haus vorüber mußte, war es
+natürlich, daß man ein wenig langsamer ging, zu den
+Fenstern hinaufsah, die Straße entlang spähte.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Und wenn man in der Stadt war und nach Hause
+gehen wollte, konnte man genau so gut durch die Motzstraße
+gehen wie durch die Kleiststraße. Und wenn
+man ging, um ein wenig an der frischen Luft zu sein,
+war es das natürlichste von der Welt, daß man sich
+auf den Viktoria-Luise-Platz auf eine Bank setzte und
+den spielenden Kindern zusah.
+</p>
+
+<p>
+Jeden Tag stand Mette vor einem Geschäft mit
+<a id="page-72" class="pagenum" title="72"></a>
+Handschuhen, Bändern und Spitzen und starrte tiefsinnig
+auf die Auslagen – weil im Hintergrund des
+Glaskastens ein Spiegel war, und weil man in diesem
+Spiegel die Haustür gegenüber beobachten konnte.
+</p>
+
+<p>
+Jedesmal zuckte Mette zusammen, wenn die Haustür
+sich auftat.
+</p>
+
+<p>
+Und als einmal Olga Radó durch die Haustür trat,
+hätte Mette sie beinah nicht erkannt. Sie hatte einen
+losen Mantel an, beide Hände in den weiten Taschen
+vergraben und keinen Hut auf. Sie lief mehr als sie
+ging, zwei Häuser weiter nach dem Briefkasten und
+steckte einen Brief unter die Klappe.
+</p>
+
+<p>
+Mette ging rasch über den Damm, um ihr den
+Rückweg abzuschneiden. Dabei klopfte ihr Herz so,
+daß sie nach Atem ringen mußte. Sie faßte in flüchtigster
+Geschwindigkeit der Gedanken hundert Entschlüsse,
+die sie wieder verwarf.
+</p>
+
+<p>
+Sie wollte sie anreden – sie wollte mit stummem
+Gruß an ihr vorübergehen – aber vielleicht wurde
+sie gar nicht erkannt – sie wollte sie doch lieber anreden
+– aber wie?
+</p>
+
+<p>
+Als sie noch auf dem Damm war, hatte Olga sie
+gesehen und schwenkte ihr die Hand entgegen.
+</p>
+
+<p>
+„Hallo, Fräulein Mette! Wollten Sie mich besuchen?“
+</p>
+
+<p>
+„Eigentlich nicht!“ sagte Mette und wurde blaß vor
+<a id="page-73" class="pagenum" title="73"></a>
+Aufregung. Vielleicht war es wieder eine Dummheit.
+Vielleicht hätte sie „ja“ sagen sollen ...
+</p>
+
+<p>
+„Aber uneigentlich ja“ – sagte Olga und schob ihre
+Hand in Mettens Arm. „Kommen Sie eine Stunde
+mit hinauf. Oder haben Sie etwas zu versäumen?
+Nein? Na also! Warten Sie – ich muß nur noch
+zu meinem Freund an der Ecke, mir Zigaretten holen
+– gehen Sie mit?“
+</p>
+
+<p>
+Nie in ihrem Leben hatte Mette einen so reizenden
+kleinen Tabaksladen gesehen, wie dies Geschäft an
+der Ecke. Nie war ein Mensch so auf den ersten Blick
+gewinnend gewesen, wie dieses weißhaarige, schmunzelnde
+Männchen mit den dürren, zittrigen Händen,
+bei dem Olga Radó ihre Zigaretten kaufte – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Olga saß vor dem breiten Diplomatenschreibtisch
+aus schwarzgebeiztem Eichenholz im Lutherstuhl, die
+Beine übereinander geschlagen, ein wenig vorgebeugt,
+beide Ellenbogen auf den hohen Seitenlehnen.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Mette saß ihr gegenüber im Sessel. Ihr war ein
+wenig zumute wie beim Examen. Irgend etwas in
+ihrem Innern straffte sich auf, biß gleichsam die Zähne
+zusammen und sagte: Ich will bestehen. Ich will
+bestehen.
+</p>
+
+<p>
+Eine Weile ging es ganz gut. Sie sprachen von
+den Möbius-Mädeln und von Erika Hannemann und
+Tante Konsul. Und Mette erzählte von zu Hause,
+<a id="page-74" class="pagenum" title="74"></a>
+von Tante Emilie und von den schönsten Tagen ihrer
+Kindheit – von dem Gut und dem Gartenhäuschen
+aus Birkenrinde und dem Brückchen aus Birkenstämmen,
+das über ein ganz kleines Wässerlein führte –
+und von den Perlhühnern, die immer auf die Veranda
+kamen, wenn gefrühstückt wurde ...
+</p>
+
+<p>
+Und dann sagte Olga plötzlich:
+</p>
+
+<p>
+„Sagen Sie mir bloß, wie kommen Sie eigentlich
+zu der Freundschaft mit meinen sogenannten Cousinen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß nicht,“ sagte Mette – „Tante Emilie ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ich will nichts gegen sie sagen,“ sagte Olga rasch,
+„es sind herzensgute Kinder. Aber langweilen Sie
+sich nicht zu Tode in diesem beständigen Verkehr?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ gab Mette zu, „aber ich langweile mich
+eigentlich immer.“
+</p>
+
+<p>
+„Hören Sie, das ist ja furchtbar!“ sagte Olga ernsthaft
+erschrocken. „Ich möchte lieber tot sein, als
+mich langweilen. Haben Sie denn keinen anderen
+Menschen als Fanni und Emmi und Tante
+Emilie?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein“ – sagte Mette zögernd. „Es liegt wohl
+an mir. Ich habe nie eine Freundin gefunden. Aber
+ich habe auch nie eine gemocht.“
+</p>
+
+<p>
+„Es ist nicht leicht“ – sagte Olga nachdenklich. „An
+unseren besten Freunden gehen wir meist um ein paar
+<a id="page-75" class="pagenum" title="75"></a>
+Jahrhunderte vorüber. Von manchen wissen wir.
+Wenn wir von ihnen lesen oder ihre Bilder sehen.
+Aber das sind doch nur die wenigsten. Und von denen,
+die nach uns geboren werden, wissen wir gar nichts.
+Darum beneide ich die Schaffenden so. Sie können
+denen, die nach ihnen kommen, einen Gruß zuwinken.
+Sie können sich selbst festhalten in Worten, in Bildern,
+in Taten. Ja, in Taten auch. Das ist dann
+wie ein Schrei: So bin ich! So war ich! Habt mich
+lieb! Und wenn sie bei ihren Lebzeiten niemand gefunden
+haben, so wird vielleicht in hundert Jahren
+einer geboren, oder in zweihundert, der sie liebt, so
+wie sie geliebt sein wollten. Der sie versteht, so wie
+sie verstanden sein wollten. – Wir armen Hunde –
+wenn wir tot sind, werden wir ganz gewiß nicht mehr
+geliebt. Nicht in zehn Jahren mehr, ach, nicht in zehn
+Monaten. Ich möchte manchmal ...“
+</p>
+
+<p>
+Ihre Augen standen tief dunkel und drohend unter
+den zusammengezogenen Brauen.
+</p>
+
+<p>
+Sie brach ab und setzte mit einer anderen Stimme
+wieder ein:
+</p>
+
+<p>
+„Wissen Sie, unter den Menschen der Renaissance
+sind sehr viel sympathische Leute. Man hätte doch
+wohl vier, fünf Jahrhunderte früher leben müssen.
+Ich wäre ganz sicher mit Margherita Sforza befreundet
+gewesen. Ich hab’ vorhin gerade so eine famose
+<a id="page-76" class="pagenum" title="76"></a>
+Geschichte von ihr gelesen, wie sie ihrem Bruder seine
+Besitzungen erhielt, als Julius Cäsar gegen sie abgeschickt
+wurde.“
+</p>
+
+<p>
+In Mettens Kopf erhob sich ein Wirbel, der einem
+Schwindelgefühl nicht unähnlich war.
+</p>
+
+<p>
+Renaissance – das war ihr ein vertrauter Begriff.
+</p>
+
+<p>
+Mit dem Namen Sforza verband sie eine dämmernde
+Vorstellung.
+</p>
+
+<p>
+Aber – „Julius Cäsar?“ murmelte sie fassungslos.
+</p>
+
+<p>
+Olga lachte: „Nein, nein, nicht <em>der</em>! Julius
+Cäsar von Capua.“ Und dann setzte sie gleich wie
+begütigend hinzu: „Ein kleines, dummes Fürstchen!
+Sie brauchen ihn nicht zu kennen.“
+</p>
+
+<p>
+„Ach,“ seufzte Mette aufrichtig, „ich kenne so viele
+nicht, die ich kennen müßte.“
+</p>
+
+<p>
+„Na,“ sagte Olga, „es wird so schlimm nicht sein.
+Die Königin Johanna kennen Sie doch?“
+</p>
+
+<p>
+„Welche?“ fragte Mette ratlos. „Ich kenne nur die
+Erzählungen der Königin von Navarra ...“
+</p>
+
+<p>
+„Die kennen Sie hoffentlich nicht!“ sagte Olga belustigt.
+„Im übrigen war das eine Margarete. Aber
+die Sforza kennen Sie doch?“ Sie fragte so zart, so
+zuredend, als spräche sie zu einem Kinde, dem man
+nicht wehtun will.
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß nicht ... nein ... ja ...“
+</p>
+
+<p>
+„Na, was wissen Sie von ihnen?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-77" class="pagenum" title="77"></a>
+„Nichts“ – sagte Mette verstört –, „nur das Bild
+von Rubens – das kleine Mädchen mit der Leberwurst
+...“
+</p>
+
+<p>
+Olga horchte einen Augenblick mit hochgezogenen
+Brauen, als dächte sie nach. Dann lachte sie laut und
+lustig, so lustig, wie Mette sie noch nie hatte lachen
+hören. Aber merkwürdigerweise tat diese Lustigkeit
+Metten nicht weh, obgleich sie sich über ihre eigene
+Unempfindlichkeit wunderte. Es war so hübsch, Olga
+Radó so herzlich lachen zu sehen. Auch dann, wenn
+man selber ausgelacht wurde.
+</p>
+
+<p>
+„Mädchen!“ rief Olga immer noch lachend. „Wie
+sieht das in deinem Gehirn aus! Ach! Da möcht ich
+einmal Ordnung schaffen!“
+</p>
+
+<p>
+„Tun Sie das!“ sagte Mette glühend. „Bitte, bitte,
+tun Sie das!“
+</p>
+
+<p>
+Olgas Gesicht wurde einen Augenblick ernst und
+nachdenklich.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nein,“ sagte Mette sofort erschrocken, „das
+war eine Unverschämtheit. Sie sind ja schließlich nicht
+unsere Gouvernante!“
+</p>
+
+<p>
+„Kind!“ sagte Olga, und legte mit einem raschen
+Sichvorbeugen ihre Hand auf Mettens. „Sind Sie
+so empfindlich? Das galt doch gar nicht Ihnen!
+Wollen Sie lesen lernen bei mir? Weiter kann ich
+Ihnen ja auch nix beibringen! Kommen Sie, ja?
+<a id="page-78" class="pagenum" title="78"></a>
+Kommen Sie zu mir herauf, sooft Sie wollen, bis es
+Ihnen langweilig wird.“
+</p>
+
+<p>
+„Nie!“ sagte Mette, als spräche sie einen heiligen
+Eid.
+</p>
+
+<p>
+„Aber wissen Sie, ehe wir uns irgendwo festhaken,
+müssen Sie erst mal einen Überblick haben. Sie
+müssen sich durch eine Weltgeschichte durcharbeiten.
+Soll ich Ihnen den Schlosser mitgeben? Es sind achtzehn
+Bände. Immer einen Band nach dem andern.
+Ja – Mädel, da hilft dir kein Gott! Wenn du weiter
+nix tust, kannst du gut hundert Seiten im Tag lesen –
+ach mehr – und wenn du fertig bist – alle drei, vier
+Tage – je nachdem – kommen Sie her und tauschen
+sich den Band ein und trinken hier Tee, und wir
+plaudern ein bissel. Gell, ja? Wollen wir’s so
+halten?“
+</p>
+
+<p>
+So fing es an. – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Und so ging es eine ganze Weile.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Mette las mit einem Feuereifer die Bücher, die
+Olga Radó ihr gab. Und wenn sie das Buch sinken
+ließ, mit brennendem Gesicht, dann war ihr, als ob
+Olga ihr gegenüber säße, und sie fing an, lange Gespräche
+mit ihr zu führen. Auf jeder Seite stand
+etwas, etwas Grauenhaftes oder Schönes, etwas
+<a id="page-79" class="pagenum" title="79"></a>
+Merkwürdiges oder Unverständliches, irgend etwas,
+was sie Olga erzählen, wonach sie Olga fragen
+mußte.
+</p>
+
+<p>
+Manchmal führte sie diese Gespräche auch in Wirklichkeit,
+manchmal sprach sie das aus, was sie sich in
+Gedanken zurechtgelegt hatte, sagte, was zu sagen sie
+sich vorgenommen hatte – aber nur selten.
+</p>
+
+<p>
+Es war das sonderbar Beglückende und Überraschende,
+was Mette wohl empfand, aber sich viel,
+viel später erst klarmachte: daß man Olga Radó nicht
+führen konnte. So stark waren ihre Gedanken, ihre
+Stimmungen, daß sie im ganzen Zimmer eine Atmosphäre
+schufen, in der es unmöglich schien, anderer
+Laune zu sein als sie. Und wer kein Gefühl dafür
+hatte und einen anderen Ton anschlug als den, in
+dem Holz und Glas und Luft und Seide leise zu
+schwingen schienen, der erweckte eine schreiende Dissonanz.
+</p>
+
+<p>
+Mette spürte das später manchesmal, wenn Fremde
+ins Zimmer kamen. Sie selbst rief nie, nicht in den
+ersten Tagen, einen Mißklang hervor, weil sie still
+war, weil sie sich selbst ausschaltete, um halb unbewußt
+und doch beinah ängstlich jede Schwingung
+aufzufangen, die in der Luft zitterte.
+</p>
+
+<p>
+Im Anfang war es halb unbewußt. Sie kam sich
+so bodenlos klein und dumm vor, daß sie kaum wagte,
+<a id="page-80" class="pagenum" title="80"></a>
+in Olgas Gegenwart einen Gedanken für sich zu haben.
+Später, als ihre gesunden Nerven längst fein und
+dünn bis zum Zerreißen ausgespannt waren, hatte sie
+es zu einer bewußten Meisterschaft gebracht. Sie
+pflegte manchmal scherzend zu sagen:
+</p>
+
+<p>
+„Heut mußt du in sehr schlechter Laune die Straße
+entlang gegangen sein. Die Häuser schneiden jetzt
+noch Fratzen hinter dir her!“ – –
+</p>
+
+<p>
+Es war das dritte- oder viertemal, daß Mette oben
+war. Olga lag auf dem Diwan und rauchte so ununterbrochen,
+daß die blauen Wolken Mühe hatten,
+sich zum Fenster hinauszuschieben.
+</p>
+
+<p>
+Mette saß im Sessel und las ihr Jean Paul vor:
+</p>
+
+<p>
+„Einen anderen freilich, wenigstens den Leser und
+mich, würde die durchsichtige Nacht, womit sich der
+April beschloß, die weite Stille, auf welche die Trommelstöcke
+schlugen, die Sehnsucht nach dem Geliebten,
+mit welchem der Morgen wieder das öde Herz und
+das zerstückte Leben ergänzte, alles dieses würde uns
+beide mit sanften Bebungen und Träumen erfüllt
+haben ...“
+</p>
+
+<p>
+„Bitte, laß!“ sagte Olga gequält und preßte die
+Hand gegen die Schläfen. „Sei nicht böse, ich kann es
+heut’ nicht vertragen, sei lieb, Kind, da oben steht der
+Walt Whitman – im obersten Fach – weiter nach
+rechts – oder nein, laß – geh mal nebenan an
+<a id="page-81" class="pagenum" title="81"></a>
+meinen Toilettentisch, da liegt eine silberne Bürste –
+nein, die mit dem Stiel – die bring mal her.“
+</p>
+
+<p>
+Mette brachte gehorsam die Bürste.
+</p>
+
+<p>
+Olga nahm sie ihr aus der Hand, ohne sich aufzurichten
+und schlug mit dem Rücken einen kräftigen
+Daktylus gegen die Wand, nach kurzer Pause noch
+einen und einen dritten.
+</p>
+
+<p>
+Mette lachte. „Muß dazu die Bürste sein?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ sagte Olga. „Das ist mein Morseapparat.
+Nach langjähriger Erfahrung der beste. Was soll ich
+nehmen? Das Tintenfaß geht doch nicht gut. Ein
+Buch gibt keinen Schall, wär’ mir auch zu schade ...“
+</p>
+
+<p>
+Währenddessen klopfte es an die Tür.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, ja, ja!“ rief Olga.
+</p>
+
+<p>
+Die Tür wurde nur halb geöffnet, und ein blonder
+Männerkopf schob sich durch den Spalt.
+</p>
+
+<p>
+„Ah, Besuch?!“ sagte eine hohe, dünne, heisere und
+trotzdem nicht unangenehme Stimme.
+</p>
+
+<p>
+„Komm rein, Peterchen,“ sagte Olga, „es ist nur
+die Mette.“
+</p>
+
+<p>
+Das Wort gab Metten ein großes Glücksgefühl.
+Es gab ihr eine gewisse Heimatsberechtigung in diesem
+Zimmer, wo nur <em>geduldet</em> zu sein, schon Stolz
+und Freude war.
+</p>
+
+<p>
+Der kleine Mann, der seinen zarten und verwachsenen
+Körper durch die Tür schob, kannte sie, wußte
+<a id="page-82" class="pagenum" title="82"></a>
+ihren Vornamen, wußte, daß sie „nur“ die Mette war
+– das war keine Beleidigung in diesem Falle, sondern
+eine Erhöhung. „Nur die Mette“ – das hieß:
+kein Besuch, niemand Fremdes, jemand, der dazugehört,
+der nicht störend wirkt – es ist so gut, als ob
+ich allein bin.
+</p>
+
+<p>
+Mettens ganze Sympathien flogen dem kleinen
+Mann entgegen. Vielleicht, wenn es ein stattlicher,
+schöner Mensch gewesen wäre, hätte sie sich in einem
+Gefühl der Eifersucht gegen ihn gewehrt. Aber er
+war nichts weniger als schön, trotz seiner sanften
+blauen Augen und seiner feinen gepflegten Hände.
+</p>
+
+<p>
+Mette liebte ihn vom ersten Augenblick an, wie sie
+den Zigarrenhändler an der Ecke liebte, mit einer fast
+zärtlichen Liebe.
+</p>
+
+<p>
+Diese erste Begegnung war der Anfang einer treuen
+und langjährigen Freundschaft.
+</p>
+
+<p>
+Otto Petermann war im allgemeinen gewiß nicht
+geneigt, sich selbst oder Neigungen, die seiner Persönlichkeit
+galten, zu überschätzen – aber ob es nicht doch
+manchmal Momente gab, in denen er glaubte, Mettens
+Gefühle ihm gegenüber für etwas anderes als
+ihre Liebe für den kleinen Zigarrenhändler halten zu
+dürfen?
+</p>
+
+<p>
+„– Peterchen,“ sagte Olga, „hol’ die Geige und
+spiel’ uns was!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-83" class="pagenum" title="83"></a>
+„Ja, was?“ fragte Petermann.
+</p>
+
+<p>
+„Etwas Anständiges. Für das kleine Mädchen ist
+nichts zu schade.“
+</p>
+
+<p>
+Und Petermann spielte. Spielte das, was sie beide
+am meisten liebten, Olga und er, und was er nicht
+spielen wollte und nicht spielen durfte, wenn ihn Leute
+hörten, für die es „zu schade“ war.
+</p>
+
+<p>
+Mette saß ganz still. Ihr war, als ob die Töne
+sie wie ein sanft flutender Strom dahintrügen, immer
+weiter, immer weiter, alles blieb zurück, die graue,
+schmutzige Stadt, ein Gemenge von keifenden und
+johlenden Leuten – blieb zurück, wurde kleiner, verschwand
+im Nebel, immer klarer wurde die Luft,
+immer reiner, immer tiefer das Wasser, immer lieblicher,
+immer freier die Ufer. Eine Insel tauchte auf,
+blühende Bäume ließen ihre tief herniederhängenden
+Zweige von den ziehenden Wellen tränken.
+</p>
+
+<p>
+„Das ist die selige Insel,“ dachte Mette. „Nur
+Könige wandeln auf dieser Insel. Nur Könige trägt
+unser Schiff. Aber ich werde mitgenommen. Ohne
+all mein Verdienst und Würdigkeit. Ich will dankbar
+sein. Mein ganzes Leben lang. Vielleicht werde ich
+über Bord geworfen, eh wir an Land gehen. Aber
+nun weiß ich den Weg. Dann will ich versuchen zu
+schwimmen oder will untergehen. Aber ich will nicht
+mehr zurück. Nie, nie, nie mehr zurück!“ – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+<a id="page-84" class="pagenum" title="84"></a>
+Peterchens Geige sang noch durch die Dämmerung.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+An diesem Tage kam Mette das erstemal zu spät
+zum Abendessen nach Hause. Die lange, erregte und
+boshafte Rede, mit der Tante Emilie sie empfing,
+machte ihr den Eindruck, als ob schmutziges Wasser
+über sie ausgegossen würde. Sie schüttelte sich vor
+Ekel, aber sie empfand keinen Schmerz. – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Auf Olga Radós Schreibtisch stand ein schöner
+Kasten aus schwerem, kantigem Kristall mit einem
+glatten Silberdeckel. Er war fast immer leer; denn
+die Zigaretten wurden so schnell aufgeraucht, daß es
+nicht lohnte, sie aus der Originalpackung herauszunehmen.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Eines Abends nahm Olga wieder einmal die letzte
+von fünfundzwanzig aus der Schachtel.
+</p>
+
+<p>
+„O weh – das ist bös – Mette, sieh mal auf dem
+Schreibtisch nach – da sind natürlich auch keine ...
+ich bin doch ein Schaf!“
+</p>
+
+<p>
+„Ich spring’ schnell hinunter und hole welche!“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, laß, du sollst nicht darum die Treppen laufen
+– wart’, gib mir einmal die Handtasche ’rüber. In
+meinem Etui müssen noch welche sein!“
+</p>
+
+<p>
+Olga lag wieder auf dem Diwan, richtete sich halb
+<a id="page-85" class="pagenum" title="85"></a>
+auf, kramte Schlüssel, Taschentücher, Briefe aus der
+Tasche heraus und öffnete schließlich das Etui.
+</p>
+
+<p>
+„Hurra! <span class="antiqua">Dieu soit loué!</span> Bei weiser Einteilung
+können wir durchhalten bis morgen früh! Magst du?!“
+</p>
+
+<p>
+Sie reichte das offene Etui hinüber.
+</p>
+
+<p>
+„Nein,“ sagte Mette, „ich verzichte liebend gern,
+sonst reichen sie am Ende doch nicht bis morgen.“
+</p>
+
+<p>
+„Engel!“ sagte Olga und drückte das Schloß zu.
+„Mein einziger Trost ist, daß du dir nicht allzuviel
+daraus machst.“
+</p>
+
+<p>
+„Darf ich einmal das Etui sehen?“ fragte Mette.
+</p>
+
+<p>
+„Da, mein Engel!“ Olga gab es ihr. „Ist es
+nicht schön?“
+</p>
+
+<p>
+Mette drehte das glatte, spiegelnde Gold in behutsamen
+Händen. „Es ist unglaublich schön. Ich mag
+auch die breite, niedrige Fasson so schrecklich gern.
+Aber was soll der Krebs? Ist das ein Wappentier?“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Wappen!“ lachte Olga. „Das Wappen
+meiner Familie. Es bedeutet, daß es mit uns den
+Krebsgang geht.“
+</p>
+
+<p>
+„Nein ...“ sagte Mette zögernd und wurde rot.
+</p>
+
+<p>
+„Nein? Woher weißt du? Aber nebenbei ist es
+leider kein so nützliches und angenehmes Tier. Es
+soll ein Skorpion sein.“
+</p>
+
+<p>
+„Pfui!“ sagte Mette. „Und warum so ein Ungeheuer?
+Aus einer besonderen Vorliebe heraus?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-86" class="pagenum" title="86"></a>
+Sie vermied es, wo sie nur konnte, eine direkte Anrede
+zu gebrauchen.
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ sagte Olga. „Man hat dies Etui einmal für
+mich machen lassen, weil ich gesagt habe, der Skorpion
+ist das anständigste Tier von der Welt. Er ist mein
+Lieblingstier.“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist nicht Ihr Ernst!“ rief Mette erschrocken.
+</p>
+
+<p>
+„Doch, Fräulein Rudloff. Im übrigen möchte ich
+nur bemerken, daß das Dienstbotenniveau ist, sich von
+einem Menschen Du nennen zu lassen, ohne ihm ebenso
+zu erwidern.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber Sie sagen zu allen Menschen du,“ sagte
+Mette verlegen.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, und ich unterscheide die Leute danach, ob sie
+sich das gefallen lassen und mich weiter begnädigen,
+oder ob sie selbstverständlich darauf eingehen. Wenn
+du denkst, ich mache deinetwegen eine offizielle Angelegenheit
+daraus mit Anstoßen und Bruderkuß,
+dann irrst du dich. Wenn du noch ein einziges Mal
+Sie sagst, muß ich annehmen, daß dir diese Familiarität
+lästig ist, und dann bleibt mir nichts übrig,
+als dich gnädiges Fräulein zu nennen oder dir einen
+harten Gegenstand an den Kopf zu werfen. Es ist
+nebenbei doch mein Ernst – mit dem Skorpion.
+Weißt du nicht, daß er der einzige Selbstmörder unter
+<a id="page-87" class="pagenum" title="87"></a>
+den Tieren ist? Er <em>läßt</em> sich nicht von menschlicher
+Neugier und Grausamkeit langsam zu Tode quälen.
+Er kämpft wie ein Wahnsinniger – und wenn er
+weiß, daß keine Rettung mehr ist, bringt er sich um.
+Ist das nicht fabelhaft?“
+</p>
+
+<p>
+Olga hatte sich aufgerichtet. Ihre Augen sahen groß
+und dunkel an Metten vorüber. Auf ihrem schönen,
+blassen Gesicht lag ein seltsamer, schmerzlich-heroischer
+Ausdruck.
+</p>
+
+<p>
+Mette erschrak. „Und du?!“ sagte sie und faßte
+mit einer unwillkürlichen Bewegung nach Olgas
+Hand. „Hast du es darum zu deinem Wappentier
+gemacht?“
+</p>
+
+<p>
+Olga lächelte ein weiches, gutes Lächeln.
+</p>
+
+<p>
+„Schäfchen,“ sagte sie, „das hat einen ganz anderen
+Zusammenhang. Ich sollte ein Skorpion sein, weil
+ich einen giftigen Stachel hätte. Weil ‚mein Witz
+Skorpionstich‘ wäre. Ein Mensch, der mich liebte,
+hat das einmal behauptet. Und hat behauptet, wenn
+ich in die Enge getrieben würde, richtete ich den Giftstachel
+gegen mich selber und zerfleischte mich. Ich
+weiß nicht, ob das wahr ist. Es macht mir im
+Grunde keinen Spaß, über mich nachzudenken. Aber
+dieser Mensch sah mich so. Und darum ließ er mir
+das Etui machen. Schau“ – sie machte es auf. Die
+kleinen Rubinen, aus denen der Skorpion geformt
+<a id="page-88" class="pagenum" title="88"></a>
+war, waren <span class="antiqua">à jour</span> gefaßt. Die Zeichnung war auch
+auf der Innenseite deutlich. Und direkt darunter
+war der Namenszug eingraviert: Olga Radó.
+</p>
+
+<p>
+Mette schalt sich selber töricht, aber sie konnte es
+nicht hindern: Ihr Herz war zum Springen voll von
+einer brennenden Eifersucht gegen diesen fremden
+Menschen, der Olga Radó liebte und ihr goldene
+Zigarettenetuis schenkte.
+</p>
+
+<p>
+„Eine schöne Handschrift!“ sagte sie gedankenlos.
+</p>
+
+<p>
+„Es ist nicht meine,“ sagte Olga. Sie schloß langsam
+das Etui und legte die glatte Fläche mit einer
+weichen Geste an die Wange.
+</p>
+
+<p>
+„Es ist so schön. Ich liebe es so. Und ich bin so
+froh, daß ich es lieben kann ... Es war ein Abschiedsgeschenk
+... und es war ein so schöner Abschied.“
+</p>
+
+<p>
+In Metten regte sich qualvoller Widerspruch.
+</p>
+
+<p>
+„Ein schöner Abschied!“ sagtet sie bitter. „Gibt es
+so etwas auch?“
+</p>
+
+<p>
+Olga richtete sich hastig auf.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, Mette,“ sagte sie voll Eifer. „Und es sollte
+es noch viel, viel öfter geben. Es ist ein Unglück,
+daß die Leute nicht verstehen, auseinanderzugehen.
+Lern’ es, Mette, lern’ es beizeiten.“
+</p>
+
+<p>
+„Nein,“ sagte Mette verstockt, „ich werd’ es wohl
+<a id="page-89" class="pagenum" title="89"></a>
+niemals lernen. Leute, denen die Liebe nur ein Spiel
+ist, die können sich auch aus dem Abschied ein Spiel
+machen.“
+</p>
+
+<p>
+„Mette,“ sagte Olga ernst, „du bist ein Kindskopf.
+Glaubst du, daß das ein Beweis großer Liebe ist,
+wenn ich mich an einen Menschen klammere, bis er
+meiner überdrüssig ist? Ich will lieber zehntausend
+Tode sterben, als einem Menschen lästig sein, den ich
+liebe. Es ist keine Kunst, einen Anfang zu finden.
+Ich glaube, daß jeder Mensch jeden Menschen erobern
+kann. Und immer wird der Anfang schön sein. Und
+immer das Ende scheußlich, bitter, qualvoll, ekelhaft.
+Es ist eine schwere Kunst, ein Ende zu machen. Zur
+rechten Zeit. Und auf die rechte Art. Lern’ es, Mette,
+lern’ es beizeiten!“ – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Die drei saßen zusammen: Peterchen, Mette und
+Olga.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+„Ich begreife dich nicht,“ sagte Peterchen mit seiner
+leisen, gebrochenen Stimme, „ich begreife dich nicht,
+Olga, daß du die Bettine nicht lieben kannst. Ich
+dachte <em>gerade</em>, das müßte ein Mensch für dich sein.
+Ein Mensch von so reicher Begabung, von fast unheimlicher
+Phantasie, von beinah wildem Temperament,
+dabei solche Anmut, solche Zartheit der Empfindung.
+<a id="page-90" class="pagenum" title="90"></a>
+Wenn man von der Frau weiter nichts wüßte,
+als die Geschichte ihrer Verheiratung, müßte sie einem
+doch schon sympathisch sein.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ sagte Olga, „dann ja! Aber man weiß eben
+zu viel von ihr. Oh, sie ist so aufdringlich und so
+verlogen, so gemacht genialisch, so mit Koketterie unbändig,
+mit Vorsatz leidenschaftlich. Nichts auf der
+Welt ist mir so verhaßt. Denk dir – so sehr ich
+Klemens liebe – wenn ich manchmal glaube, die Verwandtschaft
+zu spüren, mag ich ihn nicht. Und dann
+– du weißt ja – verzeih ich ihm auch seine unglückliche
+Liebe zu Mariannen nicht.“
+</p>
+
+<p>
+„Richtig, die kannst du ja auch nicht leiden!“
+</p>
+
+<p>
+„Kann ich auch nicht, Peterchen, und wenn du mir
+den Kopf abreißt. Ich weiß nicht, woran es liegt.
+Irgend etwas an ihr macht auf mich immer den Eindruck
+von ‚Biederkeit‘. Und du weißt, das ist eine
+Eigenschaft, die ich in den Tod nicht ausstehen kann.
+Schon diese ewige Alte-Herren-Liebe. Nein, nein, geh
+mir mit ihr, ich mag sie nicht.“
+</p>
+
+<p>
+„Olga, wie kannst du über diese Frau so leichtfertig
+urteilen?“
+</p>
+
+<p>
+„<em>Diese</em> Frau! Sag’ nur noch, diese vortreffliche
+Frau. Mit <em>dem</em> Wort kannst du sie mir ganz gewiß
+verekeln. Und es paßt eben leider ein bißchen auf
+sie. Herrgott! Man kann doch seine Gefühle nicht
+<a id="page-91" class="pagenum" title="91"></a>
+zwingen. Sie hätte mich wahrscheinlich auch nicht
+leiden können. Und das fühl’ ich so.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber Bettine hätte dich wahrscheinlich glühend geliebt.“
+</p>
+
+<p>
+„Vielleicht! Aber daß ich Bettinen so hasse, das hat
+ja auch noch eine besondere Bewandtnis.“
+</p>
+
+<p>
+„Du bist eifersüchtig auf sie!“ sagte Petermann sehr
+leise.
+</p>
+
+<p>
+Olga fuhr mit einer fast heftigen Bewegung herum.
+Ihre Augen flackerten in dem weißen Gesicht.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, ich bin auch eifersüchtig auf sie!“
+</p>
+
+<p>
+„Wegen der Günderode!“
+</p>
+
+<p>
+„Wegen der Günderode.“ –
+</p>
+
+<p>
+Petermann wurde ans Telephon gerufen. Es war
+so still im Zimmer, daß Mette eine ganze Weile nicht
+zu sprechen wagte.
+</p>
+
+<p>
+„Merkwürdig seid ihr,“ sagte sie endlich gepreßt,
+„wie ihr von diesen Leuten redet – als wären sie euer
+täglicher Umgang.“
+</p>
+
+<p>
+„Das sind sie doch auch,“ sagte Olga fast verwundert.
+„Das ist doch die einzige Lebensmöglichkeit. Meinst
+du, ich möchte leben, wenn ich nur Verkehr mit den
+Menschen hätte, mit denen du mich so zurzeit verkehren
+siehst? Weißt du – es ist auch die einzige Art zu
+lesen, ich meine, wenn du zum erstenmal einen Briefwechsel
+oder einen Memoirenband vornimmst – einen,
+<a id="page-92" class="pagenum" title="92"></a>
+wo nicht hohe geistige Probleme behandelt werden,
+dann ist einem doch zumut, als wenn man in einer
+fremden Gesellschaft sitzt. Die Leute klatschen miteinander
+und erzählen sich was von Herrn Müller und
+Frau Schultze, und man sitzt dabei und langweilt sich
+zu Tode. Wenn man aber Herrn Müller und Frau
+Schultze <em>kennt</em>, ist’s schon wesentlich amüsanter.
+Und wenn man in einen <em>verliebt</em> ist und wartet
+dann mit klopfendem Herzen, ob vielleicht sein Name
+genannt wird, und was nun der oder der über ihn
+sagen wird, dann wird’s spannend und aufregend.
+Peterchen versteht mich so darin. Er ist überhaupt ein
+feiner kleiner Kerl. Findest du nicht?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ sagte Mette gleichgültig. „Er ist sehr
+nett.“
+</p>
+
+<p>
+Olga lächelte. „Er ist direkt verliebt in Bettinen
+und begreift mich nicht.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber du,“ sagte Mette leise, fast widerwillig, „du
+liebst die Günderode.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ sagte Olga mit großen, seltsam glänzenden
+Augen, „oh, ich liebe sie so! Du glaubst nicht, was ich
+für Qualen ihretwegen ausgestanden habe. Und ich
+konnte nichts tun für sie! Vielleicht hat sie Sehnsucht
+nach Ruhm gehabt – nach äußerlicher Unsterblichkeit
+– und sie ist so vergessen. Wer weiß denn von ihr?
+Ich habe mir so gewünscht, etwas Unerhörtes leisten
+<a id="page-93" class="pagenum" title="93"></a>
+zu können, um sie zu verewigen. Ich wollte Michelangelo
+sein oder Dante oder Homer – um ihr ein
+Denkmal zu setzen, und um unsere Namen für tausend
+Jahre unauflöslich miteinander zu verknüpfen. Oh,
+es war eine Zeitlang wie eine Krankheit in mir. Es
+marterte mich einfach, daß ich diese lumpigen hundert
+Jahre, die uns trennten, nicht überspringen konnte.
+Weißt du – so muß einem Gelähmten sein, oder
+einem Gefesselten, der im Nebenzimmer eine Stimme
+hört, die ihn in allen Nerven erzittern macht, und er
+kann sich nicht rühren. Manchmal hab’ ich gedacht,
+man muß es können. Man muß nur wollen. – Ich
+weiß noch, daß ich eine Nacht auf dem Balkon lag im
+Liegestuhl und zum Antares hinaufstarrte. Da war es
+mir wieder, als riefe sie mich. Ich wollte aus meinem
+Körper hinaussteigen, ich wollte. Und denke dir, ich
+hatte das Gefühl, als ob es mir gelänge. Ich schwebte
+über mir. Mein Körper war eiskalt, ich hätte kein
+Glied rühren können, und da faßte mich plötzlich eine
+rasende Angst. Ich wußte, ich würde mich verfliegen
+und nie mehr, nie mehr zurück können. Da kroch ich
+wieder in mich hinein und trieb mein Herz an und erwärmte
+mich durch meinen Willen, und nachher schalt
+ich mich feige und erbärmlich. – Es muß seltsam sein,
+wenn uns einmal diese Fesseln abgenommen werden.
+Manchmal freue ich mich direkt darauf.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-94" class="pagenum" title="94"></a>
+„Alles deswegen,“ sagte Mette ein wenig bitter.
+„So hast du sie geliebt?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ sagte Olga, „jetzt ist es nicht mehr so schlimm.
+Ich hätte doch früher zu keinem anderen Menschen davon
+reden können. Ich habe Bettinens Bücher versteckt,
+damit kein Mensch sie bei mir findet. Ich wurde
+rot und blaß, wenn jemand ihren Namen nannte, oder
+mir etwas sagte, was mich an sie erinnerte. Du mußt
+nicht denken, daß ich jetzt darüber lache. Mein Gefühl
+ist genau dasselbe, ich fühle mich ihr so absolut verbunden
+– aber ich gehöre ihr nicht so ausschließlich,
+wie in der ersten Zeit, als ich sie fand.“
+</p>
+
+<p>
+Sie schwiegen beide. Stille Dämmerung senkte sich
+langsam.
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe nie ein Bild von ihr gesehen,“ sagte Olga.
+„Ich weiß auch gar nicht, ob es Bilder von ihr gibt.
+Ich möchte auch keins sehen. Ich habe eine so deutliche
+Vorstellung von ihr. Ich glaube, wenn ich ein
+Bild sähe, würde ich erschrecken. Ich würde sicher
+namenlos enttäuscht sein. Ich habe direkt Angst
+davor, einmal ganz unerwartet ein Bild von ihr zu
+finden.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich wollte, ich fände eins,“ sagte Mette, ohne Olga
+anzusehen, „ein recht häßliches!“
+</p>
+
+<p>
+„Pfui!“ sagte Olga mit ihrer tiefen Stimmen. Kein
+Wort weiter.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-95" class="pagenum" title="95"></a>
+In Mette kämpften Scham und Schmerz. Sie haßte
+sich selbst. Sie kam sich vor wie ein ungezogenes Kind,
+dem man ein wunderfeines Gebilde aus venezianischem
+Glas zeigt, und das aus Bosheit und Rohheit
+mit dem Stock nach der Herrlichkeit schlägt. Aber zugleich
+regte sich ein dumpfer Trotz in ihr: warum quält
+sie mich? Ich will mich nicht quälen lassen!
+</p>
+
+<p>
+Sie hatte das Gefühl, daß sie um Verzeihung bitten
+müsse. Aber das konnte sie nicht.
+</p>
+
+<p>
+Wenn sie jetzt ging, dann würde Olga sie nie wieder
+rufen. Und ungerufen durfte sie nie mehr kommen.
+Sie würde nie mehr in diesem Sessel sitzen. Sie würde
+nie mehr den Duft von Lavendel und Zigaretten in
+diesem Zimmer atmen. Sie würde nie mehr diese
+Stimme hören.
+</p>
+
+<p>
+Das Schweigen dauerte so unheimlich lange. Ja,
+sie mußte nun wohl eigentlich aufstehen und gehen.
+Aber es war, als ob der Stuhl sie festhielte, oder die
+graue Wand drüben, an der ihre Augen hingen. Sie
+fühlte, im Moment, da sie aufstehen wollte, würden
+ihr die Tränen aus den Augen stürzen. Das durfte
+nicht sein. Sie bemühte sich, an irgend etwas anderes
+zu denken – an etwas ganz Fernliegendes. Nächste
+Woche wollte sie ins Theater gehen. Darauf hatte sie
+sich gefreut. Eigentlich war bei jedem Theater- oder
+Konzertbesuch doch das hübscheste, nachher hier zu
+<a id="page-96" class="pagenum" title="96"></a>
+sitzen und über das Gehörte und Gesehene zu sprechen.
+Das würde nun nicht sein. Nächste Woche nicht.
+Vielleicht nie wieder.
+</p>
+
+<p>
+Die Stille im Zimmer war atemraubend. Wenn
+Olga nur reden wollte. Irgend etwas, sie ausschelten,
+sie demütigen. Es war so grausam von ihr, zu
+schweigen.
+</p>
+
+<p>
+Mette machte den Versuch, aufzustehen. Sie machte
+eine Bewegung, die unsichtbar blieb, aber die sie inwendig
+in allen Muskeln spürte. Zugleich aber
+konnten die mühsam aufgehaltenen Lider das unaufhörlich
+quellende Wasser nicht mehr zurückdrängen, sie
+zitterten, schlossen sich, und die schweren Tropfen
+stürzten nieder.
+</p>
+
+<p>
+Mette schämte sich maßlos. Irgend etwas in ihr
+kroch ganz in sich zusammen. Sie hätte sich so gern
+äußerlich auch zusammengezogen, sich geduckt, das Gesicht
+versteckt. Aber sie wagte nicht, sich zu rühren. Sie
+wollte nicht durch eine Bewegung Aufmerksamkeit erregen.
+Vielleicht war Olga mit ihren Gedanken weit
+fort und achtete nicht auf sie.
+</p>
+
+<p>
+Die Tränen fielen ihr auf die Hände. Sie wagte
+nicht, sie abzutrocknen.
+</p>
+
+<p>
+Plötzlich schreckte sie zusammen. Sie hörte den
+Diwan knarren, ein leises Rauschen der Röcke. Olga
+war aufgestanden.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-97" class="pagenum" title="97"></a>
+Jetzt sagte eine unendlich weiche, leise Stimme
+neben ihr:
+</p>
+
+<p>
+„Mette, Kind! Warum weinst du eigentlich?“
+</p>
+
+<p>
+Mette sah nicht auf, sondern senkte den Kopf noch
+tiefer.
+</p>
+
+<p>
+Da kniete Olga mit einer raschen Bewegung nieder,
+wie man vor einem weinenden Kinde kniet und versuchte
+von unten herauf ihr ins Gesicht zu sehen.
+</p>
+
+<p>
+„Warum weinst du eigentlich?“
+</p>
+
+<p>
+Mette sah das schöne Gesicht vor sich durch einen
+Schleier von stürzendem Wasser. Sie lächelte.
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß nicht!“ sagte sie.
+</p>
+
+<p>
+Sie sah auf die weiße schlanke Hand, die auf ihren
+Knien lag, ihre beiden gefalteten Hände fest überspannend.
+Sie neigte sich langsam auf diese Hand
+und preßte den Mund, die heißen, tränenfeuchten
+Wangen dagegen.
+</p>
+
+<p>
+„Kind!“ sagte Olga beinah ungeduldig und versuchte
+mit der anderen Hand ihr die Stirn zu heben.
+„Wenn ich nur wüßte, warum du weinst!“
+</p>
+
+<p>
+Mette schreckte vor diesem Ton zurück. Sie hob den
+Kopf und starrte wieder auf die graue Mauer jenseits
+des Hofes.
+</p>
+
+<p>
+Olga war aufgestanden. Ihre Hand lag immer
+noch auf Mettens Kopf. Die kühle, glatte Handfläche
+preßte sich fest und beinah schwer auf ihre Stirn und
+<a id="page-98" class="pagenum" title="98"></a>
+ihr Haar. Mette empfand diesen Druck als etwas unendlich
+Wohltuendes. So, als müßte sie zerspringen,
+wenn diese kräftige Hand aufhören würde, sie zu halten.
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß doch nicht,“ sagte sie leise, „ich möchte auch
+seit hundert Jahren tot sein. Vielleicht würdest du
+mich dann auch lieben.“
+</p>
+
+<p>
+Da riß Olga Radó mit einer jähen Bewegung
+Mettens Kopf an ihre Schulter und preßte die Lippen
+hart und fast gewaltsam auf ihre Stirn.
+</p>
+
+<p>
+„Und so? Und jetzt?“ fragte sie kurz. In ihrer
+tiefen Stimme war ein seltsam vibrierender Klang,
+wie von mühsam gebändigtem Groll.
+</p>
+
+<p>
+Mette fühlte bis in die Schläfen, bis in die Fingerspitzen
+das rasende Hämmern eines Herzschlags. Aber
+sie wußte nicht, wessen Herz so schlug.
+</p>
+
+<p>
+Sie hatte das Gefühl, daß es nun ihre Pflicht sei,
+etwas unendlich Großes zu tun. Ihr war, als müsse
+Olga Radó jetzt in überirdischer Größe vor ihr aufstehen
+und eine ungeheure Tat von ihr verlangen.
+</p>
+
+<p>
+Mette fühlte sich heilig entschlossen, auf ein einziges
+Wort hin aus dem Fenster zu springen oder sich die
+Brust mit einem Dolch aufzureißen und ihr zuckendes
+Herz in beide Hände zu nehmen.
+</p>
+
+<p>
+Olga Radó verlangte nichts von alledem. Sie ließ
+sie plötzlich los und trat aus Fenster. Sie legte die
+Finger um den Fensterriegel und die Stirn gegen die
+<a id="page-99" class="pagenum" title="99"></a>
+Scheibe. Und so, ohne sich umzuwenden, ohne den
+Kopf zu drehen, sagte sie nach einer Weile in einem
+seltsam ruhigen, ja sachlichen Ton:
+</p>
+
+<p>
+„Geh nach Hause, Kind!“
+</p>
+
+<p>
+„Warum?“ fragte Mette erschrocken. Sie stand auf,
+die Füße zitterten unter ihr. Das beklemmende Gefühl
+von etwas Rätselhaftem, Unheimlichem legte sich
+ihr schwer auf die Brust. Warum wurde sie fortgeschickt?
+Was hatte sie begangen?
+</p>
+
+<p>
+Sie wollte irgendeine Erklärung haben. Sie wollte
+die Hände auf Olgas Schultern legen und wollte sie
+mit Gewalt herumreißen und auf ihrem Gesicht nach
+einer Antwort suchen. „Ich habe ein Recht dazu“ –
+dachte sie mit aufsteigendem Zorn – „wahrhaftig, ich
+habe ein Recht dazu“.
+</p>
+
+<p>
+Wie sie den ersten Schritt nach dem Fenster zu
+machte, fuhr Olga mit einer heftigen Bewegung herum.
+Sie kreuzte die Arme über der Brust und umklammerte
+mit gespreizten Fingern die Ellbogen. In
+dem weißen Gesicht flackerten die Augen tiefdunkel und
+drohend.
+</p>
+
+<p>
+„Du sollst nach Hause gehen,“ sagte sie mit so gezwungener
+Ruhe, als bändige sie mühsam eine maßlose
+Wut. „Kannst du nicht hören? Bin ich nicht
+Herr mehr in meiner eigenen Wohnung<a id="corr-2"></a>? Nimm
+deinen Hut und geh. Geh, geh, geh, geh!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-100" class="pagenum" title="100"></a>
+Der aufflammende Zorn in Mette war erloschen.
+Nur noch Angst war in ihr und eine tiefe, tiefe
+Traurigkeit.
+</p>
+
+<p>
+Irgend etwas wollte sie wie mit Peitschenhieben zu
+Olga hintreiben. Sie wollte vor ihr auf die Erde
+fallen, sie wollte ihre Knie umklammern, sie wollte sie
+anflehen:
+</p>
+
+<p>
+„Weine doch, schreie, schlag’ mich, aber tu dir nicht
+so Gewalt an – sag mir, was du hast – ich will
+sterben für dich, aber schick mich nicht fort, wenn du
+leidest!“
+</p>
+
+<p>
+Sie stand und rührte sich nicht.
+</p>
+
+<p>
+„Geh, geh, geh!“ sagte Olga.
+</p>
+
+<p>
+Da griff Mette Rudloff nach ihrem Hut und ging.
+Sie mühte sich, gerade und aufrecht zu gehen. Sie
+taumelte ein wenig, als sie die Tür hinter sich ins
+Schloß zog und mußte sich gegen die Wand lehnen.
+Sie stützte sich mit ihrer ganzen Schwere gegen das
+Geländer, weil die Treppe unter ihr wie ein rasender
+Strudel kreiste.
+</p>
+
+<p>
+Aber sie ging. – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Eine Handvoll Tage verlebte Mette in stumpfer
+Qual.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Im dämmernden Erwachen fiel ihr ein, daß sie
+<a id="page-101" class="pagenum" title="101"></a>
+heute nicht den Weg nach der Motzstraße nehmen dürfe.
+Heute nicht, morgen nicht, vielleicht nie mehr. Sie
+war verbannt, verstoßen, ausgeschlossen von allen
+Freuden des Lebens.
+</p>
+
+<p>
+Lang, grau und öde dehnte sich der Tag vor ihr.
+Bleischwere Müdigkeit lag ihr in allen Gliedern.
+Wenn die Telephonklingel schrillte, fuhr sie mit rasendem
+Herzschlagen auf, wie aus tiefer Lethargie. Aber
+niemals galt es ihr.
+</p>
+
+<p>
+Es war schlechtes Wetter in diesen Tagen, kühl und
+regnerisch.
+</p>
+
+<p>
+In einer Sonntagnacht fegte der Wind den Himmel
+blank von Wolken und die Straßen trocken.
+</p>
+
+<p>
+Am Morgen funkelte ein blauer Sommerhimmel
+über der Stadt.
+</p>
+
+<p>
+Die Sonnenstrahlen, die auf einer Kante des
+Schrankspiegels tanzten, weckten Mette.
+</p>
+
+<p>
+Sie fühlte sich beim Erwachen so befreit, so voll unbändiger
+Lebenskraft, als sei mit einem Schlage alles
+Trübe hell, alles Schwere leicht geworden.
+</p>
+
+<p>
+Sie fühlte sich fähig, den Kampf mit allen Hemmungen
+und Hindernissen aufzunehmen. Ja, es
+schienen ihr gar keine Hemmungen und Hindernisse
+mehr vorhanden.
+</p>
+
+<p>
+Sie würde heut’ die Bücher hintragen, die sie von
+Olga Radó geliehen hatte.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-102" class="pagenum" title="102"></a>
+Und dann würde sie sie zur Rede stellen. Sie ganz
+frank und heiter fragen, was ihr eigentlich eingefallen
+wäre. Und ob sie die Absicht hätte, sie wieder hinauszuwerfen
+– dann solle sie diese Absicht nur ruhig aussprechen
+...
+</p>
+
+<p>
+Aber sie würde es nicht tun. Es war eine Laune
+gewesen, eine Gereiztheit – aber im Grunde doch gar
+keine ernstliche Verstimmung, kein Streit zwischen
+ihnen.
+</p>
+
+<p>
+Und wenn sie irgend etwas begangen hatte in Olgas
+Augen, so wollte sie Aufklärung haben, und dann
+wollte sie – ach was, ihretwegen ja! – dann wollte
+sie sogar um Verzeihung bitten.
+</p>
+
+<p>
+Mette pfiff und summte vor sich hin, während sie
+sich anzog und ihr Haar aufsteckte. – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Als sie klingelte, schlug das dumme Herz wieder so
+atemraubend. Dass kam vom raschen Treppensteigen.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Erna machte ihr auf. Mette war nicht mehr gewohnt,
+sich melden zu lassen. Sehr oft wußten die
+Mädchen gar nicht, ob die Gäste der Pension zu Hause
+waren. Sie wollte mit einem: „Guten Morgen,
+Erna!“ vorüber.
+</p>
+
+<p>
+Das Mädchen machte ein erstauntes Gesicht.
+</p>
+
+<p>
+„Fräulein Radó ist doch verreist,“ sagte sie zögernd.
+„Weiß das gnädiges Fräulein gar nicht?“
+</p>
+
+<p>
+Im ersten Augenblick war die Scham dieses Nichtwissens
+<a id="page-103" class="pagenum" title="103"></a>
+in Metten größer als das Erschrecken. Sie
+fühlte sich vor dem Mädchen in lächerlichster Weise
+bloßgestellt.
+</p>
+
+<p>
+„Doch, doch,“ sagte sie hastig. „Ich wollte nur die
+Bücher ins Zimmer legen. Aber ich kann sie ja auch
+Ihnen geben. Sie sind so gut, Fräulein Erna, und
+tragen sie hinein. Dann brauch’ ich mich gar nicht
+damit aufzuhalten. Ich hab’s sehr eilig. Auf Wiederschauen!“
+</p>
+
+<p>
+Die erste Treppe sprang sie hinunter, damit das
+Mädchen ihre Hast hören sollte. Erst als die Tür
+oben längst ins Schloß gefallen war, ging sie langsamer.
+</p>
+
+<p>
+Olga war fort. Ohne ihr ein Wort zu sagen, ohne
+sie noch einmal anzurufen, ohne ihr eine Zeile zu
+schreiben, ohne dem Mädchen eine Nachricht für sie zu
+hinterlassen.
+</p>
+
+<p>
+Sie war fort. Ohne zu sagen, wohin. Ohne zu
+sagen, auf wie lange.
+</p>
+
+<p>
+Mette senkte den Kopf sehr tief auf die Brust und
+ging ganz langsam, Stufe für Stufe. – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Einige Tage später hörte Mette das Telephon
+schrillen und das Mädchen im eiligen Trab den langen
+Türgang entlanglaufen.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+<a id="page-104" class="pagenum" title="104"></a>
+Mette macht ihre Zimmertür auf.
+</p>
+
+<p>
+„Für mich, Hedwig?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, für Fräulein – ein Herr wünscht Fräulein
+zu sprechen – ein Herr Petersen oder Petermann, ich
+hab’ nicht ganz verstanden.“
+</p>
+
+<p>
+Auf dem runden Gesicht des Mädchens stand unverhohlene
+Verwunderung. Es war das erstemal, daß
+eine Männerstimme das gnädige Fräulein verlangte.
+</p>
+
+<p>
+„Peterchen!“ rief Mette erregt in den Trichter, ohne
+die geringste Rücksicht darauf, daß Tante Emilie im
+Nebenzimmer saß. „Ja, hier ist Mette. Was ist
+los? Es ist doch nichts passiert?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nein, bewahre. Ich soll Ihnen nur einen
+schönen Gruß bestellen, ich habe heut’ eine Karte bekommen.“
+</p>
+
+<p>
+„Woher denn?“ – „Von wem?“ brauchte sie nicht
+zu fragen.
+</p>
+
+<p>
+„Aus Kissingen. Ich mußte mir erst Ihre Adresse im
+Buch suchen. Ich wußte keine Telephonnummer, keine
+Straße, eigentlich ja nicht einmal Ihren Namen
+genau ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ach Gott, Sie Ärmster, kann ich Sie nicht einmal
+sehen, oder haben Sie keine Zeit für mich?“
+</p>
+
+<p>
+„Aber natürlich, aber gerne ...“
+</p>
+
+<p>
+„Wollen wir eine Stunde zusammen spazieren
+gehen? Ja? Bitte, bitte! Heute noch, wenn’s geht!
+<a id="page-105" class="pagenum" title="105"></a>
+Gleich? Ja? Herrlich! Und Sie bringen mir die
+Karte mit!“ – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Sie trafen sich. Nach zwei Worten der Begrüßung
+fragte Mette:
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+„Haben Sie die Karte? Bitte, bitte, zeigen Sie!“
+</p>
+
+<p>
+Neben der Adresse stand in einer festen, mühsam
+zusammengezwängten Schrift:
+</p>
+
+<p>
+„Bitte, Peterchen, sei so gut und gib die Bücher
+aus der Kgl. Bibl. zurück. Eins liegt auf meinem
+Schreibtisch, zwei stehen auf dem Regal links vom
+Fenster, 3. Fach v. o. ganz rechts. Und nimm meine
+Araukarie zu Dir hinüber, bei mir vergessen die
+Frauenzimmer sie doch, und ich möchte nicht, daß sie
+verkommt.“
+</p>
+
+<p>
+Auf der anderen Seite war in den Himmel der
+Landschaft hineingeschrieben:
+</p>
+
+<p>
+„Klingele, bitte, das Mädelchen an und grüße sie
+von mir. Die Nummer mußt Du Dir im Buch
+suchen. Sie soll mir nicht böse sein. Euch allen alles
+Gute. O. R.“
+</p>
+
+<p>
+Hunderte und Tausende von Ansichtskarten waren
+in Mettens Leben schon durch ihre Hände gegangen,
+und es war das erstemal, daß ihr der Gedanke kam:
+„Was ist das eigentlich für eine wunderhübsche Erfindung,
+daß man gleich ein Bild des Ortes schicken
+kann, wo man sich aufhält. So sieht es also da aus,
+<a id="page-106" class="pagenum" title="106"></a>
+wo Olga Radó jetzt ist. Diese Häuser sieht sie Tag für
+Tag, unter diesen Bäumen geht sie spazieren, diese
+Berge grüßen sie – jeden Morgen, jeden Abend –
+wirklich eine wunderhübsche Erfindung.“
+</p>
+
+<p>
+Sie hätte die Karte gern behalten. Aber sie hatte
+den Mut nicht, Petermann darum zu bitten. – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+„Es ging so schnell“ – sagte sie – „mit dieser Abreise.“
+Es widerstrebte ihr, davon zu sprechen, daß
+sie nichts gewußt, nichts geahnt hatte. Es widerstrebte
+ihr auch, direkte Fragen an ihn zu richten.
+Halb unbewußt sprach sie in Worten, die alles unentschieden
+ließen, so gleichsam erst sondierend.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+„Ja,“ sagte Peterchen, „ganz merkwürdig schnell.
+Am Dienstag waren wir doch noch da – richtig, da
+saßen wir ja noch zusammen. Am Dienstagabend
+kommt Olga zu mir herüber:
+</p>
+
+<p>
+‚Gib mir dein Kursbuch!‘ Und immer in dem
+Kursbuch hin und her geblättert und mich gefragt:
+‚Kennst du den Schwarzwald – ist es schön da? –
+Was meinst du – soll ich an die Nordsee fahren?‘
+Und so, wie es gar nicht ihre Art war – so unentschlossen
+– ich möchte beinah sagen: so ratlos ...
+und am Mittwoch wurden die Koffer gepackt und
+Mittwoch abend fuhr sie ab – sagte keinem Menschen
+wohin – mir nicht und Frau Flesch nicht. Ihnen
+ja auch nicht, nicht wahr? – Ich hatte ja eigentlich
+<a id="page-107" class="pagenum" title="107"></a>
+erst den Verdacht – den Gedanken, wollt’ ich sagen,
+die Idee,“ – Peterchen zögerte, und sein blasses Gesicht
+überflog eine leichte Röte – „Sie beide wären
+zusammen weggefahren.“
+</p>
+
+<p>
+Mette antwortete nicht. Sie dachte nicht einen
+Augenblick daran, ob ihr tiefes Stillschweigen vielleicht
+einen verwunderlichen Eindruck machen könnte.
+</p>
+
+<p>
+Das Wort hatte wie ein erhellender Blitz in sie
+eingeschlagen, und nun stand sie in Flammen.
+</p>
+
+<p>
+Reisen! Mit Olga reisen! Der Gedanke an diese
+Möglichkeit hatte etwas unwahrscheinlich Beglückendes.
+Einige Sekunden durchlebte sie in ihrer Vorstellung
+das, was hätte sein können. Wenn sie am
+Dienstag zusammen diesen Entschluß gefaßt hätten!
+Wenn sie auch am Mittwoch ihren Koffer gepackt
+hätte! Sie fühlte sich neben Olga im Zug sitzen und
+hinausfahren in den warmen, blauen Sommerabend,
+in dem hier und da die ersten Lichter aufflammten.
+Sie sah sich in einem dieser weißen Häuser, auf der
+Terrasse, an einem gedeckten, blumengeschmückten
+Tisch, Olga gegenüber. Sie wanderte mit Olga
+diesen Bergen entgegen, deren schön geschwungene
+Linien verlockend auf dem blauen Himmel sich
+zeichneten.
+</p>
+
+<p>
+Jäh und schmerzlich kam es ihr zum Bewußtsein:
+Das war ein törichter, unerfüllter, vielleicht ewig
+<a id="page-108" class="pagenum" title="108"></a>
+unerfüllbarer Traum. Die Wirklichkeit war, daß sie
+hier war – allein – und daß Olga fort war –
+auch allein? Mit wem? Nichts in der Welt hatte
+ihr ein Recht gegeben, auch nur danach zu fragen.
+– – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+In diesen Wochen war es Mettens einzige Freude,
+mit Peterchen spazieren gehen. Sie machten Ausflüge
+miteinander, fuhren nach Wannsee, nach dem
+Grunewald, lagen halbe Tage am Wasser oder
+nahmen sich ein Ruderboot, tranken Kaffee in irgendeiner
+versteckten Gartenwirtschaft und sprachen von
+Büchern, von fremden Städten und fernen Bergen,
+von Tieren und Pflanzen, von längst verstorbenen
+Menschen – und von Olga.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Manchmal, wenn sie zusammen waren, schrieben
+sie an Olga, schickten ihr eine Ansichtskarte oder machten
+ihr lange Gedichte in Knittelversen, und hin und
+wieder kam eine flüchtige Antwort von ihr und einmal
+die Nachricht, daß sie in drei Wochen wiederzukommen
+gedächte.
+</p>
+
+<p>
+Mette war ruhig und glücklich in dieser Zeit. Das
+Zusammensein mit Peterchen tat ihr wohl. – Wenn
+sie zu Hause war, so las und lernte sie nach seiner
+Anleitung und zählte die Tage bis zu Olgas Rückkehr.
+<a id="page-109" class="pagenum" title="109"></a>
+Sie hatte sich ein ganzes Verzeichnis gemacht von
+Büchern, die sie bis dahin gelesen, von Arbeiten, die
+sie bis dahin erledigt haben wollte. Sie wollte überraschen
+durch all die Kenntnisse, die sie in der Zwischenzeit
+erworben hatte, und mühte sich mit brennendem
+Eifer.
+</p>
+
+<p>
+Es wäre alles schön und gut gegangen, wenn Tante
+Emilie nicht gewesen wäre. Tante Emilie beobachtete
+und schwieg und speicherte Gift und Galle in
+sich auf. Und eines Tages brach es aus.
+</p>
+
+<p>
+Es war nach Tisch. Mette wollte mit einem kurzen
+„Mahlzeit“ aufstehen und sich aus ihrem Zimmer den
+Hut holen.
+</p>
+
+<p>
+Tante Emilie, die während des Essens schon in
+Positur gesessen hatte, fegte mit zierlichen Fingern ein
+paar Krümchen auf dem Tischtuch zusammen, und auf
+Mettens „Mahlzeit“ hin räusperte sie sich kurz und
+scharf und sagte betont:
+</p>
+
+<p>
+„Vielleicht hast du die Güte, sitzen zu bleiben, bis
+<em>ich</em> vom Tisch aufstehe.“
+</p>
+
+<p>
+Geduldig und gelangweilt setzte Mette sich wieder
+hin. Sie wußte nicht, daß es die Vorrede zu größeren
+Dingen sein sollte. Sie nahm es für eine der täglichen
+kleinen Schikanen, die einen am wenigsten Zeit
+und Kraft kosteten, wenn man sie mit größter Gelassenheit
+hinnahm.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-110" class="pagenum" title="110"></a>
+Mette warf einen heimlichen Blick nach der Uhr.
+„Sie wird jetzt natürlich noch fünf Minuten sitzen,
+ehe sie das Zeichen zum Aufstehen gibt,“ dachte sie.
+„Gut, komm’ ich also fünf Minuten zu spät. Peterchen
+wartet.“
+</p>
+
+<p>
+Tante Emilie fegte Krümchen und räusperte sich.
+</p>
+
+<p>
+„Willst <em>du</em> so gut sein, Franz,“ begann sie (man
+könnte vielleicht besser sagen: sie hub an) „und deine
+Tochter fragen, wohin sie heute nachmittag zu gehen
+beabsichtigt, und mit wem sie geht? Wenn <em>ich</em> sie
+frage, so gibt sie mir zur Antwort ‚spazieren – mit
+Bekannten‘ oder ähnliche Geistreichigkeiten. Also
+bitte, frag’ du sie selbst. Vielleicht hat sie wenigstens
+vor dir noch so viel Achtung, daß sie dir die Wahrheit
+sagt.“
+</p>
+
+<p>
+Franz Rudloff rollte seine Serviette zusammen und
+wieder auseinander, schob sie in den Ring und zog
+sie wieder heraus und saß in tödlichster Verlegenheit.
+</p>
+
+<p>
+„Du weißt doch, liebe Emilie,“ sagte er, ohne aufzusehen,
+„daß ich dir die Erziehung meiner Tochter
+übergeben habe, weil ich weiß, daß sie nirgend so gut
+aufgehoben wäre, als in deinen bewährten Händen.
+Mette ist dir so gut Gehorsam schuldig wie mir. Du
+bist im Vollbesitz aller erzieherischen Gewalt ...“
+</p>
+
+<p>
+„Gewalt!“ sagte Tante Emilie hohnlachend. „Was
+<a id="page-111" class="pagenum" title="111"></a>
+soll ich denn machen? Man kann doch einen
+zwanzigjährigen Menschen nicht schlagen oder einsperren.“
+</p>
+
+<p>
+„Nicht gut,“ sagte Mette ruhig, „Gott sei Dank!
+Aber vielleicht darf ich auch mal eine Frage stellen:
+Möchtest du vielleicht sagen, warum und wozu du
+solche Maßregeln anwenden möchtest?!“
+</p>
+
+<p>
+„Wozu? Zu deinem besten!“ sagte Tante Emilie
+in einem Ton, der flammende Empörung ausdrücken
+sollte. Aber der Ton blieb spitz – es war nur eine
+Stichflamme. „Warum? Um zu verhindern, daß du
+vollständig verkommst.“
+</p>
+
+<p>
+„Nanu?“ Mette war immer noch mehr belustigt
+als erregt. „Warum soll ich denn eigentlich total verkommen?
+Weil ich mit einem jungen Mann spazieren
+gehe? Ach Gott, der arme kleine Petermann. Hast
+du ihn vielleicht gesehen? Ich kann ihn dir ja mal
+vorführen, vielleicht bist du dann beruhigt!“
+</p>
+
+<p>
+„Was ist denn das für ein Mann?“ fragte jetzt
+Franz Rudloff mit gerunzelten Brauen. Es sollte
+vielleicht energisch und streng klingen. Es klang eher
+schüchtern.
+</p>
+
+<p>
+Mette empfand für ihren Vater ein zärtliches Mitleid,
+das nicht frei von Verachtung war.
+</p>
+
+<p>
+„Ach Gott, Papa,“ sagte sie, „ein netter, intelligenter
+Mensch. Aber ein armes, krankes, verwachsenes
+<a id="page-112" class="pagenum" title="112"></a>
+Kerlchen. Wahrhaftig, kein Mann, der der Tugend oder
+dem Rufe eines jungen Mädchens gefährlich werden
+könnte.“
+</p>
+
+<p>
+„Einem normalen jungen Mädchen vielleicht nicht,“
+sagte Tante Emilie, zitternd vor Bosheit. „Leider
+weiß ich ja nicht, wie weit bei dir die Voraussetzung
+der Normalität zutrifft. Es gibt ja leider Frauen genug,
+die sich in krankhafter Geschmacksverirrung zu
+allem Abstoßenden und Ungesunden hingezogen fühlen.
+Gerade wie es leider Gottes Frauen gibt, die jedem
+Neger nachlaufen.“
+</p>
+
+<p>
+Mette schob ihren Stuhl zurück, daß er hart den
+Boden schrammte.
+</p>
+
+<p>
+„Du bist ja total irrsinnig!“ sagte sie. Weiter
+nichts. Dann ging sie mit ihren großen, festen
+Schritten ins Nebenzimmer ans Telephon und stellte
+die Verbindung her.
+</p>
+
+<p>
+„Kann ich Herrn Petermann sprechen? ... Verzeihen
+Sie, Peterchen, ich muß Sie heut’ versetzen ... Meine
+Tante erlaubt nicht, daß ich mit Ihnen spazieren
+gehe ... ja, es tut mir auch leid – aber da kann man
+nix machen – meine Tante findet es unschicklich ...
+nein, nein, klingeln Sie lieber nicht an, das ist vielleicht
+auch unpassend. Grüß Sie Gott. Lassens sich’s
+gut gehen!“
+</p>
+
+<p>
+Ohne sich umzuwenden, ohne nur einen Blick ins
+<a id="page-113" class="pagenum" title="113"></a>
+Nebenzimmer zurückzuwerfen, ging sie in ihre Stube
+und schloß und riegelte sich ein.
+</p>
+
+<p>
+Damit hatte der freundschaftliche Verkehr mit Petermann
+fürs erste ein Ende. – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Franz Rudloffs stille und empfindsame Natur litt
+schwer unter der gespannten Stimmung im Hause.
+Die Mahlzeiten verliefen in peinlichem Schweigen,
+jedes gemeinsame Unternehmen, ein Spaziergang, ein
+Theaterbesuch schien ausgeschlossen.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Er beschloß, einen Frieden zu vermitteln und versuchte,
+seine Tochter zu einer Bitte um Verzeihung zu
+bewegen. Er suchte sie zu diesem Zweck, was er selten
+tat, sogar in ihrem Zimmer auf.
+</p>
+
+<p>
+Mette saß mit aufgestütztem Kopf über ihren
+Büchern. Als ihr Vater eintrat, sprang sie auf und
+empfing ihn wie einen verehrten Besuch. Sie rückte
+ihm den bequemsten Sessel zurecht und bot ihm eine
+Zigarette an.
+</p>
+
+<p>
+Er wußte nicht recht, wie er anfangen und einleiten
+sollte und war voller Verlegenheit.
+</p>
+
+<p>
+Mette versuchte, ihm die Lage zu erleichtern, weil
+es ihr peinlich war zu sehen, wie er sich quälte.
+</p>
+
+<p>
+Sie versprach die Bitte um Entschuldigung, sie versprach,
+bei Tisch Konversation zu machen, sie versprach
+<a id="page-114" class="pagenum" title="114"></a>
+ein freundliches Gesicht und einen sanften Ton von
+morgens bis abends.
+</p>
+
+<p>
+„Ich verspreche dir, mich zu beherrschen, Vater,“
+sagte sie.
+</p>
+
+<p>
+Beherrschung! Das war es nicht, was Franz Rudloff
+verlangte.
+</p>
+
+<p>
+„Könntest du nicht versuchen,“ sagte er zaghaft,
+„innerlich in ein anderes Verhältnis zu Tante Emilie
+zu kommen? Sie hat wirklich so sehr schätzenswerte
+Eigenschaften. Es würde ein viel erquicklicheres
+Familienleben werden, wenn du – ich weiß, Gefühle
+lassen sich nicht zwingen – aber wenn du wenigstens
+den <em>Versuch</em> machtest, sie lieb zu haben.“
+</p>
+
+<p>
+„Liebhaben!“ wiederholte Mette. Sie sah mit
+steinern ruhigem Gesicht an ihm vorüber, aus dem
+Fenster, aber ihr Atem ging rascher. „Ich kann dir
+eins versprechen: ich habe mich Zeit meines Lebens
+nur auf das eine gefreut, habe nur auf das eine gewartet,
+daß sie sterben soll. Ich habe jeden Abend den
+lieben Gott gebeten, er soll sie bald, bald sterben
+lassen.“
+</p>
+
+<p>
+Franz Rudloff wurde ganz blaß.
+</p>
+
+<p>
+„Mette!“ sagte er mit großen Augen.
+</p>
+
+<p>
+„Ich verspreche dir, das nicht mehr zu tun!“ sagte
+Mette mit einem leisen, trüben Lächeln. „Es wäre
+jetzt auch zu spät. Jetzt bitte ich Gott nur, daß er mich
+<a id="page-115" class="pagenum" title="115"></a>
+bald einundzwanzig werden läßt. Daß er dies unglückselige
+Jahr schnell, schnell vorübergehen läßt.
+Wenn ich mündig bin, wird sich ja irgendein Weg
+finden lassen. Wenn sie mir’s dann zu bunt treibt,
+geh’ ich eben aus dem Hause. Wenn’s sein muß, als
+Kindermädchen. Wenn ich nicht mehr mit ihr zusammen
+zu sein brauche, soll sie meinetwegen hundert
+Jahr alt werden. Früher, ich kann dir sagen, früher
+hätte ich sie manchmal mit Genuß mit eigenen Händen
+umgebracht.“
+</p>
+
+<p>
+Vor Franz Rudloff taten sich klaffende Abgründe
+auf. Er klammerte sich an den Seitenlehnen des
+Stuhles fest, so gewaltsam und stoßweise ging sein
+armes schwächliches Herz.
+</p>
+
+<p>
+„Dann allerdings,“ sagte er mühsam, der Atem versagte
+ihm, „dann allerdings wird wohl meine Bitte
+auf unfruchtbaren Boden fallen. Dann, dann habe ich
+dir wohl auch nichts mehr zu sagen.“
+</p>
+
+<p>
+Er erhob sich und ging hinaus, schwerfällig wie ein
+alter Mann.
+</p>
+
+<p>
+Mette fühlte einen Moment den Trieb, aufzuspringen,
+ihn zu halten, ihn wieder zu dem Sessel zurückzuführen.
+Ob es nicht doch irgendeinen Weg gab, sich
+zu erklären, eine Möglichkeit, sich verständlich zu
+machen!?
+</p>
+
+<p>
+„Er geht, weil er sich fürchtet,“ dachte sie, „er geht,
+<a id="page-116" class="pagenum" title="116"></a>
+weil er die Luft in meiner Nähe nicht mehr atmen
+kann, die Luft, die vergiftet ist mit dem Gift meiner
+bösen Gedanken. Er fragt sich jetzt verzweifelt, warum
+er so hart gestraft wird, daß er einer Mörderin das
+Leben gegeben hat. Wer weiß, womöglich geht er
+jetzt zu Tante Emilie und fragt sie um Rat, was er
+mit seiner verlorenen Tochter anfangen soll. Vielleicht
+konsultieren sie mal wieder einen Irrenarzt. Ich
+hätte die Absicht geäußert, meine Familie eigenhändig
+umzubringen. Nein, nein, es hat keinen Zweck, mit
+Erklärungen anzufangen. Vater versteht mich ja doch
+nicht.“
+</p>
+
+<p>
+Er ging. Und sie ließ ihn gehen, ohne sich zu
+rühren. – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Es vergingen drei Wochen – vier Wochen, fünf
+Wochen – Olga Radó ließ nichts von sich sehen noch
+hören.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+In ihrer Verzweiflung nahm Mette den lange vernachlässigten
+Verkehr mit den Möbius-Mädeln wieder
+auf. Sie quälte sich durch ein paar langweilige Nachmittage
+hindurch und fand den Mut nicht, nach Olga
+zu fragen. Und als sie endlich fragte, wußte niemand
+von ihr.
+</p>
+
+<p>
+Aber eines Nachmittags stürmte Emmi ins Zimmer,
+<a id="page-117" class="pagenum" title="117"></a>
+gerade als Fanni Metten die höchst aufregende Geschichte
+erzählte, von einem Brief an sie, den ihre
+Mutter aufgemacht hätte. Mette wurde nicht klug aus
+der Sache, aber sie hatte es zu einer Art Meisterschaft
+darin gebracht, an passenden Stellen „Ja?“ „Ach!“
+„Wirklich?“ zu sagen, ohne eine Ahnung zu haben,
+wovon die Rede war; also Emmi stürmte herein, warf
+ein paar Paketchen, die sie in der Hand trug, auf den
+Tisch, und rief:
+</p>
+
+<p>
+„Also, wißt ihr, Kinder, wen ich eben getroffen
+habe? Die Olga!“
+</p>
+
+<p>
+In Metten kämpften Schmerz und Freude. Also sie
+war hier! Man hatte die Möglichkeit, sie zu treffen,
+ganz unvermutet ihr plötzlich gegenüber zu stehen –
+das war ihr erster Gedanke. Aber ihr zweiter war:
+„Sie ist hier und sagt es mir nicht. Sie will mich
+nicht sehen. Sie ist abgereist, ohne es mir zu sagen,
+sie ist wiedergekommen, ohne es mir zu sagen, sie ist
+meiner so überdrüssig, daß sie sich Mühe gibt, mich
+loszuwerden. Was soll ich nur tun? Was soll ich
+nur tun?“
+</p>
+
+<p>
+Zwischen den Schwestern entspann sich ein langes
+Gespräch über Olga.
+</p>
+
+<p>
+„Sie hat Launen,“ sagte Fanni, „eine Zeitlang
+kommt sie jeden dritten Tag, und dann läßt sie sich ein
+Vierteljahr nicht sehen.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-118" class="pagenum" title="118"></a>
+„Sie will mich hier nicht treffen!“ dachte Mette
+bitter, „darum kommt sie nicht hierher.“
+</p>
+
+<p>
+„Sie war doch so lange verreist,“ sagte Emmi entschuldigend.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, und vorher?“ fragte Fanni. „Das Vierteljahr
+vor der Reise? Hat sie sich da vielleicht
+um uns gekümmert? Da hatte sie ja auch keine
+Zeit!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber für mich,“ dachte Mette mit schmerzlichem
+Stolz, „oh, für mich hatte sie Zeit – jeden Tag, jeden
+Tag –.“
+</p>
+
+<p>
+„Du kommst mir vor wie Tante Sophie,“ sagte
+Emmi und bemühte sich, ihr Puppengesichtchen zu verrenken,
+um der Tante nachzumachen. „Diese Olga ist
+eine ganz gefährliche Person. Sie spielt mit Menschen
+wie mit Puppen. Wenn sie sie satt hat, wirft
+sie sie beiseite. Und dabei ist sie faszinierend, ich gebe
+es zu, sie ist faszinierend!“
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ dachte Mette, „diese Tante Sophie mag sonst
+so idiotisch wie möglich sein. Aber sie hat recht.
+<em>Darin</em> hat sie recht. Sie <em>ist</em> faszinierend. Oh, so
+faszinierend! Und sie hat mich beiseite geworfen.
+Für immer! Für ewig! Was <em>soll</em> ich nur tun?
+Was <em>kann</em> ich nur tun?“ – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+<a id="page-119" class="pagenum" title="119"></a>
+Mette grübelte Tage und Nächte nach einem Ausweg.
+Sie fühlte, daß sie es nicht aushalten würde,
+sich an ihren Stolz zu klammern und zu sagen: Sie
+mag mich nicht, also existiert sie nicht mehr für mich.
+Sie sagte es sich, gewiß, nicht einmal, hundertmal.
+Aber ein viel stärkeres Gefühl sagte ihr: es sind Mißverständnisse,
+die uns trennen, es sind Hindernisse,
+die sich mit einem offenen Wort beseitigen lassen. Ich
+<em>muß</em> sie sprechen, ich <em>muß</em> sie fragen. Sie hat Mut
+genug und Härte genug, um mir die Wahrheit zu
+sagen. Ich will es ihr leicht machen. Ich will sie so
+fragen, daß sie es mir sagen kann, daß sie es mir
+sagen muß. Und wenn sie sagt: geh und komm nie
+wieder, dann will ich gehen und nie wiederkommen,
+dann will ich versuchen, mein Leben irgendwie ohne
+sie einzurichten, dann will ich stolz sein, aber dann
+erst! Erst dann!
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Mette kaufte eine Handvoll weißer Rosen von
+eigentümlich steifer und schwermütiger Schönheit und
+ging hinauf zu Olga.
+</p>
+
+<p>
+Das Mädchen, das ihr aufmachte, empfing sie mit
+strahlender Freude.
+</p>
+
+<p>
+„Gnädiges Fräulein sind ja so lange nicht hier gewesen!
+Fräulein Radó ist hinten in ihrem Zimmer.
+Fräulein weiß ja Bescheid!“
+</p>
+
+<p>
+Es erschien Metten unmöglich, sich durch das
+<a id="page-120" class="pagenum" title="120"></a>
+Mädchen melden zu lassen. Wenn Olga sich etwa verleugnen
+ließe, so konnte das eine unendlich peinvolle
+Situation herbeiführen. Wenn Olga nicht in der
+Laune war, sie zu sehen, so war es schon am besten,
+sich das ins Gesicht sagen zu lassen und nicht durch Vermittlung
+des Mädchens zu erfahren.
+</p>
+
+<p>
+Sie schritt sehr rasch und fest den endlosen Türgang
+hinunter. Aber das Herz klopfte ihr doch ein wenig
+schneller dabei.
+</p>
+
+<p>
+Sie pochte kurz an die Tür und drückte die Klinke
+nieder.
+</p>
+
+<p>
+Olga saß am Schreibtisch, wie sie immer zu sitzen
+pflegte: die eine Hand auf dem aufgeschlagenen
+Buch, die Schläfe gegen den Ballen der anderen
+gestützt, zwischen deren Fingern sie die Zigarette
+hielt.
+</p>
+
+<p>
+Als die Tür ging, wandte sie den Kopf ein wenig
+unwillig, mit zusammengezogenen Brauen. Das Erkennen
+lief wie ein heller Schein über ihr Gesicht.
+</p>
+
+<p>
+„Mette!“ sagte sie. „Bist du wieder da? Wo
+kommst du her? Was willst du hier?“
+</p>
+
+<p>
+Mette riß das Papier von den Blumen, warf es
+in den Papierkorb und legte die Rosen auf den
+Schreibtisch.
+</p>
+
+<p>
+„Was ich will?“ sagte sie währenddessen, ohne die
+Augen von ihrer Beschäftigung aufzuheben. „Dich
+<a id="page-121" class="pagenum" title="121"></a>
+besuchen. Sehen, wie es dir geht. Aber wenn es dir
+nicht paßt, kann ich ja wieder gehen.“
+</p>
+
+<p>
+„Nein!“ Olga streckte mit einer raschen und fast
+heftigen Bewegung die Hand nach ihr aus. Mette
+legte ihre Finger hinein, die Olga fest umschloß.
+„Aber – gerufen habe ich dich nicht!“
+</p>
+
+<p>
+Sie sah zu Metten auf, mit dem seltsam zwingenden
+und fast drohenden Ausdruck in Stirn und Augen.
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß es,“ sagte Mette mit einem bitteren
+Lächeln. „Es wäre dir auch nicht eingefallen, mich zu
+rufen. Ich habe selber das Gefühl, daß ich aufdringlich
+bin. Du brauchst es mir gar nicht so deutlich zu
+sagen.“
+</p>
+
+<p>
+Sie wollte ihre Hand zurückziehen, aber Olga hielt
+sie fest und lächelte.
+</p>
+
+<p>
+„Kind,“ sagte sie, „Mädelchen! Ich freue mich doch!
+Mehr als du annimmst. Ich glaube, wenn du wüßtest,
+wie ich mich freue – dann würdest du ganz eingebildet
+werden. Aber gerufen habe ich dich doch
+nicht.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ sagte Mette beinah ungeduldig, „ich weiß
+nicht, warum du solches Gewicht auf diese Feststellung
+legst.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich weiß es,“ sagte Olga ruhig. „Du sollst
+mir niemals vorwerfen können, ich wäre egoistisch gewesen.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-122" class="pagenum" title="122"></a>
+„So,“ sagte Mette, „das ist ja heiter. Damit dich
+nicht irgendwann ein Vorwurf treffen kann – ich
+wüßte nebenbei nicht wann – darum läßt du mich
+sterben und verderben und kümmerst dich nicht um
+mich! Oh, bist du egoistisch!“
+</p>
+
+<p>
+Olga lachte. „Ich geb’ es auf. Es kommt ja doch
+alles auf mich. So oder so. Also tragen wir, was
+wir tragen können, solange wir aufrecht gehen. Es
+ist herbstlich heut’ draußen.“
+</p>
+
+<p>
+Sie schloß die Augen und zog fröstelnd die Schultern
+zusammen.
+</p>
+
+<p>
+„Es ist gut, daß du da bist. Steck den Samowar
+an und mach uns Tee, Mettulein. Und wir wollen
+Peterchen rufen, daß er kommt und uns was vorspielt.“ – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Als Mette ins Zimmer trat, saß Olga auf dem
+Diwan, die Ellbogen auf den Knien, das Gesicht in
+die Hände gelegt.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+„Gott, siehst du tiefsinnig aus!“ rief Mette. „Denkst
+du über die Unsterblichkeit der Maikäfer nach?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja!“ Olga hob mit einem Ruck den Kopf. „Und
+ich meine, daß das das einzige ist, was noch das Nachdenken
+lohnt! Sag’, hast du noch nie darüber nachgedacht?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-123" class="pagenum" title="123"></a>
+„Nein!“ lachte Mette. „Ganz gewiß nicht.“
+</p>
+
+<p>
+„Dann ist es Zeit, daß du anfängst, darüber nachzudenken!“
+sagte Olga sehr ernst.
+</p>
+
+<p>
+„Ausgerechnet über die Unsterblichkeit der Maikäfer?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, ausgerechnet über die Unsterblichkeit der Maikäfer.
+Ich möchte wissen, von wem das Wort
+stammt. Man kann nämlich über nichts so tiefsinnig
+werden.“
+</p>
+
+<p>
+„Als gerade über die Maikäfer?“
+</p>
+
+<p>
+„Meinetwegen auch über die Stubenfliegen. Oder
+über die Skorpione. Oder über die Kellerasseln.
+Glaubst du, daß eine Stubenfliegenseele in einen
+Maikäfer fahren kann? Oder umgekehrt? Oder glaubst
+du, daß sie gleich in den Himmel kommt? Oder glaubst
+du, daß Elefanten auf einer höheren Stufe stehen als
+Menschen? Oder daß es mehr als sechzehnhundert
+Millionen Elefanten gibt?“
+</p>
+
+<p>
+„Olga!“ rief Mette zwischen Lachen und Verzweiflung
+und hielt sich die Ohren zu. „Hör’ auf! Bist
+du denn verrückt geworden?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nein, nein!“ sagte Olga eigensinnig. „Ich
+denke fortgesetzt darüber nach.“
+</p>
+
+<p>
+„Worüber eigentlich?“
+</p>
+
+<p>
+„Über die Unsterblichkeit der Maikäfer. Glaubst du,
+<a id="page-124" class="pagenum" title="124"></a>
+daß sie eine unsterbliche Seele haben? Ich will dir
+sagen, wie ich darauf kam. Ich las da eben vom
+Regenerationsvermögen gewisser niederer Tiere.
+Weißt du, wenn man sie halbiert, wächst einfach jedem
+die fehlende Hälfte nach, und es sind nun zwei da.
+Der Mann macht da auch die tiefsinnige Bemerkung,
+in welcher Hälfte sitzt nun die unsterbliche Seele?
+Oder teilt sich die Seele? Oder hat der Mensch die
+Macht, durch das Seziermesser eine neue Seele zu
+schaffen? Oder herbeizulocken? Wenn man anfängt,
+kommt man in ein solches Labyrinth.“
+</p>
+
+<p>
+„Glaubst du denn an die unsterbliche Seele?“ fragte
+Mette zweifelnd.
+</p>
+
+<p>
+„Bei niederen und niedersten Tieren? Gewiß!
+Aber wenn dich das Wort Seele stört, lassen wir’s
+fort. Ich möchte dir’s so gern klarmachen.“
+</p>
+
+<p>
+Sie sah ein paar Sekunden zu Boden, hob dann
+die unbeschreiblich klaren und leuchtenden Augen auf
+und sagte betont:
+</p>
+
+<p>
+„Alles, was Leben hat, hat auch Unsterblichkeit.
+Leben an sich kann nicht sterblich sein. – Das klingt
+wie ein Sophismus, ist aber keiner. Es wechselt nur
+die Form. Nun möchte ich wissen, ob es nur die uns
+wahrnehmbare, die Erscheinungsform wechselt, das
+heißt, ob jede Maikäferseele ein in sich abgeschlossenes
+ist, das wieder nur dazu dient, einem neu entstehenden
+<a id="page-125" class="pagenum" title="125"></a>
+Maikäfer Leben zu geben, oder ob Sterben und Geborenwerden
+ist, wie Tropfen, die ins Meer zurückfließen
+und wieder aus dem Meer geschöpft werden.
+Die Tropfen bleiben nicht in sich zusammenhängend,
+verstehst du? Und viele Tropfen geben einen Eimer.
+Vielleicht ist nur die Quantität ausschlaggebend und
+nicht die Qualität ... Vielleicht hat ein Mensch
+Millionen Maikäferseelen in sich. Man müßte einmal
+die Maikäfer auf der ganzen Erde zählen. Wenn eine
+Maikäferseele sich in Ewigkeit gleich bliebe, so müßte
+immer die gleiche Anzahl von Maikäfern existieren.
+Wo sind aber dann die Seelen der Tiere, die
+positiv ausgestorben sind? Oder flutet das Leben
+von einem Stern zum andern ungehindert hinüber?
+–
+</p>
+
+<p>
+Aber ich glaube das alles nicht. Ich glaube eigentlich
+an eine Entwicklung, an einen Fortschritt. Man
+kommt von da ganz unten her – weißt du? – aus
+Abgründen viehischen Lebens – oh, ich weiß ganz
+genau, daß ich von da her komme – aber jedes Leben
+heißt ‚Aufwärtsentwicklung‘, jedes neue Leben fangen
+wir eine Stufe höher an.“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Unsinn!“ sagte Mette ungläubig. „Woher
+willst du das wissen! Ich glaube nicht an unsterbliche
+Maikäferseelen. Ich glaube nicht einmal an
+meine eigene Unsterblichkeit. Alles Leben ist chemische
+<a id="page-126" class="pagenum" title="126"></a>
+Veränderung. Und das, was du Seele nennst, alle
+Eigenschaften des Geistes und des Charakters, das ist
+Blutzusammensetzung.“
+</p>
+
+<p>
+„Mette!“ sagte Olga ganz erschrocken. „Und mit
+dem Gedanken kannst du leben? Und mit dem Gedanken
+willst du sterben? Ich würde mich fürchten
+vorm Tode, wenn ich nicht wüßte, daß ich unzerstörbar
+bin. Ich empfinde mich selbst so stark, viel stärker als
+den Tod. – Ich bin genau das, was ich als kleines
+Kind war. Nicht unverändert. Ich bin mehr geworden.
+Aber nicht ein Körnchen ist abgebröckelt. Und
+das, was ich jetzt bin, erhalt ich mir. Ich gebe nichts
+her davon. Das weiß ich. Aber ich nehme zu, ich
+wachse. Manchmal ist es wie ein Stillstand – dann
+geht es wieder ruckweise – manchmal eine ganze Strecke
+in rasendem Tempo, immer aufwärts –“ Sie schwieg,
+und sah mit weiten Augen geradeaus.
+</p>
+
+<p>
+„Und dann?“ fragte Mette, immer noch mit leisem
+Widerspruch im Ton. „Was wird dann? Kommst du
+in den Himmel und wirst ein Engel mit weißen
+Flügeln?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß nicht,“ sagte Olga nachdenklich. „So
+wenig weiß ich, daß ich selbst das nicht abstreiten kann.
+Eigentlich bin ich überzeugt, daß ich zunächst ein Mann
+werde. Und danach ein Heiliger oder ein Genie. Das
+ist das Höchste, was wir kennen. Die andere höhere
+<a id="page-127" class="pagenum" title="127"></a>
+Form, die dann kommt – davon weiß ich nichts.
+Aber wir müssen die fragen, die ihr am nächsten
+stehen – die vielleicht schon ein Vorgefühl davon
+haben können – die Genies – oder die Heiligen.“
+– – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Einmal, als Mette ins Zimmer kam, sah sie, daß
+Olga etwas versteckte. Sie schob einen offenen Brief,
+den sie in der Hand hielt, rasch unter die Bücher auf
+dem Schreibtisch. Mette glaubte zu bemerken, daß
+sie während der Begrüßung irgendwie zerstreut, ärgerlich,
+verlegen war.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+„Was hast du?“ fragte sie, ohne ihre Hand loszulassen.
+„Hast du Ärger gehabt? Du kommst mir heut’
+so komisch vor.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich?“ Olga errötete. Es lief wieder die rasche,
+dunkelnde Blutwelle über ihr Gesicht, die es im nächsten
+Augenblick um so weißer erscheinen ließ. „Was fällt
+dir ein? Warum soll ich Ärger gehabt haben? Im
+Gegenteil.“
+</p>
+
+<p>
+„Im Gegenteil?“ sagte Mette mit etwas erzwungener
+Heiterkeit. „Du hast Freude gehabt, die dich so okkupiert?
+Dann wäre es allerdings indiskret, weiter zu
+fragen. Sprechen wir von etwas anderem. – Ich habe
+dir deinen Chamberlain wieder mitgebracht. Und habe
+<a id="page-128" class="pagenum" title="128"></a>
+dir auch gleich den Herz mitgebracht. Vater hatte ihn
+in der Bibliothek.“
+</p>
+
+<p>
+Sie sprachen von dem und jenem. Aber Mette konnte
+den Brief nicht vergessen. Während sie redete, gingen
+ihre Gedanken immer andere Wege.
+</p>
+
+<p>
+„Was ist das nur?“ dachte sie. „Eifersucht? Hab’
+ich denn ein Recht dazu? Wie komme ich eigentlich
+dazu, verletzt, mißtrauisch, ja <em>zornig</em> zu sein, weil
+diese Frau einen Brief erhält, den sie mich nicht sehen
+lassen will? Herrgott im Himmel, sie ist doch durch
+nichts an mich gebunden, mir in Nichts verpflichtet.
+Sie kann heimlich verlobt sein, sie kann ein Dutzend
+Liebschaften haben – wie käme sie dazu, mir alles zu
+erzählen, mich zu ihrer Vertrauten zu machen? Was
+geht es mich überhaupt an, was sie für Briefe bekommt?“
+</p>
+
+<p>
+Mette war böse auf sich selbst und schalt sich aus.
+Und dabei war sie gequält und traurig, kämpfte dagegen
+an und konnte es nicht überwinden.
+</p>
+
+<p>
+„Es <em>ist</em> nicht Eifersucht,“ dachte sie, „es <em>ist</em> nicht
+Besitzer-Wahnsinn. Es ist einfach die Erkenntnis, daß
+man das Leben nur ertragen kann, wenn man Hand
+in Hand geht. Es ist das Bewußtsein, daß ich nur
+weiterkomme, wenn Olga meine Hand hält und mich
+führt. Ich habe das Gefühl, daß sie meine Hand losgelassen
+hat, daß zwischen uns eine Tür ins Schloß
+<a id="page-129" class="pagenum" title="129"></a>
+gefallen ist, daß ich allein stehe, hilflos, im Dunkeln,
+und daß sie lachend weitergeht – ich weiß nicht,
+mit wem ...“
+</p>
+
+<p>
+Olga wurde ans Telephon gerufen. Es dauerte
+lange, ehe sie wiederkam.
+</p>
+
+<p>
+Mette saß einen halben Meter vom Schreibtisch entfernt.
+Unter einem Bücherstoß ragte eine Ecke des
+weißen Briefblatts hervor. Wenn sie den Arm ausstreckte,
+konnte sie es berühren, konnte es hervorziehen,
+ohne von ihrem Platz aufzustehen.
+</p>
+
+<p>
+Es war ein qualvoller Kampf. Sie hätte sich ohrfeigen
+mögen, weil sie nur auf den Gedanken einer
+Möglichkeit kam.
+</p>
+
+<p>
+Es war ein Verbrechen, was sie begehen wollte –
+oh, es war schlimmer, es war unfein, taktlos, verächtlich.
+Aber sie fand tausend Gründe, sich zu entschuldigen:
+</p>
+
+<p>
+„Es ist ja nicht Neugier –“ schrie es innerlich in
+ihr, „wem tu ich damit weh? Wem tu ich ein Leid?
+Niemandem. Nicht ihr, nicht dem, der den Brief
+geschrieben hat. Und für mich ist es von so unendlicher
+Bedeutung. Ich klammere mich mit allen Fasern
+an diesen Menschen und weiß gar nicht, was es für ein
+Mensch ist. Warum <em>ist</em> sie so verschlossen? Wenn ich
+mir eine Gewißheit verschaffen kann, die vielleicht mit
+einem Schlage mein ganzes Leben ändert, so tue ich
+<a id="page-130" class="pagenum" title="130"></a>
+das um jeden Preis – und wenn es um den Preis
+eines Verbrechens ist.“
+</p>
+
+<p>
+Mit einem Ruck zog sie das Blatt hervor. Ihr
+Herz hämmerte wie rasend, vor ihren Augen war ein
+dichter Schleier, die Buchstaben flackerten auf dem
+Papier. Es war ein Bogen mit Firmenaufdruck,
+wenige Worte – Zahlen ...
+</p>
+
+<p>
+Mette hörte Olgas Stimme vor der Tür und schob
+das Blatt hastig in die Tasche. Olga würde es kaum
+vermissen. Und in Metten, obgleich sie kaum gelesen,
+kaum begriffen hatte, was da stand, war schon ein
+Plan fertig.
+</p>
+
+<p>
+Mette hatte es heut’ sonderbar eilig, nach Hause zu
+kommen. Sie war zerstreut und einsilbig, so, daß
+Olga einmal fragte:
+</p>
+
+<p>
+„Was hast du heut’? Ist dir was passiert? Bist
+du schlechter Laune?“
+</p>
+
+<p>
+Mette erinnerte sich belustigt des Gespräches beim
+Kommen.
+</p>
+
+<p>
+„Im Gegenteil!“ sagte sie mit übertriebener Betonung,
+deren Ursache aber Olga nicht ins Gedächtnis
+kam – „Ich bin sogar sehr guter Laune!“ –
+</p>
+
+<p>
+Mette schloß sich daheim in ihrer Stube ein und
+studierte den Brief wie ein wichtiges Dokument – das
+also war das Liebesglück, das vor ihr geheim gehalten
+wurde.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-131" class="pagenum" title="131"></a>
+Die Firma ersuchte „nochmals“ um Zahlung von
+einigen Hundert Mark, „widrigenfalls wir die Sache
+zu unserem Bedauern unserem Rechtsanwalt überweisen
+müßten“.
+</p>
+
+<p>
+Mettens Herz war zum Überfließen voll von zärtlichem
+Mitleid.
+</p>
+
+<p>
+„Armes, Liebes!“ dachte sie, „so quälen sie
+dich!“
+</p>
+
+<p>
+Sie hob das Blatt auf und war einen Augenblick
+in Versuchung, es an die Lippen zu führen.
+</p>
+
+<p>
+Dann fing sie an zu rechnen. Die paar Mark Ersparnisse,
+die sie von ihrem Taschengeld machen konnte
+– nein, das langte nicht. Sie hatte zu sehr verschwendet,
+namentlich mit den Blumen. – Aber hatte
+sie sonst nichts? Sie ließ wie suchend die Blicke durch
+den Raum gleiten. Bücher? Nein, die gab sie nur
+im letzten Notfall her. Aber Schmuck. Den ganzen
+Kram, aus dem sie sich so absolut nichts machte. Es
+würde niemand danach fragen, wo Armbänder und
+Ringe, Halskettchen und Vorstecknadeln geblieben
+waren. Sie trug ja doch dergleichen Dinge nie.
+Schlimmstenfalls konnte man vorgeben, etwas verloren
+zu haben. Oder man konnte am ersten, wenn
+es Taschengeld gab, diese oder jene Kleinigkeit wieder
+einlösen.
+</p>
+
+<p>
+Der ganze Inhalt der Schmucktruhe wurde in
+<a id="page-132" class="pagenum" title="132"></a>
+Seidenpapier gewickelt und in die Tiefe der Manteltaschen
+versenkt.
+</p>
+
+<p>
+Der Gang zum Leihamt war leicht. Mette entsann
+sich fast mit Vergnügen, daß sie bei einem solchen
+Unternehmen nicht ohne Übung war.
+</p>
+
+<p>
+Schlimmer war es, Geld und Rechnung in das
+Modeatelier zu bringen. Mette hatte dabei ein Gefühl,
+als ob sie einen schweren Betrug verüben sollte. Die
+Schmucksachen zu versetzen, die ihr geschenkt waren,
+dazu hatte sie ein gutes Recht. Aber für Olga Radó
+zu handeln, in Olga Radós Namen etwas zu tun, das
+schien ihr ein unerhörtes Wagnis. Und es war so
+schwer, den richtigen Ton zu treffen. Schulden zu
+haben, war nach allem, was Mette je gelernt und
+erfahren hatte, etwas sehr Entwürdigendes und
+beinah Schmutziges.
+</p>
+
+<p>
+Wenn man also kam, um Schulden zu bezahlen,
+endlich, nach langem Mahnen, so mußte man ganz
+demütig kommen und um Verzeihung bitten. Anders,
+wenn man von Olga Radó kam. Dann konnte man
+nur mit der Miene eines fürstlichen Abgesandten auftreten
+und mit hoheitsvoller Überlegenheit den vergessenen
+Bettel erledigen.
+</p>
+
+<p>
+Mette zog ihr bestes Kleid an und machte ihr hochmütigstes
+Gesicht. Es ging viel besser als sie erwartet
+hatte. Die Leute behandelten sie wirklich wie einen
+<a id="page-133" class="pagenum" title="133"></a>
+fürstlichen Abgesandten – sie war sehr stolz darauf,
+doppelt stolz, weil sie annahm, daß diese fast unterwürfige
+Liebenswürdigkeit Olga Radó galt.
+</p>
+
+<p>
+Ja, das war alles ganz leicht. Aber nun trug sie
+die quittierte Rechnung in der Tasche und hätte nicht
+um alles in der Welt den Mut gefunden, sie Olga
+zurückzugeben. Sie beruhigte sich damit, daß es ja
+auch wohl kaum nötig wäre. Die Leute würden nun
+nicht mehr mahnen, und Olga würde die ganze Angelegenheit
+vergessen.
+</p>
+
+<p>
+Nach acht Tagen triumphierte Mette schon heimlich
+und hielt jede Gefahr für glücklich vorübergegangen.
+Da wurde sie eines Tages von Olga mit eiskaltem
+Gesicht empfangen.
+</p>
+
+<p>
+„Was fällt dir eigentlich ein?!“ sagte Olga statt
+jeder Begrüßung, „wie <em>kommst</em> du eigentlich dazu,
+mir so etwas zu machen.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich?“ sagte Mette und bemühte sich, ein harmloses
+Gesicht zu machen, „was hab’ ich denn gemacht?“
+</p>
+
+<p>
+„Du weißt ganz genau, was du gemacht hast!“
+sagte Olga streng. „Du hast dich unverantwortlich
+benommen. Unverantwortlich! Ich dulde es nicht,
+daß sich jemand in meine Angelegenheiten mengt.
+Und von dir dulde ich es am allerwenigsten. Siehst
+du nicht ein, was für eine unerhörte Anmaßung in
+deinem Benehmen liegt? Willst du mich unter Kuratel
+<a id="page-134" class="pagenum" title="134"></a>
+stellen? Oder willst du mich aushalten? Was denkst
+du dir denn eigentlich?“ Sie ging mit großen
+Schritten hin und her. Ihr Ton war immer hitziger
+und heftiger geworden. Jetzt blieb sie plötzlich, an
+den Schreibtisch gelehnt, stehen, kreuzte die Arme und
+sagte ganz ruhig, nur mit einer leisen Bewegung des
+Kopfes:
+</p>
+
+<p>
+„Wie bist du denn überhaupt zu der Rechnung gekommen?“
+</p>
+
+<p>
+Mette schrak zusammen. Das war der Augenblick,
+den sie gefürchtet hatte. Alles andere war vielleicht
+Torheit, aber es war gutmütig, selbstlos gehandelt,
+sie konnte es mit einem Schein des Rechtes verteidigen,
+wenigstens vor sich selber. Aber auf diese Frage konnte
+sie keine Entschuldigung hervorbringen.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt war doch alles aus. Mit keiner Lüge konnte
+sie sich mehr retten. Da beschloß sie in verzweifeltem
+Trotz die Wahrheit zu sagen. Sie warf den Kopf zurück
+und sah zu Olga auf, mit einem Gesicht, als
+wollte sie sagen: ich habe den Tod verdient, aber ich
+fürchte ihn nicht.
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe sie gestohlen!“ sagte sie. „Von deinem
+Schreibtisch.“
+</p>
+
+<p>
+Olga blieb ganz ruhig. Sie zog nur ein wenig
+die Brauen zusammen als müsse sie sich besinnen. „Sie
+war gekommen, während du da warst, nicht wahr?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-135" class="pagenum" title="135"></a>
+„Ja!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich habe sie doch nicht offen liegen lassen. Ich
+weiß jetzt ganz genau – ich hatte sie irgendwo unter
+die Bücher geschoben.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ sagte Mette mit zusammengebissenen Zähnen,
+„aber ich habe sie da vorgezogen.“
+</p>
+
+<p>
+„Wann?“ fragte Olga in höchstem Erstaunen.
+</p>
+
+<p>
+„Während du am Telephon warst.“
+</p>
+
+<p>
+Olga antwortete nichts. Sie senkte den Kopf und
+sah schweigend auf den Boden. Mette sah, daß sie
+mit festgeschlossenem Mund mit den Zähnen an der
+Unterlippe nagte ...
+</p>
+
+<p>
+Das Schweigen war fürchterlicher als jedes harte
+Wort. Mette kam sich unglaublich verworfen vor.
+Und die Inquisition hatte noch kein Ende. Es kamen
+noch schlimmere Fragen, ganz gewiß, noch viel schrecklichere.
+</p>
+
+<p>
+Nach einer Weile hob Olga den Kopf. „Du konntest
+doch aber gar nicht wissen, was das war. Es konnte
+doch gerade so gut ein ganz persönlicher Brief an mich
+sein?!“
+</p>
+
+<p>
+Mettes Stirn fing an zu brennen. „Jetzt müßte ich
+lügen“ – dachte sie einen Moment – „sagen, ich habe
+die Zahlen gesehen, oder den Firmenaufdruck.“ Aber
+sie konnte nicht lügen. Sie hatte etwas so Verächtliches
+getan, sie hatte kein Recht, sich Olgas Verzeihung
+<a id="page-136" class="pagenum" title="136"></a>
+durch eine Lüge zu erkaufen. Sie mußte eingestehen,
+abbitten – büßen.
+</p>
+
+<p>
+„Das <em>dachte</em> ich ja!“ sagte sie mit fast heftiger
+Entschlossenheit. Aber dabei konnte sie nicht in Olgas
+Gesicht sehen. Sie sah an ihr vorüber aus dem Fenster.
+Aber ohne hinzusehen, sah sie, daß Olga eine hastig
+auffahrende und gleich wieder unterdrückte Bewegung
+machte.
+</p>
+
+<p>
+„Das hast du dir gedacht?“ sagte sie.
+</p>
+
+<p>
+Metten schien es, als ob sie mühsam, mit gewaltsamer
+Beherrschung so leise spräche, um nicht zu
+schreien.
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich bitte dich, du mußt doch irgendeinen
+Grund gehabt haben. Ich kann doch nicht annehmen,
+daß du aus einer ganz dienstmädchenhaften Neugier
+in jedes fremden Menschen Briefen stöberst.“
+</p>
+
+<p>
+„Nein,“ sagte Mette verstockt. „Ich hatte auch einen
+Grund, natürlich hatte ich einen Grund. Aber ich
+kann ihn nicht sagen.“
+</p>
+
+<p>
+„Wenn du ihn nicht sagen kannst,“ sagte Olga mit
+einem sanften Lächeln, „dann will ich dich auch nicht
+danach fragen. Aber ob mit, ob ohne Grund – sag’
+mal – findest du es eigentlich schön?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein!“ gestand Mette ehrlich.
+</p>
+
+<p>
+„Nicht wahr?“ sagte Olga rasch. „Ich finde es auch
+nicht schön.“ Und nach einer Pause fügte sie nachdenklich
+<a id="page-137" class="pagenum" title="137"></a>
+und fast schmerzlich hinzu: „Aber begreiflich.
+Trotzdem – laß’ es. Mißtrauen ist etwas so Häßliches.
+Wenn ich etwas geheim halten will, liebes
+Kind, dann mach’ ich das so raffiniert, daß man mir
+mit so törichten kleinen Streichen nicht dahinter
+kommt!“
+</p>
+
+<p>
+Es war in ihrem Ton eine so hohnvolle Überlegenheit,
+daß Mette erschrak. Sie fühlte die Wahrheit
+dieser Worte, sie fühlte, daß Olga wie mit Mauern
+umgeben war, durch die sie – die dumme, kleine
+Mette – niemals zum Kern ihres Wesens gelangen
+konnte, auch wenn sie ihr nachspürte wie ein Verbrecher
+und heimlich ihre Briefe las.
+</p>
+
+<p>
+Es schien, als ob Olga Mettens wortloses Erschrecken
+gefühlt hätte.
+</p>
+
+<p>
+Sie sagte plötzlich mit ihrer tiefen, warmen
+Stimme:
+</p>
+
+<p>
+„Im übrigen verberge ich dir ja nichts. Nichts, was
+dich interessiert. Ich schreibe keine Liebesbriefe und
+kriege keine. Wenn’s dich aber einmal reizt, irgend
+etwas in Erfahrung zu bringen – frag’ mich – es ist
+der glätteste Weg.“
+</p>
+
+<p>
+Der gute und herzliche Ton tat Metten unendlich
+wohl, zehnfach wohl nach der Angst, die sie ausgestanden
+hatte. Sie machte eine unwillkürliche Bewegung.
+Ein heiß aufwallendes Gefühl trieb sie zu
+<a id="page-138" class="pagenum" title="138"></a>
+Olga hin, um ihr in Dankbarkeit die Hände zu küssen.
+Olga sah oder fühlte diese Regung – sie wehrte sie
+ab. Es war nur ein kaum merkliches Zucken, das um
+ihre Brauen lief und das Metten zurückscheuchte und
+an ihren Platz bannte.
+</p>
+
+<p>
+„Ich möchte Arabisch lernen,“ sagte Olga rasch, beinah
+hastig, mit einem gewaltsamen Sprung der Gedanken.
+„Ich habe mir neulich die Schriftzeichen erklären
+lassen. Die Schrift ist wie die Erfindung
+eines klugen und unendlich sympathischen Mannes.
+Alles logisch, einfach und dabei von ästhetischem
+Reiz.“
+</p>
+
+<p>
+„Olga!“ sagte Mette. „Wie kommst du <em>darauf</em>?!
+Wozu soll man Arabisch lernen, was man nie im
+Leben braucht?!“
+</p>
+
+<p>
+„Brauchen?“ fragte Olga. „Lernt man Sprachen,
+um sie zu brauchen? Glaubst du, daß mir jemand imponiert,
+der in zweiundzwanzig Sprachen ein Zimmer
+mit zwei Betten bestellen kann? Das kann man doch
+auch praktischer mit <span class="antiqua">alba duo</span> abmachen. Wenn ich
+Sprachen lerne, so ist das ein rein psychologisches
+Interesse. Wie ein Satz sich aus Zeichen aufbaut –
+darin spiegelt sich die Seele eines ganzen Volkes.
+Ähnlichkeit der Sprache, das macht Verwandtschaft,
+das <em>ist</em> Verwandtschaft – aber nicht, ob der Haardurchschnitt
+dreikantig oder elliptisch ist“ – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+<a id="page-139" class="pagenum" title="139"></a>
+Erst als Mette sich den Hut aufsetzte, um zu gehen,
+sagte Olga plötzlich:
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+„Willst du mir einen Gefallen tun, Mette?“
+</p>
+
+<p>
+„Jeden!“ sagte Mette mit Überzeugung.
+</p>
+
+<p>
+„Aber es ist keine leichte Aufgabe – ich“ ...
+</p>
+
+<p>
+„Desto besser!“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nein, keine romantische Heldentat. Etwas
+ganz kleinlich Unangenehmes!“ Sie nagte die Lippen
+und zögerte. „Ich würde es gern anders machen, aber
+ich weiß wirklich nicht wie. Du sollst etwas tun, was
+du sicher in deinem ganzen Leben noch nicht getan hast.
+Du sollst für mich etwas aufs Leihamt tragen.“
+</p>
+
+<p>
+Mette lachte hellauf. „Da unterschätzt du mich bedeutend.
+Das Leihhaus ist eine meiner vertrautesten
+Kindheitserinnerungen!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber Mette!“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist eine lange Geschichte. Das muß ich dir
+mal erzählen. Aber sag, was du jetzt wolltest!“
+</p>
+
+<p>
+„Du sollst das da für mich zum Pfandleiher tragen!“
+</p>
+
+<p>
+Olga nahm mit einer raschen Bewegung das Zigarettenetui
+vom Schreibtisch und reichte es hinüber.
+</p>
+
+<p>
+Mette hielt es erschrocken in beiden Händen.
+</p>
+
+<p>
+„Olga, das kannst du nicht tun!“
+</p>
+
+<p>
+Olga sah aus dem Fenster. „Laß das, bitte!“ sagte
+sie hart, ohne den Kopf zu wenden. „Ich weiß allein,
+was ich tun kann, und was ich tun muß!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-140" class="pagenum" title="140"></a>
+Mette schwieg. Auf diesen Ton gab es keine Widerrede.
+Aber sie war nicht überzeugt. – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Mette sah immer noch die zärtliche Geste, mit der
+Olga das Etui an die Wange gepreßt hatte. Und dann
+sah sie die behaarte Hand des Pfandleihers mit den
+platten, schwarzgeränderten Nägeln. Nein, in diese
+Hände durfte sie den Skorpion nicht legen.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Sie trug das Etui zum Goldarbeiter und ließ es
+schätzen.
+</p>
+
+<p>
+Sie hatte nicht so viel Geld in ihrem Besitz, um
+den frommen Betrug, den sie vorhatte, ausführen zu
+können.
+</p>
+
+<p>
+Aber sie wußte sich zu helfen. Sie war nicht umsonst
+Friedel Eggebrechts Schülerin gewesen. Sie
+wußte so gut, wie man an das Silberzeug herankonnte,
+und in welchem Kasten das wertvollste
+war.
+</p>
+
+<p>
+Während Mette heimlich an das Büfett ging, dachte
+sie ein Dutzend Jahre zurück und lächelte. Es war
+nicht mehr so aufregend wie damals. Obgleich, wenn
+Tante Emilie es entdeckte, würde es genau dieselben
+Unannehmlichkeiten geben. Sie war fähig, wieder
+einen Psychiater zu rufen. Was war es doch im
+Grunde für eine lächerliche Komödie! In einem Jahr
+<a id="page-141" class="pagenum" title="141"></a>
+war sie mündig und durfte über ihr großmütterliches
+Erbe frei verfügen, und heute mußte sie, um sich ein
+paar hundert Mark zu verschaffen, in ihres Vaters
+Hause stehlen gehen! – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+„Willst du so gut sein und mir den Schein geben?“
+fragte Olga das nächste Mal.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+„Den Schein?!“ Mette wurde ein wenig verlegen
+und kramte in ihrer Tasche. „Ja, sofort! Wo habe
+ich ihn denn? Du brauchst keine Angst zu haben,
+er ist da! Ich will dir nur erst das Geld aufzählen!“
+</p>
+
+<p>
+„Das laß, bitte!“ sagte Olga bestimmt. „Das Geld
+ist da, wo es hingehört. Keine Szenen, bitte. Ich
+habe dir kein Recht gegeben, mich zu beleidigen.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich verstehe dich nicht,“ sagte Mette ratlos. „Was
+soll denn das heißen?“
+</p>
+
+<p>
+„Das soll heißen, daß ich mich bedeutend lieber an
+eine Straßenecke setzen will und betteln, als daß ich
+dir Geld schuldig sein will. Ich hab’ auch nur deswegen
+dich zum Leihamt geschickt, damit du das Geld
+gleich in Händen hast. Sonst hätt’ ich dir’s aufdrängen
+müssen, und ich hasse solche Szenen. Und
+jetzt genug davon geredet, ich will kein Wort mehr
+hören!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ...“
+</p>
+
+<p>
+„Kein Wort – hab’ ich gesagt. Im übrigen kannst
+<a id="page-142" class="pagenum" title="142"></a>
+du den Schein behalten. Du kannst es mir wieder
+einlösen. Ich will lieber nicht sehen, in wessen Händen
+es war. Ich werde dir gelegentlich das Geld geben –“
+sie lachte kurz auf. „Wann, mögen die Götter wissen!
+Komm, wir wollen eine Partie Schach spielen. Ich
+gebe dir einen Turm vor.“ – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Mette litt unter ihrer Unselbständigkeit. Sie spürte
+eine Art Neid gegen alle Frauen, die sie arbeiten sah.
+Nicht nur gegen die, die in der Öffentlichkeit standen,
+Reichtümer erwarben, laute Anerkennung fanden –
+sie hätte gern mit einer kleinen, blassen Lehrerin getauscht,
+die jeden Morgen an ihrem Fenster vorüber
+nach der Schule hastete. Oder mit ihrer Zahnärztin,
+die nach ihrer eigenen Aussage jeden Abend müde zum
+Umfallen war und die dabei doch immer brannte vor
+Arbeitseifer und Arbeitsfreude.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Mette suchte ihren Vater in seinem Zimmer auf,
+in der Absicht, eine recht ernsthafte Unterredung mit
+ihm zu führen. Sie konnte nicht in Tante Emiliens
+Gegenwart die Rede auf das bringen, was sie beschäftigte.
+</p>
+
+<p>
+Mette holte weit aus, um sich ihrem Vater verständlich
+zu machen.
+</p>
+
+<p>
+„... siehst du, Papa, es ist doch heutzutage nicht
+<a id="page-143" class="pagenum" title="143"></a>
+mehr wie in deiner Jugend, daß die Mädchen aus
+gutem Hause hübsch still zu sitzen hatten und weiter
+nichts lernen durften, als Kochen, Plätten und Nähen.
+Heutzutage ist es eigentlich für ein Mädchen ebenso
+selbstverständlich wie für einen Jungen, daß er irgendeinen
+Beruf, irgendein Studium ergreift. Und außerdem,
+selbst, wenn ich Hausarbeit tun wollte. – Du
+weißt ja selber, daß ich hier überflüssig bin. Tante
+Emilie macht alles so musterhaft, nein, Papa, du
+brauchst nicht aufzufahren, das soll keine Ironie sein,
+sondern aufrichtige Anerkennung, auch kein Vorwurf;
+denn ich dränge mich gar nicht danach, die Wirtschaft
+selber zu besorgen. Nur – ich kann doch nicht mein
+Leben lang zu Hause sitzen und die Hände in den
+Schoß legen und warten, ob der Freiersmann kommt.
+Es würde mir so Freude machen, irgendeine wirkliche
+Arbeit zu verrichten.“
+</p>
+
+<p>
+„Arbeit,“ sagte Franz Rudloff zögernd, „über den
+Begriff ‚Arbeit‘ gehen die Ansichten sehr weit auseinander.
+Die meisten Menschen pflegen nur das für
+Arbeit zu erklären, was ihnen unangenehm ist. Ein
+schwächlicher Mensch wird Steine tragen für eine Arbeit
+erklären und ein hartschädeliger: Vokabeln lernen. Es
+gibt Leute, die das, was ich treibe, für Arbeit erklären.
+Ich nenne es einen fortgesetzten, intensiven
+Genuß. Was verstehst du nun unter Arbeit?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-144" class="pagenum" title="144"></a>
+„Etwas, das bezahlt wird, Papa!“ sagte Mette
+ernsthaft. „Ich möchte gern Geld verdienen.“
+</p>
+
+<p>
+„Geld!“ Franz Rudloff verzog leise das Gesicht wie
+in Schmerz und Ekel. „Merkwürdig! Wie kommt
+meine Tochter zu der Sehnsucht nach Geld?! Es schafft
+ungesunde Zustände, wenn durch Generationen Kapital
+auf Kapital aufgehäuft wird. Wer kein Geld hat, soll
+welches zu erwerben trachten, und wer es hat, soll
+es ausgeben. – Du hast doch nicht nötig, Geld zu
+verdienen. Versteh’ mich nicht falsch. Ich fände es
+nicht im mindesten unehrenhaft oder nicht standesgemäß,
+wenn meine Tochter gegen Bezahlung
+arbeitete, ich würde dir das gern zugestehen – wenn
+du es müßtest. Aber das Reizvollste, was das Leben
+bietet, sind doch nun einmal die brotlosen Künste. Wer
+soll sich ihnen widmen, wenn nicht der, der auskömmlich
+zu leben hat? Sollen sie alle vernachlässigt werden,
+weil auch der Wohlhabende kein anderes Streben hat,
+als Geld zu verdienen?“
+</p>
+
+<p>
+„Du hast vollkommen recht, Papa,“ sagte Mette
+gequält. „Aber es ist für einen erwachsenen Menschen
+schrecklich, wenn er um jeden Pfennig bitten muß.
+Wenn ich ein Paar Handschuhe brauche, dann geht
+Tante Emilie mit mir und kauft sie. Und wenn ich
+graue haben möchte, nimmt sie braune. Und wenn
+ich welche für sechs Mark fünfzig haben möchte, nimmt
+<a id="page-145" class="pagenum" title="145"></a>
+sie welche für sechs Mark fünfundzwanzig. Und ich
+darf nichts sagen, weil ich ja tatsächlich nicht imstande
+bin, mir fünfundzwanzig Pfennige zu verdienen. Das
+ist doch ein schrecklich beschämendes Gefühl.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber du hast doch Geld,“ sagte Rudloff eigensinnig.
+„Wozu willst du etwas verdienen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe es <em>nicht</em>,“ sagte Mette ungeduldig.
+„Ich höre immer, daß ich reich bin und habe <span class="antiqua">de facto</span>
+nicht einen Pfennig zur Verfügung.“
+</p>
+
+<p>
+„Sei doch froh,“ beharrte Rudloff. „Danke doch
+Gott, wenn alle deine Bedürfnisse befriedigt werden,
+ohne daß das Geld durch deine Finger geht. Deine
+Mutter hat sich immer geweigert, Geld anzufassen.
+Aber wenn du gern –“ er räusperte sich verlegen –
+„wenn du gern etwas nach deinem Geschmack auswählen
+möchtest, so verstehe ich das ja vollkommen.“
+(Das verstand er wirklich.) „Du kannst ja dann in
+Geschäfte gehen, wo man mich kennt und kannst die
+Rechnungen ins Haus schicken lassen. Solange sich
+das in vernünftigen Grenzen hält, wird ja kein
+Mensch etwas dagegen haben.“
+</p>
+
+<p>
+„Und was soll ich mit meiner freien Zeit anfangen?“
+fragte Mette unüberzeugt.
+</p>
+
+<p>
+„Lernen, studieren! Nimm Unterricht in fremden
+Sprachen! Höre Vorträge über Literatur und Kunstgeschichte!
+Da bist du meiner Unterstützung immer
+<a id="page-146" class="pagenum" title="146"></a>
+sicher. Zu diesem Zweck kannst du auch meine Börse
+in Anspruch nehmen, soviel es dir beliebt. Das weißt
+du!“ – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Herbstlicher Regen prasselte auf das Blech der
+Fenstersimse.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Olga hatte die Vorhänge zugezogen und zusammengesteckt.
+In dem sanften Lichtkreis der buntverschleierten
+Lampe schwebte und wallte der bläuliche
+Nebel der Zigaretten.
+</p>
+
+<p>
+Olga lag auf dem Diwan, bäuchlings, die Ellbogen
+in einen Berg zerdrückter Seidenkissen gestützt. Im
+Sessel kauerte Mette mit hochgezogenen Füßen, und
+auf dem Schreibtischstuhl hockte Peterchen.
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ sagte Mette trübselig. „Ich hatte so schöne
+Pläne und nun wird wieder nichts daraus. Ich
+wollte so gerne irgendeinen Beruf ergreifen und Geld
+verdienen. Aber mein Vater sagt, ich hätte genug.“
+</p>
+
+<p>
+„Sei doch froh,“ sagte Olga. „Es gibt nichts Angenehmeres,
+als Geld zu haben und es auszugeben.
+Und nichts Widerlicheres, als es zu brauchen und
+nicht zu haben.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich hab’ es doch aber nicht!“ widersprach Mette.
+„Das ist’s ja eben! In der Theorie hab’ ich es! In
+der Praxis brauch’ ich es und hab’ es nicht!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-147" class="pagenum" title="147"></a>
+„Du brauchst es!“ sagte Olga entrüstet. „Lächerlich!
+Wozu denn? Um mir Orchideen mitzubringen. Wenn
+ich Tante Emilie wäre, ich würde dir ja dein Taschengeld
+entziehen. Wenn <em>ich</em> noch auf solche phantastische
+Ideen käme. Geld zu verdienen, mein’ ich. Geld
+verdienen zu wollen, wenn wir uns korrekt ausdrücken
+wollen.“
+</p>
+
+<p>
+„Du hättest es sicher leicht!“ sagte Peterchen. „Du
+mit deinen eminenten Begabungen!“
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ sagte Olga ironisch. „Es fehlen mir bloß die
+Leute, die meine Begabung anerkennen. Ich könnte
+mich bei einem großen Modeatelier engagieren lassen
+und sagen: ‚Bitte, macht das so und macht das so!‘
+Aber man darf mich nicht zwingen, jemals eine Nadel
+anzurühren. Ich könnte auch zu einem Bildhauer
+oder Maler gehen und ihm sagen, wie er’s machen
+müßte. Oder ich könnte Theaterkritiker werden.“
+</p>
+
+<p>
+„Du könntest schreiben,“ sagte Peterchen. „Du hast
+sicher Talent dafür.“
+</p>
+
+<p>
+„Weißt du, was ich schreiben möchte?“ Olga fuhr
+mit einem Ruck in die Höhe, „die Geschichte der Fürstin
+von Massa, die das Volk liebte; denn ich glaube nicht,
+daß sie aus feiger Angst den Fürsten bewog ... Kennst
+du sie? Es ist eine grauenhafte und wundervolle Geschichte:
+</p>
+
+<p>
+Masaniello war tot. Aber der Aufstand in Neapel
+<a id="page-148" class="pagenum" title="148"></a>
+tobte weiter. Von Madrid aus schickte man den Don
+Juan d’Austria mit einer Flotte ab. Das Volk war
+führerlos, ein Ungeheuer ohne Kopf. Die Massen
+brauchten einen Führer, sie schrien nach ihm – sie
+zogen vor den Palast des Fürsten von Massa und
+riefen nach ihm.
+</p>
+
+<p>
+Francesco Toraldo, der Fürst von Massa, war ein
+kühner und gerader und gerechter Mann. Er war
+sicher dem König und der Regierung ergeben; denn
+als die Unruhen anfingen, hatte er die Truppen des
+Vizekönigs angeführt, hatte Castelnuovo und Castel
+Sant Elmo verteidigt. Er liebte das Volk nicht. Aber
+er liebte seine schöne Frau. Und die Fürstin liebte
+das Volk. Sie bat ihren Gatten – ihren Gatten,
+den sie anbetete – die Führerschaft der Massen zu
+übernehmen.
+</p>
+
+<p>
+Sie liebte das Volk. Und sie fühlte sich von dem
+Volke geliebt. Wenn sie durch die Straßen fuhr,
+drängten sich die jauchzenden Kinder um ihren Wagen,
+und die Frauen hoben ihr die Säuglinge entgegen,
+und die Männer neigten sich tief und sahen ihr
+lächelnd nach.
+</p>
+
+<p>
+Aber sie liebte auch die Fürsten und Edlen – sie
+liebte Giuseppe Carafa, den sie ermordet hatten, und
+Diomede Carafa, der geflohen war, und dessen herrlicher
+Palast eine wüste Trümmerstätte war. Sie
+<a id="page-149" class="pagenum" title="149"></a>
+liebte alles und alle, glaube ich – weil sie Francesco
+Toraldo liebte, und weil sie glücklich war.
+</p>
+
+<p>
+Sie glaubte so unerschütterlich an Gott und an das
+Gute im Menschen. Sie hatte so unendliches Mitleid
+mit dem armen Volk, das von Gaunern und
+Wahnsinnigen in die Irre geführt wurde – sie hatte
+so felsenfestes Vertrauen auf die starken Hände Francescos,
+die die Zügel aufnehmen sollten, die am
+Boden schleiften, so felsenfestes Vertrauen, daß
+keinem, keinem mehr ein Unrecht geschehen könne,
+wenn nur Toraldo hinausträte unter die aufjauchzenden
+Massen und sagte:
+</p>
+
+<p>
+‚Folget mir nach!‘
+</p>
+
+<p>
+Francesco Toraldo übernimmt den Oberbefehl über
+die Aufständischen. Gezwungen, gegen sein innerstes
+Gefühl. Aber da er ihre Sache nun einmal zu seiner
+eigenen gemacht hat, setzt er sich auch mit ganzer Kraft
+für sie ein – wie es für seine gerade und ehrenhafte
+Natur selbstverständlich ist.
+</p>
+
+<p>
+Irgendeinem Schlächterburschen, der lieber morden
+will als Krieg führen, lieber plündern, als für geringen
+Sold arbeiten, ist Toraldo im Wege. Er beschuldigt
+ihn des geheimen Einverständnisses mit Don
+Juan und den königlichen Truppen.
+</p>
+
+<p>
+Der Pöbel, ohne ihm auch nur eine Stunde Zeit
+zu lassen, daß er sich rechtfertigen könnte, schleppt den
+<a id="page-150" class="pagenum" title="150"></a>
+vergötterten Führer auf den Fischmarkt, schlägt ihm
+auf einer Steinbank den Kopf ab, reißt ihm das Herz
+aus dem Leibe und trägt es auf silberner Schüssel nach
+dem Kloster, wo die Fürstin von Massa Zuflucht genommen
+hat. Die zitternden Nonnen verrammeln
+die Türen. Die rasenden Horden häufen Stroh
+und Holz um das Kloster und beginnen es anzuzünden.
+</p>
+
+<p>
+Da geht die schöne Fürstin von Massa durch die
+jammernden Nonnen hindurch und läßt sich die Tore
+aufriegeln und tritt hinaus und steht auf den Stufen
+und nimmt aus den Händen der Mörder auf silberner
+Schüssel das Herz des Francesco, noch dampfend von
+der Wärme seines Lebens.
+</p>
+
+<p>
+Und keiner wagt, sie anzurühren.
+</p>
+
+<p>
+Aber den Körper des Francesco Toraldo hängen sie
+an einen Galgen, und sein blutiges Haupt tragen sie
+auf einer Pike durch die Straßen der Stadt.
+</p>
+
+<p>
+Nach zwei Tagen wissen sie es alle, daß er niemals
+daran gedacht hat, sie zu verraten.
+</p>
+
+<p>
+Sie schneiden den Leichnam vom Galgen und
+waschen ihn und salben ihn und hüllen ihn in kostbare
+Seide. Mit schwarzen Floren bedecken sie die Trommeln,
+mit schwarzen Floren umwinden sie die Kerzen,
+sie schleifen die Fahnen und Standarten am Boden
+hin. Weinend und Gebete murmelnd, folgt das ganze
+<a id="page-151" class="pagenum" title="151"></a>
+Volk von Neapel dem Sarge, und über der ganzen
+Stadt hallen unablässig die klagenden Glocken.“ –
+</p>
+
+<p>
+Sie schwiegen alle drei.
+</p>
+
+<p>
+Nach einer ganzen Weile sagte Peterchen nachdenklich:
+</p>
+
+<p>
+„Weißt du, Olga, es wäre ein wundervoller Vorwurf
+für eine Tragödie. Die Szene im Palast zwischen
+dem Fürsten und der Fürstin, wenn die Menge
+draußen nach ihm schreit, und sie ihn überredet ...
+und die Szene mit den Nonnen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Schreib’ sie!“ sagte Olga kurz.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, du sollst sie schreiben!“ wehrte sich Peterchen.
+„Ich kann doch nicht!“
+</p>
+
+<p>
+„Ich kann auch nicht,“ sagte Olga schwermütig, „ich
+empfinde es als so stark, daß man kein Wort hinzuzusetzen
+braucht. Solche Dinge sind immer am schönsten,
+wie sie in jeder Chronik stehen. Ich bin nicht
+für die Kunst geboren. Ich könnte mich auch nicht
+hinsetzen und einen Wald abmalen, der nicht rauscht,
+oder eine Wiese, die nicht duftet. Ich glaube, Künstler
+sein, heißt: respektlos sein. Sich einbilden, daß man
+es besser machen könnte als das Schicksal oder die
+Natur oder die Geschichte. Wenn mir irgend etwas
+begegnet, was nach der Meinung anderer Leute wert
+wäre, beschrieben oder abgemalt oder sonst wie bearbeitet
+zu werden – ich weiß nicht – ich habe weder
+<a id="page-152" class="pagenum" title="152"></a>
+den Mut noch das Verlangen, da hineinzupfuschen.
+Es ist mir einfach zu schade dazu.“ – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+„Weißt du?“ sagte Olga das nächstemal, „ich hab’
+eine Idee! Meinst du nicht, Mette, ich könnte Sprachunterricht
+geben? Jeden Tag fünf Stunden à 2 Mark
+sind 10 Mark, davon müßte man doch eigentlich leben
+können, wenn man sich sehr einrichtet.“
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+„Eine reizende Idee!“ sagte Mette entrüstet.
+„Erstens sehe ich dich von zehn Mark täglich leben,
+und zweitens hab’ ich dann überhaupt gar nichts
+mehr von dir!“
+</p>
+
+<p>
+„Darüber kannst du dich allerdings beklagen!“ sagte
+Olga lachend, „du bist ja auch nur jeden Tag, den
+Gott werden läßt, von morgens bis mittags und von
+nachmittags bis abends mit mir zusammen.“
+</p>
+
+<p>
+„Wenn es dir zuviel ist,“ – Mette war ernstlich
+etwas gekränkt – „dann brauchst du es ja nur zu
+sagen.“
+</p>
+
+<p>
+„Hab’ keine Angst,“ sagte Olga beruhigend, „ich
+kann mich wehren. Wenn ich einen Menschen los
+sein will, werd’ ich deutlich!“
+</p>
+
+<p>
+„Gott sei Dank! Wenn ich mich darauf verlassen
+kann. Aber jetzt habe ich wirklich eine Idee: wir
+werden das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden.
+<a id="page-153" class="pagenum" title="153"></a>
+Du kannst <em>mir</em> die fünf Stunden täglich Unterricht
+in fremden Sprachen erteilen, und ich werde mir von
+meinem Vater das Geld dafür geben lassen – auf
+seinen eigensten Wunsch.“ – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Es ging nicht ganz so glatt, wie Mette es sich gedacht
+hatte. Tante Emilie suchte die Sprachlehrer
+selber aus – ein paar sehr würdevolle ältere Damen
+– ein vierundsechzigjähriger Professor schien ihr schon
+bedenklich, weil er unverheiratet war, und sie ging
+selber mit Metten hin und meldete ihre Nichte an.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Dadurch hatte Mette nachher die peinliche Aufgabe,
+den Unterricht wieder abzusagen.
+</p>
+
+<p>
+Wenigstens hatte sie es erreicht, daß der Vater ihr
+das Stundengeld übergab und nicht – wie er wollte
+– es per Postscheck zahlte oder durch die Bank überweisen
+ließ.
+</p>
+
+<p>
+Olga nahm es sehr genau mit den Stunden. Sie
+hielt sie mit gewissenhaftester Pünktlichkeit ein und
+gab sich streng und pedantisch als Lehrerin. Mette
+lernte mit Feuereifer, um ihre Ansprüche zu erfüllen.
+</p>
+
+<p>
+Soweit ging alles wie geplant, nur daß Olga nicht
+daran dachte, sich einzurichten und von dem Stundengeld
+zu leben.
+</p>
+
+<p>
+Es kamen so wundervolle, durchsonnte Oktobertage.
+<a id="page-154" class="pagenum" title="154"></a>
+Und es machte so unbändiges Vergnügen, im
+offenen Auto durch den flammenden Wald zu jagen,
+nach Wannsee oder die Heerstraße hinunter, irgendwo
+an die breite blaue Havel.
+</p>
+
+<p>
+Natürlich sahen sie ein, daß sie sich das eigentlich
+nicht leisten durften, das heißt, Olga sah es ein, und
+wenn sie wieder Waldsehnsucht hatten, fuhren sie mit
+dem Vorortzug dritter Klasse, um zu sparen, und
+ließen sich in der denkbar schlechtesten Luft geduldig
+schieben und drücken.
+</p>
+
+<p>
+Aber am anderen Tag hatten sie einen unbezwinglichen
+Hunger nach Musik, und in der Oper gab es
+„Tristan“ und natürlich nur noch die teuersten Plätze.
+Auf solche Weise ließen sich nicht gut Ersparnisse
+machen. – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Sie fuhren am frühen Nachmittag nach Wannsee.
+Weil es ja eigentlich „Stunde“ sein sollte, sprachen
+sie in der Bahn Italienisch miteinander, im gedämpften
+Ton. – Es war vielleicht deswegen, daß
+der Herr in dem braunen Überzieher ihnen gegenüber
+immer über den Rand seiner Zeitung schielte und sich
+augenscheinlich bemühte, ein Wort von ihrer Unterhaltung
+aufzufangen.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Metten machte das Spaß. Sie empfand einen
+geradezu kindischen Stolz, wenn sie bemerkte – was
+oft geschah – daß Olga beobachtet wurde. Sie
+<a id="page-155" class="pagenum" title="155"></a>
+nahm es keinem Menschen übel, wenn er ihre schöne
+Freundin in der ungezogensten Weise anstarrte. Sie
+hätte manchmal direkt sagen mögen: „Ja, seht sie euch
+nur an! Ist sie nicht schön? Und das darf ich alle
+Tage sehen, alle Tage!“
+</p>
+
+<p>
+Und dann betrachtete sie sie wieder, als sähe sie sie
+zum erstenmal, und die reinen edlen Linien ihres
+Profils, die lässig-anmutigen Bewegungen ihrer
+königlichen und doch geschmeidigen Gestalt, der bezaubernde
+Klang ihrer tiefen Stimme – alles erfüllte
+sie immer wieder mit einem Entzücken, das an Andacht
+und Rührung grenzte. – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Sie bummelten durch die Straßen, bewunderten die
+Gärten in ihren wunderbar leuchtenden Herbstfarben
+und suchten sich eine Villa aus. Das taten sie oft auf
+ihren Spaziergängen.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Und wenn sie ein Haus gefunden hatten, das ihnen
+gefiel – aber auch der Garten mußte danach sein, und
+die Garage und die Spitzengardinen an den Fenstern
+– dann konnte es Olga plötzlich einfallen zu sagen,
+daß sie eigentlich noch eine Abendgesellschaft größeren
+Stils geben müßten – vor ihrer Abreise nach Kairo –
+und Mette sollte doch mit Schmidt telephonieren, der
+Blumen wegen, und dann kam eine lange Beratung,
+in welcher Farbe sie diesmal den Tafelschmuck nehmen
+sollten. – Und sie einigten sich auf blaßlila Treibhausflieder
+<a id="page-156" class="pagenum" title="156"></a>
+und Orchideen und was es sonst noch in
+der Farbe gab. Aber dann konnten sie nicht das
+Sèvres-Porzellan nehmen; denn das Kobaltblau vertrug
+sich nicht mit hellila – und ob sie das Essen bestellen
+oder alles im Hause machen ließen? Ob sie sich
+vom Grafen Oriola seinen französischen Koch ausleihen
+sollen? Dann wurde die Speisenfolge beraten
+und die Weine dazu. Aber das hübscheste war immer
+die Liste der Gäste aufzusetzen und Tischordnung zu
+machen.
+</p>
+
+<p>
+Gerhart Hauptmann sollte Julia Culp zu Tisch
+führen.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, er muß <em>dich</em> doch führen,“ bestimmte Mette.
+„Du bist doch die Hausfrau!“
+</p>
+
+<p>
+„Ich?“ sagte Olga. „Nein, das bist du doch!“
+</p>
+
+<p>
+Sie standen vor einem breiten schmiedeeisernen
+Portal und sahen in einen wunderschönen Garten.
+</p>
+
+<p>
+„Schade,“ sagte Olga mit einem bewundernden
+Blick auf die breite Terrasse, „es ist schon zu spät, um
+im Freien decken zu lassen. Aber nächstes Jahr müssen
+wir in einer Juninacht ein Gartenfest geben – hier
+auf der Terrasse essen – und plötzlich erscheinen auf
+dem Wasser lauter kleine Barken, ganz, ganz voll
+Rosen, jede mit einer bunten Lampe, und alle Gäste
+steigen in die Boote, immer zwei, und fahren hinaus,
+wohin sie wollen, auf das weite, dunkle Wasser ...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-157" class="pagenum" title="157"></a>
+„Und mit wem möchtest du mir davonfahren?“
+fragte Mette mißtrauisch.
+</p>
+
+<p>
+Olga stampfte mit dem Fuß auf. „So seid ihr
+nun!“ sagte sie mit Empörung flammenden Augen.
+„Willst du dir jetzt vielleicht den Tag verderben, weil
+ich dir davonfahren könnte, wenn wir in dieser Villa
+ein Gartenfest geben. Wenn man sich schon etwas
+Unsinniges ausdenkt, dann muß es doch wenigstens
+etwas Schönes sein.“
+</p>
+
+<p>
+Ein Herr in braunem Überzieher streifte sehr dicht
+an ihnen vorüber und sah sich in einiger Entfernung
+mit einer merkwürdig vorsichtigen Geste nach ihnen um.
+</p>
+
+<p>
+„Das war der Mann aus der Bahn,“ sagte Mette.
+„Der hält dich für eine schöne Römerin und möchte für
+sein Leben gern mit dir anbandeln. Ich glaube, ich
+werde diskret sein und mich zurückziehen.“
+</p>
+
+<p>
+Olga fuhr bei Mettes ersten Worten zusammen.
+</p>
+
+<p>
+„Wir wollen umkehren!“ sagte sie hastig. „Trinken
+wir oben bei Schultheiß Kaffee. Der geht jetzt sicher
+nach dem schwedischen Pavillon, und ich habe keine
+Lust, ihm nachzulaufen.“
+</p>
+
+<p>
+Mette lachte hell auf. „Meinetwegen kannst du!
+So hab’ ich mir den nicht vorgestellt, mit dem du mir
+davongehst! Einen so perversen Geschmack hätt’ ich dir
+nicht zugetraut! Aber da du so vor ihm fliehst, scheint
+es gefährlich.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-158" class="pagenum" title="158"></a>
+Olga antwortete mit keinem Wort, mit keinem
+Lächeln auf Mettens Neckereien. Sie preßte die
+Lippen aufeinander, zog die Brauen zusammen und
+ging so rasch, ein wenig vornüber geneigt, den Kopf
+gesenkt, die Schultern hochgezogen, als liefe sie vor
+einer unsichtbaren Peitsche.
+</p>
+
+<p>
+Sie saßen oben beim Schultheiß und tranken ihren
+Kaffee. Aber Olgas gute Laune schien verflogen. Sie
+saß da, beide Hände in den Jackentaschen vergraben,
+als ob sie fröre und war zerstreut und einsilbig.
+</p>
+
+<p>
+Sie hatte sich eben mit einem: „Du entschuldigst,
+ich <em>muß</em> rauchen“, eine Zigarette angezündet, als
+Mette den Herrn im braunen Überzieher in den Garten
+treten sah. Er stand einen Augenblick still, ließ einen
+prüfenden Blick über alle Tische gleiten, ging dann in
+entgegengesetzter Richtung, um nach einem weiten
+Bogen plötzlich wieder in ihrer Nähe aufzutauchen
+und, zwei, drei Tische von ihnen entfernt, Platz zu
+nehmen.
+</p>
+
+<p>
+Metten erschien das sehr komisch.
+</p>
+
+<p>
+„Der Mann aus der Bahn!“ frohlockte sie laut.
+„Jetzt ist es klar, Olga, du hast es ihm angetan.“
+</p>
+
+<p>
+„Schweig’!“ sagte Olga hart. Und dann, als sie
+Mettens bestürztes Gesicht sah – wie mühsam gebändigt,
+mit schwergehendem Atem: „Er kann dich ja
+hören, Kind!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-159" class="pagenum" title="159"></a>
+Sie nahm die eben angerauchte Zigarette mit einer
+zornigen Bewegung aus dem Mundwinkel, preßte die
+Brandfläche gegen den Teller und drehte und drückte
+so lange mit nervösen Fingern daran herum, bis der
+Tabak aus dem zerrissenen Papier rieselte.
+</p>
+
+<p>
+Mette fühlte, daß irgend etwas vorging, was sie
+nicht verstand. Eine dumpfe Beklommenheit schien
+plötzlich in der Luft zu liegen, teilte sich ihr mit und
+machte sie angstvoll und unsicher.
+</p>
+
+<p>
+Nach einer kleinen Weile stand Olga auf. Mette
+griff nach ihrem Hut, der neben ihr auf dem
+Stuhl lag.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, laß!“ sagte Olga sehr bestimmt und lauter,
+als es sonst ihre Art war. Sie haßte es, in öffentlichen
+Lokalen, auf der Straße, in der Bahn so laut
+zu sprechen, daß auch nur der nächste Nachbar sie verstehen
+konnte. „Wir bleiben doch noch. Ich will nur
+eben telephonieren. Ich bin gleich wieder da.“
+</p>
+
+<p>
+Mette wartete geduldig. Olga kam nicht wieder.
+</p>
+
+<p>
+Schließlich fing sie an, sich zu ängstigen. Wenn ihr
+schlecht geworden wäre? Sie sah sie schon irgendwo
+hilflos, ohnmächtig liegen.
+</p>
+
+<p>
+Sie lief ins Haus. Am Telephon war sie nicht.
+Wie sie sich suchend umsah, kam der Kellner, der sie
+bedient hatte, hinter ihr her. Sie suche wohl die
+andere Dame? Die hätte gezahlt und wäre gegangen
+<a id="page-160" class="pagenum" title="160"></a>
+– aber sie hätte einen Zettel am Büfett hinterlassen.
+</p>
+
+<p>
+Mette holte sich den Zettel. Ja, die Dame hätte
+telephoniert und hätte nach dem nächsten Zug gefragt
+und wäre sehr eilig fortgegangen. Sie hätte nur noch
+dies hier aufgeschrieben. Der Kellner hätte es hinausbringen
+wollen, aber sie hätte gesagt, es wäre
+nicht nötig, die Dame würde es sich schon holen.
+</p>
+
+<p>
+Mette dankte und lächelte und tat, als ob das alles
+die natürlichste Sache von der Welt wäre und wunderte
+sich, wie gut sie ihre Angst und Aufregung beherrschen
+konnte.
+</p>
+
+<p>
+Sie ging erst ein paar Schritte weiter, ehe sie die
+verschlossene Hülle aufriß. Auf dem Bogen standen
+nur wenige Worte.
+</p>
+
+<p>
+„Sei nicht bös, ich mußte fort. Wenn du kannst,
+komm abends zu mir. Aber nicht direkt, fahr erst nach
+Hause.“
+</p>
+
+<p>
+Mette faltete das Blatt zusammen und schob es
+mechanisch in die Tasche. Sie ging langsam und mit
+schweren Füßen wieder durch den Garten und an
+ihren Platz.
+</p>
+
+<p>
+Sie versuchte, sich von ihren Gedanken und Empfindungen
+Rechenschaft zu geben.
+</p>
+
+<p>
+Sie wäre froh gewesen, wenn sie Olgas rätselvolles
+Betragen als Laune, als Rücksichtslosigkeit hätte
+<a id="page-161" class="pagenum" title="161"></a>
+nehmen können und sich einfach darüber ärgern und
+entrüsten.
+</p>
+
+<p>
+Aber sie fühlte, daß ein Mehr dahinter war.
+Irgend etwas Dunkles, Drohendes, wovon sie nichts
+wußte. Mit wem hatte Olga gesprochen? Wer hatte
+sie so dringend fortgerufen?
+</p>
+
+<p>
+Für sie war Olga Radó das Leben, das wußte
+Mette. Alles andere war eine dumpfe Qual oder
+Vorfreude auf die Stunden, die sie mit ihr zusammen
+sein durfte, oder Erinnerung an die Stunden, die sie
+mit ihr verbracht hatte.
+</p>
+
+<p>
+Aber was war sie für Olga?
+</p>
+
+<p>
+Irgendein Nebenher, ein beiläufiger Zeitvertreib,
+eine Episode eines reichen, bunten, starken Lebens,
+eine gehorsame kleine Sklavin, ein Haustierchen, das
+man verhätschelt, ein bequemes Etwas, das man
+rufen und fortschicken kann, und das noch nicht einmal
+fragen durfte, <em>warum</em> es gerufen oder fortgeschickt
+wurde. Nichts wußte sie davon, nichts, was eigentlich
+dieses Leben erfüllte, was ihm Inhalt gab, nichts
+wußte sie von den Menschen, die für Olga Schicksal
+waren, die <em>ihr</em> den Mut zum Leben gaben, den sie
+von ihr empfing – nichts wußte sie von dem, der
+sie jetzt fortgerufen hatte, dem sie folgte, ohne daran
+zu denken, daß sie der armen kleinen Mette den Tag
+zerstörte, auf den sie sich so gefreut.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-162" class="pagenum" title="162"></a>
+Mette konnte sich nicht zum Heimweg entschließen.
+Sie trug ihren Hut in der Hand und ging in tiefen und
+traurigen Gedanken an den Ufern des Sees entlang.
+</p>
+
+<p>
+Erst die plötzlich einfallende Dämmerung weckte sie
+auf und trieb sie nun in Hast dem Bahnhof zu.
+</p>
+
+<p>
+Im Moment, als sie im Begriff war, auf dem
+Bahnsteig eine Wagentür des einfahrenden Zuges zu
+öffnen, fühlte sie einen Blick, der sie zwang, sich umzuwenden.
+</p>
+
+<p>
+Sie sah in das völlig ausdruckslose Gesicht des
+Mannes in dem braunen Überzieher. Er öffnete die
+Tür zum Nebenabteil und stieg in den Zug.
+</p>
+
+<p>
+Mette erschrak tödlich und wußte nicht warum.
+Dieser Mann lief nicht hinter ihr her, weil er Gefallen
+an ihr fand. Das wußte sie deutlich. War es
+Zufall? Was in aller Welt konnte es sonst für einen
+Zweck haben? Plötzlich faßte sie ein unerklärliches
+Grauen. Er hatte so ein merkwürdig leeres Gesicht
+und einen starren und dabei doch scheuen Blick. Vielleicht
+war es ein Irrsinniger. Einer, der irgendwo
+entsprungen war.
+</p>
+
+<p>
+Am Bahnhof Zoo bemühte sie sich, unter der drängenden
+Menschenmenge sich zu verstecken. Aber sie
+fühlte den Fremden unentwegt hinter sich. Ihr schien
+es, als klammerte sich seine Hand in der Manteltasche
+um einen Revolver oder um ein Stilett. In jedem
+<a id="page-163" class="pagenum" title="163"></a>
+Augenblick konnte das blitzende Eisen oder die Kugel
+sie in den Rücken treffen. Sie fühlte schon den
+scharfen Schmerz zwischen den Schulterblättern und
+preßte unwillkürlich die Rückenmuskeln zusammen.
+</p>
+
+<p>
+Während sie die dämmerigen Straßen hinunterjagte,
+wagte sie nicht, sich umzusehen. Erst, als sie
+das Haus aufschloß, spähte sie die Straße hinunter.
+Er war natürlich nicht gefolgt. Es war alles eine
+lächerliche Einbildung.
+</p>
+
+<p>
+Als sie innen im Treppenflur stand, warf sie noch
+einen Blick durch die Glasscheibe der Tür.
+</p>
+
+<p>
+Auf der anderen Seite der Straße, das Haus von
+oben bis unten aufmerksam betrachtend, ging der
+Mann in dem braunen Überzieher. – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Die Tischunterhaltung quälte sich mühsam hin.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Als Mette mit Essen fertig war, sagte sie (sie hatte
+es sich zur Gewohnheit gemacht, sich mit allen Sachen
+ausdrücklich an ihren Vater zu wenden):
+</p>
+
+<p>
+„Du erlaubst doch, Papa, daß ich noch eine Stunde zu
+meiner Freundin gehe? Ich bin um zehn wieder hier.“
+</p>
+
+<p>
+Da geschah etwas Seltsames. Franz Rudloff legte
+eine zur Faust geballte Hand auf den Tisch, richtete
+den Oberkörper ein wenig aus seiner zusammengesunkenen
+Haltung auf und sagte:
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-164" class="pagenum" title="164"></a>
+„Mette!“ ... so, als wenn er zu einer längeren
+Rede ansetzen wollte.
+</p>
+
+<p>
+Da traf ihn ein Blick von Tante Emilie. Mette
+fühlte diesen Blick die Luft durchschneiden und fing
+ihn noch auf. Es war ein kurzer und scharfer Blick,
+befehlend und fast erschrocken, ein Blick, der unzweideutig
+hieß: „Schweig!“
+</p>
+
+<p>
+Franz Rudloff fiel wieder in sich zusammen, schlug
+die Augen nieder, rollte seinen silbernen Serviettenring
+hin und her und sagte:
+</p>
+
+<p>
+„Gewiß, ... also ja ... wenn du meinst ...
+schön!“
+</p>
+
+<p>
+Mette fühlte, daß auch hier irgendwas vorging,
+wovon sie nichts wußte. Das verursachte ihr weder
+Angst noch Schmerz – aber ein peinvolles Unbehagen.
+</p>
+
+<p>
+Die Welt war heute fremd und rätselhaft. Sie
+spürte plötzlich Moorboden unter den Füßen und
+wußte nicht, wie sie die Schritte setzen sollte. Olga
+hätte sie heute nicht verlassen dürfen, nicht heute, nicht
+an diesem Tage.
+</p>
+
+<p>
+Eine heiße, schmerzhafte Sehnsucht quoll in ihr
+auf, wie schon sooft, stark wie ein mühsam unterdrückter
+Schrei:
+</p>
+
+<p>
+„Mutter!“ – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+<a id="page-165" class="pagenum" title="165"></a>
+Unterwegs waren ihre Gedanken nur noch bei Olga.
+Was da geschehen sein mochte? Ob sie das wenigstens
+erfahren würde? Vielleicht war jemand krank? Verunglückt?
+Jemand, der Olga nahestand. Vielleicht
+konnte sie sich irgendwie betätigen, helfen. Sie fühlte
+die Kraft, jede Anwandlung von Eifersucht zu unterdrücken,
+sich selbst zu vergessen und hintanzusetzen,
+wenn man sie nur teilnehmen ließ an dem, was geschah
+und nicht alle Türen vor ihr zuschlug. Das
+hatte sie nicht verdient, es gab so qualvolle Unrast –
+jeder schneidende Schmerz war zehnmal besser als
+dieses hilflose Im-Dunkeln-Tappen.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Während Mette die Stufen hinaufstieg, fühlte sie
+sich irgendwie kampfgerüstet. Sie wollte es Olga
+sagen, daß sie das nicht mehr ertrug. Ertrug? Nein,
+daß sie es sich nicht mehr gefallen lassen wollte, daß
+sie kein dummes Kind sei, das man ohne ein Wort
+der Erklärung einfach sitzen lassen könne – daß alle
+diese Dinge sie nervös machten – oh, so nervös!
+Und daß ihr – bei Gott! – nächstens auch einmal
+die Galle überlaufen werde!
+</p>
+
+<p>
+Olga hatte noch einen Schleier über die Lampe gehängt,
+so daß eine matte, violette Dämmerung im
+Zimmer war. Sie lag auf dem Diwan, bis an die
+Schultern in ihre große Felldecke gewickelt.
+</p>
+
+<p>
+Als Mette sich zu ihr setzte, spürte sie, daß sie zitterte
+<a id="page-166" class="pagenum" title="166"></a>
+wie vor Frost. Da war all der Zorn und Trotz,
+der noch in dem kalten „Guten Abend“ gelegen
+hatte, verflogen. Sie legte die Hand auf ihre
+Stirn:
+</p>
+
+<p>
+„Hast du Fieber?“ fragte sie besorgt.
+</p>
+
+<p>
+Olga schüttelte nur den Kopf. Es schien, als ob
+ihr irgend etwas in der Kehle saß, was sie am
+Sprechen hinderte.
+</p>
+
+<p>
+Dann machte sie plötzlich mit einer ungeduldigen
+Bewegung beide Arme von der Decke frei und griff
+nach Mettens Händen.
+</p>
+
+<p>
+„Du bist mir böse, Kind!“ sagte sie hastig, wie gejagt.
+„Du hast ja auch allen Grund. Verachtest du
+mich? Du kannst mich ruhig verachten. Ich bin ja
+so feige, Mette, so erbärmlich feige! Ach, Kind, du
+kannst alles von mir verlangen, ich will dich aus
+einem brennenden Haus holen – dich?! Ach! Einen
+Hund, ein Spielzeug, an dem dir liegt – ich will
+durchgehende Pferde aufhalten, ich will – ach, ich
+weiß nicht, was ich will – aber darin bin ich feige.
+Ich kann es nicht noch einmal durchmachen in meinem
+Leben, ich kann es nicht. Du weißt nicht, was ich
+ausgestanden habe. Ich habe nächtelang dagesessen
+mit dem geladenen Revolver und habe gesagt: Tu’s,
+tu’s, damit nicht wieder so ein Tag kommt ... und
+dann war das Leben wieder so wahnsinnig schön, und
+<a id="page-167" class="pagenum" title="167"></a>
+ich hab’s nicht getan. Dann bin ich stundenlang in
+der Galerie herumgelaufen und habe vor allen Bildern
+gestanden und gestarrt und nichts gesehen. Und
+immer den Blick in meinem Rücken gefühlt. Dann bin
+ich nach Mödling hinausgefahren, wie ich eingestiegen
+bin, der Mann hinter mir, wie ich ausgestiegen
+bin, der Mann hinter mir – ach, ich weiß, einmal
+bin ich in meiner Verzweiflung in ein fremdes
+Haus hineingelaufen, alle Treppen hinauf, und hab’
+immer gedacht, ich will klingeln und die Menschen
+bitten, sie sollen mich um Gottes und aller Heiligen
+willen eine Stunde in ihrer Wohnung behalten. Oder
+ich wollte ihnen etwas erzählen von irgendwelchen
+Leuten, die sie grüßen lassen – die mich hinschicken
+– und dann dacht ich, sie halten mich sicher für
+geisteskrank oder für eine Schwerverbrecherin und
+lassen mich erst recht festnehmen. Und dann bin ich bis
+auf den Boden gelaufen und bin da oben herumgeirrt
+und habe geheult wie ein kleines Kind. Und wie ich
+mich endlich hinuntergetraut habe, stand der Kerl
+immer noch da und starrte auf die Haustür. O Mette,
+in der Zeit hab’ ich immer die ganzen Nächte das Licht
+brennen lassen, weil ich im Dunkeln überall das Gesicht
+gesehen habe.“
+</p>
+
+<p>
+Mette hielt Olgas eiskalte, unruhige Hände in
+den ihren fest.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-168" class="pagenum" title="168"></a>
+„Wessen Gesicht?“ fragte sie leise und verwirrt, als
+Olga schwieg. „Ich verstehe dich nicht, Liebes.“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist gut, Kind!“ sagte Olga. „Das ist ja so
+gut! Sonst hätt’ ich dich ja auch nicht allein gelassen.
+Aber dir konnte ja nichts geschehen. Dir konnte ja
+gar nichts geschehen! Bist du nach Hause gegangen?
+Ja? Wann? Gleich? War er noch da? Hat er dich
+nach Hause gehen sehen?“
+</p>
+
+<p>
+Nun fiel Metten die Erinnerung an den Heimweg
+wieder wie eine Last aufs Herz. Die Erinnerung an
+den Heimweg, die Erinnerung an den verdorbenen Tag.
+</p>
+
+<p>
+Sie ließ Olgas Hände los.
+</p>
+
+<p>
+„Vielleicht darf ich auch mal fragen,“ sagte sie,
+„ich bin doch schließlich kein kleines Kind, das einfach
+alles hinnehmen muß und dem man sagen kann: das
+verstehst du nicht. Ich hab’ es bis <em>dahin</em> satt, mich
+ewig von Geheimnissen umgeben zu fühlen. <em>Was</em>
+hätte mir geschehen sollen? Was hat es für eine Bewandtnis
+mit diesem Mann? Kennst du ihn persönlich?
+Aus Wien? Und woher? Ich meine, was hast
+du für Beziehungen zu ihm?“
+</p>
+
+<p>
+Mette wunderte sich selbst, woher sie die Kühnheit
+hatte, in einem so strengen und schulmeisterlichen Ton
+zu reden.
+</p>
+
+<p>
+„Unsinn!“ sagte Olga mit einem nervösen Lachen.
+„Doch nicht <em>den</em>! Das ist doch nicht derselbe!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-169" class="pagenum" title="169"></a>
+„Nicht derselbe?!“ sagte Mette beinah ärgerlich,
+mit hochgezogenen Brauen. „Was heißt das wieder?
+Wer nicht derselbe? Nicht derselbe was?“
+</p>
+
+<p>
+„Laß mich doch in Ruh,“ sagte Olga böse, „ich laß
+mich nicht inquirieren! Du kannst mir ja gleich
+Daumenschrauben anlegen. Wenn du mich nicht mehr
+leiden magst, dann geh! Ich halt’ dich nicht! Ich
+halt’ keinen Menschen! Aber laß mich in Ruh!“
+</p>
+
+<p>
+Sie sprach zornig, aber mit einer seltsam vibrierenden
+Stimme und suchte unter dem Berg von Kissen
+nach ihrem Taschentuch.
+</p>
+
+<p>
+Als sie es gefunden hatte, riß es ihr Mette mit einer
+halb unwillkürlichen Bewegung aus den Fingern.
+Der kleine weiße Ballen war fest zusammengedrückt
+und ganz feucht.
+</p>
+
+<p>
+„Hast du geweint?“ fragte Mette in grenzenlosem
+Erstaunen.
+</p>
+
+<p>
+„Darf ich das nicht?“ fragte Olga trotzig zurück,
+und über ihr Gesicht, das von Blässe fahl schien, flog
+wieder das dunkle Rot.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, ich weiß, ich darf mir das nicht leisten. Ich
+bin hysterisch. Ich bin überspannt. Es ist mir ja <em>so</em>
+egal, wofür du mich hältst. Wenn mir danach zumute
+ist, dann wein’ ich eben!“
+</p>
+
+<p>
+Sie versuchte umsonst, die zitternden Lippen aufeinander
+zu pressen. Aus den Augen, deren übergroße
+<a id="page-170" class="pagenum" title="170"></a>
+Pupille schwarz die ganze Iris überdeckte, stürzten die
+Tränen und fluteten über die weißen Wangen. Sie
+versuchte, den Kopf nach der Wand zu drehen. Aber
+Mette hielt sie fest. Sie wußte selbst nicht, woher ihr
+der Mut kam.
+</p>
+
+<p>
+Nie war Olga ihr gegenüber zärtlich gewesen. Nie
+hatte Mette es gewagt, zärtlich zu sein.
+</p>
+
+<p>
+Aber als sie das schöne blasse Gesicht jetzt vor sich
+sah, tränenüberströmt, zerwühlt von einem fremden
+Schmerz, mit den großen, tiefen Augen, die schrien
+von einer mühsam verborgenen Qual, da quoll das
+heiße Mitleid in Mettens Herzen über, sie preßte die
+Lippen auf diese nassen Wangen, die nassen Augen,
+den armen zitternden Mund.
+</p>
+
+<p>
+„Nicht weinen, Süßes,“ bat sie leise, selbst mit den
+Tränen kämpfend. „Nicht weinen, Liebes, ich frag’
+ja nicht mehr, ich will ja nichts wissen. Nur nicht
+mehr traurig sein. Tu mir an, was du willst, aber
+weine nicht so! Ich kann dich nicht weinen sehen.
+Hör’ auf, Liebes, ich bitt’ dich, weine nicht mehr!“
+</p>
+
+<p>
+Olga ließ sich zur Ruhe schmeicheln wie ein unglückliches
+Kind. Sie schloß die zitternden Augenlider und
+lächelte, während noch die Tropfen über ihr Gesicht
+rollten. Sie legte den Kopf müde in die Kissen zurück.
+Durch den ganzen schlanken Körper ging eine
+Bewegung wie ein erlöstes Sichstrecken.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-171" class="pagenum" title="171"></a>
+Sie nahm Mettens Hand und legte sie auf ihre heiße
+Stirn.
+</p>
+
+<p>
+„Gutes!“ sagte sie leise und dankbar. „Mein
+Gutes!“
+</p>
+
+<p>
+Und dann immer noch mit geschlossenen Augen hob
+sie Mettens willenlose Hand von der Stirn und legte
+die Innenfläche der kühlen Finger auf ihren Mund.
+Und hielt sie da mit beiden Händen fest, lange, lange.
+</p>
+
+<p>
+Und Mette saß ganz still und fühlte seltsam wehe
+Lust und süße Traurigkeit und horchte, wie in einem
+Traum befangen, auf das harte Pochen ihres Blutes.
+– – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Die fremden und seltsamen Begebenheiten mehrten
+sich.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Eines Tages tauchte plötzlich Onkel Jürgen in
+Berlin auf. Mette hatte für Onkel Jürgen immer
+eine besondere Vorliebe gehabt. Es war eigentlich der
+einzige unter ihren Verwandten, der durch seine stattliche
+und vornehme Erscheinung, seine betont männliche
+Haltung und einen gewissen sachlichen Ernst ihr
+gefiel, und ihr sogar Achtung abnötigte.
+</p>
+
+<p>
+Er begrüßte Mette auf eine merkwürdige Art, mit
+einer gewollten Liebenswürdigkeit, die zu sagen schien:
+ich tue ganz harmlos, du brauchst ja nicht gleich zu
+<a id="page-172" class="pagenum" title="172"></a>
+merken, weshalb ich hier bin, und was ich gegen dich
+habe.
+</p>
+
+<p>
+In Mettens feinem Gefühl wurde sofort ein Mißtrauen
+rege.
+</p>
+
+<p>
+Es steigerte sich, als sie das Knacken des Schlüssels
+vernahm, nachdem die drei – Vater, Tante Emilie
+und Onkel Jürgen – sich in das Studierzimmer zurückgezogen
+hatten.
+</p>
+
+<p>
+Sie schlossen sich ein? Was hatte das zu bedeuten?
+Galt das den Dienstboten oder galt das ihr?
+</p>
+
+<p>
+Sie hatte noch nie Interesse für die Verhandlungen
+ihrer Familie gehabt. Aber das leise Geräusch des
+Schließens hatte eine unbehagliche Neugier in ihr erweckt.
+Sie streifte ein paarmal dicht an der Tür vorüber.
+Aber sie hörte nur ein undeutliches Gemurmel.
+Es war kein Zweifel, sie flüsterten darin.
+</p>
+
+<p>
+Mette sehnte sich danach, aus der bedrückenden und
+unfreundlichen Luft des Hauses fortzukommen.
+</p>
+
+<p>
+Nach dem Essen – bei welchem nur Onkel Jürgen
+sprach, und in lauten und wohlgesetzten Worten die
+Schönheiten der kleinen Stadt und die Tugenden seiner
+Kinder pries – wagte Mette endlich die Frage:
+</p>
+
+<p>
+„Ihr legt euch doch nach Tisch alle schlafen, nicht
+wahr? Dann möchte ich vorm Kaffee noch eine Stunde
+zu meiner Freundin gehen.“
+</p>
+
+<p>
+Es entstand eine allgemeine Stille. Die drei sahen
+<a id="page-173" class="pagenum" title="173"></a>
+einander an, niemand sah Metten an, niemand antwortete.
+</p>
+
+<p>
+Vater sah mit einem unruhigen und fast hilfeflehenden
+Blick von einem zum andern, Onkel Jürgen
+trommelte auf den Tisch und sah erwartungsvoll aus,
+Tante Emilie räusperte sich und verzog die Winkel des
+zusammengekniffenen Mundes zu einer süßlichen
+Grimasse, die ein freundliches Lächeln vorstellen sollte.
+</p>
+
+<p>
+Niemand sprach. Tante Emilie wollte sich nicht vordrängen.
+Sie hielt mit der Antwort zurück und
+wartete, ob nicht einer der beiden Herren das Wort
+ergreifen wollte. Aber sie schwiegen und sahen nicht
+aus, als ob sie gedächten, in der nächsten Minute die
+peinliche Stille zu unterbrechen.
+</p>
+
+<p>
+Also war es an ihr, also durfte sie reden. Sie reckte
+sich auf und legte das Gesicht in Falten, die inniges
+Mitleid und eine ernste Besorgnis ausdrücken sollten.
+Aber Metten schien es, als ob die kleinen scharfen Äuglein
+funkelten, als ob der steif gestreckte magere Oberkörper
+zitterte in einer bösen Freude.
+</p>
+
+<p>
+„Das wirst du wohl ausnahmsweise heute unterlassen
+müssen, mein liebes Kind!“ sagte sie mit
+sanftem Tonfall und messerscharfer Stimme. „Wir erwarten
+Nachmittag einen Besuch, der dich aufs dringendste
+angeht.“
+</p>
+
+<p>
+„Mich?“ fragte Mette, und sah dabei ihren Vater an.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-174" class="pagenum" title="174"></a>
+Aber Rudloff deckte die Augen mit den Lidern und
+bemühte sich, ein nervöses Zucken seines Mundes zu
+unterdrücken. Er antwortete nicht.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, dich!“ sagte Tante Emilie so liebenswürdig,
+als wollte sie ihr eine große Freude verkünden.
+</p>
+
+<p>
+Mette fühlte in diesem Moment, daß irgend etwas
+Furchtbares sie bedrohte. Ihr war, als sähe sie sich
+von einem engmaschigen Netz umgeben, das in der
+nächsten Minute durch einen leisen Ruck von Tante
+Emiliens knochigen Fingern über ihrem Kopf zusammengezogen
+werden konnte.
+</p>
+
+<p>
+Sie hatte die Empfindung, als ob alle Türen verschlossen,
+durch Wachen verstellt seien, und als ob
+nichts sie mehr retten könne, als im selben Augenblick,
+ohne Zögern, ohne Überlegung aus dem Fenster zu
+springen – und, was die Lunge hergab – durch die
+Straßen zu laufen, zu rasen, in wildester Flucht, zu
+Olga.
+</p>
+
+<p>
+Sie wurde blaß und machte eine halbe Bewegung.
+Es war nicht einmal eine halbe, es war nur der Ansatz,
+es war nur der Wille zu einer Bewegung, der
+durch ihre Muskeln lief. Onkel Jürgen mußte es
+trotzdem bemerkt haben.
+</p>
+
+<p>
+„Na, Mette!“ sagte er in einem etwas gezwungen
+gütigen und zuversichtlichen Ton, „nur ruhig
+<a id="page-175" class="pagenum" title="175"></a>
+Blut, mein Deern. Es will dir kein Mensch an den
+Kragen. Du mußt nur Vertrauen zu uns haben und
+mußt dir sagen, daß alles, was geschieht, ausschließlich
+zu deinem Besten geschieht. Und mußt dich bemühen,
+uns ein bißchen zu unterstützen in unseren
+Bestrebungen, die nur auf dein Wohl gerichtet sind
+und nicht etwa durch kindischen Trotz uns unsere Aufgabe
+erschweren. Dann werden wir auch in gemeinsamer
+Arbeit über diese Zeit wegkommen, und du
+wirst uns später sehr dankbar sein, daß wir dich mit
+liebevoller Gewalt auf den richtigen Weg geführt
+haben. Und wirst an diese Zeit jetzt zurückdenken, wie
+an einen schweren Traum, der gar keine Bedeutung
+hat für dein späteres Leben.“
+</p>
+
+<p>
+Diese feierliche Ansprache steigerte Mettens dumpfes
+Unbehagen zu einem beinah irrsinnigen Angstgefühl.
+Das alles war fremd und unverständlich. Sie wußte,
+daß Tante Emilie jetzt nur auf eine Frage wartete,
+um mit einem Wortschwall loszubrechen. Darum
+fragte sie nicht: Was ist denn geschehen? Was wird
+denn geschehen?
+</p>
+
+<p>
+„Aus dem Fenster! Aus dem Fenster!“ war das
+einzige, was sie dachte. Und im Moment, als sie
+draußen die Flurklingel schrillen hörte, zuckte sie zusammen
+und wußte: „Jetzt ist es zu spät!“
+</p>
+
+<p>
+Das Hausmädchen kam hereingeschlichen, als käme
+<a id="page-176" class="pagenum" title="176"></a>
+sie in ein Krankenzimmer und brachte Franz Rudloff
+eine Karte.
+</p>
+
+<p>
+Seine Hand zitterte, als er sie von dem kleinen silbernen
+Tablett nahm. Er mußte sich auf den Tisch
+stützen, um aufzustehen. Sein Gesicht sah verzerrt und
+verfallen aus.
+</p>
+
+<p>
+„Haben Sie den Herrn Professor in mein Zimmer
+geführt? Ich komme!“
+</p>
+
+<p>
+Er goß sich schnell noch einen Schluck Wasser in sein
+Glas. Die hartgestärkte Manschette rasselte gegen die
+Flasche.
+</p>
+
+<p>
+Er ging hinaus mit einem sichtlichen Bemühen, gerade
+und aufrecht zu schreiten.
+</p>
+
+<p>
+Die drei blieben schweigend zurück. Mette hielt es
+nicht aus, am Tisch sitzen zu bleiben.
+</p>
+
+<p>
+Als sie aufstand, machte Onkel Jürgen eine hastige
+Bewegung, als wollte er sie zurückhalten. Aber sie
+ging nicht nach der Tür, sie machte gar nicht mehr den
+Versuch, zu entkommen. Sie ging an das Fenster und
+sah durch den geschlossenen Spitzenvorhang hindurch
+auf die Straße.
+</p>
+
+<p>
+Die eintönigen Rufe spielender Kinder drangen herauf.
+Ein Geschäftswagen rollte heran, hielt vor dem
+Haus drüben. Der Mitfahrer sprang herunter, schloß
+auf, belud sich mit Paketen und schlug die Tür mit
+scharfem Knall wieder zu.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-177" class="pagenum" title="177"></a>
+Jede Bewegung, jedes Geräusch prägte sich mit ungewohnter
+Deutlichkeit in Mettens Gehirn. Es ging
+nichts in ihr vor, als die scharfe Beobachtung dieser
+alltäglichen Dinge.
+</p>
+
+<p>
+Hinter ihrem Rücken tat die Tür sich auf. Sie hörte
+des Vaters gedrückte und etwas heisere Stimme:
+</p>
+
+<p>
+„Emilie, willst du bitte so gut sein?“
+</p>
+
+<p>
+Mette hörte das Stuhlrücken und das Rauschen der
+Röcke, ohne sich umzudrehen.
+</p>
+
+<p>
+Die Tür schloß sich wieder.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt war sie mit Onkel Jürgen allein. Jetzt hätte
+sie ihn um irgendeine Erklärung fragen sollen. Er
+war ja doch von diesen drei Menschen immer noch der
+vernünftigste. Ach, aber trotzdem, es war zwecklos.
+Er war ihr ja doch fremd, unendlich fremd.
+</p>
+
+<p>
+„Mutter!“ dachte sie, und etwas wie ein krampfhaftes
+Schluchzen quoll in ihrem Halse auf.
+</p>
+
+<p>
+„Liebe, gute Mutter, warum hast du mich allein gelassen,
+ganz allein auf der Welt?“
+</p>
+
+<p>
+„Allein!?“ Ihr war, als hörte sie stark und deutlich
+dies Wort von Olgas Stimme. Und sie sah die
+ernsten Augen forschend und beinah drohend auf sich
+gerichtet.
+</p>
+
+<p>
+Eine heiße Welle flutete über ihr Herz. Sie
+krampfte die verschlungenen Hände ineinander und
+lächelte, während ihr die Tränen in die Augen traten.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-178" class="pagenum" title="178"></a>
+„Nein, ich bin nicht allein,“ dachte sie mit einem
+so andächtigen Gefühl, als spräche sie ein Gebet, „ich
+habe dich, Liebes, Schönes, Großes. <em>Dich</em> kann mir
+das alte böse Weib nicht nehmen, dich nicht! Und
+wenn sie mich foltern und mich in Stücke reißen –
+mir kann nichts geschehen – ich hab’ ja dich!“
+</p>
+
+<p>
+Eine große Ruhe und Zuversicht kam über sie. Ihr
+war, als hätte sie einen schlimmen und gefährlichen
+Weg vor sich. Sie mußte über Moorboden gehen
+und durch Schmutz und Schlamm waten und reißende
+Wasser durchschwimmen – aber drüben stand Olga
+Radó und streckte beide Hände nach ihr und sagte:
+„Komm!“
+</p>
+
+<p>
+Und da wurde der Weg leicht und beinah lockend.
+</p>
+
+<p>
+Als jetzt die Tür ging und Vater erschien und zaghaft
+sagte:
+</p>
+
+<p>
+„Mette, komm bitte einmal her!“ hatte sie fast ein
+Gefühl von Freude. So wie einer, der gut gelernt
+hat, sich aufs Examen freut oder ein Mutiger sich auf
+den Kampf.
+</p>
+
+<p>
+Sie ging sehr gerade und fest durch das Zimmer
+und lächelte ein überlegenes und fast höhnisches
+Lächeln.
+</p>
+
+<p>
+Bei ihrem Eintritt erhob sich aus Vaters Studierstuhl
+ein schmächtiger Mann mit scharfen Zügen und
+durchdringenden Augen, in dessen wohlgepflegtem
+<a id="page-179" class="pagenum" title="179"></a>
+schwarzen Spitzbart sich einige frühe weiße Fäden
+zeigten.
+</p>
+
+<p>
+Da niemand Miene machte, ihn vorzustellen, murmelte
+er selbst mit leichter Verbeugung seinen Namen
+und warf dann den anderen einen Blick zu, der einem
+Befehl zu schleunigem Rückzug gleichkam.
+</p>
+
+<p>
+Rudloff atmete sichtlich auf, während Tante Emilie
+zögerte und sich ungern trennte. Sie warf noch in der
+Tür einen langen, neugierigen Blick zurück; aber der
+Professor sprach kein Wort, machte keine Geste, ehe
+sich nicht die Tür geschlossen hatte.
+</p>
+
+<p>
+Dann rückte er einen Sessel:
+</p>
+
+<p>
+„Wollen Sie bitte Platz nehmen.“
+</p>
+
+<p>
+Mette setzte sich gehorsam.
+</p>
+
+<p>
+Der Mann ihr gegenüber beugte sich ein wenig vor
+und sagte mit einer sanften und fast einschmeichelnden
+Stimme:
+</p>
+
+<p>
+„Und nun sagen Sie mir erst mal, mein liebes
+Kind, daß Sie Vertrauen zu mir haben wollen.“
+</p>
+
+<p>
+Mette richtete sich steif auf.
+</p>
+
+<p>
+„Oh – durchaus nicht, Herr Professor!“ sagte sie
+ruhig.
+</p>
+
+<p>
+Der Mann fuhr etwas zurück.
+</p>
+
+<p>
+„Was heißt das?“ fragte er befremdet.
+</p>
+
+<p>
+„Das heißt,“ sagte Mette kühl, während ihr das
+<a id="page-180" class="pagenum" title="180"></a>
+Herz zum Zerspringen klopfte, „daß meine Tante Sie
+hergerufen hat, und daß ich allem mißtraue, was mir
+von dieser Seite kommt. Wahrscheinlich hat sie die
+Absicht, mich in ein Irrenhaus zu sperren, und Sie
+sollen konstatieren, daß ich geistig defekt bin. Sie
+hat mir so was Ähnliches schon einmal angestellt, als
+ich noch ein kleines Kind war. Aber wenn Sie
+Psychiater sind, so werden Sie wissen, daß das Gefühl,
+auf den Geisteszustand beobachtet zu werden, in
+den normalsten Menschen etwas Irrsinnähnliches auslösen
+kann. Und Sie werden mir das in Anrechnung
+bringen.“
+</p>
+
+<p>
+Der Arzt lächelte – ein feines Lächeln.
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe nicht die geringste Veranlassung, an
+Ihren außerordentlichen geistigen Fähigkeiten zu
+zweifeln – im Gegenteil – kein Mensch zweifelt
+daran. Und kein Mensch denkt daran, Sie in ein
+Irrenhaus sperren zu wollen. Ich bin hergekommen,
+um mich ein wenig mit Ihnen zu unterhalten – aus
+wissenschaftlichem und menschlichem Interesse. Darf
+ich ein paar Fragen an Sie richten?“
+</p>
+
+<p>
+„Gewiß!“ sagte Mette. „Aber ich würde wahrscheinlich
+imstande sein, präziser auf diese Fragen zu
+antworten, wenn Sie mir gestatteten, dabei eine
+Zigarette zu rauchen.“
+</p>
+
+<p>
+„Gern!“ sagte der Professor zuvorkommend.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-181" class="pagenum" title="181"></a>
+Mette nahm den Zigarettenkasten vom Schreibtisch
+und bot ihm an.
+</p>
+
+<p>
+Er nahm, und während er sein Feuerzeug aufknipste
+und ihr das Flämmchen hinüber reichte, fragte er in
+beiläufigem Ton:
+</p>
+
+<p>
+„Sie sind passionierte Raucherin?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe es mir beim Lernen angewöhnt,“ sagte
+sie. „Es hilft mir, die Gedanken zusammen zu halten.
+Und da ich doch den Verdacht noch nicht ganz los bin,
+daß Sie mir aus irgendeiner dummen Antwort einen
+Schwachsinn konstruieren ...“
+</p>
+
+<p>
+Der Professor lachte:
+</p>
+
+<p>
+„Das sollte mir schwer fallen – aber Sie haben
+recht, es plaudert sich viel gemütlicher bei der Zigarette.
+Nun erzählen Sie mir doch erst mal, was war
+das eigentlich für eine Angelegenheit, die Sie mir
+vorher andeuteten? Was hat Ihre Frau Tante für
+böse Absichten gehabt, als Sie noch ein kleines Kind
+waren?“
+</p>
+
+<p>
+„Ach,“ sagte Mette, „sie hat mir einen Kinderpsychiater
+kommen lassen, weil ich Silberzeug aus dem
+Büfett genommen hatte.“
+</p>
+
+<p>
+„Ach,“ sagte der Professor interessiert mit einem belustigten
+Lächeln. „Und warum taten Sie das?
+Hatten Sie Freude am Silber?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, ich hab’ es versetzt!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-182" class="pagenum" title="182"></a>
+„Versetzt!“ Der Professor lachte hell auf. „Wie
+sind Sie als kleines Kind auf diese Idee gekommen?“
+</p>
+
+<p>
+„Nicht aus mir selbst!“ sagte Mette ernsthaft. Aus
+Nebeln der Vergangenheit stieg plötzlich klar und deutlich
+Friedel Eggebrechts Bild auf. „Mein Kinderfräulein
+hat mich dazu verleitet. Ich stand vollständig
+unter ihrem Einfluß – der nicht gerade sehr günstig
+war.“
+</p>
+
+<p>
+„Ach!“ sagte der Professor mit leichtem Erstaunen.
+„Sind Sie beeinflußbar? Das sieht man Ihnen nicht
+an! Jetzt würde Sie wahrscheinlich keine Macht der
+Welt mehr zu solchen Dingen bringen!“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, verflucht!“ sagte Mette mit einem plötzlichen
+Erschrecken, „jetzt hab’ ich ja das blöde Silber verfallen
+lassen!“
+</p>
+
+<p>
+Der Professor amüsierte sich köstlich, oder er tat
+wenigstens so.
+</p>
+
+<p>
+„Welches?“ fragte er. „Das, was Sie vor zehn
+Jahren versetzt haben? Das wird nun wohl allerdings
+verfallen sein!“
+</p>
+
+<p>
+„Nein,“ sagte Mette unbefangen, „das, was ich jetzt
+versetzt habe. Das hatt’ ich ja in den Tod vergessen!“
+</p>
+
+<p>
+„Sie brauchen sich darum nicht zu ängstigen,“ sagte
+der Professor liebenswürdig, „es ist eingelöst worden.“
+</p>
+
+<p>
+Mette faßte im Moment nicht ganz.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-183" class="pagenum" title="183"></a>
+„Wieso? Es hat doch niemand davon gewußt.“
+</p>
+
+<p>
+„Man hat den Schein bei Ihnen gefunden.“
+</p>
+
+<p>
+„Gefunden!“ Mette sprang auf. „Gefunden?!
+Das heißt, daß diese schamlose Person heimlich über
+meine Sachen geht und darin herumwühlt. Oh,
+schade, daß ich sie nicht dabei ertappt habe – ich
+hätte sie mit meinen eigenen Händen erwürgt, glaube
+ich!“
+</p>
+
+<p>
+„Bitte, setzen Sie sich!“ sagte der Professor, noch
+ohne Schärfe, aber so zwingend, daß Mette gehorchte.
+</p>
+
+<p>
+„Wenn Sie mit dieser Person Ihre Frau Tante
+meinen, so muß ich ihr als Mensch und als Arzt
+das Recht zugestehen, Sie als ihre Pflegebefohlene
+ein wenig intensiver zu beaufsichtigen, als es sonst
+zwischen erwachsenen Menschen üblich ist.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich <em>bin</em> ein erwachsener Mensch!“ sagte Mette
+zornig.
+</p>
+
+<p>
+„Sie sind ein Kind,“ sagte der Arzt sehr milde, „ein
+Kind, das gar nicht weiß, in welcher Gefahr es
+schwebt – und das uns allen sehr dankbar sein wird,
+wenn es einmal erwachsen sein wird und einsehen
+lernt, wovor wir es behütet haben.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich glaube, Sie sind im Irrtum!“ sagte Mette
+eiskalt. „Ich bin in keiner Gefahr. Und wenn, dann
+behüte ich mich selber.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-184" class="pagenum" title="184"></a>
+„Solange Sie nicht mündig sind, werden Sie schon
+unsere helfende Hand nicht zurückweisen dürfen.“
+</p>
+
+<p>
+Das klang gütig, aber sehr bestimmt.
+</p>
+
+<p>
+„Ich zweifle, daß Sie aus eigener Kraft den Entschluß
+aufbringen werden, sich von Ihrer Freundin
+zu trennen, unter deren Einfluß Sie stehen.“
+</p>
+
+<p>
+Metten strömte das Blut jäh zum Herzen. Sie
+fühlte, daß sie weiß wurde wie Leinen.
+</p>
+
+<p>
+„Was wissen Sie von meiner Freundin?“ fragte sie
+schroff. Der Atem drohte ihr zu versagen.
+</p>
+
+<p>
+Der Arzt lächelte überlegen.
+</p>
+
+<p>
+„Jedenfalls mehr als Sie.“
+</p>
+
+<p>
+„Das bezweifle ich,“ unterbrach ihn Mette in einem
+harten und spöttischen Ton.
+</p>
+
+<p>
+Er war nicht aus seiner Ruhe zu bringen.
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß,“ sagte er in gelassenem, aber festem Ton,
+„daß Sie unter dem Einfluß einer Frau stehen, der
+für Sie höchst verderblich ist. Ich begreife Sie ja.
+Sie <em>sind</em> ein Kind. Ich will dieser Frau Geist und
+Liebenswürdigkeit gewiß nicht absprechen. Sie sind
+stolz auf diese Freundschaft und würden ihr alles zum
+Opfer bringen. Sie lassen sich durch diese Freundschaft
+auf die Bahn des Verbrechens treiben ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Unsinn!“ sagte Mette.
+</p>
+
+<p>
+„Ich verstehe, daß Sie mir widersprechen. Aber
+nehmen Sie einmal Ihren klaren Verstand zu Hilfe,
+<a id="page-185" class="pagenum" title="185"></a>
+und denken Sie logisch nach. Sie entwenden das
+Silberzeug aus dem Büfett Ihrer Eltern. Sie lassen
+sich von Ihrem Vater Stundengeld geben und legen
+das Geld dafür an, mit Ihrer Freundin Auto zu
+fahren, Sekt zu trinken, die Oper zu besuchen. Sie
+bezahlen die Schneiderrechnungen dieser Freundin mit
+Geld, welches Sie sich auf unrechtmäßige Weise verschafft
+haben. Ja, Kind, sehen Sie denn nicht selbst,
+auf welchen Abgrund Sie zusteuern?“
+</p>
+
+<p>
+Woher wußten sie das alles? Wie durch einen aufflammenden
+Blitz erleuchtet, lagen die Zusammenhänge
+klar vor Metten.
+</p>
+
+<p>
+Man hatte sie durch einen Detektiv beobachten
+lassen, auf Schritt und Tritt. Wo sie ging und stand,
+hatten fremde Augen an ihr geklebt, fremde Augen und
+Tante Emiliens Gedanken.
+</p>
+
+<p>
+Der Mann in Wannsee ... und da vielleicht ...
+und dort auch. Das war es, was Olga so geängstigt
+hatte. Sie hatte es gewußt, gekannt, schon einmal
+durchgemacht. Arme Olla ...
+</p>
+
+<p>
+Mette saß ganz still und rührte sich nicht. Ihr war,
+als ob erbarmungslose Hände ihr Stück für Stück der
+Kleidung vom Leibe rissen. Es waren nicht die
+Hände dieses fremden Mannes, es waren Tante
+Emiliens Hände, die das taten, es war Tante
+Emiliens Gesicht, das sie vor sich sah, hohngrinsend,
+<a id="page-186" class="pagenum" title="186"></a>
+geifernd vor böser Lust – langsam, langsam krampften
+sich Mettens Finger zu Fäusten zusammen – sie
+reckte den Hals vor, senkte die Stirn, verzerrte die
+Mundwinkel und schluckte gewaltsam.
+</p>
+
+<p>
+Die Stimme des Professors wurde wieder ganz
+sanft und begütigend:
+</p>
+
+<p>
+„Denken Sie doch einmal zurück an Ihre Kinderzeit!
+Haben Sie dieses Kinderfräulein, unter deren
+Einfluß Sie damals standen, nicht auch geliebt? Und
+sind Sie jetzt nicht froh und dankbar, daß man Sie
+von ihr getrennt hat? Genau so dankbar werden Sie
+uns später sein, wenn Sie erst zur Einsicht gekommen
+sind. Wenn Sie nachdenken, so wissen Sie ja jetzt
+schon in Ihrem tiefsten Innern Bescheid. <em>Sie</em> sind
+die treue Freundin. <em>Sie</em> lieben, <em>Sie</em> opfern sich
+auf. Und Sie werden ausgenutzt, als Spielzeug behandelt,
+bei Gelegenheit verleugnet und über kurz
+oder lang beiseite geworfen. Denken Sie denn, das
+wäre der erste Fall, der uns vor Augen kommt? Dann
+sind Sie fürs Leben verdorben, körperlich und seelisch
+krank, jeder Glücksmöglichkeit beraubt – was bleibt
+Ihnen dann? – Je nach Ihrer Veranlagung: Mord
+oder Selbstmord! Ich habe furchtbare Tragödien auf
+diese Art entstehen sehen ...“
+</p>
+
+<p>
+Mette kämpfte vergeblich gegen den Eindruck an,
+den diese Worte auf sie machten. Ihre gereizten
+<a id="page-187" class="pagenum" title="187"></a>
+Nerven spürten einen eiskalten Hauch, der sie bis in
+das innerste Herz erschauern machte. Es schien ihr
+wie ein mahnender Gruß aus einer dunkel verhüllten
+Zukunft. Tod – Ende! Ein grauenhaftes Etwas
+schritt unbeirrbar auf sie zu und warf seinen kühlen
+Schatten voraus.
+</p>
+
+<p>
+Sie fröstelte.
+</p>
+
+<p>
+Sie mußte sich anstrengen, um eine äußerliche Ruhe
+zu erzwingen. Sie krallte die Finger um die Sessellehnen
+und schluckte ein paarmal.
+</p>
+
+<p>
+„Das alles tut ja nichts zur Sache,“ sagte sie endlich
+mühsam. „Vielleicht sind Sie so gut und teilen mir
+mit, weshalb man Sie eigentlich gerufen hat, und was
+man über mich beschlossen hat. Denn es <em>ist</em> doch
+irgend etwas über mich beschlossen. Wenn nicht in
+ein Irrenhaus – will man mich dann in ein Kloster
+sperren, oder in eine Besserungsanstalt, oder nach
+Amerika verschicken?“
+</p>
+
+<p>
+Der Arzt lächelte. „Aber nichts von alledem. Sie
+werden auf einige Zeit mit Ihrem Onkel, mit Herrn
+von Seyblitz, zu seiner Familie fahren. – Sie werden
+in guter Luft und einem ruhigen Leben Ihre Nerven
+kräftigen und werden dann selbständig zu gesunden
+und willensstarken Entschlüssen kommen.“
+</p>
+
+<p>
+„Wann soll ich fahren?“ stieß Mette kurz hervor.
+</p>
+
+<p>
+„Heute noch!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-188" class="pagenum" title="188"></a>
+„Ich muß doch erst einen Koffer packen!“
+</p>
+
+<p>
+„Der wird jetzt während unserer Unterredung schon
+gepackt!“
+</p>
+
+<p>
+Das war das, was sie gefürchtet hatte. Mette
+fühlte die Mauern, die Handfesseln. Sie warf einen
+Blick um sich wie ein gehetztes, in die Enge getriebenes
+Tier. Nirgends ein Ausweg, nirgends eine
+Möglichkeit zur Flucht.
+</p>
+
+<p>
+Man trennte sie von Olga. Das war schlimm,
+aber nicht das Schlimmste. Man tat ihr Gewalt an.
+Man hätte diese Reise von ihr erbitten sollen, man
+hätte ihr Zeit lassen sollen, Zeit zu einem Abschied,
+zu einer Erklärung, Zeit, ihre Sachen selber einzupacken,
+ihre Bücher ... jetzt war Tante Emilie an
+ihrer Kommode und packte ihre Sachen ein, wühlte
+darin herum ... in einer Stunde saß sie vielleicht
+schon im Zug, ohne Olga Nachricht geben zu können ...
+und Onkel Jürgen saß ihr gegenüber als Gefangenenwärter
+... und was würde unterdessen hier geschehen?
+mit ihrem Schreibtisch ... mit ihren Büchern ...
+mit Olga ...?
+</p>
+
+<p>
+Sie spürte Lust, irgend etwas zu zerreißen, zu zerschlagen,
+mit dem Kopf gegen die Wände anzurennen.
+Sie tat nichts. Sie stand von ihrem Stuhl auf, sehr
+blaß, sehr ruhig und sagte:
+</p>
+
+<p>
+„Also ... ist das nun alles?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-189" class="pagenum" title="189"></a>
+„Es freut mich,“ sagte der Professor, ebenfalls sich
+aus seinem Sessel erhebend, „daß Sie sich mit dieser
+Reise einverstanden erklären.“
+</p>
+
+<p>
+„Einverstanden?“ sagte Mette mit einem verächtlichen
+Zucken der Lippen. „Ich füge mich dem Zwang,
+weil ich weiß, daß jeder Widerstand nutzlos ist.
+Wenn meine Tante mich hier forthaben will, läßt sie
+mich in Ketten wegschleifen, und mein Vater sieht zu,
+und alle Gerichte der Welt geben ihr recht.“
+</p>
+
+<p>
+Der Professor ging an ihr vorüber und machte die
+Tür auf.
+</p>
+
+<p>
+„Fräulein Melitta und ich sind uns ganz einig!“
+rief er heiter. „Ich habe ihr eine kleine Luftveränderung
+verschrieben, und sie freut sich sehr, ein paar
+Wochen in Ihrem gastlichen Hause zu verbringen,
+Herr von Seyblitz!“
+</p>
+
+<p>
+Onkel Jürgen rieb sich die kräftigen Hände, Franz
+Rudloff versuchte ein farbloses Lächeln, und Tante
+Emilie machte ein überraschtes und – wie es Metten
+schien – sichtlich enttäuschtes Gesicht.
+</p>
+
+<p>
+Sie schoß auf den Professor los und zischte halblaut,
+aber doch laut genug, daß alle es hören konnten:
+</p>
+
+<p>
+„Sie sagten mir doch, Herr Professor, daß Sie eine
+Untersuchung vornehmen wollten, um möglicherweise
+irgendwelche körperlichen Anomalien festzustellen ...
+ich glaube bestimmt ...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-190" class="pagenum" title="190"></a>
+Der Professor versuchte umsonst, sie durch eine leichte
+Geste der Hand und der Augenlider zum Schweigen
+zu bringen. Es war zu spät.
+</p>
+
+<p>
+Mette hatte schon begriffen. Ganz jäh und mit
+einem Schlage alles begriffen.
+</p>
+
+<p>
+Sie spürte nur die eine brennende Sehnsucht, dies
+widerliche Geschöpf da unter ihren Händen verenden
+zu sehen.
+</p>
+
+<p>
+Sie wußte nicht, daß sie eine Bewegung machte.
+Der Boden wich unter ihren Füßen zurück. Sie hörte
+ein Röcheln, das fremd und grauenhaft war, und das
+doch aus ihrer eigenen Kehle kam. Sie spürte, daß
+ihre Finger sich um einen dürren, faltigen Hals krallten
+und spürte im selben Moment, daß eisenfeste
+Hände ihre Gelenke umklammerten, so fest umklammerten,
+daß das Blut ihr in den Adern zu stocken
+schien, und ihr war, als müßte sie ersticken.
+</p>
+
+<p>
+Sie fühlte, daß sie diese Folter nicht einen Herzschlag
+länger ertragen konnte.
+</p>
+
+<p>
+„Loslassen!“ knirschte sie. „Loslassen!“
+</p>
+
+<p>
+Der Arzt gab sofort ihren rechten Arm frei. Eine
+Sekunde später Onkel Jürgen den linken.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt fing die Haut über den Gelenken an zu
+schmerzen. Sie rieb sie ganz mechanisch. Sie fühlte
+sich müde, ruhig, zerschlagen.
+</p>
+
+<p>
+Der Gedanke tat ihr fast wohl, daß sie fort sollte,
+<a id="page-191" class="pagenum" title="191"></a>
+aus diesem Haus, von diesen Leuten fort, jetzt gleich,
+in dieser Stunde noch.
+</p>
+
+<p>
+Sie wandte sich mit ihren Fragen nur noch an den
+Arzt:
+</p>
+
+<p>
+„Wann geht der Zug? Wird es nicht Zeit, daß ich
+mich fertig mache?“ –
+</p>
+
+<p>
+Als das Auto vor der Tür stand, fragte der Professor
+beiläufig:
+</p>
+
+<p>
+„Wir haben, glaube ich, denselben Weg. Haben
+Sie nicht einen Platz im Wagen frei?“
+</p>
+
+<p>
+Mette sah ihn groß an und lächelte ein wenig
+spöttisch:
+</p>
+
+<p>
+„Sie brauchen gar keine Ausrede, Herr Professor,
+wenn Sie mich an die Bahn bringen wollen. Meine
+Familie wird auf das Vergnügen verzichten. Es ist
+besser für alle Beteiligten.“
+</p>
+
+<p>
+Sie reichte ihrem Vater die Fingerspitzen, die dieser
+mit beiden Händen umschloß.
+</p>
+
+<p>
+„Adieu, Papa, laß dir’s gut gehen.“
+</p>
+
+<p>
+Tante Emilie zog sich mit gespielter Ängstlichkeit an
+die Wand zurück, als befürchtete sie einen neuen Anschlag
+auf ihr Leben.
+</p>
+
+<p>
+Mette streifte sie nur mit einem verächtlichen Blick. –
+</p>
+
+<p>
+Die Bahnfahrt war doch länger, als sie gedacht
+hatte. Mette sah angespannt aus dem Fenster und
+bemühte sich, die Namen der Stationen, jedes Dorf
+<a id="page-192" class="pagenum" title="192"></a>
+und jedes Bahnwärterhäuschen ihrem Gedächtnis einzuprägen.
+Es wäre doch möglich, daß sie zu Fuß
+zurück müßte.
+</p>
+
+<p>
+Sie hatte kein Geld – ob sie Gelegenheit hatte,
+Wertsachen zu versetzen oder zu verkaufen, war fraglich.
+Sie sah nach den Kilometerschildern, 87 Kilometer
+bis Berlin. Fünf Kilometer in der Stunde
+schaffte sie glatt. Es war nur schade, daß nicht
+Sommer war. Bei zwei Grad unter Null ließ sich’s
+nicht gut im Freien nächtigen. – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Mette saß in der hellen und freundlichen Mansardenstube
+auf dem Fenstertritt, rauchte eine Zigarette
+und polierte ihre Nägel.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Auf der weißen Decke des Nähtisches, den Mette
+zum Toilettentisch degradiert oder befördert hatte, lag
+aufgeschlagen ein kleines, dickes, schwarzes Buch: das
+Neue Testament.
+</p>
+
+<p>
+Die Tür wurde aufgemacht, und ihr Vetter Hermann
+schob sich durch den Spalt. Er blieb in der
+offenen Tür stehen und spielte mit der Klinke.
+</p>
+
+<p>
+„Ob du zum Abendbrot runterkommst, oder ob du
+noch Kopfschmerzen hast?“ fragte er lakonisch.
+</p>
+
+<p>
+„Mach’ die Tür zu, Junge!“ herrschte Mette gedämpft.
+Sie wollte nicht, daß der Zigarettenrauch
+<a id="page-193" class="pagenum" title="193"></a>
+auf den Treppenflur und in Tante Antoniens feine
+Nase zöge.
+</p>
+
+<p>
+Der Junge machte die Tür zu, aber ließ die Klinke
+nicht los.
+</p>
+
+<p>
+„Warum klebst du eigentlich an der Türe?“ fragte
+Mette belustigt. „Bitte, tritt näher. Nimm Platz!“
+</p>
+
+<p>
+Der Junge zögerte.
+</p>
+
+<p>
+„Wir sollen eigentlich nicht zu dir hinein,“ meinte
+er. „Aber wenn deine Kopfschmerzen besser sind, dann
+wirst du ja auch nicht mehr so krank sein ...“
+</p>
+
+<p>
+„Krank?“ sagte Mette verwundert. „Sollt ihr nicht
+zu mir hereinkommen, weil ich krank bin?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja!“ sagte der Zwölfjährige altklug. „Wegen der
+Ansteckungsgefahr!“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Männe!“ Mette lachte kurz auf. „Die Krankheit,
+die ich habe, steckt ganz gewiß nicht an.“
+</p>
+
+<p>
+„Was hast du denn für eine Krankheit?“ Der
+Junge kam neugierig näher.
+</p>
+
+<p>
+Mette zögerte mit der Antwort.
+</p>
+
+<p>
+Der Junge warf einen begehrlichen Blick auf die
+Zigaretten.
+</p>
+
+<p>
+„Schenk’ mir eine!“ bettelte er plötzlich.
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ sagte Mette rasch. „So viel du willst. Aber
+du mußt mir einen Brief auf die Post bringen, ganz
+heimlich, so, daß es keiner sieht. Kann man sich auf
+dich verlassen?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-194" class="pagenum" title="194"></a>
+Mette sah ihn scharf und prüfend an. Der Ehrgeiz
+des Jungen war geweckt.
+</p>
+
+<p>
+„Aber!“ sagte er überzeugt, „meinst du, daß ich
+mich erwischen lasse? Ich bin doch nicht dämlich.“
+</p>
+
+<p>
+Er bekam den Brief und die Zigaretten und verstaute
+beides so kunstgerecht in der Bluse, daß Mette
+lächelnd dachte: „Es ist nicht das erstemal, daß er da
+etwas vor Mutters scharfen Augen versteckt.“
+</p>
+
+<p>
+Er zögerte noch zu gehen. Er druckste ein bißchen
+und platzte dann heraus:
+</p>
+
+<p>
+„Sag’ mir doch, was du für eine Krankheit
+hast?!“
+</p>
+
+<p>
+Mette dachte nach, was sie ihm antworten sollte.
+Ihr Blick fiel auf das Zigarettenetui.
+</p>
+
+<p>
+„Weißt du, Männe,“ sagte sie nach einer Weile,
+„mich hat ein Skorpion gestochen. Nun ist mein ganzes
+Blut vergiftet. Und du weißt doch: gegen Skorpionengift
+hilft nur Skorpionengift. Und hier gibt
+es keinen Skorpion. Aber daß es ansteckt, das ist ein
+Aberglaube. Das sind die Phalangien, die so giftig
+sind, daß man sich ansteckt, wenn man sich im Waschwasser
+eines Gestochenen wäscht. Das hat deine
+Mutter verwechselt.“
+</p>
+
+<p>
+„Es ist nicht ansteckend?“ fragte der Junge und
+wagte sich noch ein Schrittchen näher.
+</p>
+
+<p>
+„Nein!“ Mette schüttelte den Kopf mit einem wehen
+<a id="page-195" class="pagenum" title="195"></a>
+Lächeln. „Ich glaube wohl, daß es <em>tödlich</em> sein
+kann – aber ansteckend ist es nicht.“ – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Der kleine Hermann, der den Brief mit viel Heimlichkeit
+und Wichtigtuerei nach der Post besorgte, war
+fest überzeugt, daß es ein Liebesbrief sein müsse, den
+man ihm anvertraut hatte. Er wäre sehr erstaunt gewesen,
+wenn er erfahren hätte, daß in dem Brief
+mehr von ihm, von dem kleinen Hermann selbst, die
+Rede war, als von Liebe.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+„... Ich habe die Kinder meines Onkels früher gehaßt“
+... das schrieb sie, nachdem sie von den Begebenheiten
+der letzten Tage eine sachliche Schilderung
+gegeben hatte. „... Ich hatte keinen Grund, sie zu
+hassen, als daß sie so abstehende Ohren hatten. Sag’
+mir, Liebes, wodurch bin ich ein so ganz anderer
+Mensch geworden? Ich sehe jetzt Charaktere in jedem
+kindischen Benehmen, und ich sehe Schicksale, die an
+diese Charaktere unlöslich festgekettet sind. Ich sehe,
+daß die kleine Annemie einmal ein schweres Leben
+haben wird – nicht nur, weil sie abstehende Ohren
+hat – und darum habe ich immer das Gefühl, ich
+möchte ihr helfen, ich möchte ihr schenken, um die paar
+glücklichen Stunden in ihrem Leben zu vermehren ...
+</p>
+
+<p>
+Ich habe eine Entdeckung gemacht, Olla. Du wirst
+<a id="page-196" class="pagenum" title="196"></a>
+mich auslachen. Meine Tante Antonie hat den Bücherschrank
+vor mir verschlossen und hat mir das Neue
+Testament aufs Zimmer gelegt. Ich habe sie in Verdacht,
+sie wollte mich damit strafen. Vor einem Jahr
+hätt’ ich es voll Empörung an die Wand geworfen und
+wäre gar nicht auf den Gedanken gekommen, daß man
+es lesen könnte. Und jetzt habe ich mich so damit befreundet!
+Was ist das doch für ein herrliches Buch!
+Aber ich mache mich lächerlich vor Dir mit meiner Entdeckung.
+Gibt es wohl etwas Schönes auf der Welt,
+was Du nicht kennst und liebst?“ – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Onkel Jürgen und Tante Antonie waren aufs angenehmste
+überrascht von Mettens Betragen. Sie
+hatten ein widerspenstiges Kind erwartet, das sie
+nötigenfalls unter Anwendung von Gewalt zähmen
+mußten und fanden eine junge Dame von formvollendeter
+Liebenswürdigkeit. So wirkte es peinlich, sie
+überall zu beschränken und zu beaufsichtigen, und man
+gewährte ihr eine Freiheit nach der anderen.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Mette nutzte diese Freiheiten aus und traf Vorbereitungen
+zur Flucht. Sie hatte Tag und Nacht
+keinen anderen Gedanken, und die dauernde Beschäftigung
+mit diesen Plänen stimmte sie zu fast ausgelassen-heiterer
+Erregung.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-197" class="pagenum" title="197"></a>
+Es handelte sich vor allem darum, sich Geld zu verschaffen.
+Mette verkaufte von ihren Sachen, was ihr
+irgend entbehrlich schien. Aber das brachte nicht genug.
+Sie fing an, Sachen aus dem Haushalt zu verschleudern.
+Es war schwierig und unpraktisch. Erstens
+konnte es herauskommen, ehe sie fort war, dann war
+alles verloren, und zweitens lohnte es nicht die aufgewendete
+Mühe, und es tat ihr auch leid, wertvolle
+Dinge um einen Spottpreis wegzugeben.
+</p>
+
+<p>
+Eines Tages empfing Onkel Jürgen mit der Post
+eine größere Summe, die er in Mettens Gegenwart
+in den Schreibtisch einschloß.
+</p>
+
+<p>
+Mette starrte wie hypnotisiert auf den verschlossenen
+Kasten. Da war alles, was sie brauchte, aber wie dazugelangen?
+</p>
+
+<p>
+Sie lag eine ganze Nacht, ohne Schlaf zu finden,
+oder auch nur zu suchen. Ihre Gedanken arbeiteten
+fieberhaft.
+</p>
+
+<p>
+Nachts den Schreibtisch gewaltsam erbrechen. Es
+ging kein Zug mehr, der sie dann vor Tagesanbruch
+in Sicherheit brachte.
+</p>
+
+<p>
+Einen Wachsabdruck des Schlosses nehmen. Der
+Schlosser würde Verdacht schöpfen, wenn sie sich einen
+Schlüssel danach machen ließ.
+</p>
+
+<p>
+Das Schlüsselbund stehlen? Man würde es sofort
+vermissen und das ganze Haus durchsuchen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-198" class="pagenum" title="198"></a>
+Den Schreibtischschlüssel vom Bund lösen? Man
+würde auch das Fehlen dieses einen wichtigsten
+Schlüssels sofort bemerken.
+</p>
+
+<p>
+Am anderen Tag holte sich Mette vom Schlosser ein
+halb Dutzend Schlüssel. Sie erzählte eine Geschichte
+von einem verlorenen Schrankschlüssel und freute sich
+fast darüber, wie sicher und unbefangen sie ihre
+Märchen vortrug.
+</p>
+
+<p>
+In der Nacht schlich sie hinunter und probierte die
+gekauften Schlüssel. Sie hatte die Form und Größe
+des Schlüssels sich gut gemerkt. Fast alle ließen sich
+ins Schloß schieben. Aber keiner schloß.
+</p>
+
+<p>
+Am anderen Tag erbat sie die Schlüssel, um ein
+Buch aus der Bibliothek zu nehmen. Während sie vor
+dem Bücherschrank kniete, löste sie den Schreibtischschlüssel
+vom Bund. Einen bereitgehaltenen, der ihm
+äußerlich gleich sah, fügte sie an seine Stelle.
+</p>
+
+<p>
+Sie nahm ein Buch aus dem Schrank, ohne zu
+wissen, welches.
+</p>
+
+<p>
+In dem Augenblick, in dem sie Onkel Jürgen das
+Schlüsselbund zurückgab, glaubte sie, er müsse das
+rasende Schlagen ihres Herzens spüren. Sie fühlte,
+daß ihr Gesicht weiß aussehen mußte wie Kalk
+und bemühte sich, mit steifgefrorenen Lippen zu
+lächeln.
+</p>
+
+<p>
+Der Onkel nahm ihr die Schlüssel ab, ohne von
+<a id="page-199" class="pagenum" title="199"></a>
+seiner Zeitung aufzusehen und ließ sie mit einem
+flüchtigen „Danke!“ in die Hosentasche gleiten.
+</p>
+
+<p>
+Mette packte ihren Handkoffer und gab eine Depesche
+auf. In der Dämmerung schaffte sie den Handkoffer
+nach der Bahn.
+</p>
+
+<p>
+Um halb acht wurde zu Abend gegessen. Um halb
+neun ging der Zug.
+</p>
+
+<p>
+Mette klagte während des Essens über Kopfschmerzen.
+Der Onkel gab ihr auf ihre Bitte ein
+Pyramidon und empfahl ihr, sich gleich hinzulegen.
+</p>
+
+<p>
+Mette sagte: „Gute Nacht!“ während die anderen
+noch bei Tisch saßen.
+</p>
+
+<p>
+Um vom Eßzimmer nach dem Treppenflur zu kommen,
+mußte sie durch das dunkle Wohnzimmer.
+Während sie aus dem Nebenzimmer die Stimmen
+hörte und jeden Augenblick das Stuhlrücken der Aufstehenden
+zu hören glaubte, schloß sie das Schreibtischfach
+auf und stopfte eine Handvoll Scheine in ihre
+Bluse.
+</p>
+
+<p>
+Im Treppenflur hing ihr Mantel schon vorsorglich
+bereit. Sie schlüpfte hinein und öffnete die kleine
+Hintertür, die an der Küche vorbei in den Garten
+führte. Vorne an den Fenstern des Speisezimmers
+vorbeizugehen, wagte sie nicht.
+</p>
+
+<p>
+Über das niedrige Gartenstaket sich zu schwingen,
+war keine Schwierigkeit. Noch einmal sah sie sich
+<a id="page-200" class="pagenum" title="200"></a>
+um. Von dieser Seite war das Haus ganz dunkel.
+Sie horchte. Keine Tür ging, kein Fenster klirrte.
+Dann wandte sie sich und lief wie gejagt querfeldein
+– dem Bahnhof zu. – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Während der Bahnfahrt kämpfte sie manchmal mit
+einer qualvollen Bangigkeit. Sie sah sich verfolgt,
+gefesselt – der Zug schien unerträglich langsam
+zu fahren, auf allen Stationen über Gebühr zu
+halten.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Sie hatte mitunter das Gefühl, daß es besser wäre,
+auszusteigen und zu laufen, vorwärtszujagen, bis
+Atem und Muskelkraft versagten, als so in untätiger
+Unrast gefangen zu sein und zu warten, bis die träge
+Maschine sie ans Ziel brachte.
+</p>
+
+<p>
+Mit einem plötzlichen Erschrecken dachte sie an die
+Möglichkeit, daß ihr Telegramm nicht zur Zeit angekommen
+sein könne oder Olga nicht zu Hause getroffen
+habe.
+</p>
+
+<p>
+Was sollte sie nur um Gottes willen anfangen,
+wenn Olga nicht an der Bahn war!
+</p>
+
+<p>
+Nach Hause zu fahren, war eine Unmöglichkeit. Sie
+glaubte schon Zwangsjacke und Handschellen zu
+spüren.
+</p>
+
+<p>
+In der Nacht zu Olga? An einem fremden Haus
+<a id="page-201" class="pagenum" title="201"></a>
+klingeln, die Leute in der Pension wecken? Mit
+welchem Recht?
+</p>
+
+<p>
+Ihr blieb nichts übrig, als sich für die Nacht in
+einem Hotel einzumieten. Aber wo war sie sicher?
+Morgen früh würde man überall nach ihr suchen. Ihr
+graute vor dem, was ihr dann bevorstand.
+</p>
+
+<p>
+Und ihr graute vor der einsamen Nacht in einem
+fremden Zimmer.
+</p>
+
+<p>
+Es kamen Augenblicke, wo sie verwundert ihrem
+eigenen Tun gegenübersaß und erschrak vor ihrer
+eigenen Kühnheit. Wo sie bei einer Bewegung plötzlich
+das Knittern der Scheine in ihrer Bluse fühlte
+und voll Staunen und fast voll Bewunderung sich
+fragte: „Herrgott, wie hab’ ich das eigentlich fertiggebracht?“
+– – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Um elf Uhr zwanzig lief der Zug in den Bahnhof
+ein. Licht und Lärm in der dröhnenden Halle, deren
+weite Wölbung sich im Dunkeln verlor, waren fast
+noch beängstigender als die schweigende Nacht auf den
+Feldern.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Aber da war Olga Radó.
+</p>
+
+<p>
+Zwischen hastenden, suchenden, hin und her wimmelnden
+Menschen stand sie ganz ruhig, noch ein
+wenig höher gereckt als sonst. Zwischen dummen,
+stumpfen, mißgeformten, vor Aufregung verzerrten
+Gesichtern leuchtete ihr weißes, klares Gesicht. Unter
+<a id="page-202" class="pagenum" title="202"></a>
+den dunklen, wie drohend zusammengezogenen Brauen
+hervor schimmerten die scharfen Augen und flogen
+prüfend an der Wagenreihe entlang.
+</p>
+
+<p>
+Mette stieß die Tür auf, ehe noch der Zug hielt.
+Sie bahnte sich rücksichtslos einen Weg, stieß ihren
+Handkoffer den Leuten in die Kniekehlen, streckte ihr
+die Hand entgegen, nein, griff nach ihr, wie ein
+Fallender nach einem Halt und rief zwischen Lachen
+und Weinen:
+</p>
+
+<p>
+„Olga!“
+</p>
+
+<p>
+Olgas Gesicht, das sich erst jetzt mit jäher Wendung
+ihr zudrehte, blieb ernst. Nicht der Schimmer eines
+Lächelns flog über die gespannten Züge.
+</p>
+
+<p>
+„Mette!“ sagte sie mit ihrer tiefen Stimme. „Kind!
+Was machst du für Dummheiten!“
+</p>
+
+<p>
+Mette erschrak ein wenig. Nicht sehr. Ein anderer
+Empfang wäre ihr lieber gewesen – aber was taten
+ihr diese Worte oder der Ton der Worte. Olga war
+da. Sie sah ihr Gesicht, sie hielt ihre Hand, sie hörte
+ihre Stimme.
+</p>
+
+<p>
+Nun war alles gut.
+</p>
+
+<p>
+„Bist du böse?“ fragte Mette mit lachenden Augen,
+ohne Olgas Hand loszulassen. „Wenn du jetzt schon
+böse bist, alter Philister, dann wag’ ich gar nicht zu
+erzählen, was ich alles ausgefressen habe!“
+</p>
+
+<p>
+„Ich bin nicht böse,“ sagte Olga ernsthaft, „ich lehne
+<a id="page-203" class="pagenum" title="203"></a>
+nur jede Verantwortung ab. Wenn du durchgehst,
+ist das deine Sache. Ich habe dich nicht mit einem
+Wort, mit einem Blick dazu verleitet. Ich habe nichts
+davon gewußt. Das möchte ich nur von vornherein
+konstatieren.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ sagte Mette, „aber nachdem du das nun konstatiert
+hast, kannst du mir vielleicht sagen, ob es dir
+persönlich angenehm oder unangenehm ist, daß ich
+hier bin.“
+</p>
+
+<p>
+„Wenn ich ehrlich sein soll,“ sagte Olga mit einem
+halben Lächeln und ohne Metten anzusehen, „so ist
+es mir nicht unangenehm; aber ich bin eigentlich ein
+bißchen verzweifelt. Hast du vielleicht darüber nachgedacht,
+was nun mit dir werden soll?“
+</p>
+
+<p>
+Mette hatte daran gedacht. Darüber nachgedacht?
+– Nein, das war wohl nicht das richtige Wort. Sie
+hatte die Vorstellung gehabt, daß sie zu Olga käme,
+um bei Olga zu sein, um bei Olga zu bleiben. Sie
+hatte sich in Olgas behaglichem Zimmer gesehen –
+in dem einzigen Zimmer, in dem sie je glückliche
+Stunden verlebt hatte – hatte sich da verbergen
+wollen, nie auf die Straße gehen, nie nach Hause
+gehen – nun fühlte sie das Unsinnige dieser Gedanken
+und wagte sie den klugen Augen gegenüber
+nicht auszusprechen.
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß nicht,“ sagte sie kleinlaut. „Ich weiß
+<a id="page-204" class="pagenum" title="204"></a>
+nur, daß ich nicht nach Hause kann, nie, nie, nie, nie!
+Ich kann mir ja eine Stellung suchen als Kindermädchen,
+als Kellnerin – was weiß ich!“
+</p>
+
+<p>
+„Dazu hättest du eigentlich ebensogut bleiben können,
+wo du warst. Sie werden dich ja nicht gerade
+geprügelt haben oder Hunger leiden lassen. Oder
+glaubst du, daß du als Kindermädchen sehr viel mehr
+Freiheit haben wirst?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ sagte Mette trotzig, „dann hab’ ich wenigstens
+meinen freien Sonntag, wo mir kein Mensch verbieten
+kann, mit dir zusammen zu sein!“
+</p>
+
+<p>
+„Meinetwegen!“ Olga blieb stehen und schloß einen
+Moment wie in tödlichem Erschrecken die Augen. „Du
+bist geradezu grausam, Mette. Fühlst du denn nicht,
+wie ungeheuer du mich damit belastest? Ich kann
+diese Verantwortung nicht tragen, ich kann nicht!“
+</p>
+
+<p>
+Sie standen immer noch auf dem Bahnsteig, der
+jetzt von den wimmelnden Menschenmassen fast geleert
+war. Nur ein paar Nachzügler strebten noch
+nach dem Ausgang.
+</p>
+
+<p>
+Mette fühlte sich müde und zerschlagen und empfand
+den leichten Handkoffer wie eine Zentnerlast.
+Die kühle Zugluft in der weiten Halle machte sie
+frösteln.
+</p>
+
+<p>
+„Wollen wir nicht zehn Minuten in den Wartesaal
+gehen?“ fragte sie bedrückt. „Vielleicht fällt mir bei
+<a id="page-205" class="pagenum" title="205"></a>
+ruhiger Überlegung irgend etwas ein, was ich tun
+könnte. Aber wenn du zu müde bist, kannst du ja auch
+ruhig nach Hause gehen!“
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ sagte Olga kurz, „und dich hier die Nacht
+allein auf dem Bahnhof sitzen lassen! Du bist wohl
+ganz verrückt, mein liebes Kind?“ – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Sie saßen in dem leeren Wartesaal und wärmten
+sich die kalten Finger an den heißen Teegläsern.
+Mette erzählte die Geschichte ihrer Flucht. Sie nahm
+die zerknitterten Geldscheine aus ihrer Bluse und
+stopfte sie in die Tasche.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Mette hatte fast erwartet, daß Olga lachen würde.
+Während sie erzählte, kam ihr selber die Sache ungeheuer
+komisch und abenteuerlich vor. Aber Olgas
+Gesicht blieb tiefernst.
+</p>
+
+<p>
+„Und nun?“ fragte sie.
+</p>
+
+<p>
+„Ich gehe in ein Hotel!“ sagte Mette eigensinnig.
+</p>
+
+<p>
+„Und ich?“
+</p>
+
+<p>
+„Du gehst in deine Pension!“
+</p>
+
+<p>
+„Ich lasse dich nicht allein.“
+</p>
+
+<p>
+„Komm mit,“ sagte Mette mit dem Aufblitzen einer
+Hoffnung.
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ sagte Olga bitter, „und morgen früh kommt
+die Polizei und bringt uns in Gewahrsam. Ich danke.
+Dann hab’ ich dich womöglich zu schwerem Einbruchsdiebstahl
+verführt.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-206" class="pagenum" title="206"></a>
+„Weißt du,“ sagte Mette, nach einer Pause des
+Nachdenkens, „dann müssen wir’s schon machen wie
+richtige Defraudanten. Uns in den nächsten Zug setzen
+und weiterfahren. Einfach auf irgendeiner Station
+aussteigen und in ein Hotel gehen. Von da aus
+schreib ich dann an meinen Vater und bitte ihn vor
+allen Dingen, die Geldangelegenheit in Ordnung zu
+bringen. Vielleicht ist er auch sonst vernünftig, und
+ich kann mich irgendwie mit ihm einigen. In einem
+halben Jahr bekomme ich ja mein Vermögen ausgezahlt,
+von meiner Großmutter her. Wenn mir
+mein Vater bis dahin nichts gibt, mache ich eben
+Schulden daraufhin, das muß doch irgendwie gehen.
+Also“ – Mette sah nach der großen Abfahrtstafel –
+„um zwölf Uhr vier geht der nächste Zug!“
+</p>
+
+<p>
+Olgas Gesicht verlor den strengen Ausdruck. Eine
+große Freude lachte aus ihren Augen. Aber sie zögerte
+noch.
+</p>
+
+<p>
+„Du bist doch ganz verrückt!“ sagte sie. „Ohne
+Nachthemd und ohne Zahnbürste!“
+</p>
+
+<p>
+„Wäsche habe ich genug,“ sagte Mette eifrig. „Eine
+Zahnbürste können wir in Buxtehude auch kaufen!“
+</p>
+
+<p>
+„Was du für Ideen hast!“ sagte Olga langsam.
+</p>
+
+<p>
+Mette sah, daß sie schon halb überwunden war.
+</p>
+
+<p>
+„Großartige Ideen!“ sagte sie strahlend. „Äußerst
+reizvolle Ideen. Findest du etwa nicht?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-207" class="pagenum" title="207"></a>
+„Ja, aber ich wäre nie darauf gekommen,“ sagte
+Olga betont. „Du hast mich überredet. Es ist ausschließlich
+deine Idee!“
+</p>
+
+<p>
+„Selbstverständlich! Ich bin viel zu stolz darauf,
+um mir die Autorschaft von irgend jemand streitig
+machen zu lassen.“ – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Der Zug zwölf Uhr vier war ein Personenzug. Sie
+saßen allein in einem Nichtraucherabteil, das dämmerig
+erhellt war durch die zur Hälfte blau verdeckte
+Glaskugel an der Decke. Sie bemühten sich vergebens,
+diesen Lichtschirm zurückzustoßen, um die Leuchtkraft
+des Gasflämmchens voll zu entfachen.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+„Laß nur gut sein,“ scherzte Mette. „Es ist gut,
+wenn wir im dunklen Coupé sitzen, dann können uns
+unsere Verfolger nicht gleich von draußen erkennen.“
+</p>
+
+<p>
+Mette war so voll übermütiger Freude, daß sie
+diesen Gedanken zu einer lustigen Komödie ausspann
+und auch Olga mit fortriß.
+</p>
+
+<p>
+Sie spielten Flucht. Sie duckten sich, wenn draußen
+einer vorbeiging. Sie atmeten erlöst auf, als der
+Zug abfuhr. Mette veränderte ihre Haartracht, um
+nicht erkannt zu werden. Sie „bestach“ den Schaffner
+mit der „Summe“ von drei Mark, damit er niemand
+hineinlassen sollte. Und ängstigte sich nachher, daß
+<a id="page-208" class="pagenum" title="208"></a>
+die Höhe des Trinkgeldes sie unzweifelhaft als Defraudanten
+verdächtig machen würde.
+</p>
+
+<p>
+„Weißt du,“ sagte Mette geheimnisvoll, „wir
+dürfen natürlich nicht da aussteigen, wohin wir Karten
+genommen haben. Dann sind sie uns ja sofort
+auf der Spur. Wir steigen einfach bei irgendeiner
+Station aus.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ sagte Olga, „bei der siebenten. Sieben ist
+eine heilige Zahl!“
+</p>
+
+<p>
+Mette glühte vor Begeisterung. „Ist das schön!
+Ist das wundervoll! Wir fahren – und wissen nicht
+wohin! Wir steigen aus – und wissen nicht wo!
+Wir wachen morgen früh in einer fremden Stadt auf
+– und wissen nicht, wie sie heißt.“
+</p>
+
+<p>
+„Wie das klingt!“ sagte Olga und machte ihr nach.
+„Wie eine ganz tiefsinnige Angelegenheit. Wir leben
+– und wissen nicht wie! Wir lieben – und wissen
+nicht warum! Wir sterben und wissen nicht wann!“
+</p>
+
+<p>
+„Nein,“ sagte Mette, „dein ‚wann‘ weiß ich nicht.
+Gott sei Dank! Aber das ‚warum‘ weiß ich. Gott
+sei Dank!“
+</p>
+
+<p>
+Es flog ein leichter Schatten über Olgas Gesicht,
+als ob sie nicht hören wollte, was Mette sagte.
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe mir früher immer so glühend gewünscht
+zu wissen, wann ich sterbe,“ sagte sie nachsinnend.
+„Ich finde es so ungerecht, daß man absolut nicht
+<a id="page-209" class="pagenum" title="209"></a>
+weiß, wieviel Zeit einem zur Verfügung steht. Man
+müßte doch die Möglichkeit haben, sich einzurichten.
+Ich habe meine Freundin beneidet, die an der
+Schwindsucht gestorben ist. Sie wußte genau: So
+viel ist jetzt noch von meiner Lunge vorhanden – so
+lange kann ich noch leben, wenn ich geize, wenn ich
+mich schone – ich kann aber auch verschwenden und
+den Rest auf einmal wegwerfen. Schön muß das
+sein. Du weißt ja: Ich kann nie aus meinem Zimmer
+fortgehen, ehe es nicht aufgeräumt ist, weil ich doch
+immer die fixe Idee habe, wer weiß, ob ich wiederkomme.
+Mir ist der Gedanke schrecklich, daß ich einmal
+aus dem Leben fort muß und alles in Unordnung
+hinterlasse.“
+</p>
+
+<p>
+Metten waren die Tränen nahe. Sie wollte die
+Traurigkeit, die sie quälte, verbergen und verscheuchen
+und sagte mit erzwungener Derbheit:
+</p>
+
+<p>
+„Du bist wohl ganz verrückt, ja? Vielleicht suchst
+du dir zu dieser melancholischen Nachtfahrt ein anderes
+Gesprächsthema aus?! Sonst setz’ ich mich so lange
+ins Nebencoupé, bis du mit deinen Meditationen
+fertig bist!“
+</p>
+
+<p>
+„Kind!“ sagte Olga lächelnd und griff nach ihrer
+Hand. „Du hast ganz recht. Schimpf nur tüchtig.
+Das kommt von dem blöden Orakeln.“
+</p>
+
+<p>
+„Orakeln?“ fragte Mette erstaunt.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-210" class="pagenum" title="210"></a>
+„Kennst du das noch nicht an mir? Ich mach’s doch
+wie die alten Bauernweiber, die in allen schwierigen
+Lebenslagen mit der Stricknadel in die Bibel stechen
+und sich dann irgendeinen Rat herausdeuten.“
+</p>
+
+<p>
+„Du hast ja gar keine Stricknadeln!“ sagte Mette
+lachend.
+</p>
+
+<p>
+„Nein – eine Bibel nebenbei auch nicht. Eine
+Bibel muß etwas Ererbtes sein. Eine zu kaufen, hat
+gar keinen Wert. Aber es muß ja zu diesem Zweck
+keine Bibel sein – ich nehme einfach irgendein Buch
+und schlage es auf. Es ist merkwürdig, was für
+klare Antworten man manchmal bekommt. Ich habe
+heut’ auch gefragt ... als deine Depesche kam ...
+ob ich nach der Bahn gehen sollte ...“
+</p>
+
+<p>
+„Na, und?“ fragte Mette erwartungsvoll.
+</p>
+
+<p>
+„Ach ... es ist ja alles Unsinn ...“ sagte Olga mit
+einem gequälten Lächeln. Sie drehte den Kopf und
+sah angelegentlich aus dem Fenster in die schwarze
+Nacht, die draußen vorbeiflog.
+</p>
+
+<p>
+„Sicher ist es Unsinn,“ sagte Mette herzlich. „Aber
+es quält dich doch. Wenn du es aussprichst, wirst du
+erst einsehen, <em>wie</em> unsinnig es ist. Sag’ es mir
+doch – dann lachen wir beide darüber.“
+</p>
+
+<p>
+Olga wandte ihr das Gesicht wieder zu. Sie
+mühte sich, ein unsicheres Lächeln festzuhalten.
+</p>
+
+<p>
+„Als Radomonte Gozaga in Genua einzog – in
+<a id="page-211" class="pagenum" title="211"></a>
+irgendeinem Rachefeldzug – ich weiß nicht, in welchem
+– da trug er ein Wams, auf dem ein Skorpion
+gestickt war und darunter sein Spruch: <span class="antiqua">Qui vivens
+laedit, morte medetur.</span> Ist das noch keine Antwort?“
+</p>
+
+<p>
+Mette faßte nach Olgas Hand. Sie mußte erst
+einen Schleier zerreißen, den die schwer gesprochenen
+Worte über sie gebreitet hatten.
+</p>
+
+<p>
+„Du bist ja verrückt!“ sagte sie. Aber ihre Stimme
+klang nicht klar. Sie mußte eine plötzliche Heiserkeit
+wegräuspern. – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Das Knirschen der Bremse lief unter den Wagen
+durch.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+„Die sechste Station!“ sagte Mette geheimnisvoll
+mit großen Augen. „Die nächste ist unser Schicksal.
+Gebe Gott, daß es keine große Stadt ist!“
+</p>
+
+<p>
+Als der Zug sich wieder in Bewegung setzte, fingen
+sie an, sich zum Aussteigen fertigzumachen. Die
+nächste Haltestelle konnte in zehn Minuten oder in
+einer Stunde erreicht sein. Sie wußten es nicht.
+</p>
+
+<p>
+Sie hatten den Handkoffer auf den Sitz heruntergehoben
+und standen nebeneinander an der Tür, die
+Stirn an die Scheibe gelegt, bemüht, mit den scharfen
+Augen das vorübersausende Dunkel zu durchdringen.
+</p>
+
+<p>
+„Es ist viel Wald in der Gegend,“ sagte Olga.
+„Nadelwald.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-212" class="pagenum" title="212"></a>
+„Ja,“ frohlockte Mette, „darin gehen wir morgen
+spazieren.“
+</p>
+
+<p>
+Der Wald hörte auf. Schiefergrauer, wolkiger
+Himmel schied sich von weit hingebreiteten, sanft gehügelten
+dunklen Feldern. Wieder Bäume, erst vereinzelt,
+dann dichter schwarzer Wald, der bis an den
+Bahndamm herantrat und nicht ein Streifchen Himmel
+mehr über den Gipfeln sehen ließ.
+</p>
+
+<p>
+Wieder wurden die Bäume spärlicher, verschwanden.
+Wieder breiteten sich Felder in breiten Flächen.
+Aber in einer Entfernung, die man nicht schätzen
+konnte, wie eingebettet zwischen den sanft geschwungenen
+Linien, blinkte ein winziges Licht. Noch eins
+... und noch eins ...
+</p>
+
+<p>
+„Da ... da! Da!“ rief Mette entzückt. „Ob wir
+das sind?“
+</p>
+
+<p>
+„Seltsam,“ sagte Olga, „vielleicht ist eins von diesen
+Lichtern morgen unser helles Fenster. Und vielleicht
+hat man nach zehn Jahren ein Heimatsgefühl, wenn
+man an diesen Lichtlein vorüberfährt. Und jetzt hat
+man keine Ahnung, wie der Ort da heißt!“
+</p>
+
+<p>
+Ein Bahnwärterhäuschen glitt vorüber. Hier und
+da gleißte ein Stück der blanken Schienen im Lichtschein
+einer Laterne auf. Wieder traten Baumbestände
+bis dicht an den Zug, aber gelichteter, von vielen
+Wegen durchzogen. Dann lief eine Hecke ein Stück
+<a id="page-213" class="pagenum" title="213"></a>
+mit. Dann vor der beschnittenen Hecke ein hellgestrichenes
+Holzstaket. Dahinter, ganz nah, dunkelten
+schon die Umrisse einzelner Häuser. Nun kamen
+trüb brennende Laternen, eine Barriere, die eine
+dunkle, baumbestandene Chaussee abschloß.
+</p>
+
+<p>
+Wieder ein Stückchen Wald oder Garten, im Hintergrund
+aufblinkend ein Lichtlein nach dem anderen
+– schon fuhr der Zug langsam, knirschte, puffte –
+hölzerne Säulen schoben sich heran, die ein schmales
+Schutzdach trugen ... er hielt.
+</p>
+
+<p>
+Olga griff nach dem Handkoffer, drückte die Klinke
+auf und sprang die hohen Stufen hinunter.
+</p>
+
+<p>
+Mette folgte ihr in einem seltsamen Traumzustand
+befangen. Sie war durch die beiden schlaflosen Nächte
+überwach, und ihre Sinne schienen, tausendfach geschärft,
+jeden Eindruck aufzunehmen.
+</p>
+
+<p>
+Der dünne Hauch von Reif, der den Boden, die
+Holzstangen überzog, die groben Gesichter von zwei
+bäuerlich gekleideten Frauen, die an ihnen vorüberhasteten,
+der langgezogene Ruf des Schaffners, das
+gemächliche Zuschlagen der Türen, die roten Hände
+des Mannes an der Sperre, die aus gestrickten Pulswärmern
+herauswuchsen, der kleine dämmerige Raum
+mit papierbeklebten Wänden und abgescheuerten Holzbänken,
+durch den sie hindurch mußten, das Pfeifen
+des abfahrenden Zuges in ihrem Rücken – das alles
+<a id="page-214" class="pagenum" title="214"></a>
+prägte sich ihrem Gehirn mit unauslöschlicher Deutlichkeit
+ein.
+</p>
+
+<p>
+Olga stieß eine Tür auf, trat ein paar steinerne
+Stufen hinunter, und sie standen auf dem holperigen
+Steinpflaster eines großen Platzes, der von dem Licht
+des Bahnhofs schwach erhellt war.
+</p>
+
+<p>
+Rechts und links war tiefes Dunkel. Soviel man
+unterscheiden konnte, kahle zerzauste Laubbäume, ungepflasterte,
+aufgeweichte, leicht überfrorene Wege.
+</p>
+
+<p>
+Geradeaus sah man in einiger Entfernung etwas,
+das aussah wie der Anfang einer Straße.
+</p>
+
+<p>
+Olga blieb stehen und sah Metten lächelnd an.
+</p>
+
+<p>
+„Nun,“ sagte sie, „graust’s dich schon? Was gäbst
+du darum, wenn du jetzt zu Hause unter der Daunendecke
+lägst und das elektrische Licht anknipsen
+könntest?“
+</p>
+
+<p>
+„Gar nichts!“ sagte Mette trotzig. „Im Gegenteil,
+ich finde es hier äußerst gemütlich. Und wenn wir
+kein Unterkommen finden, so wäre es mir doch nur
+deinetwegen schlimm. Ich hab’ dich ja zu dieser Exkursion
+verleitet!“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, meinetwegen!“ sagte Olga wegwerfend.
+„Meinetwegen können wir die Nacht im Bahnhof auf
+den Holzbänken zubringen. Aber wenn du ängstlich
+bist, kehren wir um und fragen den Mann an der
+Sperre nach einem Gasthaus.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-215" class="pagenum" title="215"></a>
+„Nein,“ drängte Mette. „Nicht fragen! Komm
+vorwärts.“
+</p>
+
+<p>
+Nach ein paar hundert Schritten fingen die Häuser
+an. Dunkel, verschlafen, ohne ein helles Fenster.
+Und ein wenig vereinzelt noch, von Gärten und Ackerstreifen
+umgeben. Aber der Weg war mit Katzenköpfen
+gepflastert, und nach einer Biegung rückten die
+Häuser näher zusammen, schlossen sich zur Straße, die
+von flackernden Laternen beleuchtet wurde.
+</p>
+
+<p>
+Die Straße erweiterte sich zu einer Art Marktplatz.
+Es war ein nüchternes Vieleck, ohne jedes malerische
+Gepräge, ohne Linden und ohne rieselnden Brunnen.
+An einer Seite fand sich ein langgestreckter, niedriger,
+grauer Kasten mit breit herunterreichendem Dach und
+vielen Mansardenfenstern. Über der breitgewölbten
+dunkeln Toreinfahrt schaukelte ein blecherner Stern,
+einem Barbierbecken nicht unähnlich, und darüber ließ
+eine große blaue, am schön geschwungenen Arm
+schwebende Laterne die aufgenagelten Buchstaben
+über dem Rundbogen erkennen.
+</p>
+
+<p>
+„Hotel zum blauen Sternen. Gasthaus und Ausspann.“
+</p>
+
+<p>
+„Sogar Hotel,“ sagte Olga, „sieh mal an!“
+</p>
+
+<p>
+Sie suchten nach einer Nachtglocke. Aber sie fanden
+noch nicht einmal eine Tür. Neben der Einfahrt war
+ein Handgriff, der an einer verrosteten Eisenstange
+<a id="page-216" class="pagenum" title="216"></a>
+eine große Glocke in Bewegung setzte. Aber er war
+in kaum erreichbarer Höhe. Mette bemühte sich.
+</p>
+
+<p>
+„Laß nur,“ sagte Olga, „der ist nicht für armselige
+Fußgänger wie wir. Außerdem wecken wir die ganze
+Stadt. Laß uns lieber einmal von der Innenseite
+versuchen.“
+</p>
+
+<p>
+Sie wagten sich in die dunkle Höhlung des Tors.
+Aber sie kamen nicht weit. Noch ehe der Gang sich zum
+Hof öffnete, versperrte ein riesiger Leiterwagen den
+Weg. Aber neben dem Wagen fanden sich ein paar
+Stufen und eine kleine hölzerne Tür in der Wand.
+Sie ertasteten einen Metallknopf, zogen an ihm und
+lösten damit ein kräftig schepperndes Geklingel aus,
+das sie fast zusammenschrecken ließ, so jäh zerschnitt es
+die tiefe Stille.
+</p>
+
+<p>
+Schritte, Stimmen, ein Lichtschein.
+</p>
+
+<p>
+Ein verschlafener Mensch erschien in der offenen Tür,
+Pantoffeln an den nackten Füßen, in Unterhosen von
+graugelber Wolle, über die er höchst merkwürdigerweise
+einen Frack gezogen hatte, den er mit der linken
+Hand unterm Kinn zusammenhielt, während er in der
+erhobenen Rechten einen brennenden Wachsstock trug.
+</p>
+
+<p>
+Olga übernahm die Führung der Verhandlung.
+</p>
+
+<p>
+Sie erzählte dem schlaftrunkenen Mann eine lange
+Geschichte von dem Zug, mit dem sie eben eingetroffen,
+und daß ihr das Hotel zum blauen Sternen schon in
+<a id="page-217" class="pagenum" title="217"></a>
+Berlin empfohlen, sie bedauerte, ihn in seinem Schlaf
+gestört zu haben, aber der Zug käme zu so ungünstiger
+Zeit hier an, und sie hätten doch nicht auf der Straße
+bleiben können, und am Bahnhof hätte man sie natürlich
+auch hierher gewiesen.
+</p>
+
+<p>
+Der Mann ermunterte sich so weit, daß er „Einen
+Augenblick, bitte!“ sagte, verschwand und sie stehen
+ließ.
+</p>
+
+<p>
+Sie sahen sich lachend an und warteten geduldig.
+Nach einer Weile wurde oben auf der Treppe eine in
+offener Schale brennende Gasflamme entzündet, und
+der Mann erschien wieder, jetzt mit schwarzen Hosen
+angetan.
+</p>
+
+<p>
+Daß er ein kragenloses Wollhemd und weder Weste
+noch Strümpfe anhatte, hinderte ihn nicht, eine gewisse
+Gewandtheit der Bewegungen zu zeigen, die ihn
+sofort als den „Ober“ verriet.
+</p>
+
+<p>
+Er führte sie in ein großes dunkles und kaltes
+Zimmer, schwang sich auf einen Polstersessel und entzündete
+eine Gasflamme. Es war entschieden das
+Fürstenzimmer des blauen Sternen.
+</p>
+
+<p>
+Die hohen und breiten Betten, das wuchtige Plüschsofa
+verschwanden fast in dem weiten Raum. Zwischen
+den Fenstern prangte ein großer goldgerahmter
+Spiegel, auf dessen Konsole ein Makartstrauß unter
+einer Glasglocke stand, und die Wände zierten
+<a id="page-218" class="pagenum" title="218"></a>
+zahlreiche Buntdrucke, die meisten in dicken Goldrahmen.
+</p>
+
+<p>
+Der „Ober“ bückte sich und steckte einen Gasofen an.
+Eine ganze Reihe spitzer blauer Flämmchen puffte
+auf, spiegelte sich in einer Nische aus gerieftem Kupfer
+und warf einen warmen rötlichen Schein auf den abgeschabten
+Teppich.
+</p>
+
+<p>
+„Herrlich!“ sagte Olga und warf ihre Handschuhe
+auf den großen, runden, plüschüberdeckten Tisch.
+„Jetzt wird es auch noch warm hier, dann ist es einfach
+ideal. Nein, Herr Ober, wir brauchen weiter
+nichts. Danke schön, wenn wir morgen früh vielleicht
+auf dem Zimmer frühstücken können? – Hier ist die
+Klingel – ja, herrlich. Danke schön! Gute Nacht!“
+</p>
+
+<p>
+Die Tür schloß sich hinter ihm.
+</p>
+
+<p>
+„Wundervoll!“ sagte Olga und reckte übermütig
+die Arme.
+</p>
+
+<p>
+„Ist das dein Ernst?“ fragte Mette zaghaft. „Ich
+denke immer, dein Schönheitssinn muß Qualen leiden!
+Diese Bilder ... und das Makartbukett und die
+Plüschgarnitur ...“
+</p>
+
+<p>
+„Prachtvoll!“ sagte Olga. „Das <em>muß</em> doch überhaupt
+so sein. Ich wäre geradezu enttäuscht, wenn
+diese kämpfenden Hirsche nicht hier wären, oder die
+duftigen Empiremädchen unter dem blühenden Apfelbaum.
+Glaubst du, ich möchte im Hotel zum blauen
+<a id="page-219" class="pagenum" title="219"></a>
+Sternen Chippendale-Möbel finden oder einen Kokoschka?
+Gott soll mich bewahren! Ich finde es einfach
+himmlisch!“
+</p>
+
+<p>
+Mette packte den Handkoffer aus, breitete Nachthemden
+über die Betten, stellte Flaschen und Dosen
+auf den Waschtisch. Olga ging mit unhörbaren
+Schritten im Zimmer hin und her, pfiff mit leisen,
+süßen Flötentönen vor sich hin, blieb vor jedem Bild
+stehen, betrachtete es mit kindischem Entzücken und
+erzählte eine lange romantische Geschichte dazu.
+</p>
+
+<p>
+„Hier!“ sagte Mette und legte ihren seidenen
+Kimono über einen Stuhl, „den kannst du anziehen.“
+</p>
+
+<p>
+„Und du?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich hab’ noch einen Frisiermantel, der genügt
+mir.“
+</p>
+
+<p>
+Olga legte Rock und Bluse ab und wickelte sich in
+den Kimono.
+</p>
+
+<p>
+„Wundervoll,“ sagte sie, „nun müßte ich nur noch
+warme Füße haben und die Haarnadeln aus dem
+Kopf. Dann bin ich wunschlos glücklich.“
+</p>
+
+<p>
+Sie rollte einen Sessel vor den Gasofen und fing
+an, sich die hohen Stiefel aufzuschnüren.
+</p>
+
+<p>
+„Soll ich dir helfen?“ fragte Mette dienstbereit.
+</p>
+
+<p>
+„Das fehlte noch!“ sagte Olga empört. „Nicht
+einem Dienstmädchen würd’ ich das zumuten!“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist auch etwas anderes,“ sagte Mette lächelnd.
+<a id="page-220" class="pagenum" title="220"></a>
+„Es ist eine Auszeichnung, die man einem Dienstmädchen
+nicht gönnen darf.“
+</p>
+
+<p>
+„Du bist ja verrückt!“ Über Olgas Gesicht schoß
+wieder das dunkle flüchtige Rot.
+</p>
+
+<p>
+Sie hatte jetzt auch die dünnen seidenen Strümpfe
+abgestreift und hielt die nackten Füße gegen die
+Flammen. Sie hob die Arme und zog langsam Nadel
+auf Nadel aus dem Haar, bis die schweren schwarzen
+Strähnen ihr über den Rücken stürzten.
+</p>
+
+<p>
+Mette sprang auf einen Stuhl und drehte die Gasflamme
+aus.
+</p>
+
+<p>
+„So!“ sagte sie lachend, „nun kannst du dich malen
+lassen oder gleich öldrucken und dich goldgerahmt an
+die Wand hier hängen. Unterschrift: <span class="antiqua">Au coin du feu</span>,
+oder die Hexe, oder Feuersgluten, oder sonst was
+Gutes. Wie kann ein Mensch so unverschämt schön
+sein?!“
+</p>
+
+<p>
+„So!“ sagte Olga trocken. „Das hast du hübsch gemacht.
+Jetzt haben wir keine Streichhölzer.“
+</p>
+
+<p>
+„Erstens genügt mir die Beleuchtung,“ sagte Mette
+und setzte sich auf die Erde in den rötlichen Feuerschein,
+„und zweitens können wir uns hier immer einen
+Fidibus anstecken. Wenn wir nichts anderes finden,
+nehmen wir einen Hundertmarkschein. Davon haben
+wir ja genug ... Kind, was hast du für märchenhafte
+Füße ... aber kalt sind sie immer noch wie Eis!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-221" class="pagenum" title="221"></a>
+Sie legte beide Hände um Olgas Fuß. Er war so
+edel geformt, so schön in Linie und Farbe, als hätte
+eine Meisterhand ihn aus Marmor gebildet, aber er
+war auch so kalt und schwer wie Stein.
+</p>
+
+<p>
+Mette versuchte, ihn in ihren Händen zu wärmen,
+sie hauchte darauf, und dann konnte sie der Versuchung
+nicht widerstehen, sie legte die Lippen auf die kühle,
+glatte, weiße Haut.
+</p>
+
+<p>
+Olga machte sich los, sprang auf und lief durch das
+dunkle Zimmer bis nach dem Fenster.
+</p>
+
+<p>
+„Olla,“ sagte Mette erschrocken und stand zögernd
+auf. „Was ist dir denn? Was hast du denn?“
+</p>
+
+<p>
+Es kam keine Antwort. Mette ging ihr nach. Aber
+als sie ans Fenster kam und die Hand nach ihr streckte,
+lief Olga wie gejagt nach der Wand.
+</p>
+
+<p>
+Sie stand in die Ecke gedrückt und Mette vertrat ihr
+den Weg.
+</p>
+
+<p>
+Das schöne blasse Gesicht schimmerte unheimlich
+durch das Dunkel. In den angespannten Zügen lag
+Angst und Drohung zugleich, wie bei einem angeschossenen
+Tier, das sich umstellt sieht und sich verzweiflungsvoll
+zur Wehr setzt.
+</p>
+
+<p>
+Mette erschrak vor dem Ausdruck des gepreßten
+Mundes, der dunkel lohenden Augen. Sie legte zaghaft
+die Hand auf Olgas über der Brust gekreuzte
+Arme.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-222" class="pagenum" title="222"></a>
+Olga zuckte zusammen und drückte sich tiefer in die
+Ecke.
+</p>
+
+<p>
+„Geh doch!“ sagte sie mit zusammengebissenen
+Zähnen. „Laß mich doch in Ruh!“
+</p>
+
+<p>
+„Du sollst nicht mit den nackten Füßen auf der
+bloßen Diele stehen,“ bat Mette, den Tränen nahe.
+„Du erkältest dich zu Tode. Ich will ja nichts, als daß
+du dich an den Ofen setzest. Dann kann ich mich ja
+auf den Korridor vor die Tür schlafen legen, oder ich
+kann mir ein anderes Zimmer geben lassen, oder ich
+kann aus dem Fenster springen. Aber komm aus der
+Ecke heraus, ich kann es nicht mehr mit ansehen.“
+</p>
+
+<p>
+Sie faßte sie an beiden Schultern, aber Olga schüttelte
+ihre Hände von sich ab.
+</p>
+
+<p>
+„Laß mich doch!“ sagte sie böse. „Siehst du denn
+nicht, daß du mich zu Tode marterst? Wie kann ein
+Mensch so wahnsinnig grausam sein?“
+</p>
+
+<p>
+Die Stimme brach ihr, und ganz jählings stürzten
+die Tränen über ihr Gesicht.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt konnte sich Mette nicht mehr beherrschen. Auch
+ihre Augen liefen über.
+</p>
+
+<p>
+„Ich verstehe dich nicht!“ sagte sie mit zitternden
+Lippen. „Wenn ich dir so zuwider bin, daß du mich
+nicht erträgst, warum bist du dann hier? Warum gibst
+du dich dann überhaupt mit mir ab? Man kann nicht
+einen Menschen gern haben, dessen Nähe einen derart
+<a id="page-223" class="pagenum" title="223"></a>
+quält! Ich weiß ja aber auch, warum du mich nicht
+leiden kannst!“
+</p>
+
+<p>
+„Warum?“ fragte Olga erstaunt.
+</p>
+
+<p>
+Mette schüttelte stumm den Kopf und kämpfte die
+Tränen hinunter.
+</p>
+
+<p>
+„Warum soll ich dich nicht leiden können?“ forschte
+Olga drängender. „Antworte! Ich will das jetzt
+wissen.“
+</p>
+
+<p>
+Mette vermied es immer noch, sie anzusehen.
+</p>
+
+<p>
+„Weil ich dich zu sehr liebe!“ sagte sie bitter und
+traurig. „Es muß furchtbar sein, von einem Menschen
+geliebt zu werden, den man nicht liebt! Beinah
+ekelhaft!“
+</p>
+
+<p>
+„Du Schaf,“ sagte Olga und strich ganz weich mit
+der Hand über Mettens Haar.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, laß,“ sagte Mette und entzog sich der streichelnden
+Hand. „Man muß sich nicht zwingen.“
+</p>
+
+<p>
+Olga ließ den Arm schwer herabsinken.
+</p>
+
+<p>
+„Man muß sich doch zwingen,“ sagte sie leise
+und mühsam atmend. „Wenn ich mich jetzt nicht
+zwingen würde, würd’ ich dich so mit Zärtlichkeiten
+ersticken, daß du zu Tod erschrecken tätst und davonlaufen.“
+</p>
+
+<p>
+Mette fühlte die Adern in ihrem Hals schlagen, daß
+sie kaum atmen konnte. Sie versuchte zu lächeln,
+während noch die Tränen von ihren Lidern rollten.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-224" class="pagenum" title="224"></a>
+„Tu es nicht,“ sagte sie, „ich würde ganz bestimmt
+nicht davonlaufen. Aber vielleicht würde ich wahnsinnig
+vor Glück!“
+</p>
+
+<p>
+Da hob Olga langsam die beiden weißen, schlanken
+Arme und legte sie um Mettens Schultern. Mette
+fühlte den wohltuend kraftvollen Druck fester und
+fester werden.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt, da Olga auf bloßen Füßen stand, waren ihre
+Gesichter fast in gleicher Höhe.
+</p>
+
+<p>
+Sie bohrten die Augen ineinander, ernsthaft und
+unverwandt und spürten in allen Adern das rasende
+Hämmern ihrer Herzen.
+</p>
+
+<p>
+Dann neigten sie sich gegeneinander wie zwei Verdurstende
+und legten Mund auf Mund.
+</p>
+
+<p>
+Sie ließen einander nicht mehr los. Sie küßten sich
+nur immer durstiger eins am anderen. Sie gingen
+durch das Zimmer aneinandergeschmiegt, sie saßen
+auf dem Bettrand ineinander verschlungen. Die Kleider
+glitten von ihnen nieder, achtlos, blieben auf der
+Erde liegen.
+</p>
+
+<p>
+Die groben und feuchten Laken atmeten Schauer der
+Kühle. Sie spürten es kaum, so brannte das Blut
+in ihren jungen Leibern.
+</p>
+
+<p>
+Sie drängten sich aneinander, als wollten sie ineinander
+übergehen, verschmelzen, eins werden.
+</p>
+
+<p>
+Ihre schlanken, geschmeidigen Glieder flochten sich
+<a id="page-225" class="pagenum" title="225"></a>
+ineinander, wie Bäume des Urwalds unlöslich sich
+ineinander verschlingen.
+</p>
+
+<p>
+Sie sprachen nichts. Aber wie rauschende Musik
+hörte eines des anderen dröhnenden Herzschlag und
+das rasche und raschere Atmen.
+</p>
+
+<p>
+Ihre Leiber bäumten sich gegeneinander wie wilde
+Tiere, wenn sie an Käfiggittern rütteln. Sie gruben
+einander die Nägel in die Glätte der Haut und
+schlugen einander die Zähne in die geschwellten
+Muskeln.
+</p>
+
+<p>
+Und sie lagen aneinandergeschmiegt wie müde gespielte
+Kinder, und ihre Lippen berührten des anderen
+Lider und Wangen so sanft, so leise, wie Schmetterlingsflügel
+schwankende Blüten.
+</p>
+
+<p>
+„Kleines,“ sagte Olga, und alle Glocken schwangen
+in ihrer Stimme. „Mein Schönes, mein Gutes!“
+</p>
+
+<p>
+„Oh, du!“ sagte Mette. „Du Wunder des Himmels.
+Was bist du nur? Bist du ein wildes Tier
+... oder ein Gott ... oder der Geist einer weißen
+Orchidee?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß nicht,“ sagte Olga. „Ich glaube, daß
+ich ein Gott bin. Aber vor einer Stunde war ich ein
+armes gepeinigtes Tier. Bist du nicht stolz, kleines
+Mädchen, daß du solche Wunder tun kannst?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich wollte, ich könnte Wunder tun,“ sagte Mette
+sehnsüchtig.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-226" class="pagenum" title="226"></a>
+Ein hartes Lächeln flog um Olgas Mund.
+</p>
+
+<p>
+„Dann würdest du mich in einen Mann verwandeln!“
+sagte sie.
+</p>
+
+<p>
+„Um Gottes willen!“ rief Mette und schlang erschrocken
+beide Arme um sie. „Nie, nie, nie! ...
+Aber wenn ich Wunder tun könnte, so würde ich diese
+Nacht niemals aufhören lassen. Ich würde sie dauern
+lassen in alle Ewigkeit!“
+</p>
+
+<p>
+Der rote Schein des Kupfers hinter den Gasflämmchen
+erhellte das ganze Zimmer mit warmem
+Dämmerlicht. Die spitzen Flämmchen zitterten leicht,
+und der helle Fleck auf dem bunten abgetretenen Teppich
+zitterte mit.
+</p>
+
+<p>
+Olga richtete sich auf den Ellbogen auf und stützte
+den Kopf in die Hand. Zwischen den weißen Fingern
+hindurch rieselten die Strähnen des schwarzen Haares.
+Aus dem blassen Gesicht leuchteten die helldunklen
+Augen in unendlicher Hoheit und Klarheit wie zwei
+Sterne.
+</p>
+
+<p>
+„Ewig!“ sagte sie leise. „Alles, was Gottes ist, ist
+ewig. Fühlst du nicht, daß diese Nacht Gott gehört?
+Zeit ist eine Erfindung des Teufels. Der Satan hat
+die Vergänglichkeit erfunden, um die Menschen von
+Gott abtrünnig zu machen. Aber Gott blieb ewig,
+und Gottes Herrlichkeit bleibt ewig. Da hat Satan
+alles mögliche andere erfunden: Krankheit, Schmerz,
+<a id="page-227" class="pagenum" title="227"></a>
+Ungeziefer und Geld ... vor allem das Geld. Aber
+nun war Zeit da und Vergänglichkeit da. Und ließ
+sich nicht wieder ungeschaffen machen. Und haftet
+nun an allen Erfindungen des Teufels. Aber, was
+Gottes ist, ist ewig. Immer verlöscht neues Glück die
+alte Qual, als wäre sie nie gewesen. Aber das Glück
+bleibt. Und keine Qual kann es ungeschehen machen.
+– Ich würde sterben vor Scham, wenn ich dächte, daß
+nur die Nervenenden unserer Haut unter unseren
+Händen vibrieren. Spürst du nicht, daß deiner Seele
+etwas geschehen ist, was ihr bleiben muß über allen
+Tod hinaus? Spürst du nicht, daß diese Stunde dich
+weit mehr verändert hat, als dich das bißchen Sterben
+verändern kann?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ sagte Mette. „Und mehr als das bißchen
+Geborenwerden auch. Heut’ bin ich geboren worden
+und nicht vor zwanzig Jahren. Jetzt kann ich zum
+erstenmal mit Bewußtsein sagen: Ich lebe!“
+</p>
+
+<p>
+„Wir leben!“ sagte Olga, sie an sich reißend,
+mit einem Aufjauchzen in der Stimme, das klang
+wie der frohlockende Ruf eines auffliegenden Wildvogels.
+</p>
+
+<p>
+„Wir leben, Süßes. Ewig, ewig, ewig leben wir!“
+– – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+<a id="page-228" class="pagenum" title="228"></a>
+Als Mette am anderen Morgen aufwachte, schien
+eine helle, fröhliche Wintersonne ins Zimmer.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Ihr erster Gedanke suchte Olga. Sie war nicht da.
+Auch ihr Mantel hing nicht mehr am Haken. Ein
+jähes Erschrecken schlug sie. Sie war fort, für immer,
+kam nicht wieder, war <a id="corr-3"></a>unwiederbringlich verloren.
+</p>
+
+<p>
+Mette sprang aus dem Bett, mit einemmal hellwach.
+</p>
+
+<p>
+Da sah sie Olgas Hut und Handschuhe. Sie nahm
+die Handschuhe vom Tisch, streichelte sie und preßte
+sie an die Wange. Von dem weichen grauen Leder
+schien ein Strom von Freude und Beruhigung auszugehen.
+Es war kein Traum und kein Zauberspuk.
+Sie war dagewesen, sie würde wiederkommen – noch
+zeigten die Handschuhe die Form ihrer schönen schlanken
+Hände, waren noch wie erfüllt von ihrem
+Leben ...
+</p>
+
+<p>
+Von unten herauf drang ein wohlbekanntes knirschendes
+und schrapendes Geräusch.
+</p>
+
+<p>
+Mette lief auf bloßen Füßen zum Fenster und zog
+den dicken weißen Köpervorhang ein wenig zur Seite.
+Auf den Fensterbrettern lag ein dickes Polster von
+weißem Schnee. Die niedrigen Häuser drüben hatten
+Dächer von blendendem Weiß und darüber funkelte
+ein Himmel von reinstem Blau.
+</p>
+
+<p>
+Vorm Hotel kratzte der Hausknecht mit dem Schneeschieber
+<a id="page-229" class="pagenum" title="229"></a>
+einen dunklen Weg in den weißen Teppich,
+und neben ihm stand Olga, den Mantel offen, beide
+Hände in den Taschen vergraben, den Kopf ein wenig
+vorgeneigt und führte eine angelegentliche Unterredung
+mit dem alten Mann.
+</p>
+
+<p>
+Mette sah eine Weile hinunter und freute sich an
+jeder Linie ihrer Gestalt. Sie sah sie sprechen und
+glaubte den Ton ihrer Stimme zu hören. Sie dachte
+darüber nach, was sie sich mit dem Hausknecht wohl
+zu erzählen haben könne. Sie bewunderte die
+Gabe an ihr, mit allen Leuten ein Gespräch anzuknüpfen
+und jedem gegenüber den richtigen Ton zu
+treffen.
+</p>
+
+<p>
+Mette kannte das an ihr. Wenn sie bei Laune war,
+wirkte sie so unwiderstehlich, daß der brummigste
+Kellner oder Schaffner sie anstrahlte.
+</p>
+
+<p>
+Nach ein paar Sekunden sah Olga plötzlich hinauf,
+sie mußte Mettens Blick gefühlt haben. Sie sah
+Metten am Fenster stehen oder sah vielleicht auch nur
+die verschobene Gardine, winkte mit der Hand und
+lief ins Haus.
+</p>
+
+<p>
+Sie brachte einen Hauch von frischer Schneeluft ins
+Zimmer. Ihre Augen waren hell und durchsichtig wie
+Eis und hoben sich scharf ab von der schwarzen Pupille,
+und auf ihrem weißen Gesicht lag ein ganz leichter
+Schimmer von rosiger Farbe.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-230" class="pagenum" title="230"></a>
+„Wo kommst du her, du Rumtreiber?“ fragte
+Mette.
+</p>
+
+<p>
+„Ausgeschlafen, mein Deern?“ fragte Olga zur Antwort.
+„Ich war schon spazieren. Ich war in der
+Stadt. Ich wollte dir Blumen auf den Frühstückstisch
+stellen. Aber Blumen im Winter – so sündhafte
+Dinge kennt man hier nicht. Herr Thielemann hat
+nur Stechapfelkränze mit Wachsrosen. Aber eine
+Konditorei ist da drüben, so mit einer Geländertreppe
+vor der Tür, weißt du? Und einem goldenen Kringel
+in der Luft! Und es roch nach frischem Brot. Mach
+dich schnell fertig, Mettulein, ich habe einen wahnsinnigen
+Hunger.“
+</p>
+
+<p>
+Sie frühstückten auf dem Zimmer.
+</p>
+
+<p>
+Dann drängte Mette zum Spazierengehen. Schnee
+und Sonne lockten sie hinaus.
+</p>
+
+<p>
+„Du mußt erst an deinen Vater schreiben,“ sagte
+Olga ernsthaft.
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ sagte Mette und schnitt eine Grimasse. „Du
+willst keine Verantwortung übernehmen – ich weiß
+schon.“
+</p>
+
+<p>
+Sie setzte sich hin und schrieb einen langen und
+wohlüberlegten Brief. Sie bat um Verzeihung. Sie
+schilderte die Vorgänge bei Onkel Jürgen mit viel
+Humor. Sie nannte ihren Aufenthalt, bat ihren
+Vater herzlich, sie hier zu lassen, wo sie sich wohl fühle
+<a id="page-231" class="pagenum" title="231"></a>
+und niemandem im Wege sei. Bat ihn, ihr zu glauben,
+daß sie ein reifer und klarer Mensch sei und
+genau wisse, was zu ihrem Besten wäre. Bat ihn,
+das Geld, das Onkel Jürgen ihr unfreiwillig geliehen,
+zurückzuzahlen – die kurze Zeit bis zu ihrer Mündigkeit
+sie zu unterstützen oder ihr einen Vorschuß auf
+das großmütterliche Erbe auszahlen zu lassen. –
+Aber davon, daß sie nicht allein sei, schrieb sie kein
+Wort.
+</p>
+
+<p>
+Sie trugen den Brief zusammen nach der Post.
+Olga wußte schon den Weg dahin. Als der Umschlag
+in den blauen Kasten versenkt war, atmete sie auf und
+nahm Mettens Arm.
+</p>
+
+<p>
+„Komm,“ sagte sie, „was zu tun war, ist getan.
+In drei Tagen kann die Antwort da sein. Aber die
+drei Tage wollen wir genießen.“
+</p>
+
+<p>
+„Glaubst du,“ sagte Mette mit finsterer Stirn, „daß
+eine Macht der Welt mich zwingen kann, nach Hause
+zurückzugehen? Wenn sie mir kein Geld schicken, geh
+ich als Waschfrau oder als Nähmädchen, oder ich
+mache Schulden.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß nicht,“ sagte Olga. „Ich weiß nur, solange
+dieser Brief noch unterwegs ist, sind wir sicher.
+Kein Mensch weiß, wo wir sind – das ist ein herrliches
+Gefühl – als ob man hinter Mauern und
+Gräben säße. Wenn der Brief erst angekommen ist,
+<a id="page-232" class="pagenum" title="232"></a>
+dann ist die Zugbrücke heruntergelassen – was dann
+geschieht, das weiß ich nicht. Nichts weiß ich, nichts,
+nichts, nichts! Aber es ist immerhin möglich, daß
+wir in Stücke gerissen werden.“
+</p>
+
+<p>
+„Warum haben wir die Zugbrücke heruntergelassen?“
+fragte Mette stehenbleibend. „Warum hast
+du mich gezwungen zu schreiben?“
+</p>
+
+<p>
+Olga lächelte schwermütig.
+</p>
+
+<p>
+„<em>Weil ich die Verantwortung nicht
+übernehmen will!</em>“ sagte sie, mit einem Versuch
+zu scherzen. – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Sie gingen durch die breiten Straßen mit den
+kleinen, niedrigen Häusern. Einen besonderen Reiz
+hatte es, die Schaufenster zu betrachten.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Wo ein kleiner Laden sichtbar wurde, mußten sie
+über den Damm laufen und die Auslagen mustern.
+Da war ein Korbflechter und Bürstenmacher. Da
+war ein Schuhmacher, der einen halbmeterlangen
+Filzschuh in seinem Fenster hatte und daneben einen
+winzigen nadelspitzen Ballschuh aus verstaubtem
+perlgestickten Rosaatlas.
+</p>
+
+<p>
+„Ein Märchen!“ sagte Olga begeistert. „Sieh nur,
+ein Schuhmacher, der Märchen dichtet. Und er weiß
+es. Ganz sicher, er weiß es!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-233" class="pagenum" title="233"></a>
+Da war ein Geschäftchen mit Kurz-, Weiß- und
+Wollwaren. Girlanden von Handschuhen und Kinderjäckchen
+hingen im Fenster. Wasserfälle von Maschinenspitzen
+stürzten hernieder. Nähgarne und
+Häkelwolle legten sich zu symmetrischen Figuren. Und
+überall dazwischen hingen weiße Pappschildchen:
+„Hier werden Puppen zu Weihnachten angezogen.“
+„Hier werden Gardinen kunstgestopft.“ „Unterricht in
+allen weiblichen Handarbeiten.“ „Hier wird Klavierunterricht
+erteilt, gründlich und gewissenhaft, für Anfänger
+und Fortgeschrittene.“ „Hier werden Strümpfe
+mit der Maschine angestrickt.“
+</p>
+
+<p>
+„Geschwister Basch,“ sagte Olga und sah zu dem
+Firmenschild auf. „Sicher sind es zwei alte Schwestern.
+Die eine hat einen Mops und die andere einen
+Kanarienvogel. Oh, in solchen Städten gibt es noch
+Möpse! Die eine, die den Klavierunterricht erteilt,
+das ist eine schönheitsdurstige Seele. Sie hat sicher
+einmal von Ruhm und Beifall geträumt, als sie mit
+fünfzehn ‚<span class="antiqua">La prière d’une vierge</span>‘ spielte. Und die
+andere, die praktische, vielleicht von einem Mann und
+sieben Kindern. Und nun sitzen sie hier und trösten
+sich miteinander. Vielleicht hat die praktische ein aufopferungsfreudiges
+Gemüt und hat den einzigen in
+Betracht kommenden Mann ausgeschlagen, nur um
+ihre Schwester nicht zu verlassen. Die mit dem
+<a id="page-234" class="pagenum" title="234"></a>
+Klavierunterricht, das ist sicher auch die, die die Puppen
+anzieht. Aber die andere strickt die Strümpfe an.
+Weißt du, ich möchte in einer Novelle den Tag beschreiben,
+da die Strickmaschine ins Haus kam. Wahrscheinlich
+haben sie zehn Jahre daraufhin gespart –
+und dann haben sie sie gefürchtet und geliebt – so ein
+bißchen wie Teufelsspuk und Feenzauber – ach, vielleicht
+wäre es gut, ein solcher Mensch zu sein ... oder
+ob sie ganz klein und neidisch und giftig sind?“
+</p>
+
+<p>
+Da war ein Kaufmannsladen, ein „Kolonialwarenhändler“,
+es war erstaunlich, was sein Fenster für
+eine prunkvolle Ausstattung aufwies. Getrocknete
+Aprikosen bildeten Sterne auf weißem Reis. Grotten
+aus Zuckerkand türmten sich auf, mystisch erhellt durch
+Fenster aus roter Gelatine. Da war ein See aus
+Stanniol, auf dem ein kleiner hohler Schwan mit aufgeplatztem
+Rücken schwamm. Da waren tausend
+bunte Dinge, und wie um die Farbenpracht zu mildern,
+lag über allem eine gleichmäßige graue Staubschicht
+– eingefressener, unverwüstlicher, wohlberechtigter
+Staub.
+</p>
+
+<p>
+Und dann, ganz am Ende der Stadt, wo die Häuser
+vereinzelt standen und das Pflaster aufhörte und die
+Hühner gackernd über den Weg liefen, da war ein
+ganz kleiner Laden, der hatte in seinem schmalen
+Fensterchen alles – alles, was das Herz nur begehren
+<a id="page-235" class="pagenum" title="235"></a>
+konnte. Hohe Gläser mit bunten Bonbons und blaue
+Glanzpapiertafeln mit Zwirnknöpfen, Kränze von getrockneten
+Feigen und Postkarten, auf denen liebende
+Paare in flammenden oder blumenumkränzten Herzen
+sich küßten. Schnürsenkel und saure Gurken, Schuhwichse
+und Backpulver und irdene Töpfchen und
+Kämme und ...
+</p>
+
+<p>
+„Abziehbilder!“ sagte Olga mit andächtigem Entzücken.
+„Sieh nur, Mette, veritable Abziehbilder!
+Ganz richtig mit dem blauen Hauch darüber, mit dem
+mystischen Schleier, daß man nur ahnen kann, was
+daraus wird, wenn sie abgezogen sind. Oh, es war
+kein Kachelofen vor meinen Abziehbildern sicher!
+Wer sie immer nur hübsch auf einem Tisch verarbeitet
+hat, ahnt gar nicht, wie schwer es ist, sie auf einer
+senkrechten Fläche anzubringen. Sie waren immer
+durcheinander gerutscht. Ich glaube, ich hatte keine
+ruhige Hand. Ob ich es jetzt besser könnte? Ich
+bitte dich, Mette, um aller Heiligen willen, geh hinein
+und kauf mir für einen Groschen Abziehbilder –
+aber ein Bogen mit Schiffen muß dabei sein.“ – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Hinter den letzten Häusern fing die Landstraße an:
+Breit, gerade, mit kahlen Bäumen bestanden, schneebedeckte
+Felder rechts und links, am Horizont ein
+Streifen dunkelblauen Waldes.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Sie schritten scharf aus. Der Schnee knirschte unter
+<a id="page-236" class="pagenum" title="236"></a>
+ihren Schuhen. Bei jedem Schritt flogen krächzende
+Krähen vor ihnen auf, der Wind rauschte in den Telegraphendrähten
+und blies manchmal eine Schneelast
+von einem Zweiggewirr auf sie herab. Der unberührte,
+unbetretene Schnee war weich wie Watte
+und blitzte in der Sonne wie zerstoßenes Glas.
+</p>
+
+<p>
+Der Wald, der so fern erschienen war, schien ihnen
+entgegenzulaufen.
+</p>
+
+<p>
+Hundert Schritte davor bog die Landstraße ab. Aber
+ein breiter Weg führte hinein. Das Stückchen über
+das freie Feld war kaum als Weg zu erkennen, so
+schneeverweht war es. Aber drüben tat sich in den
+hohen schneebedeckten Tannen eine Öffnung auf,
+wie der Eingang zu einem Tunnel. Da strebten
+sie hin.
+</p>
+
+<p>
+Als der Wald sie umfing, wurde es mit einem
+Male still und warm – so warm, daß ihre windgepeitschten
+Gesichter anfingen zu brennen.
+</p>
+
+<p>
+Hoch über ihnen in den Wipfeln rauschte der Wind
+und schüttelte zuweilen silberne Sterne auf den
+dunklen Boden. Aber sein kalter Atem traf sie nicht.
+</p>
+
+<p>
+Sie wanderten in versunkenem Schweigen. Nur
+wenn bunte Meisen vor ihnen herflatterten oder ein
+Eichhörnchen an einem Stamm hinaufflitzte, machte
+eines das andere durch ein Flüstern, durch eine Bewegung
+aufmerksam. Und wenn dann ihre Blicke sich
+<a id="page-237" class="pagenum" title="237"></a>
+trafen, dann blieben sie ineinander hängen, bis sie
+lächelten und die Augen schlossen – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+„Aha! Da ist es!“ sagte Olga nach einer guten
+Weile.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+„Was? Wo?“ fragte Mette erstaunt.
+</p>
+
+<p>
+Olga wies mit der Hand vorwärts. Zwischen den
+Stämmen wurde plötzlich eine rote Backsteinmauer
+sichtbar.
+</p>
+
+<p>
+„Hast du denn gewußt, wo wir hingehen?“ wunderte
+sich Mette.
+</p>
+
+<p>
+„Natürlich, Kind! Ich werde dich doch nicht aufs
+Geratewohl in der Irre herumführen. Dieses muß
+nach menschlichem Ermessen der Waldkater sein. Im
+Sommer gibt’s hier Kaffeekochen, Musik und Tanzvergnügen.
+Im Winter kriegen wir vielleicht was
+zu essen – wenn wir Glück haben. Das hat mir alles
+unser Hausknecht heute früh erzählt. Außer seiner
+Lebensgeschichte – – es gibt so ein schönes Märchen
+– – Bechstein, glaub’ ich – – von der verwunschenen
+Mühle, wo nur der Esel, die Katz und die
+Taube sind. Und noch irgendein Tier. Siehst du, da
+fliegt die Taube auf, und da ist die Katz. Aber kein
+Mensch zu erblicken. Graust dir’s schon, Mette? Ganz
+sicher, die Katze will uns was sagen!“
+</p>
+
+<p>
+Sie durchschritten eine Art Wirtschaftshof und rüttelten
+an ein paar verschlossenen Türen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-238" class="pagenum" title="238"></a>
+„Es kann nicht ausgestorben sein,“ sagte Olga und
+deutete auf ein Rauchwölkchen, das aus dem Schornstein
+aufstieg. „Oder die Katz hat Feuer angemacht.
+Aber wenn sie das kann, kann sie uns auch was zu
+essen kochen.“
+</p>
+
+<p>
+Sie fanden eine Tür offen. Durch einen leeren
+und kalten Saal, von dessen Decke zerfetzte und verstaubte
+Papiergirlanden herunterhingen, kamen sie
+an eine andere Tür, die einem Druck auf die Klinke
+nachgab. Dieser nächste Raum war erfüllt von behaglicher
+Wärme und durchdringendem Kohlgeruch. Ein
+eiserner Ofen fauchte glühende Luft und auf ihm
+brodelte ein blauer Emailletopf mit einem dampfenden
+Inhalt. An einem der Tische, breit aufgestützt,
+saß eine grobknochige Magd und messerte ihr Kohlgericht
+aus einem blechernen Napf.
+</p>
+
+<p>
+„Guten Tag, Fräulein Anna,“ sagte Olga strahlend
+liebenswürdig. „Na, wie geht’s Ihnen denn?
+Schmeckt’s?“
+</p>
+
+<p>
+Das Mädchen stand langsam auf und grinste.
+</p>
+
+<p>
+„Ich heiß’ nicht Anna,“ sagte sie, „die vorvorige war
+die Anna. Ich heiß’ Berta.“
+</p>
+
+<p>
+„Schön warm haben Sie’s hier, Fräulein Berta.“
+Olga zog die Handschuhe aus und hielt die Finger
+vor die Ofenglut. „Und herrlich riecht’s hier nach
+<a id="page-239" class="pagenum" title="239"></a>
+Kraut. Wollen Sie uns nicht was abgeben von
+Ihrem Mittagbrot?“
+</p>
+
+<p>
+Das grinsende Mädchen wischte mit der Schürze
+über einen Tisch.
+</p>
+
+<p>
+„Wenn die Damen was zu essen haben möchten,
+kann ich ja mal die Frau fragen.“
+</p>
+
+<p>
+„Herrlich, Fräulein Berta! Und wenn wir was zu
+trinken kriegen könnten – einen Grog oder Glühwein
+oder sonst so was Gutes.“ Olga blinzte dem Mädchen
+zu, als hätte sie ihr ein Geheimnis anvertraut. „Wir
+sind nämlich mächtig durchgefroren.“
+</p>
+
+<p>
+Sie stemmte die Füße gegen den heißen Ofen, daß
+die nassen Sohlen anfingen zu zischen.
+</p>
+
+<p>
+„Sagen Sie, was ist eigentlich aus der Anna geworden?
+Daß ich Sie verwechselt habe! Die war ja
+viel kleiner als Sie!“
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ sagte Berta, „die war man schwächlich. Sie
+hat geheirat’t.“
+</p>
+
+<p>
+„Geheiratet?“ sagte Olga überrascht. „Sieh mal
+an! Dabei war sie doch gar nicht mal so hübsch.“
+</p>
+
+<p>
+„Ne,“ sagte Berta, „hübsch war sie nich. Un
+schwächlich war sie auch man. Aber sie hatte ’n
+Mundwerk, ’n Mundwerk hatte sie. Un das sticht
+manch einen ins Auge.“
+</p>
+
+<p>
+Olga blieb ganz ernst.
+</p>
+
+<p>
+„Na, lassen Sie man, Berta,“ sagte sie begütigend,
+<a id="page-240" class="pagenum" title="240"></a>
+„Sie werden ja auch bald heiraten. Es ist doch immer
+das beste. Man will ja gerne schuften. Aber es ist
+doch immer was anderes, wenn man für die eigene
+Wirtschaft schuftet.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ sagte Berta überzeugt und blieb eine Weile
+gedankenvoll mit offenem Munde stehen, „nun will ich
+aber mal nach was zu essen fragen.“
+</p>
+
+<p>
+Damit machte sie kehrt und schoß hinaus.
+</p>
+
+<p>
+„Herrlich,“ sagte Olga und witterte wie ein Jagdhund
+mit erhobener Nase. „Es riecht so gut nach
+Kraut und Hammelfleisch.“
+</p>
+
+<p>
+Mette schüttelte den Kopf.
+</p>
+
+<p>
+„Ein komischer Kerl bist du,“ sagte sie lachend. „Hier
+findest du das herrlich, und wenn’s in der Motzstraße
+nach Kohl riecht, kriegst du Ohnmachten und Tobsuchtsanfälle.“
+</p>
+
+<p>
+„Erlaube mal, das ist vielleicht ein Unterschied,
+wenn’s in einem Berliner Zimmer mit Jugendstilmöbeln
+und einem Prismenkronleuchter halb nach
+Kohl riecht und halb nach billigem Heliotropparfüm,
+so erzeugt das einen Nervenzustand, der einen direkt
+zum Selbstmord treiben kann. Hier muß es einfach
+ein bißchen nach Ofendunst riechen und ein bißchen
+nach Schweinestall und kräftig nach Kümmelkohl –
+das ist gerade das Richtige. Wenn meine Freundin
+Berta hier mit dem Messer ißt, stört mich das gar
+<a id="page-241" class="pagenum" title="241"></a>
+nicht. Aber wenn ich’s im Schweizer Hof in Luzern
+sehe, könnt’ ich aus der Haut fahren.“ – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Die schwarzweiß gefleckte Katze kam ins Zimmer geschlichen.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+„Da hast du den Waldkater!“ sagte Olga. „Komm
+her, Mies! Komm zu mir!“
+</p>
+
+<p>
+Die Katze ließ sich greifen und halten. Olga streichelte
+sie, drückte sie an sich, erzählte ihr im Flüsterton
+lange Geschichten und richtete teilnehmende Fragen
+an sie.
+</p>
+
+<p>
+„Daß du Katzen so liebst und Hunde nicht leiden
+kannst,“ sagte Mette ein wenig mißbilligend, „das ist
+eigentlich bezeichnend für dich!“
+</p>
+
+<p>
+Olga hob rasch den Kopf und zog die Brauen hoch.
+</p>
+
+<p>
+„Bezeichnend? Wieso?“
+</p>
+
+<p>
+„Weil du die Grazie mehr schätzt als die Treue,“
+sagte Mette mit einem wehmütigen Lächeln. „Weil
+dir das lieber ist, was heimlich kratzt, als das, was
+sich schlagen läßt und die Hand leckt. Ich glaube, ich
+muß mich in acht nehmen, daß ich dir nicht verächtlich
+werde.“
+</p>
+
+<p>
+Olga schüttelte die Katze von ihrem Schoß herunter.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, Mette,“ sagte sie mit großen ernsten Augen,
+„da verkennst du mich vollständig. Ich habe eine Antipathie
+gegen Hunde, aber nicht, weil sie treu sind,
+sondern weil sie schamlos sind. Weil sie ihr Liebesleben
+<a id="page-242" class="pagenum" title="242"></a>
+auf die Straße tragen.“ Der rote Schatten flog
+wieder über ihr Gesicht. „Katzen haben darin mehr
+Kultur – um dies oft mißbrauchte Wort zu mißbrauchen.
+Es gibt Kerfe, die sich nur in tiefster Nacht,
+nur in den verstecktesten Winkeln paaren – so daß es
+noch keinem Forscher gelungen ist, diesen Prozeß zu
+beobachten. Ich denke immer, es wird einmal eine
+Zeit kommen, da wird man von den barbarischen Gebräuchen
+dieser Jahrhunderte oder Jahrtausende wie
+von Märchen erzählen. Denke dir nur, wie unendlich
+komisch das einen feinfühligen Menschen berühren
+muß: Wenn zwei Menschen Sehnsucht haben, miteinander
+in einem Bett zu liegen, so setzen sie einen
+bestimmten Tag dafür fest. Sie setzen öffentliche Institutionen,
+den Staat und die Kirche, davon in
+Kenntnis. Sie benachrichtigen Freunde und Verwandte,
+ihre eigenen Eltern, ihre eigenen Geschwister!
+An dem Tag, der dieser Nacht vorangeht, versammeln
+sie alle Leute um sich, die sie nur irgend kennen, sitzen
+Hand in Hand und lassen sich betrachten, umgeben sich
+mit Leuten, die gefüttert und getränkt werden, bis
+ihnen übel wird, lassen sich anzügliche Lieder vorsingen
+und anzügliche Reden halten – und fühlen
+sich vielleicht sogar wohl dabei. – Ich habe immer
+das Gefühl gehabt, Hochzeit zu halten auf die Art,
+wie man das jetzt handhabt, müßte eine Strafe für
+<a id="page-243" class="pagenum" title="243"></a>
+Schwerverbrecher sein. Es ist eine so grausame
+Quälerei, eine so ausgesuchte Folter ... Mette,
+Kind, tu mir den Gefallen, wenn du dich einmal
+einem Manne hingeben willst, den du liebst, tu’s,
+wenn dir danach zumute ist und nicht an einem vorher
+festgesetzten Tag – tu’s ganz heimlich, daß keine
+lebende Seele die Möglichkeit eines solchen Geschehens
+ahnt ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ich?“ sagte Mette mit Augen voll traumverlorenen
+Entsetzens. „Ich?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, du!“ sagte Olga lächelnd. „Ach, Kind –
+meinst du, du hast eine Ahnung, was in deinem
+Leben noch alles geschehen kann?!“ – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Am anderen Tag saßen sie in der Konditorei von
+Ferdinand Brausewetter am Roßmarkt.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Sie hatten einen weiten Spaziergang gemacht und
+waren hungrig und durchfroren.
+</p>
+
+<p>
+Nun saßen sie auf dem roten Samtsofa, das mit
+Häkeldeckchen belegt war, als ob es in der guten Stube
+stünde.
+</p>
+
+<p>
+Olga hatte eine – wie sie sagte – „prähistorische“
+Nummer der „Meggendorfer“ entdeckt und belustigte
+sich königlich an den harmlosen Witzen.
+</p>
+
+<p>
+Eine dicke behagliche Frau mit glatten grauen Scheiteln
+<a id="page-244" class="pagenum" title="244"></a>
+und einer gutgestärkten weißen Schürze, die noch
+vom Wäscheschrank her die scharfen Kniffe zeigte,
+brachte ihnen dampfenden Kaffee in einer braunen
+Bunzlauer Kanne und duftenden frisch gebackenen
+Kuchen.
+</p>
+
+<p>
+Dann, als die frühe Dämmerung fiel, steckte sie eine
+Gasflamme an.
+</p>
+
+<p>
+Da die Lampe zu hoch war und sie sich einen Stuhl
+herbeiholte, sprang Olga auf, um ihr zu helfen.
+</p>
+
+<p>
+Sie kamen in ein Gespräch, und die freundliche
+Frau blieb an ihrem Tisch stehen, um ein wenig zu
+schwatzen.
+</p>
+
+<p>
+Olga lobte den Kuchen, sprach vom Wetter, von der
+Stadt – dann rückte sie einen Stuhl.
+</p>
+
+<p>
+„Aber Frau Brausewetter, setzen Sie sich doch ein
+bissel zu uns, wenn’s Ihre Zeit erlaubt. – Sie wissen
+so gut Bescheid hier, ich hätt’ mich gern noch nach Verschiedenem
+erkundigt.“
+</p>
+
+<p>
+Mette folgte mit stummer Verwunderung der Unterhaltung,
+die sich entspann.
+</p>
+
+<p>
+Olga erkundigte sich angelegentlich nach dem Papiergeschäft
+an der anderen Seite des Marktes. Eine
+Tafel zeigte an, daß das Grundstück samt gutgehendem
+Geschäft zu verkaufen sei. Sie hatten es schon in
+der Zeitung inseriert gelesen ...
+</p>
+
+<p>
+„Im Kreisanzeiger wohl?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-245" class="pagenum" title="245"></a>
+„Ja, natürlich im Kreisanzeiger,“ ... und sie wären
+hergekommen, um es sich anzusehen und sich erst mal
+unter der Hand zu erkundigen ... ob denn das
+Geschäft ginge? Und warum es eigentlich zu verkaufen
+sei? Ein Garten wäre wohl nicht bei dem
+Haus?
+</p>
+
+<p>
+Doch, ein kleiner Garten mit alten Birnbäumen und
+einer Fliederlaube – durch den Treppenflur könne
+man ihn sehen.
+</p>
+
+<p>
+Und sie möchten eine Leihbibliothek mit dem Geschäft
+verbinden – ob das wohl lohne?
+</p>
+
+<p>
+Frau Brausewetter war Feuer und Flamme für
+diesen Plan. Das hätte sie den Kilians schon immer
+gesagt. Aber sie hätten nie was reinstecken wollen ins
+Geschäft. Und hätten gemeint, die Anschaffung der
+Bücher rentiere sich nicht. Aber es würde sich ganz
+gewiß rentieren; denn den ewigen Journallesezirkel
+hätten sie alle schon über. Und die Frau Bürgermeisterin
+hätte neulich schon gesagt ...
+</p>
+
+<p>
+„Denke dir!“ sagte Olga, als sie über den dämmerigen
+Marktplatz nach dem Hotel hinüber schritten.
+„Alte Birnbäume und eine Fliederlaube. Und nichts
+zu sehen von der Straße aus! Ein altes häßliches
+graues Häuschen. Ich habe in solchen Städten im
+Sommer in alle Haustüren geguckt. Dann sieht man
+so oft jenseits der Treppe eine zweite Tür und wenn
+<a id="page-246" class="pagenum" title="246"></a>
+die offen steht, so ein Stückchen Hof oder Garten mit
+blühendem Flieder. Dann hab’ ich immer so ein ganz
+starkes Gefühl von Neid oder Sehnsucht gehabt. Vielleicht
+hab’ ich gewußt, daß ich noch mal in so einem
+Haus ende. Oder daß ich ihm ganz nahe komme und
+daran vorüber muß.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber Olga!“ sagte Mette und blieb vor Erstaunen
+mitten auf dem Platz stehen. „Möchtest du denn da
+enden? Ich habe immer das Gefühl, du machst dich
+lustig über mich und meine Ideale. Wie du der guten
+Frau Brausewetter da die Komödie vorgespielt hast
+– mir hat sich das Herz zusammengezogen vor Sehnsucht,
+daß das Wahrheit wäre. Ach, wenn ich hier
+bleiben könnte, ein Häuschen mit einem Garten haben
+und so ein puppiges kleines Geschäft mit Schulheften
+und Ansichtskarten und Bibelsprüchen und eine Leihbibliothek
+– und dich, dich, dich! Von morgens bis
+abends und von abends bis morgens ... aber nach
+drei Wochen wärst du mir durchgegangen und ich säße
+allein hier ...“
+</p>
+
+<p>
+„Glaubst du?“ sagte Olga ohne Spott. „Wie du
+mich kennst!“
+</p>
+
+<p>
+„Ich kenne dich!“ beharrte Mette lächelnd. „Vielleicht
+kenn’ ich dich besser als du dich kennst.“
+</p>
+
+<p>
+„Kein Mensch kennt einen anderen,“ sagte Olga in
+einem müden und gleichgültigen Ton und heftete die
+<a id="page-247" class="pagenum" title="247"></a>
+Augen unter den zusammengezogenen Brauen unverwandt
+auf die blaue Laterne über dem Torweg.
+</p>
+
+<p>
+„Aber es läßt sich so wenig dagegen tun ...“ – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Sie hatten nach dem Abendessen noch in dem überheizten
+Gastzimmer eine Partie Schach gespielt und
+dabei mit viel heimlichem Entzücken den Unterhaltungen
+gelauscht, die die Honoratioren nebenan an
+ihrem Stammtisch führten.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Als sie, die Mäntel überm Arm, an der Treppe anlangten,
+bat Olga:
+</p>
+
+<p>
+„Komm, laß uns noch eine halbe Stunde an die
+Luft gehen, daß wir nicht den ganzen Rauch in Haaren
+und Kleidern mit hinauf schleppen – das heißt, wenn
+du nicht etwa müd’ bist, natürlich.“
+</p>
+
+<p>
+Der häßliche Platz, die nüchternen Straßen lagen
+in Schnee und Mondlicht wie verzaubert da.
+</p>
+
+<p>
+Der Himmel war hoch, blauschwarz und so klar,
+daß er wie erfüllt erschien von dem unabsehbaren Gewimmel
+funkelnder Sterne.
+</p>
+
+<p>
+Olga hatte den Kopf tief in den Nacken gelegt. Der
+Nachthimmel und die Gestirne schienen sich in ihren
+Augen zu spiegeln.
+</p>
+
+<p>
+„Unendlichkeit!“ sagte sie leise. „Du glaubst nicht,
+wie ich dieses Wort liebe. Es ist mein Vaterunser
+<a id="page-248" class="pagenum" title="248"></a>
+und mein Evangelium. Kein Anfang, kein Ende.
+Unendlichkeit der Zeit, Ewigkeit des Raumes. Ich
+glaube, wenn ich ganz klein und verzweifelt wäre,
+braucht ich nur zu denken: Unendlichkeit! Und es
+wäre wie ein Orgelton, der alles von mir abspült.
+Wird man nicht ganz fromm, wenn man dies Unbegreifliche
+fühlt? Darum lieb’ ich den Sternenhimmel
+so. Darum lieb’ ich die Nacht so.“
+</p>
+
+<p>
+„Mich hat nichts so gequält,“ sagte Mette, „als deine
+Unendlichkeit. Als kleines Kind schon. Ich wollte sie
+immer begreifen. Ich wollte. Ich lag im Bett und
+stellte mir den Raum vor. Und dann schloß ich einen
+Kreis wie eine Mauer um ihn. Und was war dahinter?
+Wieder Raum. Ich zog einen größeren Kreis.
+Ringsum war wieder Raum. Ich dachte manchmal,
+ich müßte verrückt werden, wenn all der Raum in
+mein armes kleines Gehirn hineinstürzen wollte.“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist ja das Schöne, daß es etwas gibt, was
+wir nicht begreifen können. Nicht der Gelehrteste und
+nicht der Gefühlvollste. Das eine Unbegreifliche ist
+Bürgschaft für tausend Möglichkeiten. Wenn es Ewigkeit
+gibt, warum nicht Unsterblichkeit, Seligkeit, Göttlichkeit?
+Warum nicht eine Liebe über aller irdischen?
+Alles wissen sie, alles erklären sie. Wie die Spermatozoen
+ins Ei dringen, beobachten sie, und Sterne
+machen sie ausfindig, von denen das Licht achtzig
+<a id="page-249" class="pagenum" title="249"></a>
+Millionen Jahre braucht, um zu uns zu gelangen,
+und Theorien stellen sie auf, worin sie Liebe durch
+Fortpflanzungswillen und Sympathie durch Geruchsnerven
+begründen. Von allem reißen sie den Schleier
+des Mysteriums. Sie wissen, wie wir entstehen und
+wie wir vergehen und warum wir lieben. Aber wenn
+sie dich quälen und du ihnen nicht glauben willst, dann
+sag’ dir ganz leise: Unendlichkeit! Und fühle, daß es
+Dinge gibt, die über aller Vernunft sind. Kein
+Lebender kann sie erfassen ... Aber die Toten vielleicht.
+Oder die Sterbenden schon. Darum lächeln
+die Toten alle. Sie lächeln alle so erlöst und überlegen,
+als wollten sie sagen: ‚Herrgott, ist das lächerlich
+einfach‘ ... Ich freue mich manchmal auf den
+Moment, wo man die Stufe hinaufsteigt, daß man
+endlich über die Mauer sehen kann.“
+</p>
+
+<p>
+„Freu’ dich nicht zu sehr,“ sagte Mette und griff wie
+in Angst nach ihrer Hand, „ertrag nur die Mauer noch
+eine Weile.“
+</p>
+
+<p>
+„Kind,“ sagte Olga weich, „ich sehe ja die Mauer
+nicht. Sie ist ganz und gar von Rosen überhangen.“
+– – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Auch am anderen Morgen war noch kein Brief aus
+Berlin da.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+<a id="page-250" class="pagenum" title="250"></a>
+„Gesegnete Post!“ sagte Olga. „Sie kommt hier
+nur einmal am Tage.“
+</p>
+
+<p>
+Mette schüttelte den Kopf. „Ich versteh’ dich nicht.
+Ich hab’ erst die richtige Ruhe, wenn Antwort da ist.
+So sitzt man ja doch immer auf dem <span class="antiqua">qui vive</span> oder
+dem Pulverfaß oder ähnlichem! Wenn wir wissen,
+woran wir sind, können wir uns danach richten. Ich
+muß dann eventuell an den Rechtsanwalt schreiben,
+der der Testamentsvollstrecker meiner Großmutter war.
+Der wird mir sicher eine Summe vorschießen, von der
+wir das halbe Jahr leben können, bis ich mündig bin.
+Aber ich wollte, ich hätte alle diese Dinge schon hinter
+mir.“
+</p>
+
+<p>
+Olga spielte mit den Fransen der Tischdecke und
+lächelte.
+</p>
+
+<p>
+„Warum lächelst du so?“ fragte Mette.
+</p>
+
+<p>
+„Weil du so weitgehende Pläne machst. Dein Vater
+wird schreiben: ‚Komm!‘ Und dann wirst du
+kommen.“
+</p>
+
+<p>
+„Du weißt ganz genau, daß das ausgeschlossen ist!“
+sagte Mette fast zornig.
+</p>
+
+<p>
+Olga stand mit einem Ruck auf und ging ans
+Fenster.
+</p>
+
+<p>
+„Vielleicht schick’ ich dich auch!“ sagte sie hart. – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+<a id="page-251" class="pagenum" title="251"></a>
+Am Nachmittag machten sie wieder einen weiten
+Spaziergang über die Felder. Der frühe Abend überraschte
+sie, und sie kamen erst in der Dunkelheit heim.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Sie gingen auf der Landstraße, hart ankämpfend
+gegen den Wind und sahen vor sich im blauen Dämmern
+die aufblitzenden Lichter der Stadt.
+</p>
+
+<p>
+„Seltsam,“ sagte Olga, „wir gehen nach Hause.
+Da liegt eine Stadt vor uns, deren Namen ich vor
+drei Tagen noch nicht gekannt habe, und da bin ich
+zu Hause. Da liegt ein Hotelzimmer, in dem vor
+drei Tagen vielleicht noch irgendein Kommis nächtigte,
+ein Zimmer, in dem nicht ein Möbelstück nach
+meinem Geschmack ist, in dem nicht ein Bild und nicht
+ein Buch mich lockt – und da bin ich zu Hause.
+Wenn ich an unseren Gasofen denke und an den
+Feuerschein auf dem schäbigen Teppich, dann wird
+mir so warm, daß ich den Wind nicht spüre. Wie
+muß einem Menschen zumute sein, der wirklich ein
+eigenes Heim hat. Wo er jeden Sessel liebt und die
+Farbe des Teppichs und das Licht der Lampe und
+jedes Kissen und jedes Bild und jede Tasse.“
+</p>
+
+<p>
+„Das könntest du doch haben,“ sagte Mette.
+</p>
+
+<p>
+„Ich?! – Nie, nie, nie!“
+</p>
+
+<p>
+„Doch!“ sagte Mette etwas zaghaft. „Wenn du
+Geduld hättest ... in einem halben Jahr.“
+</p>
+
+<p>
+Olga lachte kurz auf. „Kind!“ rief sie und drückte
+<a id="page-252" class="pagenum" title="252"></a>
+Mettens Arm fester an sich. „Liebes, süßes, wundervolles,
+kleines Geschöpf! In einem halben Jahr!
+Wo bist du da und wo bin ich da? Vielleicht bist du
+verheiratet – und ich bin tot.“ – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Als sie in das Zimmer traten, leuchtete von der
+dunklen Tischdecke etwas Weißes ihnen entgegen.
+Mette nahm es auf und lief damit ans Fenster. Der
+Schein einer Laterne draußen gab ein schwaches Licht.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Es war ein dringendes Telegramm.
+</p>
+
+<p>
+„Mach hell, bitte!“ bat sie mit ein wenig unsicherer
+Stimme.
+</p>
+
+<p>
+Sie riß das Papier auseinander.
+</p>
+
+<p>
+Sie las es in dem Dämmerlicht am Fenster. Sie las
+es noch einmal bei der aufflammenden Gaslampe.
+Es änderte sich nicht.
+</p>
+
+<p>
+„Dein Vater vom Schlage getroffen. Sein Ableben
+stündlich zu erwarten.“
+</p>
+
+<p>
+Sie reichte das offene Telegramm, ohne ein Wort
+zu sagen, Olga hinüber und ging an ihr vorbei nach
+dem Ofen.
+</p>
+
+<p>
+Sie hielt die Hände vor die Glut und war erfüllt
+von der seltsam peinlichen Empfindung, nicht zu
+wissen, wie sie sich benehmen sollte.
+</p>
+
+<p>
+Kein Gefühl quoll unwiderstehlich, jeden Gedanken
+<a id="page-253" class="pagenum" title="253"></a>
+verdunkelnd, aus ihrer Tiefe: weder Schmerz, noch
+Angst, noch Liebe.
+</p>
+
+<p>
+Nur häßliche, quälende Gedanken: „Ich werde hinfahren
+und zu spät kommen,“ dachte sie. „Es wird
+also ganz unnütz sein, daß ich fahre. Wenn er wirklich
+sterben muß – warum hab’ ich dann nicht lieber
+die Nachricht bekommen, daß er tot ist. Dann würde
+keine Macht der Welt mich hier wegbekommen.“
+</p>
+
+<p>
+Sie warf einen verstohlenen Blick auf Olga, die
+ihr noch immer den Rücken zudrehte.
+</p>
+
+<p>
+„Sie wird erwarten, daß ich irgend etwas tue,“
+dachte sie. „Ich muß mich doch irgendwie äußern. Ich
+glaube, das Natürlichste wäre, wenn ich jetzt weinte.
+Aber ich kann doch nicht. Ich finde es schrecklich, gewiß.
+Aber es ist nichts, was mir die Tränen in die
+Augen treibt. Was würde Olga in meiner Lage tun?
+Seltsam, wie wenig wir uns eigentlich kennen. Ich
+weiß nicht, was sie tun würde. Und ich weiß auch
+nicht, was sie von mir erwartet.“
+</p>
+
+<p>
+Endlich drehte Olga sich um und legte mit einer
+schönen und merkwürdig behutsamen Bewegung das
+Papier auf den Tisch. Ihr Gesicht war ruhig, aber
+ganz weiß.
+</p>
+
+<p>
+„Ich will nach den Zügen fragen!“ sagte sie und
+schritt still hinaus.
+</p>
+
+<p>
+Mette war fast froh, noch einen Augenblick allein
+<a id="page-254" class="pagenum" title="254"></a>
+zu sein. Sie konnte nun in Ruhe überlegen, was zu
+tun sei. Wenn Olga ging, um nach den Zügen zu
+fragen, so nahm sie als selbstverständlich an, daß
+Mette mit dem nächsten Zug nach Hause fuhr. Es
+war ja auch wohl selbstverständlich, freilich, das
+war es.
+</p>
+
+<p>
+Sie stand seufzend von ihrem Sessel am Kamin
+auf, stellte den offenen Handkoffer zurecht und fing
+an einzupacken. Dabei flogen ihre Gedanken hin
+und her.
+</p>
+
+<p>
+Vielleicht war es gar nicht wahr!
+</p>
+
+<p>
+Vielleicht hatte Tante Emilie sich das ausgedacht,
+um sie nach Hause zu locken! Sie ins Gefängnis
+zurückzulocken!
+</p>
+
+<p>
+Wenn doch jetzt eine Depesche von Vater käme, die
+die erste Nachricht widerriefe!
+</p>
+
+<p>
+Oder, wenn es doch wahr war – wenn jetzt eine
+Depesche von Tante Emilie käme, daß alles vorbei
+wäre. Dann brauchte sie nicht zu fahren. Oder ob
+Olga es von ihr verlangen würde?
+</p>
+
+<p>
+Wenn doch Olga jetzt heraufkäme und sagte: Es
+geht kein Zug, heute nicht, morgen nicht, nie mehr.
+Die Züge bleiben im Schnee stecken – oder der Bahndamm
+ist eingestürzt ...
+</p>
+
+<p>
+Oder wenn Olga jetzt käme und sagte: Fahr’
+nicht! Verlaß mich nicht! Laß uns weiterfahren,
+<a id="page-255" class="pagenum" title="255"></a>
+irgendwohin, wo sie uns nicht finden. Beweise mir,
+wie du mich liebst, gib alles auf. Was ist dir der
+fremde Mann, der da im Sterben liegt? Nichts! Zu
+mir gehörst du, mein bist du! Ich verlange von dir,
+daß du bei mir bleibst, ich will mich nicht von dir
+trennen, nicht auf eine Stunde mehr.
+</p>
+
+<p>
+Ja, das wäre das Schönste. Aber von allem Unmöglichen
+war es das Unmöglichste.
+</p>
+
+<p>
+Olga machte die Tür auf. Ihre Bewegungen, obgleich
+rasch, waren so leise, als beträte sie ein Krankenzimmer.
+</p>
+
+<p>
+„Um drei Viertel zehn,“ sagte sie und warf einen
+Blick auf die Armbanduhr. „Wir haben also noch
+reichlich Zeit, einzupacken und etwas zu essen.“
+</p>
+
+<p>
+In Mette zuckte etwas wie Empörung auf. Sie
+mußte fahren. Sie wurde einfach geschickt. Vielleicht
+wäre Olga selber an ihrer Stelle nicht gefahren.
+Olga durfte frei handeln und entgegen allem, was
+Sitte und Gebrauch war – aber für Mette galt das
+Normale, das Alltägliche, das Schickliche. Um drei
+Viertel zehn ging der Zug – sie wurde gar nicht gefragt,
+ob sie ihn benutzen wollte. Es war der nächste
+Zug, und also hatte sie damit zu fahren.
+</p>
+
+<p>
+Sie packte mit verbissenem Gesicht ihren Koffer
+weiter.
+</p>
+
+<p>
+„Darf ich dir helfen?“ fragte Olga ernst und sanft.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-256" class="pagenum" title="256"></a>
+„Danke!“ sagte Mette kurz.
+</p>
+
+<p>
+Der rücksichtsvolle Ton quälte sie. Sie hätte so gern
+ganz brutal die Wahrheit gesagt:
+</p>
+
+<p>
+„Du brauchst mich nicht zu behandeln, als wäre ich
+schwer krank. Das Schlimmste an dieser Sache ist für
+mich, daß wir uns trennen sollen, daß ich hier fort
+soll, daß unser Märchen hier ein Ende hat“ – aber
+sie hatte den Mut nicht, es auszusprechen. Und sie
+fühlte doch, daß Olga sich beinah scheu zurückhielt, so,
+als hätte sie kein Recht, Metten in ihrem heiligen,
+kindlichen Schmerz zu stören.
+</p>
+
+<p>
+Mettens Hände stießen beim Packen zufällig auf
+einen sorgfältig in Seidenpapier gehüllten Gegenstand
+unten am Boden des Handkoffers. Sie riß
+das Seidenpapier ab, daß die Fetzen zur Erde flatterten
+und hielt das goldene Etui in der Hand.
+</p>
+
+<p>
+„O Mette!“ rief Olga mit einem leisen, überraschten
+Aufschrei. „Da ist es ja wieder! Seit
+wann?“
+</p>
+
+<p>
+„Es ist nie woanders gewesen,“ sagte Mette mit
+einem etwas bedrückten Lächeln. „Ich konnte mich
+nicht entschließen, es in fremde schmutzige Hände zu
+geben. Ich wollte dir eigentlich nichts davon sagen
+– ich wollte es dir zu Weihnachten schenken –
+aber es ist ja Unsinn – ich will es dir lieber gleich
+geben.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-257" class="pagenum" title="257"></a>
+Mette ging hinüber und legte es in Olgas Hände,
+die ihr nicht entgegenkamen.
+</p>
+
+<p>
+Olga hielt es ganz still auf den Flächen der Finger,
+ohne es zu umschließen und sah es mit gedankenschwerem
+Lächeln an.
+</p>
+
+<p>
+„Seltsam,“ sagte sie, ohne die Augen aufzuheben.
+„Warum jetzt? Warum heute? Man sollte nicht
+abergläubisch sein, aber manchmal ist es schwer ...“
+</p>
+
+<p>
+Mette verstand den Sinn dieser Worte nicht, aber
+sie fragte auch nicht danach. Sie spürte mit zorniger
+Eifersucht, daß Olgas Gedanken in einer Vergangenheit
+waren, die ihr fern, fremd und verschlossen blieb.
+Aber sie spürte keinerlei Beziehung auf sich selbst.
+</p>
+
+<p>
+Es war eine schweigsame Fahrt durch die kalte,
+dunkle und unfreundliche Nacht.
+</p>
+
+<p>
+Mette lehnte mit halbgeschlossenen Augen in einer
+Ecke und sehnte sich danach, mit viel Zärtlichkeit getröstet
+zu werden – aber sie hätte nicht gewagt, diese
+Sehnsucht auszusprechen, auch wenn nicht fremde
+Menschen mit dumm verschlafenen, glotzenden Gesichtern
+im Wagen gesessen hätten.
+</p>
+
+<p>
+Als Mette fröstelte, zog Olga wortlos ihren Mantel
+aus und legte ihn ihr über die Knie. Aber Mette
+wies ihn fast schroff zurück.
+</p>
+
+<p>
+„Laß das, bitte! Ich möchte nicht, daß du dich
+erkältest!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-258" class="pagenum" title="258"></a>
+Olga nahm den Mantel fort. Aber sie zog ihn
+nicht an. Sie legte ihn neben sich auf das Polster,
+mit einer so achtlosen Bewegung, als sei er zu nichts
+mehr nütze. – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+In der Wohnung roch es nach Krankheit und Tod.
+Die Mädchen saßen schlaftrunken mit verschwollenen
+Augen und stumpfen Gesichtern herum.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Überall brannte Licht. Aber nicht helles, heiteres,
+strahlendes Licht, nur immer eine einzelne Lampe, die
+ein oder zwei Räume dämmerig erhellte. Die Türen
+standen offen oder waren angelehnt – man sah, daß
+nicht Nacht war in dieser Wohnung. Daß niemand
+schlief, daß unablässig hin und her gelaufen wurde.
+Und durch die offenen Türen drang das gleichmäßige
+röchelnde Atmen des Sterbenden in alle Räume, erfüllte
+alle Räume.
+</p>
+
+<p>
+Tante Emilie, mit wachen Eulenaugen in dem zerkniffenen
+Gesicht, geisterte gespenstig hin und her.
+</p>
+
+<p>
+„Du kommst zu spät!“ sagte sie mit eisigem
+Triumph, als sie Mettens ansichtig wurde. „Wir
+haben keine Hoffnung mehr.“
+</p>
+
+<p>
+Mette fühlte, daß ihr etwas Böses zugefügt werden
+sollte. Und das plötzliche Bewußtsein, so verworfen,
+so gefühlsroh zu sein, daß dies Böse sie nicht
+<a id="page-259" class="pagenum" title="259"></a>
+traf, daß selbst diese Frau in ihrem maßlosen Haß sie
+noch überschätzte, trieb ihr, müde und überreizt wie sie
+war, die Tränen in die Augen.
+</p>
+
+<p>
+Tante Emilie ahnte nichts von diesen Vorgängen.
+</p>
+
+<p>
+„Auch diese Tränen kommen zu spät!“ sagte sie geringschätzig.
+</p>
+
+<p>
+Von den zwanzig Stunden, die nun kamen, hatte
+jede Stunde tausend Minuten.
+</p>
+
+<p>
+Mette ging hin und her, saß hier und dort und
+fühlte sich überall am falschen Platz, im Wege, von
+bösen Augen beobachtet.
+</p>
+
+<p>
+Sie war zerschlagen an allen Gliedern und hatte
+das Bedürfnis, nur für eine Stunde sich in ihrem
+Zimmer einzuschließen und sich aufs Bett zu werfen.
+Aber sie fand den Mut nicht dazu.
+</p>
+
+<p>
+Sie wußte, man erwartete von ihr, daß sie, in
+Reuetränen zerfließend, am Sterbebette ihres Vaters
+saß oder womöglich auf den Knien lag.
+</p>
+
+<p>
+Sie versuchte das Grauen, das sie schüttelte, zu
+überwinden und ging hinein, immer wieder. Die
+dumpfe Luft roch nach Verwesung und Medikamenten.
+In den vielen weißen Kissen lag ein kleiner, sonderbar
+knöcherner Schädel, ein fremdes, schief gezerrtes Gesicht
+mit geschlossenen Augen, dem der röchelnde Atem leise
+die gelblichen Lippen bewegte.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-260" class="pagenum" title="260"></a>
+Mette saß eine Weile still neben dem Bett und
+ängstigte sich davor, daß dieses schreckliche Röcheln mit
+einem Male aufhören könne. – Und ängstigte sich fast
+noch mehr davor, daß dies fremde Etwas plötzlich die
+Augen auftun und reden könne.
+</p>
+
+<p>
+Ärzte kamen, sprachen miteinander in gedämpftem
+Ton, maßen sie mit mitleidigen Blicken und gingen
+wieder.
+</p>
+
+<p>
+Das Mädchen deckte den Tisch zur gewohnten Zeit
+und bat im Flüsterton zum Essen.
+</p>
+
+<p>
+Tante Emilie ließ alle Verbindungstüren offen und
+horchte mit gespannter Aufmerksamkeit, während sie
+ihre Suppe löffelte, ob in dem gleichmäßigen Röcheln
+eine Veränderung einträte.
+</p>
+
+<p>
+Mette vermochte kaum einen Bissen hinunterzuwürgen.
+</p>
+
+<p>
+Die frühe Dämmerung kam, und die Lampen wurden
+wieder angemacht.
+</p>
+
+<p>
+Mette wollte ein Buch in die Hand nehmen, aber
+ein so empörter Blick von Tante Emilie traf sie, daß
+sie es wieder wegstellte und mutlos die Hände in den
+Schoß legte.
+</p>
+
+<p>
+Gegen Abend wurde das Röcheln schwächer. Der
+Nasenrücken trat messerscharf aus dem winzigen versunkenen
+Gesicht.
+</p>
+
+<p>
+Der Arzt, der am Abend kam, ging nicht wieder
+<a id="page-261" class="pagenum" title="261"></a>
+fort. Nun saß noch einer herum und schritt lautlos
+über die dicken Teppiche auf und ab und wartete.
+</p>
+
+<p>
+Das Röcheln wurde schwächer und schwächer. Dann
+kam noch ein paarmal in kurzen Pausen ein stärkeres
+knarrendes Ausatmen, und mit einem Male wurde
+es still.
+</p>
+
+<p>
+Man hörte plötzlich, als setzten sie eben ein, alle
+Uhren im Hause ticken.
+</p>
+
+<p>
+Der Arzt beugte sich über das Bett, richtete sich dann
+wieder auf und ging auf Metten zu, um ihr die Hand
+zu geben.
+</p>
+
+<p>
+Tante Emilie wischte sich über die trockenen Augen,
+die Mädchen draußen schluchzten auf.
+</p>
+
+<p>
+Mette sah und hörte alles wie durch dichte Schleier.
+Sie hatte Angst, ohnmächtig zu werden.
+</p>
+
+<p>
+Der Arzt bemerkte wohl ihr grünlich fahles Aussehen
+und legte ihr die Hand aufs Haar. „Legen Sie
+sich hin, Kind!“ sagte er sanft.
+</p>
+
+<p>
+„Sie können nichts mehr nützen hier. Sie haben
+schwere Tage hinter sich und vor sich. Jugend braucht
+Schlaf.“ – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Mette war froh, in ihrem Zimmer zu sein. Aber
+sie dachte nicht daran, sich hinzulegen. Als sie nach
+einer Weile den Arzt gehen hörte, faßte sie eine namenlose
+Angst. Sie war so sterbensmüde und fürchtete
+sich davor, einzuschlafen, so, als müßten gräßliche
+<a id="page-262" class="pagenum" title="262"></a>
+Träume sie peinigen, wenn sie die Herrschaft über die
+Gedanken verlöre.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Wenn sie nur für einen Moment die schweren
+Augenlider schloß, sah sie die verzerrten Züge des
+Sterbenden, oder Tante Emilie reckte die Krallen nach
+ihr aus, um sie zu erwürgen, oder Onkel Jürgen holte
+mit einem riesigen Schlüsselbund zu einem Hieb aus,
+der ihr den schmerzenden Schädel zerschmettern sollte.
+</p>
+
+<p>
+Mette streckte die Hand sehnsüchtig in die Luft nach
+einer anderen Hand, die die ihre fest und warm
+umschließen sollte. Aber ihre kalten Finger blieben
+leer.
+</p>
+
+<p>
+Sie ertrug die angstvolle Unruhe nicht mehr. Sie
+schlüpfte in ihren Mantel und schlich über die Hintertreppe
+hinunter aus dem Haus.
+</p>
+
+<p>
+Die kalte Nachtluft weckte sie wie aus schwerem
+Traum. Sie lief mehr als sie ging durch die Straßen
+bis zu Olgas Haus.
+</p>
+
+<p>
+Das Haus war verschlossen. Mette stand eine
+Weile unschlüssig. Vielleicht kam irgendein Hausbewohner
+heim, oder der Mann von der Wach- und
+Schließgesellschaft machte ihr gegen ein Trinkgeld die
+Tür auf.
+</p>
+
+<p>
+Sie wartete eine ganze Weile. Die Kälte schüttelte
+sie.
+</p>
+
+<p>
+Schließlich klingelte sie den Portier heraus. Aber
+<a id="page-263" class="pagenum" title="263"></a>
+oben vor der Tür zögerte sie wieder, eh’ sie wagte zu
+klingeln.
+</p>
+
+<p>
+Sie setzte sich auf die Treppe und lehnte die Stirn
+an die hölzernen Pfosten der Tür.
+</p>
+
+<p>
+Sie versuchte, durch angestrengte Gedanken, durch
+inbrünstiges Flehen, durch gesteigertes Wollen Olga
+zu wecken, sie herbeizurufen.
+</p>
+
+<p>
+Sie glaubte immer, ihren leisen Schritt sich der Tür
+nähern zu hören und lauschte atemlos und merkte, daß
+sie sich getäuscht hatte.
+</p>
+
+<p>
+Sie mußte sich endlich doch entschließen zu klingeln.
+Es dauerte eine ganze Weile, bis ein schlaftrunkenes,
+halb angezogenes Mädchen ihr öffnete. Sie erzählte
+eine Geschichte, daß sie eben von der Bahn komme und
+zu Hause nicht hinein könne, weil sie ihre Schlüssel bei
+Fräulein Radó gelassen habe. Sie lachte dazwischen
+und hatte das Gefühl, vollkommen idiotisch zu wirken.
+</p>
+
+<p>
+Als sie sich durch den wohlbekannten Türgang entlang
+tastete – sie fürchtete sich, aus irgendeinem unbegreiflichen
+Grunde davor, Licht zu machen – vielleicht
+hatte sie die Vorstellung, das Geräusch oder der
+Schein könne jemanden wecken, oder vielleicht hatte sie
+unbewußte Angst, gesehen zu werden und fühlte sich
+sicherer im Dunkel.
+</p>
+
+<p>
+Als sie schon vor Olgas Tür stand, hatte sie mit
+jähem Erschrecken das qualvolle Empfinden – so
+<a id="page-264" class="pagenum" title="264"></a>
+stark, daß sie es für Ahnung nahm – als wäre Olga
+nicht allein. Als stände diesem furchtbaren Tag noch
+ein furchtbarster Abschluß bevor.
+</p>
+
+<p>
+Sie stand an die Wand gelehnt und wagte nicht zu
+klopfen, nicht die Klinke zu berühren. Eine Stimme,
+die sie deutlich außer sich zu hören glaubte, sagte:
+</p>
+
+<p>
+„Was suchst du hier? Mit welchem Recht dringst du
+hier ein? Wie kommst du zu der maßlosen Kühnheit,
+dich hier zu Hause zu fühlen?“
+</p>
+
+<p>
+Die Tür ging geräuschlos auf, und ein matter Lichtschein
+fiel heraus.
+</p>
+
+<p>
+In dem Lichtschein stand Olga Radó, groß und
+schlank, in einem dunkelbunten Kimono, eine Hand
+auf der Klinke und spähte unter zusammengezogenen
+Brauen scharf hinaus. Sie sah und erkannte Metten
+sofort.
+</p>
+
+<p>
+„Mette!“ rief sie leise und schloß einen Moment,
+wie erschrocken, die Augen. „Ich hab’ es doch gewußt!
+Was ist geschehen, Kind? Wie bist du heraufgekommen?“
+</p>
+
+<p>
+Mette taumelte mehr als sie ging. Sie kam ins
+Zimmer, sah das sanfte Licht der verschleierten Lampe
+auf den Papieren des Schreibtisches, auf den Bücherrücken,
+auf den Bildern, auf den seidenen Kissen –
+Farben und Formen stürzten wie ein Gefühl unendlichen
+trunkenen Glücks in sie hinein – sie ließ sich
+<a id="page-265" class="pagenum" title="265"></a>
+auf die Erde niedergleiten, legte die Stirn gegen den
+Sessel und sagte zwischen Lachen und Weinen, zwischen
+Wachen und Schlaf:
+</p>
+
+<p>
+„Laß mich hier, es ist so gut.“
+</p>
+
+<p>
+Olga hob sie auf, zog sie aus wie ein kleines Kind
+und legte sie ins Bett. Als die Kühle der Laken ihre
+Glieder berührte, fingen Kälte und Grauen wieder
+an, sie zu schütteln. Sie war mit einem Schlage wieder
+hellwach, saß steif aufgerichtet im Bett und bemühte
+sich vergebens, das gewaltsame Aufeinanderschlagen
+der Zähne zu unterdrücken.
+</p>
+
+<p>
+„Leg’ dich zu mir,“ bat sie flehentlich, „ich muß
+spüren, daß ich nicht allein bin. Ich hab’ so gräßliche
+Angst.“
+</p>
+
+<p>
+Olga antwortete nicht. Sie verriegelte die Tür, sie
+stellte die Lampe hinter das Bett, breitete noch einen
+Seidenschleier über das Licht, ließ den Kimono von
+den Schultern gleiten – alles mit einem wehen
+Lächeln und schweren langsamen Bewegungen, als
+rüste sie sich zu einem Opfergang. Sie schob den Arm
+unter Mettens Nacken, breitete die Decke fester über sie,
+strich ihr das verwirrte Haar aus der Stirn.
+</p>
+
+<p>
+Und da Mette die Wärme dieses geliebten Lebens,
+den starken Schlag dieses Herzens spürte, brach sie in
+ein leises qualerlöstes Weinen aus. Über diesem
+Weinen schlief sie ein.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-266" class="pagenum" title="266"></a>
+Nach einer Zeit, von der sie nicht wußte, ob es
+Stunden oder Minuten waren, wachte sie wieder auf.
+Das Licht brannte immer noch. Olga lag reglos
+neben ihr, mit weit offenen Augen. Mette richtete sich
+auf und gab ihren Arm frei.
+</p>
+
+<p>
+„Warum weckst du mich nicht?“ sagte sie vorwurfsvoll.
+„Armes, ich habe dir sicher den ganzen Arm
+zerbrochen, und darum konntest du nicht schlafen.“
+</p>
+
+<p>
+Olga drehte ein wenig den Kopf. „Ich hätte auch
+sonst nicht schlafen können. Ich bin so wach.“
+</p>
+
+<p>
+„Woran hast du gedacht?“ fragte Mette und versuchte,
+in ihren Augen zu forschen.
+</p>
+
+<p>
+Olga lächelte ein wenig mühsam.
+</p>
+
+<p>
+„Daran, daß deine Leute dich jetzt vielleicht im
+ganzen Haus suchen. Ich möchte wissen – oder ich
+möchte lieber nicht wissen, was jetzt in Tante Emiliens
+Gehirn vorgeht. Sie muß doch rein denken, du bist
+von der Tarantel gestochen!“
+</p>
+
+<p>
+Mette lachte leise auf und schlang ihren Arm um
+Olga.
+</p>
+
+<p>
+„Vom Skorpion!“ sagte sie zärtlich. „Und es gibt
+kein Gegengift als sein eigenes Gift. Das weißt du
+doch!“
+</p>
+
+<p>
+Olga richtete sich auf und faltete die Hände über
+den hochgezogenen Knien. Die beiden schwarzen
+Flechten lagen wie zwei breite schwere Bänder auf
+<a id="page-267" class="pagenum" title="267"></a>
+dem weißen Hemd. Ihre Augen starrten geradeaus,
+und die weitgeöffnete Pupille überdunkelte die
+ganze Iris.
+</p>
+
+<p>
+„O wunderliches Schicksal über mir!“ sagte sie mit
+einer leisen, tiefen, wie ein Cello klingenden Stimme.
+</p>
+
+<div class="poem-container">
+ <div class="poem">
+ <div class="stanza">
+ <p class="verse">„Als wär’ ich von dem Skorpion gestochen</p>
+ <p class="verse">Und hoffte Heilung durch dasselbe Tier. – <span class="antiqua">Qui vivens laedit – morte medetur.</span>“</p>
+ </div>
+ </div>
+</div>
+
+<p class="noindent">
+Ein Ausdruck gewaltsamer, schmerzlicher und fast
+unheimlicher Energie trat in das weiße schöne Gesicht.
+</p>
+
+<p>
+Mette erschrak, daß ihr der Herzschlag stockte. Sie
+hatte den Mut nicht, sie anzurühren, sie an sich zu
+reißen.
+</p>
+
+<p>
+„Olla!“ rief sie mit einem leisen Klagelaut und
+streckte die Hände nach ihr.
+</p>
+
+<p>
+Da trat wieder das mühevolle Lächeln um den
+blassen Mund.
+</p>
+
+<p>
+Sie schlang mit einer jähen Bewegung beide Arme
+um Metten und preßte sie an sich, als wollte sie sie
+in dieser Umarmung ersticken, vernichten, zerstören.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Mettulein,“ sagte sie mit einem zersprungenen
+Lachen, „es hilft ja alles nichts ... du mußt mich erst
+in sanftem Öl verenden lassen – dann wird vielleicht
+noch alles gut!“ – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+<a id="page-268" class="pagenum" title="268"></a>
+Mette hörte im Traum heftiges Klingeln. Dann
+wachte sie auf von Türengehen, näher kommenden
+Schritten, vielen und erregten Stimmen.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Sie machte die Augen auf und sah Olga vor dem
+Bett stehen, schon fertig angekleidet. Sie war sehr
+blaß, hatte dunkelflammende Augen und herrschte sie
+an in einem Ton, der wie atemlos klang vor Erregung.
+</p>
+
+<p>
+„Steh auf, Mette, ich bitte dich um Gottes und
+aller Heiligen willen, zieh dich schnell an.“
+</p>
+
+<p>
+Mette schlüpfte in wahnsinniger Hast in ihre Sachen.
+Unterdessen wurde schon heftig an die Tür geklopft.
+</p>
+
+<p>
+Olga ging sofort hin, riegelte auf und öffnete die
+Tür zur Hälfte.
+</p>
+
+<p>
+„Wer ist denn da?“
+</p>
+
+<p>
+Draußen wurden erregte Stimmen laut, erregte Gesichter
+drängten sich in den Spalt.
+</p>
+
+<p>
+„Ich bedauere, Sie können momentan nicht in mein
+Zimmer,“ sagte Olga mit eiskalter Höflichkeit.
+</p>
+
+<p>
+Die Stimmen draußen überschrien sich. Das war
+Tante Emilie. Das war Onkel Jürgen. Das war
+Frau Flesch. Das war das Mädchen, das ihr die
+Nacht geöffnet hatte.
+</p>
+
+<p>
+Mettens Hände zitterten wie in einem Angsttraum.
+Sie konnte mit keinem Knopf zustande kommen. Sie
+hatte den brennenden Wunsch, unsichtbar zu sein oder
+<a id="page-269" class="pagenum" title="269"></a>
+aus dem Fenster zu springen oder in tiefe Bewußtlosigkeit
+zu fallen.
+</p>
+
+<p>
+Olgas Stimme überklang den Tumult, tief und
+ruhig, aber kalt und scharf wie geschliffenes Eisen.
+</p>
+
+<p>
+„<em>Muß</em> diese Unterhaltung auf dem Flur stattfinden?“
+</p>
+
+<p>
+Dann klang plötzlich eine sanfte, zarte Stimme:
+</p>
+
+<p>
+„Darf ich den Herrschaften mein Zimmer anbieten?
+Ich mache gern Platz.“
+</p>
+
+<p>
+Die Stimmen verzogen sich nach nebenan, und ein
+paar Augenblicke später – Mette hatte schon das Kleid
+übergeworfen – schlüpfte Peterchen ins Zimmer.
+</p>
+
+<p>
+„Kann ich dir helfen, Mette?“ flüsterte er mit verstörten
+Augen.
+</p>
+
+<p>
+Im selben Augenblick klang es von nebenan, als
+ob ein Stock auf den Tisch geschmettert würde.
+</p>
+
+<p>
+„Ich werde Sie ins Gefängnis bringen!“ donnerte
+Onkel Jürgens Stimme.
+</p>
+
+<p>
+Mette wollte hinüberstürzen. Peterchen hielt sie
+mit flehender Gewalt zurück.
+</p>
+
+<p>
+„Nicht so!“ bat er. „Mach dir schnell das Haar!
+Zieh dir Schuh an!“ Während sie die Haare glatt
+strich und aufsteckte, kniete er vor ihr und schnürte ihr
+die Stiefel zu.
+</p>
+
+<p>
+Sie gab ihm recht. Sie konnte nicht auf
+Strümpfen, mit gelöstem Haar hinüberlaufen, zum
+<a id="page-270" class="pagenum" title="270"></a>
+Gaudium aller Leute, die hinter den Türritzen
+lauschten.
+</p>
+
+<p>
+Als Mette über den Flur nach dem anderen Zimmer
+ging, ganz ruhig und aufrecht ging, war sie
+voll einer starken, kühnen, heißen und beinah frohen
+Entschlossenheit.
+</p>
+
+<p>
+Im Hintergrund des Flurs stand ein fremder Herr
+in Hut und Überzieher, der sie mit einem durchdringenden
+Blick musterte.
+</p>
+
+<p>
+„Von der Leiche des Vaters weg!“ wimmerte Tante
+Emilie mit hohem Pathos.
+</p>
+
+<p>
+„Die Kriminalpolizei in meinem ehrlichen Hause!“
+kreischte Frau Flesch. „Noch nie in meinem Leben
+hab’ ich was mit der Polizei zu tun gehabt!“
+</p>
+
+<p>
+Mette klinkte die Tür mit hartem Griff auf. Das
+Herz schlug ihr bis an den Hals. Einen Augenblick
+durchzuckte sie der Gedanke: Vielleicht war alles gut
+so. Vielleicht war es gut, daß sie jetzt den Mut haben
+mußte, neben Olga hinzutreten und zu sagen: „Ich
+gehöre zu diesem Menschen und verlasse ihn nicht und
+wenn ihr mich und euch in Stücke reißt. Wenn ihr
+den Mut und das Recht habt, so wendet Gewalt an,
+freiwillig gehe ich nicht einen Schritt mit euch.“
+</p>
+
+<p>
+Olga stand gegen den Tisch gelehnt, die Arme über
+der Brust gekreuzt, die Ellbogen mit den Fingern umklammert.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-271" class="pagenum" title="271"></a>
+Als die Tür aufging, stürzte Tante Emilie mit dem
+fast geschluchzten Ausruf: „Da ist das unglückliche
+Kind!“ auf Metten zu.
+</p>
+
+<p>
+Mette stand einen Augenblick wie erstarrt. Sie
+hatte einen Moment das Gefühl, unter Irrsinnige zu
+kommen oder selber irrsinnig zu sein. Mit einem
+flüchtigen Blick erfaßte sie, daß Jürgen von Seyblitz
+mit seiner straffen Haltung, mit den blitzblauen
+Augen und dem eisgrauen Schnurrbart in dem zornroten
+Gesicht sehr gut aussah.
+</p>
+
+<p>
+Er kam auf sie zu und sagte mit einer tiefen, rauhen
+Stimme, in der etwas wie Rührung zitterte:
+</p>
+
+<p>
+„Mette, Kind, was tust du hier? Morgen
+begraben sie deinen armen Vater, und du bist
+hier?!“
+</p>
+
+<p>
+Er legte ihr schwer die Hand auf die Schulter.
+</p>
+
+<p>
+Mette sah ihn nicht an. Sie sah Olga an.
+</p>
+
+<p>
+„Ich bin hier zu Hause –“ sagte sie. Ihre Stimme
+sollte eine strahlende Festigkeit haben, aber sie konnte
+sie nicht zwingen, sie klang leise und bebend.
+</p>
+
+<p>
+„Wenn ihr glaubt, das Recht zu haben, so wendet
+Gewalt an, freiwillig gehe ich nicht einen Schritt mit
+euch.“
+</p>
+
+<p>
+Es war schwer, sehr schwer, das auszusprechen.
+Sehr schwer, das auszusprechen vor Onkel Jürgens
+ehrlichem, wut- und schmerzverzerrtem Gesicht, vor
+<a id="page-272" class="pagenum" title="272"></a>
+Tante Emiliens blinzelnden Vogelaugen, vor dem
+schwammigen Gesicht der Frau Flesch, das in einem
+widerlich-gierigen Grinsen wie erstarrt schien, vor dem
+fremden Mann, vor den Mädchen, die hinter den
+Türen lauschten.
+</p>
+
+<p>
+Aber nun war es ausgesprochen. Und damit mußte
+alles gut sein. Nun mußte Olga kommen und sie in
+die Arme nehmen, mußte Mettens Kopf so an ihre
+Brust drücken, daß sie nichts mehr zu sehen und zu
+hören brauchte, mußte mit einer ihrer unglaublich
+stolzen und herrischen Bewegungen all diesen fremden
+und peinigenden Gesichtern die Tür weisen, mußte
+einen Revolver diesen Eindringlingen entgegenrecken
+und sie hinausjagen mit einem einzigen Wort ...
+</p>
+
+<p>
+Olga wandte den Kopf, ohne ihre Haltung zu verändern
+und sah Metten an. Alle glaubten, daß sie
+Metten ansah und machten eine unwillkürliche Geste
+der Spannung, der Erwartung.
+</p>
+
+<p>
+In Wahrheit lagen ihre Augen auf Mettens Stirn
+oder auf ihren Brauen oder auf ihren Haaren.
+</p>
+
+<p>
+Mette wollte ihren Blick treffen, sie bohrte ihre
+Augen in Olgas Gesicht, aber sie konnte ihren Blick
+nicht zwingen. Er lag unverändert auf ihrer Stirn
+oder ihren Brauen oder ihren Haaren – eine Linie
+über ihren Augen.
+</p>
+
+<p>
+„Mein liebes Kind,“ sagte Olga mit einer eisig
+<a id="page-273" class="pagenum" title="273"></a>
+kühlen Sanftmut, „Ihre Anhänglichkeit an mich ist
+rührend, aber ich habe sie durch nichts verdient. Wenn
+Sie mir wirklich soviel Sympathien entgegenbringen,
+so gehen Sie jetzt mit Ihren Angehörigen und betragen
+sich wie ein vernünftiger Mensch und verschonen
+mich künftig mit Ihren Besuchen. Sie sehen
+doch, daß Sie mir nichts als Ungelegenheiten bereiten!“
+</p>
+
+<p>
+Mette zögerte noch einen Augenblick. „Es muß
+doch irgend etwas geschehen,“ dachte sie, „sie muß mich
+doch ansehen, sie muß mir durch einen Blick, durch
+eine Geste ein Zeichen geben, daß dies Verstellung ist,
+Komödie, daß ich ihr vertrauen soll, an sie glauben,
+auf Nachricht warten ...“
+</p>
+
+<p>
+Es geschah nichts.
+</p>
+
+<p>
+Mette suchte in ihren Gedanken irgend etwas Unerhörtes,
+womit sie diese steinerne Maske zerschmettern
+könnte. Konnte sie nicht sagen: „Du hast mich
+gerufen, gelockt, gezwungen und jetzt verleugnest du
+mich?“ Nein – sie hatte kein Recht dazu.
+</p>
+
+<p>
+Fiel ihr denn nichts ein, irgendein Schmähwort,
+ein treffendes, verletzendes, grausames?
+</p>
+
+<p>
+Sie wälzte dumme, kindische Schimpfwörter, schwer
+wie Steinblöcke, in ihrem Gehirn hin und her.
+</p>
+
+<p>
+„Du Kanaille!“ dachte sie. „Du Dirne!“ Das war
+nicht das, was sie suchte. Ihr war, als müsse sie in
+<a id="page-274" class="pagenum" title="274"></a>
+fieberhaftem Suchen die polternden Steinblöcke hin
+und her schieben, um irgend etwas zu finden, ein
+scharfes Wort, das sich schleudern ließe.
+</p>
+
+<p>
+Plötzlich schien es ihr, als ob sie schon eine unendliche
+Zeit so dagestanden hätte, mit hängenden Armen,
+mit blöden Augen und offenem Mund.
+</p>
+
+<p>
+Sie richtete sich auf und machte den Versuch zu
+einem Lächeln, das hochmütig und liebenswürdig sein
+sollte. Aber sie hatte das Gefühl dabei, als ob der
+Irrsinn in ihren verzerrten Muskeln tanze.
+</p>
+
+<p>
+„Willst du um einen Wagen telephonieren, Onkel
+Jürgen?“ sagte sie.
+</p>
+
+<p>
+„Seltsam,“ dachte sie dabei, „das ‚um‘ habe ich mir
+auch von Olga angewöhnt – hier sagt man ‚nach‘,
+glaube ich.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich bin zu müde zum Laufen.“
+</p>
+
+<p>
+Dann ging sie nach der Tür. „Ich will mir nur
+meine Sachen holen – einen Augenblick!“
+</p>
+
+<p>
+Sie ging in das Nebenzimmer, setzte sich vorm
+Spiegel den Hut auf, sehr sorgfältig, zog den Mantel
+an, suchte ihre Handtasche. Sie beeilte sich nicht. Sie
+hatte immer noch das törichte Gefühl, als müßte
+Olga jetzt hereinschlüpfen und ihr irgend etwas zuflüstern
+... wo sie sich treffen wollten, wo sie hinschreiben
+sollte, wann sie ihr alles erklären wollte. Es
+kam niemand.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-275" class="pagenum" title="275"></a>
+Als Mette ihre Handtasche aufmachte, fand sie ein
+Päckchen zusammengedrückter Geldscheine darin. Die
+waren noch von der Reise.
+</p>
+
+<p>
+Sie nahm sie heraus und lachte bitter auf. Nun
+würde sie wohl nie mehr in die Versuchung kommen
+zu stehlen.
+</p>
+
+<p>
+Nun würde sie wohl nie in ihrem Leben mehr Geld
+brauchen.
+</p>
+
+<p>
+Sie hob die Hand und öffnete sie und ließ die
+Scheine über das zerwühlte Bett flattern.
+</p>
+
+<p>
+Dann ging sie hinaus, an dem fremden Mann vorbei,
+an den Mädchen vorbei, die Treppe hinunter und
+aus dem Haus, ohne sich umzusehen.
+</p>
+
+<p>
+Auf der Straße holte der Wagen mit ihren Leuten
+sie ein. – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Onkel Jürgen blieb noch eine Zeit lang in Berlin.
+Er benahm sich recht merkwürdig. Er war still und
+gütig und richtete auf Metten immer ein paar ehrliche,
+angstvolle, blaue Augen und sprach zu ihr immer in
+einem leicht gerührten Ton. Von dem Geld und der
+Flucht war nie mehr die Rede.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Wenn Mette zuweilen – oft geschah es ja nicht –
+über dieses Benehmen nachdachte, meinte sie, es nur
+auf <em>eine</em> Weise erklären zu können. Sie glaubte
+<a id="page-276" class="pagenum" title="276"></a>
+nicht, daß es Reue war, weil sein heftiger Brief ihres
+armen Vaters Tod verschuldet hatte. Sie kam auch
+nicht auf den Gedanken, daß er versuchte, sie durch
+Liebe und Güte zu gewinnen. Nein, wahrscheinlich
+tat sie ihm leid. Er hatte Olga Radó gesehen. Er
+hatte ihre Stimme gehört. Er hatte einen Hauch
+ihrer Macht gespürt. Wenn Mette das dachte, liebte
+sie ihn fast.
+</p>
+
+<p>
+Und er hatte es gehört, wie Olga sie verleugnet und
+verraten und gedemütigt hatte. Nun hatte er Mitleid
+mit ihr. – Wenn Mette das dachte, so haßte
+sie ihn.
+</p>
+
+<p>
+Auch Tante Emilie war von einer sonderbaren
+Sanftmut. Mette dachte später manchmal, daß es
+besser gewesen wäre, wenn die Leute in dieser Zeit sie
+gequält und gepeinigt hätten und sie stark gemacht
+hätten in stählendem Haß. – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Tante Emilie und die ganze Familie war sehr dafür,
+die Tiefe der Trauer durch die Länge der Schleier
+auszusprechen.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Es sollte niemand sagen können, daß Mette, die
+verlorene Tochter, das ungeratene Kind nicht über den
+Tod ihres Vaters trauere.
+</p>
+
+<p>
+Als Mette sich zum erstenmal im Spiegel sah, von
+Kopf zu Füßen in schwarzem Krepp, schmal und blaß,
+mit erloschenen Augen und schmerzgezeichnetem Mund,
+<a id="page-277" class="pagenum" title="277"></a>
+dachte sie: „Wie eine Witwe“, und ihr Herz zog sich
+qualvoll zusammen.
+</p>
+
+<p>
+Als sie zur Beerdigung fuhren und nebeneinander
+saßen, hielt Tante Emilie mit der schwarz behandschuhten
+Rechten das weiße Taschentuch an die zitternden
+Lippen und mit der Linken hielt sie Mettens Hand.
+Und Onkel Jürgen sah aus dem Fenster, und von Zeit
+zu Zeit rollte eine Träne aus seinen blauen Augen bis
+in den Schnurrbart.
+</p>
+
+<p>
+Metten war zumut, als sei sie ein Berg gewesen,
+an dessen steinerner Unverletzlichkeit jedes Geschoß abgeprallt
+war – nun war durch eine Explosion ein
+Trichter in sie hineingesprengt, in ihr war Leere,
+in ihr war ein tiefer, dunkler, zerklüfteter Abgrund.
+Die wild zerrissene Wunde lag offen am Tage und
+alles fiel ungehindert in sie hinein, blieb schwer wie
+Steine in ihr liegen, erfüllte sie mit Qual – alles,
+Blicke, Worte, Tränen, Bewegungen.
+</p>
+
+<p>
+„Weh über den, der mich zersprengt hat!“ dachte sie
+bitter.
+</p>
+
+<p>
+Dann schloß sie ihre Finger einen Augenblick fester
+um Tante Emiliens Hand.
+</p>
+
+<p>
+„Wir gehören zusammen,“ dachte sie, „Verlassene
+und Ungeliebte, bitter- und hartgewordene Unglückliche
+– wir gehören zusammen. Zwei große Familien
+gibt es auf der Welt, Reiche und Arme, Gesunde
+<a id="page-278" class="pagenum" title="278"></a>
+und Kranke, Lachende und Weinende ... Olga Radó
+gehört zu den Frohen, sie hat triumphiert, sie hat sich
+gerechtfertigt, sie hat sich von mir befreit – nun geht
+sie lachend einem neuen Abenteuer entgegen.“
+</p>
+
+<p>
+Nicht immer dachte Mette so. Die widerstreitendsten
+Empfindungen schüttelten sie durcheinander.
+</p>
+
+<p>
+Es kamen wache Nächte, in denen sie glaubte, daß
+alles gut werden mußte, wenn sie Olgas Hand hielt
+und fragte:
+</p>
+
+<p>
+„Kind, wie ist das nur gekommen? Wie konnte
+das nur geschehen? Was hast du dir nur dabei gedacht?“
+</p>
+
+<p>
+Dann lief sie am Tage die Motzstraße auf und ab
+und starrte zu der Haustür hinüber – aber immer
+vergebens.
+</p>
+
+<p>
+Dann kamen Tage, an denen Tante Emilie ein
+widerlich-freundliches Bedauern zur Schau trug und
+sich in Anspielungen erging, über die Undankbarkeit
+der Welt im allgemeinen und im besonderen, und
+wie Mette nun vereinsamt sei, weil sie ihre ganze Zeit
+und ihr ganzes Gefühl an eine solche Person verschleudert
+habe.
+</p>
+
+<p>
+Dann haßte Mette mit glühendem Haß alle beide,
+Tante Emilien und Olga. Aber mehr noch Olga –
+Olga, die sie zu Boden geworfen hatte, damit Tante
+Emilie auf ihr herumtreten konnte, Olga, die ihr die
+<a id="page-279" class="pagenum" title="279"></a>
+Wunde gerissen hatte, in der Tante Emilie mit
+schmutzigen Fingern wühlte.
+</p>
+
+<p>
+Manchmal beschloß sie zu sterben. Viel öfter aber
+noch zu fliehen. Ein Bündel zu packen und die Landstraßen
+entlang zu laufen, auf Wiesen, in Gräben zu
+nächtigen, den ewigen Sternenhimmel als Decke
+über sich.
+</p>
+
+<p>
+Der Gedanke an fremde Erdteile war das einzige,
+was ihr in dieser Zeit zuweilen wohl tat. Mit
+diesem Gefühl der Gleichgültigkeit gegen Tod und
+Leben mußte es schön sein, irgendwo im Dschungel
+mit gespannter Büchse zu liegen und im kaum schwankenden
+Rohr die Augen eines Tigers auf sich gerichtet
+zu sehen. Oder an einem Wachtfeuer zu liegen, um
+das nackte, schwarze Gestalten zu eintöniger Musik
+sich verrenkten. Oder von den leise schaukelnden,
+kissenweichen Tritten eines Kamels durch unermeßliche,
+flirrende, weiße Glut getragen zu werden.
+</p>
+
+<p>
+Dann wieder schien es ihr, als ob ein solches Leben
+– auch ein <em>solches</em> Leben nur unablässige Qual
+wäre ohne Olga – unendlicher Reichtum, unausdenkbares
+Glück mit Olga.
+</p>
+
+<p>
+Sie versuchte, sich in den Gedanken zu fügen, daß
+Olga sie nicht liebte. Aber es konnte nicht sein, daß
+sie sie haßte. Sie hatte sie geopfert, leichten Herzens
+aufgegeben, um ihren Ruf zu wahren, um sich Unannehmlichkeiten
+<a id="page-280" class="pagenum" title="280"></a>
+abzuwehren. Sie liebte sie nicht.
+Aber darum waren ihre Worte doch Lüge gewesen.
+Sie hatte sich gefreut, wenn sie kam. Immer. Sie würde
+sich wieder freuen, wenn sie wieder kommen würde.
+</p>
+
+<p>
+Sie wollten ein Leben zusammen führen, ein herrliches,
+freies Leben, in allen Städten der Welt, auf
+Dörfern, im Walde, in Indien, auf Madagaskar.
+</p>
+
+<p>
+Dazu kam, daß Metten jetzt tagtäglich klargemacht
+wurde, wie reich sie war. Franz Rudloff war kein
+Geizhals gewesen, aber er wußte nicht, wie und wofür
+man Geld ausgeben sollte. Und Tante Emilie
+war viel zu musterhaft, um auch nur in der kleinsten
+Kleinigkeit verschwenderisch zu sein.
+</p>
+
+<p>
+Mette hatte keine allzu genaue Kenntnis von Geld
+und Geldeswert. Aber das wußte sie doch: Die
+Summen, die man ihr jetzt nannte, die verbürgten
+Freiheit, volle Freiheit, die versprachen ihr: in wenig
+Monaten kannst du ein Leben führen, wo du willst
+und wie du willst ...
+</p>
+
+<p>
+Ein Leben ohne Olga ...?
+</p>
+
+<p>
+Mette faßte den Entschluß, an Olga zu schreiben.
+Nicht, wie es in ihr aussah, nichts von Sehnsucht und
+Liebe, oh, um Gottes willen nicht.
+</p>
+
+<p>
+Aber ein paar ganz kühle, sozusagen geschäftsmäßige
+Zeilen, die nur den Versuch machen sollten,
+eine Aussprache herbeizuführen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-281" class="pagenum" title="281"></a>
+Sie verfaßte mit vieler Mühe einen Brief, den sie
+aufsetzte, verbesserte, abschrieb und war mit ihrem
+Machwerk sehr zufrieden.
+</p>
+
+<p>
+Kein Mensch konnte darin einen Hauch von Herzlichkeit
+oder gar Demut wahrnehmen. Eher einen
+scharfen, spöttischen, ein wenig herausfordernden Ton.
+</p>
+
+<p>
+Sie schickte den Brief ab und wartete auf Antwort.
+Es kam keine. – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Unterdessen bemühte sich Tante Emilie, an Mettens
+Aufklärung zu arbeiten. Und zwar auf eine
+merkwürdige Art.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Sie war viel zu vorbildlich, um mit einem jungen
+Mädchen über sittlich anstößige Dinge zu reden.
+Außerdem hatte sie wohl auch Angst vor Mettens
+Wutausbrüchen. (Obgleich Feigheit eigentlich sonst
+ihre Sache nicht war.)
+</p>
+
+<p>
+Mette hatte die Gewohnheit angenommen, in ihres
+Vaters Studierzimmer zu sitzen. Sie las und las
+den ganzen Tag die schwierigsten, die unverständlichsten
+Dinge, nur um ihre Gedanken zu knebeln. Hier
+hatte sie alle Bücher zur Hand. Es war bequemer,
+sich gleich damit am Schreibtisch niederzulassen, als
+die manchmal schweren Folianten erst in einen anderen
+Raum zu schleppen.
+</p>
+
+<p>
+Außerdem war ihr hübsches, helles Mädchenzimmer
+ihr verhaßt.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-282" class="pagenum" title="282"></a>
+Wenn sie an dem schweren schwarzen Diplomatenschreibtisch
+saß, mit müde hängenden Schultern über
+die Bücher gebeugt, war es ihr manchmal, als hätte
+man Metten da draußen begraben, ein junges, lebensgieriges,
+heißblütiges Mädel – und hier säße nun
+ein alter, stiller, einsamer Mann. Sie fühlte fast mit
+Grauen, daß etwas von dem Toten – seine halben,
+scheuen und schwerfälligen Bewegungen, seine gebückte
+Haltung, sein abwesendes, um Verzeihung bittendes
+Lächeln auf sie übergegangen war.
+</p>
+
+<p>
+Auf diesem Schreibtischplatz nun fand sie von Zeit
+zu Zeit Bücher, Hefte, Broschüren, scheinbar ganz
+verschiedenen Inhalts – Romane, medizinische
+Werke, angestrichene Tageszeitungen – aber alle behandelten
+dasselbe Thema.
+</p>
+
+<p>
+Da waren seltsame und unheimliche Geschichten von
+Gräfinnen, die sich in Männerkleidung in Kaschemmen
+herumtrieben, bis sie in irgendeinen Hinterhalt
+gelockt und gräßlich ermordet wurden.
+</p>
+
+<p>
+Oder Berichte von widerlichen Orgien in großen
+Klubs, wo Hunderte von Weibern sich als Männer
+anzogen und gebärdeten, oder Männer, geschminkt,
+mit Lockenperücken und in durchbrochenen Seidenstrümpfen
+und nackten gepuderten Armen und Schultern
+herumliefen.
+</p>
+
+<p>
+Da waren statistische Feststellungen aller der unglücklichen
+<a id="page-283" class="pagenum" title="283"></a>
+Opfer, die infolge widernatürlicher Unzucht
+an Gehirnerweichung, Rückenmarksschwindsucht und
+ähnlichem zugrunde gegangen oder in Wahnsinn verfallen
+waren.
+</p>
+
+<p>
+Oder Schilderungen aus dem Seelenleben Konträr-Sexualer,
+die vermuten ließen, daß diese Tausende
+von Menschen alle miteinander eine große Gemeinde
+bildeten, eine Gemeinde, die durch nichts verbrüdert
+wurde, durch keine gemeinsamen Interessen, keine
+Gleichheit der Bildung, der Familie, des Geschmacks,
+der Weltanschauung, durch keine Liebe, durch nichts
+als den Trieb zur gleichen Ausschweifung.
+</p>
+
+<p>
+Da war die Biographie eines großen Mannes, der
+elend ermordet war durch einen erpresserischen Kellner,
+einen Kellner, mit dem er in intimen Beziehungen
+gestanden – den er <em>geliebt</em> hatte!
+</p>
+
+<p>
+Mette schauderte, wenn sie das Wort Liebe in
+diesem Zusammenhange nur dachte. Manchmal war
+ihr, als müsse sie ersticken in Kot und Unflat. Ihr
+wurde körperlich übel, wenn sie die Bücher nur anrührte.
+Sie las sie nicht mehr – eine Weile lang.
+Sie las geschichtliche, philosophische, naturwissenschaftliche
+Werke. Aber sie wußte oft seitenlang nicht,
+was sie las. Ihre Augen gingen über die Zeilen und
+spiegelten die Worte. Und ihre Gedanken wälzten
+die furchtbaren Dinge, die wie Steinblöcke auf sie geschleudert
+<a id="page-284" class="pagenum" title="284"></a>
+wurden, um sie zu erschlagen. Dann nahm
+sie wieder die anderen Bücher vor, die schlimmen, und
+suchte nach Erklärungen und zog Schlüsse und stellte
+Vergleiche an.
+</p>
+
+<p>
+Wenn von männlich veranlagten Frauen gesprochen
+wurde, war viel von ihrem überlegenen Geist, von
+ihrem Wissensdurst und Bildungsdrang die Rede.
+Auch von einer krankhaften Verschwendungssucht mitunter,
+von einem leidenschaftlichen Hang zum Luxus,
+von einer unnatürlichen Vorliebe für schöne Stiefel.
+</p>
+
+<p>
+Oder auch von unheimlichen Don-Juan-Naturen,
+die mit unersättlicher Genußgier von Abenteuer zu
+Abenteuer rasten.
+</p>
+
+<p>
+Mette geriet vor solchen Dingen in die qualvollste
+Verwirrung. Diese Bücher sollten sie den Menschen
+verstehen lehren, der ihr auf der Welt am nächsten gewesen
+war. Hundertmal in den letzten Monaten
+hatte sie sich gesagt: diese Frau ist ein unlösliches
+Rätsel, ein unergründliches Geheimnis, mir ewig
+fremd und fern, nie zu erfassen und nie zu begreifen.
+Und ebensooft hatte sie in jedem Nerv gespürt: Dies
+ist die Lösung, nun ist alles klar, alles gut, nie wieder
+kann ein Mißverstehen uns trennen.
+</p>
+
+<p>
+Und jetzt? Und nun?
+</p>
+
+<p>
+Mitunter spürte Mette das quälende Bedürfnis,
+diese Schriften zusammenzupacken und damit zu
+<a id="page-285" class="pagenum" title="285"></a>
+Olga Radó zu gehen: erklär mir das. Gibt es solche
+Menschen? Bist du so? Bin ich so? Was weißt du
+darüber und wie denkst du darüber?
+</p>
+
+<p>
+Über alles, was sie im letzten Jahr gehört oder gelesen
+hatte, hatte Olga Radó ihre Meinung äußern
+müssen. Und fast immer war Olgas Meinung auch
+die ihre gewesen, oder aber eine andere Meinung in
+ihr wurde geweckt, gekräftigt, klargestellt.
+</p>
+
+<p>
+Nun zum erstenmal sollte sie mit so Ungeheuerlichem
+allein fertig werden und tappte völlig hilflos
+im Dunkel. Wo sie Licht, wo sie einen Ausweg zu
+finden glaubte, kam sie nur auf neue Irrwege. Sie
+gelangte nicht um einen Schritt vorwärts, nicht
+zurück.
+</p>
+
+<p>
+In dieser Wirrnis konnte nur Olga Radó helfen.
+Olga Radó mußte klar und deutlich ihre Meinung
+über Olga Radó äußern. Und diese Meinung galt.
+</p>
+
+<p>
+Da schrieb Mette zum zweitenmal. Auch in diesem
+Brief stand kein Wort von Liebe oder Sehnsucht –
+nur eine dringende Bitte um Hilfe, viel Klage über
+das, was jetzt in ihr geschah und auch ein wenig Anklage:
+Du hast mich so weit gebracht, du mußt mir
+jetzt die Hand geben und mich aus diesem Sumpfland
+hinausführen.
+</p>
+
+<p>
+Es kam keine Antwort. – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Aber der Frühling kam über alle diesem.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+<a id="page-286" class="pagenum" title="286"></a>
+Warme, schmeichelnde Lüfte kamen und breite,
+glitzernde Sonnenstreifen und Knospenschleier auf
+allem Gesträuch und Schneeglöckchen und Krokus, die
+sich mühsam ihren Weg bahnten durch schwarzviolettes
+fauliges Laub.
+</p>
+
+<p>
+Mette konnte die weiche schwere Luft nicht vertragen.
+Sie schlief nicht mehr und hatte Kopfschmerzen Tag
+und Nacht.
+</p>
+
+<p>
+Das Lesen hielt ihre Gedanken nicht mehr fest. Sie
+saß über die Bücher gebeugt und starrte aus dem
+Fenster. Stundenlang lag dieselbe Seite vor ihr und
+wurde nicht umgeschlagen.
+</p>
+
+<p>
+Sie fing an, Romane zu lesen. Man konnte darüber
+nicht so hinauslesen wie über eine trockene wissenschaftliche
+Darstellung, weil sie die Phantasie anregten
+und Bilder wachriefen.
+</p>
+
+<p>
+Aber diese Bilder wurden zur Qual.
+</p>
+
+<p>
+Immer waren da Menschen, die sich liebten, sich
+sehnten, um einander, miteinander kämpften, sich
+fanden, vereinten oder sich trennten, aneinander zugrunde
+gingen, starben, sich verließen. Von Liebe zu
+lesen tat weh.
+</p>
+
+<p>
+Oder es war vom Meer die Rede, von Bergen und
+Wäldern, vom Frühling oder Sommer. Und Mette
+dachte: „Nie waren wir am Meer zusammen, nie in
+den Bergen, nie in einem Juniwald, nie zwischen
+<a id="page-287" class="pagenum" title="287"></a>
+reifenden Kornfeldern. Wenn wir in dem engen
+Zimmer da oben saßen und auf die graue, regennasse
+Wand sahen, war ich so glücklich, weil ich fühlte, daß
+alle Schönheit der Welt uns bevorstand.
+</p>
+
+<p>
+Olga Radó wird am Meer liegen oder durch reifende
+Felder gehen oder durch die Domgewölbe smaragdener
+Buchenwälder – aber nie mehr mit mir. Mit wem
+nur? Mit wem?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich bin verdammt dazu, blind und taub durch die
+Welt zu gehen oder mit ewig schmerzenden Sinnen.
+Alle Schönheit wird mir zur Marter werden und jeder
+Genuß zur Qual.“
+</p>
+
+<p>
+Sie las von Reichtum und Luxus – von Autos, die
+über die Landstraße jagten, von weißen Hotels an
+blauen Wassern, von Bällen und Festen und Segeljachten
+und Schlittenfahrten – dann fing sie an, ihr
+Vermögen zu berechnen und dachte: „So ein Leben
+hätte Olga Radó führen können, wenn sie bei mir geblieben
+wäre.“
+</p>
+
+<p>
+Oder sie las von Armut und Schmutz und Not,
+von Verbrechen, die der ewige Druck der Sorge erpreßte,
+von Elend und Krankheit und schauriger Einsamkeit.
+</p>
+
+<p>
+Dann schnitt ihr die Angst wie mit Messern ins
+Herz: „Dahin wird Olga Radó kommen, wenn ich sie
+nicht halte. So wird sie enden, wenn ich sie verlasse.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-288" class="pagenum" title="288"></a>
+Die Kirschbäume blühten. Nun fuhr Olga Radó
+sicher mit einer schönen Frau auf einem weißen
+Dampfer über die blauen Wasser der Havel. Und die
+Welt um sie war voll Schönheit und Sonne und
+Glanz.
+</p>
+
+<p>
+Und Metten faßte eine irrsinnige Sehnsucht, dabei
+zu sein, Olgas Leben zu führen. Aller Stolz fiel von
+ihr ab wie verbrannte Fetzen. Sie stand nackt vor
+sich und schrie vor Weh.
+</p>
+
+<p>
+Da schrieb sie zum drittenmal an Olga Radó.
+</p>
+
+<p>
+Sie schrieb, daß sie nicht mehr leben und nicht mehr
+atmen könne ohne sie. Daß sie nichts von ihr wolle,
+keine Liebe, keine Zärtlichkeit, keine Freundschaft. Daß
+sie nur um sie sein wolle, wie eine Magd, wie ein
+Hund, daß sie nichts wolle, als ihr aus allen Kräften
+dienen und zum Lohn dafür sich schlagen und treten
+lassen. Daß sie keine Eifersucht kenne oder gar Herrschsucht
+oder Besitzerwahn. Daß sie jedem dienen wolle,
+Mann oder Weib, den Olga liebte, und daß sie ihre
+Liebe so tief in sich anketten und einmauern wolle, daß
+nie, nie, nie ein Mensch davon ahnen solle, auch Olga
+nicht.
+</p>
+
+<p>
+Und sie wartete auf Antwort. Aber es kam keine.
+</p>
+
+<p>
+Plötzlich kam sie auf den Gedanken, daß Olga vielleicht
+ihre Briefe nicht erhalten hätte ... ganz gewiß
+nicht erhalten hätte.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-289" class="pagenum" title="289"></a>
+Sie ging nach der Motzstraße und jeder Schritt war
+ihr, als wenn sie auf Nadeln träte.
+</p>
+
+<p>
+Das Mädchen machte ihr auf, das ihr damals in
+der Nacht aufgemacht hatte. Da bekam sie den Namen
+nicht über die Lippen und fragte nach Petermann.
+</p>
+
+<p>
+Der war verzogen, unbekannt wohin. Sie quälte
+sich wieder durch zehn Tage hindurch. Dann ging sie
+zum zweiten Male hin.
+</p>
+
+<p>
+Ein fremdes Mädchen öffnete ihr die Tür. „Ich
+habe Glück,“ dachte Mette, und einen Augenblick lang
+wurde ihr schwindlig bei dem flüchtigen Gedanken an
+die Möglichkeit, daß Olga hier sein könne, daß Mette
+vielleicht in der nächsten Minute in ihrem Zimmer ihr
+gegenüberstünde. Was nachher geschah, das war ja
+im Grunde einerlei.
+</p>
+
+<p>
+Fräulein Radó war verzogen – unbekannt wohin.
+</p>
+
+<p>
+Mette ging aufs Einwohnermeldeamt. Sie füllte
+den vorschriftsmäßigen Zettel aus und gab ihn mit
+rasendem Herzklopfen dem grauköpfigen Beamten.
+</p>
+
+<p>
+Der freundliche alte Herr ging und suchte und kam
+wieder und fragte, ob die Dame eigene Wohnung
+hätte.
+</p>
+
+<p>
+Nein – Leute, die in Pensionen wohnten, führten
+sie nicht.
+</p>
+
+<p>
+Da ging Mette den letzten und schwersten Gang.
+Sie ging zu Möbiussens.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-290" class="pagenum" title="290"></a>
+Die Mädchen grinsten ihr frech ins Gesicht, als sie
+nach Olga Radó fragte.
+</p>
+
+<p>
+Nein, sie wüßten nichts von ihr. Sie hatte sich
+natürlich nicht mehr sehen lassen, Vater hätte sie ja
+auch wohl höflichst an die Luft gesetzt. Sie hatten auch
+plötzlich keine Erinnerung mehr an eine Verwandtschaft.
+Sie wußten den Namen des Preßburger
+Onkels nicht mehr oder des Budapester Schwagers.
+Aber sie <em>wollten</em> gern wissen. Glühend vor Neugier
+und Lüsternheit fingen sie an, Fragen zu stellen,
+ob es denn wahr wäre, daß ...
+</p>
+
+<p>
+Mette wurde rot und blaß und heiß und kalt. Sie
+hätte einen Mord begehen können, wenn sie nicht viel
+zu müde dazu gewesen wäre. Sie sagte: „Ich weiß
+nicht!“ Auf alle Fragen immer nur: „Ich weiß
+nicht.“
+</p>
+
+<p>
+Vielleicht hätte sie sich entrüsten sollen und Olga
+Radó verteidigen. Vielleicht hätte sie sie verlästern
+sollen und geheimnisvolle Andeutungen machen.
+Vielleicht hätte sie lachen sollen und die Mädchen an
+der Nase herumführen. Sie hielt sich mit beiden Händen
+am Stuhl fest und sagte: „Ich weiß nicht!“
+</p>
+
+<p>
+Als sie das Haus verließ, wußte sie, daß sie es
+nie wieder betreten würde. Ein sinnloses Wort ging
+ihr wie im Fieber immer wieder durch den Kopf: In
+der Leute Mäuler sein ...
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-291" class="pagenum" title="291"></a>
+Sie hatte sich noch nie etwas dabei gedacht. Nun
+war ihr ganz körperlich so zumute, als hätte man sie
+durchgekaut und aufs Pflaster gespien. Der Ekel
+schüttelte sie. – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Von Zeit zu Zeit – in immer kürzeren Zwischenräumen
+– trat an die Oberfläche ihrer Empfindungen
+ein dumpfer, peinigender Haß gegen Olga Radó.
+Alles, was sie jetzt litt, hatte diese Frau verschuldet.
+Leichtsinnig und kaltherzig und ganz gewissenlos verschuldet.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+In dieser Zeit war Mette sehr ungerecht gegen Olga
+Radó. Denn es schien ihr, als wäre sie aus einer
+glücklichen, wohlbehüteten Jugend herausgerissen, als
+wäre ein tiefer, heiterer Frieden in ihr zerstört, ein
+wundervolles Gleichgewicht in ihr erschüttert worden.
+</p>
+
+<p>
+Und es erschien ihr als das Endziel aller Wünsche,
+daß es wieder so werden solle, wie es vorher gewesen
+war. Sie hatte nur die eine Sehnsucht, das letzte
+Jahr aus ihrem Leben zu streichen, zu löschen, zu
+vergessen.
+</p>
+
+<p>
+Dann nahm sie wieder die schlimmen Bücher vor
+und las absichtlich das, was sie am meisten angewidert
+hatte. Sie steigerte sich künstlich in Haß und Zorn
+und Angst hinein.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-292" class="pagenum" title="292"></a>
+Es kamen Tage, wo sie sich sagte: Nun bin ich
+frei! Ich bin wie aus schwerer Krankheit genesen,
+ich fühle, daß mein Blut wieder rein ist – ich werde
+leben können wie alle die anderen Menschen auch,
+ein Leben ohne Qual und Freude, ohne Sehnsucht
+und ohne Erfüllung.
+</p>
+
+<p>
+Und es kamen Nächte, wo sie glaubte, daß ein
+brennendes Gift in all ihren Adern fräße. Wo die
+Angst vor einer unnennbar grauenhaften Zukunft sie
+schüttelte. Wo sie glaubte, den eigenen zügellosen
+Begierden erliegen zu müssen, wehrlos jeder Dirne
+ausgeliefert zu sein, die aus verbrecherischen Gründen
+ihre Leidenschaft weckte, wo sie sich von Erpressern gehetzt,
+von Kriminalbeamten verfolgt, siech, irrsinnig,
+eingekerkert oder ermordet sah.
+</p>
+
+<p>
+In einer solchen Periode grenzenlosester Verzweiflung
+verlobte sie sich.
+</p>
+
+<p>
+Irgendein anständiger und solider Mann bewarb
+sich um sie.
+</p>
+
+<p>
+Sie wußte nichts von ihm. Sie wußte nicht, wann
+und wo sie ihn zum erstenmal gesehen hatte, sie wußte
+nicht, wie er aussah, wußte kaum etwas von seinem
+Charakter oder seinen Neigungen – sie fühlte nur
+eines Tages, seit einiger Zeit war immer ein Mensch
+neben ihr, der sich bemühte, gut zu ihr zu sein. Jemand,
+der ihr sehr sorgfältig den Mantel um die
+<a id="page-293" class="pagenum" title="293"></a>
+Schultern legte, sich bückte, wenn ihr etwas hinfiel, ihr
+Blumen brachte, sich bemühte, ihr irgend etwas Heiteres
+zu erzählen, um ihr Gesicht ein wenig zu erhellen.
+</p>
+
+<p>
+Dieser Mann wußte so angenehm wenig von ihr.
+Und Tante Emilie überfloß in seiner Gegenwart von
+sanfter mütterlicher Freundlichkeit. Es wäre ihr geradeso
+gut zuzutrauen gewesen, daß sie vor ihm
+bissige Bemerkungen oder vielsagende Andeutungen
+gemacht hätte.
+</p>
+
+<p>
+Aber er paßte ihr wohl in ihr Programm.
+</p>
+
+<p>
+Er bedauerte Metten so unendlich, weil sie Waise
+war. Er schrieb all das Weh auf ihrem blassen Gesicht
+der Trauer um den geliebten Vater zu.
+</p>
+
+<p>
+Manchmal wagte er es, ihre kalten Finger in seinen
+beiden Händen zu halten oder sie sanft zu streicheln.
+Dann schloß Mette die Augen und prüfte in Angst
+ihr Gefühl.
+</p>
+
+<p>
+Es ging Wärme und wohltuende Ruhe von seinen
+großen starken Händen aus. Seine weiche Zärtlichkeit
+war eher angenehm als widerwärtig. Dann
+sagte sie sich mit einer aufschimmernden Hoffnung:
+„Vielleicht wird noch alles gut. Vielleicht gewinne ich
+es über mich, ihn zu heiraten. Ich werde immer
+einen Menschen um mich haben, der gut zu mir ist, ich
+werde Kinder haben, ich werde ein Heim haben, ich
+<a id="page-294" class="pagenum" title="294"></a>
+werde immerfort zu tun haben – vielleicht kann
+man das Leben auf solche Weise noch am ehesten ertragen.“
+</p>
+
+<p>
+Und dann stachelte sie der unbändige Wunsch nach
+Rache. Es würde Olga Radós Eitelkeit vielleicht doch
+verletzen, wenn sie erfuhr, daß sie so schnell vergessen
+worden war.
+</p>
+
+<p>
+Der Mann war reich. Das paßte Tante Emilien,
+und es paßte mitunter sogar Metten.
+</p>
+
+<p>
+Sie sah sich zuweilen in der Loge der Oper brillantenblitzend
+neben diesem Mann – einem sehr hübschen,
+stattlichen Mann – sie sah ihn manchmal aus
+solchen Gedanken heraus daraufhin an – niemand
+würde auf den Gedanken kommen, daß sie ihn nicht
+aus Liebe geheiratet hätte – und sah dann plötzlich
+Olga Radó irgendwo auftauchen. Oder sie sah sich
+in einer Equipage an Olga Radó vorüberjagen –
+oder – am liebsten dachte sie, sie zu treffen, wenn sie
+mit ihren süßen kleinen, blondlockigen, weiß angezogenen
+Kindern spazieren ginge. Dann würde sie die
+Kinder vor ihr zurückreißen wie vor einem giftigen
+Tier. Damit, ja, damit würde sie sie am schmerzlichsten
+verletzen.
+</p>
+
+<p>
+Als der Mann anhielt, sagte Mette ja. Sie hatte
+Zeit genug gehabt, sich an diesen Gedanken zu gewöhnen.
+Sie setzte selbst die Verlobungsanzeigen
+<a id="page-295" class="pagenum" title="295"></a>
+auf und sorgte dafür, daß sie in verschiedene Zeitungen
+kamen.
+</p>
+
+<p>
+An ihrem einundzwanzigsten Geburtstag war ein
+kleines Gartenfest in der Villa ihrer Schwiegereltern.
+Es war ein sehr heißer Sommertag, der neunzehnte
+Juni, und auf Tante Emiliens Zureden zog Mette
+zum erstenmal wieder ein weißes, schwarzgesticktes
+Kleid an.
+</p>
+
+<p>
+Alls sie draußen in der fremden Wohnung unter
+vielen fremden Menschen an einem Spiegel vorüberstreifte,
+erkannte sie sich nicht.
+</p>
+
+<p>
+Sie erschrak und wurde den Gedanken nicht wieder
+los, daß sie nicht das hübsche, weiß gekleidete Mädchen
+sei, was am Arm eines fremden Mannes ihr aus dem
+Spiegel entgegenlächelte.
+</p>
+
+<p>
+Sie suchte sich selbst und konnte sich nicht darauf besinnen,
+wo sie wohl sein könne. Aber ihr war, als
+sähe sie sich selbst, schmal und schwarz wie ein Gespenst,
+durch große, dunkle, leere Räume wandern.
+Dann war es ihr wieder, als sei sie doch dieses hier,
+und die andere Mette, die so deutlich ihre Züge trug,
+sei eine Fremde. Traum und Wirklichkeit begannen,
+sich heillos ineinander zu verschlingen, alle ihre Nerven
+schienen ihr zu klirren wie losgerissene Saiten,
+sie sehnte sich in Todesangst nach völliger Bewußtlosigkeit
+oder plötzlich hereinbrechender Klarheit – es
+<a id="page-296" class="pagenum" title="296"></a>
+war wie Nebel, die vorbeizogen oder ein vorübergehender
+Schwindel – eine Minute später konnte sie
+sich nicht besinnen, was es eigentlich gewesen war, und
+konnte ihrem Verlobten, der besorgt nach der Ursache
+ihrer Blässe fragte, keine Antwort geben.
+</p>
+
+<p>
+Nur das seltsame Gefühl blieb ihr den ganzen
+Abend, als sei dies alles nur ein Traum oder ein
+Spiel. Die ganze Verlobung eine scherzhafte Komödie,
+und jeden Moment könne, wie ein gestrenger
+Regisseur, ein Schicksal hervortreten und sagen:
+„Genug! Die Wirklichkeit fängt wieder an!“ – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Am zwanzigsten Juni morgens wurde Mette ans
+Telephon gerufen.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Eine dünne Männerstimme sprach aus dem Hörer,
+seltsam verhalten und zögernd.
+</p>
+
+<p>
+„Ist das gnädige Fräulein selbst am Apparat? –
+Mette, sind Sie es? Verzeihung, wenn ich störe –
+ich hätte dich gern gesprochen!“
+</p>
+
+<p>
+Mette fühlte, wie ihr Herz sich losriß und in einen
+unermeßlichen dunklen Abgrund stürzte.
+</p>
+
+<p>
+„Peterchen?“ sagte sie und erquälte ein Lächeln,
+ohne daran zu denken, daß niemand ihr Gesicht sehen
+konnte. Und keiner hätte dem bebenden Ton ihrer
+Stimme dies Lächeln anhören können.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-297" class="pagenum" title="297"></a>
+„Ja ... könnte ich dich sprechen, Mette? Das
+heißt ...“ Wieder war dies scheue Zögern in der
+Stimme. „Wenn du willst, natürlich ... ich weiß
+ja nicht, wie weit du noch Interesse hast für deine
+alten Freunde.“
+</p>
+
+<p>
+„Selbstverständlich,“ sagte Mette fest, „jederzeit
+kannst du mich sprechen ... wann und wo du
+willst.“
+</p>
+
+<p>
+Sie fragte nicht, was geschehen sei. Sie wollte
+nicht fragen.
+</p>
+
+<p>
+„Ich kann doch nicht gut kommen ...“ Wieder
+dieser zaghafte Ton. „Und ich möchte auch nicht gern
+auf der Straße ... oder im Kaffeehaus ... es geht
+wirklich nicht ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ich komme zu dir,“ sagte Mette rasch. „Sag’ mir
+nur, wo du wohnst!“
+</p>
+
+<p>
+„... ja ... aber ... geht denn das? ... Schließlich
+... wenn du nachher Unannehmlichkeiten hast ...
+du bist verlobt ...“
+</p>
+
+<p>
+„Blödsinn!“ sagte Mette schroff. – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+Während sie über die Straße lief, dachte sie mit
+keinem Wort an das, was geschehen war. Sie wollte
+es vor sich selber nicht aussprechen. „Vielleicht ist Olga
+krank und hat Sehnsucht nach mir,“ dachte sie. „Vielleicht
+<a id="page-298" class="pagenum" title="298"></a>
+weiß sie auch nichts davon, und Peterchen ruft
+mich aus eigenem Antrieb.“
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Sie malte sich aus, daß sie Olga sehen würde, daß
+sie ihre Hand halten würde – und sie sagte sich dabei:
+„Das erzähle ich mir vor, wie man einem fiebernden
+Kinde Märchen erzählt. Ich male es mir mit den
+schönsten Farben aus und glaube so wenig daran,
+wie man an Feen und Zauberer glaubt.“
+</p>
+
+<p>
+Aber es war besser, Märchen zu erzählen, Wiegenlieder
+zu singen, als nach der Stimme zu hören, die
+ganz tief in ihr die Wahrheit schrie.
+</p>
+
+<p>
+Es war seltsam, daß sie – ohne sich umzusehen –
+die Straße und das Haus fand, so, als wäre sie
+hundertmal dagewesen.
+</p>
+
+<p>
+Als sie klingelte, stand Petermann schon auf der
+Diele. Das ersparte ihr jede Fragerei. Sie spürte
+auch jetzt, dem Dienstmädchen gegenüber, dem ersten
+Menschengesicht, das sie bemerkte, daß sie dazu kaum
+imstande gewesen wäre.
+</p>
+
+<p>
+Er nahm sie bei der Hand und zog sie wortlos, an
+dem erstaunten Mädchen vorüber, in eine offene
+Zimmertür.
+</p>
+
+<p>
+Er schloß die Tür und sagte währenddessen, ohne
+sie anzusehen:
+</p>
+
+<p>
+„Setz dich doch, Mette!“
+</p>
+
+<p>
+Das erste, was Mette in dem Zimmer sah, war auf
+<a id="page-299" class="pagenum" title="299"></a>
+der dunklen Platte des Schreibtisches die goldene
+Zigarettendose.
+</p>
+
+<p>
+Ein Sonnenstrahl blitzte darauf.
+</p>
+
+<p>
+Sie wollte sich beherrschen. Es war, als ob sie
+beide Hände um die Zügel krampfte, um sich zu halten.
+</p>
+
+<p>
+Aber als Petermann sich ihr zuwandte und sie sah,
+wie seine Hände hilflos waren, wie sein kleines,
+weißes Gesicht zitterte, wie mühsam er um Fassung
+kämpfte – da zerbrach die ihre. Sie fing an zu
+weinen.
+</p>
+
+<p>
+Peterchen setzte sich neben sie und streichelte eine
+Weile schweigend ihre Hände.
+</p>
+
+<p>
+„Weine nur,“ sagte er schließlich mit zitterndem
+Kinn, während die Tränen aus seinen Augen stürzten.
+„Weine nur, sie war es wert, daß um sie geweint
+wird, das kannst du mir glauben ...“
+</p>
+
+<p>
+„Dir glauben?“ sagte Mette mit herzzerreißender
+Bitterkeit. Sie legte das Tuch über die Augen und
+stützte den Kopf in die Hand.
+</p>
+
+<p>
+Ihre andere Hand streichelte zuckend über die seine.
+</p>
+
+<p>
+„Und nun sag’ mir alles, Peterchen – du siehst,
+ja, daß ich ganz ruhig bin – ganz, ganz ruhig. Wann
+geschah es? ... und wie ... und warum? ...
+Sag’ mir alles, alles, was du weißt ...“
+</p>
+
+<p>
+„Du solltest es nicht wissen, Mette. Nicht vor
+deinem einundzwanzigsten Geburtstag. Der war
+<a id="page-300" class="pagenum" title="300"></a>
+gestern, nicht wahr? Ich habe ihn hier auf dem
+Kalender vermerkt – aus einem anderen Grunde ...
+das muß ich dir alles noch erzählen ... ich hatte einen
+Auftrag an dich ... aber ich hatte natürlich keine
+Ahnung ... man ist ja manchmal wie mit Blindheit
+geschlagen.“
+</p>
+
+<p>
+Mette hob einen Augenblick den Kopf:
+</p>
+
+<p>
+„Sie hat es selbst getan.“
+</p>
+
+<p>
+Es lag keine Frage in dem Ton.
+</p>
+
+<p>
+„Ja.“
+</p>
+
+<p>
+„Erschossen.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja.“
+</p>
+
+<p>
+Sie deckte das Tuch wieder über die Augen.
+</p>
+
+<p>
+„Weiter.“
+</p>
+
+<p>
+„Sie war einmal krank im Frühjahr, es war eine
+leichte Influenza. Sie fieberte ein bißchen, da saß ich
+drüben bei ihr, und sie sprach in einemfort von Tod
+und Begräbnis, ganz heiter und ausgelassen, wie es
+ihre Art war. Du weißt ja, man wußte nie, ob es
+Scherz oder Ernst bei ihr war. Da sagte sie noch:
+Peterchen, wenn ich jetzt sterbe, dann sorge dafür, daß
+es geheim bleibt. Es soll in keine Zeitung, kein
+Mensch soll es wissen. Auch die Mette nicht. Am
+liebsten wär’ es mir, du streutest meine Asche ins Meer
+oder wenigstens in den Wannsee. Aber das erlaubt der
+Staat, glaub’ ich, nicht. Nur mach schnell, daß der
+<a id="page-301" class="pagenum" title="301"></a>
+Rest verbrannt wird. Ich will kein Gfrett haben mit
+meinem Leichnam, ich will’s nicht. Ich bin nicht drin,
+merkt’s euch. Nicht eine Minute länger, als unbedingt
+nötig, halt ich mich in dem Kadaver auf.“
+</p>
+
+<p>
+Metten war, als höre sie Olga reden. So deutlich
+hörte sie ihre Stimme, daß ihr Herz sich mit einer
+innigen Freude füllte und sie lächelte.
+</p>
+
+<p>
+„Ich hab’ damals auch gelacht,“ sagte Peterchen
+wehmütig, „da wurde sie ganz ernst und richtete sich
+auf und sah mich an. Du weißt ja, wie sie einen ansehen
+konnte mit so gewaltsamen Augen und sagte:
+</p>
+
+<p>
+‚Es ist mein heiliger Ernst. Versprich es mir, gib
+mir dein Ehrenwort!‘ Ich versprach es ihr auch, aber
+ich sagte noch:
+</p>
+
+<p>
+‚Du bist ja verrückt, in drei Tagen bist du doch wieder
+gesund.‘
+</p>
+
+<p>
+Sie <em>war</em> ja auch in drei Tagen wieder gesund.“
+</p>
+
+<p>
+Er schwieg. Irgendwo tickte eine Uhr und Fliegen
+stießen surrend gegen das Fensterglas.
+</p>
+
+<p>
+Irgend etwas erfüllte Metten ein paar Sekunden
+lang mit Beruhigung und Freude. Eine unklare
+Empfindung: wie gut, daß Olga in ein paar Tagen
+gesund geworden war. Es steckte so viel kraftvolles
+Leben in diesem schönen Körper.
+</p>
+
+<p>
+Dann schlug ihr das Jetzt wie eine geballte Faust
+aufs Herz.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-302" class="pagenum" title="302"></a>
+Und jetzt? Und jetzt?
+</p>
+
+<p>
+Sie mußte ein paarmal ansetzen, um das furchtbare
+Wort auszusprechen.
+</p>
+
+<p>
+„Habt ihr sie schon begraben?“ fragte sie ganz leise.
+</p>
+
+<p>
+„Sie ist verbrannt worden. Die Urne ist nach Wien
+gekommen. Ihre Schwester lebt jetzt da.“ –
+</p>
+
+<p>
+„Hat sie hier gewohnt zuletzt?“
+</p>
+
+<p>
+„Um die Ecke, zwei Häuser von hier.“
+</p>
+
+<p>
+„Und da ist es auch geschehen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja.“
+</p>
+
+<p>
+„Kann man ...“ Mette schluckte ein paarmal, „kann
+man nicht das Zimmer sehen?“
+</p>
+
+<p>
+Petermann hob zögernd die Achseln:
+</p>
+
+<p>
+„Wozu? Es ist alles umgestellt. Nichts von ihren
+Sachen mehr da. Es ist auch schon wieder vermietet.“
+</p>
+
+<p>
+Mette sank in sich zusammen. „Es ist gut so,“
+sagte sie leise, „es ist auch ganz gut so.“
+</p>
+
+<p>
+Sie hatte ein eigenartiges Empfinden. Es war
+wie eine Wohltat, daß jede Form zerstört war, die
+dieser Geist geschaffen hatte. Nicht einmal ein
+Zimmer war mehr auf der Welt, das diese Hände,
+dieser Sinn geordnet hatten und in das ein Teil ihres
+Wesens gebannt geblieben wäre. Metten war halb
+unbewußt so zumute, als hätte man durch das Umrücken
+von Möbelstücken Steine aus einer Kerkerwand
+gebrochen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-303" class="pagenum" title="303"></a>
+Nun war Olga Radó ganz frei.
+</p>
+
+<p>
+Ein leiser Windhauch bewegte den offenen Fensterflügel
+und hob die Gardine. Eine süße weiche Kühle
+strich über Mettens brennende Augen. Sie lächelte.
+</p>
+
+<p>
+„Es ist gut so!“ sagte sie noch einmal.
+</p>
+
+<p>
+Sie wußte plötzlich, daß Olga ihre Briefe nicht erhalten
+hatte. Sie hätte nicht danach zu fragen
+brauchen.
+</p>
+
+<p>
+Aber Peterchen wär schließlich der einzige Mensch,
+an dessen Meinung ihr noch ein wenig gelegen war.
+Sie hatte das Gefühl, sich vor ihm rechtfertigen zu
+müssen.
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe dreimal an Olga geschrieben!“ sagte sie.
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe es mir beinah gedacht,“ sagte Peterchen
+mit trübem Lächeln. „Sie hat nie eine Zeile erhalten.“
+</p>
+
+<p>
+„Du wüßtest es sonst?“
+</p>
+
+<p>
+„Selbstverständlich. Wir haben doch oft genug über
+dich gesprochen.“
+</p>
+
+<p>
+„Habt ihr? Was?“
+</p>
+
+<p>
+Während Petermann sprach, hatte Mette die seltsame
+Empfindung, als durchlebe sie in diesen wenigen
+Minuten mit stärkster Intensität das letzte halbe Jahr
+ihres Lebens. So, als wäre damals, an jenem unglückseligen
+Morgen der Faden des Gewebes abgerissen
+und mühsam, Tag um Tag, ein Muster, das nicht
+<a id="page-304" class="pagenum" title="304"></a>
+passen wollte, angestückelt. Nun trennte das falsche
+Gewebe sich, rückwärts laufend, blitzschnell von selber
+auf – ein Knoten wurde geknüpft, wo der Faden abgerissen
+war, und die wirkliche Zeichnung lief weiter,
+ein wenig verkürzt, ein wenig matt in den Farben –
+aber sie lief weiter und gab eine Brücke zum heutigen
+Tag und den Tagen, die kommen sollten.
+</p>
+
+<p>
+„Was habt ihr von mir gesprochen?“
+</p>
+
+<p>
+„O viel ... Ich habe ihr sooft zugeredet, an dich
+zu schreiben, irgendwie eine Verbindung mit dir zu
+suchen. Sie hatte die Überzeugung, es nicht tun zu
+dürfen. Du weißt ja, wie halsstarrig sie war.
+Manchmal hatte ich die Absicht: ich telephoniere dir
+oder ich lauere dir irgendwo auf – gegen ihren
+Willen. Einmal hab’ ich ihr das auch gesagt. Da hat
+sie mich angefunkelt mit ihren großen Augen: ‚Wenn
+du dich das unterstehst, ist es aus mit unserer Freundschaft,
+für ewige Zeiten aus. Willst du das arme Kind
+auch noch zugrunde richten?‘
+</p>
+
+<p>
+Sie glaubte immer, du wärest glücklich, und es
+ginge dir gut. Ich war der Meinung, du müßtest erfahren,
+was vorgeht. Ich hab’ so gekämpft, du glaubst
+es nicht. Einmal hab’ ich dir eine Stunde lang
+Fensterpromenade gemacht. Ich dachte immer, wenn
+ich dich sprechen würde, wir würden irgendeinen Ausweg
+finden. Ich dachte immer, es würde noch alles
+<a id="page-305" class="pagenum" title="305"></a>
+gut. Dann hast du dich ja verlobt. Ja, da mußte ich
+ihr ja schließlich recht geben.“
+</p>
+
+<p>
+„Oh, du Idiot!“ sagte Mette und lachte unter hervorstürzenden
+Tränen.
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß den Tag noch so genau. Olga kam zu
+mir herüber, am frühen Morgen schon. Sie hockte
+hier neben mir auf dem Sessel und rauchte eine
+Zigarette nach der anderen. Eine halbe Stunde lang
+sprach sie kein Wort. Ich saß hier am Schreibtisch und
+tat so, als ob ich arbeitete. Ich hatte die Zeitung weggeschoben,
+als ich sie kommen hörte. Aber wie sie so
+dasaß, da wußte ich: sie weiß es schon. Und sie
+wußte, daß ich es wußte, aber keiner wollte anfangen,
+davon zu sprechen. Wie sie dann schließlich anfing,
+sagte sie immerfort: ‚Ich bin so glücklich. Ich bin ja
+so froh.‘ Und sie verlangte von mir, daß ich mich
+freuen sollte. Wir gingen am Abend eine Flasche
+Wein zusammen trinken. Sie zwang mich direkt dazu.
+Wir müßten doch auf deine Zukunft trinken. Ich
+seh’ sie noch immer am Tisch sitzen und das Weinglas
+drehen. Sie hatte so ein merkwürdiges Lächeln den
+ganzen Tag. Und dann sagte sie immer wieder: ‚Die
+kleine Mette wird heiraten. So gut ist das. So gut.
+Unsere kleine Mette wird Kinder haben, lauter Jungens,
+denen geht’s immer gut.‘ – Dann wollte sie
+immer wieder von mir hören, daß ich es gut fände,
+<a id="page-306" class="pagenum" title="306"></a>
+daß ich mich freute. Und ich muß sagen – wie die
+Dinge lagen – es war ja auch wohl das Beste ...
+aber von dem Tage an hatte sie eine nervöse Angst, dir
+irgendwo zu begegnen. Manchmal, wenn sie etwas
+zu besorgen hatte, bat sie mich darum. Manchmal saß
+sie vor mir, blaß und mit gefalteten Händen: ‚Bitte,
+bitte, Peterchen, ich kann nicht nach dem Kaufhaus
+gehen.‘ Die letzten acht bis zehn Tage hat sie überhaupt
+ihr Zimmer kaum mehr verlassen. Sie telephonierte
+mich an, ich sollte rüberkommen, sie wollte
+nicht auf die Straße. Aber das hatte wohl auch noch
+einen anderen Grund ...“
+</p>
+
+<p>
+„Was für einen?“ fragte Mette, nachdem er eine
+ganze Weile schweigend aus dem Fenster gesehen hatte.
+</p>
+
+<p>
+Er warf einen raschen und gleichsam prüfenden Blick
+auf sie.
+</p>
+
+<p>
+„Du weißt es nicht?“ sagte er wie erleichtert. „Nicht
+wahr, du weißt nichts davon ... ich hab’ es auch
+eigentlich nie anders angenommen ... Sie haben sie
+beobachten lassen ... deine Leute. Wo sie ging und
+stand war ein Detektiv hinter ihr her. Oh, und sie litt
+so wahnsinnig darunter.“
+</p>
+
+<p>
+„Warum nur?“ fragte Mette mit verlorenen Augen,
+„warum haben sie denn das getan? Sie hatten mich
+doch in der Hand. Sie wußten doch, wo ich jede
+Stunde des Tages zubrachte.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-307" class="pagenum" title="307"></a>
+„Sie fürchteten wohl ... vielleicht dachten sie,
+wenigstens damals ... im Anfang, vor deiner Verlobung,
+du könntest in deinen Entschlüssen wankend
+werden ... oder sie könnte versuchen, dich wieder zu
+beeinflussen, sie wollten ihr irgend etwas nachsagen
+können, um sie als lästige Ausländerin ausweisen zu
+lassen. Herr von Seyblitz hat ihre ganzen Schulden
+aufgekauft. Das wußtest du auch nicht, nicht wahr?
+Sie haben sie so in die Enge getrieben ... täglich
+kamen Briefe von Rechtsanwälten, vom Gericht ...
+Sie hat sie nachher nicht mehr aufgemacht ... Sie ließ
+sie auf dem Schreibtisch sich anhäufen. Ich sagte
+manchmal: Kind, das geht nicht, du mußt antworten,
+du mußt hingehen, du mußt Entschlüsse fassen ...
+Dann lächelte sie so unendlich melancholisch: ‚Ich
+habe meinen Humor nicht mehr, Peterchen, ich
+bin alt und müde. Mir ist das gar ka’ Hetz
+mehr.‘ Und sie zeigt so mit einer Handbewegung auf
+die Papiere.
+</p>
+
+<p>
+Es kamen auch Drohbriefe – so gemein – sag’ ich
+dir. Mit Ausdrücken, die man nicht wiederholen
+kann. Von deiner Tante Emilie, glaub’ ich. Aber
+so, als wären sie in deinem Sinne geschrieben. Du
+wüßtest nun, wes Geistes Kind sie wäre, und sie sollte
+jeden Annäherungsversuch unterlassen und nicht versuchen,
+ihre Erpressungen an dir fortzusetzen. Es wäre
+<a id="page-308" class="pagenum" title="308"></a>
+ja genug, daß sie dich zu Diebstahl und Einbruch verführt
+hätte, daß sie deine Gesundheit untergraben
+hätte, daß sie den Tod deines Vaters verschuldet hätte
+– ach, und was weiß ich. Und dann Dinge, die du
+über sie gesagt haben solltest ... es muß Furchtbares
+gewesen sein; denn sie wollte es selbst mir nicht sagen
+oder zeigen.
+</p>
+
+<p>
+Sie saß mir gegenüber, ganz weiß im Gesicht und
+mit glühenden Augen und hielt mich am Handgelenk
+gepackt, daß ich dachte, sie zerbricht mir die Knochen
+und sagte immer wieder: ‚Davon weiß die Mette
+nichts, nicht wahr, Peterchen? Davon weiß die Mette
+nichts?‘
+</p>
+
+<p>
+Und dann ein andermal wieder sagte sie:
+</p>
+
+<p>
+‚Wie können Menschen nur so wahnsinnig grausam
+sein. Sie haben doch direkt ihren Spaß daran, mich
+langsam zu Tode zu quälen. Sie machen einen Kranz
+von glühender Kohle um mich her – wo ich mich nach
+einem Ausweg wende, sperren sie zu, bloß um zu
+beobachten, wie ich mich gebärde, wenn sie mich glücklich
+bis zur Raserei gebracht haben.‘ Ich weiß noch,
+dabei rannte sie hier im Zimmer auf und ab und ich
+dachte wirklich, die Wände werden ihr zu enge, sie ist
+wie ein gefangenes wildes Tier. Ich sagte noch: Du
+kannst doch dem allen entgehen. Du kannst doch nach
+Hause reisen. Da wurde sie ganz ruhig und sagte:
+<a id="page-309" class="pagenum" title="309"></a>
+‚Ja, ich kann dem allen entgehen. Ich kann abreisen.
+Ich kann nach Hause reisen!‘
+</p>
+
+<p>
+Damals fiel mir ihr Ton nicht auf. Jetzt, wenn er
+mir wieder im Ohr klingt, begreife ich nicht, daß ich
+sie nicht verstanden habe. Von der Zeit an sprach sie
+oft von der Reise. ‚Am zweiundzwanzigsten Juni
+fahre ich nach Hause.‘ Das war ihre ständige Rede.
+Ich fragte sie einmal, warum sie gerade diesen Tag
+festgesetzt hätte. Da lachte sie und sagte:
+</p>
+
+<p>
+‚Weil es drei Tage nach dem neunzehnten ist.‘ Ich
+dachte wohl darüber nach. Aber der Zusammenhang
+wurde mir damals nicht klar ...
+</p>
+
+<p>
+Aber dann nach deiner Verlobung wurde das anders.
+Sie sagte plötzlich: wenn ich reise – nächste
+Woche ... oder übermorgen. Ich neckte sie noch und
+sagte: Nanu? Bist du deinen Vorsätzen untreu geworden?
+Ich denke, du fährst erst drei Tage nach dem
+neunzehnten Juni?! Da sieht sie mich so rätselvoll an
+und schüttelt den Kopf und sagt: ‚Ach nein, Peterchen,
+<em>darauf</em> brauche ich nun nicht mehr zu warten!‘
+</p>
+
+<p>
+Am Abend des ... an einem Montagabend, kam
+sie plötzlich her, wie es mir vorkam, in einer gewissen
+heiteren Erregung. Sie legte das Zigarettenetui hier
+auf den Schreibtisch, hier, wo es noch liegt – und
+sagte zu mir, ich solle ihr den Gefallen tun und es in
+deine Hände gelangen lassen. Sie wollte reisen und
+<a id="page-310" class="pagenum" title="310"></a>
+wäre schon am Packen. Wenn sie es dir schickte,
+würde man es wahrscheinlich als Erpressungsversuch
+deuten.
+</p>
+
+<p>
+Ich sollt’ es dir geben, wenn sie fort wäre. Erst an
+deinem Geburtstag. Und sie verlangte, ich sollte mir
+den Tag im Kalender ankreuzen. Ich sagte, ich behalt
+es so. Aber sie schlug das Datum in meinem Kalender
+auf und zeichnete es selbst ein.“
+</p>
+
+<p>
+Er schlug mit einer fast andächtigen Bewegung das
+letzte Blatt zurück und schob Metten den Kalender hin.
+</p>
+
+<p>
+Auf dem weißen Blatt stand unter den neunzehnten
+Juni in Olgas großer schöner Handschrift langsam,
+sorgfältig hingezirkelt:
+</p>
+
+<p>
+Mettes Geburtstag. Nicht vergessen, Peterchen! –
+Und darunter waren drei Kreuze hingemalt, kleine,
+schwarze, spielerische Tintenkreuze.
+</p>
+
+<p>
+Mette sagte nichts. Sie legte die flache Hand auf
+das Blatt und nahm sie nicht wieder herunter.
+</p>
+
+<p>
+Peterchen räusperte sich ein paarmal, dann sprach
+er weiter:
+</p>
+
+<p>
+„Eh’ sie hinüberging, verabredeten wir alles für
+den andern Tag. Wir wollten uns vormittags nach
+den Zügen erkundigen, abends wollte ich sie an die
+Bahn bringen. Wie sie fort war, wurde ich so unruhig.
+Irgend etwas schien mir nicht zu stimmen,
+ich wußte nicht was. Ich versuchte, hinüber zu telephonieren,
+<a id="page-311" class="pagenum" title="311"></a>
+bekam keine Verbindung. Ich saß hier am
+Schreibtisch in einer ganz unbeschreiblichen Nervosität.
+Das Ding lag vor mir,“ er nahm das Etui in die
+Hand, „ich nehm’ es auf, ganz in Gedanken. Plötzlich
+fiel mir ein – verzeih’ mir, Mette, wenn es indiskret
+war, aber ich war in einer so peinigenden
+Unruhe, plötzlich fiel mir ein, es aufzumachen. Es
+war halb Spielerei und halb die Ahnung, daß ich
+irgend etwas finden könnte, irgend etwas Aufklärendes.
+Wie ich das Ding aufknipse,“ er tat es,
+„find’ ich diesen Zettel darin.“
+</p>
+
+<p>
+Er gab es Metten in die Hand. Unter die Bänder,
+die die Zigaretten auf der goldenen Fläche festhalten
+sollten, war ein Blatt Papier geschoben, darauf stand
+in Olgas unverkennbarer Handschrift:
+</p>
+
+<p>
+„<span class="antiqua">Qui vivens laedit, morte medetur!</span>“
+</p>
+
+<p>
+„<span class="antiqua">Qui vivens laedit, morte medetur!</span>“ wiederholte
+Petermann. „Ein paarmal las ich das wie ein Blödsinniger,
+ohne etwas zu begreifen, dann stürzte ich
+hinunter. Ohne Hut, ohne Schlüssel. Unten war
+das Haus verschlossen. Ich klingelte dem Portier.
+Er kam nicht sofort. Ich raste die Treppen wieder
+hinauf, um mir die Schlüssel zu holen. Ehe ich das
+Haus aufschloß, eh’ ich über die Straße kam, eh’ ich
+drüben den Portier rausklingelte – das dauerte alles
+Ewigkeiten. Auf der Treppe begegnete mir das
+<a id="page-312" class="pagenum" title="312"></a>
+Mädchen, das mich holen sollte. Schreiend und
+schluchzend. Da war es schon geschehen.“
+</p>
+
+<p>
+Mette legte die Stirn auf die Kante des Schreibtisches.
+Es wurde kein Laut hörbar. Petermann
+strich ein paarmal mit zitternden Fingern über
+Mettens Haar.
+</p>
+
+<p>
+„Ich muß dir noch etwas erzählen,“ sagte er leise,
+„Sie hat ganz in deinen Blumen gelegen – vielleicht
+tut dir der Gedanke wohl. Du weißt doch, damals
+– als ihr euch trenntet – du liefst weg und
+deine Leute dir nach, ich hatte den Wortwechsel ja
+von draußen so halb und halb mit angehört – ich
+ging nach einer ganzen Weile in mein Zimmer – da
+stand Olga noch immer mitten im Zimmer, an den
+Tisch gelehnt. Und wie ich hereinkomme, sieht sie
+mich an, als wecke ich sie aus dem Schlaf. Ich nehme
+sie an beiden Armen und rüttle sie. Was ist denn
+geschehen, Olga? Was hast du denn der Mette getan?
+Sie sieht mich ganz verstört an und sagt immer
+wieder: Ich habe etwas Furchtbares getan, oh, Gott,
+Peterchen, ich habe etwas Furchtbares getan. Sie
+hatte dich ganz formell fortgeschickt, nicht wahr? Hatte
+gesagt, du solltest sie nicht mehr belästigen oder so
+etwas, nicht wahr?
+</p>
+
+<p>
+Dann sagte sie wieder: es wäre zu deinem Besten,
+sie hätte dich fortschicken müssen, es wäre verbrecherischer
+<a id="page-313" class="pagenum" title="313"></a>
+Egoismus, dich zu halten. Ich sah, wie
+aufgeregt sie war und stimmte ihr zu, wenigstens
+halb und halb. Ich war ja doch im Grunde etwas
+erbittert auf sie. Ich sagte, glaub’ ich, Tante Emilie
+hätte alle Ursache, ihr dankbar zu sein.
+</p>
+
+<p>
+Da nahm sie mich plötzlich bei der Hand und sagte
+ganz ruhig: ‚Ich lüge ja, Peterchen, ich lüge ja. Es
+war ja nichts wie hundserbärmliche Feigheit. Aber
+Mette mußte das wissen, sie kannte mich doch. Ich
+hätt’ mich auf die Schienen gelegt, oder ich wär’ aus
+dem Fenster gesprungen, aber ich kann mir nicht von
+solchen Leuten die Kleider vom Leibe reißen lassen,
+ich kann es nicht, ich kann es nicht. Ich weiß, ich
+bin erbärmlich und verächtlich, aber ich kann es nicht,
+ich kann es nicht.‘ Und immer wieder: ‚Ich kann es
+nicht!‘ Ich fragte sie, was du geantwortet hättest.
+Da wurde sie ganz blaß und sagte: ‚Nichts hat sie
+geantwortet. Nicht ein Wort. Das ist ja das Furchtbare.
+Sie stand meiner Gemeinheit so wehrlos
+gegenüber.‘
+</p>
+
+<p>
+Sie hatte dann noch eine Auseinandersetzung mit
+der Flesch. Die Flesch hat sich nebenbei noch unglaublich
+benommen. Olga wollte keine Stunde
+länger in dem Hause bleiben. Was ich ihr auch gar
+nicht verdenken konnte. Sie ging dann hinüber, um
+ihre Sachen zu packen. Nach einer Weile kommt sie
+<a id="page-314" class="pagenum" title="314"></a>
+und packt mich am Handgelenk und zieht mich in ihr
+Zimmer.
+</p>
+
+<p>
+‚Da hast du ihre Antwort,‘ sagt sie und zeigt mir
+das ausgestreute Geld. ‚Sie kann antworten. Wir
+haben sie unterschätzt.‘ Oh, Mette, warum hast du
+das nur getan? Wenn ich ehrlich sein soll – ich war
+damals furchtbar böse auf dich! Sie sagte immer:
+‚Was tue ich nur? was tue ich nur?‘ Ich sagte: du
+packst das Geld in ein Kuvert und schickst es hin,
+ohne ein Wort dazu. Aber sie schüttelte nur den
+Kopf. ‚<em>Die</em> Ohrfeige hab’ ich verdient, Peterchen,‘
+sagte sie schließlich, ‚die muß ich ganz ruhig hinnehmen.‘
+Sie suchte die Scheine zusammen, beinahe
+liebevoll, möcht’ ich sagen, und sagte ein paarmal
+ganz leise: ‚Der Kindskopf! sie hat ja nicht gewußt,
+was sie tut! sie hat ja nicht gewußt, was sie tut!‘
+Dann gab sie mir das Bündel Scheine. ‚Heb’ mir
+das auf, Peterchen. Vielleicht kommt einmal eine
+Zeit, wo ich es nötig brauche, und vielleicht ist es mir
+dann eine Freude zu wissen, daß es von Metten
+kommt.‘
+</p>
+
+<p>
+Ich habe sie in der letzten Zeit so oft daran erinnert,
+wenn sie vor Sorgen buchstäblich nicht mehr aus noch
+ein wußte. Aber sie schüttelte nur immer den Kopf
+und sagte: ‚Noch nicht, noch nicht!‘
+</p>
+
+<p>
+Als sie ... tot war,“ die Stimme brach ihm,
+<a id="page-315" class="pagenum" title="315"></a>
+„da hab’ ich weiße Orchideen gekauft, für das ganze
+Geld und hab’ sie überschüttet damit. Das sah aus
+wie ein Märchen.“
+</p>
+
+<p>
+Er kam nicht weiter. Die Lippen zitterten ihm,
+die Tränen stürzten über sein Gesicht.
+</p>
+
+<p>
+Nach einer langen, langen Stille richtete Mette sich
+ruhig auf, mit trockenen Augen.
+</p>
+
+<p>
+Neben dem Etui auf dem Schreibtisch lag eine
+Waffe.
+</p>
+
+<p>
+„Das ist der Revolver?“ fragte Mette und griff
+danach.
+</p>
+
+<p>
+„Ja.“
+</p>
+
+<p>
+„Gib ihn mir,“ sagte sie und legte die Hand fest
+um den Griff.
+</p>
+
+<p>
+Petermann machte eine erschrockene Bewegung.
+</p>
+
+<p>
+Mette schüttelte langsam den Kopf.
+</p>
+
+<p>
+Petermann sah ihr in die Augen, dann zog er
+zögernd die ausgestreckte Hand zurück.
+</p>
+
+<p>
+„Ich will ihn nicht behalten,“ sagte er, „er liegt da
+wie eine ständige Versuchung. Und nicht jeder hat
+eine so sichere Hand wie Olga Radó. Du hast ein
+Recht darauf. Natürlich. Aber ich möchte nicht, daß
+du ihn behältst. Versprich mir etwas, Mette – gib
+ihn dem Mann, den du liebst. Dann ist er in den
+besten Händen.“
+</p>
+
+<p>
+Sie war aufgestanden. „Ich verspreche es dir,“ sagte
+<a id="page-316" class="pagenum" title="316"></a>
+sie fast feierlich, „ich will ihn dem Manne geben, den
+ich liebe.“
+</p>
+
+<p>
+„Schwöre mir, daß du keine Dummheiten machen
+wirst ... auch nicht leichtsinnig oder fahrlässig damit
+umgehen.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich schwöre es dir,“ sagte Mette. „Wobei nur?
+Ich kann dir doch nicht bei meinem Leben schwören,
+daß ich mich nicht erschieße. Ich schwöre es dir bei
+meiner ewigen Seligkeit. Und bei Olga Radós zehntausendfach
+geheiligtem Gedächtnis.“
+</p>
+
+<p>
+Irgend etwas in ihrem Ton machte ihn betroffen.
+Er stand langsam von seinem Stuhl auf, wie um
+seine forschenden Augen den ihren zu nähern.
+</p>
+
+<p>
+„Sag mir, Mette,“ sagte er zögernd, „ich möchte
+nicht, daß ich mir Vorwürfe machen müßte. Ich
+möchte nicht, daß das, was ich dir erzählt habe, dich
+in deinen Entschließungen beeinflußt.“
+</p>
+
+<p>
+Mette umschloß seine ausgestreckten Finger mit
+einem kurzen festen Druck. In der leichten Bewegung,
+mit der sie die Brust hochreckte und mit der Hand über
+die Hüfte strich, lag eine aufs äußerste gespannte Kraft.
+</p>
+
+<p>
+„Ich schwöre dir,“ sagte sie, „daß von dieser Stunde
+an nichts und niemand mehr mich in meinen Entschließungen
+beeinflussen kann.“ – – –
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="break">
+<a id="page-317" class="pagenum" title="317"></a>
+Mette ging nicht direkt nach Hause. In wenigen
+Sekunden tauchten Pläne in ihr auf, formten sich zu
+Entschließungen. Nichts schwankte hin und her, eh’
+es Gestalt annahm, alles trat mit einem Schritt aus
+der Verborgenheit ans Licht und stand unumstößlich
+fest.
+</p>
+
+</div>
+
+<p>
+Sie ging zu einer Speditionsfirma und zu dem
+Wirt des Hauses, in dem sie lange Jahre gewohnt
+hatten. Es gab eine Zeit, wo sie sich vor solchen
+Gängen gefürchtet hätte. Jetzt fühlte sie, daß nie
+im Leben jemand ihr derlei Unannehmlichkeiten abnehmen
+würde.
+</p>
+
+<p>
+Es tat fast wohl, sich solche winzigen Lasten aufzuladen
+und die eigene Kraft zu spüren, wenn man
+sie spielend trug.
+</p>
+
+<p>
+Es tat wohl, entschlossen zu sein, mit Umsicht Anordnungen
+zu treffen, mit Überlegung Unterhandlungen
+zu führen.
+</p>
+
+<p>
+Als sie in ihrem Zimmer den Hut in den Schrank
+legte, streifte ihre Hand das schwarze Kleid, das sie
+zu ihres Vaters Begräbnis getragen hatte. Einen
+Augenblick fühlte sie den Wunsch, es anzuziehen, das
+stumpfe Düster des Krepps an sich zu sehen, an sich zu
+fühlen.
+</p>
+
+<p>
+Aber sie straffte sich auf. „Unsinn!“ sagte sie halblaut,
+biß die Zähne aufeinander und schloß den Schrank.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-318" class="pagenum" title="318"></a>
+Sie ging in ihres Vaters Studierzimmer, setzte sich
+an den Schreibtisch und schrieb verschiedene Briefe, an
+den Rechtsanwalt, an die Bank.
+</p>
+
+<p>
+Nach einer Weile kam das Mädchen herein:
+</p>
+
+<p>
+„Das gnädige Fräulein läßt Fräulein Mette zu
+Tisch bitten.“
+</p>
+
+<p>
+Mette hob den Kopf nicht.
+</p>
+
+<p>
+„Sagen Sie dem gnädigen Fräulein, ich käme nicht
+zu Tisch, ich hätte schon gegessen. Aber ich lasse das
+gnädige Fräulein bitten, nach dem Essen herzukommen.“
+</p>
+
+<p>
+Das Mädchen stand eine Weile mit offenem Mund
+in der Tür. Aber als Mette sich nicht rührte, nichts
+hinzufügte, nichts widerrief, nur weiter die Feder
+eilig über das Papier rascheln ließ, trollte sie davon.
+</p>
+
+<p>
+Nach einer Weile erschien Tante Emilie, sichtlich
+unentschlossen, ob sie empört oder liebenswürdig sein
+sollte.
+</p>
+
+<p>
+Mette legte die Feder aus der Hand und gab ihrem
+Stuhl eine leichte Wendung.
+</p>
+
+<p>
+„Bitte nimm Platz,“ sagte sie in einem Ton, so geschäftlich,
+eilig, fest und undurchdringlich höflich, daß
+dieser Ton allein schon Tante Emilien in einen Abgrund
+von Verwirrung stürzte und ihr jede Redemöglichkeit
+nahm.
+</p>
+
+<p>
+„Verzeih, wenn ich dir deinen Nachmittagsschlaf
+<a id="page-319" class="pagenum" title="319"></a>
+kürze, aber ich habe mit dir zu reden, und zwar Dringliches.“
+</p>
+
+<p>
+Mette nahm das Falzbein, drehte es, bog es, schlug
+damit auf die ausgestreckten Finger und sah diesem
+Spiel angelegentlich zu, während sie sprach.
+</p>
+
+<p>
+„Du wirst dich rasch entscheiden müssen, wo du hinzugehen
+gedenkst, ich reise ...“
+</p>
+
+<p>
+„Du?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich reise. Der Haushalt wird aufgelöst. Die
+Wohnung wird vermietet. Newes entbindet mich vom
+Vertrag. Ich habe schon mit ihm gesprochen. Die
+Sachen kommen auf den Speicher. In den nächsten
+Tagen schon. Ich fange heut’ schon an. Morgen
+kommen die Packer. Du wirst der Kramerei sicher gern
+aus dem Wege gehen wollen. Ich empfehle dir, in
+ein Hotel oder in eine Pension zu gehen, bis du dich
+endgültig entschieden hast. Wenn du heut’ nachmittag
+die Mädchen brauchst zum Packen deiner Sachen, sie
+stehen zu deiner Verfügung. Ja, und – ich möchte
+nicht, daß dir durch meine Entschließungen ein pekuniärer
+Nachteil entsteht. Am liebsten wäre es mir,
+wenn du deine Wünsche schriftlich formulierst und an
+Rosenbaum gibst. Ich habe ihm schon diesbezüglich
+geschrieben.“
+</p>
+
+<p>
+Mette legte das Falzbein hin.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, das wäre wohl alles!“ Sie stand auf und
+<a id="page-320" class="pagenum" title="320"></a>
+stützte beide Hände hinter sich auf den Schreibtischrand.
+</p>
+
+<p>
+„Also, wenn wir uns nicht mehr sehen sollten, Gott
+befohlen, und laß es dir recht gut gehen.“
+</p>
+
+<p>
+Tante Emilie stand auf mit zitternden Knien, und
+ihr Gesicht spielte in allen Farbentönen vom Zitronengelben
+ins Aschgraue.
+</p>
+
+<p>
+„Und ... und Alfred?“ fragte sie, mit vergeblichem
+Bemühen, eine süße rührende Weichheit in ihren
+scharfen Ton zu legen.
+</p>
+
+<p>
+„Wie? Wer?“ Mette kniff die Augen zusammen,
+als müsse sie sich besinnen. „Ja so, nein, danke. Da
+brauchst du keinerlei Mitteilung zu machen. Ich werde
+alles Erforderliche selbst besorgen.“
+</p>
+
+<p>
+„Mette!“ sagte Tante Emilie feierlich. „Wenn das
+dein seliger Vater wüßte! Ich habe dich von deinem
+ersten Tag an behütet und gepflegt, und zum Dank
+wird man so vor die Tür gesetzt ...“
+</p>
+
+<p>
+Mette griff wieder nach dem Falzbein.
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe schon an Rosenbaum geschrieben, daß von
+meinem Vermögen fünfzigtausend Mark an dich übergehen.
+Mit dem, was du hast und mit dem, was dir
+von Vater kommt, kannst du dann ganz deiner Bequemlichkeit
+leben. Ich will morgen vormittag hingehen
+und ihm die nötigen Vollmachten geben.“
+</p>
+
+<p>
+„Mette,“ sagte Tante Emilie mit gesteigertem
+<a id="page-321" class="pagenum" title="321"></a>
+Pathos. „Ich habe dich vor einem entsetzlichen Schicksal
+behütet. Das solltest du mir auf Knien danken!“
+</p>
+
+<p>
+„Gewiß, gewiß,“ sagte Mette und verzerrte ein
+wenig den Mund. „Ich werde Rosenbaum schreiben:
+Hunderttausend.“
+</p>
+
+<p>
+Da wandte sich Tante Emilie und rauschte hinaus.
+</p>
+
+<p>
+Mette packte die Sachen in fieberhafter Eile, wie
+auf der Flucht. Sie arbeitete Tag und Nacht und ließ
+sich von niemandem helfen, auch von Peterchen nicht
+und von mir nicht.
+</p>
+
+<p>
+Aber am Abend, als sie reiste, holten wir beide sie
+aus der Wohnung ab und brachten sie an die Bahn.
+</p>
+
+<p>
+Die Wohnung war leer und dunkel. Alle Möbel
+fort. Die Kronen abgenommen, die Fenster ohne Gardinen.
+Hie und da starrte ein Spiegelhaken trostlos
+aus der nackten Wand oder ein Fleck der Tapete zeigte
+die Form eines Bildes, das lange Jahre da gehangen
+hatte. Ein großer Koffer, ein wenig Handgepäck
+standen mitten in dem leeren Raum. Mette hatte eine
+brennende Kerze auf dem Fensterbrett festgeklebt. Das
+gab ein seltsames flackerndes Halblicht. Unsere
+Schatten glitten groß und verbogen an Wand und
+Decke entlang.
+</p>
+
+<p>
+Peterchen sah immerfort nach der Uhr.
+</p>
+
+<p>
+„Ist es nicht Zeit, daß ich nach einem Wagen gehe?“
+fragte er unruhig.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-322" class="pagenum" title="322"></a>
+Mette hob die Hand. „Laß doch! Wir haben noch
+endlos Zeit. Was sollen wir auf dem Bahnsteig?
+Und was schadet es, wenn ich den Zug versäume? Ich
+lauf’ ja niemandem nach. Und mir läuft niemand
+nach. Dann fahr’ ich eben morgen früh.“
+</p>
+
+<p>
+„Ach ja,“ sagte Peterchen erleichtert, „das wäre mir
+überhaupt viel lieber. Ich verstehe gar nicht, wie man
+so in die Nacht hineinfahren kann.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich fahre ja in den Morgen hinein,“ sagte Mette
+mit leisem Lächeln. „In ein paar Stunden kommt die
+Dämmerung. Außerdem lieb’ ich die Nacht. Wer die
+Sterne liebt, muß auch die Nacht lieben. Sag, Peterchen,
+hast du eigentlich schon einmal daran gedacht, daß
+sie am Tage auch da sind? Genau so fern und so nah
+wie des Nachts. Manchmal such’ ich sie am sonnenhellen
+Himmel – ich fühle ganz genau – da steht der, und
+da steht der, und dann kann ich in der Dämmerung
+ganz ungeduldig werden, bis sie endlich sichtbar sind.“
+</p>
+
+<p>
+„Das hast du auch von ihr,“ sagte Peterchen wehmütig,
+„diese verrückte Sternenliebe.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ sagte Mette, und ihre tiefe Stimme klang wie
+eine Glocke, „was hab’ ich <em>nicht</em> von ihr? Alles. Und
+alle Liebe ganz gewiß. Himmel und Erde sind voll
+von Dingen, an denen ihre Liebe hängt. Und von all
+diesen Dingen strömt ihre Liebe wieder auf mich zurück.
+Herrgott, was liebte sie alles! Berge und Meer
+<a id="page-323" class="pagenum" title="323"></a>
+und Blumen und Spinnen und kleine Kinder und
+Leder und Seide und Kristall und die Günderode und
+den heiligen Franziskus von Assisi – und – mich.
+Wahrhaftig, sie hat mich die Liebe gelehrt. O Gott!
+Wenn Tante Emilie das hörte, würde sie es sicherlich
+falsch auffassen.
+</p>
+
+<p>
+Einmal hat sie zu mir gesagt, Olga, ich glaube, es
+war auf der Reise, und wir sprachen wohl von unserer
+Zukunft, und ich sagte, daß ich mich nicht von ihr
+trennen lassen wollte, bis zu meiner Mündigkeit. Da
+wurde sie ganz ungeduldig und sagte:
+</p>
+
+<p>
+‚Herrgott, was ist das für ein jämmerlicher Standpunkt,
+immer nur das lieben zu können, was man an
+der Hand hält!‘
+</p>
+
+<p>
+Hat sie nicht recht? Warum soll man nicht die Toten
+lieben und die Kommenden und die ganz Fernen,
+deren Sein wir nur ahnen oder deren Schaffen uns
+einen Hauch von ihrer Seele gibt? Und warum nur
+einen, warum nicht Tausende – die, nach denen wir
+uns sehnen und die, die sich nach uns sehnen – die,
+die in unerfüllter Sehnsucht nach uns gestorben sind,
+und die, die mit unerfüllter Sehnsucht nach uns leben
+werden, wenn wir lange tot sind. Mir ist manchmal,
+als sollt ich meine beiden Hände in die Weite strecken
+und rufen: ich liebe euch, ich liebe euch, ich liebe euch!“
+</p>
+
+<p>
+„Es ist merkwürdig,“ sagte Peterchen scheu und sah
+<a id="page-324" class="pagenum" title="324"></a>
+kopfschüttelnd zu Metten empor, die unheimlich groß
+und schlank aufgereckt in dem gespenstischen Licht stand,
+„es ist merkwürdig, wie ähnlich du ihr manchmal bist.“
+</p>
+
+<p>
+„Es ist viel merkwürdiger,“ sagte Mette lächelnd,
+„wie unähnlich ich ihr <em>war</em>. Fern, fremd, unverwandt.
+So entsetzlich unähnlich, daß ich sie eigentlich
+nie verstanden habe. Ich glaube, ich hätte sie mit
+Eifersucht und Mißtrauen zu Tode gequält.“
+</p>
+
+<p>
+„Und jetzt?“ fragte Peterchen. „Würdest du nicht
+eifersüchtig und mißtrauisch sein? Wer weiß, wenn
+ihr zusammen geblieben wäret, vielleicht hättest du in
+ein paar Monaten Ursache dazu gehabt.“
+</p>
+
+<p>
+Mette schüttelte langsam den Kopf. „Das soll ein
+Trost für mich sein, Peterchen. Aber es ist keiner. Ich
+hatte so unbändige Freude an ihr. Und wenn tausendmal
+nur die Form zerstört ist. Auch um die Form ist
+es ein Jammer. <em>Die</em> Freude hätt’ ich immer an ihr
+haben können. Und so wie ich sie jetzt sehe – ich hätte
+eben einsehen müssen, daß ich nicht aus Geiz Himmel
+und Erde ihrer Liebe hätte berauben dürfen. Aber belogen
+hätte Olga Radó mich nie. Nie, nie, nie!“
+</p>
+
+<p>
+„Der Zug, Mette!“ mahnte Peterchen.
+</p>
+
+<p>
+Mette warf einen Blick auf ihr Handgelenk.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, wir müssen gehen.“
+</p>
+
+<p>
+Peterchen ging, einen Wagen zu holen. Der Kutscher
+trug das Gepäck hinunter.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-325" class="pagenum" title="325"></a>
+Ich wollte die Kerze löschen, als wir gingen.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, laß!“ sagte Mette. Sie lief ein paarmal
+hin und her und brachte Wasser in den hohlen Händen,
+das sie um die Kerze träufelte, bis sich ein kleiner
+See bildete.
+</p>
+
+<p>
+„Nun kann es kein Feuer geben,“ sagte sie. „Seltsam,
+wenn ich schon im Zug sitze, brennt vielleicht hier
+in der leeren Wohnung noch das Licht. Ich muß
+immer an die arme Johanna denken, schon den ganzen
+Abend, als das Licht so im Fenster brannte.“
+</p>
+
+<p>
+„Wer ist das?“ fragte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Die arme Johanna? Das war eine Frau, die Olga
+liebte. Sie ist an der Schwindsucht gestorben. Und
+Olga konnte nicht um sie sein, als sie im Sterben
+lag. Aber die Schwester, die sie pflegte, stellte nachts
+immer eine brennende Kerze ans Fenster. Das hatte
+die arme Johanna alles selber so verabredet und
+bestimmt. Solange sie lebte, solange sollte die Kerze
+brennen. Und da ist Olga manchmal drei-, viermal
+in der Nacht, wenn sie es vor Unruhe nicht mehr aushalten
+konnte, nach dem Haus gelaufen und hat auf
+der Straße gestanden, um nur die Kerze brennen zu
+sehen.“ – „Schau,“ Mette wandte sich um, während
+wir in den Wagen stiegen, „da oben brennt meine
+Kerze und leuchtet mir nach!“
+</p>
+
+<p>
+Sie winkte mit den Handschuhen einen Gruß zurück.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-326" class="pagenum" title="326"></a>
+„Und da, schau,“ sie richtete sich auf, mit einem seltsamen
+Entzücken im Gesicht und wies nach dem
+Sternenhimmel, „da ist der Antares! Das Herz des
+Skorpions. Dem zieh’ ich jetzt nach, immer weiter
+nach Süden. Wir können zusammen bleiben, oder ich
+kann auf ihn warten, bis er wieder kommt, mit der
+unbedingtesten Zuverlässigkeit, wie der treueste Freund.“
+</p>
+
+<p>
+„Trotzdem,“ sagte Peterchen, „ich habe das Gefühl,
+daß es doch ein bißchen wenig Schutz und Freundschaft
+für dich ist. Wenn ich denke, daß du in der nächsten
+Nacht in einer fremden Stadt, in einem fremden Hotelbett
+schlafen sollst ...“
+</p>
+
+<p>
+„Schön!“ sagte Mette. „Das ist ja das, was mir
+Ruhe geben kann. Ein Raum, den ich noch nie gesehen
+habe. Trotzdem ist dieser Raum jetzt schon da.
+Ein anderer Mensch bewohnt ihn und erfüllt ihn ganz
+mit seinen Leiden und Freuden und Sorgen und Gedanken.
+Muß man sich denn immer nur mit einem
+peinlichen Gefühl des Ekels in ein fremdes Bett legen?
+In einem frisch bezogenen Hotelbett sind keine fremden
+Mikroben und Bakterien – aber auf den Tapeten
+liegen noch Schatten und Lichter fremder Schicksale.
+Und die tönen das eigene zum Schweigen.
+</p>
+
+<p>
+Man soll nicht in den Wänden bleiben, wo einen
+der eigene Schmerz immer von den Tapeten anschreit.
+</p>
+
+<p>
+Das fremde Bett wird mir morgen erzählen, was
+<a id="page-327" class="pagenum" title="327"></a>
+es alles erlebt hat. Weißt du, auch das ist Feengabe.
+Ich bin nicht mehr bange, weil die Dinge anfangen,
+mit mir zu reden. Das sind immer die Glückskinder
+in den Märchen oder die Weisen in den Sagen –
+König Salomo, vogelsprachekund – denen die Dinge
+und die Tiere und die Bäume ihre Geheimnisse erzählen.
+Du glaubst nicht, was das bedeutet. Die
+ganze Welt war so entsetzlich stumm. Und nun höre
+ich überall so liebe, vertraute, unhörbare Stimmen.
+Ihr ahnt gar nicht, mit was für einem Entzücken und
+einem Stolz das einen erfüllt. Siehst du, Peterchen
+– das ist <em>auch</em> etwas, was ich von Olga habe.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ sagte Peterchen nachdenklich, „ich fühle deine
+Kraft – fast mit Neid. Sie hat dir unendlich viel
+gegeben. Ich kann nicht los von dem Gedanken ...
+vielleicht hatte sie doch recht: ‚<span class="antiqua">Qui vivens laedit,
+morte medetur</span>‘ – was lebend verwundet, heilet
+im Tod.“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nein, sag das nicht!“ sagte Mette mit einer
+fast flehenden Bewegung. „Ich will es nicht hören,
+weil es nicht wahr ist. Aber ich habe die heilige
+Überzeugung – und <em>das</em> dank ich ihr tausendfach
+mehr als alles andere – daß der Satz <em>umgekehrt</em>
+wahr ist – hilf mir, Peterchen, mit meinem Latein
+ist es schwach bestellt: <span class="antiqua">Qui vivens laeditur, morte</span> ...
+nein, es geht nicht ... <span class="antiqua">medetur</span> ... das sind die
+<a id="page-328" class="pagenum" title="328"></a>
+verflixten Deponentia, davon kann ich keine Passivform
+bilden. Aber du weißt ja, was ich meine: Was
+lebend verwundet wird, wird im Tode geheilt ...
+das heilt der Tod ... <span class="antiqua">mors medetur</span>, nicht wahr,
+das kann man sagen?
+</p>
+
+<p>
+Und siehst du, das ist das größte: die Stunde Lust,
+die ich auf diesem Maskenball des Lebens vielleicht
+noch finden kann, die dank ich ihr – aber wenn mir
+das Treiben zuwider wird, dann dank ich ihr den
+Schlüssel zur Ausgangstür.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ sagte Peterchen ein wenig bitter, „einen sechsläufigen
+Revolver!“
+</p>
+
+<p>
+„Oh,“ sagte Mette, „mehr als das: damit allein
+ist es nicht getan. Weißt du nicht, was die kleine
+Seejungfer sich wünschte, um was sie sich die Zunge
+herausschneiden ließ, um was sie bei jedem Schritt
+tausendfältige Schmerzen litt, was nur eine große,
+große Liebe ihr geben konnte? Mir hat es Olga gegeben.
+Mir hat Olga alles gegeben, was man
+braucht, um allen Möglichkeiten der verhüllten Zukunft
+mit unzerstörbarer Ruhe entgegenzugehen: einen
+sechsläufigen Revolver ... <em>und</em> eine unsterbliche
+Seele!“
+</p>
+
+<div class="ads chapter">
+<p class="header">
+Askanischer Verlag Berlin SW
+</p>
+
+<p class="aut">
+<span class="line1">In unserem Verlage erschien von</span><br>
+<span class="line2">Anna Elisabet Weirauch</span>
+</p>
+
+<p class="book">
+<span class="line1">Der Tag der Artemis</span><br>
+<span class="line2">Drei Novellen</span>
+</p>
+
+<p class="noindent">
+„Der Tag der Artemis“ – das ist der Tag, der Knaben zu Männern
+macht, der Tag, an dem im jungen Menschenkinde unerkannt, gebieterisch,
+erschreckend oder beglückend zum erstenmal das Geschlecht sich regt.
+</p>
+
+<p>
+Die erste der Novellen ist eine Institutsgeschichte. Schwärmerische
+Neigung, ehrliche Kameradschaft, Eifersucht, Haß, gekränkter Ehrgeiz
+– alle Leidenschaften toben und gären in diesen unreifen Knabenseelen,
+bis sie in einer Katastrophe explodieren.
+</p>
+
+<p>
+„Gere“ ist die Geschichte eines Schülerselbstmordes. Der Gequälte,
+der in dem unverstandenen natürlichen Trieb nur Schmutz und Laster
+sieht, verliert seinen letzten Halt, den Glauben an die Heiligkeit der
+Mutter, und greift zum Revolver.
+</p>
+
+<p>
+„Der Statist“ variiert das Thema des erwachenden Liebesgefühls
+in heiterer Form. Einen armseligen Drogistenlehrling bringt ein
+Zufall als Statisten ans Theater. Die schwärmerische Leidenschaft
+für die Heldin des Hoftheaterchens macht einen Menschen aus ihm
+und führt ihn auf einen Weg, den er weitergehen wird, auch wenn
+die Leidenschaft längst verlodert ist.
+</p>
+
+<p>
+Erzählungen aus jenen Lebensjahren, wo die Erotik noch schlummert,
+wo sie aber im geheimen heftiger wühlt als wir ahnen und ahnen wollen.
+</p>
+
+<p class="price">
+<span class="line1">Schön gebunden M. 10,–</span><br>
+<span class="line2">Zu beziehen durch alle Buchhandlungen</span>
+</p>
+
+<p class="book">
+<span class="line1">Sogno</span><br>
+<span class="line2">Das Buch der Träume</span><br>
+<span class="line3">Ein Roman</span>
+</p>
+
+<p class="noindent">
+„Sogno“ ist der Roman eines überfeinerten Phantasten, der alle
+seine müßigen Gedanken um ein stolzes und rätselvolles Weib spielen
+läßt – so lange, bis die heiße blutvolle Wirklichkeit dieser Natur
+in sein Dasein einbricht und er erkennt, daß er nicht die Kraft und
+Gesundheit der Seele und der Sinne hat, Erträumtes in lebendige
+Realität umzusetzen.
+</p>
+
+<p>
+Die hohe Kunst der durch ihre Romane „Die kleine Dagmar“ und
+„Der Skorpion“ rasch berühmt gewordenen Verfasserin offenbart
+sich in diesem Buche in intimster Stimmungsmalerei und seltener
+Schönheit der Sprache.
+</p>
+
+<p class="price">
+<span class="line1">Schön gebunden M. 10,–</span><br>
+<span class="line2">Zu beziehen durch alle Buchhandlungen</span>
+</p>
+
+<p class="footer">
+Askanischer Verlag Berlin SW
+</p>
+
+</div>
+
+<div class="trnote chapter">
+<p class="transnote">
+Anmerkungen zur Transkription
+</p>
+
+<p>
+Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.
+Weitere Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):
+</p>
+
+
+
+<ul>
+
+<li>
+... Der <span class="underline">Hand</span> drehte den Kopf und leckte mit der Zunge ...<br>
+... Der <a href="#corr-0"><span class="underline">Hund</span></a> drehte den Kopf und leckte mit der Zunge ...<br>
+</li>
+
+<li>
+... Herr mehr in meiner eigenen Wohnung<span class="underline">.</span> Nimm ...<br>
+... Herr mehr in meiner eigenen Wohnung<a href="#corr-2"><span class="underline">?</span></a> Nimm ...<br>
+</li>
+
+<li>
+... kam nicht wieder, war <span class="underline">unwiderbringlich</span> verloren. ...<br>
+... kam nicht wieder, war <a href="#corr-3"><span class="underline">unwiederbringlich</span></a> verloren. ...<br>
+</li>
+</ul>
+</div>
+
+
+<div style='text-align:center'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75397 ***</div>
+</body>
+</html>
+
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+This eBook, including all associated images, markup, improvements,
+metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be
+in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES.
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+Procedures for determining public domain status are described in
+the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org.
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+No investigation has been made concerning possible copyrights in
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+status under the laws that apply to them.
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+Project Gutenberg (https://www.gutenberg.org) public repository for
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