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+The Project Gutenberg eBook of Heidis Lehr- und Wanderjahre, by Johanna Spyri
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
+most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
+whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms
+of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
+www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you
+will have to check the laws of the country where you are located before
+using this eBook.
+
+Title: Heidis Lehr- und Wanderjahre
+
+Author: Johanna Spyri
+
+Release Date: May 11, 2003 [eBook #7500]
+[Most recently updated: February 3, 2023]
+
+Language: German
+
+Produced by: Mike Pullen and Juliet Sunderland. HTML version
+by Al Haines.
+
+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK HEIDIS LEHR- UND WANDERJAHRE ***
+
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+
+This book content was graciously contributed by the Gutenberg Projekt-DE.
+That project is reachable at the web site http://gutenberg2000.de.
+
+Dieses Buch wurde uns freundlicherweise vom "Gutenberg Projekt-DE"
+zur Verfügung gestellt. Das Projekt ist unter der Internet-Adresse
+http://gutenberg2000.de erreichbar.
+
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+
+Heidis Lehr- und Wanderjahre
+
+Johanna Spyri
+
+
+ Inhalt
+
+ 1 Zum Alm-Öhi hinauf
+ 2 Beim Großvater
+ 3 Auf der Weide
+ 4 Bei der Großmutter
+ 5 Es kommt ein Besuch und dann noch einer, der mehr Folgen hat
+ 6 Ein neues Kapitel und lauter neue Dinge
+ 7 Fräulein Rottenmeier hat einen unruhigen Tag
+ 8 Im Hause Sesemann geht's unruhig zu
+ 9 Der Hausherr hört allerlei in seinem Hause, das er noch nicht gehört hat
+ 10 Eine Großmama
+ 11 Heidi nimmt auf einer Seite zu und auf der anderen ab
+ 12 Im Hause Sesemann spukt's
+ 13 Am Sommerabend die Alm hinan
+ 14 Am Sonntag, wenn's läutet
+
+
+
+
+Zum Alm-Öhi hinauf
+
+Vom freundlichen Dorfe Maienfeld führt ein Fußweg durch grüne,
+baumreiche Fluren bis zum Fuße der Höhen, die von dieser Seite groß
+und ernst auf das Tal herniederschauen. Wo der Fußweg anfängt,
+beginnt bald Heideland mit dem kurzen Gras und den kräftigen
+Bergkräutern dem Kommenden entgegenzuduften, denn der Fußweg geht
+steil und direkt zu den Alpen hinauf.
+
+Auf diesem schmalen Bergpfade stieg am hellen, sonnigen Junimorgen
+ein großes, kräftig aussehendes Mädchen dieses Berglandes hinan,
+ein Kind an der Hand führend, dessen Wangen so glühend waren, dass
+sie selbst die sonnverbrannte, völlig braune Haut des Kindes
+flammend rot durchleuchteten. Es war auch kein Wunder: Das Kind
+war trotz der heißen Junisonne so verpackt, als hätte es sich eines
+bitteren Frostes zu erwehren. Das kleine Mädchen mochte kaum fünf
+Jahre zählen; was aber seine natürliche Gestalt war, konnte man
+nicht ersehen, denn es hatte sichtlich zwei, wenn nicht drei
+Kleider übereinander angezogen und drüberhin ein großes, rotes
+Baumwolltuch um und um gebunden, so dass die kleine Person eine
+völlig formlose Figur darstellte, die, in zwei schwere, mit Nägeln
+beschlagene Bergschuhe gesteckt, sich heiß und mühsam den Berg
+hinaufarbeitete. Eine Stunde vom Tal aufwärts mochten die beiden
+gestiegen sein, als sie zu dem Weiler kamen, der auf halber Höhe
+der Alm liegt und 'im Dörfli' heißt. Hier wurden die
+Wandernden fast von jedem Hause aus angerufen, einmal vom Fenster,
+einmal von einer Haustür und einmal vom Wege her, denn das Mädchen
+war in seinem Heimatort angelangt. Es machte aber nirgends Halt,
+sondern erwiderte alle zugerufenen Grüße und Fragen im Vorbeigehen,
+ohne still zu stehen, bis es am Ende des Weilers bei dem letzten
+der zerstreuten Häuschen angelangt war. Hier rief es aus einer Tür:
+"Wart einen Augenblick, Dete, ich komme mit, wenn du weiter
+hinaufgehst."
+
+Die Angeredete stand still; sofort machte sich das Kind von ihrer
+Hand los und setzte sich auf den Boden.
+
+"Bist du müde, Heidi?", fragte die Begleiterin.
+
+"Nein, es ist mir heiß", entgegnete das Kind.
+
+"Wir sind jetzt gleich oben, du musst dich nur noch ein wenig
+anstrengen und große Schritte nehmen, dann sind wir in einer Stunde
+oben", ermunterte die Gefährtin.
+
+Jetzt trat eine breite gutmütig aussehende Frau aus der Tür und
+gesellte sich zu den beiden. Das Kind war aufgestanden und
+wanderte nun hinter den zwei alten Bekannten her, die sofort in ein
+lebhaftes Gespräch gerieten über allerlei Bewohner des 'Dörfli' und
+vieler umherliegender Behausungen.
+
+"Aber wohin willst du eigentlich mit dem Kinde, Dete?", fragte
+jetzt die neu Hinzugekommene. "Es wird wohl deiner Schwester Kind
+sein, das hinterlassene."
+
+"Das ist es", erwiderte Dete, "ich will mit ihm hinauf zum Öhi, es
+muss dort bleiben."
+
+"Was, beim Alm-Öhi soll das Kind bleiben? Du bist, denk ich, nicht
+recht bei Verstand, Dete! Wie kannst du so etwas tun! Der Alte
+wird dich aber schon heimschicken mit deinem Vorhaben!"
+
+"Das kann er nicht, er ist der Großvater, er muss etwas tun, ich
+habe das Kind bis jetzt gehabt, und das kann ich dir schon sagen,
+Barbel, dass ich einen Platz, wie ich ihn jetzt haben kann, nicht
+dahinten lasse um des Kindes willen; jetzt soll der Großvater das
+Seinige tun."
+
+"Ja, wenn der wäre wie andere Leute, dann schon", bestätigte die
+kleine Barbel eifrig; "aber du kennst ja den. Was wird der mit
+einem Kinde anfangen und dann noch einem so kleinen! Das hält's
+nicht aus bei ihm! Aber wo willst du denn hin?"
+
+"Nach Frankfurt", erklärte Dete, "da bekomm ich einen extraguten
+Dienst. Die Herrschaft war schon im vorigen Sommer unten im Bad,
+ich habe ihre Zimmer auf meinem Gang gehabt und sie besorgt, und
+schon damals wollten sie mich mitnehmen, aber ich konnte nicht
+fortkommen, und jetzt sind sie wieder da und wollen mich mitnehmen,
+und ich will auch gehen, da kannst du sicher sein."
+
+"Ich möchte nicht das Kind sein!", rief die Barbel mit abwehrender
+Gebärde aus. "Es weiß ja kein Mensch, was mit dem Alten da oben
+ist! Mit keinem Menschen will er etwas zu tun haben, jahraus,
+jahrein setzt er keinen Fuß in eine Kirche, und wenn er mit seinem
+dicken Stock im Jahr einmal herunterkommt, so weicht ihm alles aus
+und muss sich vor ihm fürchten. Mit seinen dicken grauen
+Augenbrauen und dem furchtbaren Bart sieht er auch aus wie ein
+alter Heide und Indianer, dass man froh ist, wenn man ihm nicht
+allein begegnet."
+
+"Und wenn auch", sagte Dete trotzig, "er ist der Großvater und muss
+für das Kind sorgen, er wird ihm wohl nichts tun, sonst hat er's zu
+verantworten, nicht ich."
+
+"Ich möchte nur wissen", sagte die Barbel forschend, "was der Alte
+auf dem Gewissen hat, dass er solche Augen macht und so
+mutterseelenallein da droben auf der Alm bleibt und sich fast nie
+blicken lässt. Man sagt allerhand von ihm; du weißt doch gewiss
+auch etwas davon, von deiner Schwester, nicht, Dete?"
+
+"Freilich, aber ich rede nicht; wenn er's hörte, so käme ich schön
+an!"
+
+Aber die Barbel hätte schon lange gern gewusst, wie es sich mit dem
+Alm-Öhi verhalte, dass er so menschenfeindlich aussehe und da oben
+ganz allein wohne und die Leute immer so mit halben Worten von ihm
+redeten, als fürchteten sie sich, gegen ihn zu sein, und wollten
+doch nicht für ihn sein. Auch wusste die Barbel gar nicht, warum
+der Alte von allen Leuten im Dörfli der Alm-Öhi genannt wurde, er
+konnte doch nicht der wirkliche Oheim von den sämtlichen Bewohnern
+sein; da aber alle ihn so nannten, tat sie es auch und nannte den
+Alten nie anders als Öhi, was die Aussprache der Gegend für Oheim
+ist. Die Barbel hatte sich erst vor kurzer Zeit nach dem Dörfli
+hinauf verheiratet, vorher hatte sie unten im Prättigau gewohnt,
+und so war sie noch nicht so ganz bekannt mit allen Erlebnissen und
+besonderen Persönlichkeiten aller Zeiten vom Dörfli und der
+Umgegend. Die Dete, ihre gute Bekannte, war dagegen vom Dörfli
+gebürtig und hatte da gelebt mit ihrer Mutter bis vor einem Jahr;
+da war diese gestorben, und die Dete war nach dem Bade Ragaz
+hinübergezogen, wo sie im großen Hotel als Zimmermädchen einen
+guten Verdienst fand. Sie war auch an diesem Morgen mit dem Kinde
+von Ragaz hergekommen; bis Maienfeld hatte sie auf einem Heuwagen
+fahren können, auf dem ein Bekannter von ihr heimfuhr und sie und
+das Kind mitnahm. --Die Barbel wollte also diesmal die gute
+Gelegenheit, etwas zu vernehmen, nicht unbenutzt vorbeigehen lassen;
+sie fasste vertraulich die Dete am Arm und sagte: "Von dir kann
+man doch vernehmen, was wahr ist und was die Leute darüber hinaus
+sagen; du weißt, denk ich, die ganze Geschichte. Sag mir jetzt ein
+wenig, was mit dem Alten ist und ob der immer so gefürchtet und ein
+solcher Menschenhasser war."
+
+"Ob er immer so war, kann ich, denk ich, nicht präzis wissen, ich
+bin jetzt sechsundzwanzig und er sicher siebzig Jahr alt; so hab
+ich ihn nicht gesehen, wie er jung war, das wirst du nicht erwarten.
+Wenn ich aber wüsste, dass es nachher nicht im ganzen Prättigau
+herumkäme, so könnte ich dir schon allerhand erzählen von ihm;
+meine Mutter war aus dem Domleschg und er auch."
+
+"A bah, Dete, was meinst denn?", gab die Barbel ein wenig beleidigt
+zurück; "es geht nicht so streng mit dem Schwatzen im Prättigau,
+und dann kann ich schon etwas für mich behalten, wenn es sein muss.
+Erzähl mir's jetzt, es muss dich nicht gereuen."
+
+"Ja nu, so will ich, aber halt Wort!", mahnte die Dete. Erst sah
+sie sich aber um, ob das Kind nicht zu nah sei und alles anhöre,
+was sie sagen wollte; aber das Kind war gar nicht zu sehen, es
+musste schon seit einiger Zeit den beiden Begleiterinnen nicht mehr
+gefolgt sein, diese hatten es aber im Eifer der Unterhaltung nicht
+bemerkt. Dete stand still und schaute sich überall um. Der Fußweg
+machte einige Krümmungen, doch konnte man ihn fast bis zum Dörfli
+hinunter übersehen, es war aber niemand darauf sichtbar.
+
+"Jetzt seh ich's", erklärte die Barbel; "siehst du dort?", und sie
+wies mit dem Zeigefinger weitab vom Bergpfad. "Es klettert die
+Abhänge hinauf mit dem Geißenpeter und seinen Geißen. Warum der
+heut so spät hinauffährt mit seinen Tieren? Es ist aber gerad
+recht, er kann nun zu dem Kinde sehen, und du kannst mir umso
+besser erzählen."
+
+"Mit dem Nach-ihm-Sehen muss sich der Peter nicht anstrengen",
+bemerkte die Dete; "es ist nicht dumm für seine fünf Jahre, es tut
+seine Augen auf und sieht, was vorgeht, das hab ich schon bemerkt
+an ihm, und es wird ihm einmal zugut kommen, denn der Alte hat gar
+nichts mehr als seine zwei Geißen und die Almhütte."
+
+"Hat er denn einmal mehr gehabt?", fragte die Barbel.
+
+"Der? Ja, das denk ich, dass er einmal mehr gehabt hat",
+entgegnete eifrig die Dete; "eins der schönsten Bauerngüter im
+Domleschg hat er gehabt. Er war der ältere Sohn und hatte nur noch
+einen Bruder, der war still und ordentlich. Aber der Ältere wollte
+nichts tun, als den Herrn spielen und im Lande herumfahren und mit
+bösem Volk zu tun haben, das niemand kannte. Den ganzen Hof hat er
+verspielt und verzecht, und wie es herauskam, da sind sein Vater
+und seine Mutter hintereinander gestorben vor lauter Gram, und der
+Bruder, der nun auch am Bettelstab war, ist vor Verdruss in die
+Welt hinaus, es weiß kein Mensch wohin, und der Öhi selber, als er
+nichts mehr hatte als einen bösen Namen, ist auch verschwunden.
+Erst wusste niemand wohin, dann vernahm man, er sei unter das
+Militär gegangen nach Neapel, und dann hörte man nichts mehr von
+ihm zwölf oder fünfzehn Jahre lang. Dann auf einmal erschien er
+wieder im Domleschg mit einem halb erwachsenen Buben und wollte
+diesen in der Verwandtschaft unterzubringen suchen. Aber es
+schlossen sich alle Türen vor ihm, und keiner wollte mehr etwas von
+ihm wissen. Das erbitterte ihn sehr; er sagte, ins Domleschg setze
+er keinen Fuß mehr, und dann kam er hierher ins Dörfli und lebte da
+mit dem Buben. Die Frau muss eine Bündnerin gewesen sein, die er
+dort unten getroffen und dann bald wieder verloren hatte. Er
+musste noch etwas Geld haben, denn er ließ den Buben, den Tobias,
+ein Handwerk erlernen, Zimmermann, und der war ein ordentlicher
+Mensch und wohlgelitten bei allen Leuten im Dörfli. Aber dem Alten
+traute keiner, man sagte auch, er sei von Neapel desertiert, es
+wäre ihm sonst schlimm gegangen, denn er habe einen erschlagen,
+natürlich nicht im Krieg, verstehst du, sondern beim Raufhandel.
+Wir anerkannten aber die Verwandtschaft, da meiner Mutter
+Großmutter mit seiner Großmutter Geschwisterkind gewesen war. So
+nannten wir ihn Öhi, und da wir fast mit allen Leuten im Dörfli
+wieder verwandt sind vom Vater her, so nannten ihn diese alle auch
+Öhi, und seit er dann auf die Alm hinaufgezogen war, hieß er eben
+nur noch der 'Alm-Öhi'."
+
+"Aber wie ist es dann mit dem Tobias gegangen?", fragte gespannt
+die Barbel.
+
+"Wart nur, das kommt schon, ich kann nicht alles auf einmal sagen",
+erklärte Dete. "Also der Tobias war in der Lehre draußen in Mels,
+und sowie er fertig war, kam er heim ins Dörfli und nahm meine
+Schwester zur Frau, die Adelheid, denn sie hatten sich schon immer
+gern gehabt, und auch wie sie nun verheiratet waren, konnten sie's
+sehr gut zusammen. Aber es ging nicht lange. Schon zwei Jahre
+nachher, wie er an einem Hausbau mithalf, fiel ein Balken auf ihn
+herunter und schlug ihn tot. Und wie man den Mann so entstellt
+nach Hause brachte, da fiel die Adelheid vor Schrecken und Leid in
+ein heftiges Fieber und konnte sich nicht mehr erholen, sie war
+sonst nicht sehr kräftig und hatte manchmal so eigene Zustände
+gehabt, dass man nicht recht wusste, schlief sie oder war sie wach.
+Nur ein paar Wochen, nachdem der Tobias tot war, begrub man auch
+die Adelheid. Da sprachen alle Leute weit und breit von dem
+traurigen Schicksal der beiden, und leise und laut sagten sie, das
+sei die Strafe, die der Öhi verdient habe für sein gottloses Leben,
+und ihm selbst wurde es gesagt und auch der Herr Pfarrer redete ihm
+ins Gewissen, er sollte doch jetzt Buße tun, aber er wurde nur
+immer grimmiger und verstockter und redete mit niemandem mehr, es
+ging ihm auch jeder aus dem Wege. Auf einmal hieß es, der Öhi sei
+auf die Alm hinaufgezogen und komme gar nicht mehr herunter, und
+seither ist er dort und lebt mit Gott und Menschen im Unfrieden.
+Das kleine Kind der Adelheid nahmen wir zu uns, die Mutter und ich;
+es war ein Jahr alt. Wie nun im letzten Sommer die Mutter starb
+und ich im Bad drunten etwas verdienen wollte, nahm ich es mit und
+gab es der alten Ursel oben im Pfäfferserdorf in die Kost. Ich
+konnte auch im Winter im Bad bleiben, es gab allerhand Arbeit, weil
+ich zu nähen und flicken verstehe, und früh im Frühling kam die
+Herrschaft aus Frankfurt wieder, die ich voriges Jahr bedient hatte
+und die mich mitnehmen will; übermorgen reisen wir ab, und der
+Dienst ist gut, das kann ich dir sagen."
+
+"Und dem Alten da droben willst du nun das Kind übergeben? Es
+nimmt mich nur wunder, was du denkst, Dete", sagte die Barbel
+vorwurfsvoll.
+
+"Was meinst du denn?", gab Dete zurück. "Ich habe das Meinige an
+dem Kinde getan, und was sollte ich denn mit ihm machen? Ich denke,
+ich kann eines, das erst fünf Jahre alt wird, nicht mit nach
+Frankfurt nehmen. Aber wohin gehst du eigentlich, Barbel, wir sind
+ja schon halbwegs auf der Alm?"
+
+"Ich bin auch gleich da, wo ich hinmuss", entgegnete die Barbel;
+"ich habe mit der Geißenpeterin zu reden, sie spinnt mir im Winter.
+So leb wohl, Dete, mit Glück!"
+
+Dete reichte der Begleiterin die Hand und blieb stehen, während
+diese der kleinen, dunkelbraunen Almhütte zuging, die einige
+Schritte seitwärts vom Pfad in einer Mulde stand, wo sie vor dem
+Bergwind ziemlich geschützt war. Die Hütte stand auf der halben
+Höhe der Alm, vom Dörfli aus gerechnet, und dass sie in einer
+kleinen Vertiefung des Berges stand, war gut, denn sie sah so
+baufällig und verfallen aus, dass es auch so noch ein gefährliches
+Darinwohnen sein musste, wenn der Föhnwind so mächtig über die
+Berge strich, dass alles an der Hütte klapperte, Türen und Fenster,
+und alle die morschen Balken zitterten und krachten. Hätte die
+Hütte an solchen Tagen oben auf der Alm gestanden, sie wäre
+unverzüglich ins Tal hinabgeweht worden.
+
+Hier wohnte der Geißenpeter, der elfjährige Bube, der jeden Morgen
+unten im Dörfli die Geißen holte, um sie hoch auf die Alm
+hinaufzutreiben, um sie da die kurzen kräftigen Kräuter fressen zu
+lassen bis zum Abend; dann sprang der Peter mit den leichtfüßigen
+Tierchen wieder herunter, tat, im Dörfli angekommen, einen
+schrillen Pfiff durch die Finger, und jeder Besitzer holte seine
+Geiß auf dem Platz. Meistens kamen kleine Buben und Mädchen, denn
+die friedlichen Geißen waren nicht zu fürchten, und das war denn
+den ganzen Sommer durch die einzige Zeit am Tage, da der Peter mit
+seinesgleichen verkehrte; sonst lebte er nur mit den Geißen. Er
+hatte zwar daheim seine Mutter und die blinde Großmutter; aber da
+er immer am Morgen sehr früh fortmusste und am Abend vom Dörfli
+spät heimkam, weil er sich da noch so lange als möglich mit den
+Kindern unterhalten musste, so verbrachte er daheim nur gerade so
+viel Zeit, um am Morgen seine Milch und Brot und am Abend
+ebendasselbe hinunterzuschlucken und dann sich aufs Ohr zu legen
+und zu schlafen. Sein Vater, der auch schon der Geißenpeter
+genannt worden war, weil er in früheren Jahren in demselben Berufe
+gestanden hatte, war vor einigen Jahren beim Holzfällen verunglückt.
+Seine Mutter, die zwar Brigitte hieß, wurde von jedermann um des
+Zusammenhangs willen die Geißenpeterin genannt, und die blinde
+Großmutter kannten weit und breit Alt und Jung nur unter dem Namen
+Großmutter.
+
+Die Dete hatte wohl zehn Minuten gewartet und sich nach allen
+Seiten umgesehen, ob die Kinder mit den Geißen noch nirgends zu
+sehen seien; als dies aber nicht der Fall war, so stieg sie noch
+ein wenig höher, wo sie besser die ganze Alm bis hinunter übersehen
+konnte, und guckte nun von hier aus bald dahin, bald dorthin mit
+Zeichen großer Ungeduld auf dem Gesicht und in den Bewegungen.
+Unterdessen rückten die Kinder auf einem großen Umwege heran, denn
+der Peter wusste viele Stellen, wo allerhand Gutes an Sträuchern
+und Gebüschen für seine Geißen zu nagen war; darum machte er mit
+seiner Herde vielerlei Wendungen auf dem Wege. Erst war das Kind
+mühsam nachgeklettert, in seiner schweren Rüstung vor Hitze und
+Unbequemlichkeit keuchend und alle Kräfte anstrengend. Es sagte
+kein Wort, blickte aber unverwandt bald auf den Peter, der mit
+seinen nackten Füßen und leichten Höschen ohne alle Mühe hin und
+her sprang, bald auf die Geißen, die mit den dünnen, schlanken
+Beinchen noch leichter über Busch und Stein und steile Abhänge
+hinaufkletterten. Auf einmal setzte das Kind sich auf den Boden
+nieder, zog mit großer Schnelligkeit Schuhe und Strümpfe aus, stand
+wieder auf, zog sein rotes, dickes Halstuch weg, machte sein
+Röckchen auf, zog es schnell aus und hatte gleich noch eins
+auszuhäkeln, denn die Base Dete hatte ihm das Sonntagskleidchen
+über das Alltagszeug angezogen, um der Kürze willen, damit niemand
+es tragen müsse. Blitzschnell war auch das Alltagsröcklein weg,
+und nun stand das Kind im leichten Unterröckchen, die bloßen Arme
+aus den kurzen Hemdärmelchen vergnüglich in die Luft
+hinausstreckend. Dann legte es schön alles auf ein Häufchen, und
+nun sprang und kletterte es hinter den Geißen und neben dem Peter
+her, so leicht als nur eines aus der ganzen Gesellschaft. Der
+Peter hatte nicht Acht gegeben, was das Kind mache, als es
+zurückgeblieben war. Wie es nun in der neuen Bekleidung
+nachgesprungen kam, zog er lustig grinsend das ganze Gesicht
+auseinander und schaute zurück, und wie er unten das Häuflein
+Kleider liegen sah, ging sein Gesicht noch ein wenig mehr
+auseinander, und sein Mund kam fast von einem Ohr bis zum anderen;
+er sagte aber nichts. Wie nun das Kind sich so frei und leicht
+fühlte, fing es ein Gespräch mit dem Peter an, und er fing auch an
+zu reden und musste auf vielerlei antworten, denn das Kind wollte
+wissen, wie viele Geißen er habe und wohin er mit ihnen gehe und
+was er dort tue, wo er hinkomme. So langten endlich die Kinder
+samt den Geißen oben bei der Hütte an und kamen der Base Dete zu
+Gesicht. Kaum aber hatte diese die herankletternde Gesellschaft
+erblickt, als sie laut aufschrie: "Heidi, was machst du? Wie
+siehst du aus? Wo hast du deinen Rock und den zweiten und das
+Halstuch? Und ganz neue Schuhe habe ich dir gekauft auf den Berg
+und dir neue Strümpfe gemacht, und alles fort! Alles fort! Heidi,
+was machst du, wo hast du alles?"
+
+Das Kind zeigte ruhig den Berg hinunter und sagte: "Dort!" Die Base
+folgte seinem Finger. Richtig, dort lag etwas und obenauf war ein
+roter Punkt, das musste das Halstuch sein.
+
+"Du Unglückstropf!", rief die Base in großer Aufregung. "Was kommt
+dir denn in den Sinn, warum hast du alles ausgezogen? Was soll das
+sein?"
+
+"Ich brauch es nicht", sagte das Kind und sah gar nicht reuevoll
+aus über seine Tat.
+
+"Ach du unglückseliges, vernunftloses Heidi, hast du denn auch noch
+gar keine Begriffe?", jammerte und schalt die Base weiter. "Wer
+sollte nun wieder da hinunter, es ist ja eine halbe Stunde! Komm,
+Peter, lauf du mir schnell zurück und hol das Zeug, komm schnell
+und steh nicht dort und glotze mich an, als wärst du am Boden
+festgenagelt."
+
+"Ich bin schon zu spät", sagte Peter langsam und blieb, ohne sich
+zu rühren, auf demselben Fleck stehen, von dem aus er, beide Hände
+in die Taschen gesteckt, dem Schreckensausbruch der Base zugehört
+hatte.
+
+"Du stehst ja doch nur und reißest deine Augen auf und kommst, denk
+ich, nicht weit auf die Art!", rief ihm die Base Dete zu. "Komm
+her, du musst etwas Schönes haben, siehst du?" Sie hielt ihm ein
+neues Fünferchen hin, das glänzte ihm in die Augen. Plötzlich
+sprang er auf und davon auf dem geradesten Weg die Alm hinunter und
+kam in ungeheuren Sätzen in kurzer Zeit bei dem Häuflein Kleider an,
+packte sie auf und erschien damit so schnell, dass ihn die Base
+rühmen musste und ihm sogleich sein Fünfrappenstück überreichte.
+Peter steckte es schnell tief in seine Tasche, und sein Gesicht
+glänzte und lachte in voller Breite, denn ein solcher Schatz wurde
+ihm nicht oft zuteil.
+
+"Du kannst mir das Zeug noch tragen bis zum Öhi hinauf, du gehst ja
+auch den Weg", sagte die Base Dete jetzt, indem sie sich anschickte,
+den steilen Abhang zu erklimmen, der gleich hinter der Hütte des
+Geißenpeter emporragte. Willig übernahm dieser den Auftrag und
+folgte der Voranschreitenden auf dem Fuße nach, den linken Arm um
+sein Bündel geschlungen, in der Rechten die Geißenrute schwingend.
+Das Heidi und die Geißen hüpften und sprangen fröhlich neben ihm
+her. So gelangte der Zug nach drei Viertelstunden auf die Almhöhe,
+wo frei auf dem Vorsprung des Berges die Hütte des alten Öhi stand,
+allen Winden ausgesetzt, aber auch jedem Sonnenblick zugänglich und
+mit der vollen Aussicht weit ins Tal hinab. Hinter der Hütte
+standen drei alte Tannen mit dichten, langen, unbeschnittenen Ästen.
+Weiter hinten ging es nochmals bergan bis hoch hinauf in die
+alten, grauen Felsen, erst noch über schöne, kräuterreiche Höhen,
+dann in steiniges Gestrüpp und endlich zu den kahlen, steilen
+Felsen hinan.
+
+An die Hütte festgemacht, der Talseite zu, hatte sich der Öhi eine
+Bank gezimmert. Hier saß er, eine Pfeife im Mund, beide Hände auf
+seine Knie gelegt, und schaute ruhig zu, wie die Kinder, die Geißen
+und die Base Dete herankletterten, denn die Letztere war nach und
+nach von den anderen überholt worden. Heidi war zuerst oben; es
+ging geradeaus auf den Alten zu, streckte ihm die Hand entgegen und
+sagte: "Guten Abend, Großvater!"
+
+"So, so, wie ist das gemeint?", fragte der Alte barsch, gab dem
+Kinde kurz die Hand und schaute es mit einem langen,
+durchdringenden Blick an, unter seinen buschigen Augenbrauen hervor.
+Heidi gab den langen Blick ausdauernd zurück, ohne nur einmal mit
+den Augen zu zwinkern, denn der Großvater mit dem langen Bart und
+den dichten, grauen Augenbrauen, die in der Mitte zusammengewachsen
+waren und aussahen wie eine Art Gesträuch, war so verwunderlich
+anzusehen, dass Heidi ihn recht betrachten musste. Unterdessen war
+auch die Base herangekommen samt dem Peter, der eine Weile stille
+stand und zusah, was sich da ereigne.
+
+"Ich wünsche Euch guten Tag, Öhi", sagte die Dete hinzutretend,
+"und hier bring ich Euch das Kind vom Tobias und der Adelheid. Ihr
+werdet es wohl nicht mehr kennen, denn seit es jährig war, habt Ihr
+es nie mehr gesehen."
+
+"So, was muss das Kind bei mir?", fragte der Alte kurz; "und du
+dort", rief er dem Peter zu, "du kannst gehen mit deinen Geißen, du
+bist nicht zu früh; nimm meine mit!"
+
+Der Peter gehorchte sofort und verschwand, denn der Öhi hatte ihn
+angeschaut, dass er schon genug davon hatte.
+
+"Es muss eben bei Euch bleiben, Öhi", gab die Dete auf seine Frage
+zurück. "Ich habe, denk ich, das Meinige an ihm getan die vier
+Jahre durch, es wird jetzt wohl an Euch sein, das Eurige auch
+einmal zu tun."
+
+"So", sagte der Alte und warf einen blitzenden Blick auf die Dete.
+"Und wenn nun das Kind anfängt, dir nachzuflennen und zu winseln,
+wie kleine Unvernünftige tun, was muss ich dann mit ihm anfangen?"
+
+"Das ist dann Eure Sache", warf die Dete zurück, "ich meine fast,
+es habe mir auch kein Mensch gesagt, wie ich es mit dem Kleinen
+anzufangen habe, als es mir auf den Händen lag, ein einziges
+Jährchen alt, und ich schon für mich und die Mutter genug zu tun
+hatte. Jetzt muss ich meinem Verdienst nach, und Ihr seid der
+Nächste am Kind; wenn Ihr's nicht haben könnt, so macht mit ihm,
+was Ihr wollt, dann habt Ihr's zu verantworten, wenn's verdirbt,
+und Ihr werdet wohl nicht nötig haben, noch etwas aufzuladen."
+
+Die Dete hatte kein recht gutes Gewissen bei der Sache, darum war
+sie so hitzig geworden und hatte mehr gesagt, als sie im Sinn
+gehabt hatte. Bei ihren letzten Worten war der Öhi aufgestanden;
+er schaute sie so an, dass sie einige Schritte zurückwich; dann
+streckte er den Arm aus und sagte befehlend: "Mach, dass du
+hinunterkommst, wo du heraufgekommen bist, und zeig dich nicht so
+bald wieder!" Das ließ sich die Dete nicht zweimal sagen. "So lebt
+wohl, und du auch, Heidi", sagte sie schnell und lief den Berg
+hinunter in einem Trab bis ins Dörfli hinab, denn die innere
+Aufregung trieb sie vorwärts wie eine wirksame Dampfkraft. Im
+Dörfli wurde sie diesmal noch viel mehr angerufen, denn es wunderte
+die Leute, wo das Kind sei; sie kannten ja alle die Dete genau und
+wussten, wem das Kind gehörte und alles, was mit ihm vorgegangen
+war. Als es nun aus allen Türen und Fenstern tönte: "Wo ist das
+Kind? Dete, wo hast du das Kind gelassen?", rief sie immer
+unwilliger zurück: "Droben beim Alm-Öhi! Nun, beim Alm-Öhi, ihr
+hört's ja!"
+
+Sie wurde aber so maßleidig, weil die Frauen von allen Seiten ihr
+zuriefen: "Wie kannst du so etwas tun!", und: "Das arme Tröpfli!",
+und: "So ein kleines Hilfloses da droben lassen!", und dann wieder
+und wieder: "Das arme Tröpfli!" Die Dete lief, so schnell sie
+konnte, weiter und war froh, als sie nichts mehr hörte, denn es war
+ihr nicht wohl bei der Sache; ihre Mutter hatte ihr beim Sterben
+das Kind noch übergeben. Aber sie sagte sich zur Beruhigung, sie
+könne dann ja eher wieder etwas für das Kind tun, wenn sie nun viel
+Geld verdiene, und so war sie sehr froh, dass sie bald weit von
+allen Leuten, die ihr dreinredeten, weg- und zu einem schönen
+Verdienst kommen konnte.
+
+
+
+
+Beim Großvater
+
+Nachdem die Dete verschwunden war, hatte der Öhi sich wieder auf
+die Bank hingesetzt und blies nun große Wolken aus seiner Pfeife;
+dabei starrte er auf den Boden und sagte kein Wort. Derweilen
+schaute das Heidi vergnüglich um sich, entdeckte den Geißenstall,
+der an die Hütte angebaut war, und guckte hinein. Es war nichts
+drin. Das Kind setzte seine Untersuchungen fort und kam hinter die
+Hütte zu den alten Tannen. Da blies der Wind durch die Äste so
+stark, dass es sauste und brauste oben in den Wipfeln. Heidi blieb
+stehen und hörte zu. Als es ein wenig stiller wurde, ging das Kind
+um die kommende Ecke der Hütte herum und kam vorn wieder zum
+Großvater zurück. Als es diesen noch in derselben Stellung
+erblickte, wie es ihn verlassen hatte, stellte es sich vor ihn hin,
+legte die Hände auf den Rücken und betrachtete ihn. Der Großvater
+schaute auf. "Was willst du jetzt tun?", fragte er, als das Kind
+immer noch unbeweglich vor ihm stand.
+
+"Ich will sehen, was du drinnen hast, in der Hütte", sagte Heidi.
+
+"So komm!", und der Großvater stand auf und ging voran in die Hütte
+hinein.
+
+"Nimm dort dein Bündel Kleider noch mit", befahl er im Hereintreten.
+
+"Das brauch ich nicht mehr", erklärte Heidi.
+
+Der Alte kehrte sich um und schaute durchdringend auf das Kind,
+dessen schwarze Augen glühten in Erwartung der Dinge, die da
+drinnen sein konnten. "Es kann ihm nicht an Verstand fehlen",
+sagte er halblaut. "Warum brauchst du's nicht mehr?", setzte er
+laut hinzu.
+
+"Ich will am liebsten gehen wie die Geißen, die haben ganz leichte
+Beinchen."
+
+"So, das kannst du, aber hol das Zeug", befahl der Großvater, "es
+kommt in den Kasten." Heidi gehorchte. Jetzt machte der Alte die
+Tür auf und Heidi trat hinter ihm her in einen ziemlich großen Raum
+ein, es war der Umfang der ganzen Hütte. Da stand ein Tisch und
+ein Stuhl daran; in einer Ecke war des Großvaters Schlaflager, in
+einer anderen hing der große Kessel über dem Herd; auf der anderen
+Seite war eine große Tür in der Wand, die machte der Großvater auf,
+es war der Schrank. Da hingen seine Kleider drin und auf einem
+Gestell lagen ein paar Hemden, Strümpfe und Tücher und auf einem
+anderen einige Teller und Tassen und Gläser und auf dem obersten
+ein rundes Brot und geräuchertes Fleisch und Käse, denn in dem
+Kasten war alles enthalten, was der Alm-Öhi besaß und zu seinem
+Lebensunterhalt gebrauchte. Wie er nun den Schrank aufgemacht
+hatte, kam das Heidi schnell heran und stieß sein Zeug hinein, so
+weit hinter des Großvaters Kleider als möglich, damit es nicht so
+leicht wieder zu finden sei. Nun sah es sich aufmerksam um in dem
+Raum und sagte dann: "Wo muss ich schlafen, Großvater?"
+
+"Wo du willst", gab dieser zur Antwort.
+
+Das war dem Heidi eben recht. Nun fuhr es in alle Winkel hinein
+und schaute jedes Plätzchen aus, wo am schönsten zu schlafen wäre.
+In der Ecke vorüber des Großvaters Lagerstätte war eine kleine
+Leiter aufgerichtet; Heidi kletterte hinauf und langte auf dem
+Heuboden an. Da lag ein frischer, duftender Heuhaufen oben, und
+durch eine runde Luke sah man weit ins Tal hinab.
+
+"Hier will ich schlafen", rief Heidi hinunter, "hier ist's schön!
+Komm und sieh einmal, wie schön es hier ist, Großvater!"
+
+"Weiß schon", tönte es von unten herauf.
+
+"Ich mache jetzt das Bett!", rief das Kind wieder, indem es oben
+geschäftig hin und her fuhr; "aber du musst heraufkommen und mir
+ein Leintuch mitbringen, denn auf ein Bett kommt auch ein Leintuch,
+und darauf liegt man."
+
+"So, so", sagte unten der Großvater, und nach einer Weile ging er
+an den Schrank und kramte ein wenig darin herum; dann zog er unter
+seinen Hemden ein langes, grobes Tuch hervor, das musste so etwas
+sein wie ein Leintuch. Er kam damit die Leiter herauf. Da war auf
+dem Heuboden ein ganz artiges Bettlein zugerichtet; oben, wo der
+Kopf liegen musste, war das Heu hoch aufgeschichtet, und das
+Gesicht kam so zu liegen, dass es gerade auf das offene, runde Loch
+traf.
+
+"Das ist recht gemacht", sagte der Großvater, "jetzt wird das Tuch
+kommen, aber wart noch"--damit nahm er einen guten Wisch Heu von
+dem Haufen und machte das Lager doppelt so dick, damit der harte
+Boden nicht durchgefühlt werden konnte--; "so, jetzt komm her
+damit." Heidi hatte das Leintuch schnell zuhanden genommen, konnte
+es aber fast nicht tragen, so schwer war's; aber das war sehr gut,
+denn durch das feste Zeug konnten die spitzen Heuhalme nicht
+durchstechen. Jetzt breiteten die beiden miteinander das Tuch über
+das Heu, und wo es zu breit und zu lang war, stopfte Heidi die
+Enden eilfertig unter das Lager. Nun sah es recht gut und reinlich
+aus, und Heidi stellte sich davor und betrachtete es nachdenklich.
+
+"Wir haben noch etwas vergessen, Großvater", sagte es dann.
+
+"Was denn?", fragte er.
+
+"Eine Decke; denn wenn man ins Bett geht, kriecht man zwischen das
+Leintuch und die Decke hinein."
+
+"So, meinst du? Wenn ich aber keine habe?", sagte der Alte.
+
+"Oh, dann ist's gleich, Großvater", beruhigte Heidi, "dann nimmt
+man wieder Heu zur Decke", und eilfertig wollte es gleich wieder an
+den Heustock gehen, aber der Großvater wehrte es ihm.
+
+"Wart einen Augenblick", sagte er, stieg die Leiter hinab und ging
+an sein Lager hin. Dann kam er wieder und legte einen großen,
+schweren, leinenen Sack auf den Boden.
+
+"Ist das nicht besser als Heu?", fragte er. Heidi zog aus
+Leibeskräften an dem Sacke hin und her, um ihn auseinander zu legen,
+aber die kleinen Hände konnten das schwere Zeug nicht bewältigen.
+Der Großvater half, und wie es nun ausgebreitet auf dem Bette lag,
+da sah alles sehr gut und haltbar aus, und Heidi stand staunend vor
+seinem neuen Lager und sagte: "Das ist eine prächtige Decke und das
+ganze Bett! Jetzt wollt ich, es wäre schon Nacht, so könnte ich
+hineinliegen."
+
+"Ich meine, wir könnten erst einmal etwas essen", sagte der
+Großvater, "oder was meinst du?" Heidi hatte über dem Eifer des
+Bettens alles andere vergessen; nun ihm aber der Gedanke ans Essen
+kam, stieg ein großer Hunger in ihm auf, denn es hatte auch heute
+noch gar nichts bekommen als früh am Morgen sein Stück Brot und ein
+paar Schlucke dünnen Kaffees, und nachher hatte es die lange Reise
+gemacht. So sagte Heidi ganz zustimmend: "Ja, ich mein es auch."
+
+"So geh hinunter, wenn wir denn einig sind", sagte der Alte und
+folgte dem Kind auf dem Fuß nach. Dann ging er zum Kessel hin,
+schob den großen weg und drehte den kleinen heran, der an der Kette
+hing, setzte sich auf den hölzernen Dreifuß mit dem runden Sitz
+davor hin und blies ein helles Feuer an. Im Kessel fing es an zu
+sieden, und unten hielt der Alte an einer langen Eisengabel ein
+großes Stück Käse über das Feuer und drehte es hin und her, bis es
+auf allen Seiten goldgelb war. Heidi hatte mit gespannter
+Aufmerksamkeit zugesehen; jetzt musste ihm etwas Neues in den Sinn
+gekommen sein; auf einmal sprang es weg und an den Schrank und von
+da hin und her. Jetzt kam der Großvater mit einem Topf und dem
+Käsebraten an der Gabel zum Tisch heran; da lag schon das runde
+Brot darauf und zwei Teller und zwei Messer, alles schön geordnet,
+denn das Heidi hatte alles im Schrank gut wahrgenommen und wusste,
+dass man das alles nun gleich zum Essen brauchen werde.
+
+"So, das ist recht, dass du selbst etwas ausdenkst", sagte der
+Großvater und legte den Braten auf das Brot als Unterlage; "aber es
+fehlt noch etwas auf dem Tisch."
+
+Heidi sah, wie einladend es aus dem Topf hervordampfte, und sprang
+schnell wieder an den Schrank. Da stand aber nur ein einziges
+Schüsselchen. Heidi war nicht lang in Verlegenheit, dort hinten
+standen zwei Gläser; augenblicklich kam das Kind zurück und stellte
+Schüsselchen und Glas auf den Tisch.
+
+"Recht so; du weißt dir zu helfen; aber wo willst du sitzen?" Auf
+dem einzigen Stuhl saß der Großvater selbst. Heidi schoss
+pfeilschnell zum Herd hin, brachte den kleinen Dreifuß zurück und
+setzte sich drauf.
+
+"Einen Sitz hast du wenigstens, das ist wahr, nur ein wenig weit
+unten", sagte der Großvater; "aber von meinem Stuhl wärst auch zu
+kurz, auf den Tisch zu langen; jetzt musst aber einmal etwas haben,
+so komm!" Damit stand er auf, füllte das Schüsselchen mit Milch,
+stellte es auf den Stuhl und rückte den ganz nah an den Dreifuß hin,
+so dass das Heidi nun einen Tisch vor sich hatte. Der Großvater
+legte ein großes Stück Brot und ein Stück von dem goldenen Käse
+darauf und sagte: "Jetzt iss!" Er selbst setzte sich nun auf die
+Ecke des Tisches und begann sein Mittagsmahl. Heidi ergriff sein
+Schüsselchen und trank und trank ohne Aufenthalt, denn der ganze
+Durst seiner langen Reise war ihm wieder aufgestiegen. Jetzt tat
+es einen langen Atemzug--denn im Eifer des Trinkens hatte es lange
+den Atem nicht holen können--und stellte sein Schüsselchen hin.
+
+"Gefällt dir die Milch?", fragte der Großvater.
+
+"Ich habe noch gar nie so gute Milch getrunken", antwortete Heidi.
+
+"So musst du mehr haben", und der Großvater füllte das Schüsselchen
+noch einmal bis oben hin und stellte es vor das Kind, das
+vergnüglich in sein Brot biss, nachdem es von dem weichen Käse
+darauf gestrichen, denn der war, so gebraten, weich wie Butter, und
+das schmeckte ganz kräftig zusammen, und zwischendurch trank es
+seine Milch und sah sehr vergnüglich aus. Als nun das Essen zu
+Ende war, ging der Großvater in den Geißenstall hinaus und hatte da
+allerhand in Ordnung zu bringen, und Heidi sah ihm aufmerksam zu,
+wie er erst mit dem Besen säuberte, dann frische Streu legte, dass
+die Tierchen darauf schlafen konnten; wie er dann nach dem
+Schöpfchen ging nebenan und hier runde Stöcke zurechtschnitt und an
+einem Brett herumhackte und Löcher hineinbohrte und dann die runden
+Stöcke hineinsteckte und aufstellte; da war es auf einmal ein Stuhl,
+wie der vom Großvater, nur viel höher, und Heidi staunte das Werk
+an, sprachlos vor Verwunderung.
+
+"Was ist das, Heidi?", fragte der Großvater.
+
+"Das ist mein Stuhl, weil er so hoch ist; auf einmal war er fertig",
+sagte das Kind, noch in tiefem Erstaunen und Bewunderung.
+
+"Es weiß, was es sieht, es hat die Augen am rechten Ort", bemerkte
+der Großvater vor sich hin, als er nun um die Hütte herumging und
+hier einen Nagel einschlug und dort einen und dann an der Tür etwas
+zu befestigen hatte und so mit Hammer und Nägeln und Holzstücken
+von einem Ort zum anderen wanderte und immer etwas ausbesserte oder
+wegschlug, je nach dem Bedürfnis. Heidi ging Schritt für Schritt
+hinter ihm her und schaute ihm unverwandt mit der größten
+Aufmerksamkeit zu, und alles, was da vorging, war ihm sehr
+kurzweilig anzusehen.
+
+So kam der Abend heran. Es fing stärker an zu rauschen in den
+alten Tannen, ein mächtiger Wind fuhr daher und sauste und brauste
+durch die dichten Wipfel. Das tönte dem Heidi so schön in die
+Ohren und ins Herz hinein, dass es ganz fröhlich darüber wurde und
+hüpfte und sprang unter den Tannen umher, als hätte es eine
+unerhörte Freude erlebt. Der Großvater stand unter der Schopftür
+und schaute dem Kind zu. Jetzt ertönte ein schriller Pfiff. Heidi
+hielt an in seinen Sprüngen, der Großvater trat heraus. Von oben
+herunter kam es gesprungen, Geiß um Geiß, wie eine Jagd, und
+mittendrin der Peter. Mit einem Freudenruf schoss Heidi mitten in
+das Rudel hinein und begrüßte die alten Freunde von heute Morgen
+einen um den anderen. Bei der Hütte angekommen, stand alles still,
+und aus der Herde heraus kamen zwei schöne, schlanke Geißen, eine
+weiße und eine braune, auf den Großvater zu und leckten seine Hände,
+denn er hielt ein wenig Salz darin, wie er jeden Abend zum Empfang
+seiner zwei Tierlein tat. Der Peter verschwand mit seiner Schar.
+Heidi streichelte zärtlich die eine und dann die andere von den
+Geißen und sprang um sie herum, um sie von der anderen Seite auch
+zu streicheln, und war ganz Glück und Freude über die Tierchen.
+"Sind sie unser, Großvater? Sind sie beide unser? Kommen sie in
+den Stall? Bleiben sie immer bei uns?", so fragte Heidi
+hintereinander in seinem Vergnügen, und der Großvater konnte kaum
+sein stetiges "Ja, ja!" zwischen die eine und die andere Frage
+hineinbringen. Als die Geißen ihr Salz aufgeleckt hatten, sagte
+der Alte: "Geh und hol dein Schüsselchen heraus und das Brot."
+
+Heidi gehorchte und kam gleich wieder. Nun melkte der Großvater
+gleich von der Weißen das Schüsselchen voll und schnitt ein Stück
+Brot ab und sagte: "Nun iss und dann geh hinauf und schlaf! Die
+Base Dete hat noch ein Bündelchen abgelegt für dich, da seien
+Hemdlein und so etwas darin, das liegt unten im Kasten, wenn du's
+brauchst; ich muss nun mit den Geißen hinein, so schlaf wohl!"
+
+"Gut Nacht, Großvater! Gut Nacht--wie heißen sie, Großvater, wie
+heißen sie?", rief das Kind und lief dem verschwindenden Alten und
+den Geißen nach.
+
+"Die Weiße heißt Schwänli und die Braune Bärli", gab der Großvater
+zurück.
+
+"Gut Nacht, Schwänli, gut Nacht, Bärli!", rief nun Heidi noch mit
+Macht, denn eben verschwanden beide in den Stall hinein. Nun
+setzte sich Heidi noch auf die Bank und aß sein Brot und trank
+seine Milch; aber der starke Wind wehte es fast von seinem Sitz
+herunter; so machte es schnell fertig, ging dann hinein und stieg
+zu seinem Bett hinauf, in dem es auch gleich nachher so fest und
+herrlich schlief, als nur einer im schönsten Fürstenbett schlafen
+konnte. Nicht lange nachher, noch eh es völlig dunkel war, legte
+auch der Großvater sich auf sein Lager, denn am Morgen war er immer
+schon mit der Sonne wieder draußen, und die kam sehr früh über die
+Berge hereingestiegen in dieser Sommerszeit. In der Nacht kam der
+Wind so gewaltig, dass bei seinen Stößen die ganze Hütte erzitterte
+und es in allen Balken krachte; durch den Schornstein heulte und
+ächzte es wie Jammerstimmen, und in den alten Tannen draußen tobte
+es mit solcher Wut, dass hier und da ein Ast niederkrachte. Mitten
+in der Nacht stand der Großvater auf und sagte halblaut vor sich
+hin: "Es wird sich wohl fürchten." Er stieg die Leiter hinauf und
+trat an Heidis Lager heran. Der Mond draußen stand einmal hell
+leuchtend am Himmel, dann fuhren wieder die jagenden Wolken darüber
+hin und alles wurde dunkel. Jetzt kam der Mondschein eben
+leuchtend durch die runde Öffnung herein und fiel gerade auf Heidis
+Lager. Es hatte sich feuerrote Backen erschlafen unter seiner
+schweren Decke, und ruhig und friedlich lag es auf seinem runden
+Ärmchen und träumte von etwas Erfreulichem, denn sein Gesichtchen
+sah ganz wohlgemut aus. Der Großvater schaute so lange auf das
+friedlich schlafende Kind, bis der Mond wieder hinter die Wolken
+trat und es dunkel wurde, dann kehrte er auf sein Lager zurück.
+
+
+
+
+Auf der Weide
+
+Heidi erwachte am frühen Morgen an einem lauten Pfiff, und als es
+die Augen aufschlug, kam ein goldener Schein durch das runde Loch
+hereingeflossen auf sein Lager und auf das Heu daneben, dass alles
+golden leuchtete ringsherum. Heidi schaute erstaunt um sich und
+wusste durchaus nicht, wo es war. Aber nun hörte es draußen des
+Großvaters tiefe Stimme, und jetzt kam ihm alles in den Sinn: Woher
+es gekommen war und dass es nun auf der Alm beim Großvater sei,
+nicht mehr bei der alten Ursel, die fast nichts mehr hörte und
+meistens fror, so dass sie immer am Küchenfenster oder am
+Stubenofen gesessen hatte, wo dann auch Heidi hatte verweilen
+müssen oder doch ganz in der Nähe, damit die Alte sehen konnte, wo
+es war, weil sie es nicht hören konnte. Da war es dem Heidi
+manchmal zu eng drinnen, und es wäre lieber hinausgelaufen. So war
+es sehr froh, als es in der neuen Behausung erwachte und sich
+erinnerte, wie viel Neues es gestern gesehen hatte und was es heute
+wieder alles sehen könnte, vor allem das Schwänli und das Bärli.
+Heidi sprang eilig aus seinem Bett und hatte in wenig Minuten alles
+wieder angelegt, was es gestern getragen hatte, denn es war sehr
+wenig. Nun stieg es die Leiter hinunter und sprang vor die Hütte
+hinaus. Da stand schon der Geißenpeter mit seiner Schar, und der
+Großvater brachte eben Schwänli und Bärli aus dem Stall herbei,
+dass sie sich der Gesellschaft anschlossen. Heidi lief ihm
+entgegen, um ihm und den Geißen guten Tag zu sagen.
+
+"Willst mit auf die Weide?", fragte der Großvater. Das war dem
+Heidi eben recht, es hüpfte hoch auf vor Freude.
+
+"Aber erst waschen und sauber sein, sonst lacht einen die Sonne aus,
+wenn sie so schön glänzt da droben und sieht, dass du schwarz bist;
+sieh, dort ist's für dich gerichtet." Der Großvater zeigte auf
+einen großen Zuber voll Wasser, der vor der Tür in der Sonne stand.
+Heidi sprang hin und patschte und rieb, bis es ganz glänzend war.
+Unterdessen ging der Großvater in die Hütte hinein und rief dem
+Peter zu: "Komm hierher, Geißengeneral, und bring deinen Habersack
+mit." Verwundert folgte Peter dem Ruf und streckte sein Säcklein
+hin, in dem er sein mageres Mittagessen bei sich trug.
+
+"Mach auf", befahl der Alte und steckte nun ein großes Stück Brot
+und ein ebenso großes Stück Käse hinein. Der Peter machte vor
+Erstaunen seine runden Augen so weit auf als nur möglich, denn die
+beiden Stücke waren wohl doppelt so groß wie die zwei, die er als
+eignes Mittagsmahl drinnen hatte.
+
+"So, nun kommt noch das Schüsselchen hinein", fuhr der Öhi fort,
+"denn das Kind kann nicht trinken wie du, nur so von der Geiß weg,
+es kennt das nicht. Du melkst ihm zwei Schüsselchen voll zu Mittag,
+denn das Kind geht mit dir und bleibt bei dir, bis du wieder
+herunterkommst; gib Acht, dass es nicht über die Felsen
+hinunterfällt, hörst du?"--
+
+Nun kam Heidi hereingelaufen. "Kann mich die Sonne jetzt nicht
+auslachen, Großvater?", fragte es angelegentlich. Es hatte sich
+mit dem groben Tuch, das der Großvater neben dem Wasserzuber
+aufgehängt hatte, Gesicht, Hals und Arme in seinem Schrecken vor
+der Sonne so erstaunlich gerieben, dass es krebsrot vor dem
+Großvater stand. Er lachte ein wenig.
+
+"Nein, nun hat sie nichts zu lachen", bestätigte er. "Aber weißt
+was? Am Abend, wenn du heimkommst, da gehst du noch ganz hinein in
+den Zuber, wie ein Fisch; denn wenn man geht wie die Geißen, da
+bekommt man schwarze Füße. Jetzt könnt ihr ausziehen."
+
+Nun ging es lustig die Alm hinan. Der Wind hatte in der Nacht das
+letzte Wölkchen weggeblasen; dunkelblau schaute der Himmel von
+allen Seiten hernieder, und mittendrauf stand die leuchtende Sonne
+und schimmerte auf die grüne Alp, und alle die blauen und gelben
+Blümchen darauf machten ihre Kelche auf und schauten ihr fröhlich
+entgegen. Heidi sprang hierhin und dorthin und jauchzte vor Freude,
+denn da waren ganze Trüppchen feiner, roter Himmelsschlüsselchen
+beieinander, und dort schimmerte es ganz blau von den schönen
+Enzianen, und überall lachten und nickten die zartblätterigen,
+goldenen Cystusröschen in der Sonne. Vor Entzücken über all die
+flimmernden winkenden Blümchen vergaß Heidi sogar die Geißen und
+auch den Peter. Es sprang ganze Strecken voran und dann auf die
+Seite, denn dort funkelte es rot und da gelb und lockte Heidi auf
+alle Seiten. Und überall brach Heidi ganze Scharen von den Blumen
+und packte sie in sein Schürzchen ein, denn es wollte sie alle mit
+heimnehmen und ins Heu stecken in seiner Schlafkammer, dass es dort
+werde wie hier draußen. --So hatte der Peter heut nach allen
+Seiten zu gucken, und seine kugelrunden Augen, die nicht besonders
+schnell hin und her gingen, hatten mehr Arbeit, als der Peter gut
+bewältigen konnte, denn die Geißen machten es wie das Heidi: Sie
+liefen auch dahin und dorthin, und er musste überallhin pfeifen und
+rufen und seine Rute schwingen, um wieder alle die Verlaufenen
+zusammenzutreiben.
+
+"Wo bist du schon wieder, Heidi?", rief er jetzt mit ziemlich
+grimmiger Stimme.
+
+"Da", tönte es von irgendwoher zurück. Sehen konnte Peter niemand,
+denn Heidi saß am Boden hinter einem Hügelchen, das dicht mit
+duftenden Prünellen besät war; da war die ganze Luft umher so mit
+Wohlgeruch erfüllt, dass Heidi noch nie so Liebliches eingeatmet
+hatte. Es setzte sich in die Blumen hinein und zog den Duft in
+vollen Zügen ein.
+
+"Komm nach!", rief der Peter wieder. "Du musst nicht über die
+Felsen hinunterfallen, der Öhi hat's verboten."
+
+"Wo sind die Felsen?", fragte Heidi zurück, bewegte sich aber nicht
+von der Stelle, denn der süße Duft strömte mit jedem Windhauch dem
+Kinde lieblicher entgegen.
+
+"Dort oben, ganz oben, wir haben noch weit, drum komm jetzt! Und
+oben am höchsten sitzt der alte Raubvogel und krächzt."
+
+Das half. Augenblicklich sprang Heidi in die Höhe und rannte mit
+seiner Schürze voller Blumen dem Peter zu.
+
+"Jetzt hast genug", sagte dieser, als sie wieder zusammen
+weiterkletterten; "sonst bleibst du immer stecken, und wenn du alle
+nimmst, hat's morgen keine mehr." Der letzte Grund leuchtete Heidi
+ein, und dann hatte es die Schürze schon so angefüllt, dass da
+wenig Platz mehr gewesen wäre, und morgen mussten auch noch da sein.
+So zog es nun mit dem Peter weiter, und die Geißen gingen nun
+alle geregelter, denn sie rochen die guten Kräuter von dem hohen
+Weideplatz schon von fern und strebten nun ohne Aufenthalt dahin.
+Der Weideplatz, wo Peter gewöhnlich Halt machte mit seinen Geißen
+und sein Quartier für den Tag aufschlug, lag am Fuße der hohen
+Felsen, die, erst noch von Gebüsch und Tannen bedeckt, zuletzt ganz
+kahl und schroff zum Himmel hinaufragen. An der einen Seite der
+Alp ziehen sich Felsenklüfte weit hinunter und der Großvater hatte
+Recht, davor zu warnen. Als nun dieser Punkt der Höhe erreicht war,
+nahm Peter seinen Sack ab und legte ihn sorgfältig in eine kleine
+Vertiefung des Bodens hinein, denn der Wind kam manchmal in starken
+Stößen dahergefahren, und den kannte Peter und wollte seine
+kostbare Habe nicht den Berg hinunterrollen sehen; dann streckte er
+sich lang und breit auf den sonnigen Weideboden hin, denn er musste
+sich nun von der Anstrengung des Steigens erholen.
+
+Heidi hatte unterdessen sein Schürzchen losgemacht und schön fest
+zusammengerollt mit den Blumen darin zum Proviantsack in die
+Vertiefung hineingelegt, und nun setzte es sich neben den
+ausgestreckten Peter hin und schaute um sich. Das Tal lag weit
+unten im vollen Morgenglanz; vor sich sah Heidi ein großes, weites
+Schneefeld sich erheben, hoch in den dunkelblauen Himmel hinauf,
+und links davon stand eine ungeheure Felsenmasse, und zu jeder
+Seite derselben ragte ein hoher Felsenturm kahl und zackig in die
+Bläue hinauf und schaute von dort oben ganz ernsthaft auf das Heidi
+nieder. Das Kind saß mäuschenstill da und schaute ringsum, und
+weit umher war eine große, tiefe Stille; nur ganz sanft und leise
+ging der Wind über die zarten, blauen Glockenblümchen und die
+goldnen, strahlenden Cystusröschen, die überall herumstanden auf
+ihren dünnen Stängelchen und leise und fröhlich hin und her nickten.
+Der Peter war entschlafen nach seiner Anstrengung, und die Geißen
+kletterten oben an den Büschen umher. Dem Heidi war es so schön
+zumute, wie in seinem Leben noch nie. Es trank das goldene
+Sonnenlicht, die frischen Lüfte, den zarten Blumenduft in sich ein
+und begehrte gar nichts mehr, als so dazubleiben immerzu. So
+verging eine gute Zeit und Heidi hatte so oft und so lange zu den
+hohen Bergstöcken drüben aufgeschaut, dass es nun war, als hätten
+sie alle auch Gesichter bekommen und schauten ganz bekannt zu ihm
+hernieder, so wie gute Freunde.
+
+Jetzt hörte Heidi über sich ein lautes, scharfes Geschrei und
+Krächzen ertönen, und wie es aufschaute, kreiste über ihm ein so
+großer Vogel, wie es nie in seinem Leben gesehen hatte, mit weit
+ausgebreiteten Schwingen in der Luft umher, und in großen Bogen
+kehrte er immer wieder zurück und krächzte laut und durchdringend
+über Heidis Kopf.
+
+"Peter! Peter! Erwache!", rief Heidi laut. "Sieh, der Raubvogel
+ist da, sieh! Sieh!"
+
+Peter erhob sich auf den Ruf und schaute mit Heidi dem Vogel nach,
+der sich nun höher und höher hinaufschwang ins Himmelsblau und
+endlich über grauen Felsen verschwand.
+
+"Wo ist er jetzt hin?", fragte Heidi, das mit gespannter
+Aufmerksamkeit den Vogel verfolgt hatte.
+
+"Heim ins Nest", war Peters Antwort.
+
+"Ist er dort oben daheim? Oh, wie schön so hoch oben! Warum
+schreit er so?", fragte Heidi weiter.
+
+"Weil er muss", erklärte Peter.
+
+"Wir wollen doch dort hinaufklettern und sehen, wo er daheim ist",
+schlug Heidi vor.
+
+"Oh! oh! oh!", brach der Peter aus, jeden Ausruf mit verstärkter
+Missbilligung hervorstoßend; "wenn keine Geiß mehr dorthin kann und
+der Öhi gesagt hat, du dürfest nicht über die Felsen hinunterfallen."
+
+Jetzt begann der Peter mit einem Mal ein so gewaltiges Pfeifen und
+Rufen anzustimmen, dass Heidi gar nicht wusste, was begegnen sollte;
+aber die Geißen mussten die Töne verstehen, denn eine nach der
+anderen kam heruntergesprungen, und nun war die ganze Schar auf der
+grünen Halde versammelt, die einen fortnagend an den würzigen
+Halmen, die anderen hin und her rennend und die Dritten ein wenig
+gegeneinander stoßend mit ihren Hörnern zum Zeitvertreib. Heidi
+war aufgesprungen und rannte mitten unter den Geißen umher, denn
+das war ihm ein neuer, unbeschreiblich vergnüglicher Anblick, wie
+die Tierlein durcheinander sprangen und sich lustig machten, und
+Heidi sprang von einem zum anderen und machte mit jedem ganz
+persönliche Bekanntschaft, denn jedes war eine ganz besondere
+Erscheinung für sich und hatte seine eigenen Manieren. Unterdessen
+hatte Peter den Sack herbeigeholt und alle vier Stücke, die drin
+waren, schön auf den Boden hingelegt in ein Viereck, die großen
+Stücke auf Heidis Seite und die kleinen auf die seinige hin, denn
+er wusste genau, wie er sie erhalten hatte. Dann nahm er das
+Schüsselchen und melkte schöne, frische Milch hinein vom Schwänli
+und stellte das Schüsselchen mitten ins Viereck. Dann rief er
+Heidi herbei, musste aber länger rufen als nach den Geißen, denn
+das Kind war so in Eifer und Freude über die mannigfaltigen Sprünge
+und Erlustigungen seiner neuen Spielkameraden, dass es nichts sah
+und nichts hörte außer diesen. Aber Peter wusste sich verständlich
+zu machen, er rief, dass es bis in die Felsen hinaufdröhnte, und
+nun erschien Heidi und die gedeckte Tafel sah so einladend aus,
+dass es um sie herumhüpfte vor Wohlgefallen.
+
+"Hör auf zu hopsen, es ist Zeit zum Essen", sagte Peter, "jetzt
+sitz und fang an."
+
+Heidi setzte sich hin. "Ist die Milch mein?", fragte es, nochmals
+das schöne Viereck und den Hauptpunkt in der Mitte mit Wohlgefallen
+betrachtend.
+
+"Ja", erwiderte Peter, "und die zwei großen Stücke zum Essen sind
+auch dein, und wenn du ausgetrunken hast, bekommst du noch ein
+Schüsselchen vom Schwänli und dann komm ich."
+
+"Und von wem bekommst du die Milch?", wollte Heidi wissen.
+
+"Von meiner Geiß, von der Schnecke. Fang einmal zu essen an",
+mahnte Peter wieder. Heidi fing bei seiner Milch an, und sowie es
+sein leeres Schüsselchen hinstellte, stand Peter auf und holte ein
+zweites herbei. Dazu brach Heidi ein Stück von seinem Brot ab, und
+das ganze übrige Stück, das immer noch größer war, als Peters
+eigenes Stück gewesen, das nun schon samt Zubehör fast zu Ende war,
+reichte es diesem hinüber mit dem ganzen großen Brocken Käse und
+sagte: "Das kannst du haben, ich habe nun genug."
+
+Peter schaute das Heidi mit sprachloser Verwunderung an, denn noch
+nie in seinem Leben hätte er so sagen und etwas weggeben können.
+Er zögerte noch ein wenig, denn er konnte nicht recht glauben, dass
+es dem Heidi ernst sei; aber dieses hielt erst fest seine Stücke
+hin, und da Peter nicht zugriff, legte sie es ihm aufs Knie. Nun
+sah er, dass es ernst gemeint sei; er erfasste sein Geschenk,
+nickte in Dank und Zustimmung und hielt nun ein so reichliches
+Mittagsmahl wie noch nie in seinem Leben als Geißbub. Heidi
+schaute derweilen nach den Geißen aus. "Wie heißen sie alle,
+Peter?", fragte es.
+
+Das wusste dieser nun ganz genau und konnte es umso besser in
+seinem Kopf behalten, da er daneben wenig darin aufzubewahren hatte.
+Er fing also an und nannte ohne Anstoß eine nach der anderen,
+immer je mit dem Finger die betreffende bezeichnend. Heidi hörte
+mit gespannter Aufmerksamkeit der Unterweisung zu, und es währte
+gar nicht lange, so konnte es sie alle voneinander unterscheiden
+und jede bei ihrem Namen nennen, denn es hatte eine jede ihre
+Besonderheiten, die einem gleich im Sinne bleiben mussten; man
+musste nur allen genau zusehen, und das tat Heidi. Da war der
+große Türk mit den starken Hörnern, der wollte mit diesen immer
+gegen alle anderen stoßen, und die meisten liefen davon, wenn er
+kam, und wollten nichts von dem groben Kameraden wissen. Nur der
+kecke Distelfink, das schlanke, behände Geißchen, wich ihm nicht
+aus, sondern rannte von sich aus manchmal drei-, viermal
+hintereinander so rasch und tüchtig gegen ihn an, dass der große
+Türk öfters ganz erstaunt dastand und nicht mehr angriff, denn der
+Distelfink stand ganz kriegslustig vor ihm und hatte scharfe
+Hörnchen. Da war das kleine, weiße Schneehöppli, das immer so
+eindringlich und flehentlich meckerte, dass Heidi schon mehrmals zu
+ihm hingelaufen war und es tröstend beim Kopf genommen hatte. Auch
+jetzt sprang das Kind wieder hin, denn die junge, jammernde Stimme
+hatte eben wieder flehentlich gerufen. Heidi legte seinen Arm um
+den Hals des Geißleins und fragte ganz teilnehmend: "Was hast du,
+Schneehöppli? Warum rufst du so um Hilfe?" Das Geißlein schmiegte
+sich nahe und vertrauensvoll an Heidi an und war jetzt ganz still.
+Peter rief von seinem Sitz aus, mit einigen Unterbrechungen, denn
+er hatte immer noch zu beißen und zu schlucken: "Es tut so, weil
+die Alte nicht mehr mitkommt, sie haben sie verkauft nach Maienfeld
+vorgestern, nun kommt sie nicht mehr auf die Alm."
+
+"Wer ist die Alte?", fragte Heidi zurück.
+
+"Pah, seine Mutter", war die Antwort.
+
+"Wo ist die Großmutter?", rief Heidi wieder.
+
+"Hat keine."
+
+"Und der Großvater?"
+
+"Hat keinen."
+
+"Du armes Schneehöppli du", sagte Heidi und drückte das Tierlein
+zärtlich an sich. "Aber jammere jetzt nur nicht mehr so; siehst du,
+ich komme nun jeden Tag mit dir, dann bist du nicht mehr so
+verlassen, und wenn dir etwas fehlt, kannst du nur zu mir kommen."
+
+Das Schneehöppli rieb ganz vergnügt seinen Kopf an Heidis Schulter
+und meckerte nicht mehr kläglich. Unterdessen hatte Peter sein
+Mittagsmahl beendet und kam nun auch wieder zu seiner Herde und zu
+Heidi heran, das schon wieder allerlei Betrachtungen angestellt
+hatte.
+
+Weitaus die zwei schönsten und saubersten Geißen der ganzen Schar
+waren Schwänli und Bärli, die sich auch mit einer gewissen
+Vornehmheit betrugen, meistens ihre eigenen Wege gingen und
+besonders dem zudringlichen Türk abweisend und verächtlich
+begegneten.--
+
+Die Tierchen hatten nun wieder begonnen, nach den Büschen
+hinaufzuklettern, und jedes hatte seine eigene Weise dabei, die
+einen leichtfertig über alles weg hüpfend, die anderen bedächtlich
+die guten Kräutlein suchend unterwegs, der Türk hier und da seine
+Angriffe probierend. Schwänli und Bärli kletterten hübsch und
+leicht hinan und fanden oben sogleich die schönsten Büsche,
+stellten sich geschickt daran auf und nagten sie zierlich ab.
+Heidi stand mit den Händen auf dem Rücken und schaute dem allen mit
+der größten Aufmerksamkeit zu.
+
+"Peter", bemerkte es jetzt zu dem wieder auf dem Boden Liegenden,
+"die schönsten von allen sind das Schwänli und das Bärli."
+
+"Weiß schon", war die Antwort. "Der Alm-Öhi putzt und wäscht sie
+und gibt ihnen Salz und hat den schönsten Stall."
+
+Aber auf einmal sprang Peter auf und setzte in großen Sprüngen den
+Geißen nach, und das Heidi lief hintendrein; da musste etwas
+begegnet sein, es konnte da nicht zurückbleiben. Der Peter sprang
+durch den Geißenrudel durch der Seite der Alm zu, wo die Felsen
+schroff und kahl weit hinabstiegen und ein unbesonnenes Geißlein,
+wenn es dorthin ging, leicht hinunterstürzen und alle Beine brechen
+konnte. Er hatte gesehen, wie der vorwitzige Distelfink nach jener
+Seite hin gehüpft war, und kam noch gerade recht, denn eben sprang
+das Geißlein dem Rande des Abgrundes zu. Peter wollte es eben
+packen, da stürzte er auf den Boden und konnte nur noch im Sturze
+ein Bein des Tierleins erwischen und es daran festhalten. Der
+Distelfink meckerte voller Zorn und Überraschung, dass er so am
+Bein festgehalten und am Fortsetzen seines fröhlichen Streifzuges
+gehindert war, und strebte eigensinnig vorwärts. Der Peter schrie
+nach Heidi, dass es ihm beistehe, denn er konnte nicht aufstehen
+und riss dem Distelfink fast das Bein aus. Heidi war schon da und
+erkannte gleich die schlimme Lage der beiden. Es riss schnell
+einige wohlduftende Kräuter aus dem Boden und hielt sie dem
+Distelfink unter die Nase und sagte begütigend:
+
+"Komm, komm, Distelfink, du musst auch vernünftig sein! Sieh, da
+kannst du hinabfallen und ein Bein brechen, das tut dir furchtbar
+weh."
+
+Das Geißlein hatte sich schnell umgewandt und dem Heidi vergnüglich
+die Kräuter aus der Hand gefressen. Derweilen war der Peter auf
+seine Füße gekommen und hatte den Distelfink an der Schnur erfasst,
+an welcher sein Glöckchen um den Hals gebunden war, und Heidi
+erfasste diese von der anderen Seite, und so führten die beiden den
+Ausreißer zu der friedlich weidenden Herde zurück. Als ihn aber
+Peter hier in Sicherheit hatte, erhob er seine Rute und wollte ihn
+zur Strafe tüchtig durchprügeln, und der Distelfink wich scheu
+zurück, denn er merkte, was begegnen sollte. Aber Heidi schrie
+laut auf: "Nein, Peter, nein, du musst ihn nicht schlagen, sieh,
+wie er sich fürchtet!"
+
+"Er verdient's", schnurrte Peter und wollte zuschlagen. Aber Heidi
+fiel ihm in den Arm und rief ganz entrüstet: "Du darfst ihm nichts
+tun, es tut ihm weh, lass ihn los!"
+
+Peter schaute erstaunt auf das gebietende Heidi, dessen schwarze
+Augen ihn so anfunkelten, dass er unwillkürlich seine Rute
+niederhielt. "So kann er gehen, wenn du mir morgen wieder von
+deinem Käse gibst", sagte dann der Peter nachgebend, denn eine
+Entschädigung wollte er haben für den Schrecken.
+
+"Allen kannst du haben, das ganze Stück morgen und alle Tage, ich
+brauche ihn gar nicht", sagte Heidi zustimmend, "und Brot gebe ich
+dir auch ganz viel, wie heute; aber dann darfst du den Distelfink
+nie, gar nie schlagen und auch das Schneehöppli nie und gar keine
+Geiß."
+
+"Es ist mir gleich", bemerkte Peter, und das war bei ihm soviel als
+eine Zusage. Jetzt ließ er den Schuldigen los, und der fröhliche
+Distelfink sprang in hohen Sprüngen auf und davon in die Herde
+hinein.--
+
+So war unvermerkt der Tag vergangen, und schon war die Sonne im
+Begriff, weit drüben hinter den Bergen hinabzugehen. Heidi saß
+wieder am Boden und schaute ganz still auf die Blauglöckchen und
+die Cystusröschen, die im goldenen Abendschein leuchteten, und
+alles Gras wurde wie golden angehaucht und die Felsen droben fingen
+an zu schimmern und zu funkeln, und auf einmal sprang Heidi auf und
+schrie: "Peter! Peter! Es brennt! Es brennt! Alle Berge brennen
+und der große Schnee drüben brennt und der Himmel. O sieh! Sieh!
+Der hohe Felsenberg ist ganz glühend! Oh, der schöne, feurige
+Schnee! Peter, sieh auf, sieh, das Feuer ist auch beim Raubvogel!
+Sieh doch die Felsen! Sieh die Tannen! Alles, alles ist im Feuer!"
+
+"Es war immer so", sagte jetzt der Peter gemütlich und schälte an
+seiner Rute fort, "aber es ist kein Feuer."
+
+"Was ist es denn?", rief Heidi und sprang hierhin und dorthin, dass
+es überallhin sehe, denn es konnte gar nicht genug bekommen, so
+schön war's auf allen Seiten. "Was ist es, Peter, was ist es?",
+rief Heidi wieder.
+
+"Es kommt von selbst so", erklärte Peter.
+
+"O sieh, sieh", rief Heidi in großer Aufregung, "auf einmal werden
+sie rosenrot! Sieh den mit dem Schnee und den mit den hohen,
+spitzigen Felsen! Wie heißen sie, Peter?"
+
+"Berge heißen nicht", erwiderte dieser.
+
+"O wie schön, sieh den rosenroten Schnee! Oh, und an den Felsen
+oben sind viele, viele Rosen! Oh, nun werden sie grau! Oh! Oh!
+Nun ist alles ausgelöscht! Nun ist alles aus, Peter!" Und Heidi
+setzte sich auf den Boden und sah so verstört aus, als ginge
+wirklich alles zu Ende.
+
+"Es ist morgen wieder so", erklärte Peter. "Steh auf, nun müssen
+wir heim."
+
+Die Geißen wurden herbeigepfiffen und -gerufen und die Heimfahrt
+angetreten.
+
+"Ist's alle Tage wieder so, alle Tage, wenn wir auf der Weide
+sind?", fragte Heidi, begierig nach einer bejahenden Versicherung
+horchend, als es nun neben dem Peter die Alm hinunterstieg.
+
+"Meistens", gab dieser zur Antwort.
+
+"Aber gewiss morgen wieder?", wollte es noch wissen.
+
+"Ja, ja, morgen schon!", versicherte Peter.
+
+Nun war Heidi wieder froh und es hatte so viele Eindrücke in sich
+aufgenommen und so viele Dinge gingen ihm im Sinn herum, dass es
+nun ganz stillschwieg, bis es bei der Almhütte ankam und den
+Großvater unter den Tannen sitzen sah, wo er auch eine Bank
+angebracht hatte und am Abend seine Geißen erwartete, die von
+dieser Seite herunterkämen. Heidi sprang gleich auf ihn zu und
+Schwänli und Bärli hinter ihm drein, denn die Geißen kannten ihren
+Herrn und ihren Stall. Der Peter rief dem Heidi nach: "Komm dann
+morgen wieder! Gute Nacht!" Denn es war ihm sehr daran gelegen,
+dass das Heidi wiederkomme.
+
+Da rannte das Heidi schnell wieder zurück und gab dem Peter die
+Hand und versicherte ihm, dass es wieder mitkomme, und dann sprang
+es mitten in die davonziehende Herde hinein und fasste noch einmal
+das Schneehöppli um den Hals und sagte vertraulich: "Schlaf wohl,
+Schneehöppli, und denk dran, dass ich morgen wiederkomme und dass
+du nie mehr so jämmerlich meckern musst."
+
+Das Schneehöppli schaute ganz freundlich und dankbar zu Heidi auf
+und sprang dann fröhlich der Herde nach.
+
+Heidi kam unter die Tannen zurück.
+
+"O Großvater, das war so schön!", rief es, noch bevor es bei ihm
+war. "Das Feuer und die Rosen am Felsen und die blauen und gelben
+Blumen, und sieh, was ich hier bringe!" Und damit schüttete Heidi
+seinen ganzen Blumenreichtum aus dem gefalteten Schürzchen vor den
+Großvater hin. Aber wie sahen die armen Blümchen aus! Heidi
+erkannte sie nicht mehr. Es war alles wie Heu, und kein einziges
+Kelchlein stand mehr offen.
+
+"O Großvater, was haben sie?", rief Heidi ganz erschrocken aus.
+"So waren sie nicht, warum sehen sie so aus?"
+
+"Die wollen draußen stehen in der Sonne und nicht ins Schürzchen
+hinein", sagte der Großvater.
+
+"Dann will ich gar keine mehr mitnehmen. Aber, Großvater, warum
+hat der Raubvogel so gekrächzt?", fragte Heidi nun angelegentlich.
+
+"Jetzt gehst du ins Wasser und ich in den Stall und hole Milch, und
+nachher kommen wir hinein zusammen in die Hütte und essen zu Nacht,
+dann sag ich dir's."
+
+So wurde getan, und wie nun später Heidi auf seinem hohen Stuhl saß
+vor seinem Milchschüsselchen und der Großvater neben ihm, da kam
+das Kind gleich wieder mit seiner Frage: "Warum krächzt der
+Raubvogel so und schreit immer so herunter, Großvater?"
+
+"Der höhnt die Leute aus dort unten, dass sie so viele
+zusammensitzen in den Dörfern und einander bös machen. Da höhnt er
+hinunter: 'Würdet ihr auseinander gehen und jedes seinen Weg
+und auf eine Höhe steigen wie ich, so wär's euch wohler!'"
+Der Großvater sagte diese Worte fast wild, so dass dem Heidi das
+Gekrächz des Raubvogels dadurch noch eindrücklicher wurde in der
+Erinnerung.
+
+"Warum haben die Berge keinen Namen, Großvater?", fragte Heidi
+wieder.
+
+"Die haben Namen", erwiderte dieser, "und wenn du mir einen so
+beschreiben kannst, dass ich ihn kenne, so sage ich dir, wie er
+heißt."
+
+Nun beschrieb Heidi den Felsenberg mit den zwei hohen Türmen genau
+so, wie es ihn gesehen hatte, und der Großvater sagte wohlgefällig:
+"Recht so, den kenn ich, der heißt Falknis. Hast du noch einen
+gesehen?"
+
+Nun beschrieb Heidi den Berg mit dem großen Schneefeld, auf dem der
+ganze Schnee im Feuer gestanden hatte und dann rosenrot geworden
+war und dann auf einmal ganz bleich und erloschen dastand.
+
+"Den erkenn ich auch", sagte der Großvater, "das ist die
+Schesaplana; so hat es dir gefallen auf der Weide?"
+
+Nun erzählte Heidi alles vom ganzen Tage, wie schön es gewesen, und
+besonders von dem Feuer am Abend, und nun sollte der Großvater auch
+sagen, woher es gekommen war, denn der Peter hätte nichts davon
+gewusst.
+
+"Siehst du", erklärte der Großvater, "das macht die Sonne, wenn sie
+den Bergen gute Nacht sagt, dann wirft sie ihnen noch ihre
+schönsten Strahlen zu, dass sie sie nicht vergessen, bis sie am
+Morgen wiederkommt."
+
+Das gefiel dem Heidi und es konnte fast nicht erwarten, dass wieder
+ein Tag komme, da es hinaufkonnte auf die Weide und wieder sehen,
+wie die Sonne den Bergen gute Nacht sagte. Aber erst musste es nun
+schlafen gehen, und es schlief auch die ganze Nacht herrlich auf
+seinem Heulager, und träumte von lauter schimmernden Bergen und
+roten Rosen darauf und mittendrin das Schneehöppli in fröhlichen
+Sprüngen.
+
+
+
+
+Bei der Großmutter
+
+Am andern Morgen kam wieder die helle Sonne, und dann kam der Peter
+und die Geißen, und wieder zogen sie alle miteinander nach der
+Weide hinauf, und so ging es Tag für Tag, und Heidi wurde bei
+diesem Weideleben ganz gebräunt und so kräftig und gesund, dass ihm
+gar nie etwas fehlte, und so froh und glücklich lebte Heidi von
+einem Tag zum anderen, wie nur die lustigen Vögelein leben auf
+allen Bäumen im grünen Wald. Wie es nun Herbst wurde und der Wind
+lauter zu sausen anfing über die Berge hin, dann sagte etwa der
+Großvater: "Heut bleibst du da, Heidi; ein Kleines, wie du bist,
+kann der Wind mit einem Ruck über alle Felsen ins Tal hinabwehen."
+
+Wenn aber das am Morgen der Peter vernahm, sah er sehr unglücklich
+aus, denn er sah lauter Missgeschick vor sich: Einmal wusste er vor
+Langeweile nun gar nicht mehr, was anfangen, wenn Heidi nicht bei
+ihm war; dann kam er um sein reichliches Mittagsmahl, und dann
+waren die Geißen so störrig an diesen Tagen, dass er die doppelte
+Mühe mit ihnen hatte; denn die waren nun auch so an Heidis
+Gesellschaft gewöhnt, dass sie nicht vorwärts wollten, wenn es
+nicht dabei war, und auf alle Seiten rannten. Heidi wurde niemals
+unglücklich, denn es sah immer irgendetwas Erfreuliches vor sich.
+Am liebsten ging es schon mit Hirt und Geißen auf die Weide zu den
+Blumen und zum Raubvogel hinauf, wo so mannigfaltige Dinge zu
+erleben waren mit all den verschieden gearteten Geißen; aber auch
+das Hämmern und Sägen und Zimmern des Großvaters war sehr
+unterhaltend für Heidi; und traf es sich, dass er gerade die
+schönen runden Geißkäschen zubereitete, wenn es daheim bleiben
+musste, so war das ein ganz besonderes Vergnügen, dieser
+merkwürdigen Tätigkeit zuzuschauen, wobei der Großvater beide Arme
+bloß machte und damit in dem großen Kessel herumrührte. Aber vor
+allem anziehend war für das Heidi an solchen Windtagen das Wogen
+und Rauschen in den drei alten Tannen hinter der Hütte. Da musste
+es immer von Zeit zu Zeit hinlaufen von allem anderen weg, was es
+auch sein mochte, denn so schön und wunderbar war gar nichts wie
+dieses tiefe, geheimnisvolle Tosen in den Wipfeln da droben; da
+stand Heidi unten und lauschte hinauf und konnte niemals genug
+bekommen, zu sehen und zu hören, wie das wehte und wogte und
+rauschte in den Bäumen mit großer Macht. Jetzt gab die Sonne nicht
+mehr heiß wie im Sommer, und Heidi suchte seine Strümpfe und Schuhe
+hervor und auch den Rock, denn nun wurde es immer frischer, und
+wenn das Heidi unter den Tannen stand, wurde es durchblasen wie ein
+dünnes Blättlein, aber es lief doch immer wieder hin und konnte
+nicht in der Hütte bleiben, wenn es das Windeswehen vernahm.
+
+Dann wurde es kalt, und der Peter hauchte in die Hände, wenn er
+früh am Morgen heraufkam, aber nicht lange; denn auf einmal fiel
+über Nacht ein tiefer Schnee, und am Morgen war die ganze Alm
+schneeweiß und kein einziges grünes Blättlein mehr zu sehen ringsum
+und um. Da kam der Geißenpeter nicht mehr mit seiner Herde, und
+Heidi schaute ganz verwundert durch das kleine Fenster, denn nun
+fing es wieder zu schneien an, und die dicken Flocken fielen fort
+und fort, bis der Schnee so hoch wurde, dass er bis ans Fenster
+hinaufreichte, und dann noch höher, dass man das Fenster gar nicht
+mehr aufmachen konnte und man ganz verpackt war in dem Häuschen.
+Das kam dem Heidi so lustig vor, dass es immer von einem Fenster
+zum anderen rannte, um zu sehen, wie es denn noch werden wollte und
+ob der Schnee noch die ganze Hütte zudecken wollte, dass man müsste
+ein Licht anzünden am hellen Tag. Es kam aber nicht so weit, und
+am anderen Tag ging der Großvater hinaus--denn nun schneite es
+nicht mehr--und schaufelte ums ganze Haus herum und warf große,
+große Schneehaufen aufeinander, dass es war wie hier ein Berg und
+dort ein Berg und dort ein Berg um die Hütte herum; aber nun waren
+die Fenster wieder frei und auch die Tür, und das war gut, denn als
+am Nachmittag Heidi und der Großvater am Feuer saßen, jedes auf
+seinem Dreifuß--denn der Großvater hatte längst auch einen für das
+Kind gezimmert--, da polterte auf einmal etwas heran und schlug
+immerzu gegen die Holzschwelle und machte endlich die Tür auf. Es
+war der Geißenpeter; er hatte aber nicht aus Unart so gegen die Tür
+gepoltert, sondern um seinen Schnee von den Schuhen abzuschlagen,
+die hoch hinauf davon bedeckt waren; eigentlich der ganze Peter war
+von Schnee bedeckt, denn er hatte sich durch die hohen Schichten so
+durchkämpfen müssen, dass ganze Massen an ihm hängen geblieben und
+auf ihm festgefroren waren, denn es war sehr kalt. Aber er hatte
+nicht nachgegeben, denn er wollte zu Heidi hinauf, er hatte es
+jetzt acht Tage lang nicht gesehen.
+
+"Guten Abend", sagte er im Eintreten, stellte sich gleich so nah
+als möglich ans Feuer heran und sagte weiter nichts mehr; aber sein
+ganzes Gesicht lachte vor Vergnügen, dass er da war. Heidi schaute
+ihn sehr verwundert an, denn nun er so nah am Feuer war, fing es
+überall an ihm zu tauen an, so dass der ganze Peter anzusehen war
+wie ein gelinder Wasserfall.
+
+"Nun, General, wie steht's?", sagte jetzt der Großvater. "Nun bist
+du ohne Armee und musst am Griffel nagen."
+
+"Warum muss er am Griffel nagen, Großvater?", fragte Heidi sogleich
+mit Wissbegierde.
+
+"Im Winter muss er in die Schule gehen", erklärte der Großvater;
+"da lernt man lesen und schreiben, und das geht manchmal schwer, da
+hilft's ein wenig nach, wenn man am Griffel nagt; ist's nicht wahr,
+General?"
+
+"Ja, 's ist wahr", bestätigte Peter.
+
+Jetzt war Heidis Teilnahme an der Sache wach geworden und es hatte
+sehr viele Fragen über die Schule und alles, was da begegnete und
+zu hören und zu sehen war, an den Peter zu richten, und da immer
+viel Zeit verfloss über einer Unterhaltung, an der Peter teilnehmen
+musste, so konnte er derweilen schön trocknen von oben bis unten.
+Es war immer eine große Anstrengung für ihn, seine Vorstellungen in
+die Worte zu bringen, die bedeuteten, was er meinte; aber diesmal
+hatte er's besonders streng, denn kaum hatte er eine Antwort
+zustande gebracht, so hatte ihm Heidi schon wieder zwei oder drei
+unerwartete Fragen zugeworfen und meistens solche, die einen ganzen
+Satz als Antwort erforderten.
+
+Der Großvater hatte sich ganz still verhalten während dieser
+Unterhaltung, aber es hatte ihm öfter ganz lustig um die Mundwinkel
+gezuckt, was ein Zeichen war, dass er zuhörte.
+
+"So, General, nun warst du im Feuer und brauchst Stärkung, komm,
+halt mit!" Damit stand der Großvater auf und holte das Abendessen
+aus dem Schrank hervor, und Heidi rückte die Stühle zum Tisch.
+Unterdessen war auch eine Bank an die Wand gezimmert worden vom
+Großvater; nun er nicht mehr allein war, hatte er da und dort
+allerlei Sitze zu zweien eingerichtet, denn Heidi hatte die Art,
+dass es sich überall nah zum Großvater hielt, wo er ging und stand
+und saß. So hatten sie alle drei gut Platz zum Sitzen und der
+Peter tat seine runden Augen ganz weit auf, als er sah, welch ein
+mächtiges Stück von dem schönen getrockneten Fleisch der Alm-Öhi
+ihm auf seine dicke Brotschnitte legte. So gut hatte es der Peter
+lange nicht gehabt. Als nun das vergnügte Mahl zu Ende war, fing
+es an zu dunkeln, und Peter schickte sich zur Heimkehr an. Als er
+nun "Gute Nacht" und "Dank Euch Gott" gesagt hatte und schon unter
+der Tür war, kehrte er sich noch einmal um und sagte: "Am Sonntag
+komm ich wieder, heut über acht Tag, und du solltest auch einmal
+zur Großmutter kommen, hat sie gesagt."
+
+Das war ein ganz neuer Gedanke für Heidi, dass es zu jemandem gehen
+sollte, aber er fasste auf der Stelle Boden bei ihm, und gleich am
+folgenden Morgen war sein Erstes, dass es erklärte: "Großvater,
+jetzt muss ich gewiss zu der Großmutter hinunter, sie erwartet mich."
+
+"Es hat zu viel Schnee", erwiderte der Großvater abwehrend.
+
+Aber das Vorhaben saß fest in Heidis Sinn, denn die Großmutter
+hatte es ja sagen lassen; so musste es sein. So verging kein Tag
+mehr, an dem das Kind nicht fünf- und sechsmal sagte: "Großvater,
+jetzt muss ich gewiss gehen, die Großmutter wartet ja immer auf
+mich."
+
+Am vierten Tag, als es draußen knisterte und knarrte vor Kälte bei
+jedem Schritt und die ganze große Schneedecke ringsum hart gefroren
+war, aber eine schöne Sonne ins Fenster guckte, gerade auf Heidis
+hohen Stuhl hin, wo es am Mittagsmahl saß, da begann es wieder sein
+Sprüchlein: "Heut muss ich aber gewiss zur Großmutter gehen, es
+währt ihr sonst zu lange." Da stand der Großvater auf vom
+Mittagstisch, stieg auf den Heuboden hinauf, brachte den dicken
+Sack herunter, der Heidis Bettdecke war, und sagte: "So komm!" In
+großer Freude hüpfte das Kind ihm nach in die glitzernde Schneewelt
+hinaus. In den alten Tannen war es nun ganz still und auf allen
+Ästen lag der weiße Schnee und in dem Sonnenschein schimmerte und
+funkelte es überall von den Bäumen in solcher Pracht, dass Heidi
+hoch aufsprang vor Entzücken und ein Mal übers andere ausrief:
+"Komm heraus, Großvater, komm heraus! Es ist lauter Silber und
+Gold an den Tannen!" Denn der Großvater war in den Schopf
+hineingegangen und kam nun heraus mit einem breiten Stoßschlitten:
+Da war vorn eine Stange angebracht, und von dem flachen Sitz konnte
+man die Füße nach vorn hinunterhalten und gegen den Schneeboden
+stemmen und der Fahrt die Weisung geben. Hier setzte sich der
+Großvater hin, nachdem er erst die Tannen ringsum mit Heidi hatte
+beschauen müssen, nahm das Kind auf seinen Schoß, wickelte es um
+und um in den Sack ein, damit es hübsch warm bleibe, und drückte es
+fest mit dem linken Arm an sich, denn das war nötig bei der
+kommenden Fahrt. Dann umfasste er mit der rechten Hand die Stange
+und gab einen Ruck mit beiden Füßen. Da schoss der Schlitten davon
+die Alm hinab mit einer solchen Schnelligkeit, dass das Heidi
+meinte, es fliege in der Luft wie ein Vogel, und laut aufjauchzte.
+Auf einmal stand der Schlitten still, gerade bei der Hütte vom
+Geißenpeter. Der Großvater stellte das Kind auf den Boden,
+wickelte es aus seiner Decke heraus und sagte:
+
+"So, nun geh hinein, und wenn es anfängt dunkel zu werden, dann
+komm wieder heraus und mach dich auf den Weg." Dann kehrte er um
+mit seinem Schlitten und zog ihn den Berg hinauf.
+
+Heidi machte die Tür auf und kam in einen kleinen Raum hinein, da
+sah es schwarz aus, und ein Herd war da und einige Schüsselchen auf
+einem Gestell, das war die kleine Küche; dann kam gleich wieder
+eine Tür, die machte Heidi wieder auf und kam in eine enge Stube
+hinein, denn das Ganze war nicht eine Sennhütte, wie beim Großvater,
+wo ein einziger, großer Raum war und oben ein Heuboden, sondern es
+war ein kleines, uraltes Häuschen, wo alles eng war und schmal und
+dürftig. Als Heidi in das Stübchen trat, stand es gleich vor dem
+Tisch, daran saß eine Frau und flickte an Peters Wams, denn dieses
+erkannte Heidi sogleich. In der Ecke saß ein altes, gekrümmtes
+Mütterchen und spann. Heidi wusste gleich, woran es war; es ging
+geradaus auf das Spinnrad zu und sagte: "Guten Tag, Großmutter,
+jetzt komme ich zu dir; hast du gedacht, es währe lang, bis ich
+komme?"
+
+Die Großmutter erhob den Kopf und suchte die Hand, die gegen sie
+ausgestreckt war, und als sie diese erfasst hatte, befühlte sie
+dieselbe erst eine Weile nachdenklich in der ihrigen, dann sagte
+sie: "Bist du das Kind droben beim Alm-Öhi, bist du das Heidi?"
+
+"Ja, ja", bestätigte das Kind, "jetzt gerade bin ich mit dem
+Großvater im Schlitten heruntergefahren."
+
+"Wie ist das möglich! Du hast ja eine so warme Hand! Sag,
+Brigitte, ist der Alm-Öhi selber mit dem Kind heruntergekommen?"
+
+Peters Mutter, die Brigitte, die am Tisch geflickt hatte, war
+aufgestanden und betrachtete nun mit Neugierde das Kind von oben
+bis unten; dann sagte sie: "Ich weiß nicht, Mutter, ob der Öhi
+selber heruntergekommen ist mit ihm; es ist nicht glaublich, das
+Kind wird's nicht recht wissen."
+
+Aber das Heidi sah die Frau sehr bestimmt an und gar nicht, als sei
+es im Ungewissen, und sagte: "Ich weiß ganz gut, wer mich in die
+Bettdecke gewickelt hat und mit mir heruntergeschlittelt ist; das
+ist der Großvater."
+
+"Es muss doch etwas daran sein, was der Peter so gesagt hat den
+Sommer durch vom Alm-Öhi, wenn wir dachten, er wisse es nicht
+recht", sagte die Großmutter; "wer hätte freilich auch glauben
+können, dass so etwas möglich sei; ich dachte, das Kind lebte keine
+drei Wochen da oben. Wie sieht es auch aus, Brigitte!" Diese hatte
+das Kind unterdessen so von allen Seiten angesehen, dass sie nun
+wohl berichten konnte, wie es aussah.
+
+"Es ist so fein gegliedert, wie die Adelheid war", gab sie zur
+Antwort; "aber es hat die schwarzen Augen und das krause Haar, wie
+es der Tobias hatte und auch der Alte droben; ich glaube, es sieht
+den zweien gleich."
+
+Unterdessen war Heidi müßig geblieben; es hatte ringsum geguckt und
+alles genau betrachtet, was da zu sehen war. Jetzt sagte es: "Sieh,
+Großmutter, dort schlägt es einen Laden immer hin und her, und der
+Großvater würde auf der Stelle einen Nagel einschlagen, dass er
+wieder fest hält, sonst schlägt er auch einmal eine Scheibe ein;
+sieh, sieh, wie er tut!"
+
+"Ach, du gutes Kind", sagte die Großmutter, "sehen kann ich es
+nicht, aber hören kann ich es wohl und noch viel mehr, nicht nur
+den Laden; da kracht und klappert es überall, wenn der Wind kommt,
+und er kann überall hereinblasen; es hält nichts mehr zusammen, und
+in der Nacht, wenn sie beide schlafen, ist es mir manchmal so angst
+und bang, es falle alles über uns zusammen und schlage uns alle
+drei tot; ach, und da ist kein Mensch, der etwas ausbessern könnte
+an der Hütte, der Peter versteht's nicht."
+
+"Aber warum kannst du denn nicht sehen, wie der Laden tut,
+Großmutter? Sieh jetzt wieder, dort, gerade dort." Und Heidi
+zeigte die Stelle deutlich mit dem Finger.
+
+"Ach Kind, ich kann ja gar nichts sehen, gar nichts, nicht nur den
+Laden nicht", klagte die Großmutter.
+
+"Aber wenn ich hinausgehe und den Laden ganz aufmache, dass es
+recht hell wird, kannst du dann sehen, Großmutter?"
+
+"Nein, nein, auch dann nicht, es kann mir niemand mehr hell machen."
+
+"Aber wenn du hinausgehst in den ganz weißen Schnee, dann wird es
+dir gewiss hell; komm nur mit mir, Großmutter, ich will dir's
+zeigen." Heidi nahm die Großmutter bei der Hand und wollte sie
+fortziehen, denn es fing an, ihm ganz ängstlich zumute zu werden,
+dass es ihr nirgends hell wurde.
+
+"Lass mich nur sitzen, du gutes Kind; es bleibt doch dunkel bei mir,
+auch im Schnee und in der Helle, sie dringt nicht mehr in meine
+Augen."
+
+"Aber dann doch im Sommer, Großmutter", sagte Heidi, immer
+ängstlicher nach einem guten Ausweg suchend; "weißt, wenn dann
+wieder die Sonne ganz heiß herunterbrennt und dann 'gute
+Nacht' sagt und die Berge alle feuerrot schimmern und alle
+gelben Blümlein glitzern, dann wird es dir wieder schön hell?"
+
+"Ach, Kind, ich kann sie nie mehr sehen, die feurigen Berge und die
+goldenen Blümlein droben, es wird mir nie mehr hell auf Erden, nie
+mehr."
+
+Jetzt brach Heidi in lautes Weinen aus. Voller Jammer schluchzte
+es fortwährend: "Wer kann dir denn wieder hell machen? Kann es
+niemand? Kann es gar niemand?"
+
+Die Großmutter suchte nun das Kind zu trösten, aber es gelang ihr
+nicht so bald. Heidi weinte fast nie; wenn es aber einmal anfing,
+dann konnte es auch fast nicht mehr aus der Betrübnis herauskommen.
+Die Großmutter hatte schon allerhand probiert, um das Kind zu
+beschwichtigen, denn es ging ihr zu Herzen, dass es so jämmerlich
+schluchzen musste. Jetzt sagte sie: "Komm, du gutes Heidi, komm
+hier heran, ich will dir etwas sagen. Siehst du, wenn man nichts
+sehen kann, dann hört man so gern ein freundliches Wort, und ich
+höre es gern, wenn du redest; komm, setz dich da nahe zu mir und
+erzähl mir etwas, was du machst da droben und was der Großvater
+macht, ich habe ihn früher gut gekannt; aber jetzt hab ich seit
+manchem Jahr nichts mehr gehört von ihm als durch den Peter, aber
+der sagt nicht viel."
+
+Jetzt kam dem Heidi ein neuer Gedanke; es wischte rasch seine
+Tränen weg und sagte tröstlich: "Wart nur, Großmutter, ich will
+alles dem Großvater sagen, er macht dir schon wieder hell und macht,
+dass die Hütte nicht zusammenfällt, er kann alles wieder in
+Ordnung machen."
+
+Die Großmutter schwieg stille, und nun fing Heidi an, ihr mit
+großer Lebendigkeit zu erzählen von seinem Leben mit dem Großvater
+und von den Tagen auf der Weide und von dem jetzigen Winterleben
+mit dem Großvater, was er alles aus Holz machen könne, Bänke und
+Stühle und schöne Krippen, wo man für das Schwänli und Bärli das
+Heu hineinlegen könnte, und einen neuen großen Wassertrog zum Baden
+im Sommer, und ein neues Milchschüsselchen und Löffel, und Heidi
+wurde immer eifriger im Beschreiben all der schönen Sachen, die so
+auf einmal aus einem Stück Holz herauskommen, und wie es dann neben
+dem Großvater stehe und ihm zuschaue und wie es das alles auch
+einmal machen wolle. Die Großmutter hörte mit großer
+Aufmerksamkeit zu, und von Zeit zu Zeit sagte sie dazwischen:
+"Hörst du's auch, Brigitte? Hörst du, was es vom Öhi sagt?"
+
+Mit einem Mal wurde die Erzählung unterbrochen durch ein großes
+Gepolter an der Tür, und herein stampfte der Peter, blieb aber
+sogleich stille stehen und sperrte seine runden Augen ganz
+erstaunlich weit auf, als er das Heidi erblickte, und schnitt die
+allerfreundlichste Grimasse, als es ihm sogleich zurief: "Guten
+Abend, Peter!"
+
+"Ist denn das möglich, dass der schon aus der Schule kommt", rief
+die Großmutter ganz verwundert aus. "So geschwind ist mir seit
+manchem Jahr kein Nachmittag vergangen! Guten Abend, Peterli, wie
+geht es mit dem Lesen?"
+
+"Gleich", gab der Peter zur Antwort.
+
+"So, so", sagte die Großmutter ein wenig seufzend, "ich habe
+gedacht, es gäbe vielleicht eine Änderung auf die Zeit, wenn du
+dann zwölf Jahre alt wirst gegen den Hornung hin."
+
+"Warum muss es eine Änderung geben, Großmutter?", fragte Heidi
+gleich mit Interesse.
+
+"Ich meine nur, dass er es etwa noch hätte lernen können", sagte
+die Großmutter, "das Lesen mein ich. Ich habe dort oben auf dem
+Gestell ein altes Gebetbuch, da sind schöne Lieder drin, die habe
+ich so lange nicht mehr gehört, und im Gedächtnis habe ich sie auch
+nicht mehr; da habe ich gehofft, wenn der Peterli nun lesen lerne,
+so könne er mir etwa ein gutes Lied lesen; aber er kann es nicht
+lernen, es ist ihm zu schwer."
+
+"Ich denke, ich muss Licht machen, es wird ja schon ganz dunkel",
+sagte jetzt Peters Mutter, die immer emsig am Wams fortgeflickt
+hatte; "der Nachmittag ist mir auch vergangen, ohne dass ich's
+merkte."
+
+Nun sprang Heidi von seinem Stühlchen auf, streckte eilig seine
+Hand aus und sagte: "Gut Nacht, Großmutter, ich muss auf der Stelle
+heim, wenn es dunkel wird", und hintereinander bot es dem Peter und
+seiner Mutter die Hand und ging der Tür zu. Aber die Großmutter
+rief besorgt: "Wart, wart, Heidi; so allein musst du nicht fort,
+der Peter muss mit dir, hörst du? Und gib Acht auf das Kind,
+Peterli, dass es nicht umfällt, und steh nicht still mit ihm, dass
+es nicht friert, hörst du? Hat es auch ein dickes Halstuch an?"
+
+"Ich habe gar kein Halstuch an", rief Heidi zurück, "aber ich will
+schon nicht frieren"; damit war es zur Tür hinaus und huschte so
+behend weiter, dass der Peter kaum nachkam. Aber die Großmutter
+rief jammernd: "Lauf ihm nach, Brigitte, lauf, das Kind muss ja
+erfrieren, so bei der Nacht, nimm mein Halstuch mit, lauf schnell!"
+Die Brigitte gehorchte. Die Kinder hatten aber kaum ein paar
+Schritte den Berg hinan getan, so sahen sie von oben herunter den
+Großvater kommen, und mit wenigen rüstigen Schritten stand er vor
+ihnen.
+
+"Recht so, Heidi, Wort gehalten!", sagte er, packte das Kind wieder
+fest in seine Decke ein, nahm es auf seinen Arm und stieg den Berg
+hinauf. Eben hatte die Brigitte noch gesehen, wie der Alte das
+Kind wohl verpackt auf seinen Arm genommen und den Rückweg
+angetreten hatte. Sie trat mit dem Peter wieder in die Hütte ein
+und erzählte der Großmutter mit Verwunderung, was sie gesehen hatte.
+Auch diese musste sich sehr verwundern und ein Mal über das
+andere sagen: "Gott Lob und Dank, dass er so ist mit dem Kind, Gott
+Lob und Dank! Wenn er es nur auch wieder zu mir lässt, das Kind
+hat mir so wohl gemacht! Was hat es für ein gutes Herz und wie
+kann es so kurzweilig erzählen!" Und immer wieder freute sich die
+Großmutter, und bis sie ins Bett ging, sagte sie immer wieder:
+"Wenn es nur auch wiederkommt! Jetzt habe ich doch noch etwas auf
+der Welt, auf das ich mich freuen kann!" Und die Brigitte stimmte
+jedes Mal ein, wenn die Großmutter wieder dasselbe sagte, und auch
+der Peter nickte jedes Mal zustimmend mit dem Kopf und zog seinen
+Mund weit auseinander vor Vergnüglichkeit und sagte: "Hab's schon
+gewusst."
+
+Unterdessen redete das Heidi in seinem Sack drinnen immerzu an den
+Großvater heran; da die Stimme aber nicht durch den achtfachen
+Umschlag dringen konnte und er daher kein Wort verstand, sagte er:
+"Wart ein wenig, bis wir daheim sind, dann sag's."
+
+Sobald er nun, oben angekommen, in seine Hütte eingetreten war und
+Heidi aus seiner Hülle herausgeschält hatte, sagte es: "Großvater,
+morgen müssen wir den Hammer und die großen Nägel mitnehmen und den
+Laden festschlagen bei der Großmutter und sonst noch viele Nägel
+einschlagen, denn es kracht und klappert alles bei ihr."
+
+"Müssen wir? So, das müssen wir? Wer hat dir das gesagt?", fragte
+der Großvater.
+
+"Das hat mir kein Mensch gesagt, ich weiß es sonst", entgegnete
+Heidi, "denn es hält alles nicht mehr fest und es ist der
+Großmutter angst und bang, wenn sie nicht schlafen kann und es so
+tut, und sie denkt: 'Jetzt fällt alles ein und gerade auf
+unsere Köpfe'; und der Großmutter kann man gar nicht mehr
+hell machen, sie weiß gar nicht, wie man es könnte, aber du kannst
+es schon, Großvater; denk nur, wie traurig es ist, wenn sie immer
+im Dunkeln ist und es ihr dann noch angst und bang ist und es kann
+ihr kein Mensch helfen als du! Morgen wollen wir gehen und ihr
+helfen; gelt, Großvater, wir wollen?"
+
+Heidi hatte sich an den Großvater angeklammert und schaute mit
+zweifellosem Vertrauen zu ihm auf. Der Alte schaute eine kleine
+Welle auf das Kind nieder, dann sagte er: "Ja, Heidi, wir wollen
+machen, dass es nicht mehr so klappert bei der Großmutter, das
+können wir; morgen tun wir's."
+
+Nun hüpfte das Kind vor Freude im ganzen Hüttenraum herum und rief
+ein Mal ums andere: "Morgen tun wir's! Morgen tun wir's!"
+
+Der Großvater hielt Wort. Am folgenden Nachmittag wurde dieselbe
+Schlittenfahrt ausgeführt. Wie am vorhergehenden Tag stellte der
+Alte das Kind vor der Tür der Geißenpeter-Hütte nieder und sagte:
+"Nun geh hinein, und wenn's Nacht wird, komm wieder." Dann legte er
+den Sack auf den Schlitten und ging um das Häuschen herum.
+
+Kaum hatte Heidi die Tür aufgemacht und war in die Stube
+hineingesprungen, so rief schon die Großmutter aus der Ecke: "Da
+kommt das Kind! Das ist das Kind!", und ließ vor Freude den Faden
+los und das Rädchen stehen und streckte beide Hände nach dem Kinde
+aus. Heidi lief zu ihr, rückte gleich das niedere Stühlchen ganz
+nahe an sie heran, setzte sich darauf und hatte der Großmutter
+schon wieder eine große Menge von Dingen zu erzählen und von ihr zu
+erfragen. Aber auf einmal ertönten so gewaltige Schläge an das
+Haus, dass die Großmutter vor Schrecken so zusammenfuhr, dass sie
+fast das Spinnrad umwarf, und zitternd ausrief: "Ach du mein Gott,
+jetzt kommt's, es fällt alles zusammen!" Aber Heidi hielt sie fest
+um den Arm und sagte tröstend: "Nein, nein, Großmutter, erschrick
+du nur nicht, das ist der Großvater mit dem Hammer, jetzt macht er
+alles fest, dass es dir nicht mehr angst und bang wird."
+
+"Ach, ist auch das möglich! Ist auch so etwas möglich! So hat uns
+doch der liebe Gott nicht ganz vergessen!", rief die Großmutter aus.
+"Hast du's gehört, Brigitte, was es ist, hörst du's? Wahrhaftig,
+es ist ein Hammer! Geh hinaus, Brigitte, und wenn es der Alm-Öhi
+ist, so sag ihm, er soll doch dann auch einen Augenblick
+hereinkommen, dass ich ihm auch danken kann."
+
+Die Brigitte ging hinaus. Eben schlug der Alm-Öhi mit großer
+Gewalt neue Kloben in die Mauer; Brigitte trat an ihn heran und
+sagte: "Ich wünsche Euch guten Abend, Öhi, und die Mutter auch, und
+wir haben Euch zu danken, dass Ihr uns einen solchen Dienst tut,
+und die Mutter möchte Euch noch gern eigens danken drinnen; sicher,
+es hätte uns das nicht gerad einer getan, wir wollen Euch auch dran
+denken, denn sicher--"
+
+"Macht's kurz", unterbrach sie der Alte hier; "was Ihr vom Alm-Öhi
+haltet, weiß ich schon. Geht nur wieder hinein; wo's fehlt, find
+ich selber."
+
+Brigitte gehorchte sogleich, denn der Öhi hatte eine Art, der man
+sich nicht leicht widersetzte. Er klopfte und hämmerte um das
+ganze Häuschen herum, stieg dann das schmale Treppchen hinauf bis
+unter das Dach, hämmerte weiter und weiter, bis er auch den letzten
+Nagel eingeschlagen, den er mitgebracht hatte. Unterdessen war
+auch schon die Dunkelheit hereingebrochen, und kaum war er
+heruntergestiegen und hatte seinen Schlitten hinter dem Geißenstall
+hervorgezogen, als auch schon Heidi aus der Tür trat und vom
+Großvater wie gestern verpackt auf den Arm genommen und der
+Schlitten nachgezogen wurde, denn allein da drauf sitzend, wäre die
+ganze Umhüllung vom Heidi abgefallen, und es wäre fast oder ganz
+erfroren. Das wusste der Großvater wohl und hielt das Kind ganz
+warm in seinem Arm.
+
+So ging der Winter dahin. In das freudlose Leben der blinden
+Großmutter war nach langen Jahren eine Freude gefallen und ihre
+Tage waren nicht mehr lang und dunkel, einer wie der andere, denn
+nun hatte sie immer etwas in Aussicht, nach dem sie verlangen
+konnte. Vom frühen Morgen an lauschte sie auch schon auf den
+trippelnden Schritt, und ging dann die Tür auf und das Kind kam
+wirklich dahergesprungen, dann rief sie jedes Mal in lauter Freude:
+"Gottlob! Da kommt's wieder!" Und Heidi setzte sich zu ihr und
+plauderte und erzählte so lustig von allem, was es wusste, dass es
+der Großmutter ganz wohl machte und ihr die Stunden dahingingen,
+sie merkte es nicht, und kein einziges Mal fragte sie mehr so wie
+früher: "Brigitte, ist der Tag noch nicht um?", sondern jedes Mal,
+wenn Heidi die Tür hinter sich schloss, sagte sie: "Wie war doch
+der Nachmittag so kurz; ist es nicht wahr, Brigitte?" Und diese
+sagte: "Doch sicher, es ist mir, wir haben erst die Teller vom
+Essen weggestellt." Und die Großmutter sagte wieder: "Wenn mir nur
+der Herrgott das Kind erhält und dem Alm-Öhi den guten Willen!
+Sieht es auch gesund aus, Brigitte?" Und jedes Mal erwiderte diese:
+"Es sieht aus wie ein Erdbeerapfel."
+
+Heidi hatte auch eine große Anhänglichkeit an die alte Großmutter,
+und wenn es ihm wieder in den Sinn kam, dass ihr gar niemand, auch
+der Großvater nicht mehr hell machen konnte, überkam es immer
+wieder eine große Betrübnis; aber die Großmutter sagte ihm immer
+wieder, dass sie am wenigsten davon leide, wenn es bei ihr sei, und
+Heidi kam auch an jedem schönen Wintertag heruntergefahren auf
+seinem Schlitten. Der Großvater hatte, ohne weitere Worte, so
+fortgefahren, hatte jedes Mal den Hammer und allerlei andere Sachen
+mit aufgeladen und manchen Nachmittag durch an dem Geißenpeter-Häuschen
+herumgeklopft. Das hatte aber auch seine gute Wirkung; es
+krachte und klapperte nicht mehr die ganzen Nächte durch, und die
+Großmutter sagte, so habe sie manchen Winter lang nicht mehr
+schlafen können, das wolle sie auch dem Öhi nie vergessen.
+
+
+
+
+Es kommt ein Besuch und dann noch einer, der mehr Folgen hat
+
+Schnell war der Winter und noch schneller der fröhliche Sommer
+darauf vergangen, und ein neuer Winter neigte sich schon wieder dem
+Ende zu. Heidi war glücklich und froh wie die Vöglein des Himmels
+und freute sich jeden Tag mehr auf die herannahenden Frühlingstage,
+da der warme Föhn durch die Tannen brausen und den Schnee wegfegen
+würde und dann die helle Sonne die blauen und gelben Blümlein
+hervorlocken und die Tage der Weide kommen würden, die für Heidi
+das Schönste mit sich brachten, was es auf Erden geben konnte.
+Heidi stand nun in seinem achten Jahre; es hatte vom Großvater
+allerlei Kunstgriffe erlernt: Mit den Geißen wusste es so gut
+umzugehen als nur einer, und Schwänli und Bärli liefen ihm nach wie
+treue Hündlein und meckerten gleich laut vor Freude, wenn sie nur
+seine Stimme hörten. In diesem Winter hatte Peter schon zweimal
+vom Schullehrer im Dörfli den Bericht gebracht, der Alm-Öhi solle
+das Kind, das bei ihm sei, nun in die Schule schicken, es habe
+schon mehr als das Alter und hätte schon im letzten Winter kommen
+sollen. Der Öhi hatte beide Male dem Schullehrer sagen lassen,
+wenn er etwas mit ihm wolle, so sei er daheim, das Kind schicke er
+nicht in die Schule. Diesen Bericht hatte der Peter richtig
+überbracht.
+
+Als die Märzsonne den Schnee an den Abhängen geschmolzen hatte und
+überall die weißen Schneeglöckchen hervorguckten im Tal und auf der
+Alm die Tannen ihre Schneelast abgeschüttelt hatten und die Äste
+wieder lustig wehten, da rannte Heidi vor Wonne immer hin und her
+von der Haustür zum Geißenstall und von da unter die Tannen und
+dann wieder hinein zum Großvater, um ihm zu berichten, wie viel
+größer das Stück grüner Boden unter den Bäumen wieder geworden sei,
+und gleich nachher kam es wieder nachzusehen, denn es konnte nicht
+erwarten, dass alles wieder grün wurde und der ganze schöne Sommer
+mit Grün und Blumen wieder auf die Alm gezogen kam.
+
+Als Heidi so am sonnigen Märzmorgen hin und her rannte und jetzt
+wohl zum zehnten Mal über die Türschwelle sprang, wäre es vor
+Schrecken fast rückwärts wieder hineingefallen, denn auf einmal
+stand es vor einem schwarzen alten Herrn, der es ganz ernsthaft
+anblickte. Als er aber seinen Schrecken sah, sagte er freundlich:
+"Du musst nicht erschrecken vor mir, die Kinder sind mir lieb. Gib
+mir die Hand! Du wirst das Heidi sein; wo ist der Großvater?"
+
+"Er sitzt am Tisch und schnitzt runde Löffel von Holz", erklärte
+Heidi und machte nun die Tür wieder auf.
+
+Es war der alte Herr Pfarrer aus dem Dörfli, der den Öhi vor Jahren
+gut gekannt hatte, als er noch unten wohnte und sein Nachbar war.
+Er trat in die Hütte ein, ging auf den Alten zu, der sich über sein
+Schnitzwerk hinbeugte, und sagte: "Guten Morgen, Nachbar."
+
+Verwundert schaute dieser in die Höhe, stand dann auf und
+entgegnete: "Guten Morgen dem Herrn Pfarrer." Dann stellte er
+seinen Stuhl vor den Herrn hin und fuhr fort: "Wenn der Herr
+Pfarrer einen Holzsitz nicht scheut, hier ist einer."
+
+Der Herr Pfarrer setzte sich. "Ich habe Euch lange nicht gesehen,
+Nachbar", sagte er dann.
+
+"Ich den Herrn Pfarrer auch nicht", war die Antwort.
+
+"Ich komme heut, um etwas mit Euch zu besprechen", fing der Herr
+Pfarrer wieder an; "ich denke, Ihr könnt schon wissen, was meine
+Angelegenheit ist, worüber ich mich mit Euch verständigen und hören
+will, was Ihr im Sinne habt."
+
+Der Herr Pfarrer schwieg und schaute auf Heidi, das an der Tür
+stand und die neue Erscheinung aufmerksam betrachtete.
+
+"Heidi, geh zu den Geißen", sagte der Großvater. "Kannst ein wenig
+Salz mitnehmen und bei ihnen bleiben, bis ich auch komme."
+
+Heidi verschwand sofort.
+
+"Das Kind hätte schon vor dem Jahr und noch sicherer diesen Winter
+die Schule besuchen sollen", sagte nun der Herr Pfarrer; "der
+Lehrer hat Euch mahnen lassen, Ihr habt keine Antwort darauf
+gegeben; was habt Ihr mit dem Kind im Sinn, Nachbar?"
+
+"Ich habe im Sinn, es nicht in die Schule zu schicken", war die
+Antwort.
+
+Verwundert schaute der Herr Pfarrer auf den Alten, der mit
+gekreuzten Armen auf seiner Bank saß und gar nicht nachgiebig
+aussah.
+
+"Was wollt Ihr aus dem Kinde machen?", fragte jetzt der Herr
+Pfarrer.
+
+"Nichts, es wächst und gedeiht mit den Geißen und den Vögeln; bei
+denen ist es ihm wohl und es lernt nichts Böses von ihnen."
+
+"Aber das Kind ist keine Geiß und kein Vogel, es ist ein
+Menschenkind. Wenn es nichts Böses lernt von diesen seinen
+Kameraden, so lernt es auch sonst nichts von ihnen; es soll aber
+etwas lernen, und die Zeit dazu ist da. Ich bin gekommen, es Euch
+zeitig zu sagen, Nachbar, damit Ihr Euch besinnen und einrichten
+könnt den Sommer durch. Dies war der letzte Winter, den das Kind
+so ohne allen Unterricht zugebracht hat; nächsten Winter kommt es
+zur Schule, und zwar jeden Tag."
+
+"Ich tu's nicht, Herr Pfarrer", sagte der Alte unentwegt.
+
+"Meint Ihr denn wirklich, es gebe kein Mittel, Euch zur Vernunft zu
+bringen, wenn Ihr so eigensinnig bei Eurem unvernünftigen Tun
+beharren wollt?", sagte der Herr Pfarrer jetzt ein wenig eifrig.
+"Ihr seid weit in der Welt herumgekommen und habt viel gesehen und
+vieles lernen können, ich hätte Euch mehr Einsicht zugetraut,
+Nachbar."
+
+"So", sagte jetzt der Alte und seine Stimme verriet, dass es auch
+in seinem Innern nicht mehr so ganz ruhig war; "und meint denn der
+Herr Pfarrer, ich werde wirklich im nächsten Winter am eisigen
+Morgen durch Sturm und Schnee ein zartgliedriges Kind den Berg
+hinunterschicken, zwei Stunden weit, und zur Nacht wieder
+heraufkommen lassen, wenn's manchmal tobt und tut, dass unsereiner
+fast in Wind und Schnee ersticken müsste, und dann ein Kind wie
+dieses? Und vielleicht kann sich der Herr Pfarrer auch noch der
+Mutter erinnern, der Adelheid; sie war mondsüchtig und hatte
+Zufälle, soll das Kind auch so etwas holen mit der Anstrengung? Es
+soll mir einer kommen und mich zwingen wollen! Ich gehe vor alle
+Gerichte mit ihm, und dann wollen wir sehen, wer mich zwingt!"
+
+"Ihr habt ganz Recht, Nachbar", sagte der Herr Pfarrer mit
+Freundlichkeit; "es wäre nicht möglich, das Kind von hier aus zur
+Schule zu schicken. Aber ich kann sehen, das Kind ist Euch lieb;
+tut um seinetwillen etwas, das Ihr schon lange hättet tun sollen,
+kommt wieder ins Dörfli herunter und lebt wieder mit den Menschen.
+Was ist das für ein Leben hier oben, allein und verbittert gegen
+Gott und Menschen! Wenn Euch einmal etwas zustoßen würde hier oben,
+wer würde Euch beistehen? Ich kann auch gar nicht begreifen, dass
+Ihr den Winter durch nicht halb erfriert in Eurer Hütte, und wie
+das zarte Kind es nur aushalten kann!"
+
+"Das Kind hat junges Blut und eine gute Decke, das möchte ich dem
+Herrn Pfarrer sagen, und dann noch eins: Ich weiß, wo es Holz gibt,
+und auch, wann die gute Zeit ist, es zu holen; der Herr Pfarrer
+darf in meinen Schopf hineingehen, es ist etwas drin, in meiner
+Hütte geht das Feuer nie aus den Winter durch. Was der Herr
+Pfarrer mit dem Herunterkommen meint, ist nicht für mich; die
+Menschen da unten verachten mich und ich sie auch, wir bleiben
+voneinander, so ist's beiden wohl."
+
+"Nein, nein, es ist Euch nicht wohl; ich weiß, was Euch fehlt",
+sagte der Herr Pfarrer mit herzlichem Ton. "Mit der Verachtung der
+Menschen dort unten ist es so schlimm nicht. Glaubt mir, Nachbar:
+Sucht Frieden mit Eurem Gott zu machen, bittet um seine Verzeihung,
+wo Ihr sie nötig habt, und dann kommt und seht, wie anders Euch die
+Menschen ansehen und wie wohl es Euch noch werden kann."
+
+Der Herr Pfarrer war aufgestanden, er hielt dem Alten die Hand hin
+und sagte nochmals mit Herzlichkeit: "Ich zähle darauf, Nachbar, im
+nächsten Winter seid Ihr wieder unten bei uns und wir sind die
+alten, guten Nachbarn. Es würde mir großen Kummer machen, wenn ein
+Zwang gegen Euch müsste angewandt werden; gebt mir jetzt die Hand
+darauf, dass ihr herunterkommt und wieder unter uns leben wollt,
+ausgesöhnt mit Gott und den Menschen."
+
+Der Alm-Öhi gab dem Herrn Pfarrer die Hand und sagte fest und
+bestimmt: "Der Herr Pfarrer meint es recht mit mir; aber was er
+erwartet, das tu ich nicht, ich sag es sicher und ohne Wandel: Das
+Kind schick ich nicht, und herunter komm ich nicht."
+
+"So helf Euch Gott!", sagte der Herr Pfarrer und ging traurig zur
+Tür hinaus und den Berg hinunter.
+
+Der Alm-Öhi war verstimmt. Als Heidi am Nachmittag sagte: "Jetzt
+wollen wir zur Großmutter", erwiderte er kurz: "Heut nicht." Den
+ganzen Tag sprach er nicht mehr, und am folgenden Morgen, als Heidi
+fragte: "Gehen wir heut zur Großmutter?", war er noch gleich kurz
+von Worten wie im Ton und sagte nur: "Wollen sehen." Aber noch
+bevor die Schüsselchen vom Mittagessen weggestellt waren, trat
+schon wieder ein Besuch zur Tür herein, es war die Base Dete. Sie
+hatte einen schönen Hut auf dem Kopf mit einer Feder darauf und ein
+Kleid, das alles mitfegte, was am Boden lag, und in der Sennhütte
+lag da allerlei, das nicht an ein Kleid gehörte. Der Öhi schaute
+sie an von oben bis unten und sagte kein Wort. Aber die Base Dete
+hatte im Sinn, ein sehr freundliches Gespräch zu führen, denn sie
+fing an zu rühmen und sagte, das Heidi sehe so gut aus, sie habe es
+fast nicht mehr gekannt und man könne schon sehen, dass es ihm
+nicht schlecht gegangen sei beim Großvater. Sie habe aber gewiss
+auch immer darauf gedacht, es ihm wieder abzunehmen, denn sie habe
+ja schon begreifen können, dass ihm das Kleine im Weg sein müsse,
+aber in jenem Augenblick habe sie es ja nirgends sonst hintun
+können; seitdem aber habe sie Tag und Nacht nachgesonnen, wo sie
+das Kind etwa unterbringen könnte, und deswegen komme sie auch
+heute, denn auf einmal habe sie etwas vernommen, da könne das Heidi
+zu einem solchen Glück kommen, dass sie es gar nicht habe glauben
+wollen. Dann sei sie aber auf der Stelle der Sache nachgegangen,
+und nun könne sie sagen, es sei alles so gut wie in Richtigkeit,
+das Heidi komme zu einem Glück wie unter Hunderttausenden nicht
+eines. Furchtbar reiche Verwandte von ihrer Herrschaft, die fast
+im schönsten Haus in ganz Frankfurt wohnen, die haben ein einziges
+Töchterlein, das müsse immer im Rollstuhl sitzen, denn es sei auf
+einer Seite lahm und sonst nicht gesund, und so sei es fast immer
+allein und müsse auch allen Unterricht allein nehmen bei einem
+Lehrer, und das sei ihm so langweilig, und auch sonst hätte es gern
+eine Gespielin im Haus, und da haben sie so davon geredet bei ihrer
+Herrschaft, und wenn man nur so ein Kind finden könnte, wie die
+Dame beschrieb, die in dem Haus die Wirtschaft führte, denn ihre
+Herrschaft habe viel Mitgefühl und möchte dem kranken Töchterlein
+eine gute Gespielin gönnen. Die Wirtschaftsdame hatte nun gesagt,
+sie wolle so ein recht unverdorbenes, so ein eigenartiges, das
+nicht sei wie alle, die man so alle Tage sehe. Da habe sie selbst
+denn auf der Stelle an das Heidi gedacht und sei gleich hingelaufen
+und habe der Dame alles so beschrieben vom Heidi und so von seinem
+Charakter, und die Dame habe sogleich zugesagt. Nun könne gar kein
+Mensch wissen, was dem Heidi alles an Glück und Wohlfahrt
+bevorstehe, denn wenn es dann einmal dort sei und die Leute es gern
+mögen und es etwa mit dem eigenen Töchterchen etwas geben sollte--
+man könne ja nie wissen, es sei doch so schwächlich--, und wenn
+eben die Leute doch nicht ohne ein Kind bleiben wollten, so könnte
+ja das unerhörteste Glück--
+
+"Bist du bald fertig?", unterbrach hier der Öhi, der bis dahin kein
+Wort dazwischengeredet hatte.
+
+"Pah", gab die Dete zurück und warf den Kopf auf, "Ihr tut gerade,
+wie wenn ich Euch das ordinärste Zeug gesagt hätte, und ist doch
+durchs ganze Prättigau auf und ab nicht einer, der nicht Gott im
+Himmel dankte, wenn ich ihm die Nachricht brächte, die ich Euch
+gebracht habe."
+
+"Bring sie, wem du willst, ich will nichts davon", sagte der Öhi
+trocken.
+
+Aber jetzt fuhr die Dete auf wie eine Rakete und rief: "Ja, wenn
+Ihr es so meint, dann will ich Euch denn schon auch sagen, wie ich
+es meine: Das Kind ist jetzt acht Jahre alt und kann nichts und
+weiß nichts, und Ihr wollt es nichts lernen lassen; Ihr wollt es in
+keine Schule und in keine Kirche schicken, das haben sie mir gesagt
+unten im Dörfli, und es ist meiner einzigen Schwester Kind; ich hab
+es zu verantworten, wie's mit ihm geht, und wenn ein Kind ein Glück
+erlangen kann wie jetzt das Heidi, so kann ihm nur einer davor sein,
+dem es um alle Leute gleich ist und der keinem etwas Gutes wünscht.
+Aber ich gebe nicht nach, das sag ich Euch, und die Leute habe
+ich alle für mich, es ist kein Einziger unten im Dörfli, der nicht
+mir hilft und gegen Euch ist, und wenn Ihr's etwa wollt vor Gericht
+kommen lassen, so besinnt Euch wohl, Öhi; es gibt noch Sachen, die
+Euch dann könnten aufgewärmt werden, die Ihr nicht gern hörtet,
+denn wenn man's einmal mit dem Gericht zu tun hat, so wird noch
+manches aufgespürt, an das keiner mehr denkt."
+
+"Schweig!", donnerte der Öhi heraus, und seine Augen flammten wie
+Feuer. "Nimm's und verdirb's! Komm mir nie mehr vor Augen mit ihm,
+ich will's nie sehen mit dem Federhut auf dem Kopf und Worten im
+Mund wie dich heut!"
+
+Der Öhi ging mit großen Schritten zur Tür hinaus.
+
+"Du hast den Großvater bös gemacht", sagte Heidi und blitzte mit
+seinen schwarzen Augen die Base wenig freundlich an.
+
+"Er wird schon wieder gut, komm jetzt", drängte die Base; "wo sind
+deine Kleider?"
+
+"Ich komme nicht", sagte Heidi.
+
+"Was sagst du?", fuhr die Base auf; dann änderte sie den Ton ein
+wenig und fuhr halb freundlich, halb ärgerlich weiter: "Komm, komm,
+du verstehst's nicht besser, du wirst es so gut haben, wie du gar
+nicht weißt." Dann ging sie an den Schrank, nahm Heidis Sachen
+hervor und packte sie zusammen: "So, komm jetzt, nimm dort dein
+Hütchen, es sieht nicht schön aus, aber es ist gleich für einmal,
+setz es auf und mach, dass wir fortkommen."
+
+"Ich komme nicht", wiederholte Heidi.
+
+"Sei doch nicht so dumm und störrig wie eine Geiß; denen hast du's
+abgesehen. Begreif doch nur, jetzt ist der Großvater bös, du
+hast's ja gehört, dass er gesagt hat, wir sollen ihm nicht mehr vor
+Augen kommen, er will es nun haben, dass du mit mir gehst, und
+jetzt musst du ihn nicht noch böser machen. Du weißt gar nicht,
+wie schön es ist in Frankfurt und was du alles sehen wirst, und
+gefällt es dir dann nicht, so kannst du wieder heimgehen; bis dahin
+ist der Großvater dann wieder gut."
+
+"Kann ich gerad wieder umkehren und heimkommen heut Abend?", fragte
+Heidi.
+
+"Ach was, komm jetzt! Ich sag dir's ja, du kannst wieder heim,
+wann du willst. Heut gehen wir bis nach Maienfeld hinunter und
+morgen früh sitzen wir in der Eisenbahn, mit der bist du nachher im
+Augenblick wieder daheim, das geht wie geflogen."
+
+Die Base Dete hatte das Bündelchen Kleider auf den Arm und Heidi an
+die Hand genommen; so gingen sie den Berg hinunter.
+
+Da es noch nicht Weidezeit war, ging der Peter noch zur Schule ins
+Dörfli hinunter, oder sollte doch dahin gehen; aber er machte hier
+und da einen Tag Ferien, denn er dachte, es nütze nichts, dahin zu
+gehen, das Lesen brauche man auch nicht, und ein wenig herumfahren
+und große Ruten suchen nütze etwas, denn diese könne man brauchen.
+So kam er eben in der Nähe seiner Hütte von der Seite her mit
+sichtlichem Erfolg seiner heutigen Bestrebungen, denn er trug ein
+ungeheures Bündel langer, dicker Haselruten auf der Achsel. Er
+stand still und starrte die zwei Entgegenkommenden an, bis sie bei
+ihm ankamen; dann sagte er: "Wo willst du hin?"
+
+"Ich muss nur geschwind nach Frankfurt mit der Base", antwortete
+Heidi, "aber ich will zuerst noch zur Großmutter hinein, sie wartet
+auf mich."
+
+"Nein, nein, keine Rede, es ist schon viel zu spät", sagte die Base
+eilig und hielt das fortstrebende Heidi fest bei der Hand; "du
+kannst dann gehen, wenn du wieder heimkommst, komm jetzt!" Damit
+zog die Base das Heidi fest weiter und ließ es nicht mehr los, denn
+sie fürchtete, es könne drinnen dem Kinde wieder in den Sinn kommen,
+es wolle nicht fort, und die Großmutter könne ihm helfen wollen.
+Der Peter sprang in die Hütte hinein und schlug mit seinem ganzen
+Bündel Ruten so furchtbar auf den Tisch los, dass alles erzitterte
+und die Großmutter vor Schrecken vom Spinnrad aufsprang und laut
+aufjammerte. Der Peter hatte sich Luft machen müssen.
+
+"Was ist's denn? Was ist's denn?", rief angstvoll die Großmutter,
+und die Mutter, die am Tisch gesessen hatte und fast aufgeflogen
+war bei dem Knall, sagte in angeborener Langmut: "Was hast, Peterli;
+warum tust so wüst?"
+
+"Weil sie das Heidi mitgenommen hat", erklärte Peter.
+
+"Wer? Wer? Wohin, Peterli, wohin?", fragte die Großmutter jetzt
+mit neuer Angst; sie musste aber schnell erraten haben, was vorging,
+die Tochter hatte ihr ja vor kurzem berichtet, sie habe die Dete
+gesehen zum Alm-Öhi hinaufgehen. Ganz zitternd vor Eile machte die
+Großmutter das Fenster auf und rief flehentlich hinaus: "Dete, Dete,
+nimm uns das Kind nicht weg! Nimm uns das Heidi nicht!"
+
+Die beiden Laufenden hörten die Stimme, und die Dete mochte wohl
+ahnen, was sie rief, denn sie fasste das Kind noch fester und lief,
+was sie konnte. Heidi widerstrebte und sagte: "Die Großmutter hat
+gerufen, ich will zu ihr."
+
+Aber das wollte die Base gerade nicht und beschwichtigte das Kind,
+es solle nur schnell kommen jetzt, dass sie nicht noch zu spät
+kämen, sondern dass sie morgen weiterreisen könnten, es könnte ja
+dann sehen, wie es ihm gefallen werde in Frankfurt, dass es gar nie
+mehr fortwolle dort; und wenn es doch heim wolle, so könne es ja
+gleich gehen und dann erst noch der Großmutter etwas mit
+heimbringen, was sie freue. Das war eine Aussicht für Heidi, die
+ihm gefiel. Es fing an zu laufen ohne Widerstreben.
+
+"Was kann ich der Großmutter heimbringen?", fragte es nach einer
+Welle.
+
+"Etwas Gutes", sagte die Base, "so schöne, weiche Weißbrötchen, da
+wird sie Freud haben daran, sie kann ja doch das harte, schwarze
+Brot fast nicht mehr essen."
+
+"Ja, sie gibt es immer wieder dem Peter und sagt: 'Es ist mir
+zu hart'; das habe ich selbst gesehen", bestätigte das Heidi.
+"So wollen wir geschwind gehen, Base Dete; dann kommen wir
+vielleicht heut noch nach Frankfurt, dass ich bald wieder da bin
+mit den Brötchen."
+
+Heidi fing nun so zu rennen an, dass die Base mit ihrem Bündel auf
+dem Arm fast nicht mehr nachkam. Aber sie war sehr froh, dass es
+so rasch ging, denn nun kamen sie gleich zu den ersten Häusern vom
+Dörfli, und da konnte es wieder allerhand Reden und Fragen geben,
+die das Heidi wieder auf andere Gedanken bringen konnten. So lief
+sie stracks durch, und das Kind zog dabei noch so stark an ihrer
+Hand, dass alle Leute es sehen konnten, wie sie um des Kindes
+willen so pressieren musste. So rief sie auf alle die Fragen und
+Anrufungen, die ihr aus allen Fenstern und Türen entgegentönten,
+nur immer zurück: "Ihr seht's ja, ich kann jetzt nicht still stehen,
+das Kind pressiert und wir haben noch weit."
+
+"Nimmst's mit?"--"Läuft's dem Alm-Öhi fort?"--"Es ist nur ein
+Wunder, dass es noch am Leben ist!"--"Und dazu noch so rotbackig!"
+So tönte es von allen Seiten, und die Dete war froh, dass sie ohne
+Verzug durchkam und keinen Bescheid geben musste und auch Heidi
+kein Wort sagte, sondern nur immer vorwärts strebte in großem Eifer.
+--
+
+Von dem Tage an machte der Alm-Öhi, wenn er herunterkam und durchs
+Dörfli ging, ein böseres Gesicht als je zuvor. Er grüßte keinen
+Menschen und sah mit seinem Käsereff auf dem Rücken, mit dem
+ungeheuren Stock in der Hand und den zusammengezogenen dicken
+Brauen so drohend aus, dass die Frauen zu den kleinen Kindern
+sagten: "Gib Acht! Geh dem Alm-Öhi aus dem Weg, er könnte dir noch
+etwas tun!"
+
+Der Alte verkehrte mit keinem Menschen im Dörfli, er ging nur durch
+und weit ins Tal hinab, wo er seinen Käse verhandelte und seine
+Vorräte an Brot und Fleisch einnahm. Wenn er so vorbeigegangen war
+im Dörfli, dann standen hinter ihm die Leute alle in Trüppchen
+zusammen, und jeder wusste etwas Besonderes, was er am Alm-Öhi
+gesehen hatte, wie er immer wilder aussehe und dass er jetzt keinem
+Menschen mehr auch nur einen Gruß abnehme, und alle kamen darin
+überein, dass es ein großes Glück sei, dass das Kind habe
+entweichen können, und man habe auch wohl gesehen, wie es
+fortgedrängt habe, so, als fürchte es, der Alte sei schon hinter
+ihm drein, um es zurückzuholen. Nur die blinde Großmutter hielt
+unverrückt zum Alm-Öhi, und wer zu ihr heraufkam, um bei ihr
+spinnen zu lassen oder das Gesponnene zu holen, dem erzählte sie es
+immer wieder, wie gut und sorgfältig der Alm-Öhi mit dem Kind
+gewesen sei und was er an ihr und der Tochter getan habe, wie
+manchen Nachmittag er an ihrem Häuschen herumgeflickt, das ohne
+seine Hilfe gewiss schon zusammengefallen wäre. So kamen denn auch
+diese Berichte ins Dörfli herunter; aber die meisten, die sie
+vernahmen, sagten dann, die Großmutter sei vielleicht zu alt zum
+Begreifen, sie werde es wohl nicht recht verstanden haben, sie
+werde wohl auch nicht mehr gut hören, weil sie nichts mehr sehe.
+
+Der Alm-Öhi zeigte sich jetzt nicht mehr bei den Geißenpeters; es
+war gut, dass er die Hütte so fest zusammengenagelt hatte, denn sie
+blieb für lange Zeit ganz unberührt. Jetzt begann die blinde
+Großmutter ihre Tage wieder mit Seufzen, und nicht einer verstrich,
+an dem sie nicht klagend sagte: "Ach, mit dem Kind ist alles Gute
+und alle Freude von uns genommen, und die Tage sind so leer! Wenn
+ich nur noch einmal das Heidi hören könnte, eh ich sterben muss!"
+
+
+
+
+Ein neues Kapitel und lauter neue Dinge
+
+Im Hause des Herrn Sesemann in Frankfurt lag das kranke Töchterlein,
+Klara, in dem bequemen Rollstuhl, in welchem es den ganzen Tag
+sich aufhielt und von einem Zimmer ins andere gestoßen wurde.
+Jetzt saß es im so genannten Studierzimmer, das neben der großen
+Essstube lag und wo vielerlei Gerätschaften herumstanden und -lagen,
+die das Zimmer wohnlich machten und zeigten, dass man hier
+gewöhnlich sich aufhielt. An dem großen, schönen Bücherschrank mit
+den Glastüren konnte man sehen, woher das Zimmer seinen Namen hatte
+und dass es wohl der Raum war, wo dem lahmen Töchterchen der
+tägliche Unterricht erteilt wurde.
+
+Klara hatte ein blasses, schmales Gesichtchen, aus dem zwei milde,
+blaue Augen herausschauten, die in diesem Augenblick auf die große
+Wanduhr gerichtet waren, die heute besonders langsam zu gehen
+schien, denn Klara, die sonst kaum ungeduldig wurde, sagte jetzt
+mit ziemlicher Ungeduld in der Stimme: "Ist es denn immer noch
+nicht Zeit, Fräulein Rottenmeier?"
+
+Die Letztere saß sehr aufrecht an einem kleinen Arbeitstisch und
+stickte. Sie hatte eine geheimnisvolle Hülle um sich, einen großen
+Kragen oder Halbmantel, welcher der Persönlichkeit einen
+feierlichen Anstrich verlieh, der noch erhöht wurde durch eine Art
+von hoch gebauter Kuppel, die sie auf dem Kopf trug. Fräulein
+Rottenmeier war schon seit mehreren Jahren, seitdem die Dame des
+Hauses gestorben war, im Hause Sesemann, führte die Wirtschaft und
+hatte die Oberaufsicht über das ganze Dienstpersonal.
+
+Herr Sesemann war meistens auf Reisen, überließ daher dem Fräulein
+Rottenmeier das ganze Haus, nur mit der Bedingung, dass sein
+Töchterlein in allem eine Stimme haben solle und nichts gegen
+dessen Wunsch geschehen dürfe.
+
+Während oben Klara zum zweiten Mal mit Zeichen der Ungeduld
+Fräulein Rottenmeier befragte, ob die Zeit noch nicht da sei, da
+die Erwarteten erscheinen konnten, stand unten vor der Haustür die
+Dete mit Heidi an der Hand und fragte den Kutscher Johann, der eben
+vom Wagen gestiegen war, ob sie wohl Fräulein Rottenmeier so spät
+noch stören dürfe.
+
+"Das ist nicht meine Sache", brummte der Kutscher; "klingeln Sie
+den Sebastian herunter, drinnen im Korridor."
+
+Dete tat, wie ihr geheißen war, und der Bediente des Hauses kam die
+Treppe herunter mit großen, runden Knöpfen auf seinem Aufwärterrock
+und fast ebenso großen runden Augen im Kopfe.
+
+"Ich wollte fragen, ob ich um diese Zeit Fräulein Rottenmeier noch
+stören dürfe", brachte die Dete wieder an.
+
+"Das ist nicht meine Sache", gab der Bediente zurück; "klingeln Sie
+die Jungfer Tinette herunter an der anderen Klingel", und ohne
+weitere Auskunft verschwand der Sebastian.
+
+Dete klingelte wieder. Jetzt erschien auf der Treppe die Jungfer
+Tinette mit einem blendend weißen Deckelchen auf der Mitte des
+Kopfes und einer spöttischen Miene auf dem Gesicht.
+
+"Was ist?", fragte sie auf der Treppe, ohne herunterzukommen. Dete
+wiederholte ihr Gesuch. Jungfer Tinette verschwand, kam aber bald
+wieder und rief von der Treppe herunter: "Sie sind erwartet!"
+
+Jetzt stieg Dete mit Heidi die Treppe hinauf und trat, der Jungfer
+Tinette folgend, in das Studierzimmer ein. Hier blieb Dete höflich
+an der Tür stehen, Heidi immer fest an der Hand haltend, denn sie
+war gar nicht sicher, was dem Kinde etwa begegnen konnte auf diesem
+so fremden Boden.
+
+Fräulein Rottenmeier erhob sich langsam von ihrem Sitz und kam
+näher, um die angekommene Gespielin der Tochter des Hauses zu
+betrachten. Der Anblick schien sie nicht zu befriedigen. Heidi
+hatte sein einfaches Baumwollröckchen an und sein altes,
+zerdrücktes Strohhütchen auf dem Kopf. Das Kind guckte sehr
+harmlos darunter hervor und betrachtete mit unverhehlter
+Verwunderung den Turmbau auf dem Kopf der Dame.
+
+"Wie heißest du?", fragte Fräulein Rottenmeier, nachdem auch sie
+einige Minuten lang forschend das Kind angesehen hatte, das kein
+Auge von ihr verwandte.
+
+"Heidi", antwortete es deutlich und mit klangvoller Stimme.
+
+"Wie? Wie? Das soll doch wohl kein christlicher Name sein? So
+bist du doch nicht getauft worden. Welchen Namen hast du in der
+Taufe erhalten?", fragte Fräulein Rottenmeier weiter.
+
+"Das weiß ich jetzt nicht mehr", entgegnete Heidi.
+
+"Ist das eine Antwort!", bemerkte die Dame mit Kopfschütteln.
+"Jungfer Dete, ist das Kind einfältig oder schnippisch?"
+
+"Mit Erlaubnis und wenn es die Dame gestattet, so will ich gern
+reden für das Kind, denn es ist sehr unerfahren", sagte die Dete,
+nachdem sie dem Heidi heimlich einen kleinen Stoß gegeben hatte für
+die unpassende Antwort. "Es ist aber nicht einfältig und auch
+nicht schnippisch, davon weiß es gar nichts; es meint alles so, wie
+es redet. Aber es ist heut zum ersten Mal in einem Herrenhaus und
+kennt die gute Manier nicht; aber es ist willig und nicht
+ungelehrig, wenn die Dame wollte gütige Nachsicht haben. Es ist
+Adelheid getauft worden, wie seine Mutter, meine Schwester selig."
+
+"Nun wohl, dies ist doch ein Name, den man sagen kann", bemerkte
+Fräulein Rottenmeier. "Aber, Jungfer Dete, ich muss Ihnen doch
+sagen, dass mir das Kind für sein Alter sonderbar vorkommt. Ich
+habe Ihnen mitgeteilt, die Gespielin für Fräulein Klara müsste in
+ihrem Alter sein, um denselben Unterricht mit ihr zu verfolgen und
+überhaupt ihre Beschäftigungen zu teilen. Fräulein Klara hat das
+zwölfte Jahr zurückgelegt; wie alt ist das Kind?"
+
+"Mit Erlaubnis der Dame", fing die Dete wieder beredt an, "es war
+mir eben selber nicht mehr so ganz gegenwärtig, wie alt es sei; es
+ist wirklich ein wenig jünger, viel trifft es nicht an, ich kann's
+so ganz genau nicht sagen, es wird so um das zehnte Jahr, oder so
+noch etwas dazu sein, nehm ich an."
+
+"Jetzt bin ich acht, der Großvater hat's gesagt", erklärte Heidi.
+Die Base stieß es wieder an, aber Heidi hatte keine Ahnung, warum,
+und wurde keineswegs verlegen.
+
+"Was, erst acht Jahre alt?", rief Fräulein Rottenmeier mit einiger
+Entrüstung aus. "Vier Jahre zu wenig! Was soll das geben! Und
+was hast du denn gelernt? Was hast du für Bücher gehabt bei deinem
+Unterricht?"
+
+"Keine", sagte Heidi.
+
+"Wie? Was? Wie hast du denn lesen gelernt?", fragte die Dame
+weiter.
+
+"Das hab ich nicht gelernt und der Peter auch nicht", berichtete
+Heidi.
+
+"Barmherzigkeit! Du kannst nicht lesen? Du kannst wirklich nicht
+lesen!", rief Fräulein Rottenmeier im höchsten Schrecken aus. "Ist
+es die Möglichkeit, nicht lesen! Was hast du denn aber gelernt?"
+
+"Nichts", sagte Heidi der Wahrheit gemäß.
+
+"Jungfer Dete", sagte Fräulein Rottenmeier nach einigen Minuten, in
+denen sie nach Fassung rang, "es ist alles nicht nach Abrede, wie
+konnten Sie mir dieses Wesen zuführen?" Aber die Dete ließ sich
+nicht so bald einschüchtern; sie antwortete herzhaft: "Mit
+Erlaubnis der Dame, das Kind ist gerade, was ich dachte, dass sie
+haben wolle; die Dame hat mir beschrieben, wie es sein müsse, so
+ganz apart und nicht wie die anderen, und so musste ich das Kleine
+nehmen, denn die Größeren sind bei uns dann nicht mehr so apart,
+und ich dachte, dieses passe wie gemacht auf die Beschreibung.
+Jetzt muss ich aber gehen, denn meine Herrschaft erwartet mich; ich
+will, wenn's meine Herrschaft erlaubt, bald wieder kommen und
+nachsehen, wie es geht mit ihm." Mit einem Knicks war die Dete zur
+Tür hinaus und die Treppe hinunter mit schnellen Schritten.
+Fräulein Rottenmeier stand einen Augenblick noch da, dann lief sie
+der Dete nach; es war ihr wohl in den Sinn gekommen, dass sie noch
+eine Menge von Dingen mit der Base besprechen wollte, wenn das Kind
+wirklich dableiben sollte, und da war es doch nun einmal und, wie
+sie bemerkte, hatte die Base fest im Sinn, es dazulassen.
+
+Heidi stand noch auf demselben Platz an der Tür, wo es von Anfang
+an gestanden hatte. Bis dahin hatte Klara von ihrem Sessel aus
+schweigend allem zugesehen. Jetzt winkte sie Heidi: "Komm hierher!"
+
+Heidi trat an den Rollstuhl heran.
+
+"Willst du lieber Heidi heißen oder Adelheid?", fragte Klara.
+
+"Ich heiße nur Heidi und sonst nichts", war Heidis Antwort.
+
+"So will ich dich immer so nennen", sagte Klara; "der Name gefällt
+mir für dich, ich habe ihn aber nie gehört, ich habe aber auch nie
+ein Kind gesehen, das so aussieht wie du. Hast du immer nur so
+kurzes, krauses Haar gehabt?"
+
+"Ja, ich denk's", gab Heidi zur Antwort.
+
+"Bist du gern nach Frankfurt gekommen?", fragte Klara weiter.
+
+"Nein, aber morgen geh ich dann wieder heim und bringe der
+Großmutter weiße Brötchen!", erklärte Heidi.
+
+"Du bist aber ein kurioses Kind!", fuhr jetzt Klara auf. "Man hat
+dich ja express nach Frankfurt kommen lassen, dass du bei mir
+bleibest und die Stunden mit mir nehmest, und siehst du, es wird
+nun ganz lustig, weil du gar nicht lesen kannst, nun kommt etwas
+ganz Neues in den Stunden vor. Sonst ist es manchmal so
+schrecklich langweilig und der Morgen will gar nicht zu Ende kommen.
+Denn siehst du, alle Morgen um zehn Uhr kommt der Herr Kandidat,
+und dann fangen die Stunden an und dauern bis um zwei Uhr, das ist
+so lange. Der Herr Kandidat nimmt auch manchmal das Buch ganz nahe
+ans Gesicht heran, so, als wäre er auf einmal ganz kurzsichtig
+geworden, aber er gähnt nur furchtbar hinter dem Buch, und Fräulein
+Rottenmeier nimmt auch von Zeit zu Zeit ihr großes Taschentuch
+hervor und hält es vor das ganze Gesicht hin, so, als sei sie ganz
+ergriffen von etwas, das wir lesen; aber ich weiß recht gut, dass
+sie nur ganz schrecklich gähnt dahinter, und dann sollte ich auch
+so stark gähnen und muss es immer hinunterschlucken, denn wenn ich
+nur ein einziges Mal herausgähne, so holt Fräulein Rottenmeier
+gleich den Fischtran und sagt, ich sei wieder schwach, und
+Fischtran nehmen ist das Allerschrecklichste, da will ich doch
+lieber Gähnen schlucken. Aber nun wird's viel kurzweiliger, da
+kann ich dann zuhören, wie du lesen lernst."
+
+Heidi schüttelte ganz bedenklich mit dem Kopf, als es vom
+Lesenlernen hörte.
+
+"Doch, doch, Heidi, natürlich musst du lesen lernen, alle Menschen
+müssen, und der Herr Kandidat ist sehr gut, er wird niemals böse,
+und er erklärt dir dann schon alles. Aber siehst du, wenn er etwas
+erklärt, dann verstehst du nichts davon; dann musst du nur warten
+und gar nichts sagen, sonst erklärt er dir noch viel mehr und du
+verstehst es noch weniger. Aber dann nachher, wenn du etwas
+gelernt hast und es weißt, dann verstehst du schon, was er gemeint
+hat."
+
+Jetzt kam Fräulein Rottenmeier wieder ins Zimmer zurück; sie hatte
+Dete nicht mehr zurückrufen können und war sichtlich aufgeregt
+davon, denn sie hatte dieser eigentlich gar nicht einlässlich sagen
+können, was alles nicht nach Abrede sei bei dem Kinde, und da sie
+nicht wusste, was nun zu tun sei, um ihren Schritt rückgängig zu
+machen, war sie umso aufgeregter, denn sie selbst hatte die ganze
+Sache angestiftet. Sie lief nun vom Studierzimmer ins Esszimmer
+hinüber, und von da wieder zurück, und kehrte dann unmittelbar
+wieder um und fuhr hier den Sebastian an, der seine runden Augen
+eben nachdenklich über den gedeckten Tisch gleiten ließ, um zu
+sehen, ob sein Werk keinen Mangel habe.
+
+"Denk Er morgen Seine großen Gedanken fertig und mach Er, dass man
+heut noch zu Tische komme."
+
+Mit diesen Worten fuhr Fräulein Rottenmeier an Sebastian vorbei und
+rief nach der Tinette mit so wenig einladendem Ton, dass die
+Jungfer Tinette mit noch viel kleineren Schritten herantrippelte
+als sonst gewöhnlich--und sich mit so spöttischem Gesicht
+hinstellte, dass selbst Fräulein Rottenmeier nicht wagte, sie
+anzufahren; umso mehr schlug ihr die Aufregung nach innen.
+
+"Das Zimmer der Angekommenen ist in Ordnung zu bringen, Tinette",
+sagte die Dame mit schwer errungener Ruhe; "es liegt alles bereit,
+nehmen Sie noch den Staub von den Möbeln weg."
+
+"Es ist der Mühe wert", spöttelte Tinette und ging.
+
+Unterdessen hatte Sebastian die Doppeltüren zum Studierzimmer mit
+ziemlichem Knall aufgeschlagen, denn er war sehr ergrimmt, aber
+sich in Antworten Luft zu machen durfte er nicht wagen Fräulein
+Rottenmeier gegenüber; dann trat er ganz gelassen ins Studierzimmer,
+um den Rollstuhl hinüberzustoßen. Während er den Griff hinten am
+Stuhl, der sich verschoben hatte, zurechtdrehte, stellte sich Heidi
+vor ihn hin und schaute ihn unverwandt an, was er bemerkte. Auf
+einmal fuhr er auf. "Na, was ist denn da Besonderes dran?",
+schnurrte er Heidi an in einer Weise, wie er es wohl nicht getan,
+hätte er Fräulein Rottenmeier gesehen, die eben wieder auf der
+Schwelle stand und gerade hereintrat, als Heidi entgegnete: "Du
+siehst dem Geißenpeter gleich."
+
+Entsetzt schlug die Dame ihre Hände zusammen. "Ist es die
+Möglichkeit!", stöhnte sie halblaut. "Nun duzt sie mir den
+Bedienten! Dem Wesen fehlen alle Urbegriffe!"
+
+Der Stuhl kam herangerollt und Klara wurde von Sebastian
+hinausgeschoben und auf ihren Sessel an den Tisch gesetzt.
+
+Fräulein Rottenmeier setzte sich neben sie und winkte Heidi, es
+sollte den Platz ihr gegenüber einnehmen. Sonst kam niemand zu
+Tische, und es war viel Platz da; die drei saßen auch weit
+auseinander, so dass Sebastian mit seiner Schüssel zum Anbieten
+guten Raum fand. Neben Heidis Teller lag ein schönes, weißes
+Brötchen; das Kind schaute mit erfreuten Blicken darauf. Die
+Ähnlichkeit, die Heidi entdeckt hatte, musste sein ganzes Vertrauen
+für den Sebastian erweckt haben, denn es saß mäuschenstill und
+rührte sich nicht, bis er mit der großen Schüssel zu ihm herantrat
+und ihm die gebratenen Fischchen hinhielt, dann zeigte es auf das
+Brötchen und fragte: "Kann ich das haben?" Sebastian nickte und
+warf dabei einen Seitenblick auf Fräulein Rottenmeier, denn es
+wunderte ihn, was die Frage für einen Eindruck auf sie mache.
+Augenblicklich ergriff Heidi sein Brötchen und steckte es in die
+Tasche. Sebastian machte eine Grimasse, denn das Lachen kam ihn an;
+er wusste aber wohl, dass ihm das nicht erlaubt war. Stumm und
+unbeweglich blieb er immer noch vor Heidi stehen, denn reden durfte
+er nicht, und weggehen durfte er wieder nicht, bis man sich bedient
+hatte. Heidi schaute ihm eine Zeit lang verwundert zu, dann fragte
+es: "Soll ich auch von dem essen?" Sebastian nickte wieder. "So
+gib mir", sagte es und schaute ruhig auf seinen Teller. Sebastians
+Grimasse wurde sehr bedenklich, und die Schüssel in seinen Händen
+fing an gefährlich zu zittern.
+
+"Er kann die Schüssel auf den Tisch setzen und nachher
+wiederkommen", sagte jetzt Fräulein Rottenmeier mit strengem
+Gesicht. Sebastian verschwand sogleich. "Dir, Adelheid, muss ich
+überall die ersten Begriffe beibringen, das sehe ich", fuhr
+Fräulein Rottenmeier mit tiefem Seufzer fort. "Vor allem will ich
+dir zeigen, wie man sich am Tische bedient", und nun machte die
+Dame deutlich und eingehend alles vor, was Heidi zu tun hatte.
+"Dann", fuhr sie weiter, "muss ich dir hauptsächlich bemerken, dass
+du am Tisch nicht mit Sebastian zu sprechen hast, auch sonst nur
+dann, wenn du einen Auftrag oder eine notwendige Frage an ihn zu
+richten hast; dann aber nennst du ihn nie mehr anders als _Sie_
+oder _Er_, hörst du? Dass ich dich niemals mehr ihn anders nennen
+höre. Auch Tinette nennst du _Sie_, Jungfer Tinette. Mich nennst
+du so, wie du mich von allen nennen hörst; wie du Klara nennen
+sollst, wird sie selbst bestimmen."
+
+"Natürlich Klara", sagte diese. Nun folgte aber noch eine Menge
+von Verhaltungsmaßregeln, über Aufstehen und Zubettegehen, über
+Hereintreten und Hinausgehen, über Ordnunghalten, Türenschließen,
+und über alledem fielen dem Heidi die Augen zu, denn es war heute
+vor fünf Uhr aufgestanden und hatte eine lange Reise gemacht. Es
+lehnte sich an den Sesselrücken und schlief ein. Als dann nach
+längerer Zeit Fräulein Rottenmeier zu Ende gekommen war mit ihrer
+Unterweisung, sagte sie: "Nun denke daran, Adelheid! Hast du alles
+recht begriffen?"
+
+"Heidi schläft schon lange", sagte Klara mit ganz belustigtem
+Gesicht, denn das Abendessen war für sie seit langer Zeit nie so
+kurzweilig verflossen.
+
+"Es ist doch völlig unerhört, was man mit diesem Kind erlebt!",
+rief Fräulein Rottenmeier in großem Ärger und klingelte so heftig,
+dass Tinette und Sebastian miteinander herbeigestürzt kamen; aber
+trotz allen Lärms erwachte Heidi nicht, und man hatte die größte
+Mühe, es so weit zu erwecken, dass es nach seinem Schlafgemach
+gebracht werden konnte; erst durch das Studierzimmer, dann durch
+Klaras Schlafstube, dann durch die Stube von Fräulein Rottenmeier
+zu dem Eckzimmer, das nun für Heidi eingerichtet war.
+
+
+
+
+Fräulein Rottenmeier hat einen unruhigen Tag
+
+Als Heidi am ersten Morgen in Frankfurt seine Augen aufschlug,
+konnte es durchaus nicht begreifen, was es erblickte. Es rieb ganz
+gewaltig seine Augen, guckte dann wieder auf und sah dasselbe. Es
+saß auf einem hohen, weißen Bett und vor sich sah es einen großen,
+weiten Raum, und wo die Helle herkam, hingen lange, lange weiße
+Vorhänge, und dabei standen zwei Sessel mit großen Blumen darauf,
+und dann kam ein Sofa an der Wand mit denselben Blumen und ein
+runder Tisch davor, und in der Ecke stand ein Waschtisch mit Sachen
+darauf, wie Heidi sie noch gar nie gesehen hatte. Aber nun kam ihm
+auf einmal in den Sinn, dass es in Frankfurt sei, und der ganze
+gestrige Tag kam ihm in Erinnerung und zuletzt noch ganz klar die
+Unterweisungen der Dame, soweit es sie gehört hatte. Heidi sprang
+nun von seinem Bett herunter und machte sich fertig. Dann ging es
+an ein Fenster und dann an das andere; es musste den Himmel sehen
+und die Erde draußen, es fühlte sich wie im Käfig hinter den großen
+Vorhängen. Es konnte diese nicht wegschieben; so kroch es dahinter,
+um an ein Fenster zu kommen. Aber dieses war so hoch, dass Heidi
+nur gerade mit dem Kopf so weit hinaufreichte, dass es durchsehen
+konnte. Aber Heidi fand nicht, was es suchte. Es lief von einem
+Fenster zum anderen und dann wieder zum ersten zurück; aber immer
+war dasselbe vor seinen Augen, Mauern und Fenster und wieder Mauern
+und dann wieder Fenster. Es wurde Heidi ganz bange. Noch war es
+früh am Morgen, denn Heidi war gewöhnt, früh aufzustehen auf der
+Alm und dann sogleich hinauszulaufen vor die Tür und zu sehen,
+wie's draußen sei, ob der Himmel blau und die Sonne schon droben
+sei, ob die Tannen rauschen und die kleinen Blumen schon die Augen
+offen haben. Wie das Vögelein, das zum ersten Mal in seinem schön
+glänzenden Gefängnis sitzt, hin und her schießt und bei allen
+Stäben probiert, ob es nicht dazwischen durchschlüpfen und in die
+Freiheit hinausfliegen könne, so lief Heidi immer von dem einen
+Fenster zum anderen, um zu probieren, ob es nicht aufgemacht werden
+könne, denn dann musste man doch etwas anderes sehen als Mauern und
+Fenster, da musste doch unten der Erdboden, das grüne Gras und der
+letzte schmelzende Schnee an den Abhängen zum Vorschein kommen, und
+Heidi sehnte sich, das zu sehen. Aber die Fenster blieben fest
+verschlossen, wie sehr auch das Kind drehte und zog und von unten
+suchte, die kleinen Finger unter die Rahmen einzutreiben, damit es
+Kraft hätte, sie aufzudrücken; es blieb alles eisenfest aufeinander
+sitzen. Nach langer Zeit, als Heidi einsah, dass alle
+Anstrengungen nichts halfen, gab es seinen Plan auf und überdachte
+nun, wie es wäre, wenn es vor das Haus hinausginge und hintenherum,
+bis es auf den Grasboden käme, denn es erinnerte sich, dass es
+gestern Abend vorn am Haus nur über Steine gekommen war. Jetzt
+klopfte es an seiner Tür und unmittelbar darauf steckte Tinette den
+Kopf herein und sagte kurz: "Frühstück bereit!"
+
+Heidi verstand keineswegs eine Einladung unter diesen Worten; auf
+dem spöttischen Gesicht der Tinette stand viel mehr eine Warnung,
+ihr nicht zu nah zu kommen, als eine freundliche Einladung
+geschrieben, und das las Heidi deutlich von dem Gesicht und
+richtete sich danach. Es nahm den kleinen Schemel unter dem Tisch
+empor, stellte ihn in eine Ecke, setzte sich darauf und wartete so
+ganz still ab, was nun kommen würde. Nach einiger Zeit kam etwas
+mit ziemlichem Geräusch, es war Fräulein Rottenmeier, die schon
+wieder in Aufregung geraten war und in Heidis Stube hineinrief:
+"Was ist mit dir, Adelheid? Begreifst du nicht, was ein Frühstück
+ist? Komm herüber!"
+
+Das verstand nun Heidi und folgte sogleich nach. Im Esszimmer saß
+Klara schon lang an ihrem Platz und begrüßte Heidi freundlich,
+machte auch ein viel vergnügteres Gesicht als sonst gewöhnlich,
+denn sie sah voraus, dass heute wieder allerlei Neues geschehen
+würde. Das Frühstück ging nun ohne Störung vor sich; Heidi aß ganz
+anständig sein Butterbrot, und wie alles zu Ende war, wurde Klara
+wieder ins Studierzimmer hinübergerollt und Heidi wurde von
+Fräulein Rottenmeier angewiesen, nachzufolgen und bei Klara zu
+bleiben, bis der Herr Kandidat kommen würde, um die
+Unterrichtsstunden zu beginnen. Als die beiden Kinder allein waren,
+sagte Heidi sogleich: "Wie kann man hinaussehen hier und ganz
+hinunter auf den Boden?"
+
+"Man macht ein Fenster auf und guckt hinaus", antwortete Klara
+belustigt.
+
+"Man kann diese Fenster nicht aufmachen", versetzte Heidi traurig.
+
+"Doch, doch", versicherte Klara, "nur du noch nicht, und ich kann
+dir auch nicht helfen; aber wenn du einmal den Sebastian siehst, so
+macht er dir schon eines auf."
+
+Das war eine große Erleichterung für Heidi zu wissen, dass man doch
+die Fenster öffnen und hinausschauen könne, denn noch war es ganz
+unter dem Druck des Gefangenseins von seinem Zimmer her. Klara
+fing nun an, Heidi zu fragen, wie es bei ihm zu Hause sei, und
+Heidi erzählte mit Freuden von der Alm und den Geißen und der Weide
+und allem, was ihm lieb war.
+
+Unterdessen war der Herr Kandidat angekommen; aber Fräulein
+Rottenmeier führte ihn nicht, wie gewöhnlich, ins Studierzimmer,
+denn sie musste sich erst aussprechen und geleitete ihn zu diesem
+Zweck ins Esszimmer, wo sie sich vor ihn hinsetzte und ihm in
+großer Aufregung ihre bedrängte Lage schilderte und wie sie in
+diese hineingekommen war.
+
+Sie hatte nämlich vor einiger Zeit Herrn Sesemann nach Paris
+geschrieben, wo er eben verweilte, seine Tochter habe längst
+gewünscht, es möchte eine Gespielin für sie ins Haus aufgenommen
+werden, und auch sie selbst glaube, dass eine solche in den
+Unterrichtsstunden ein Sporn, in der übrigen Zeit eine anregende
+Gesellschaft für Klara sein würde. Eigentlich war die Sache für
+Fräulein Rottenmeier selbst sehr wünschbar, denn sie wollte gern,
+dass jemand da sei, der ihr die Unterhaltung der kranken Klara
+abnehme, wenn es ihr zu viel war, was öfters geschah. Herr
+Sesemann hatte geantwortet, er erfülle gern den Wunsch seiner
+Tochter, doch mit der Bedingung, dass eine solche Gespielin in
+allem ganz gehalten werde wie jene, er wolle keine Kinderquälerei
+in seinem Hause--"was freilich eine sehr unnütze Bemerkung von dem
+Herrn war", setzte Fräulein Rottenmeier hinzu, "denn wer wollte
+Kinder quälen!" Nun aber erzählte sie weiter, wie ganz
+erschrecklich sie hineingefallen sei mit dem Kinde, und führte alle
+Beispiele von seinem völlig begriffslosen Dasein an, die es bis
+jetzt geliefert hatte, dass nicht nur der Unterricht des Herrn
+Kandidaten buchstäblich beim Abc anfangen müsse, sondern dass auch
+sie auf jedem Punkte der menschlichen Erziehung mit dem Uranfang zu
+beginnen hätte. Aus dieser unheilvollen Lage sehe sie nur ein
+Rettungsmittel: Wenn der Herr Kandidat erklären werde, zwei so
+verschiedene Wesen könnten nicht miteinander unterrichtet werden
+ohne großen Schaden des vorgerückteren Teiles; das wäre für Herrn
+Sesemann ein triftiger Grund, die Sache rückgängig zu machen, und
+so würde er zugeben, dass das Kind gleich wieder dahin
+zurückgeschickt würde, woher es gekommen war; ohne seine Zustimmung
+aber dürfte sie das nicht unternehmen, nun der Hausherr wisse, dass
+das Kind angekommen sei. Aber der Herr Kandidat war behutsam und
+niemals einseitig im Urteilen. Er tröstete Fräulein Rottenmeier
+mit vielen Worten und der Ansicht, wenn die junge Tochter auf der
+einen Seite so zurück sei, so möchte sie auf der anderen umso
+geförderter sein, was bei einem geregelten Unterricht bald ins
+Gleichgewicht kommen werde. Als Fräulein Rottenmeier sah, dass der
+Herr Kandidat sie nicht unterstützen, sondern seinen Abc-Unterricht
+übernehmen wollte, machte sie ihm die Tür zum Studierzimmer auf,
+und nachdem er hereingetreten war, schloss sie schnell hinter ihm
+zu und blieb auf der anderen Seite, denn vor dem Abc hatte sie
+einen Schrecken. Sie ging jetzt mit großen Schritten im Zimmer auf
+und nieder, denn sie hatte zu überlegen, wie die Dienstboten
+Adelheid zu benennen hätten. Herr Sesemann hatte ja geschrieben,
+sie müsste wie seine Tochter gehalten werden, und dieses Wort
+musste sich hauptsächlich auf das Verhältnis zu den Dienstboten
+beziehen, dachte Fräulein Rottenmeier. Sie konnte aber nicht lange
+ungestört überlegen, denn auf einmal ertönte drinnen im
+Studierzimmer ein erschreckliches Gekrache fallender Gegenstände
+und dann ein Hilferuf nach Sebastian. Sie stürzte hinein. Da lag
+auf dem Boden alles übereinander, die sämtlichen Studien-Hilfsmittel,
+Bücher, Hefte, Tintenfass und obendrauf der
+Tischteppich, unter dem ein schwarzes Tintenbächlein hervorfloss,
+die ganze Stube entlang. Heidi war verschwunden.
+
+"Da haben wir's", rief Fräulein Rottenmeier händeringend aus.
+"Teppich, Bücher, Arbeitskorb, alles in der Tinte! Das ist noch
+nie geschehen! Das ist das Unglückswesen, da ist kein Zweifel!"
+
+Der Herr Kandidat stand sehr erschrocken da und schaute auf die
+Verwüstung, die allerdings nur _eine_ Seite hatte und eine recht
+bestürzende. Klara dagegen verfolgte mit vergnügtem Gesicht die
+ungewöhnlichen Ereignisse und deren Wirkungen und sagte nun
+erklärend: "Ja, Heidi hat's gemacht, aber nicht mit Absicht, es
+muss gewiss nicht gestraft werden, es war nur so schrecklich eilig,
+fortzukommen, und riss den Teppich mit, und so fiel alles
+hintereinander auf den Boden. Es fuhren viele Wagen hintereinander
+vorbei, darum ist es so fortgeschossen; es hat vielleicht noch nie
+eine Kutsche gesehen."
+
+"Da, ist's nicht, wie ich sagte, Herr Kandidat? Nicht _einen_
+Urbegriff hat das Wesen! Keine Ahnung davon, was eine
+Unterrichtsstunde ist, dass man dabei zuzuhören und still zu sitzen
+hat. Aber wo ist das Unheil bringende Ding hin? Wenn es
+fortgelaufen wäre! Was würde mir Herr Sesemann--"
+
+Fräulein Rottenmeier lief hinaus und die Treppe hinunter. Hier,
+unter der geöffneten Haustür, stand Heidi und guckte ganz verblüfft
+die Straße auf und ab.
+
+"Was ist denn? Was fällt dir denn ein? Wie kannst du so
+davonlaufen!", fuhr Fräulein Rottenmeier das Kind an.
+
+"Ich habe die Tannen rauschen gehört, aber ich weiß nicht, wo sie
+stehen, und höre sie nicht mehr", antwortete Heidi und schaute
+enttäuscht nach der Seite hin, wo das Rollen der Wagen verhallt war,
+das in Heidis Ohren dem Tosen des Föhns in den Tannen ähnlich
+geklungen hatte, so dass es in höchster Freude dem Ton nachgerannt
+war.
+
+"Tannen! Sind wir im Wald? Was sind das für Einfälle! Komm
+herauf und sieh, was du angerichtet hast!" Damit stieg Fräulein
+Rottenmeier wieder die Treppe hinan; Heidi folgte ihr und stand nun
+sehr verwundert vor der großen Verheerung, denn es hatte nicht
+gemerkt, was es alles mitriss vor Freude und Eile, die Tannen zu
+hören.
+
+"Das hast du einmal getan, ein zweites Mal tust du's nicht wieder",
+sagte Fräulein Rottenmeier, auf den Boden zeigend; "zum Lernen
+sitzt man still auf seinem Sessel und gibt Acht. Kannst du das
+nicht selbst fertig bringen, so muss ich dich an deinen Stuhl
+festbinden. Kannst du das verstehen?"
+
+"Ja", entgegnete Heidi, "aber ich will schon festsitzen." Denn
+jetzt hatte es begriffen, dass es eine Regel ist, in einer
+Unterrichtsstunde still zu sitzen.
+
+Jetzt mussten Sebastian und Tinette hereinkommen, um die Ordnung
+wiederherzustellen. Der Herr Kandidat entfernte sich, denn der
+weitere Unterricht musste nun aufgegeben werden. Zum Gähnen war
+heute gar keine Zeit gewesen.
+
+Am Nachmittag musste Klara immer eine Zeit lang ruhen und Heidi
+hatte alsdann seine Beschäftigung selbst zu wählen; so hatte
+Fräulein Rottenmeier ihm am Morgen erklärt. Als nun nach Tisch
+Klara sich in ihrem Sessel zur Ruhe gelegt hatte, ging Fräulein
+Rottenmeier nach ihrem Zimmer, und Heidi sah, dass nun die Zeit da
+war, da es seine Beschäftigung selbst wählen konnte. Das war dem
+Heidi sehr erwünscht, denn es hatte schon immer im Sinn, etwas zu
+unternehmen; es musste aber Hilfe dazu haben und stellte sich darum
+vor das Esszimmer mitten auf den Korridor, damit die Persönlichkeit,
+die es zu beraten gedachte, ihm nicht entgehen könne. Richtig,
+nach kurzer Zeit kam Sebastian die Treppe herauf mit dem großen
+Teebrett auf den Armen, denn er brachte das Silberzeug aus der
+Küche herauf, um es im Schrank des Esszimmers zu verwahren. Als er
+auf der letzten Stufe der Treppe angekommen war, trat Heidi vor ihn
+hin und sagte mit großer Deutlichkeit: "Sie oder Er!"
+
+Sebastian riss die Augen so weit auf, als es nur möglich war, und
+sagte ziemlich barsch: "Was soll das heißen, Mamsell?"
+
+"Ich möchte nur gern etwas fragen, aber es ist gewiss nichts Böses
+wie heute Morgen", fügte Heidi beschwichtigend hinzu, denn es
+merkte, dass Sebastian ein wenig erbittert war, und dachte, es
+komme noch von der Tinte am Boden her.
+
+"So, und warum muss es denn heißen Sie oder Er, das möcht ich
+zuerst wissen", gab Sebastian im gleichen barschen Ton zurück.
+
+"Ja, so muss ich jetzt immer sagen", versicherte Heidi; "Fräulein
+Rottenmeier hat es befohlen."
+
+Jetzt lachte Sebastian so laut auf, dass Heidi ihn ganz verwundert
+ansehen musste, denn es hatte nichts Lustiges bemerkt; aber
+Sebastian hatte auf einmal begriffen, was Fräulein Rottenmeier
+befohlen hatte, und sagte nun sehr erlustigt: "Schon recht, so
+fahre die Mamsell nur zu."
+
+"Ich heiße gar nicht Mamsell", sagte nun Heidi seinerseits ein
+wenig geärgert; "ich heiße Heidi."
+
+"Ist schon recht; die gleiche Dame hat aber befohlen, dass ich
+Mamsell sage", erklärte Sebastian.
+
+"Hat sie? Ja, dann muss ich schon so heißen", sagte Heidi mit
+Ergebung, denn es hatte wohl gemerkt, dass alles so geschehen
+musste, wie Fräulein Rottenmeier befahl.
+
+"Jetzt habe ich schon drei Namen", setzte es mit einem Seufzer
+hinzu.
+
+"Was wollte die kleine Mamsell denn fragen?", fragte Sebastian
+jetzt, indem er, ins Esszimmer eingetreten, sein Silberzeug im
+Schrank zurechtlegte.
+
+"Wie kann man ein Fenster aufmachen, Sebastian?"
+
+"So, gerade so", und er machte den großen Fensterflügel auf.
+
+Heidi trat heran, aber es war zu klein, um etwas sehen zu können;
+es langte nur bis zum Gesims hinauf.
+
+"Da, so kann das Mamsellchen einmal hinausgucken und sehen, was
+unten ist", sagte Sebastian, indem er einen hohen hölzernen Schemel
+herbeigeholt hatte und hinstellte. Hoch erfreut stieg Heidi hinauf
+und konnte endlich den ersehnten Blick durch das Fenster tun. Aber
+mit dem Ausdruck der größten Enttäuschung zog es sogleich den Kopf
+wieder zurück.
+
+"Man sieht nur die steinerne Straße hier, sonst gar nichts", sagte
+das Kind bedauerlich; "aber wenn man um das ganze Haus herumgeht,
+was sieht man dann auf der anderen Seite, Sebastian?"
+
+"Gerade dasselbe", gab dieser zur Antwort.
+
+"Aber wohin kann man denn gehen, dass man weit, weit hinuntersehen
+kann über das ganze Tal hinab?"
+
+"Da muss man auf einen hohen Turm hinaufsteigen, einen Kirchturm,
+so einen, wie der dort ist mit der goldenen Kugel oben drauf. Da
+guckt man von oben herunter und sieht weit über alles weg."
+
+Jetzt stieg Heidi eilig von seinem Schemel herunter, rannte zur Tür
+hinaus, die Treppe hinunter und trat auf die Straße hinaus. Aber
+die Sache ging nicht, wie Heidi sich vorgestellt hatte. Als es aus
+dem Fenster den Turm gesehen hatte, kam es ihm vor, es könne nur
+über die Straße gehen, so müsste er gleich vor ihm stehen. Nun
+ging Heidi die ganze Straße hinunter, aber es kam nicht an den Turm,
+konnte ihn auch nirgends mehr entdecken und kam nun in eine andere
+Straße hinein und weiter und weiter, aber immer noch sah es den
+Turm nicht. Es gingen viele Leute an ihm vorbei, aber die waren
+alle so eilig, dass Heidi dachte, sie hätten nicht Zeit, ihm
+Bescheid zu geben. Jetzt sah es an der nächsten Straßenecke einen
+Jungen stehen, der eine kleine Drehorgel auf dem Rücken und ein
+ganz kurioses Tier auf dem Arme trug. Heidi lief zu ihm hin und
+fragte: "Wo ist der Turm mit der goldenen Kugel zuoberst?"
+
+"Weiß nicht", war die Antwort.
+
+"Wen kann ich denn fragen, wo er sei?", fragte Heidi weiter.
+
+"Weiß nicht."
+
+"Weißt du keine andere Kirche mit einem hohen Turm?"
+
+"Freilich weiß ich eine."
+
+"So komm und zeige mir sie."
+
+"Zeig du zuerst, was du mir dafür gibst." Der Junge hielt seine
+Hand hin. Heidi suchte in seiner Tasche herum. Jetzt zog es ein
+Bildchen hervor, darauf ein schönes Kränzchen von roten Rosen
+gemalt war; erst sah es noch eine kleine Weile darauf hin, denn es
+reute Heidi ein wenig. Erst heute Morgen hatte Klara es ihm
+geschenkt; aber hinuntersehen ins Tal, über die grünen Abhänge!
+"Da", sagte Heidi und hielt das Bildchen hin, "willst du das?"
+
+Der Junge zog die Hand zurück und schüttelte den Kopf.
+
+"Was willst du denn?", fragte Heidi und steckte vergnügt sein
+Bildchen wieder ein.
+
+"Geld."
+
+"Ich habe keins, aber Klara hat, sie gibt mir dann schon; wie viel
+willst du?"
+
+"Zwanzig Pfennige."
+
+"So komm jetzt."
+
+Nun wanderten die beiden eine lange Straße hin, und auf dem Wege
+fragte Heidi den Begleiter, was er auf dem Rücken trage, und er
+erklärte ihm, es sei eine schöne Orgel unter dem Tuch, die mache
+eine prachtvolle Musik, wenn er daran drehe.
+
+Auf einmal standen sie vor einer alten Kirche mit hohem Turm; der
+Junge stand still und sagte: "Da."
+
+"Aber wie komm ich da hinein?", fragte Heidi, als es die fest
+verschlossenen Türen sah.
+
+"Weiß nicht", war wieder die Antwort.
+
+"Glaubst du, man könne hier klingeln, so wie man dem Sebastian tut?"
+
+"Weiß nicht."
+
+Heidi hatte eine Klingel entdeckt an der Mauer und zog jetzt aus
+allen Kräften daran.
+
+"Wenn ich dann hinaufgehe, so musst du warten hier unten, ich weiß
+jetzt den Weg nicht mehr zurück, du musst mir ihn dann zeigen."
+
+"Was gibst du mir dann?"
+
+"Was muss ich dir dann wieder geben?"
+
+"Wieder zwanzig Pfennige."
+
+Jetzt wurde das alte Schloss inwendig umgedreht und die knarrende
+Tür geöffnet; ein alter Mann trat heraus und schaute erst
+verwundert, dann ziemlich erzürnt auf die Kinder und fuhr sie an:
+"Was untersteht ihr euch, mich da herunterzuklingeln? Könnt ihr
+nicht lesen, was über der Klingel steht: 'Für solche, die den
+Turm besteigen wollen'?"
+
+Der Junge wies mit dem Zeigefinger auf Heidi und sagte kein Wort.
+Heidi antwortete: "Eben auf den Turm wollt ich."
+
+"Was hast du droben zu tun?", fragte der Türmer; "hat dich jemand
+geschickt?"
+
+"Nein", entgegnete Heidi, "ich möchte nur hinaufgehen, dass ich
+hinuntersehen kann."
+
+"Macht, dass ihr heimkommt, und probiert den Spaß nicht wieder,
+oder ihr kommt nicht gut weg zum zweiten Mal!" Damit kehrte sich
+der Türmer um und wollte die Tür zumachen.
+
+Aber Heidi hielt ihn ein wenig am Rockschoß und sagte bittend: "Nur
+ein einziges Mal!"
+
+Er sah sich um, und Heidis Augen schauten so flehentlich zu ihm auf,
+dass es ihn ganz umstimmte; er nahm das Kind bei der Hand und
+sagte freundlich: "Wenn dir so viel daran gelegen ist, so komm mit
+mir!"
+
+Der Junge setzte sich auf die steinernen Stufen vor der Tür nieder
+und zeigte, dass er nicht mitwollte.
+
+Heidi stieg an der Hand des Türmers viele, viele Treppen hinauf;
+dann wurden diese immer schmäler, und endlich ging es noch ein ganz
+enges Treppchen hinauf, und nun waren sie oben. Der Türmer hob
+Heidi vom Boden auf und hielt es an das offene Fenster.
+
+"Da, jetzt guck hinunter", sagte er.
+
+Heidi sah auf ein Meer von Dächern, Türmen und Schornsteinen nieder;
+es zog bald seinen Kopf zurück und sagte niedergeschlagen: "Es ist
+gar nicht, wie ich gemeint habe."
+
+"Siehst du wohl? Was versteht so ein Kleines von Aussicht! So,
+komm nun wieder herunter und läute nie mehr an einem Turm!"
+
+Der Türmer stellte Heidi wieder auf den Boden und stieg ihm voran
+die schmalen Stufen hinab. Wo diese breiter wurden, kam links die
+Tür, die in des Türmers Stübchen führte, und nebenan ging der Boden
+bis unter das schräge Dach hin. Dort hinten stand ein großer Korb
+und davor saß eine dicke graue Katze und knurrte, denn in dem Korb
+wohnte ihre Familie und sie wollte jeden Vorübergehenden davor
+warnen, sich in ihre Familienangelegenheiten zu mischen. Heidi
+stand still und schaute verwundert hinüber, eine so mächtige Katze
+hatte es noch nie gesehen; in dem alten Turm wohnten aber ganze
+Herden von Mäusen, so holte sich die Katze ohne Mühe jeden Tag ein
+halbes Dutzend Mäusebraten. Der Türmer sah Heidis Bewunderung und
+sagte: "Komm, sie tut dir nichts, wenn ich dabei bin; du kannst die
+Jungen ansehen."
+
+Heidi trat an den Korb heran und brach in ein großes Entzücken aus.
+
+"Oh, die netten Tierlein! Die schönen Kätzchen!", rief es ein Mal
+ums andere und sprang hin und her um den Korb herum, um auch recht
+alle komischen Gebärden und Sprünge zu sehen, welche die sieben
+oder acht jungen Kätzchen vollführten, die in dem Korb rastlos
+übereinanderhin krabbelten, sprangen, fielen.
+
+"Willst du eins haben?", fragte der Türmer, der Heidis
+Freudensprüngen vergnügt zuschaute.
+
+"Selbst für mich? Für immer?", fragte Heidi gespannt und konnte
+das große Glück fast nicht glauben.
+
+"Ja, gewiss, du kannst auch noch mehr haben, du kannst sie alle
+zusammen haben, wenn du Platz hast", sagte der Mann, dem es gerade
+recht war, seine kleinen Katzen loszuwerden, ohne dass er ihnen ein
+Leid antun musste.
+
+Heidi war im höchsten Glück. In dem großen Hause hatten ja die
+Kätzchen so viel Platz, und wie musste Klara erstaunt und erfreut
+sein, wenn die niedlichen Tierchen ankamen!
+
+"Aber wie kann ich sie mitnehmen?", fragte nun Heidi und wollte
+schnell einige fangen mit seinen Händen, aber die dicke Katze
+sprang ihm auf den Arm und fauchte es so grimmig an, dass es sehr
+erschrocken zurückfuhr.
+
+"Ich will sie dir bringen, sag nur, wohin", sagte der Türmer, der
+die alte Katze nun streichelte, um sie wieder gut zu machen, denn
+sie war seine Freundin und hatte schon viele Jahre mit ihm auf dem
+Turm gelebt.
+
+"Zum Herrn Sesemann in dem großen Haus, wo an der Haustür ein
+goldener Hundskopf ist mit einem dicken Ring im Maul", erklärte
+Heidi.
+
+Es hätte nicht einmal so viel gebraucht für den Türmer, der schon
+seit langen Jahren auf dem Turm saß und jedes Haus weithin kannte,
+und dazu war der Sebastian noch ein alter Bekannter von ihm.
+
+"Ich weiß schon", bemerkte er; "aber wem muss ich die Dinger
+bringen, bei wem muss ich nachfragen, du gehörst doch nicht Herrn
+Sesemann?"
+
+"Nein, aber die Klara, sie hat eine so große Freude, wenn die
+Kätzchen kommen!"
+
+Der Türmer wollte nun weitergehen, aber Heidi konnte sich von dem
+unterhaltenden Schauspiel fast nicht trennen.
+
+"Wenn ich nur schon eins oder zwei mitnehmen könnte! Eins für mich
+und eins für Klara, kann ich nicht?"
+
+"So wart ein wenig", sagte der Türmer, trug dann die alte Katze
+behutsam in sein Stübchen hinein und stellte sie an das
+Essschüsselchen hin, schloss die Tür vor ihr zu und kam zurück: "So,
+nun nimm zwei!"
+
+Heidis Augen leuchteten vor Wonne. Es las ein weißes und dann ein
+gelb und weiß gestreiftes aus und steckte eins in die rechte und
+eins in die linke Tasche. Nun ging's die Treppe hinunter.
+
+Der Junge saß noch auf den Stufen draußen, und als nun der Türmer
+hinter Heidi die Tür zugeschlossen hatte, sagte das Kind: "Welchen
+Weg müssen wir nun zu Herrn Sesemanns Haus?"
+
+"Weiß nicht", war die Antwort.
+
+Heidi fing nun an zu beschreiben, was es wusste, die Haustür und
+die Fenster und die Treppen, aber der Junge schüttelte zu allem den
+Kopf, es war ihm alles unbekannt.
+
+"Siehst du", fuhr dann Heidi im Beschreiben fort, "aus einem
+Fenster sieht man ein großes, großes, graues Haus und das Dach geht
+so"--Heidi zeichnete hier mit dem Zeigefinger große Zacken in die
+Luft hinaus.
+
+Jetzt sprang der Junge auf, er mochte ähnliche Merkmale haben,
+seine Wege zu finden. Er lief nun in einem Zug drauflos und Heidi
+hinter ihm drein, und in kurzer Zeit standen sie richtig vor der
+Haustür mit dem großen Messing-Tierkopf. Heidi zog die Glocke.
+Bald erschien Sebastian, und wie er Heidi erblickte, rief er
+drängend: "Schnell! Schnell!"
+
+Heidi sprang eilig herein, und Sebastian schlug die Tür zu; den
+Jungen, der verblüfft draußen stand, hatte er gar nicht bemerkt.
+
+"Schnell, Mamsellchen", drängte Sebastian weiter, "gleich ins
+Esszimmer hinein, sie sitzen schon am Tisch. Fräulein Rottenmeier
+sieht aus wie eine geladene Kanone; was stellt aber auch die kleine
+Mamsell an, so fortzulaufen?"
+
+Heidi war ins Zimmer getreten. Fräulein Rottenmeier blickte nicht
+auf; Klara sagte auch nichts, es war eine etwas unheimliche Stille.
+Sebastian rückte Heidi den Sessel zurecht. Jetzt, wie es auf
+seinem Stuhl saß, begann Fräulein Rottenmeier mit strengem Gesicht
+und einem ganz feierlich-ernsten Ton: "Adelheid, ich werde nachher
+mit dir sprechen, jetzt nur so viel: Du hast dich sehr ungezogen,
+wirklich strafbar benommen, dass du das Haus verlässt, ohne zu
+fragen, ohne dass jemand ein Wort davon wusste, und herumstreichst
+bis zum späten Abend; es ist eine völlig beispiellose Aufführung."
+
+"Miau", tönte es wie als Antwort zurück.
+
+Aber jetzt stieg der Zorn der Dame. "Wie, Adelheid", rief sie in
+immer höheren Tönen, "du unterstehst dich noch, nach aller
+Ungezogenheit einen schlechten Spaß zu machen? Hüte dich wohl, sag
+ich dir!"
+
+"Ich mache", fing Heidi an--"Miau! Miau!"
+
+Sebastian warf fast seine Schüssel auf den Tisch und stürzte hinaus.
+
+"Es ist genug", wollte Fräulein Rottenmeier rufen; aber vor
+Aufregung tönte ihre Stimme gar nicht mehr. "Steh auf und verlass
+das Zimmer."
+
+Heidi stand erschrocken von seinem Sessel auf und wollte noch
+einmal erklären: "Ich mache gewiss"--"Miau! Miau! Miau!"
+
+"Aber Heidi", sagte jetzt Klara, "wenn du doch siehst, dass du
+Fräulein Rottenmeier so böse machst, warum machst du immer wieder
+'miau'?"
+
+"Ich mache nicht, die Kätzlein machen", konnte Heidi endlich
+ungestört hervorbringen.
+
+"Wie? Was? Katzen? junge Katzen?", schrie Fräulein Rottenmeier
+auf. "Sebastian! Tinette! Sucht die greulichen Tiere! Schafft
+sie fort!" Damit stürzte die Dame ins Studierzimmer hinein und
+riegelte die Türen zu, um sicherer zu sein, denn junge Katzen waren
+für Fräulein Rottenmeier das Schrecklichste in der Schöpfung.
+Sebastian stand draußen vor der Tür und musste erst fertig lachen,
+eh er wieder eintreten konnte. Er hatte, als er Heidi bediente,
+einen kleinen Katzenkopf aus dessen Tasche herausgucken gesehen und
+sah dem Spektakel entgegen, und wie er nun ausbrach, konnte er sich
+nicht mehr halten, kaum noch seine Schüssel auf den Tisch setzen.
+Endlich trat er denn wieder gefasst ins Zimmer herein, nachdem die
+Hilferufe der geängsteten Dame schon längere Zeit verklungen waren.
+Jetzt sah es ganz still und friedlich aus drinnen; Klara hielt die
+Kätzchen auf ihrem Schoß, Heidi kniete neben ihr und beide spielten
+mit großer Wonne mit den zwei winzigen, graziösen Tierchen.
+
+"Sebastian", sagte Klara zu dem Eintretenden, "Sie müssen uns
+helfen; Sie müssen ein Nest finden für die Kätzchen, wo Fräulein
+Rottenmeier sie nicht sieht, denn sie fürchtet sich vor ihnen und
+will sie forthaben; aber wir wollen die niedlichen Tierchen
+behalten und sie immer hervorholen, sobald wir allein sind. Wo
+kann man sie hintun?"
+
+"Das will ich schon besorgen, Fräulein Klara", entgegnete Sebastian
+bereitwillig; "ich mache ein schönes Bettchen in einem Korb und
+stelle den an einen Ort, wo mir die furchtsame Dame nicht dahinter
+kommt, verlassen Sie sich auf mich." Sebastian ging gleich an die
+Arbeit und kicherte beständig vor sich hin, denn er dachte: "Das
+wird noch was absetzen!", und der Sebastian sah es nicht ungern,
+wenn Fräulein Rottenmeier ein wenig in Aufregung geriet.
+
+Nach längerer Zeit erst, als der Augenblick des Schlafengehens
+nahte, machte Fräulein Rottenmeier ein ganz klein wenig die Tür auf
+und rief durch das Spältchen heraus: "Sind die abscheulichen Tiere
+fortgeschafft?"
+
+"Jawohl! Jawohl!", gab Sebastian zurück, der sich im Zimmer zu
+schaffen gemacht hatte in Erwartung dieser Frage. Schnell und
+leise fasste er die beiden Kätzchen auf Klaras Schoß und verschwand
+damit.
+
+Die besondere Strafrede, die Fräulein Rottenmeier Heidi noch zu
+halten gedachte, verschob sie auf den folgenden Tag, denn heute
+fühlte sie sich zu erschöpft nach all den vorhergegangenen
+Gemütsbewegungen von Ärger, Zorn und Schrecken, die ihr Heidi ganz
+unwissentlich nacheinander verursacht hatte. Sie zog sich
+schweigend zurück, und Klara und Heidi folgten vergnügt nach, denn
+sie wussten ihre Kätzchen in einem guten Bett.
+
+
+
+
+Im Hause Sesemann geht's unruhig zu
+
+Als Sebastian am folgenden Morgen dem Herrn Kandidaten die Haustür
+geöffnet und ihn zum Studierzimmer geführt hatte, zog schon wieder
+jemand die Hausglocke an, aber mit solcher Gewalt, dass Sebastian
+die Treppe völlig hinunterschoss, denn er dachte: "So schellt nur
+der Herr Sesemann selbst, er muss unerwartet nach Hause gekommen
+sein." Er riss die Tür auf--ein zerlumpter Junge mit einer
+Drehorgel auf dem Rücken stand vor ihm.
+
+"Was soll das heißen?", fuhr ihn Sebastian an. "Ich will dich
+lehren, Glocken herunterzureißen! Was hast du hier zu tun?"
+
+"Ich muss zur Klara", war die Antwort.
+
+"Du ungewaschener Straßenkäfer du; kannst du nicht sagen
+'Fräulein Klara', wie unsereins tut? Was hast du bei Fräulein
+Klara zu tun?", fragte Sebastian barsch.
+
+"Sie ist mir vierzig Pfennige schuldig", erklärte der Junge.
+
+"Du bist, denk ich, nicht recht im Kopf! Wie weißt du überhaupt,
+dass ein Fräulein Klara hier ist?"
+
+"Gestern habe ich ihr den Weg gezeigt, macht zwanzig, und dann
+wieder zurück den Weg gezeigt, macht vierzig."
+
+"Da siehst du, was für Zeug du zusammenflunkerst; Fräulein Klara
+geht niemals aus, kann gar nicht gehen, mach, dass du dahin kommst,
+wo du hingehörst, bevor ich dir dazu verhelfe!"
+
+Aber der Junge ließ sich nicht einschüchtern; er blieb unbeweglich
+stehen und sagte trocken: "Ich habe sie doch gesehen auf der Straße,
+ich kann sie beschreiben: Sie hat kurzes, krauses Haar, das ist
+schwarz, und die Augen sind schwarz und der Rock ist braun, und sie
+kann nicht reden wie wir."
+
+"Oho", dachte jetzt Sebastian und kicherte in sich hinein, "das ist
+die kleine Mamsell, die hat wieder etwas angestellt." Dann sagte er,
+den Jungen hereinziehend: "'s ist schon recht, komm mir nur nach
+und warte vor der Tür, bis ich wieder herauskomme. Wenn ich dich
+dann einlasse, kannst du gleich etwas spielen; das Fräulein hört es
+gern."
+
+Oben klopfte er am Studierzimmer und wurde hereingerufen.
+
+"Es ist ein Junge da, der durchaus an Fräulein Klara selbst etwas
+zu bestellen hat", berichtete Sebastian.
+
+Klara war sehr erfreut über das außergewöhnliche Ereignis.
+
+"Er soll nur gleich hereinkommen", sagte sie, "nicht wahr, Herr
+Kandidat, wenn er doch mit mir selbst sprechen muss."
+
+Der Junge war schon eingetreten, und nach Anweisung fing er sofort
+seine Orgel zu drehen an. Fräulein Rottenmeier hatte, um dem Abc
+auszuweichen, sich im Esszimmer allerlei zu schaffen gemacht. Auf
+einmal horchte sie auf.--Kamen die Töne von der Straße her? Aber
+so nahe? Wie konnte vom Studierzimmer her eine Drehorgel ertönen?
+Und dennoch--wahrhaftig--sie stürzte durch das lange Esszimmer
+und riss die Tür auf. Da--unglaublich--da stand mitten im
+Studierzimmer ein zerlumpter Orgelspieler und drehte sein
+Instrument mit größter Emsigkeit. Der Herr Kandidat schien
+immerfort etwas sagen zu wollen, aber es wurde nichts vernommen.
+Klara und Heidi hörten mit ganz erfreuten Gesichtern der Musik zu.
+
+"Aufhören! Sofort aufhören!", rief Fräulein Rottenmeier ins Zimmer
+hinein. Ihre Stimme wurde übertönt von der Musik. Jetzt lief sie
+auf den Jungen zu--aber auf einmal hatte sie etwas zwischen den
+Füßen, sie sah auf den Boden: ein grausiges, schwarzes Tier kroch
+ihr zwischen den Füßen durch--eine Schildkröte. Jetzt tat
+Fräulein Rottenmeier einen Sprung in die Höhe, wie sie seit vielen
+Jahren keinen getan hatte, dann schrie sie aus Leibeskräften:
+"Sebastian! Sebastian!"
+
+Plötzlich hielt der Orgelspieler inne, denn diesmal hatte die
+Stimme die Musik übertönt. Sebastian stand draußen vor der halb
+offenen Tür und krümmte sich vor Lachen, denn er hatte zugesehen,
+wie der Sprung vor sich ging. Endlich kam er herein. Fräulein
+Rottenmeier war auf einen Stuhl niedergesunken.
+
+"Fort mit allem, Mensch und Tier! Schaffen Sie sie weg, Sebastian,
+sofort!", rief sie ihm entgegen. Sebastian gehorchte bereitwillig,
+zog den Jungen hinaus, der schnell seine Schildkröte erfasst hatte,
+drückte ihm draußen etwas in die Hand und sagte: "Vierzig für
+Fräulein Klara, und vierzig fürs Spielen, das hast du gut gemacht";
+damit schloss er hinter ihm die Haustür. Im Studierzimmer war es
+wieder ruhig geworden; die Studien wurden wieder fortgesetzt, und
+Fräulein Rottenmeier hatte sich nun auch festgesetzt in dem Zimmer,
+um durch ihre Gegenwart ähnliche Gräuel zu verhüten. Den Vorfall
+wollte sie nach den Unterrichtsstunden untersuchen und den
+Schuldigen so bestrafen, dass er daran denken würde.
+
+Schon wieder klopfte es an die Tür, und herein trat abermals
+Sebastian mit der Nachricht, es sei ein großer Korb gebracht worden,
+der sogleich an Fräulein Klara selbst abzugeben sei.
+
+"An mich?", fragte Klara erstaunt und äußerst neugierig, was das
+sein möchte; "zeigen Sie doch gleich einmal her, wie er aussieht."
+
+Sebastian brachte einen bedeckten Korb herein und entfernte sich
+dann eilig wieder.
+
+"Ich denke, erst wird der Unterricht beendet, dann der Korb
+ausgepackt", bemerkte Fräulein Rottenmeier.
+
+Klara konnte sich nicht vorstellen, was man ihr gebracht hatte; sie
+schaute sehr verlangend nach dem Korb.
+
+"Herr Kandidat", sagte sie, sich selbst in ihrem Deklinieren
+unterbrechend, "könnte ich nicht nur einmal schnell hineinsehen, um
+zu wissen, was drin ist, und dann gleich wieder fortfahren?"
+
+"In einer Hinsicht könnte man dafür, in einer anderen dawider sein",
+entgegnete der Herr Kandidat; "_dafür_ spräche der Grund, dass,
+wenn nun Ihre ganze Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand gerichtet
+ist--"; die Rede konnte nicht beendigt werden. Der Deckel des
+Korbes saß nur lose darauf, und nun sprangen mit einem Mal ein,
+zwei drei und wieder zwei und immer noch mehr junge Kätzchen
+darunter hervor und ins Zimmer hinaus, und mit einer so
+unbegreiflichen Schnelligkeit fuhren sie überall herum, dass es war,
+als wäre das ganze Zimmer voll solcher Tierchen. Sie sprangen
+über die Stiefel des Herrn Kandidaten, bissen an seinen
+Beinkleidern, kletterten am Kleid von Fräulein Rottenmeier empor,
+krabbelten um ihre Füße herum, sprangen an Klaras Sessel hinauf,
+kratzten, krabbelten, miauten; es war ein arges Gewirre. Klara
+rief immerfort voller Entzücken: "Oh, die niedlichen Tierchen! Die
+lustigen Sprünge! Sieh! Sieh! Heidi, hier, dort, sieh dieses!"
+Heidi schoss ihnen vor Freude in alle Winkel nach. Der Herr
+Kandidat stand sehr verlegen am Tisch und zog bald den einen, bald
+den andern Fuß in die Höhe, um ihn dem unheimlichen Gekrabbel zu
+entziehen. Fräulein Rottenmeier saß erst sprachlos vor Entsetzen
+in ihrem Sessel, dann fing sie an aus Leibeskräften zu schreien:
+"Tinette! Tinette! Sebastian! Sebastian!", denn vom Sessel
+aufzustehen konnte sie unmöglich wagen, da konnten ja mit einem Mal
+alle die kleinen Scheusale an ihr emporspringen.
+
+Endlich kamen Sebastian und Tinette auf die wiederholten Hilferufe
+herbei, und jener packte gleich eins nach dem andern der kleinen
+Geschöpfe in den Korb hinein und trug sie auf den Estrich zu dem
+Katzenlager, das er für die zwei von gestern bereitet hatte.
+
+Auch am heutigen Tage hatte kein Gähnen während der
+Unterrichtsstunden stattgefunden. Am späten Abend, als Fräulein
+Rottenmeier sich von den Aufregungen des Morgens wieder hinlänglich
+erholt hatte, berief sie Sebastian und Tinette ins Studierzimmer
+herauf, um hier eine gründliche Untersuchung über die strafwürdigen
+Vorgänge anzustellen. Nun kam es denn heraus, dass Heidi auf
+seinem gestrigen Ausflug die sämtlichen Ereignisse vorbereitet und
+herbeigeführt hatte. Fräulein Rottenmeier saß weiß vor Entrüstung
+da und konnte erst keine Worte für ihre Empfindungen finden. Sie
+winkte mit der Hand, dass Sebastian und Tinette sich entfernen
+sollten. Jetzt wandte sie sich an Heidi, das neben Klaras Sessel
+stand und nicht recht begriff, was es verbrochen hatte.
+
+"Adelheid", begann sie mit strengem Ton, "ich weiß nur _eine_
+Strafe, die dir empfindlich sein könnte, denn du bist eine Barbarin;
+aber wir wollen sehen, ob du unten im dunklen Keller bei Molchen
+und Ratten nicht zahm wirst, dass du dir keine solchen Dinge mehr
+einfallen lässt."
+
+Heidi hörte still und verwundert sein Urteil an, denn in einem
+schreckhaften Keller war es noch nie gewesen, der anstoßende Raum
+in der Almhütte, den der Großvater Keller nannte, wo immer die
+fertigen Käse lagen und die frische Milch stand, war eher ein
+anmutiger und einladender Ort, und Ratten und Molche hatte es noch
+keine gesehen.
+
+Aber Klara erhob einen lauten Jammer: "Nein, nein, Fräulein
+Rottenmeier, man muss warten, bis der Papa da ist; er hat ja
+geschrieben, er komme nun bald, und dann will ich ihm alles
+erzählen, und er sagt dann schon, was mit Heidi geschehen soll."
+
+Gegen diesen Oberrichter durfte Fräulein Rottenmeier nichts
+einwenden, umso weniger, da er wirklich in Bälde zu erwarten war.
+Sie stand auf und sagte etwas grimmig: "Gut, Klara, aber auch ich
+werde ein Wort mit Herrn Sesemann sprechen." Damit verließ sie das
+Zimmer.
+
+Es verflossen nun ein paar ungestörte Tage, aber Fräulein
+Rottenmeier kam nicht mehr aus der Aufregung heraus, stündlich trat
+ihr die Täuschung vor Augen, die sie in Heidis Persönlichkeit
+erlebt hatte, und es war ihr, als sei seit seiner Erscheinung im
+Hause Sesemann alles aus den Fugen gekommen und komme nicht wieder
+hinein. Klara war sehr vergnügt; sie langweilte sich nie mehr,
+denn in den Unterrichtsstunden machte Heidi die kurzweiligsten
+Sachen; die Buchstaben machte es immer alle durcheinander und
+konnte sie nie kennen lernen, und wenn der Herr Kandidat mitten im
+Erklären und Beschreiben ihrer Formen war, um sie ihm anschaulicher
+zu machen und als Vergleichung etwa von einem Hörnchen oder einem
+Schnabel sprach dabei, rief es auf einmal in aller Freude aus: "Es
+ist eine Geiß!", oder: "Es ist ein Raubvogel!" Denn die
+Beschreibungen weckten in seinem Gehirn allerlei Vorstellungen, nur
+keine Buchstaben. In den späteren Nachmittagsstunden saß Heidi
+wieder bei Klara und erzählte ihr immer wieder von der Alm und dem
+Leben dort, so viel und so lange, bis das Verlangen darnach in ihm
+so brennend wurde, dass es immer zum Schluss versicherte: "Nun muss
+ich gewiss wieder heim! Morgen muss ich gewiss gehen!" Aber Klara
+beschwichtigte immer wieder diese Anfälle und bewies Heidi, dass es
+doch sicher dableiben müsse, bis der Papa komme; dann werde man
+schon sehen, wie es weitergehe. Wenn Heidi alsdann immer wieder
+nachgab und gleich wieder zufrieden war, so half ihm eine fröhliche
+Aussicht dazu, die es im Stillen hatte, dass mit jedem Tage, den es
+noch dablieb, sein Häuflein Brötchen für die Großmutter wieder um
+zwei größer würde, denn mittags und abends lag immer ein schönes
+Weißbrötchen bei seinem Teller; das steckte es gleich ein, denn es
+hätte das Brötchen nie essen können beim Gedanken, dass die
+Großmutter nie eines habe und das harte, schwarze Brot fast nicht
+mehr essen konnte. Nach Tisch saß Heidi jeden Tag ein paar Stunden
+lang ganz allein in seinem Zimmer und regte sich nicht, denn dass
+es in Frankfurt verboten war, nur so hinauszulaufen, wie es auf der
+Alm getan, das hatte es nun begriffen und tat es nie mehr. Mit
+Sebastian drüben im Esszimmer ein Gespräch führen durfte es auch
+nicht, das hatte Fräulein Rottenmeier auch verboten, und mit
+Tinette eine Unterhaltung zu probieren, daran kam ihm kein Sinn; es
+ging ihr immer scheu aus dem Wege, denn sie redete nur in
+höhnischem Ton mit ihm und spöttelte es fortwährend an, und Heidi
+verstand ihre Art ganz gut, und dass sie es nur immer ausspottete.
+So saß Heidi täglich da und hatte alle Zeit, sich auszudenken, wie
+nun die Alm wieder grün war und wie die gelben Blümchen im
+Sonnenschein glitzerten und wie alles leuchtete rings um die Sonne,
+der Schnee und die Berge und das ganze weite Tal, und Heidi konnte
+es manchmal fast nicht mehr aushalten vor Verlangen, wieder dort zu
+sein. Die Base hatte ja auch gesagt, es könne wieder heimgehen,
+wann es wolle. So kam es, dass Heidi eines Tages es nicht mehr
+aushielt; es packte in aller Eile seine Brötchen in das große rote
+Halstuch zusammen, setzte sein Strohhütchen auf und zog aus. Aber
+schon unter der Haustür traf es auf ein großes Reisehindernis, auf
+Fräulein Rottenmeier selbst, die eben von einem Ausgang
+zurückkehrte. Sie stand still und schaute in starrem Erstaunen
+Heidi von oben bis unten an, und ihr Blick blieb vorzüglich auf dem
+gefüllten roten Halstuch haften. Jetzt brach sie los.
+
+"Was ist das für ein Aufzug? Was heißt das überhaupt? Habe ich
+dir nicht streng verboten, je wieder herumzustreichen? Nun
+probierst du's doch wieder und dazu noch völlig aussehend wie eine
+Landstreicherin."
+
+"Ich wollte nicht herumstreichen, ich wollte nur heimgehen",
+entgegnete Heidi erschrocken.
+
+"Wie? Was? Heimgehen? Heimgehen wolltest du?" Fräulein
+Rottenmeier schlug die Hände zusammen vor Aufregung. "Fortlaufen!
+Wenn das Herr Sesemann wüsste! Fortlaufen aus seinem Hause! Mach
+nicht, dass er das je erfährt! Und was ist dir denn nicht recht in
+seinem Hause? Wirst du nicht viel besser behandelt, als du
+verdienst? Fehlt es dir an irgendetwas? Hast du je in deinem
+ganzen Leben eine Wohnung oder einen Tisch oder eine Bedienung
+gehabt, wie du hier hast? Sag!"
+
+"Nein", entgegnete Heidi.
+
+"Das weiß ich wohl!", fuhr die Dame eifrig fort. "Nichts fehlt dir,
+gar nichts, du bist ein ganz unglaublich undankbares Kind, und vor
+lauter Wohlsein weißt du nicht, was du noch alles anstellen willst!"
+
+Aber jetzt kam dem Heidi alles obenauf, was in ihm war, und brach
+hervor: "Ich will ja nur heim, und wenn ich so lang nicht komme, so
+muss das Schneehöppli immer klagen, und die Großmutter erwartet
+mich, und der Distelfink bekommt die Rute, wenn der Geißenpeter
+keinen Käse bekommt, und hier kann man gar nie sehen, wie die Sonne
+gute Nacht sagt zu den Bergen; und wenn der Raubvogel in Frankfurt
+obenüber fliegen würde, so würde er noch viel lauter krächzen, dass
+so viele Menschen beieinander sitzen und einander bös machen und
+nicht auf den Felsen gehen, wo es einem wohl ist."
+
+"Barmherzigkeit, das Kind ist übergeschnappt!", rief Fräulein
+Rottenmeier aus und stürzte mit Schrecken die Treppe hinauf, wo sie
+sehr unsanft gegen den Sebastian rannte, der eben hinunter wollte.
+"Holen Sie auf der Stelle das unglückliche Wesen herauf!", rief sie
+ihm zu, indem sie sich den Kopf rieb, denn sie war hart angestoßen.
+
+"Ja, ja, schon recht, danke schön", gab Sebastian zurück und rieb
+sich den seinen, denn er war noch härter angefahren.
+
+Heidi stand mit flammenden Augen noch auf derselben Stelle fest und
+zitterte vor innerer Erregung am ganzen Körper.
+
+"Na, schon wieder was angestellt?", fragte Sebastian lustig; als er
+aber Heidi, das sich nicht rührte, recht ansah, klopfte er ihm
+freundlich auf die Schulter und sagte tröstend: "Pah! Pah! Das
+muss sich das Mamsellchen nicht so zu Herzen nehmen, nur lustig,
+das ist die Hauptsache! Sie hat mir eben jetzt auch fast ein Loch
+in den Kopf gerannt; aber nur nicht einschüchtern lassen! Na?
+Immer noch auf demselben Fleck? Wir müssen hinauf, sie hat's
+befohlen."
+
+Heidi ging nun die Treppe hinauf, aber langsam und leise und gar
+nicht, wie sonst seine Art war. Das tat dem Sebastian Leid zu
+sehen; er ging hinter dem Heidi her und sprach ermutigende Worte zu
+ihm: "Nur nicht abgeben! Nur nicht traurig werden! Nur immer
+tapfer darauf zu! Wir haben ja ein ganz vernünftiges Mamsellchen,
+hat noch gar nie geweint, seit es bei uns ist; sonst weinen sie ja
+zwölfmal im Tag in dem Alter, das kennt man. Die Kätzchen sind
+auch lustig droben, die springen auf dem ganzen Estrich herum und
+tun wie närrisch. Nachher gehen wir mal zusammen hinauf und
+schauen ihnen zu, wenn die Dame drinnen weg ist, ja?"
+
+Heidi nickte ein wenig mit dem Kopf, aber so freudlos, dass es dem
+Sebastian recht zu Herzen ging und er ganz teilnehmend dem Heidi
+nachschaute, wie es nach seinem Zimmer hin schlich.
+
+Am Abendessen heute sagte Fräulein Rottenmeier kein Wort, aber
+fortwährend warf sie sonderbar wachsame Blicke zu Heidi hinüber, so
+als erwartete sie, es könnte plötzlich etwas Unerhörtes unternehmen;
+aber Heidi saß mäuschenstill am Tisch und rührte sich nicht, es aß
+nicht und trank nicht; nur sein Brötchen hatte es schnell in die
+Tasche gesteckt.
+
+Am folgenden Morgen, als der Herr Kandidat die Treppe heraufkam,
+winkte ihn Fräulein Rottenmeier geheimnisvoll ins Esszimmer herein,
+und hier teilte sie ihm in großer Aufregung ihre Besorgnis mit, die
+Luftveränderung, die neue Lebensart und die ungewohnten Eindrücke
+hätten das Kind um den Verstand gebracht, und sie erzählte ihm von
+Heidis Fluchtversuch und wiederholte ihm von seinen sonderbaren
+Reden, was sie noch wusste. Aber der Herr Kandidat besänftigte und
+beruhigte Fräulein Rottenmeier, indem er sie versicherte, dass er
+die Wahrnehmung gemacht habe, die Adelheid sei zwar einerseits
+allerdings eher exzentrisch, aber anderseits doch wieder bei
+richtigem Verstand, so dass sich nach und nach bei einer allseitig
+erwogenen Behandlung das nötige Gleichgewicht einstellen könne, was
+er im Auge habe; er finde den Umstand wichtiger, dass er durchaus
+nicht über das Abc hinauskomme mit ihr, indem sie die Buchstaben
+nicht zu fassen imstande sei.
+
+Fräulein Rottenmeier fühlte sich beruhigter und entließ den Herrn
+Kandidaten zu seiner Arbeit. Am späteren Nachmittag stieg ihr die
+Erinnerung an Heidis Aufzug bei seiner vorgehabten Abreise auf, und
+sie beschloss, die Gewandung des Kindes durch verschiedene
+Kleidungsstücke der Klara in den nötigen Stand zu setzen, bevor
+Herr Sesemann erscheinen würde. Sie teilte ihre Gedanken darüber
+an Klara mit, und da diese mit allem einverstanden war und dem
+Heidi eine Menge Kleider und Tücher und Hüte schenken wollte,
+verfügte sich die Dame in Heidis Zimmer, um seinen Kleiderschrank
+zu besehen und zu untersuchen, was da von dem Vorhandenen bleiben
+und was entfernt werden solle. Aber in wenig Minuten kam sie
+wieder zurück mit Gebärden des Abscheus. "Was muss ich entdecken,
+Adelheid!", rief sie aus. "Es ist nie dagewesen! In deinem
+Kleiderschrank, einem Schrank für Kleider, Adelheid, im Fuß dieses
+Schrankes, was finde ich? Einen Haufen kleiner Brote! Brot, sage
+ich, Klara, im Kleiderschrank! Und einen solchen Haufen
+aufspeichern!"--"Tinette", rief sie jetzt ins Esszimmer hinaus,
+"schaffen Sie mir das alte Brot fort aus dem Schrank der Adelheid
+und den zerdrückten Strohhut auf dem Tisch!"
+
+"Nein! Nein!", schrie Heidi auf; "ich muss den Hut haben, und die
+Brötchen sind für die Großmutter", und Heidi wollte der Tinette
+nachstürzen, aber es wurde von Fräulein Rottenmeier festgehalten.
+
+"Du bleibst hier und der Kram wird hingebracht, wo er hingehört",
+sagte sie bestimmt und hielt das Kind zurück. Aber nun warf sich
+Heidi an Klaras Sessel nieder und fing ganz verzweiflungsvoll zu
+weinen an, immer lauter und schmerzlicher, und schluchzte ein Mal
+ums andere in seinem Jammer auf: "Nun hat die Großmutter keine
+Brötchen mehr. Sie waren für die Großmutter, nun sind sie alle
+fort und die Großmutter bekommt keine!", und Heidi weinte auf, als
+wollte ihm das Herz zerspringen. Fräulein Rottenmeier lief hinaus.
+Klara wurde es angst und bange bei dem Jammer. "Heidi, Heidi,
+weine nur nicht so", sagte sie bittend, "hör mich nur! Jammere nur
+nicht so, sieh, ich verspreche dir, ich gebe dir gerade so viel
+Brötchen für die Großmutter, oder noch mehr, wenn du einmal
+heimgehst, und dann sind diese frisch und weich, und die deinen
+wären ja ganz hart geworden und waren es schon. Komm, Heidi, weine
+nur nicht mehr so!"
+
+Heidi konnte noch lange nicht aus seinem Schluchzen herauskommen;
+aber es verstand Klaras Trost und hielt sich daran, sonst hätte es
+gar nicht mehr zu weinen aufhören können. Es musste auch noch
+mehrere Male seiner Hoffnung gewiss werden und Klara, durch die
+letzten Anfälle von Schluchzen unterbrochen, fragen: "Gibst du mir
+so viele, viele, wie ich hatte, für die Großmutter?"
+
+Und Klara versicherte immer wieder: "Gewiss, ganz gewiss, noch mehr,
+sei nur wieder froh!"
+
+Noch zum Abendtisch kam Heidi mit den rot verweinten Augen, und als
+es sein Brötchen erblickte, musste es gleich noch einmal
+aufschluchzen. Aber es bezwang sich jetzt mit Gewalt, denn es
+verstand, dass es sich am Tisch ruhig verhalten musste. Sebastian
+machte heute jedes Mal die merkwürdigsten Gebärden, wenn er in
+Heidis Nähe kam; er deutete bald auf seinen, bald auf Heidis Kopf,
+dann nickte er wieder und kniff die Augen zu, so als wollte er
+sagen: "Nur getrost! Ich hab's schon gemerkt und besorgt."
+
+Als Heidi später in sein Zimmer kam und in sein Bett steigen wollte,
+lag sein zerdrücktes Strohhütchen unter der Decke versteckt. Mit
+Entzücken zog es den alten Hut hervor, zerdrückte ihn vor lauter
+Freude noch ein wenig mehr und versteckte ihn dann, in ein
+Taschentüchlein eingewickelt, in die allerhinterste Ecke seines
+Schrankes. Das Hütchen hatte der Sebastian unter die Decke
+gesteckt; er war zu gleicher Zeit mit Tinette im Esszimmer gewesen,
+als diese gerufen wurde, und hatte Heidis Jammerruf vernommen.
+Dann war er Tinette nachgegangen, und als sie aus Heidis Zimmer
+heraustrat mit ihrer Brotlast und dem Hütchen oben darauf, hatte er
+schnell dieses weggenommen und ihr zugerufen: "Das will ich schon
+forttun." Darauf hatte er es in aller Freude für Heidi gerettet,
+was er ihm beim Abendessen zur Erheiterung andeuten wollte.
+
+
+
+
+Der Hausherr hört allerlei in seinem Hause, das er noch nicht
+gehört hat
+
+Einige Tage nach diesen Ereignissen war im Hause Sesemann große
+Lebendigkeit und ein eifriges Treppauf- und Treppabrennen, denn
+eben war der Hausherr von seiner Reise zurückgekehrt, und aus dem
+bepackten Wagen wurde von Sebastian und Tinette eine Last nach der
+anderen hinaufgetragen, denn Herr Sesemann brachte immer eine Menge
+schöner Sachen mit nach Hause.
+
+Er selbst war vor allem in das Zimmer seiner Tochter eingetreten,
+um sie zu begrüßen. Heidi saß bei ihr, denn es war die Zeit des
+späten Nachmittags, da die beiden immer zusammen waren. Klara
+begrüßte ihren Vater mit großer Zärtlichkeit, denn sie liebte ihn
+sehr, und der gute Papa grüßte sein Klärchen nicht weniger
+liebevoll. Dann streckte er seine Hand dem Heidi entgegen, das
+sich leise in eine Ecke zurückgezogen hatte, und sagte freundlich:
+"Und das ist unsre kleine Schweizerin; komm her, gib mir mal eine
+Hand! So ist's recht! Nun sag mir mal, seid ihr auch gute Freunde
+zusammen, Klara und du? Nicht zanken und böse werden, und dann
+weinen und dann versöhnen, und dann wieder von vorn anfangen, nun?"
+
+"Nein, Klara ist immer gut mit mir", entgegnete Heidi.
+
+"Und Heidi hat auch noch gar nie versucht zu zanken, Papa", warf
+Klara schnell ein.
+
+"So ist's gut, das hör ich gern", sagte der Papa, indem er aufstand.
+"Nun musst du aber erlauben, Klärchen, dass ich etwas genieße;
+heute habe ich noch nichts bekommen. Nachher komm ich wieder zu
+dir und du sollst sehen, was ich mitgebracht habe!"
+
+Herr Sesemann trat ins Esszimmer ein, wo Fräulein Rottenmeier den
+Tisch überschaute, der für sein Mittagsmahl gerüstet war. Nachdem
+Herr Sesemann sich niedergelassen und die Dame ihm gegenüber Platz
+genommen hatte und aussah wie ein lebendiges Missgeschick, wandte
+sich der Hausherr zu ihr: "Aber Fräulein Rottenmeier, was muss ich
+denken? Sie haben zu meinem Empfang ein wahrhaft erschreckendes
+Gesicht aufgesetzt. Wo fehlt es denn? Klärchen ist ganz munter."
+
+"Herr Sesemann", begann die Dame mit gewichtigem Ernst, "Klara ist
+mit betroffen, wir sind fürchterlich getäuscht worden."
+
+"Wieso?", fragte Herr Sesemann und trank in aller Ruhe einen
+Schluck Wein.
+
+"Wir hatten ja beschlossen, wie Sie wissen, Herr Sesemann, eine
+Gespielin für Klara ins Haus zu nehmen, und da ich ja weiß, wie
+sehr Sie darauf halten, dass nur Gutes und Edles Ihre Tochter
+umgebe, hatte ich meinen Sinn auf ein junges Schweizermädchen
+gerichtet, indem ich hoffte, eines jener Wesen bei uns eintreten zu
+sehen, von denen ich schon so oft gelesen, welche, der reinen
+Bergluft entsprossen, sozusagen, ohne die Erde zu berühren, durch
+das Leben gehen."
+
+"Ich glaube zwar", bemerkte hier Herr Sesemann, "dass auch die
+Schweizerkinder den Erdboden berühren, wenn sie vorwärts kommen
+wollen; sonst wären ihnen wohl Flügel gewachsen statt der Füße."
+
+"Ach, Herr Sesemann, Sie verstehen mich wohl", fuhr das Fräulein
+fort; "Ich meinte eine jener so bekannten, in den hohen, reinen
+Bergregionen lebenden Gestalten, die nur wie ein idealer Hauch an
+uns vorüberziehen."
+
+"Was sollte aber meine Klara mit einem idealen Hauch anfangen,
+Fräulein Rottenmeier?"
+
+"Nein, Herr Sesemann, ich scherze nicht, die Sache ist mir ernster,
+als Sie denken; ich bin schrecklich, wirklich ganz schrecklich
+getäuscht worden."
+
+"Aber worin liegt denn das Schreckliche? So gar erschrecklich
+sieht mir das Kind nicht aus", bemerkte ruhig Herr Sesemann.
+
+"Sie sollten nur _eines_ wissen, Herr Sesemann, nur das _eine_, mit
+was für Menschen und Tieren dieses Wesen Ihr Haus in Ihrer
+Abwesenheit bevölkert hat; davon könnte der Herr Kandidat erzählen."
+
+"Mit Tieren? Wie muss ich das verstehen, Fräulein Rottenmeier?"
+
+"Es ist eben nicht zu verstehen; die ganze Aufführung dieses Wesens
+wäre nicht zu verstehen, wenn nicht aus dem _einen_ Punkte, dass es
+Anfälle von völliger Verstandesgestörtheit hat."
+
+Bis hierher hatte Herr Sesemann die Sache nicht für wichtig
+gehalten; aber Gestörtheit des Verstandes? Eine solche konnte ja
+für seine Tochter die bedenklichsten Folgen haben. Herr Sesemann
+schaute Fräulein Rottenmeier sehr genau an, so, als wollte er sich
+erst versichern, ob nicht etwa bei ihr eine derartige Störung zu
+bemerken sei. In diesem Augenblick wurde die Tür aufgetan und der
+Herr Kandidat angemeldet.
+
+"Ah, da kommt unser Herr Kandidat, der wird uns Aufschluss geben!",
+rief ihm Herr Sesemann entgegen. "Kommen Sie, kommen Sie, setzen
+Sie sich zu mir!" Herr Sesemann streckte dem Eintretenden die Hand
+entgegen. "Der Herr Kandidat trinkt eine Tasse schwarzen Kaffee
+mit mir, Fräulein Rottenmeier! Setzen Sie sich, setzen Sie sich--
+keine Komplimente! Und nun sagen Sie mir, Herr Kandidat, was ist
+mit dem Kinde, das als Gespielin meiner Tochter ins Haus gekommen
+ist und das Sie unterrichten. Was hat es für eine Bewandtnis mit
+den Tieren, die es ins Haus gebracht, und wie steht es mit seinem
+Verstand?"
+
+Der Herr Kandidat musste erst seine Freude über Herrn Sesemanns
+glückliche Rückkehr aussprechen und ihn willkommen heißen, weswegen
+er ja gekommen war; aber Herr Sesemann drängte ihn, dass er ihm
+Aufschluss gebe über die fraglichen Punkte. So begann denn der
+Herr Kandidat: "Wenn ich mich über das Wesen dieses jungen Mädchens
+aussprechen soll, Herr Sesemann, so möchte ich vor allem darauf
+aufmerksam machen, dass, wenn auch auf der einen Seite sich ein
+Mangel der Entwicklung, welcher durch eine mehr oder weniger
+vernachlässigte Erziehung, oder besser gesagt, etwas verspäteten
+Unterricht verursacht und durch die mehr oder weniger, jedoch
+durchaus nicht in jeder Beziehung zu verurteilende, im Gegenteil
+ihre guten Seiten unstreitig dartuende Abgeschiedenheit eines
+längeren Alpenaufenthalts, welcher, wenn er nicht eine gewisse
+Dauer überschreitet, ja ohne Zweifel seine gute Seite--"
+
+"Mein lieber Herr Kandidat", unterbrach hier Herr Sesemann, "Sie
+geben sich wirklich zu viel Mühe; sagen Sie mir, hat auch Ihnen das
+Kind einen Schrecken beigebracht durch eingeschleppte Tiere, und
+was halten Sie überhaupt von diesem Umgang für mein Töchterchen?"
+
+"Ich möchte dem jungen Mädchen in keiner Art zu nahe treten",
+begann der Herr Kandidat wieder, "denn wenn es auch auf der einen
+Seite in einer Art von gesellschaftlicher Unerfahrenheit, welche
+mit dem mehr oder weniger unkultivierten Leben, in welchem das
+junge Mädchen bis zu dem Augenblick seiner Versetzung nach
+Frankfurt sich bewegte, welche Versetzung allerdings in die
+Entwicklung dieses, ich möchte sagen noch völlig, wenigstens
+teilweise unentwickelten, aber anderseits mit nicht zu verachtenden
+Anlagen begabten und wenn allseitig umsichtig geleitet--"
+
+"Entschuldigen Sie, Herr Kandidat, bitte, lassen Sie sich nicht
+stören, ich werde--ich muss schnell einmal nach meiner Tochter
+sehen." Damit lief Herr Sesemann zur Tür hinaus und kam nicht
+wieder. Drüben im Studierzimmer setzte er sich zu seinem
+Töchterchen hin; Heidi war aufgestanden. Herr Sesemann wandte sich
+nach dem Kinde um: "Hör mal, Kleine, hol mir doch schnell--wart
+einmal--hol mir mal"--(Herr Sesemann wusste nicht recht, was er
+bedurfte, Heidi sollte aber ein wenig ausgeschickt werden)--"hol
+mir doch mal ein Glas Wasser."
+
+"Frisches?", fragte Heidi.
+
+"Jawohl! Jawohl! Recht frisches!", gab Herr Sesemann zurück.
+Heidi verschwand.
+
+"Nun, mein liebes Klärchen", sagte der Papa, indem er ganz nah an
+sein Töchterchen heranrückte und dessen Hand in die seinige legte,
+"sag du mir klar und fasslich: Was für Tiere hat diese deine
+Gespielin ins Haus gebracht und warum muss Fräulein Rottenmeier
+denken, sie sei zeitweise nicht ganz recht im Kopf; kannst du mir
+das sagen?"
+
+Das konnte Klara, denn die erschrockene Dame hatte auch ihr von
+Heidis sich verwirrenden Reden gesprochen, die aber für Klara alle
+einen Sinn hatten. Sie erzählte erst dem Vater die Geschichten von
+der Schildkröte und den jungen Katzen und erklärte ihm dann Heidis
+Reden, welche die Dame so erschreckt hatten. Jetzt lachte Herr
+Sesemann herzlich. "So willst du nicht, dass ich das Kind nach
+Haus schicke, Klärchen, du bist seiner nicht müde?", fragte der
+Vater.
+
+"Nein, nein, Papa, tu nur das nicht!", rief Klara abwehrend aus.
+"Seit Heidi da ist, begegnet immer etwas, jeden Tag, und es ist so
+kurzweilig, ganz anders als vorher, da begegnete nie etwas, und
+Heidi erzählt mir auch so viel."
+
+"Schon gut, schon gut, Klärchen, da kommt ja auch deine Freundin
+schon wieder. Na, schönes, frisches Wasser geholt?", fragte Herr
+Sesemann, da ihm Heidi nun ein Glas Wasser hinstreckte.
+
+"Ja, frisch vom Brunnen", antwortete Heidi.
+
+"Du bist doch nicht selbst zum Brunnen gelaufen, Heidi?", sagte
+Klara.
+
+"Doch gewiss, es ist ganz frisch, aber ich musste weit gehen, denn
+am ersten Brunnen waren so viele Leute. Da ging ich die Straße
+ganz hinab, aber beim zweiten waren wieder so viele Leute; da ging
+ich in die andere Straße hinein und dort nahm ich Wasser, und der
+Herr mit den weißen Haaren lässt Herrn Sesemann freundlich grüßen."
+
+"Na, die Expedition ist gut", lachte Herr Sesemann, "und wer ist
+denn der Herr?"
+
+"Er kam beim Brunnen vorbei und dann stand er still und sagte:
+'Weil du doch ein Glas hast, so gib mir auch einmal zu
+trinken; wem bringst du dein Glas Wasser?' Und ich sagte:
+'Herrn Sesemann.' Da lachte er sehr stark, und dann
+sagte er den Gruß und auch noch, Herr Sesemann solle sich's
+schmecken lassen."
+
+"So, und wer lässt mir denn wohl den guten Wunsch sagen? Wie sah
+der Herr denn weiter aus?", fragte Herr Sesemann.
+
+"Er lacht freundlich und hat eine dicke goldene Kette und ein
+goldenes Ding hängt daran mit einem großen roten Stein und auf
+seinem Stock ist ein Rosskopf."
+
+"Das ist der Herr Doktor"--"Das ist mein alter Doktor", sagten
+Klara und ihr Vater wie aus einem Munde, und Herr Sesemann lachte
+noch ein wenig in sich hinein im Gedanken an seinen Freund und
+dessen Betrachtungen über diese neue Weise, seinen Wasserbedarf
+sich zuführen zu lassen.
+
+Noch an demselben Abend erklärte Herr Sesemann, als er allein mit
+Fräulein Rottenmeier im Esszimmer saß, um allerlei häusliche
+Angelegenheiten mit ihr zu besprechen, die Gespielin seiner Tochter
+werde im Hause bleiben; er finde, das Kind sei in einem normalen
+Zustand, und seine Gesellschaft sei seiner Tochter sehr lieb und
+angenehmer als jede andere. "Ich wünsche daher", setzte Herr
+Sesemann sehr bestimmt hinzu, "dass dieses Kind jederzeit durchaus
+freundlich behandelt und seine Eigentümlichkeiten nicht als
+Vergehen betrachtet werden. Sollten Sie übrigens mit dem Kinde
+nicht allein fertig werden, Fräulein Rottenmeier, so ist ja eine
+gute Hilfe für Sie in Aussicht, da in nächster Zeit meine Mutter zu
+ihrem längeren Aufenthalt in mein Haus kommt, und meine Mutter wird
+mit jedem Menschen fertig, wie er sich auch anstelle, das wissen
+Sie ja wohl, Fräulein Rottenmeier?"
+
+"Jawohl, das weiß ich, Herr Sesemann", entgegnete die Dame, aber
+nicht mit dem Ausdruck der Erleichterung im Hinblick auf die
+angezeigte Hilfe.--
+
+Herr Sesemann hatte diesmal nur eine kurze Zeit Ruhe zu Hause,
+schon nach vierzehn Tagen riefen ihn seine Geschäfte wieder nach
+Paris, und er tröstete sein Töchterchen, das mit der nahen Abreise
+nicht einverstanden war, mit der Aussicht auf die baldige Ankunft
+der Großmama, die schon nach einigen Tagen erwartet werden konnte.
+
+Kaum war auch Herr Sesemann abgereist, als schon der Brief anlangte,
+der die Abreise der Frau Sesemann aus Holstein, wo sie auf einem
+alten Gute wohnte, anzeigte und die bestimmte Zeit ihrer Ankunft
+auf den folgenden Tag meldete, damit der Wagen nach dem Bahnhof
+geschickt würde, um sie abzuholen.
+
+Klara war voller Freude über die Nachricht und erzählte noch an
+demselben Abend dem Heidi so viel und so lange von der Großmama,
+dass Heidi auch anfing, von der 'Großmama' zu reden,
+worauf Fräulein Rottenmeier Heidi mit Missbilligung anblickte, was
+aber das Kind auf nichts Besonderes bezog, denn es fühlte sich
+unter fortdauernder Missbilligung der Dame. Als es sich dann
+später entfernte, um in sein Schlafzimmer zu gehen, berief Fräulein
+Rottenmeier es erst in das ihrige herein und erklärte ihm hier, es
+habe niemals den Namen 'Großmama' anzuwenden, sondern
+wenn Frau Sesemann nun da sei, habe es sie stets 'gnädige
+Frau' anzureden. "Verstehst du das?", fragte die Dame, als
+Heidi sie etwas zweifelhaft ansah; sie gab ihm aber einen so
+abschließenden Blick zurück, dass Heidi sich keine Erklärung mehr
+erbat, obschon es den Titel nicht verstanden hatte.
+
+
+
+
+Eine Großmama
+
+Am folgenden Abend waren große Erwartungen und lebhafte
+Vorbereitungen im Hause Sesemann sichtbar, man konnte deutlich
+bemerken, dass die erwartete Dame ein bedeutendes Wort im Hause
+mitzusprechen hatte und dass jedermann großen Respekt vor ihr
+empfand. Tinette hatte ein ganz neues, weißes Deckelchen auf den
+Kopf gesetzt, und Sebastian raffte eine Menge von Schemeln zusammen
+und stellte sie an alle passenden Stellen hin, damit die Dame
+gleich einen Schemel unter den Füßen finde, wohin sie sich auch
+setzen möge. Fräulein Rottenmeier ging zur Musterung der Dinge
+sehr aufrecht durch die Zimmer, so wie um anzudeuten, dass, wenn
+auch eine zweite Herrschermacht herannahe, die ihrige dennoch nicht
+am Erlöschen sei.
+
+Jetzt rollte der Wagen vor das Haus, und Sebastian und Tinette
+stürzten die Treppe hinunter; langsam und würdevoll folgte Fräulein
+Rottenmeier nach, denn sie wusste, dass auch sie zum Empfang der
+Frau Sesemann zu erscheinen hatte. Heidi war beordert worden, sich
+in sein Zimmer zurückzuziehen und da zu warten, bis es gerufen
+würde, denn die Großmutter würde zuerst bei Klara eintreten und
+diese wohl allein sehen wollen. Heidi setzte sich in einen Winkel
+und repetierte seine Anrede. Es währte gar nicht lange, so steckte
+die Tinette den Kopf ein klein wenig unter Heidis Zimmertür und
+sagte kurz angebunden wie immer: "Hinübergehen ins Studierzimmer!"
+
+Heidi hatte Fräulein Rottenmeier nicht fragen dürfen, wie es mit
+der Anrede sei, aber es dachte, die Dame habe sich nur versprochen,
+denn es hatte bis jetzt immer erst den Titel nennen gehört und
+nachher den Namen; so hatte es sich nun die Sache zurechtgelegt.
+Wie es die Tür zum Studierzimmer aufmachte, rief ihm die Großmutter
+mit freundlicher Stimme entgegen: "Ah, da kommt ja das Kind! Komm
+mal her zu mir und lass dich recht ansehen."
+
+Heidi trat heran, und mit seiner klaren Stimme sagte es sehr
+deutlich: "Guten Tag, Frau Gnädige."
+
+"Warum nicht gar!", lachte die Großmama. "Sagt man so bei euch?
+Hast du das daheim auf der Alp gehört?"
+
+"Nein, bei uns heißt niemand so", erklärte Heidi ernsthaft.
+
+"So, bei uns auch nicht", lachte die Großmama wieder und klopfte
+Heidi freundlich auf die Wange. "Das ist nichts! In der
+Kinderstube bin ich die Großmama; so sollst du mich nennen, das
+kannst du wohl behalten, wie?"
+
+"Ja, das kann ich gut", versicherte Heidi, "vorher hab ich schon
+immer so gesagt."
+
+"So, so, verstehe schon!", sagte die Großmama und nickte ganz
+lustig mit dem Kopfe. Dann schaute sie Heidi genau an und nickte
+von Zeit zu Zeit wieder mit dem Kopf, und Heidi guckte ihr auch
+ganz ernsthaft in die Augen, denn da kam etwas so Herzliches heraus,
+dass es dem Heidi ganz wohl machte, und die ganze Großmama gefiel
+dem Heidi so, dass es sie unverwandt anschauen musste. Sie hatte
+so schöne weiße Haare, und um den Kopf ging eine schöne
+Spitzenkrause, und zwei breite Bänder flatterten von der Haube weg
+und bewegten sich immer irgendwie, so als ob stets ein leichter
+Wind um die Großmama wehe, was das Heidi ganz besonders anmutete.
+
+"Und wie heißt du, Kind?", fragte jetzt die Großmama.
+
+"Ich heiße nur Heidi; aber weil ich soll Adelheid heißen, so will
+ich schon Acht geben--"; Heidi stockte, denn es fühlte sich ein
+wenig schuldig, da es noch immer keine Antwort gab, wenn Fräulein
+Rottenmeier unversehens rief: "Adelheid!", indem es ihm noch immer
+nicht recht gegenwärtig war, dass dies sein Name sei, und Fräulein
+Rottenmeier war eben ins Zimmer getreten.
+
+"Frau Sesemann wird unstreitig billigen", fiel hier die eben
+Eingetretene ein, "dass ich einen Namen wählen musste, den man doch
+aussprechen kann, ohne sich selbst genieren zu müssen, schon um der
+Dienstboten willen."
+
+"Werteste Rottenmeier", entgegnete Frau Sesemann, "wenn ein Mensch
+einmal 'Heidi' heißt und an den Namen gewöhnt ist, so
+nenn ich ihn so, und dabei bleibt's!"
+
+Es war Fräulein Rottenmeier sehr genierlich, dass die alte Dame sie
+beständig nur bei ihrem Namen nannte, ohne weitere Titulatur; aber
+da war nichts zu machen; die Großmama hatte einmal ihre eigenen
+Wege, und diese ging sie, da half kein Mittel dagegen. Auch ihre
+fünf Sinne hatte die Großmama noch ganz scharf und gesund, und sie
+bemerkte, was im Hause vorging, sobald sie es betreten hatte.
+
+Als am Tage nach ihrer Ankunft Klara sich zur gewohnten Zeit nach
+Tisch niederlegte, setzte die Großmama sich neben sie auf einen
+Lehnstuhl und schloss ihre Augen für einige Minuten; dann stand sie
+schon wieder auf--denn sie war gleich wieder munter--und trat ins
+Esszimmer hinaus; da war niemand. "Die schläft", sagte sie vor
+sich hin, ging dann nach dem Zimmer der Dame Rottenmeier und
+klopfte kräftig an die Tür. Nach einiger Zeit erschien diese und
+fuhr erschrocken ein wenig zurück bei dem unerwarteten Besuch.
+
+"Wo hält sich das Kind auf um diese Zeit, und was tut es? Das
+wollte ich wissen", sagte Frau Sesemann.
+
+"In seinem Zimmer sitzt es, wo es sich nützlich beschäftigen könnte,
+wenn es den leisesten Tätigkeitstrieb hätte; aber Frau Sesemann
+sollte nur wissen, was für verkehrtes Zeug sich dieses Wesen oft
+ausdenkt und wirklich ausführt, Dinge, die ich in gebildeter
+Gesellschaft kaum erzählen könnte."
+
+"Das würde ich gerade auch tun, wenn ich so da drinnen säße wie
+dieses Kind, das kann ich Ihnen sagen, und Sie könnten zusehen, wie
+Sie mein Zeug in gebildeter Gesellschaft erzählen wollten! Jetzt
+holen Sie mir das Kind heraus und bringen Sie mir's in meine Stube,
+ich will ihm einige hübsche Bücher geben, die ich mitgebracht habe."
+
+"Das ist ja gerade das Unglück, das ist es ja eben!", rief Fräulein
+Rottenmeier aus und schlug die Hände zusammen. "Was sollte das
+Kind mit Büchern tun? In all dieser Zeit hat es noch nicht einmal
+das Abc erlernt; es ist völlig unmöglich, diesem Wesen auch nur
+_einen_ Begriff beizubringen, davon kann der Herr Kandidat reden!
+Wenn dieser treffliche Mensch nicht die Geduld eines himmlischen
+Engels besäße, er hätte diesen Unterricht längst aufgegeben."
+
+"So, das ist merkwürdig, das Kind sieht nicht aus wie eines, das
+das Abc nicht erlernen kann", sagte Frau Sesemann. "Jetzt holen
+Sie mir's herüber, es kann vorläufig die Bilder in den Büchern
+ansehen."
+
+Fräulein Rottenmeier wollte noch einiges bemerken, aber Frau
+Sesemann hatte sich schon umgewandt und ging rasch ihrem Zimmer zu.
+Sie musste sich sehr verwundern über die Nachricht von Heidis
+Beschränktheit und gedachte, die Sache zu untersuchen, jedoch nicht
+mit dem Herrn Kandidaten, den sie zwar um seines guten Charakters
+willen sehr schätzte; sie grüßte ihn auch immer, wenn sie mit ihm
+zusammentraf, überaus freundlich, lief dann aber sehr schnell auf
+eine andere Seite, um nicht in ein Gespräch mit ihm verwickelt zu
+werden, denn seine Ausdrucksweise war ihr ein wenig beschwerlich.
+
+Heidi erschien im Zimmer der Großmama und machte die Augen weit auf,
+als es die prächtigen bunten Bilder in den großen Büchern sah,
+welche die Großmama mitgebracht hatte. Auf einmal schrie Heidi
+laut auf, als die Großmama wieder ein Blatt umgewandt hatte; mit
+glühendem Blick schaute es auf die Figuren, dann stürzten ihm
+plötzlich die hellen Tränen aus den Augen, und es fing gewaltig zu
+schluchzen an. Die Großmama schaute das Bild an. Es war eine
+schöne, grüne Weide, wo allerlei Tierlein herumweideten und an den
+grünen Gebüschen nagten. In der Mitte stand der Hirt, auf einen
+langen Stab gestützt, der schaute den fröhlichen Tierchen zu.
+Alles war wie in Goldschimmer gemalt, denn hinten am Horizont war
+eben die Sonne im Untergehen.
+
+Die Großmama nahm Heidi bei der Hand. "Komm, komm, Kind", sagte
+sie in freundlichster Weise, "nicht weinen, nicht weinen. Das hat
+dich wohl an etwas erinnert; aber sieh, da ist auch eine schöne
+Geschichte dazu, die erzähl ich heut Abend. Und da sind noch so
+viele schöne Geschichten in dem Buch, die kann man alle lesen und
+wieder erzählen. Komm, nun müssen wir etwas besprechen zusammen,
+trockne schön deine Tränen, so, und nun stell dich hier vor mich
+hin, dass ich dich recht ansehen kann; so ist's recht, nun sind wir
+wieder fröhlich."
+
+Aber noch verging einige Zeit, bevor Heidi zu schluchzen aufhören
+konnte. Die Großmama ließ ihm auch eine gute Weile zur Erholung,
+nur sagte sie von Zeit zu Zeit ermunternd: "So, nun ist's gut, nun
+sind wir wieder froh zusammen."
+
+Als sie endlich das Kind beruhigt sah, sagte sie: "Nun musst du mir
+was erzählen, Kind! Wie geht es denn beim Herrn Kandidaten in den
+Unterrichtsstunden, lernst du auch gut und kannst du was?"
+
+"O nein", antwortete Heidi seufzend; "aber ich wusste schon, dass
+man es nicht lernen kann."
+
+"Was kann man denn nicht lernen, Heidi, was meinst du?"
+
+"Lesen kann man nicht lernen, es ist zu schwer."
+
+"Das wäre! Und woher weißt du denn diese Neuigkeit?"
+
+"Der Peter hat es mir gesagt und er weiß es schon, der muss immer
+wieder probieren, aber er kann es nie lernen, es ist zu schwer."
+
+"So, das ist mir ein eigener Peter, der! Aber sieh, Heidi, man
+muss nicht alles nur so hinnehmen, was einem ein Peter sagt, man
+muss selbst probieren. Gewiss hast du nicht recht mit all deinen
+Gedanken dem Herrn Kandidaten zugehört und seine Buchstaben
+angesehen."
+
+"Es nützt nichts", versicherte Heidi mit dem Ton der vollen
+Ergebung in das Unabänderliche.
+
+"Heidi", sagte nun die Großmama, "jetzt will ich dir etwas sagen:
+Du hast noch nie lesen gelernt, weil du deinem Peter geglaubt hast;
+nun aber sollst du mir glauben, und ich sage dir fest und sicher,
+dass du in kurzer Zeit lesen lernen kannst, wie eine große Menge
+von Kindern, die geartet sind wie du und nicht wie der Peter. Und
+nun musst du wissen, was nachher kommt, wenn du dann lesen kannst--
+du hast den Hirten gesehen auf der schönen, grünen Weide--; sobald
+du nun lesen kannst, bekommst du das Buch, da kannst du seine ganze
+Geschichte vernehmen, ganz so, als ob sie dir jemand erzählte,
+alles, was er macht mit seinen Schafen und Ziegen und was ihm für
+merkwürdige Dinge begegnen. Das möchtest du schon wissen, Heidi,
+nicht?"
+
+Heidi hatte mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört, und mit
+leuchtenden Augen sagte es jetzt, tief Atem holend: "Oh, wenn ich
+nur schon lesen könnte!"
+
+"Jetzt wird's kommen, und gar nicht lange wird's währen, das kann
+ich schon sehen, Heidi, und nun müssen wir mal nach der Klara sehen;
+komm, die schönen Bücher nehmen wir mit." Damit nahm die Großmama
+Heidi bei der Hand und ging mit ihm nach dem Studierzimmer.
+
+Seit dem Tage, da Heidi hatte heimgehen wollen und Fräulein
+Rottenmeier es auf der Treppe ausgescholten und ihm gesagt hatte,
+wie schlecht und undankbar es sich erweise durch sein
+Fortlaufenwollen und wie gut es sei, dass Herr Sesemann nichts
+davon wisse, war mit dem Kinde eine Veränderung vorgegangen. Es
+hatte begriffen, dass es nicht heimgehen könne, wenn es wolle, wie
+ihm die Base gesagt hatte, sondern dass es in Frankfurt zu bleiben
+habe, lange, lange, vielleicht für immer. Es hatte auch verstanden,
+dass Herr Sesemann es sehr undankbar von ihm finden würde, wenn es
+heimgehen wollte, und es dachte sich aus, dass die Großmama und
+Klara auch so denken würden. So durfte es keinem Menschen sagen,
+dass es heimgehen möchte, denn dass die Großmama, die so freundlich
+mit ihm war, auch böse würde, wie Fräulein Rottenmeier geworden war,
+das wollte Heidi nicht verursachen. Aber in seinem Herzen wurde
+die Last, die darinnen lag, immer schwerer; es konnte nicht mehr
+essen, und jeden Tag wurde es ein wenig bleicher. Am Abend konnte
+es oft lange, lange nicht einschlafen, denn sobald es allein war
+und alles still ringsumher, kam ihm alles so lebendig vor die Augen,
+die Alm und der Sonnenschein darauf und die Blumen; und schlief es
+endlich doch ein, so sah es im Traum die roten Felsenspitzen am
+Falknis und das feurige Schneefeld an der Schesaplana, und erwachte
+dann Heidi am Morgen und wollte voller Freude hinausspringen aus
+der Hütte--da war es auf einmal in seinem großen Bett in Frankfurt,
+so weit, weit weg, und konnte nicht mehr heim. Dann drückte Heidi
+oft seinen Kopf in das Kissen und weinte lang, ganz leise, dass
+niemand es höre.
+
+Heidis freudloser Zustand entging der Großmama nicht. Sie ließ
+einige Tage vorübergehen und sah zu, ob die Sache sich ändere und
+das Kind sein niedergeschlagenes Wesen verlieren würde. Als es
+aber gleich blieb und die Großmama manchmal am frühen Morgen schon
+sehen konnte, dass Heidi geweint hatte, da nahm sie eines Tages das
+Kind wieder in ihre Stube, stellte es vor sich hin und sagte mit
+großer Freundlichkeit: "Jetzt sag mir, was dir fehlt, Heidi; hast
+du einen Kummer?"
+
+Aber gerade dieser freundlichen Großmama wollte Heidi nicht sich so
+undankbar zeigen, dass sie vielleicht nachher gar nicht mehr so
+freundlich wäre; so sagte Heidi traurig: "Man kann es nicht sagen."
+
+"Nicht? Kann man es etwa der Klara sagen?", fragte die Großmama.
+
+"O nein, keinem Menschen", versicherte Heidi und sah dabei so
+unglücklich aus, dass es die Großmama erbarmte.
+
+"Komm, Kind", sagte sie, "ich will dir was sagen: Wenn man einen
+Kummer hat, den man keinem Menschen sagen kann, so klagt man ihn
+dem lieben Gott im Himmel und bittet ihn, dass er helfe, denn er
+kann allem Leid abhelfen, das uns drückt. Das verstehst du, nicht
+wahr? Du betest doch jeden Abend zum lieben Gott im Himmel und
+dankst ihm für alles Gute und bittest ihn, dass er dich vor allem
+Bösen behüte?"
+
+"O nein, das tu ich nie", antwortete das Kind.
+
+"Hast du denn gar nie gebetet, Heidi, weißt du nicht, was das ist?"
+
+"Nur mit der ersten Großmutter habe ich gebetet, aber es ist schon
+lang, und jetzt habe ich es vergessen."
+
+"Siehst du, Heidi, darum musst du so traurig sein, weil du jetzt
+gar niemanden kennst, der dir helfen kann. Denk einmal nach, wie
+wohl das tun muss, wenn einen im Herzen etwas immerfort drückt und
+quält und man kann so jeden Augenblick zum lieben Gott hingehen und
+ihm alles sagen und ihn bitten, dass er helfe, wo uns sonst gar
+niemand helfen kann! Und er kann überall helfen und uns geben, was
+uns wieder froh macht."
+
+Durch Heidis Augen fuhr ein Freudenstrahl: "Darf man ihm alles,
+alles sagen?"
+
+"Alles, Heidi, alles."
+
+Das Kind zog seine Hand aus den Händen der Großmama und sagte eilig:
+"Kann ich gehen?"
+
+"Gewiss! Gewiss!", gab diese zur Antwort, und Heidi lief davon und
+hinüber in sein Zimmer, und hier setzte es sich auf seinen Schemel
+nieder und faltete seine Hände und sagte dem lieben Gott alles, was
+in seinem Herzen war und es so traurig machte, und bat ihn dringend
+und herzlich, dass er ihm helfe und es wieder heimkommen lasse zum
+Großvater.--
+
+Es mochte etwas mehr als eine Woche verflossen sein seit diesem
+Tage, als der Herr Kandidat begehrte, der Frau Sesemann seine
+Aufwartung zu machen, indem er eine Besprechung über einen
+merkwürdigen Gegenstand mit der Dame abzuhalten gedachte. Er wurde
+auf ihre Stube berufen, und hier, wie er eintrat, streckte ihm Frau
+Sesemann sogleich freundlich die Hand entgegen: "Mein lieber Herr
+Kandidat, seien Sie mir willkommen! Setzen Sie sich her zu mir,
+hier"--sie rückte ihm den Stuhl zurecht. "So, nun sagen Sie mir,
+was bringt Sie zu mir; doch nichts Schlimmes, keine Klagen?"
+
+"Im Gegenteil, gnädige Frau", begann der Herr Kandidat; "es ist
+etwas vorgefallen, das ich nicht mehr erwarten konnte und keiner,
+der einen Blick in alles Vorhergegangene hätte werfen können, denn
+nach allen Voraussetzungen musste angenommen werden, dass es eine
+völlige Unmöglichkeit sein müsse, was dennoch jetzt wirklich
+geschehen ist und in der wunderbarsten Weise stattgefunden hat,
+gleichsam im Gegensatz zu allem folgerichtig zu Erwartenden--"
+
+"Sollte das Kind Heidi etwa lesen gelernt haben, Herr Kandidat?",
+setzte hier Frau Sesemann ein.
+
+In sprachlosem Erstaunen schaute der überraschte Herr die Dame an.
+
+"Es ist ja wirklich völlig wunderbar", sagte er endlich, "nicht nur,
+dass das junge Mädchen nach all meinen gründlichen Erklärungen,
+und ungewöhnlichen Bemühungen das Abc nicht erlernt hat, sondern
+auch und besonders, dass es jetzt in kürzester Zeit, nachdem ich
+mich entschlossen hatte, das Unerreichbare aus den Augen zu lassen
+und ohne alle weiter greifenden Erläuterungen nur noch sozusagen
+die nackten Buchstaben vor die Augen des jungen Mädchens zu bringen,
+sozusagen über Nacht das Lesen erfasst hat, und dann sogleich mit
+einer Korrektheit die Worte liest, wie mir bei Anfängern noch
+selten vorgekommen ist. Fast ebenso wunderbar ist mir die
+Wahrnehmung, dass die gnädige Frau gerade diese fern liegende
+Tatsache als Möglichkeit vermutete."
+
+"Es geschehen viele wunderbare Dinge im Menschenleben", bestätigte
+Frau Sesemann und lächelte vergnüglich; "es können auch einmal zwei
+Dinge glücklich zusammentreffen, wie ein neuer Lerneifer und eine
+neue Lehrmethode, und beide können nichts schaden, Herr Kandidat.
+Jetzt wollen wir uns freuen, dass das Kind so weit ist, und auf
+guten Fortgang hoffen."
+
+Damit begleitete sie den Herrn Kandidaten zur Tür hinaus und ging
+rasch nach dem Studierzimmer, um sich selbst der erfreulichen
+Nachricht zu versichern. Richtig saß hier Heidi neben Klara und
+las dieser eine Geschichte vor, sichtlich selbst mit dem größten
+Erstaunen und mit einem wachsenden Eifer in die neue Welt
+eindringend, die ihm aufgegangen war, nun ihm mit einem Mal aus den
+schwarzen Buchstaben Menschen und Dinge entgegentraten und Leben
+gewannen und zu herzbewegenden Geschichten wurden. Noch am selben
+Abend, als man sich zu Tische setzte, fand Heidi auf seinem Teller
+das große Buch liegen mit den schönen Bildern, und als es fragend
+nach der Großmama blickte, sagte diese freundlich nickend: "Ja, ja,
+nun gehört es dir."
+
+"Für immer? Auch wenn ich heimgehe?", fragte Heidi ganz rot vor
+Freude.
+
+"Gewiss, für immer!", versicherte die Großmama; "morgen fangen wir
+an zu lesen."
+
+"Aber du gehst nicht heim, noch viele Jahre nicht, Heidi", warf
+Klara hier ein; "wenn nun die Großmama wieder fortgeht, dann musst
+du erst recht bei mir bleiben."
+
+Noch vor dem Schlafengehen musste Heidi in seinem Zimmer sein
+schönes Buch ansehen, und von dem Tage an war es sein Liebstes,
+über seinem Buch zu sitzen und immer wieder die Geschichten zu
+lesen, zu denen die schönen bunten Bilder gehörten. Sagte am Abend
+die Großmama: "Nun liest uns Heidi vor", so war das Kind sehr
+beglückt, denn das Lesen ging ihm nun ganz leicht, und wenn es die
+Geschichten laut vorlas, so kamen sie ihm noch viel schöner und
+verständlicher vor, und die Großmama erklärte dann noch so vieles
+und erzählte immer noch mehr dazu. Am liebsten beschaute Heidi
+immer wieder seine grüne Weide und den Hirten mitten unter der
+Herde, wie er so vergnüglich, auf seinen langen Stab gelehnt,
+dastand, denn da war er noch bei der schönen Herde des Vaters und
+ging nur den lustigen Schäfchen und Ziegen nach, weil es ihn freute.
+Aber dann kam das Bild, wo er, vom Vaterhaus weggelaufen, nun in
+der Fremde war und die Schweinchen hüten musste und ganz mager
+geworden war bei den Trebern, die er allein noch zu essen bekam.
+Und auf dem Bilde schien auch die Sonne nicht mehr so golden, da
+war das Land grau und nebelig. Aber dann kam noch ein Bild zu der
+Geschichte: Da kam der alte Vater mit ausgebreiteten Armen aus dem
+Hause heraus und lief dem heimkehrenden reuigen Sohn entgegen, um
+ihn zu empfangen, der ganz furchtsam und abgemagert in einem
+zerrissenen Wams daherkam. Das war Heidis Lieblingsgeschichte, die
+es immer wieder las, laut und leise, und es konnte nie genug der
+Erklärungen bekommen, welche die Großmama den Kindern dazu machte.
+Da waren aber noch so viele schöne Geschichten in dem Buch, und bei
+dem Lesen derselben und dem Bilderbesehen gingen die Tage sehr
+schnell dahin, und schon nahte die Zeit heran, welche die Großmama
+zu ihrer Abreise bestimmt hatte.
+
+
+
+
+Heidi nimmt auf einer Seite zu und auf der anderen ab
+
+Die Großmama hatte während der ganzen Zeit ihres Aufenthalts jeden
+Nachmittag, wenn Klara sich hinlegte und Fräulein Rottenmeier,
+wahrscheinlich der Ruhe bedürftig, geheimnisvoll verschwand, sich
+einen Augenblick neben Klara hingesetzt; aber schon nach fünf
+Minuten war sie wieder auf den Füßen und hatte dann immer Heidi auf
+ihre Stube berufen, sich mit ihm besprochen und es auf allerlei
+Weise beschäftigt und unterhalten. Die Großmama hatte hübsche
+kleine Puppen und zeigte dem Heidi, wie man ihnen Kleider und
+Schürzchen macht, und ganz unvermerkt hatte Heidi das Nähen erlernt
+und machte den kleinen Frauenzimmern die schönsten Röcke und
+Mäntelchen, denn die Großmama hatte immer Zeugstücke von den
+prächtigsten Farben. Nun Heidi lesen konnte, durfte es auch immer
+wieder der Großmama seine Geschichten vorlesen; das machte ihm die
+größte Freude, denn je mehr es seine Geschichten las, desto lieber
+wurden sie ihm, denn Heidi lebte alles ganz mit durch, was die
+Leute alle zu erleben hatten, und so hatte es zu ihnen allen ein
+sehr nahes Verhältnis und freute sich immer wieder, bei ihnen zu
+sein. Aber so recht froh sah Heidi nie aus, und seine lustigen
+Augen waren nie mehr zu sehen.
+
+Es war die letzte Woche, welche die Großmama in Frankfurt zubringen
+wollte. Sie hatte eben nach Heidi gerufen, dass es auf ihre Stube
+komme; es war die Zeit, da Klara schlief. Als Heidi eintrat mit
+seinem großen Buch unter dem Arm, winkte ihm die Großmama, dass es
+ganz nahe zu ihr herankomme, legte das Buch weg und sagte: "Nun
+komm, Kind, und sag mir, warum bist du nicht fröhlich? Hast du
+immer noch denselben Kummer im Herzen?"
+
+"Ja", nickte Heidi.
+
+"Hast du ihn dem lieben Gott geklagt?"
+
+"Ja."
+
+"Und betest du nun alle Tage, dass alles gut werde und er dich froh
+mache?"
+
+"O nein, ich bete jetzt gar nie mehr."
+
+"Was sagst du mir, Heidi? Was muss ich hören? Warum betest du
+denn nicht mehr?"
+
+"Es nützt nichts, der liebe Gott hat nicht zugehört, und ich glaube
+es auch wohl", fuhr Heidi in einiger Aufregung weiter, "wenn nun am
+Abend so viele, viele Leute in Frankfurt alle miteinander beten, so
+kann der liebe Gott ja nicht auf alle Acht geben, und mich hat er
+gewiss gar nicht gehört."
+
+"So, wie weißt du denn das so sicher, Heidi?"
+
+"Ich habe alle Tage das Gleiche gebetet, manche Woche lang, und der
+liebe Gott hat es nie getan."
+
+"Ja, so geht's nicht zu, Heidi! Das musst du nicht meinen! Siehst
+du, der liebe Gott ist für uns alle ein guter Vater, der immer weiß,
+was gut für uns ist, wenn wir es gar nicht wissen. Wenn wir aber
+nun etwas von ihm haben wollen, das nicht gut für uns ist, so gibt
+er uns das nicht, sondern etwas viel Besseres, wenn wir fortfahren,
+so recht herzlich zu ihm zu beten, aber nicht gleich weglaufen und
+alles Vertrauen zu ihm verlieren. Siehst du, was du nun von ihm
+erbitten wolltest, das war in diesem Augenblick nicht gut für dich;
+der liebe Gott hat dich schon gehört, er kann alle Menschen auf
+einmal anhören und übersehen, siehst du, dafür ist er der liebe
+Gott und nicht ein Mensch wie du und ich. Und weil er nun wohl
+wusste, was für dich gut ist, dachte er bei sich: 'Ja, das
+Heidi soll schon einmal haben, wofür es bittet, aber erst dann,
+wenn es ihm gut ist, und so wie es darüber recht froh werden kann.
+Denn wenn ich jetzt tue, was es will, und es merkt nachher, dass es
+doch besser gewesen wäre, ich hätte ihm seinen Willen nicht getan,
+dann weint es nachher und sagt: Hätte mir doch der liebe Gott nur
+nicht gegeben, wofür ich bat, es ist gar nicht so gut, wie ich
+gemeint habe.' Und während nun der liebe Gott auf dich
+niedersah, ob du ihm auch recht vertrautest und täglich zu ihm
+kommest und betest und immer zu ihm aufsehest, wenn dir etwas fehlt,
+da bist du weggelaufen ohne alles Vertrauen, hast nie mehr gebetet
+und hast den lieben Gott ganz vergessen. Aber siehst du, wenn
+einer es so macht und der liebe Gott hört seine Stimme gar nie mehr
+unter den Betenden, so vergisst er ihn auch und lässt ihn gehen,
+wohin er will. Wenn es ihm dabei aber schlecht geht und er jammert:
+'Mir hilft aber auch gar niemand!', dann hat keiner
+Mitleiden mit ihm, sondern jeder sagt zu ihm: 'Du bist ja
+selbst vom lieben Gott weggelaufen, der dir helfen konnte!'
+Willst du's so haben, Heidi, oder willst du gleich wieder zum
+lieben Gott gehen und ihn um Verzeihung bitten, dass du so von ihm
+weggelaufen bist, und dann alle Tage zu ihm beten und ihm vertrauen,
+dass er alles gut für dich machen werde, so dass du auch wieder
+ein frohes Herz bekommen kannst?"
+
+Heidi hatte sehr aufmerksam zugehört; jedes Wort der Großmama fiel
+in sein Herz, denn zu ihr hatte das Kind ein unbedingtes Vertrauen.
+
+"Ich will jetzt gleich auf der Stelle gehen und den lieben Gott um
+Verzeihung bitten, und ich will ihn nie mehr vergessen", sagte
+Heidi reumütig.
+
+"So ist's recht, Kind, er wird dir auch helfen zur rechten Zeit,
+sei nur getrost!", ermunterte die Großmama, und Heidi lief sofort
+in sein Zimmer hinüber und betete ernstlich und reuig zum lieben
+Gott und bat ihn, dass er es doch nicht vergessen und auch wieder
+zu ihm niederschauen möge.--
+
+Der Tag der Abreise war gekommen, es war für Klara und Heidi ein
+trauriger Tag; aber die Großmama wusste es so einzurichten, dass
+sie gar nicht zum Bewusstsein kamen, dass es eigentlich ein
+trauriger Tag sei, sondern es war eher wie ein Festtag, bis die
+gute Großmama im Wagen davonfuhr. Da trat eine Leere und Stille im
+Hause ein, als wäre alles vorüber, und solange noch der Tag währte,
+saßen Klara und Heidi wie verloren da und wussten gar nicht, wie es
+nun weiter kommen sollte.
+
+Am folgenden Tag, als die Unterrichtsstunden vorbei und die Zeit da
+war, da die Kinder gewöhnlich zusammensaßen, trat Heidi mit seinem
+Buch unter dem Arm herein und sagte: "Ich will dir nun immer, immer
+vorlesen; willst du, Klara?"
+
+Der Klara war der Vorschlag recht für einmal, und Heidi machte sich
+mit Eifer an seine Tätigkeit. Aber es ging nicht lange, so hörte
+schon wieder alles auf, denn kaum hatte Heidi eine Geschichte zu
+lesen begonnen, die von einer sterbenden Großmutter handelte, als
+es auf einmal laut aufschrie: "Oh, nun ist die Großmutter tot!",
+und in ein jammervolles Weinen ausbrach, denn alles, was es las,
+war dem Heidi volle Gegenwart, und es glaubte nicht anders, als nun
+sei die Großmutter auf der Alm gestorben, und es klagte in immer
+lauterem Weinen: "Nun ist die Großmutter tot, und ich kann nie mehr
+zu ihr gehen, und sie hat nicht ein einziges Brötchen mehr bekommen!"
+
+Klara suchte immerfort dem Heidi zu erklären, dass es ja nicht die
+Großmutter auf der Alm sei, sondern eine ganz andere, von der diese
+Geschichte handle; aber auch, als sie endlich dazu gekommen war,
+dem aufgeregten Heidi diese Verwechslung klar zu machen, konnte es
+sich doch nicht beruhigen und weinte immer noch untröstlich weiter,
+denn der Gedanke war ihm nun im Herzen erwacht, die Großmutter
+könne ja sterben, während es so weit weg sei, und der Großvater
+auch noch, und wenn es dann nach einiger Zeit wieder heimkomme, so
+sei alles still und tot auf der Alm und es stehe ganz allein da und
+könne niemals mehr die sehen, die ihm lieb waren.
+
+Währenddessen war Fräulein Rottenmeier ins Zimmer getreten und
+hatte noch Klaras Bemühungen, Heidi über seinen Irrtum aufzuklären,
+mit angehört. Als das Kind aber immer noch nicht aufhören konnte
+zu schluchzen, trat sie mit sichtlichen Zeichen der Ungeduld zu den
+Kindern heran und sagte mit bestimmtem Ton: "Adelheid, nun ist des
+grundlosen Geschreis genug! Ich will dir eines sagen: Wenn du noch
+ein einziges Mal beim Lesen deiner Geschichten solchen Ausbrüchen
+den Lauf lässt, so nehme ich das Buch aus deinen Händen und für
+immer!"
+
+Das machte Eindruck. Heidi wurde ganz weiß vor Schrecken, das Buch
+war sein höchster Schatz. Es trocknete in größter Eile seine
+Tränen und schluckte und würgte sein Schluchzen mit Gewalt hinunter,
+so dass kein Tönchen mehr laut wurde. Das Mittel hatte geholfen,
+Heidi weinte nie mehr, was es auch lesen mochte; aber manchmal
+hatte es solche Anstrengungen zu machen, um sich zu überwinden und
+nicht aufzuschreien, dass Klara öfter ganz erstaunt sagte: "Heidi,
+du machst so schreckliche Grimassen, wie ich noch nie gesehen habe."
+Aber die Grimassen machten keinen Lärm und fielen der Dame
+Rottenmeier nicht auf, und wenn Heidi seinen Anfall von
+verzweiflungsvoller Traurigkeit niedergerungen hatte, kam alles
+wieder ins Geleise für einige Zeit und war tonlos vorübergegangen.
+Aber seinen Appetit verlor Heidi so sehr und sah so mager und
+bleich aus, dass der Sebastian fast nicht ertragen konnte, das so
+mit anzusehen und Zeuge sein zu müssen, wie Heidi bei Tisch die
+schönsten Gerichte an sich vorübergehen ließ und nichts essen
+wollte. Er flüsterte ihm auch öfter ermunternd zu, wenn er ihm
+eine Schüssel hinhielt: "Nehmen von dem, Mamsellchen, 's ist
+vortrefflich. Nicht so! Einen rechten Löffel voll, noch einen!",
+und dergleichen väterlicher Räte mehr; aber es half nichts: Heidi
+aß fast gar nicht mehr, und wenn es sich am Abend auf sein Kissen
+legte, so hatte es augenblicklich alles vor Augen, was daheim war,
+und nur ganz leise weinte es dann vor Sehnsucht in sein Kissen
+hinein, so dass es gar niemand hören konnte.
+
+So ging eine lange Zeit dahin. Heidi wusste gar nie, ob es Sommer
+oder Winter sei, denn die Mauern und Fenster, die es aus allen
+Fenstern des Hauses Sesemann erblickte, sahen immer gleich aus, und
+hinaus kam es nur, wenn es Klara besonders gut ging und eine
+Ausfahrt im Wagen mit ihr gemacht werden konnte, die aber immer
+sehr kurz war, denn Klara konnte nicht vertragen, lang zu fahren.
+So kam man kaum aus den Mauern und Steinstraßen heraus, sondern
+kehrte gewöhnlich vorher wieder um und fuhr immerfort durch große,
+schöne Straßen, wo Häuser und Menschen in Fülle zu sehen waren,
+aber nicht Gras und Blumen, keine Tannen und keine Berge, und
+Heidis Verlangen nach dem Anblick der schönen gewohnten Dinge
+steigerte sich mit jedem Tage mehr, so dass es jetzt nur den Namen
+eines dieser Erinnerung weckenden Worte zu lesen brauchte, so war
+schon ein Ausbruch des Schmerzes nahe, und Heidi hatte mit aller
+Gewalt dagegen zu ringen. So waren Herbst und Winter vergangen,
+und schon blendete die Sonne wieder so stark auf die weißen Mauern
+am Hause gegenüber, dass Heidi ahnte, nun sei die Zeit nahe, da der
+Peter wieder zur Alm führe mit den Geißen, da die goldenen
+Cystusröschen glitzerten droben im Sonnenschein und allabendlich
+ringsum alle Berge im Feuer ständen. Heidi setzte sich in seinem
+einsamen Zimmer in einen Winkel und hielt sich mit beiden Händen
+die Augen zu, dass es den Sonnenschein drüben an der Mauer nicht
+sehe; und so saß es regungslos, sein brennendes Heimweh lautlos
+niederkämpfend, bis Klara wieder nach ihm rief.
+
+
+
+
+Im Hause Sesemann spukt's
+
+Seit einigen Tagen wanderte Fräulein Rottenmeier meistens
+schweigend und in sich gekehrt im Haus herum. Wenn sie um die Zeit
+der Dämmerung von einem Zimmer ins andere oder über den langen
+Korridor ging, schaute sie öfters um sich, gegen die Ecken hin und
+auch schnell einmal hinter sich, so, als denke sie, es könnte
+jemand leise hinter ihr herkommen und sie unversehens am Rock
+zupfen. So allein ging sie aber nur noch in den bewohnten Räumen
+herum. Hatte sie auf dem oberen Boden, wo die feierlich
+aufgerüsteten Gastzimmer lagen, oder gar in den unteren Räumen
+etwas zu besorgen, wo der große geheimnisvolle Saal war, in dem
+jeder Tritt einen weithin schallenden Widerhall gab und die alten
+Ratsherren mit den großen, weißen Kragen so ernsthaft und
+unverwandt auf einen niederschauten, da rief sie nun regelmäßig die
+Tinette herbei und sagte ihr, sie habe mitzukommen, im Fall etwas
+von dort herauf- oder von oben herunterzutragen wäre. Tinette
+ihrerseits machte es pünktlich ebenso; hatte sie oben oder unten
+irgendein Geschäft abzutun, so rief sie den Sebastian herbei und
+sagte ihm, er habe sie zu begleiten, es möchte etwas
+herbeizubringen sein, das sie nicht allein tragen könnte.
+Wunderbarerweise tat auch Sebastian akkurat dasselbe; wurde er in
+die abgelegenen Räume geschickt, so holte er den Johann herauf und
+wies ihn an, ihn zu begleiten, im Fall er nicht herbeischaffen
+könnte, was erforderlich sei. Und jedes folgte immer ganz willig
+dem Ruf, obschon eigentlich nie etwas herbeizutragen war, so dass
+jedes gut hätte allein gehen können; aber es war so, als denke der
+Herbeigerufene immer bei sich, er könne den anderen auch bald für
+denselben Dienst nötig haben. Während sich solches oben zutrug,
+stand unten die langjährige Köchin tiefsinnig bei ihren Töpfen und
+schüttelte den Kopf und seufzte: "Dass ich das noch erleben musste!"
+
+Es ging im Hause Sesemann seit einiger Zeit etwas ganz Seltsames
+und Unheimliches vor. Jeden Morgen, wenn die Dienerschaft
+herunterkam, stand die Haustür weit offen; aber weit und breit war
+niemand zu sehen, der mit dieser Erscheinung im Zusammenhang stehen
+konnte. In den ersten Tagen, da dies geschehen war, wurden gleich
+mit Schrecken alle Zimmer und Räume des Hauses durchsucht, um zu
+sehen, was alles gestohlen sei, denn man dachte, ein Dieb habe sich
+im Hause verstecken können und sei in der Nacht mit dem Gestohlenen
+entflohen; aber da war gar nichts fortgekommen, es fehlte im ganzen
+Hause nicht ein einziges Ding. Abends wurde nicht nur die Tür
+doppelt zugeriegelt, sondern es wurde noch der hölzerne Balken
+vorgeschoben--es half nichts: Am Morgen stand die Tür weit offen;
+und so früh nun auch die ganze Dienerschaft in ihrer Aufregung am
+Morgen herunterkommen mochte--die Tür stand offen, wenn auch
+ringsum alles noch im tiefen Schlaf lag und Fenster und Türen an
+allen anderen Häusern noch fest verrammelt waren. Endlich fassten
+sich der Johann und der Sebastian ein Herz und machten sich auf die
+dringenden Zureden der Dame Rottenmeier bereit, die Nacht unten in
+dem Zimmer, das an den großen Saal stieß, zuzubringen und zu
+erwarten, was geschehe. Fräulein Rottenmeier suchte mehrere Waffen
+des Herrn Sesemann hervor und übergab dem Sebastian eine große
+Liqueurflasche, damit Stärkung vorausgehen und gute Wehr nachfolgen
+könne, wo sie nötig sei.
+
+Die beiden setzten sich an dem festgesetzten Abend hin und fingen
+gleich an, sich Stärkung zuzutrinken, was sie erst sehr gesprächig
+und dann ziemlich schläfrig machte, worauf sie beide sich an die
+Sesselrücken lehnten und verstummten. Als die alte Turmuhr drüben
+zwölf schlug, ermannte sich Sebastian und rief seinen Kameraden an;
+der war aber nicht leicht zu erwecken; sooft ihn Sebastian anrief,
+legte er seinen Kopf von einer Seite der Sessellehne auf die andere
+und schlief weiter. Sebastian lauschte nunmehr gespannt, er war
+nun wieder ganz munter geworden. Es war alles mäuschenstill, auch
+von der Straße war kein Laut mehr zu hören. Sebastian entschlief
+nicht wieder, denn jetzt wurde es ihm sehr unheimlich in der großen
+Stille, und er rief den Johann nur noch mit gedämpfter Stimme an
+und rüttelte ihn von Zeit zu Zeit ein wenig. Endlich, als es
+droben schon ein Uhr geschlagen hatte, war der Johann wach geworden
+und wieder zum klaren Bewusstsein gekommen, warum er auf dem Stuhl
+sitze und nicht in seinem Bett liege. Jetzt fuhr er auf einmal
+sehr tapfer empor und rief: "Nun, Sebastian, wir müssen doch einmal
+hinaus und sehen, wie's steht; du wirst dich ja nicht fürchten.
+Nur mir nach."
+
+Johann machte die leicht angelehnte Zimmertür weit auf und trat
+hinaus. Im gleichen Augenblick blies aus der offenen Haustür ein
+scharfer Luftzug her und löschte das Licht aus, das der Johann in
+der Hand hielt. Dieser stürzte zurück, warf den hinter ihm
+stehenden Sebastian beinah rücklings ins Zimmer hinein, riss ihn
+dann mit, schlug die Tür zu und drehte in fieberhafter Eile den
+Schlüssel um, solang er nur umging. Dann riss er seine
+Streichhölzer hervor und zündete sein Licht wieder an. Sebastian
+wusste gar nicht recht, was vorgefallen war, denn hinter dem
+breiten Johann stehend, hatte er den Luftzug nicht so deutlich
+empfunden. Wie er aber jenen nun bei Licht besah, tat er einen
+Schreckensruf, denn der Johann war kreideweiß und zitterte wie
+Espenlaub. "Was ist's denn? Was war denn draußen?", fragte der
+Sebastian teilnehmend.
+
+"Sperrangelweit offen die Tür", keuchte Johann, "und auf der Treppe
+eine weiße Gestalt, siehst du, Sebastian, nur so die Treppe hinauf--
+husch und verschwunden."
+
+Dem Sebastian gruselte es den ganzen Rücken hinauf. Jetzt setzten
+sich die beiden ganz nah zusammen und regten sich nicht mehr, bis
+dass der neue Morgen da war und es auf der Straße anfing, lebendig
+zu werden. Dann traten sie zusammen hinaus, machten die weit offen
+stehende Haustür zu und stiegen dann hinauf, um Fräulein
+Rottenmeier Bericht zu erstatten über das Erlebte. Die Dame war
+auch schon zu sprechen, denn die Erwartung der zu vernehmenden
+Dinge hatte sie nicht mehr schlafen lassen. Sobald sie nun
+vernommen hatte, was vorgefallen war, setzte sie sich hin und
+schrieb einen Brief an Herrn Sesemann, wie er noch keinen erhalten
+hatte; er möge sich nur sogleich, ohne Verzug, aufmachen und nach
+Hause zurückkehren, denn da geschähen unerhörte Dinge. Dann wurde
+ihm das Vorgefallene mitgeteilt sowie auch die Nachricht, dass
+fortgesetzt die Tür jeden Morgen offen stehe; dass also keiner im
+Hause seines Lebens mehr sicher sei bei dergestalt allnächtlich
+offen stehender Hauspforte und dass man überhaupt nicht absehen
+könne, was für dunkle Folgen dieser unheimliche Vorgang noch nach
+sich ziehen könne. Herr Sesemann antwortete umgehend, es sei ihm
+unmöglich, so plötzlich alles liegen zu lassen und nach Hause zu
+kommen. Die Gespenstergeschichte sei ihm sehr befremdend, er hoffe
+auch, sie sei vorübergehend; sollte es indessen keine Ruhe geben,
+so möge Fräulein Rottenmeier an Frau Sesemann schreiben und sie
+fragen, ob sie nicht nach Frankfurt zu Hilfe kommen wollte; gewiss
+würde seine Mutter in kürzester Zeit mit den Gespenstern fertig,
+und diese trauten sich nachher sicher so bald nicht wieder, sein
+Haus zu beunruhigen. Fräulein Rottenmeier war nicht zufrieden mit
+dem Ton dieses Briefes; die Sache war ihr zu wenig ernst aufgefasst.
+Sie schrieb unverzüglich an Frau Sesemann, aber von dieser Seite
+her tönte es nicht eben befriedigender, und die Antwort enthielt
+einige ganz anzügliche Bemerkungen. Frau Sesemann schrieb, sie
+gedenke nicht, extra von Holstein nach Frankfurt hinunterzureisen,
+weil die Rottenmeier Gespenster sehe. Übrigens sei niemals ein
+Gespenst gesehen worden im Hause Sesemann, und wenn jetzt eines
+darin herumfahre, so könne es nur ein lebendiges sein, mit dem die
+Rottenmeier sich sollte verständigen können; wo nicht, so solle sie
+die Nachtwächter zu Hilfe rufen.
+
+Aber Fräulein Rottenmeier war entschlossen, ihre Tage nicht mehr in
+Schrecken zuzubringen, und sie wusste sich zu helfen. Bis dahin
+hatte sie den beiden Kindern nichts von der Geistererscheinung
+gesagt, denn sie befürchtete, die Kinder würden vor Furcht Tag und
+Nacht keinen Augenblick mehr allein bleiben wollen, und das konnte
+sehr unbequeme Folgen für sie haben. Jetzt ging sie stracks ins
+Studierzimmer hinüber, wo die beiden zusammensaßen, und erzählte
+mit gedämpfter Stimme von den nächtlichen Erscheinungen eines
+Unbekannten. Sofort schrie Klara auf, sie bleibe keinen Augenblick
+mehr allein, der Papa müsse nach Hause kommen und Fräulein
+Rottenmeier müsse zum Schlafen in ihr Zimmer hinüberziehen, und
+Heidi dürfe auch nicht mehr allein sein, sonst könne das Gespenst
+einmal zu ihm kommen und ihm etwas tun; sie wollten alle in _einem_
+Zimmer schlafen und die ganze Nacht das Licht brennen lassen, und
+Tinette müsste nebenan schlafen und der Sebastian und der Johann
+müssten auch herunterkommen und auf dem Korridor schlafen, dass sie
+gleich schreien und das Gespenst erschrecken könnten, wenn es etwa
+die Treppe heraufkommen wollte. Klara war sehr aufgeregt und
+Fräulein Rottenmeier hatte nun die größte Mühe, sie etwas zu
+beschwichtigen. Sie versprach ihr, sogleich an den Papa zu
+schreiben und auch ihr Bett in Klaras Zimmer stellen und sie nie
+mehr allein lassen zu wollen. Alle konnten sie nicht in demselben
+Raume schlafen, aber wenn Adelheid sich auch fürchten sollte, so
+müsste Tinette ihr Nachtlager bei ihr aufschlagen. Aber Heidi
+fürchtete sich mehr vor der Tinette als vor Gespenstern, von denen
+das Kind noch gar nie etwas gehört hatte, und es erklärte gleich,
+es fürchte das Gespenst nicht und wolle schon allein in seinem
+Zimmer bleiben. Hierauf eilte Fräulein Rottenmeier an ihren
+Schreibtisch und schrieb an Herrn Sesemann, die unheimlichen
+Vorgänge im Hause, die allnächtlich sich wiederholten, hätten die
+zarte Konstitution seiner Tochter dergestalt erschüttert, dass die
+schlimmsten Folgen zu befürchten seien; man habe Beispiele von
+plötzlich eintretenden epileptischen Zufällen oder Veitstanz in
+solchen Verhältnissen, und seine Tochter sei allem ausgesetzt, wenn
+dieser Zustand des Schreckens im Hause nicht gehoben werde.
+
+Das half. Zwei Tage darauf stand Herr Sesemann vor seiner Tür und
+schellte dergestalt an seiner Hausglocke, dass alles zusammenlief
+und einer den anderen anstarrte, denn man glaubte nicht anders, als
+nun lasse der Geist frecherweise noch vor Nacht seine boshaften
+Stücke aus. Sebastian guckte ganz behutsam durch einen halb
+geöffneten Laden von oben herunter; in dem Augenblick schellte es
+noch einmal so nachdrücklich, dass jeder unwillkürlich eine
+Menschenhand hinter dem tüchtigen Ruck vermutete. Sebastian hatte
+die Hand erkannt, stürzte durchs Zimmer, kopfüber die Treppe
+hinunter, kam aber unten wieder auf die Füße und riss die Haustür
+auf. Herr Sesemann grüßte kurz und stieg ohne weiteres nach dem
+Zimmer seiner Tochter hinauf. Klara empfing den Papa mit einem
+lauten Freudenruf, und als er sie so munter und völlig unverändert
+sah, glättete sich seine Stirn, die er vorher sehr zusammengezogen
+hatte, und immer mehr, als er nun von ihr selbst hörte, sie sei so
+wohl wie immer und sie sei so froh, dass er gekommen sei, dass es
+ihr jetzt ganz recht sei, dass ein Geist im Haus herumfahre, weil
+er doch daran schuld sei, dass der Papa heimkommen musste.
+
+"Und wie führt sich das Gespenst weiter auf, Fräulein Rottenmeier?",
+fragte nun Herr Sesemann mit einem lustigen Ausdruck in den
+Mundwinkeln.
+
+"Nein, Herr Sesemann", entgegnete die Dame ernst, "es ist kein
+Scherz. Ich zweifle nicht daran, dass morgen Herr Sesemann nicht
+mehr lachen wird; denn was in dem Hause vorgeht, deutet auf
+Fürchterliches, das hier in vergangener Zeit muss vorgegangen und
+verheimlicht worden sein."
+
+"So, davon weiß ich nichts", bemerkte Herr Sesemann, "muss aber
+bitten, meine völlig ehrenwerten Ahnen nicht verdächtigen zu wollen.
+Und nun rufen Sie mir den Sebastian ins Esszimmer, ich will
+allein mit ihm reden."
+
+Herr Sesemann ging hinüber und Sebastian erschien. Es war Herrn
+Sesemann nicht entgangen, dass Sebastian und Fräulein Rottenmeier
+sich nicht eben mit Zuneigung betrachteten; so hatte er seine
+Gedanken.
+
+"Komm Er her, Bursche", winkte er dem Eintretenden entgegen, "und
+sag Er mir nun ganz ehrlich: Hat Er nicht etwa selbst ein wenig
+Gespenst gespielt, so um Fräulein Rottenmeier etwas Kurzweil zu
+machen, he?"
+
+"Nein, meiner Treu, das muss der gnädige Herr nicht glauben; es ist
+mir selbst nicht ganz gemütlich bei der Sache", entgegnete
+Sebastian mit unverkennbarer Ehrlichkeit.
+
+"Nun, wenn es so steht, so will ich morgen Ihm und dem tapferen
+Johann zeigen, wie Gespenster beim Licht aussehen. Schäme Er sich,
+Sebastian, ein junger, kräftiger Bursch, wie Er ist, vor
+Gespenstern davonzulaufen! Nun geh Er unverzüglich zu meinem alten
+Freund, Doktor Classen: meine Empfehlung und er möchte unfehlbar
+heut Abend neun Uhr bei mir erscheinen; ich sei extra von Paris
+hergereist, um ihn zu konsultieren. Er müsse die Nacht bei mir
+wachen, so schlimm sei's; er solle sich richten! Verstanden,
+Sebastian?"
+
+"Jawohl, jawohl! Der gnädige Herr kann sicher sein, dass ich's gut
+mache." Damit entfernte sich Sebastian, und Herr Sesemann kehrte zu
+seinem Töchterchen zurück, um ihr alle Furcht vor einer Erscheinung
+zu benehmen, die er noch heute ins nötige Licht stellen wollte.
+
+Punkt neun Uhr, als die Kinder zur Ruhe gegangen und auch Fräulein
+Rottenmeier sich zurückgezogen hatte, erschien der Doktor, der
+unter seinen grauen Haaren noch ein recht frisches Gesicht und zwei
+lebhaft und freundlich blickende Augen zeigte. Er sah etwas
+ängstlich aus, brach aber gleich nach seiner Begrüßung in ein
+helles Lachen aus und sagte, seinem Freunde auf die Schulter
+klopfend: "Nun, nun, für einen, bei dem man wachen soll, siehst du
+noch leidlich aus, Alter."
+
+"Nur Geduld, Alter", gab Herr Sesemann zurück; "derjenige, für den
+du wachen musst, wird schon schlimmer aussehen, wenn wir ihn erst
+abgefangen haben."
+
+"Also doch ein Kranker im Haus und dazu einer, der eingefangen
+werden muss?"
+
+"Weit schlimmer, Doktor, weit schlimmer. Ein Gespenst im Hause,
+bei mir spukt's!"
+
+Der Doktor lachte laut auf.
+
+"Schöne Teilnahme das, Doktor!", fuhr Herr Sesemann fort; "schade,
+dass meine Freundin Rottenmeier sie nicht genießen kann. Sie ist
+fest überzeugt, dass ein alter Sesemann hier herumrumort und
+Schauertaten abbüßt."
+
+"Wie hat sie ihn aber nur kennen gelernt?", fragte der Doktor noch
+immer sehr erheitert.
+
+Herr Sesemann erzählte nun seinem Freunde den ganzen Vorgang und
+wie noch jetzt allnächtlich die Haustür geöffnet werde, nach der
+Angabe der sämtlichen Hausbewohner, und fügte hinzu, um für alle
+Fälle vorbereitet zu sein, habe er zwei gut geladene Revolver in
+das Wachtlokal legen lassen; denn entweder sei die Sache ein sehr
+unerwünschter Scherz, den sich vielleicht irgendein Bekannter der
+Dienerschaft mache, um die Leute des Hauses in Abwesenheit des
+Hausherrn zu erschrecken--dann könnte ein kleiner Schrecken, wie
+ein guter Schuss ins Leere, ihm nicht unheilsam sein--; oder auch
+es handle sich um Diebe, die auf diese Weise erst den Gedanken an
+Gespenster aufkommen lassen wollten, um nachher umso sicherer zu
+sein, dass niemand sich herauswage--in diesem Falle könnte eine
+gute Waffe auch nicht schaden.
+
+Während dieser Erklärungen waren die Herren die Treppe
+hinuntergestiegen und traten in dasselbe Zimmer ein, wo Johann und
+Sebastian auch gewacht hatten. Auf dem Tische standen einige
+Flaschen schönen Weines, denn eine kleine Stärkung von Zeit zu Zeit
+konnte nicht unerwünscht sein, wenn die Nacht da zugebracht werden
+musste. Daneben lagen die beiden Revolver, und zwei, ein helles
+Licht verbreitende Armleuchter standen mitten auf dem Tisch, denn
+so im Halbdunkel wollte Herr Sesemann das Gespenst denn doch nicht
+erwarten.
+
+Nun wurde die Tür ans Schloss gelehnt, denn zu viel Licht durfte
+nicht in den Korridor hinausfließen, es konnte das Gespenst
+verscheuchen. Jetzt setzten sich die Herren gemütlich in ihre
+Lehnstühle und fingen an, sich allerlei zu erzählen, nahmen auch
+hier und da dazwischen einen guten Schluck, und so schlug es zwölf
+Uhr, eh sie sich's versahen.
+
+"Das Gespenst hat uns gewittert und kommt wohl heut gar nicht",
+sagte der Doktor jetzt.
+
+"Nur Geduld, es soll erst um ein Uhr kommen", entgegnete der Freund.
+
+Das Gespräch wurde wieder aufgenommen. Es schlug ein Uhr. Ringsum
+war es völlig still, auch auf den Straßen war aller Lärm verklungen.
+Auf einmal hob der Doktor den Finger empor.
+
+"Pst, Sesemann, hörst du nichts?"
+
+Sie lauschten beide. Leise, aber ganz deutlich hörten sie, wie der
+Balken zurückgeschoben, dann der Schlüssel zweimal im Schloss
+umgedreht, jetzt die Tür geöffnet wurde. Herr Sesemann fuhr mit
+der Hand nach seinem Revolver.
+
+"Du fürchtest dich doch nicht?", sagte der Doktor und stand auf.
+
+"Behutsam ist besser", flüsterte Herr Sesemann, erfasste mit der
+Linken den Armleuchter mit drei Kerzen, mit der Rechten den
+Revolver und folgte dem Doktor, der, gleichermaßen mit Leuchter und
+Schießgewehr bewaffnet, voranging. Sie traten auf den Korridor
+hinaus.
+
+Durch die weit geöffnete Tür floss ein bleicher Mondschein herein
+und beleuchtete eine weiße Gestalt, die regungslos auf der Schwelle
+stand.
+
+"Wer da?", donnerte jetzt der Doktor heraus, dass es durch den
+ganzen Korridor hallte, und beide Herren traten nun mit Lichtern
+und Waffen an die Gestalt heran. Sie kehrte sich um und tat einen
+leisen Schrei. Mit bloßen Füßen im weißen Nachtkleidchen stand
+Heidi da, schaute mit verwirrten Blicken in die hellen Flammen und
+auf die Waffen und zitterte und bebte wie ein Blättlein im Winde
+von oben bis unten. Die Herren schauten einander in großem
+Erstaunen an.
+
+"Ich glaube wahrhaftig, Sesemann, es ist deine kleine
+Wasserträgerin", sagte der Doktor.
+
+"Kind, was soll das heißen?", fragte nun Herr Sesemann. "Was
+wolltest du tun? Warum bist du hier heruntergekommen?"
+
+Schneeweiß vor Schrecken stand Heidi vor ihm und sagte fast tonlos:
+"Ich weiß nicht."
+
+Jetzt trat der Doktor vor: "Sesemann, der Fall gehört in mein
+Gebiet; geh, setz dich einstweilen in deinen Lehnstuhl drinnen, ich
+will vor allem das Kind hinbringen, wo es hingehört."
+
+Damit legte er seinen Revolver auf den Boden, nahm das zitternde
+Kind ganz väterlich bei der Hand und ging mit ihm der Treppe zu.
+
+"Nicht fürchten, nicht fürchten", sagte er freundlich im
+Hinaufsteigen, "nur ganz ruhig sein, da ist gar nichts Schlimmes
+dabei, nur getrost sein."
+
+In Heidis Zimmer eingetreten, stellte der Doktor seinen Leuchter
+auf den Tisch, nahm Heidi auf den Arm, legte es in sein Bett hinein
+und deckte es sorgfältig zu. Dann setzte er sich auf den Sessel am
+Bett und wartete, bis Heidi ein wenig beruhigt war und nicht mehr
+an allen Gliedern bebte. Dann nahm er das Kind bei der Hand und
+sagte begütigend: "So, nun ist alles in Ordnung, nun sag mir auch
+noch, wo wolltest du denn hin?"
+
+"Ich wollte gewiss nirgends hin", versicherte Heidi; "ich bin auch
+gar nicht selbst hinuntergegangen, ich war nur auf einmal da."
+
+"So, so, und hast du etwa geträumt in der Nacht, weißt du, so, dass
+du deutlich etwas sahst und hörtest?"
+
+"Ja, jede Nacht träumt es mir und immer gleich. Dann mein ich, ich
+sei beim Großvater, und draußen hör ich's in den Tannen sausen und
+denke: Jetzt glitzern so schön die Sterne am Himmel, und ich laufe
+geschwind und mache die Tür auf an der Hütte und da ist's so schön!
+Aber wenn ich erwache, bin ich immer noch in Frankfurt." Heidi
+fing schon an zu kämpfen und zu schlucken an dem Gewicht, das den
+Hals hinaufstieg.
+
+"Hm, und tut dir denn auch nichts weh, nirgends? Nicht im Kopf
+oder im Rücken?"
+
+"O nein, nur hier drückt es so wie ein großer Stein immerfort."
+
+"Hm, etwa so, wie wenn man etwas gegessen hat und wollte es nachher
+lieber wieder zurückgeben?"
+
+"Nein, so nicht, aber so schwer, wie wenn man stark weinen sollte."
+
+"So, so, und weinst du denn so recht heraus?"
+
+"O nein, das darf man nicht, Fräulein Rottenmeier hat es verboten."
+
+"Dann schluckst du's herunter zum andern, nicht wahr, so? Richtig!
+Nun, du bist doch recht gern in Frankfurt, nicht?"
+
+"O ja", war die leise Antwort; sie klang aber so, als bedeute sie
+eher das Gegenteil.
+
+"Hm, und wo hast du mit deinem Großvater gelebt?"
+
+"Immer auf der Alm."
+
+"So, da ist's doch nicht so besonders kurzweilig, eher ein wenig
+langweilig, nicht?"
+
+"O nein, da ist's so schön, so schön!" Heidi konnte nicht weiter;
+die Erinnerung, die eben durchgemachte Aufregung, das lang
+verhaltene Weinen überwältigten die Kräfte des Kindes; gewaltsam
+stürzten ihm die Tränen aus den Augen und es brach in ein lautes,
+heftiges Schluchzen aus.
+
+Der Doktor stand auf; er legte freundlich Heidis Kopf auf das
+Kissen nieder und sagte: "So, noch ein klein wenig weinen, das kann
+nichts schaden, und dann schlafen, ganz fröhlich einschlafen;
+morgen wird alles gut." Dann verließ er das Zimmer.
+
+Wieder unten in die Wachtstube eingetreten, ließ er sich dem
+harrenden Freunde gegenüber in den Lehnstuhl nieder und erklärte
+dem mit gespannter Erwartung Lauschenden: "Sesemann, dein kleiner
+Schützling ist erstens mondsüchtig; völlig unbewusst hat er dir
+allnächtlich als Gespenst die Haustür aufgemacht und deiner ganzen
+Mannschaft die Fieber des Schreckens ins Gebein gejagt. Zweitens
+wird das Kind vom Heimweh verzehrt, so dass es schon jetzt fast zum
+Geripplein abgemagert ist und es noch völlig werden würde; also
+schnelle Hilfe! Für das erste Übel und die in hohem Grade
+stattfindende Nervenaufregung gibt es nur ein Heilmittel, nämlich,
+dass du sofort das Kind in die heimatliche Bergluft
+zurückversetzest; für das zweite gibt's ebenfalls nur _eine_
+Medizin, nämlich ganz dieselbe. Demnach reist das Kind morgen ab,
+das ist mein Rezept."
+
+Herr Sesemann war aufgestanden. In größter Aufregung lief er das
+Zimmer auf und ab; jetzt brach er aus: "Mondsüchtig! Krank!
+Heimweh! Abgemagert in meinem Hause! Das alles in meinem Hause!
+Und niemand sieht zu und weiß etwas davon! Und du, Doktor, du
+meinst, das Kind, das frisch und gesund in mein Haus gekommen ist,
+schicke ich elend und abgemagert seinem Großvater zurück? Nein,
+Doktor, das kannst du nicht verlangen, das tu ich nicht, das werde
+ich nie tun. Jetzt nimm das Kind in die Hand, mach Kuren mit ihm,
+mach, was du willst, aber mach es mir heil und gesund, dann will
+ich es heimschicken, wenn es will; aber erst hilf du!"
+
+"Sesemann", entgegnete der Doktor ernsthaft, "bedenke, was du tust!
+Dieser Zustand ist keine Krankheit, die man mit Pulvern und Pillen
+heilt. Das Kind hat keine zähe Natur, indessen, wenn du es jetzt
+gleich wieder in die kräftige Bergluft hinaufschickst, an die es
+gewöhnt ist, so kann es wieder völlig gesunden; wenn nicht--du
+willst nicht, dass das Kind dem Großvater unheilbar oder gar nicht
+mehr zurückkomme?"
+
+Herr Sesemann war erschrocken stehen geblieben: "Ja, wenn du so
+redest, Doktor, dann ist nur _ein_ Weg, dann muss sofort gehandelt
+werden." Mit diesen Worten nahm Herr Sesemann den Arm seines
+Freundes und wanderte mit ihm hin und her, um die Sache noch weiter
+zu besprechen. Dann brach der Doktor auf, um nach Hause zu gehen,
+denn es war unterdessen viel Zeit vergangen, und durch die Haustür,
+die diesmal vom Herrn des Hauses aufgeschlossen wurde, drang schon
+der helle Morgenschimmer herein.
+
+
+
+
+Am Sommerabend die Alm hinan
+
+Herr Sesemann stieg in großer Erregtheit die Treppe hinauf und
+wanderte mit festem Schritt zum Schlafgemach der Dame Rottenmeier.
+Hier klopfte er so ungewöhnlich kräftig an die Tür, dass die
+Bewohnerin mit einem Schreckensruf aus dem Schlaf auffuhr. Sie
+hörte die Stimme des Hausherrn draußen: "Bitte sich zu beeilen und
+im Esszimmer zu erscheinen, es muss sofort eine Abreise vorbereitet
+werden."
+
+Fräulein Rottenmeier schaute auf ihre Uhr, es war halb fünf des
+Morgens; zu solcher Stunde war sie in ihrem Leben noch nie
+aufgestanden. Was konnte nur vorgefallen sein? Vor Neugierde und
+angstvoller Erwartung nahm sie alles verkehrt in die Hand und kam
+durchaus nicht vorwärts, denn was sie einmal auf den Leib gebracht
+hatte, suchte sie nachher rastlos im Zimmer herum.
+
+Unterdessen ging Herr Sesemann den Korridor entlang und zog mit
+aller Kraft an jedem Glockenzug, der je für die verschiedenen
+Glieder der Dienerschaft angebracht war, so dass in jedem der
+betreffenden Zimmer eine Schreckensgestalt aus dem Bett sprang und
+verkehrt in die Kleider fuhr, denn einer wie der andere dachte
+sogleich, das Gespenst habe irgendwie den Hausherrn gepackt und
+dies sei sein Hilferuf. So kamen sie nach und nach, einer
+schauerlicher aussehend als der andere, herunter und stellten sich
+mit Erstaunen vor den Hausherrn hin, denn dieser ging frisch und
+munter im Esszimmer auf und ab und sah keineswegs aus, als habe ihn
+ein Gespenst erschreckt. Johann wurde sofort hingeschickt, Pferde
+und Wagen in Ordnung zu bringen und sie nachher vorzuführen.
+Tinette erhielt den Auftrag, sogleich Heidi aufzuwecken und es in
+den Stand zu stellen, eine Reise anzutreten. Sebastian erhielt den
+Auftrag, nach dem Hause zu eilen, wo Heidis Base im Dienst stand,
+und diese herbeizuholen. Fräulein Rottenmeier war unterdessen
+zurechtgekommen mit ihrem Anzug, und alles saß, wie es musste, nur
+die Haube saß verkehrt auf dem Kopf, so dass es von weitem aussah,
+als sitze ihr das Gesicht auf dem Rücken. Herr Sesemann schrieb
+den rätselhaften Anblick dem frühen Schlafbrechen zu und ging
+unverweilt an die Geschäftsverhandlungen. Er erklärte der Dame,
+sie habe ohne Zögern einen Koffer zur Stelle zu schaffen, die
+sämtliche Habe des Schweizerkindes hineinzupacken--so nannte Herr
+Sesemann gewöhnlich das Heidi, dessen Name ihm etwas ungewohnt war--,
+dazu noch einen guten Teil von Klaras Zeug, damit das Kind was
+Rechtes mitbringe; es müsse aber alles schnell und ohne langes
+Besinnen vor sich gehen.
+
+Fräulein Rottenmeier blieb vor Überraschung wie in den Boden
+eingewurzelt stehen und starrte Herrn Sesemann an. Sie hatte
+erwartet, er wolle ihr im Vertrauen die Mitteilung einer
+schauerlichen Geistergeschichte machen, die er in der Nacht erlebt
+und die sie eben jetzt bei dem hellen Morgenlicht nicht ungern
+gehört hätte; stattdessen diese völlig prosaischen und dazu noch
+sehr unbequemen Aufträge. So schnell konnte sie das Unerwartete
+nicht bewältigen. Sprachlos stand sie immer noch da und erwartete
+ein Weiteres.
+
+Aber Herr Sesemann hatte keine Erklärungen im Sinn; er ließ die
+Dame stehen, wo sie stand, und ging nach dem Zimmer seiner Tochter.
+Wie er vermutet hatte, war diese durch die ungewöhnliche Bewegung
+im Hause wach geworden und lauschte nach allen Seiten hin, was wohl
+vorgehe. Der Vater setzte sich nun an ihr Bett und erzählte ihr
+den ganzen Verlauf der Geistererscheinung und dass Heidi nach des
+Doktors Ausspruch sehr angegriffen sei und wohl nach und nach seine
+nächtlichen Wanderungen ausdehnen, vielleicht gar das Dach
+besteigen würde, was dann mit den höchsten Gefahren verbunden wäre.
+Er habe also beschlossen, das Kind sofort heimzuschicken, denn
+solche Verantwortung könne er nicht auf sich nehmen, und Klara
+müsse sich dareinfinden, sie sehe ja ein, dass es nicht anders sein
+könne.
+
+Klara war sehr schmerzlich überrascht von der Mitteilung und wollte
+erst allerlei Auswege finden, aber es half nichts, der Vater blieb
+fest bei seinem Entschluss, versprach aber, im nächsten Jahre mit
+Klara nach der Schweiz zu reisen, wenn sie nun recht vernünftig sei
+und keinen Jammer erhebe. So ergab sich Klara in das
+Unvermeidliche, begehrte aber zum Ersatz, dass der Koffer für Heidi
+in ihr Zimmer gebracht und da gepackt werde, damit sie
+hineinstecken könne, was ihr Freude mache, was der Papa sehr gern
+bewilligte, ja er ermunterte Klara noch, dem Kinde eine schöne
+Aussteuer zurechtzumachen. Unterdessen war die Base Dete angelangt
+und stand in großer Erwartung im Vorzimmer, denn dass sie um diese
+ungewöhnliche Zeit einberufen worden war, musste etwas
+Außerordentliches bedeuten. Herr Sesemann trat zu ihr heraus und
+erklärte ihr, wie es mit Heidi stehe und dass er wünsche, sie
+möchte das Kind sofort, gleich heute noch, nach Hause bringen. Die
+Base sah sehr enttäuscht aus; diese Nachricht hatte sie nicht
+erwartet. Sie erinnerte sich auch noch recht wohl der Worte, die
+ihr der Öhi mit auf den Weg gegeben hatte, dass sie ihm nie mehr
+vor die Augen kommen solle, und so das Kind dem Alten einmal
+bringen und dann nehmen und dann wiederbringen, das schien ihr
+nicht ganz geraten zu sein. Sie besann sich also nicht lange,
+sondern sagte mit großer Beredsamkeit, heute wäre es ihr leider
+völlig unmöglich, die Reise anzutreten, und morgen könnte sie noch
+weniger daran denken, und die Tage darauf wäre es am
+allerunmöglichsten, um der darauf folgenden Geschäfte willen, und
+nachher könnte sie dann gar nicht mehr. Herr Sesemann verstand die
+Sprache und entließ die Base ohne weiteres. Nun ließ er den
+Sebastian vortreten und erklärte ihm, er habe sich unverzüglich zur
+Reise zu rüsten; heute habe er mit dem Kinde bis nach Basel zu
+fahren, morgen bringe er es heim. Dann könne er sogleich wieder
+umkehren, zu berichten habe er nichts, ein Brief an den Großvater
+werde diesem alles erklären.
+
+"Nun aber noch eine Hauptsache, Sebastian", schloss Herr Sesemann,
+"und dass Er mir das pünktlich besorgt! Den Gasthof in Basel, den
+ich Ihm hier auf meine Karte geschrieben, kenne ich. Er weist
+meine Karte vor, dann wird Ihm ein gutes Zimmer angewiesen werden
+für das Kind; für sich selbst wird Er schon sorgen. Dann geht Er
+erst in des Kindes Zimmer hinein und verrammelt alle Fenster so
+vollständig, dass nur große Gewalt sie aufzubringen vermöchte. Ist
+das Kind zu Bett, so geht Er und schließt von außen die Tür ab,
+denn das Kind wandert herum in der Nacht und könnte Gefahr laufen
+in dem fremden Haus, wenn es etwa hinausginge und die Haustür
+aufmachen wollte; versteht Er das?"
+
+"Ah! Ah! Ah! Das war's? So war's?", stieß Sebastian jetzt in
+größter Verwunderung aus, denn es war ihm eben ein großes Licht
+aufgegangen über die Geistererscheinung.
+
+"Ja, so war's! Das war's! Und Er ist ein Hasenfuß, und dem Johann
+kann Er sagen, er sei desgleichen und alle miteinander eine
+lächerliche Mannschaft." Damit ging Herr Sesemann nach seiner Stube,
+setzte sich hin und schrieb einen Brief an den Alm-Öhi.
+
+Sebastian war verdutzt mitten im Zimmer stehen geblieben und
+wiederholte jetzt zu öfteren Malen in seinem Innern: "Hätt ich mich
+doch von dem Feigling von einem Johann nicht in die Wachtstube
+hineinreißen lassen, sondern wäre dem weißen Figürchen nachgegangen,
+was ich doch jetzt unzweifelhaft tun würde!", denn jetzt
+beleuchtete die helle Sonne jeden Winkel der hellgrauen Stube mit
+voller Klarheit.
+
+Unterdessen stand Heidi völlig ahnungslos in seinem
+Sonntagsröckchen und wartete ab, was geschehen sollte, denn die
+Tinette hatte es nur aus dem Schlafe aufgerüttelt, die Kleider aus
+dem Schrank genommen und das Anziehen gefördert, ohne ein Wort zu
+sagen. Sie sprach niemals mit dem ungebildeten Heidi, denn das war
+ihr zu gering.
+
+Herr Sesemann trat mit seinem Brief ins Esszimmer ein, wo das
+Frühstück bereitstand, und rief: "Wo ist das Kind?"
+
+Heidi wurde gerufen. Als es zu Herrn Sesemann herantrat, um ihm
+'guten Morgen' zu sagen, schaute er ihm fragend ins
+Gesicht: "Nun, was sagst du denn dazu, Kleine?"
+
+Heidi blickte verwundert zu ihm auf.
+
+"Du weißt am Ende noch gar nichts", lachte Herr Sesemann. "Nun,
+heut gehst du heim, jetzt gleich."
+
+"Heim?", wiederholte Heidi tonlos und wurde schneeweiß, und eine
+kleine Weile konnte es gar keinen Atem mehr holen, so stark wurde
+sein Herz von dem Eindruck gepackt.
+
+"Nun, willst du etwa nichts wissen davon?", fragte Herr Sesemann
+lächelnd.
+
+"O ja, ich will schon", kam jetzt heraus, und nun war Heidi
+dunkelrot geworden.
+
+"Gut, gut", sagte Herr Sesemann ermunternd, indem er sich setzte
+und Heidi winkte, dasselbe zu tun. "Und nun tüchtig frühstücken
+und hernach in den Wagen und fort."
+
+Aber Heidi konnte keinen Bissen herunterbringen, wie es sich auch
+zwingen wollte aus Gehorsam; es war in einem Zustand von Aufregung,
+dass es gar nicht wusste, ob es wache oder träume und ob es
+vielleicht wieder auf einmal erwachen und im Nachthemdchen an der
+Haustür stehen werde.
+
+"Sebastian soll reichlich Proviant mitnehmen", rief Herr Sesemann
+Fräulein Rottenmeier zu, die eben eintrat; "das Kind kann nicht
+essen, begreiflicherweise.--Geh hinüber zu Klara, bis der Wagen
+vorfährt", setzte er freundlich, zu Heidi gewandt, hinzu.
+
+Das war Heidis Wunsch: Es sprang hinüber. Mitten in Klaras Zimmer
+war ein ungeheurer Koffer zu sehen, noch stand dessen Deckel weit
+offen.
+
+"Komm, Heidi, komm", rief ihm Klara entgegen. "Sieh, was ich dir
+habe einpacken lassen, komm, freut's dich?"
+
+Und sie nannte ihm eine ganze Menge von Dingen, Kleider und
+Schürzen, Tücher und Nähgerät, "und sieh hier, Heidi", und Klara
+hob triumphierend einen Korb in die Höhe. Heidi guckte hinein und
+sprang hoch auf vor Freude, denn drinnen lagen wohl zwölf schöne,
+weiße, runde Brötchen, alle für die Großmutter. Die Kinder
+vergaßen in ihrem Jubel ganz, dass nun der Augenblick komme, da sie
+sich trennen mussten, und als mit einem Mal der Ruf erschallte:
+"Der Wagen ist bereit!"--da war keine Zeit mehr zum Traurigwerden.
+Heidi lief in sein Zimmer, da musste noch ein schönes Buch von der
+Großmama liegen, niemand konnte es eingepackt haben, denn es lag
+unter dem Kopfkissen, weil Heidi Tag und Nacht sich nicht davon
+trennen konnte. Das wurde in den Korb auf die Brötchen gelegt.
+Dann machte es seinen Schrank auf; noch suchte es nach einem Gute,
+das man vielleicht auch nicht eingepackt hatte. Richtig--auch das
+alte rote Tuch lag noch da, Fräulein Rottenmeier hatte es zu gering
+erachtet, um mit eingepackt zu werden. Heidi wickelte es um einen
+anderen Gegenstand und legte es zuoberst auf den Korb, so dass das
+rote Paket sehr sichtbar zur Erscheinung kam. Dann setzte es sein
+schönes Hütchen auf und verließ sein Zimmer.
+
+Die beiden Kinder mussten sich schnell Lebewohl sagen, denn Herr
+Sesemann stand schon da, um Heidi nach dem Wagen zu bringen.
+Fräulein Rottenmeier stand oben an der Treppe, um hier Heidi zu
+verabschieden. Als sie das seltsame rote Bündelchen erblickte,
+nahm sie es schnell aus dem Korb heraus und warf es auf den Boden.
+
+"Nein, Adelheid", sagte sie tadelnd, "so kannst du nicht reisen von
+diesem Hause aus; solches Zeug brauchst du überhaupt nicht
+mitzuschleppen. Nun lebe wohl."
+
+Auf dieses Verbot hin durfte Heidi sein Bündelchen nicht wieder
+aufnehmen, aber es schaute mit einem flehentlichen Blick zu dem
+Hausherrn auf, so, als wollte man ihm seinen größten Schatz nehmen.
+
+"Nein, nein", sagte Herr Sesemann in sehr bestimmtem Tone, "das
+Kind soll mit heimtragen, was ihm Freude macht, und sollte es auch
+junge Katzen oder Schildkröten mit fortschleppen, so wollen wir uns
+darüber nicht aufregen, Fräulein Rottenmeier."
+
+Heidi hob eilig sein Bündelchen wieder vom Boden auf, und Dank und
+Freude leuchteten ihm aus den Augen. Unten am Wagen reichte Herr
+Sesemann dem Kinde die Hand und sagte ihm mit freundlichen Worten,
+sie würden seiner gedenken, er und seine Tochter Klara; er wünschte
+ihm alles Gute auf den Weg, und Heidi dankte recht schön für alle
+Guttaten, die ihm zuteil geworden waren, und zum Schluss sagte es:
+"Und den Herrn Doktor lasse ich tausendmal grüßen und ihm auch
+vielmals danken." Denn es hatte sich wohl gemerkt, wie er gestern
+Abend gesagt hatte: "Und morgen wird alles gut." Nun war es so
+gekommen, und Heidi dachte, er habe dazu geholfen.
+
+Jetzt wurde das Kind in den Wagen gehoben und der Korb und die
+Provianttasche und der Sebastian kamen nach. Herr Sesemann rief
+noch einmal freundlich: "Glückliche Reise!", und der Wagen rollte
+davon.
+
+Bald nachher saß Heidi in der Eisenbahn und hielt unbeweglich
+seinen Korb auf dem Schoße fest, denn es wollte ihn nicht einen
+Augenblick aus den Händen lassen, seine kostbaren Brötchen für die
+Großmutter waren ja darin, die musste es sorgfältig hüten und von
+Zeit zu Zeit einmal wieder ansehen und sich freuen darüber. Heidi
+saß mäuschenstille während mehrerer Stunden, denn erst jetzt kam es
+recht zum Bewusstsein, dass es auf dem Wege sei heim zum Großvater,
+auf die Alm, zur Großmutter, zum Geißenpeter, und nun kam ihm alles
+vor Augen, eins nach dem anderen, was es wieder sehen werde und wie
+alles aussehen werde daheim, und dabei stiegen ihm wieder neue
+Gedanken auf, und auf einmal sagte es ängstlich: "Sebastian, ist
+auch sicher die Großmutter auf der Alm nicht gestorben?"
+
+"Nein, nein", beruhigte dieser, "wollen's nicht hoffen, wird schon
+noch am Leben sein."
+
+Dann fiel Heidi wieder in sein Sinnen zurück; nur hier und da
+guckte es einmal in seinen Korb hinein, denn alle die Brötchen der
+Großmutter auf den Tisch legen war sein Hauptgedanke. Nach
+längerer Zeit sagte es wieder: "Sebastian, wenn man nur auch ganz
+sicher wissen könnte, dass die Großmutter noch am Leben ist."
+
+"Jawohl! Jawohl!", entgegnete der Begleiter halb schlafend; "Wird
+schon noch leben, wüsste auch gar nicht, warum nicht."
+
+Nach einiger Zeit drückte der Schlaf auch Heidis Augen zu, und nach
+der vergangenen unruhigen Nacht und dem frühen Aufstehen war es so
+schlafbedürftig, dass es erst wieder erwachte, als Sebastian es
+tüchtig am Arm schüttelte und ihm zurief: "Erwachen! Erwachen!
+Gleich aussteigen, in Basel angekommen!"
+
+Am folgenden Morgen ging's weiter, viele Stunden lang. Heidi saß
+wieder mit seinem Korb auf dem Schoß, den es um keinen Preis dem
+Sebastian übergeben wollte; aber heute sagte es gar nichts mehr,
+denn nun wurde mit jeder Stunde die Erwartung gespannter. Dann auf
+einmal, als Heidi gar nicht daran dachte, ertönte laut der Ruf:
+"Maienfeld!" Es sprang von seinem Sitz auf, und dasselbe tat
+Sebastian, der auch überrascht worden war. Jetzt standen sie
+draußen, der Koffer mit ihnen, und der Bahnzug pfiff weiter ins Tal
+hinein. Sebastian sah ihm wehmütig nach, denn er wäre viel lieber
+so sicher und ohne Mühe weitergereist, als dass er nun eine
+Fußpartie unternehmen sollte, die dazu noch mit einer
+Bergbesteigung enden musste, die sehr beschwerlich und dazu
+gefahrvoll sein konnte in diesem Lande, wo doch alles noch halb
+wild war, wie Sebastian annahm. Er schaute daher sehr vorsichtig
+um sich, wen er etwa beraten könnte über den sichersten Weg nach
+dem 'Dörfli'. Unweit des kleinen Stationsgebäudes
+stand ein kleiner Leiterwagen mit einem mageren Rösslein davor; auf
+diesen wurden von einem breitschultrigen Manne ein paar große Säcke
+aufgeladen, die mit der Bahn hergebracht worden waren. Sebastian
+trat zu ihm heran und brachte seine Frage nach dem sichersten Weg
+zum Dörfli vor.
+
+"Hier sind alle Wege sicher", war die kurze Antwort.
+
+Jetzt fragte Sebastian nach dem besten Wege, auf dem man gehen
+könne, ohne in die Abgründe zu stürzen, und auch wie man einen
+Koffer nach dem betreffenden Dörfli befördern könnte. Der Mann
+schaute nach dem Koffer hin und maß ihn ein wenig mit den Augen;
+dann erklärte er, wenn das Ding nicht zu schwer sei, so wolle er es
+auf seinen Wagen nehmen, da er selbst nach dem Dörfli fahre, und so
+gab noch ein Wort das andere, und endlich kamen die beiden überein,
+der Mann solle Kind und Koffer mit auf seinen Wagen nehmen, und
+nachher vom Dörfli aus könne das Kind am Abend mit irgendjemand auf
+die Alm geschickt werden.
+
+"Ich kann allein gehen, ich weiß schon den Weg vom Dörfli auf die
+Alm", sagte hier Heidi, das mit Aufmerksamkeit der Verhandlung
+zugehört hatte. Dem Sebastian fiel eine schwere Last vom Herzen,
+als er sich so auf einmal seiner Aussicht auf das Bergklettern
+entledigt sah. Er winkte nun Heidi geheimnisvoll auf die Seite und
+überreichte ihm hier eine schwere Rolle und einen Brief an den
+Großvater und erklärte ihm, die Rolle sei ein Geschenk von Herrn
+Sesemann, die müsse aber zuunterst in den Korb gesteckt werden,
+noch unter die Brötchen, und darauf müsse genau Acht gegeben werden,
+dass sie nicht verloren gehe, denn darüber würde Herr Sesemann
+ganz fürchterlich böse und sein Leben lang nie mehr gut werden; das
+sollte das Mamsellchen nur ja bedenken.
+
+"Ich verliere sie schon nicht", sagte Heidi zuversichtlich und
+steckte die Rolle samt dem Brief zuallerunterst in den Korb hinein.
+Nun wurde der Koffer aufgeladen, und nachher hob Sebastian Heidi
+samt seinem Korb auf den hohen Sitz empor, reichte ihm seine Hand
+hinauf zum Abschied und ermahnte es noch einmal mit allerlei
+Zeichen, auf den Inhalt des Korbes ein Auge zu haben; denn der
+Führer war noch in der Nähe, und Sebastian war vorsichtig,
+besonders jetzt, da er wusste, er hätte eigentlich selbst das Kind
+an Ort und Stelle bringen sollen. Der Führer schwang sich jetzt
+neben Heidi auf den Sitz hinauf, und der Wagen rollte den Bergen zu,
+während Sebastian, froh über seine Befreiung von der gefürchteten
+Bergreise, sich am Stationshäuschen niedersetzte, um den
+zurückgehenden Bahnzug abzuwarten.
+
+Der Mann auf dem Wagen war der Bäcker vom Dörfli, welcher seine
+Mehlsäcke nach Hause fuhr. Er hatte Heidi nie gesehen, aber wie
+jedermann im Dörfli wusste er von dem Kinde, das man dem Alm-Öhi
+gebracht hatte; auch hatte er Heidis Eltern gekannt und sich gleich
+vorgestellt, er werde es mit dem viel besprochenen Kinde hier zu
+tun haben. Es wunderte ihn nun ein wenig, warum das Kind schon
+wieder heimkommen und während der Fahrt fing er nun mit Heidi ein
+Gespräch an: "Du wirst das Kind sein, das oben beim Alm-Öhi war,
+beim Großvater?"
+
+"Ja."
+
+"So ist es dir schlecht gegangen, dass du schon wieder von so weit
+her heimkommst?"
+
+"Nein, das ist es mir nicht; kein Mensch kann es so gut haben, wie
+man es in Frankfurt hat."
+
+"Warum läufst du denn heim?"
+
+"Nur weil es mir der Herr Sesemann erlaubt hat, sonst wär ich nicht
+heimgelaufen."
+
+"Pah, warum bist du denn aber nicht lieber dort geblieben, wenn man
+dir's erlaubt hat, heimzugehen?"
+
+"Weil ich tausendmal lieber heimwill zum Großvater auf die Alm als
+sonst alles auf der Welt."
+
+"Denkst vielleicht anders, wenn du hinaufkommst", brummte der
+Bäcker; "nimmt mich aber doch wunder", sagte er dann zu sich selbst,
+"es kann wissen, wie's ist."
+
+Nun fing er an zu pfeifen und sagte nichts mehr, und Heidi schaute
+um sich und fing an innerlich zu zittern vor Erregung, denn es
+erkannte die Bäume am Wege, und drüben standen die hohen Zacken des
+Falknis-Berges und schauten zu ihm herüber, so als grüßten sie es
+wie gute alte Freunde; und Heidi grüßte wieder, und mit jedem
+Schritt vorwärts wurde Heidis Erwartung gespannter, und es meinte,
+es müsse vom Wagen herunterspringen und aus allen Kräften laufen,
+bis es ganz oben wäre. Aber es blieb doch still sitzen und rührte
+sich nicht, aber alles zitterte an ihm. Jetzt fuhren sie im Dörfli
+ein, eben schlug die Glocke fünf Uhr. Augenblicklich sammelte sich
+eine Gesellschaft von Kindern und Frauen um den Wagen herum, und
+ein paar Nachbarn traten auch noch herzu, denn der Koffer und das
+Kind auf des Bäckers Wagen hatten die Aufmerksamkeit aller
+Umwohnenden auf sich gezogen, und jeder wollte wissen, woher und
+wohin und wem beide zugehörten. Als der Bäcker Heidi
+heruntergehoben hatte, sagte es eilig: "Danke, der Großvater holt
+dann schon den Koffer", und wollte davonrennen. Aber von allen
+Seiten wurde es festgehalten, und eine Menge von Stimmen fragten
+alle auf einmal, jede etwas Eigenes. Heidi drängte sich mit einer
+solchen Angst auf dem Gesichte durch die Leute, dass man ihm
+unwillkürlich Platz machte und es laufen ließ, und einer sagte zum
+anderen: "Du siehst ja, wie es sich fürchtet, es hat auch alle
+Ursache." Und dann fingen sie noch an, sich zu erzählen, wie der
+Alm-Öhi seit einem Jahr noch viel ärger geworden sei als vorher und
+mit keinem Menschen mehr ein Wort rede und ein Gesicht mache, als
+wolle er am liebsten jeden umbringen, der ihm in den Weg komme, und
+wenn das Kind auf der ganzen Welt noch wüsste wohin, so liefe es
+nicht in das alte Drachennest hinauf. Aber hier fiel der Bäcker in
+das Gespräch ein und sagte, er werde wohl mehr wissen als sie alle,
+und erzählte dann sehr geheimnisvoll, wie ein Herr das Kind bis
+nach Maienfeld gebracht und es ganz freundlich entlassen habe und
+auch gleich ohne Markten ihm den geforderten Fahrpreis und dazu
+noch ein Trinkgeld gegeben habe, und überhaupt könne er sicher
+sagen, dass es dem Kind wohl genug gewesen sei, wo es war, und es
+selbst begehrt habe, zum Großvater zurückzugehen. Diese Nachricht
+brachte eine große Verwunderung hervor und wurde nun gleich im
+ganzen Dörfli so verbreitet, dass noch am gleichen Abend kein Haus
+daselbst war, in dem man nicht davon redete, dass das Heidi aus
+allem Wohlleben zum Großvater zurückbegehrt habe.
+
+Heidi lief vom Dörfli bergan, so schnell es nur konnte; von Zeit zu
+Zeit musste es aber plötzlich stille stehen, denn es hatte ganz den
+Atem verloren; sein Korb am Arm war doch ziemlich schwer, und dazu
+ging es nun immer steiler, je höher hinauf es ging. Heidi hatte
+nur noch einen Gedanken: "Wird auch die Großmutter noch auf ihrem
+Plätzchen sitzen am Spinnrad in der Ecke, ist sie auch nicht
+gestorben unterdessen?" Jetzt erblickte Heidi die Hütte oben in der
+Vertiefung an der Alm, sein Herz fing an zu klopfen, Heidi rannte
+noch mehr, immer mehr und immer lauter schlug ihm das Herz. Jetzt
+war es oben--vor Zittern konnte es fast die Tür nicht aufmachen--
+doch jetzt--es sprang hinein bis mitten in die kleine Stube und
+stand da, völlig außer Atem, und brachte keinen Ton hervor.
+
+"Ach du mein Gott", tönte es aus der Ecke hervor, "so sprang unser
+Heidi herein, ach, wenn ich es noch ein Mal im Leben bei mir haben
+könnte! Wer ist hereingekommen?"
+
+"Da bin ich ja, Großmutter, da bin ich ja", rief Heidi jetzt und
+stürzte nach der Ecke und gleich auf seine Knie zu der Großmutter
+heran, fasste ihren Arm und ihre Hände und legte sich an sie und
+konnte vor Freude gar nichts mehr sagen. Erst war die Großmutter
+so überrascht, dass auch sie kein Wort hervorbringen konnte; dann
+fuhr sie mit der Hand streichelnd über Heidis Kraushaare hin, und
+nun sagte sie ein Mal über das andere: "Ja, ja, das sind seine
+Haare und es ist ja seine Stimme, ach du lieber Gott, dass du mich
+das noch erleben lässt!" Und aus den blinden Augen fielen ein paar
+große Freudentränen auf Heidis Hand nieder. "Bist du's auch, Heidi,
+bist du auch sicher wieder da?"
+
+"Ja, ja, sicher, Großmutter", rief Heidi nun mit aller Zuversicht,
+"weine nur nicht, ich bin ganz gewiss wieder da und komme alle Tage
+zu dir und gehe nie wieder fort, und du musst auch manchen Tag kein
+hartes Brot mehr essen, siehst du, Großmutter, siehst du?"
+
+Und Heidi packte nun aus seinem Korb ein Brötchen nach dem andern
+aus, bis es alle zwölf auf dem Schoß der Großmutter aufgehäuft
+hatte.
+
+"Ach Kind! Ach Kind! Was bringst du denn für einen Segen mit!",
+rief die Großmutter aus, als es nicht enden wollte mit den Brötchen
+und immer noch eines folgte. "Aber der größte Segen bist du mir
+doch selber, Kind!" Dann griff sie wieder in Heidis krause Haare
+und strich über seine heißen Wangen und sagte wieder: "Sag noch ein
+Wort, Kind, sag noch etwas, dass ich dich hören kann."
+
+Heidi erzählte nun der Großmutter, welche große Angst es habe
+ausstehen müssen, sie sei vielleicht gestorben unterdessen und habe
+nun gar nie die weißen Brötchen bekommen, und es könne nie, nie
+mehr zu ihr gehen.
+
+Jetzt trat Peters Mutter herein und blieb einen Augenblick
+unbeweglich stehen vor Erstaunen. Dann rief sie: "Sicher, es ist
+das Heidi, wie kann auch das sein!"
+
+Heidi stand auf und gab ihr die Hand, und die Brigitte konnte sich
+gar nicht genug verwundern darüber, wie Heidi aussehe, und ging um
+das Kind herum und sagte: "Großmutter, wenn du doch nur sehen
+könntest, was für ein schönes Röcklein das Heidi hat und wie es
+aussieht; man kennt es fast nicht mehr. Und das Federnhütlein auf
+dem Tisch gehört dir auch noch? Setz es doch einmal auf, so kann
+ich sehen, wie du drin aussiehst."
+
+"Nein, ich will nicht", erklärte Heidi, "du kannst es haben, ich
+brauche es nicht mehr, ich habe schon noch mein eigenes." Damit
+machte Heidi sein rotes Bündelchen auf und nahm sein altes Hütchen
+daraus hervor, das auf der Reise zu den Knicken, die es schon
+vorher gehabt, noch einige bekommen hatte. Aber das kümmerte das
+Heidi wenig; es hatte ja nicht vergessen, wie der Großvater beim
+Abschied nachgerufen hatte, in einem Federnhut wolle er es niemals
+sehen; darum hatte Heidi sein Hütchen so sorgfältig aufgehoben,
+denn es dachte ja immer ans Heimgehen zum Großvater. Aber die
+Brigitte sagte, so einfältig müsse es nicht sein, es sei ja ein
+prächtiges Hütchen, das nehme sie nicht; man könnte es ja etwa dem
+Töchterlein vom Lehrer im Dörfli verkaufen und noch viel Geld
+bekommen, wenn es das Hütlein nicht tragen wolle. Aber Heidi blieb
+bei seinem Vorhaben und legte das Hütchen leise hinter die
+Großmutter in den Winkel, wo es ganz verborgen war. Dann zog Heidi
+auf einmal sein schönes Röcklein aus, und über das Unterröckchen,
+in dem es nun mit bloßen Armen dastand, band es das rote Halstuch,
+und nun fasste es die Hand der Großmutter und sagte: "Jetzt muss
+ich heim zum Großvater, aber morgen komm ich wieder zu dir; gute
+Nacht, Großmutter."
+
+"Ja, komm auch wieder, Heidi, komm auch morgen wieder", bat die
+Großmutter und drückte seine Hand zwischen den ihrigen und konnte
+das Kind fast nicht loslassen.
+
+"Warum hast du denn dein schönes Röcklein ausgezogen?", fragte die
+Brigitte.
+
+"Weil ich lieber so zum Großvater will, sonst kennt er mich
+vielleicht nicht mehr, du hast mich ja auch fast nicht gekannt
+darin."
+
+Die Brigitte ging noch mit Heidi vor die Tür hinaus, und hier sagte
+sie ein wenig geheimnisvoll zu ihm: "Den Rock hättest du schon
+anbehalten können, er hätte dich doch gekannt; aber sonst musst du
+dich in Acht nehmen; der Peterli sagt, der Alm-Öhi sei jetzt immer
+bös und rede kein Wort mehr."
+
+Heidi sagte 'gute Nacht' und stieg die Alm hinan mit
+seinem Korb am Arm. Die Abendsonne leuchtete ringsum auf die grüne
+Alm, und jetzt war auch drüben das große Schneefeld an der
+Schesaplana sichtbar geworden und strahlte herüber. Heidi musste
+alle paar Schritte wieder stille stehen und sich umkehren, denn die
+hohen Berge hatte es im Rücken beim Hinaufsteigen. Jetzt fiel ein
+roter Schimmer vor seinen Füßen auf das Gras, es kehrte sich um, da
+--so hatte es die Herrlichkeit nicht mehr im Sinn gehabt und auch
+nie so im Traum gesehen--die Felshörner am Falknis flammten zum
+Himmel auf, das weite Schneefeld glühte und rosenrote Wolken zogen
+darüber hin; das Gras rings auf der Alm war golden, von allen
+Felsen flimmerte und leuchtete es nieder und unten schwamm weithin
+das ganze Tal in Duft und Gold. Heidi stand mitten in der
+Herrlichkeit, und vor Freude und Wonne liefen ihm die hellen Tränen
+die Wangen herunter, und es musste die Hände falten und in den
+Himmel hinaufschauen und ganz laut dem lieben Gott danken, dass er
+es wieder heimgebracht hatte und dass alles, alles noch so schön
+sei und noch viel schöner, als es gewusst hatte, und dass alles
+wieder ihm gehöre; und Heidi war so glücklich und so reich in all
+der großen Herrlichkeit, dass es gar nicht Worte fand, dem lieben
+Gott genug zu danken. Erst als das Licht ringsum verglühte, konnte
+Heidi wieder von der Stelle weg; nun rannte es aber so den Berg
+hinan, dass es gar nicht lange dauerte, so erblickte es oben die
+Tannenwipfel über dem Dache und jetzt das Dach und die ganze Hütte,
+und auf der Bank an der Hütte saß der Großvater und rauchte sein
+Pfeifchen, und über die Hütte her wogten die alten Tannenwipfel und
+raschelten im Abendwind. Jetzt rannte das Heidi noch mehr, und
+bevor der Alm-Öhi nur recht sehen konnte, was da herankam, stürzte
+das Kind schon auf ihn hin, warf seinen Korb auf den Boden und
+umklammerte den Alten, und vor Aufregung des Wiedersehens konnte es
+nichts sagen, als nur immer ausrufen: "Großvater! Großvater!
+Großvater!"
+
+Der Großvater sagte auch nichts. Seit vielen Jahren waren ihm zum
+erstenmal wieder die Augen nass geworden, und er musste mit der
+Hand darüber fahren. Dann löste er Heidis Arme von seinem Hals,
+setzte das Kind auf seine Knie und betrachtete es einen Augenblick.
+"So, bist du wieder heimgekommen, Heidi", sagte er dann; "wie ist
+das? Besonders hoffärtig siehst du nicht aus, haben sie dich
+fortgeschickt?"
+
+"O nein, Großvater", fing Heidi nun mit Eifer an, "das musst du
+nicht glauben, sie waren alle so gut, die Klara und die Großmama
+und der Herr Sesemann; aber siehst du, Großvater, ich konnte es
+fast gar nicht mehr aushalten, bis ich wieder bei dir daheim sein
+könnte, und ich habe manchmal gemeint, ich müsse ganz ersticken, so
+hat es mich gewürgt; aber ich habe gewiss nichts gesagt, weil es
+undankbar war. Aber dann auf einmal an einem Morgen rief mich der
+Herr Sesemann ganz früh--aber ich glaube, der Herr Doktor war
+schuld daran--aber es steht vielleicht alles in dem Brief"--damit
+sprang Heidi auf den Boden und holte seinen Brief und seine Rolle
+aus dem Korb herbei und legte beide in die Hand des Großvaters.
+
+"Das gehört dir", sagte dieser und legte die Rolle neben sich auf
+die Bank. Dann nahm er den Brief und las ihn durch: Ohne ein Wort
+zu sagen, steckte er dann das Blatt in die Tasche.
+
+"Meinst, du könntest auch noch Milch trinken mit mir, Heidi?",
+fragte er nun, indem er das Kind bei der Hand nahm, um in die Hütte
+einzutreten. "Aber nimm dort dein Geld mit dir, da kannst du ein
+ganzes Bett daraus kaufen und Kleider für ein paar Jahre."
+
+"Ich brauch es gewiss nicht, Großvater", versicherte Heidi; "ein
+Bett hab ich schon, und Kleider hat mir Klara so viele eingepackt,
+dass ich gewiss nie mehr andere brauche."
+
+"Nimm's, nimm's, und leg's in den Schrank, du wirst's schon einmal
+brauchen können."
+
+Heidi gehorchte und hüpfte nun dem Großvater nach in die Hütte
+hinein, wo es vor Freude über das Wiedersehen in alle Winkel sprang
+und die Leiter hinauf--aber da stand es plötzlich still und rief
+in Betroffenheit von oben herunter: "Oh, Großvater, ich habe kein
+Bett mehr!"
+
+"Kommt schon wieder", tönte es von unten herauf, "wusste ja nicht,
+dass du wieder heimkommst; jetzt komm zur Milch!"
+
+Heidi kam herunter und setzte sich auf seinen hohen Stuhl am alten
+Platze, und nun erfasste es sein Schüsselchen und trank mit einer
+Begierde, als wäre etwas so Köstliches noch nie in seinen Bereich
+gekommen, und als es mit einem tiefen Atemzug das Schüsselchen
+hinstellte, sagte es: "So gut wie unsere Milch ist doch gar nichts
+auf der Welt, Großvater."
+
+Jetzt ertönte draußen ein schriller Pfiff; wie der Blitz schoss
+Heidi zur Tür hinaus. Da kam die ganze Schar der Geißen hüpfend,
+springend, Sätze machend von der Höhe herunter, mittendrin der
+Peter. Als er Heidi ansichtig wurde, blieb er auf der Stelle
+völlig wie angewurzelt stehen und starrte es sprachlos an. Heidi
+rief: "Guten Abend, Peter!", und stürzte mitten in die Geißen
+hinein: "Schwänli! Bärli! Kennt ihr mich noch?", und die Geißlein
+mussten seine Stimme gleich erkannt haben, denn sie rieben ihre
+Köpfe an Heidi und fingen an leidenschaftlich zu meckern vor Freude,
+und Heidi rief alle nacheinander beim Namen, und alle rannten wie
+wild durcheinander und drängten sich zu ihm heran; der ungeduldige
+Distelfink sprang hoch auf und über zwei Geißen weg, um gleich in
+die Nähe zu kommen, und sogar das schüchterne Schneehöppli drängte
+mit einem ziemlich eigensinnigen Bohren den großen Türk auf die
+Seite, der nun ganz verwundert über die Frechheit dastand und
+seinen Bart in die Luft hob, um zu zeigen, dass er es sei.
+
+Heidi war außer sich vor Freude, alle die alten Gefährten wieder zu
+haben; es umarmte das kleine, zärtliche Schneehöppli wieder und
+wieder und streichelte den stürmischen Distelfink und wurde vor
+großer Liebe und Zutraulichkeit der Geißen hin und her gedrängt und
+geschoben, bis es nun ganz in Peters Nähe kam, der noch immer auf
+demselben Platze stand.
+
+"Komm herunter, Peter, und sag mir einmal guten Abend!", rief ihm
+Heidi jetzt zu.
+
+"Bist denn wieder da?", brachte er nun endlich in seinem Erstaunen
+heraus, und nun kam er herzu und nahm Heidis Hand, die dieses ihm
+schon lange hingehalten hatte, und nun fragte er, so wie er immer
+getan hatte bei der Heimkehr am Abend: "Kommst morgen wieder mit?"
+
+"Nein, morgen nicht, aber übermorgen vielleicht, denn morgen muss
+ich zur Großmutter."
+
+"Es ist recht, dass du wieder da bist", sagte der Peter und verzog
+sein Gesicht auf alle Seiten vor ungeheurem Vergnügen, dann
+schickte er sich zur Heimfahrt an; aber heute wurde es ihm so
+schwer wie noch nie mit seinen Geißen, denn als er sie endlich mit
+Locken und Drohen so weit gebracht hatte, dass sie sich um ihn
+sammelten, und Heidi, den einen Arm um Schwänlis und den andern um
+Bärlis Kopf gelegt, davonspazierte, da kehrten mit einem Male alle
+wieder um und liefen den dreien nach. Heidi musste mit seinen zwei
+Geißen in den Stall eintreten und die Tür zumachen, sonst wäre der
+Peter niemals mit seiner Herde fortgekommen. Als das Kind dann in
+die Hütte zurückkam, da sah es sein Bett schon wieder aufgerichtet,
+prächtig hoch und duftend, denn das Heu war noch nicht lange
+hereingeholt, und darüber hatte der Großvater ganz sorgfältig die
+sauberen Leintücher gebreitet. Heidi legte sich mit großer Lust
+hinein und schlief so herrlich, wie es ein ganzes Jahr lang nicht
+geschlafen hatte. Während der Nacht verließ der Großvater wohl
+zehnmal sein Lager und stieg die Leiter hinauf und lauschte sorgsam,
+ob Heidi auch schlafe und nicht unruhig werde, und suchte am Loch
+nach, wo sonst der Mond hereinkam auf Heidis Lager, ob auch das Heu
+noch fest drinnen sitze, das er hineingestopft hatte, denn von nun
+an durfte der Mondschein nicht mehr hereinkommen. Aber Heidi
+schlief in einem Zuge fort und wanderte keinen Schritt herum, denn
+sein großes, brennendes Verlangen war gestillt worden: Es hatte
+alle Berge und Felsen wieder im Abendglühen gesehen, es hatte die
+Tannen rauschen gehört, es war wieder daheim auf der Alm.
+
+
+
+
+Am Sonntag, wenn's läutet
+
+Heidi stand unter den wogenden Tannen und wartete auf den Großvater,
+der mitgehen und den Koffer vom Dörfli heraufholen wollte, während
+es bei der Großmutter wäre. Das Kind konnte es fast nicht erwarten,
+die Großmutter wieder zu sehen und zu hören, wie ihr die Brötchen
+geschmeckt hatten, und doch wurde ihm wieder die Zeit nicht lang,
+denn es konnte ja nicht genug die heimatlichen Töne von dem
+Tannenrauschen über ihm und das Duften und Leuchten der grünen
+Weiden und der goldenen Blumen darauf eintrinken.
+
+Jetzt trat der Großvater aus der Hütte, schaute noch einmal rings
+um sich und sagte dann mit zufriedenem Ton: "So, nun können wir
+gehen."
+
+Denn es war Sonnabend heut, und an dem Tage machte der Alm-Öhi
+alles sauber und in Ordnung in der Hütte, im Stall und ringsherum,
+das war seine Gewohnheit, und heut hatte er den Morgen dazu
+genommen, um gleich nachmittags mit Heidi ausziehen zu können, und
+so sah nun alles ringsherum gut und zu seiner Zufriedenheit aus.
+Bei der Geißenpeter-Hütte trennten sie sich, und Heidi sprang
+hinein. Schon hatte die Großmutter seinen Schritt gehört und rief
+ihm liebevoll entgegen: "Kommst du, Kind? Kommst du wieder?"
+
+Dann erfasste sie Heidis Hand und hielt sie ganz fest, denn immer
+noch fürchtete sie, das Kind könnte ihr wieder entrissen werden.
+Und nun musste die Großmutter erzählen, wie die Brötchen geschmeckt
+hätten, und sie sagte, sie habe sich so daran erlabt, dass sie
+meine, sie sei heute viel kräftiger als lang nicht mehr, und Peters
+Mutter fügte hinzu, die Großmutter habe vor lauter Sorge, sie werde
+zu bald fertig damit, nur ein einziges Brötchen essen wollen,
+gestern und heut zusammen, und sie käme gewiss noch ziemlich zu
+Kräften, wenn sie so acht Tage lang hintereinander jeden Tage eines
+essen wollte. Heidi hörte der Brigitte mit Aufmerksamkeit zu und
+blieb jetzt noch eine Zeit lang nachdenklich. Nun hatte es seinen
+Weg gefunden. "Ich weiß schon, was ich mache, Großmutter", sagte
+es in freudigem Eifer; "ich schreibe der Klara einen Brief und dann
+schickt sie mir gewiss noch einmal so viel Brötchen, wie da sind,
+oder zweimal, denn ich hatte schon einen großen Haufen ganz gleiche
+im Kasten, und als man mir sie weggenommen hatte, sagte Klara, sie
+gebe mir gerade so viele wieder, und das tut sie schon."
+
+"Ach Gott", sagte die Brigitte, "das ist eine gute Meinung; aber
+denk, sie werden auch hart. Wenn man nur hier und da einen übrigen
+Batzen hätte, der Bäcker unten im Dörfli macht auch solche, aber
+ich vermag kaum das schwarze Brot zu bezahlen."
+
+Jetzt schoss ein heller Freudenstrahl über Heidis Gesicht: "Oh, ich
+habe furchtbar viel Geld, Großmutter", rief es jubelnd aus und
+hüpfte vor Freuden in die Höhe, "jetzt weiß ich, was ich damit
+mache! Alle, alle Tage musst du ein neues Brötchen haben und am
+Sonntage zwei, und der Peter kann sie heraufbringen vom Dörfli."
+
+"Nein, nein, Kind!", wehrte die Großmutter; "das kann nicht sein,
+das Geld hast du nicht dazu bekommen, du musst es dem Großvater
+geben, er sagt dir dann schon, was du damit machen musst."
+
+Aber Heidi ließ sich nicht stören in seiner Freude, es jauchzte und
+hüpfte in der Stube herum und rief ein Mal übers andere: "Jetzt
+kann die Großmutter jeden Tag ein Brötchen essen und wird wieder
+ganz kräftig, und--oh, Großmutter", rief es mit neuem Jubel, "wenn
+du dann so gesund wirst, so wird es dir gewiss auch wieder hell, es
+ist vielleicht nur, weil du so schwach bist."
+
+Die Großmutter schwieg still, sie wollte des Kindes Freude nicht
+trüben. Bei seinem Herumhüpfen fiel dem Heidi auf einmal das alte
+Liederbuch der Großmutter in die Augen, und es kam ihm ein neuer
+freudiger Gedanke: "Großmutter, jetzt kann ich auch ganz gut lesen;
+soll ich dir einmal ein Lied lesen aus deinem alten Buch?"
+
+"O ja", bat die Großmutter freudig überrascht; "kannst du das auch
+wirklich, Kind, kannst du das?"
+
+Heidi war auf einen Stuhl geklettert und hatte das Buch mit einer
+dicken Staubwolke heruntergezogen, denn es hatte lange unberührt
+gelegen da oben; nun wischte es Heidi sauber ab, setzte sich damit
+auf seinen Schemel zur Großmutter hin und fragte, was es nun lesen
+solle.
+
+"Was du willst, Kind, was du willst", und mit gespannter Erwartung
+saß die Großmutter da und hatte ihr Spinnrad ein wenig von sich
+geschoben.
+
+Heidi blätterte und las leise hier und da eine Linie: "jetzt kommt
+etwas von der Sonne, das will ich dir lesen, Großmutter." Und Heidi
+begann und wurde selbst immer eifriger und immer wärmer, während es
+las:
+
+ "Die güldne Sonne Voll
+ Freud und Wonne
+ Bringt unsern Grenzen
+ Mit ihrem Glänzen
+ Ein herzerquickendes, liebliches Licht.
+
+ Mein Haupt und Glieder
+ Die lagen darnieder;
+ Aber nun steh ich,
+ Bin munter und fröhlich,
+ Schaue den Himmel mit meinem Gesicht.
+
+ Mein Auge schauet,
+ Was Gott gebauet
+ Zu seinen Ehren,
+ Und uns zu lehren,
+ Wie sein Vermögen sei mächtig und groß.
+
+ Und wo die Frommen
+ Dann sollen hinkommen,
+ Wenn sie mit Frieden
+ Von hinnen geschieden
+ Aus dieser Erde vergänglichem Schoß.
+
+ Alles vergehet,
+ Gott aber stehet
+ Ohn alles Wanken,
+ Seine Gedanken,
+ Sein Wort und Wille hat ewigen Grund.
+
+ Sein Heil und Gnaden
+ Die nehmen nicht Schaden,
+ Heilen im Herzen,
+ Die tödlichen Schmerzen,
+ Halten uns zeitlich und ewig gesund.
+
+ Kreuz und Elende--
+ Das nimmt ein Ende,
+ Nach Meeresbrausen
+ Und Windessausen
+ Leuchtet der Sonne erwünschtes Gesicht.
+
+ Freude die Fülle
+ Und selige Stille
+ Darf ich erwarten
+ Im himmlischen Garten,
+ Dahin sind meine Gedanken gericht'."
+
+
+Die Großmutter saß still da mit gefalteten Händen, und ein Ausdruck
+unbeschreiblicher Freude, so wie ihn Heidi nie an ihr gesehen hatte,
+lag auf ihrem Gesicht, obschon ihr die Tränen die Wangen
+herabliefen. Als Heidi schwieg, bat sie mit Verlangen: "Oh, noch
+einmal, Heidi, lass es mich noch einmal hören:
+
+ 'Kreuz und Elende
+ Das nimmt ein Ende'--"
+
+Und das Kind fing noch einmal an und las in eigener Freude und
+Verlangen:
+
+ "Kreuz und Elende--
+ Das nimmt ein Ende,
+ Nach Meeresbrausen
+ Und Windessausen
+ Leuchtet der Sonne erwünschtes Gesicht.
+
+ Freude die Fülle
+ Und selige Stille
+ Darf ich erwarten
+ Im himmlischen Garten,
+ Dahin sind meine Gedanken gericht'."
+
+
+"O Heidi, das macht hell! Das macht so hell im Herzen! Oh, wie
+hast du mir wohl gemacht, Heidi!"
+
+Ein Mal ums andere sagte die Großmutter die Worte der Freude, und
+Heidi strahlte vor Glück und musste sie nur immer ansehen, denn so
+hatte es die Großmutter nie gesehen. Sie hatte gar nicht mehr das
+alte trübselige Gesicht, sondern schaute so freudig und dankend auf,
+als sähe sie schon mit neuen, hellen Augen in den schönen
+himmlischen Garten hinein.
+
+Jetzt klopfte es am Fenster, und Heidi sah den Großvater draußen,
+der ihm winkte, mit heimzukommen. Es folgte schnell, aber nicht
+ohne die Großmutter zu versichern, morgen komme es wieder, und auch
+wenn es mit Peter auf die Weide gehe, so komme es doch im halben
+Tag zurück; denn dass es der Großmutter wieder hell machen konnte
+und sie wieder fröhlich wurde, das war nun für Heidi das
+allergrößte Glück, das es kannte, noch viel größer, als auf der
+sonnigen Weide und bei den Blumen und Geißen zu sein. Die Brigitte
+lief dem Heidi unter die Tür nach mit Rock und Hut, dass es seine
+Habe mitnehme. Den Rock nahm es auf den Arm, denn der Großvater
+kenne es jetzt schon, dachte es bei sich; aber den Hut wies es
+hartnäckig zurück, die Brigitte sollte ihn nur behalten, es setze
+ihn nie, nie mehr auf den Kopf. Heidi war so erfüllt von seinen
+Erlebnissen, dass es gleich dem Großvater alles erzählen musste,
+was ihm das Herz erfreute, dass man die weißen Brötchen auch unten
+im Dörfli für die Großmutter holen könne, wenn man nur Geld habe,
+und dass es der Großmutter auf einmal so hell und wohl geworden war,
+und wie Heidi das alles zu Ende geschildert hatte, kehrte es
+wieder zum Ersten zurück und sagte ganz zuversichtlich: "Gelt,
+Großvater, wenn die Großmuttter schon nicht will, so gibst du mir
+doch alles Geld in der Rolle, dass ich dem Peter jeden Tag ein
+Stück geben kann zu einem Brötchen und am Sonntag zwei?"
+
+"Aber das Bett, Heidi?", sagte der Großvater; "ein rechtes Bett für
+dich wäre gut, und nachher bleibt schon noch für manches Brötchen."
+
+Aber Heidi ließ dem Großvater keine Ruhe und bewies ihm, dass es
+auf seinem Heubett viel besser schlafe, als es jemals in seinem
+Kissenbett in Frankfurt geschlafen habe, und bat so eindringlich
+und unablässig, dass der Großvater zuletzt sagte: "Das Geld ist
+dein, mach, was dich freut; du kannst der Großmutter manches Jahr
+lang Brot holen dafür."
+
+Heidi jauchzte auf: "O juhe! Nun muss die Großmutter gar nie mehr
+hartes, schwarzes Brot essen, und, o Großvater! Nun ist doch alles
+so schön wie noch gar nie, seit wir leben!", und Heidi hüpfte hoch
+auf an der Hand des Großvaters und jauchzte in die Luft hinauf wie
+die fröhlichen Vögel des Himmels. Aber auf einmal wurde es ganz
+ernsthaft und sagte: "Oh, wenn nun der liebe Gott gleich auf der
+Stelle getan hätte, was ich so stark erbetete, dann wäre doch alles
+nicht so geworden, ich wäre nur gleich wieder heimgekommen und
+hätte der Großmutter nur wenige Brötchen gebracht und hätte ihr
+nicht lesen können, was ihr wohl macht; aber der liebe Gott hatte
+schon alles ausgedacht, so viel schöner, als ich es wusste; die
+Großmama hat es mir gesagt, und nun ist alles so gekommen. Oh, wie
+bin ich froh, dass der liebe Gott nicht nachgab, wie ich so bat und
+jammerte! Aber jetzt will ich immer so beten, wie die Großmama
+sagte, und dem lieben Gott immer danken, und wenn er etwas nicht
+tut, das ich erbeten will, dann will ich gleich denken: Es geht
+gewiss wieder wie in Frankfurt, der liebe Gott denkt gewiss etwas
+viel Besseres aus. Aber wir wollen auch alle Tage beten, gelt
+Großvater, und wir wollen es nie mehr vergessen, damit der liebe
+Gott uns auch nicht vergisst."
+
+"Und wenn's einer doch täte?", murmelte der Großvater.
+
+"Oh, dem geht's nicht gut, denn der liebe Gott vergisst ihn dann
+auch und lässt ihn ganz laufen, und wenn es ihm einmal schlecht
+geht und er jammert, so hat kein Mensch Mitleid mit ihm, sondern
+alle sagen nur: Er ist ja zuerst vom lieben Gott weggelaufen, nun
+lässt ihn der liebe Gott auch gehen, der ihm helfen könnte."
+
+"Das ist wahr, Heidi, woher weißt du das?"
+
+"Von der Großmama, sie hat mir alles erklärt."
+
+Der Großvater ging eine Weile schweigend weiter. Dann sagte er,
+seine Gedanken verfolgend, vor sich hin: "Und wenn's einmal so ist,
+dann ist es so; zurück kann keiner, und wen der Herrgott vergessen
+hat, den hat er vergessen."
+
+"O nein, Großvater, zurück kann einer, das weiß ich auch von der
+Großmama, und dann geht es so wie in der schönen Geschichte in
+meinem Buch, aber die weißt du nicht; jetzt sind wir aber gleich
+daheim, und dann wirst du schon erfahren, wie schön die Geschichte
+ist."
+
+Heidi strebte in seinem Eifer rascher und rascher die letzte
+Steigung hinan, und kaum waren sie oben angelangt, als es des
+Großvaters Hand losließ und in die Hütte hineinrannte. Der
+Großvater nahm den Korb von seinem Rücken, in den er die Hälfte der
+Sachen aus dem Koffer hineingestoßen hatte, denn den ganzen Koffer
+heraufzubringen wäre ihm zu schwer gewesen. Dann setzte er sich
+nachdenklich auf die Bank nieder. Heidi kam wieder herbeigerannt,
+sein großes Buch unter dem Arm: "Oh, das ist recht, Großvater, dass
+du schon dasitzt", und mit einem Satz war Heidi an seiner Seite und
+hatte schon seine Geschichte aufgeschlagen, denn die hatte es schon
+so oft und immer wieder gelesen, dass das Buch von selbst aufging
+an dieser Stelle. Jetzt las Heidi mit großer Teilnahme von dem
+Sohne, der es gut hatte daheim, wo draußen auf des Vaters Feldern
+die schönen Kühe und Schäflein weideten und er in einem schönen
+Mäntelchen, auf seinen Hirtenstab gestützt, bei ihnen auf der Weide
+stehen und dem Sonnenuntergang zusehen konnte, wie es alles auf dem
+Bilde zu sehen war. "Aber auf einmal wollte er sein Hab und Gut
+für sich haben und sein eigener Meister sein und forderte es dem
+Vater ab und lief fort damit und verprasste alles. Und als er gar
+nichts mehr hatte, musste er hingehen und Knecht sein bei einem
+Bauer, der hatte aber nicht so schöne Tiere, wie auf seines Vaters
+Feldern waren, sondern nur Schweinlein; diese musste er hüten, und
+er hatte nur noch Fetzen auf sich und bekam nur von den Trebern,
+welche die Schweinchen aßen, ein klein wenig. Da dachte er daran,
+wie er es daheim beim Vater gehabt und wie gut der Vater mit ihm
+gewesen war und wie undankbar er gegen den Vater gehandelt hatte,
+und er musste weinen vor Reue und Heimweh. Und er dachte: 'Ich
+will zu meinem Vater gehen und ihn um Verzeihung bitten und ihm
+sagen, ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen, aber lass mich
+nur dein Tagelöhner bei dir sein.' Und wie er von ferne gegen
+das Haus seines Vaters kam, da sah ihn der Vater und kam
+herausgelaufen--was meinst du jetzt, Großvater?", unterbrach sich
+Heidi in seinem Vorlesen; "jetzt meinst du, der Vater sei noch böse
+und sage zu ihm: 'Ich habe dir's ja gesagt!'? Jetzt
+hör nur, was kommt: Und sein Vater sah ihn und es jammerte ihn und
+lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn, und der Sohn sprach
+zu ihm: 'Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor
+dir und bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen.' Aber der
+Vater sprach zu seinen Knechten: 'Bringt das beste Kleid her
+und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und
+Schuhe an die Füße, und bringt das gemästete Kalb her und
+schlachtet es und lasst uns essen und fröhlich sein, denn dieser
+mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, und er war
+verloren und ist wieder gefunden worden.' Und sie fingen an,
+fröhlich zu sein."
+
+"Ist denn das nicht eine schöne Geschichte, Großvater?", fragte
+Heidi, als dieser immer noch schweigend dasaß und es doch erwartet
+hatte, er werde sich freuen und verwundern.
+
+"Doch, Heidi, die Geschichte ist schön", sagte der Großvater; aber
+sein Gesicht war so ernsthaft, dass Heidi ganz stille wurde und
+seine Bilder ansah. Leise schob es noch einmal sein Buch vor den
+Großvater hin und sagte: "Sieh, wie es ihm wohl ist", und zeigte
+mit seinem Finger auf das Bild des Heimgekehrten, wie er im
+frischen Kleid neben dem Vater steht und wieder zu ihm gehört als
+sein Sohn.
+
+Ein paar Stunden später, als Heidi längst im tiefen Schlafe lag,
+stieg der Großvater die kleine Leiter hinauf; er stellte sein
+Lämpchen neben Heidis Lager hin, so dass das Licht auf das
+schlafende Kind fiel. Es lag da mit gefalteten Händen, denn zu
+beten hatte Heidi nicht vergessen. Auf seinem rosigen Gesichtchen
+lag ein Ausdruck des Friedens und seligen Vertrauens, der zu dem
+Großvater reden musste, denn lange, lange stand er da und rührte
+sich nicht und wandte kein Auge von dem schlafenden Kinde ab.
+Jetzt faltete auch er die Hände, und halblaut sagte er mit
+gesenktem Haupte: "Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und
+vor dir und bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen!" Und ein paar
+große Tränen rollten dem Alten die Wangen herab.--
+
+Wenige Stunden nachher in der ersten Frühe des Tages stand der
+Alm-Öhi vor seiner Hütte und schaute mit hellen Augen um sich. Der
+Sonntagmorgen flimmerte und leuchtete über Berg und Tal. Einzelne
+Frühglocken tönten aus den Tälern herauf, und oben in den Tannen
+sangen die Vögel ihre Morgenlieder.
+
+Jetzt trat der Großvater in die Hütte zurück. "Komm, Heidi!", rief
+er auf den Boden hinauf. "Die Sonne ist da! Zieh ein gutes
+Röcklein an, wir wollen in die Kirche miteinander!"
+
+Heidi machte nicht lange; das war ein ganz neuer Ruf vom Großvater,
+dem musste es schnell folgen. In kurzer Zeit kam es
+heruntergesprungen in seinem schmucken Frankfurter Röckchen. Aber
+voller Erstaunen blieb Heidi vor seinem Großvater stehen und
+schaute ihn an. "O Großvater, so hab ich dich nie gesehen", brach
+es endlich aus, "und den Rock mit den silbernen Knöpfen hast du
+noch gar nicht getragen, oh, du bist so schön in deinem schönen
+Sonntagsrock."
+
+Der Alte blickte vergnüglich lächelnd auf das Kind und sagte: "Und
+du in dem deinen; jetzt komm!" Er nahm Heidis Hand in die seine,
+und so wanderten sie miteinander den Berg hinunter. Von allen
+Seiten tönten jetzt die hellen Glocken ihnen entgegen, immer voller
+und reicher, je weiter sie kamen, und Heidi lauschte mit Entzücken
+und sagte: "Hörst du's, Großvater? Es ist wie ein großes, großes
+Fest."
+
+Unten im Dörfli waren schon alle Leute in der Kirche und fingen
+eben zu singen an, als der Großvater mit Heidi eintrat und ganz
+hinten auf der letzten Bank sich niedersetzte. Aber mitten im
+Singen stieß der zunächst Sitzende seinen Nachbar mit dem
+Ellenbogen an und sagte: "Hast du das gesehen? Der Alm-Öhi ist in
+der Kirche!"
+
+Und der Angestoßene stieß den Zweiten an und so fort, und in
+kürzester Zeit flüsterte es an allen Ecken: "Der Alm-Öhi! Der
+Alm-Öhi!", und die Frauen mussten fast alle einen Augenblick den Kopf
+umdrehen, und die meisten fielen ein wenig aus der Melodie, so dass
+der Vorsänger die größte Mühe hatte, den Gesang schön
+aufrechtzuerhalten. Aber als dann der Herr Pfarrer anfing zu
+predigen, ging die Zerstreutheit ganz vorüber, denn es war ein so
+warmes Loben und Danken in seinen Worten, dass alle Zuhörer davon
+ergriffen wurden, und es war, als sei ihnen allen eine große Freude
+widerfahren. Als der Gottesdienst zu Ende war, trat der Alm-Öhi
+mit dem Kinde an der Hand heraus und schritt dem Pfarrhaus zu, und
+alle, die mit ihm heraustraten und die schon draußen standen,
+schauten ihm nach, und die meisten gingen hinter ihm her, um zu
+sehen, ob er wirklich ins Pfarrhaus eintrete, was er tat. Dann
+sammelten sie sich in Gruppen zusammen und besprachen in großer
+Aufregung das Unerhörte, dass der Alm-Öhi in der Kirche erschienen
+war, und alle schauten mit Spannung nach der Pfarrhaustür, wie der
+Öhi wohl wieder herauskommen werde, ob in Zorn und Hader oder im
+Frieden mit dem Herrn Pfarrer, denn man wusste ja gar nicht, was
+den Alten heruntergebracht hatte und wie es eigentlich gemeint sei.
+Aber doch war schon bei vielen eine neue Stimmung eingetreten, und
+einer sagte zum andern: "Es wird wohl mit dem Alm-Öhi nicht so bös
+sein, wie man tut; man kann ja nur sehen, wie sorglich er das
+Kleine an der Hand hält." Und der andere sagte: "Das hab ich ja
+immer gesagt, und zum Pfarrer hinein ginge er auch nicht, wenn er
+so bodenschlecht wäre, sonst müsste er sich ja fürchten; man
+übertreibt auch viel." Und der Bäcker sagte: "Hab ich das nicht
+zuallererst gesagt? Seit wann läuft denn ein kleines Kind, das zu
+essen und zu trinken hat, was es will, und sonst alles Gute, aus
+alledem weg und heim zu einem Großvater, wenn der bös und wild ist
+und es sich zu fürchten hat vor ihm?" Und es kam eine ganz
+liebevolle Stimmung gegen den Alm-Öhi auf und nahm überhand, denn
+jetzt nahten sich auch die Frauen herzu, und diese hatten so
+manches von der Geißenpeterin und der Großmutter gehört, das den
+Alm-Öhi ganz anders darstellte, als die allgemeine Meinung war, und
+das ihnen jetzt auf einmal glaublich schien, dass es mehr und mehr
+so wurde, als warteten sie alle da, um einen alten Freund zu
+bewillkommnen, der ihnen lange gemangelt hatte.
+
+Der Alm-Öhi war unterdessen an die Tür der Studierstube getreten
+und hatte angeklopft. Der Herr Pfarrer machte auf und trat dem
+Eintretenden entgegen, nicht überrascht, wie er wohl hätte sein
+können, sondern so, als habe er ihn erwartet; die ungewohnte
+Erscheinung in der Kirche musste ihm nicht entgangen sein. Er
+ergriff die Hand des Alten und schüttelte sie wiederholt mit der
+größten Herzlichkeit, und der Alm-Öhi stand schweigend da und
+konnte erst kein Wort herausbringen, denn auf solchen herzlichen
+Empfang war er nicht vorbereitet. Jetzt fasste er sich und sagte:
+"Ich komme, um den Herrn Pfarrer zu bitten, dass er mir die Worte
+vergessen möchte, die ich zu ihm auf der Alm geredet habe, und dass
+er mir nicht nachtragen wolle, wenn ich widerspenstig war gegen
+seinen wohlmeinenden Rat. Der Herr Pfarrer hat ja in allem Recht
+gehabt und ich war im Unrecht, aber ich will jetzt seinem Rate
+folgen und auf den Winter wieder ein Quartier im Dörfli beziehen,
+denn die harte Jahreszeit ist nichts für das Kind dort oben, es ist
+zu zart, und wenn auch dann die Leute hier unten mich von der Seite
+ansehen, so wie einen, dem nicht zu trauen ist, so habe ich es
+nicht besser verdient, und der Herr Pfarrer wird es ja nicht tun."
+
+Die freundlichen Augen des Pfarrers glänzten vor Freude. Er nahm
+noch einmal des Alten Hand und drückte sie in der seinen und sagte
+mit Rührung: "Nachbar, Ihr seid in der rechten Kirche gewesen, noch
+eh Ihr in die meinige herunterkamt; des freu ich mich, und dass Ihr
+wieder zu uns kommen und mit uns leben wollt, soll Euch nicht
+gereuen, bei mir sollt Ihr als ein lieber Freund und Nachbar alle
+Zeit willkommen sein, und ich gedenke manches Winterabendstündchen
+fröhlich mit Euch zu verbringen, denn Eure Gesellschaft ist mir
+lieb und wert, und für das Kleine wollen wir auch gute Freunde
+finden." Und der Herr Pfarrer legte sehr freundlich seine Hand auf
+Heidis Krauskopf und nahm es bei der Hand und führte es hinaus,
+indem er den Großvater fortbegleitete, und erst draußen vor der
+Haustür nahm er Abschied, und nun konnten alle die herumstehenden
+Leute sehen, wie der Herr Pfarrer dem Alm-Öhi die Hand immer noch
+einmal schüttelte, gerade als wäre das sein bester Freund, von dem
+er sich fast nicht trennen könnte. Kaum hatte dann auch die Tür
+sich hinter dem Herrn Pfarrer geschlossen, so drängte die ganze
+Versammlung dem Alm-Öhi entgegen, und jeder wollte der Erste sein,
+und so viele Hände wurden miteinander dem Herankommenden
+entgegengestreckt, dass er gar nicht wusste, welche zuerst
+ergreifen, und einer rief ihm zu: "Das freut mich! Das freut mich,
+Öhi, dass Ihr auch wieder einmal zu uns kommt!", und ein anderer:
+"Ich hätte auch schon lang gern wieder einmal ein Wort mit Euch
+geredet, Öhi!" Und so tönte und drängte es von allen Seiten, und
+wie nun der Öhi auf alle die freundlichen Begrüßungen erwiderte, er
+gedenke, sein altes Quartier im Dörfli wieder zu beziehen und den
+Winter mit den alten Bekannten zu verleben, da gab es erst einen
+rechten Lärm, und es war gerade so, wie wenn der Alm-Öhi die
+beliebteste Persönlichkeit im ganzen Dörfli wäre, die jeder mit
+Nachteil entbehrt hatte. Noch weit an die Alm hinauf wurden
+Großvater und Kind von den meisten begleitet, und beim Abschied
+wollte jeder die Versicherung haben, dass der Alm-Öhi bald einmal
+bei ihm vorspreche, wenn er wieder herunterkomme; und wie nun die
+Leute den Berg hinab zurückkehrten, blieb der Alte stehen und
+schaute ihnen lange nach, und auf seinem Gesichte lag ein so warmes
+Licht, als schiene bei ihm die Sonne von innen heraus. Heidi
+schaute unverwandt zu ihm auf und sagte ganz erfreut: "Großvater,
+heut wirst du immer schöner, so warst du noch gar nie."
+
+"Meinst du?", lächelte der Großvater. "Ja, und siehst du, Heidi,
+mir geht's auch heut über Verstehen und Verdienen gut, und mit Gott
+und Menschen im Frieden stehen, das macht einem so wohl! Der liebe
+Gott hat's gut mit mir gemeint, dass er dich auf die Alm schickte."
+
+Bei der Geißenpeter-Hütte angekommen, machte der Großvater gleich
+die Tür auf und trat ein. "Grüß Gott, Großmutter", rief er hinein;
+"ich denke, wir müssen einmal wieder ans Flicken gehen, bevor der
+Herbstwind kommt."
+
+"Du mein Gott, das ist der Öhi!", rief die Großmutter voll
+freudiger Überraschung aus. "Dass ich das noch erlebe! Dass ich
+Euch noch einmal danken kann für alles, das Ihr für uns getan habt,
+Öhi! Vergelt's Gott! Vergelt's Gott!"
+
+Und mit zitternder Freude streckte die alte Großmutter ihre Hand
+aus, und als der Angeredete sie herzlich schüttelte, fuhr sie fort,
+indem sie die seinige fest hielt: "Und eine Bitte hab ich auch noch
+auf dem Herzen, Öhi: Wenn ich Euch je etwas zuleid getan habe, so
+straft mich nicht damit, dass Ihr noch einmal das Heidi fortlasst,
+bevor ich unten bei der Kirche liege. Oh, Ihr wisst nicht, was mir
+das Kind ist!", und sie hielt es fest an sich, denn Heidi hatte
+sich schon an sie geschmiegt.
+
+"Keine Sorge, Großmutter", beruhigte der Öhi; "damit will ich weder
+Euch noch mich strafen. Jetzt bleiben wir alle beieinander und,
+will's Gott, noch lange so."
+
+Jetzt zog die Brigitte den Öhi ein wenig geheimnisvoll in eine Ecke
+hinein und zeigte ihm das schöne Federnhütchen und erzählte ihm,
+wie es sich damit verhalte, und dass sie ja natürlich so etwas
+einem Kinde nicht abnehme.
+
+Aber der Großvater sah ganz wohlgefällig auf sein Heidi hin und
+sagte: "Der Hut ist sein, und wenn es ihn nicht mehr auf den Kopf
+tun will, so hat es Recht, und hat es ihn dir gegeben, so nimm ihn
+nur."
+
+Die Brigitte war höchlich erfreut über das unerwartete Urteil. "Er
+ist gewiss mehr als zehn Franken wert, seht nur!", und in ihrer
+Freude streckte sie das Hütchen hoch auf. "Was aber auch dieses
+Heidi für einen Segen von Frankfurt mit heimgebracht hat! Ich habe
+schon manchmal denken müssen, ob ich nicht den Peterli auch ein
+wenig nach Frankfurt schicken solle; was meint Ihr, Öhi?"
+
+Dem Öhi schoss es ganz lustig aus den Augen. Er meinte, es könnte
+dem Peterli nichts schaden; aber er würde doch eine gute
+Gelegenheit dazu abwarten.
+
+Jetzt fuhr der Besprochene eben zur Tür herein, nachdem er zuerst
+mit dem Kopf so fest dagegen gerannt war, dass alles erklirrte
+davon; er musste pressiert sein. Atemlos und keuchend stand er nun
+mitten in der Stube still und streckte einen Brief aus. Das war
+auch ein Ereignis, das noch nie vorgekommen war, ein Brief mit
+einer Aufschrift an das Heidi, den man ihm auf der Post im Dörfli
+übergeben hatte. Jetzt setzten sich alle voller Erwartung um den
+Tisch herum, und Heidi machte seinen Brief auf und las ihn laut und
+ohne Anstoß vor. Der Brief war von der Klara Sesemann geschrieben.
+Sie erzählte Heidi, dass es seit seiner Abreise so langweilig
+geworden sei in ihrem Hause, sie es nicht lang hintereinander so
+aushalten könne und so lange den Vater gebeten habe, bis er die
+Reise ins Bad Ragaz schon auf den kommenden Herbst festgestellt
+habe, und die Großmama wolle auch mitkommen, denn sie wolle auch
+das Heidi und den Großvater besuchen auf der Alm. Und weiter ließ
+die Großmama noch dem Heidi sagen, es habe Recht getan, dass es der
+alten Großmutter die Brötchen habe mitbringen wollen, und damit sie
+diese nicht trocken essen müsse, komme gleich der Kaffee noch dazu,
+er sei schon auf der Reise, und wenn sie selbst nach der Alm komme,
+so müsse das Heidi sie auch zur Großmutter führen.
+
+Da gab es nun eine solche Freude und Verwunderung über diese
+Nachrichten und so viel zu reden und zu fragen, da die große
+Erwartung alle gleich betraf, dass selbst der Großvater nicht
+bemerkte, wie spät es schon war, und so vergnügt und fröhlich waren
+sie alle in der Aussicht auf die kommenden Tage und fast noch mehr
+in der Freude über das Zusammensein an dem heutigen, dass die
+Großmutter zuletzt sagte: "Das Schönste ist doch, wenn so ein alter
+Freund kommt und uns wieder die Hand gibt, so wie vor langer Zeit;
+das gibt so ein tröstliches Gefühl ins Herz, dass wir einmal alles
+wieder finden, was uns lieb ist. Ihr kommt doch bald wieder, Öhi,
+und das Kind morgen schon?"
+
+Das wurde der Großmutter in die Hand hinein versprochen; nun aber
+war es Zeit zum Aufbruch, und der Großvater wanderte mit Heidi die
+Alm hinan, und wie am Morgen die hellen Glocken von nah und fern
+sie heruntergerufen hatten, so begleitete nun aus dem Tale herauf
+das friedliche Geläut der Abendglocken sie bis hinauf zur sonnigen
+Almhütte, die ganz sonntäglich im Abendschimmer ihnen
+entgegenglänzte.
+
+Wenn aber die Großmama kommt im Herbst, dann gibt es gewiss noch
+manche neue Freude und Überraschung für das Heidi wie für die
+Großmutter, und sicher kommt auch gleich ein richtiges Bett auf den
+Heuboden hinauf, denn wo die Großmama hintritt, da kommen alle
+Dinge bald in die erwünschte Ordnung und Richtigkeit, nach außen
+wie nach innen.
+
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK HEIDIS LEHR- UND WANDERJAHRE ***
+
+Updated editions will replace the previous one--the old editions will
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+The Project Gutenberg E-text of Heidis Lehr- und Wanderjahre, by Johanna Spyri
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+<p style='text-align:center; font-size:1.2em; font-weight:bold'>The Project Gutenberg eBook of Heidis Lehr- und Wanderjahre, by Johanna Spyri</p>
+<div style='display:block; margin:1em 0'>
+This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
+most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
+whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms
+of the Project Gutenberg License included with this eBook or online
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+</div>
+
+<div style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:1em; margin-left:2em; text-indent:-2em'>Title: Heidis Lehr- und Wanderjahre</div>
+<div style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:1em; margin-left:2em; text-indent:-2em'>Author: Johanna Spyri</div>
+<p style='display:block; text-indent:0; margin:1em 0'>Release Date: May 11, 2003 [eBook #7500]<br />
+[Most recently updated: February 3, 2023]</p>
+<p style='display:block; text-indent:0; margin:1em 0'>Language: German</p>
+ <p style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:0; margin-left:2em; text-indent:-2em; text-align:left'>Produced by:
+ Mike Pullen and Juliet Sunderland. HTML version by Al Haines.</p>
+<div style='margin-top:2em; margin-bottom:4em'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK HEIDIS LEHR- UND WANDERJAHRE ***</div>
+
+<p class="letter">
+This book content was graciously contributed by the Gutenberg Projekt-DE.
+That project is reachable at the web site http://gutenberg2000.de.
+</p>
+
+<p class="letter">
+Dieses Buch wurde uns freundlicherweise vom "Gutenberg Projekt-DE"
+zur Verfügung gestellt. Das Projekt ist unter der Internet-Adresse
+http://gutenberg2000.de erreichbar.
+</p>
+
+<h1>
+<br /><br /><br />
+Heidis Lehr- und Wanderjahre
+</h1>
+
+<p class="t2">
+Johanna Spyri
+</p>
+
+<p><br /></p>
+
+<p class="t3b">
+ Inhalt<br />
+</p>
+
+<p class="noindent">
+ 1 <a href="#chap01">Zum Alm-Öhi hinauf</a><br />
+ 2 <a href="#chap02">Beim Großvater</a><br />
+ 3 <a href="#chap03">Auf der Weide</a><br />
+ 4 <a href="#chap04">Bei der Großmutter</a><br />
+ 5 <a href="#chap05">Es kommt ein Besuch und dann noch einer, der mehr Folgen hat</a><br />
+ 6 <a href="#chap06">Ein neues Kapitel und lauter neue Dinge</a><br />
+ 7 <a href="#chap07">Fräulein Rottenmeier hat einen unruhigen Tag</a><br />
+ 8 <a href="#chap08">Im Hause Sesemann geht's unruhig zu</a><br />
+ 9 <a href="#chap09">Der Hausherr hört allerlei in seinem Hause, das er noch nicht gehört hat</a><br />
+ 10 <a href="#chap10">Eine Großmama</a><br />
+ 11 <a href="#chap11">Heidi nimmt auf einer Seite zu und auf der anderen ab</a><br />
+ 12 <a href="#chap12">Im Hause Sesemann spukt's</a><br />
+ 13 <a href="#chap13">Am Sommerabend die Alm hinan</a><br />
+ 14 <a href="#chap14">Am Sonntag, wenn's läutet</a><br />
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap01"></a>
+Zum Alm-Öhi hinauf
+</h3>
+
+<p>
+Vom freundlichen Dorfe Maienfeld führt ein Fußweg durch grüne,
+baumreiche Fluren bis zum Fuße der Höhen, die von dieser Seite groß
+und ernst auf das Tal herniederschauen. Wo der Fußweg anfängt,
+beginnt bald Heideland mit dem kurzen Gras und den kräftigen
+Bergkräutern dem Kommenden entgegenzuduften, denn der Fußweg geht
+steil und direkt zu den Alpen hinauf.
+</p>
+
+<p>
+Auf diesem schmalen Bergpfade stieg am hellen, sonnigen Junimorgen
+ein großes, kräftig aussehendes Mädchen dieses Berglandes hinan,
+ein Kind an der Hand führend, dessen Wangen so glühend waren, dass
+sie selbst die sonnverbrannte, völlig braune Haut des Kindes
+flammend rot durchleuchteten. Es war auch kein Wunder: Das Kind
+war trotz der heißen Junisonne so verpackt, als hätte es sich eines
+bitteren Frostes zu erwehren. Das kleine Mädchen mochte kaum fünf
+Jahre zählen; was aber seine natürliche Gestalt war, konnte man
+nicht ersehen, denn es hatte sichtlich zwei, wenn nicht drei
+Kleider übereinander angezogen und drüberhin ein großes, rotes
+Baumwolltuch um und um gebunden, so dass die kleine Person eine
+völlig formlose Figur darstellte, die, in zwei schwere, mit Nägeln
+beschlagene Bergschuhe gesteckt, sich heiß und mühsam den Berg
+hinaufarbeitete. Eine Stunde vom Tal aufwärts mochten die beiden
+gestiegen sein, als sie zu dem Weiler kamen, der auf halber Höhe
+der Alm liegt und 'im Dörfli' heißt. Hier wurden die
+Wandernden fast von jedem Hause aus angerufen, einmal vom Fenster,
+einmal von einer Haustür und einmal vom Wege her, denn das Mädchen
+war in seinem Heimatort angelangt. Es machte aber nirgends Halt,
+sondern erwiderte alle zugerufenen Grüße und Fragen im Vorbeigehen,
+ohne still zu stehen, bis es am Ende des Weilers bei dem letzten
+der zerstreuten Häuschen angelangt war. Hier rief es aus einer Tür:
+"Wart einen Augenblick, Dete, ich komme mit, wenn du weiter
+hinaufgehst."
+</p>
+
+<p>
+Die Angeredete stand still; sofort machte sich das Kind von ihrer
+Hand los und setzte sich auf den Boden.
+</p>
+
+<p>
+"Bist du müde, Heidi?", fragte die Begleiterin.
+</p>
+
+<p>
+"Nein, es ist mir heiß", entgegnete das Kind.
+</p>
+
+<p>
+"Wir sind jetzt gleich oben, du musst dich nur noch ein wenig
+anstrengen und große Schritte nehmen, dann sind wir in einer Stunde
+oben", ermunterte die Gefährtin.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt trat eine breite gutmütig aussehende Frau aus der Tür und
+gesellte sich zu den beiden. Das Kind war aufgestanden und
+wanderte nun hinter den zwei alten Bekannten her, die sofort in ein
+lebhaftes Gespräch gerieten über allerlei Bewohner des 'Dörfli' und
+vieler umherliegender Behausungen.
+</p>
+
+<p>
+"Aber wohin willst du eigentlich mit dem Kinde, Dete?", fragte
+jetzt die neu Hinzugekommene. "Es wird wohl deiner Schwester Kind
+sein, das hinterlassene."
+</p>
+
+<p>
+"Das ist es", erwiderte Dete, "ich will mit ihm hinauf zum Öhi, es
+muss dort bleiben."
+</p>
+
+<p>
+"Was, beim Alm-Öhi soll das Kind bleiben? Du bist, denk ich, nicht
+recht bei Verstand, Dete! Wie kannst du so etwas tun! Der Alte
+wird dich aber schon heimschicken mit deinem Vorhaben!"
+</p>
+
+<p>
+"Das kann er nicht, er ist der Großvater, er muss etwas tun, ich
+habe das Kind bis jetzt gehabt, und das kann ich dir schon sagen,
+Barbel, dass ich einen Platz, wie ich ihn jetzt haben kann, nicht
+dahinten lasse um des Kindes willen; jetzt soll der Großvater das
+Seinige tun."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, wenn der wäre wie andere Leute, dann schon", bestätigte die
+kleine Barbel eifrig; "aber du kennst ja den. Was wird der mit
+einem Kinde anfangen und dann noch einem so kleinen! Das hält's
+nicht aus bei ihm! Aber wo willst du denn hin?"
+</p>
+
+<p>
+"Nach Frankfurt", erklärte Dete, "da bekomm ich einen extraguten
+Dienst. Die Herrschaft war schon im vorigen Sommer unten im Bad,
+ich habe ihre Zimmer auf meinem Gang gehabt und sie besorgt, und
+schon damals wollten sie mich mitnehmen, aber ich konnte nicht
+fortkommen, und jetzt sind sie wieder da und wollen mich mitnehmen,
+und ich will auch gehen, da kannst du sicher sein."
+</p>
+
+<p>
+"Ich möchte nicht das Kind sein!", rief die Barbel mit abwehrender
+Gebärde aus. "Es weiß ja kein Mensch, was mit dem Alten da oben
+ist! Mit keinem Menschen will er etwas zu tun haben, jahraus,
+jahrein setzt er keinen Fuß in eine Kirche, und wenn er mit seinem
+dicken Stock im Jahr einmal herunterkommt, so weicht ihm alles aus
+und muss sich vor ihm fürchten. Mit seinen dicken grauen
+Augenbrauen und dem furchtbaren Bart sieht er auch aus wie ein
+alter Heide und Indianer, dass man froh ist, wenn man ihm nicht
+allein begegnet."
+</p>
+
+<p>
+"Und wenn auch", sagte Dete trotzig, "er ist der Großvater und muss
+für das Kind sorgen, er wird ihm wohl nichts tun, sonst hat er's zu
+verantworten, nicht ich."
+</p>
+
+<p>
+"Ich möchte nur wissen", sagte die Barbel forschend, "was der Alte
+auf dem Gewissen hat, dass er solche Augen macht und so
+mutterseelenallein da droben auf der Alm bleibt und sich fast nie
+blicken lässt. Man sagt allerhand von ihm; du weißt doch gewiss
+auch etwas davon, von deiner Schwester, nicht, Dete?"
+</p>
+
+<p>
+"Freilich, aber ich rede nicht; wenn er's hörte, so käme ich schön
+an!"
+</p>
+
+<p>
+Aber die Barbel hätte schon lange gern gewusst, wie es sich mit dem
+Alm-Öhi verhalte, dass er so menschenfeindlich aussehe und da oben
+ganz allein wohne und die Leute immer so mit halben Worten von ihm
+redeten, als fürchteten sie sich, gegen ihn zu sein, und wollten
+doch nicht für ihn sein. Auch wusste die Barbel gar nicht, warum
+der Alte von allen Leuten im Dörfli der Alm-Öhi genannt wurde, er
+konnte doch nicht der wirkliche Oheim von den sämtlichen Bewohnern
+sein; da aber alle ihn so nannten, tat sie es auch und nannte den
+Alten nie anders als Öhi, was die Aussprache der Gegend für Oheim
+ist. Die Barbel hatte sich erst vor kurzer Zeit nach dem Dörfli
+hinauf verheiratet, vorher hatte sie unten im Prättigau gewohnt,
+und so war sie noch nicht so ganz bekannt mit allen Erlebnissen und
+besonderen Persönlichkeiten aller Zeiten vom Dörfli und der
+Umgegend. Die Dete, ihre gute Bekannte, war dagegen vom Dörfli
+gebürtig und hatte da gelebt mit ihrer Mutter bis vor einem Jahr;
+da war diese gestorben, und die Dete war nach dem Bade Ragaz
+hinübergezogen, wo sie im großen Hotel als Zimmermädchen einen
+guten Verdienst fand. Sie war auch an diesem Morgen mit dem Kinde
+von Ragaz hergekommen; bis Maienfeld hatte sie auf einem Heuwagen
+fahren können, auf dem ein Bekannter von ihr heimfuhr und sie und
+das Kind mitnahm. --Die Barbel wollte also diesmal die gute
+Gelegenheit, etwas zu vernehmen, nicht unbenutzt vorbeigehen lassen;
+sie fasste vertraulich die Dete am Arm und sagte: "Von dir kann
+man doch vernehmen, was wahr ist und was die Leute darüber hinaus
+sagen; du weißt, denk ich, die ganze Geschichte. Sag mir jetzt ein
+wenig, was mit dem Alten ist und ob der immer so gefürchtet und ein
+solcher Menschenhasser war."
+</p>
+
+<p>
+"Ob er immer so war, kann ich, denk ich, nicht präzis wissen, ich
+bin jetzt sechsundzwanzig und er sicher siebzig Jahr alt; so hab
+ich ihn nicht gesehen, wie er jung war, das wirst du nicht erwarten.
+Wenn ich aber wüsste, dass es nachher nicht im ganzen Prättigau
+herumkäme, so könnte ich dir schon allerhand erzählen von ihm;
+meine Mutter war aus dem Domleschg und er auch."
+</p>
+
+<p>
+"A bah, Dete, was meinst denn?", gab die Barbel ein wenig beleidigt
+zurück; "es geht nicht so streng mit dem Schwatzen im Prättigau,
+und dann kann ich schon etwas für mich behalten, wenn es sein muss.
+Erzähl mir's jetzt, es muss dich nicht gereuen."
+</p>
+
+<p>
+"Ja nu, so will ich, aber halt Wort!", mahnte die Dete. Erst sah
+sie sich aber um, ob das Kind nicht zu nah sei und alles anhöre,
+was sie sagen wollte; aber das Kind war gar nicht zu sehen, es
+musste schon seit einiger Zeit den beiden Begleiterinnen nicht mehr
+gefolgt sein, diese hatten es aber im Eifer der Unterhaltung nicht
+bemerkt. Dete stand still und schaute sich überall um. Der Fußweg
+machte einige Krümmungen, doch konnte man ihn fast bis zum Dörfli
+hinunter übersehen, es war aber niemand darauf sichtbar.
+</p>
+
+<p>
+"Jetzt seh ich's", erklärte die Barbel; "siehst du dort?", und sie
+wies mit dem Zeigefinger weitab vom Bergpfad. "Es klettert die
+Abhänge hinauf mit dem Geißenpeter und seinen Geißen. Warum der
+heut so spät hinauffährt mit seinen Tieren? Es ist aber gerad
+recht, er kann nun zu dem Kinde sehen, und du kannst mir umso
+besser erzählen."
+</p>
+
+<p>
+"Mit dem Nach-ihm-Sehen muss sich der Peter nicht anstrengen",
+bemerkte die Dete; "es ist nicht dumm für seine fünf Jahre, es tut
+seine Augen auf und sieht, was vorgeht, das hab ich schon bemerkt
+an ihm, und es wird ihm einmal zugut kommen, denn der Alte hat gar
+nichts mehr als seine zwei Geißen und die Almhütte."
+</p>
+
+<p>
+"Hat er denn einmal mehr gehabt?", fragte die Barbel.
+</p>
+
+<p>
+"Der? Ja, das denk ich, dass er einmal mehr gehabt hat",
+entgegnete eifrig die Dete; "eins der schönsten Bauerngüter im
+Domleschg hat er gehabt. Er war der ältere Sohn und hatte nur noch
+einen Bruder, der war still und ordentlich. Aber der Ältere wollte
+nichts tun, als den Herrn spielen und im Lande herumfahren und mit
+bösem Volk zu tun haben, das niemand kannte. Den ganzen Hof hat er
+verspielt und verzecht, und wie es herauskam, da sind sein Vater
+und seine Mutter hintereinander gestorben vor lauter Gram, und der
+Bruder, der nun auch am Bettelstab war, ist vor Verdruss in die
+Welt hinaus, es weiß kein Mensch wohin, und der Öhi selber, als er
+nichts mehr hatte als einen bösen Namen, ist auch verschwunden.
+Erst wusste niemand wohin, dann vernahm man, er sei unter das
+Militär gegangen nach Neapel, und dann hörte man nichts mehr von
+ihm zwölf oder fünfzehn Jahre lang. Dann auf einmal erschien er
+wieder im Domleschg mit einem halb erwachsenen Buben und wollte
+diesen in der Verwandtschaft unterzubringen suchen. Aber es
+schlossen sich alle Türen vor ihm, und keiner wollte mehr etwas von
+ihm wissen. Das erbitterte ihn sehr; er sagte, ins Domleschg setze
+er keinen Fuß mehr, und dann kam er hierher ins Dörfli und lebte da
+mit dem Buben. Die Frau muss eine Bündnerin gewesen sein, die er
+dort unten getroffen und dann bald wieder verloren hatte. Er
+musste noch etwas Geld haben, denn er ließ den Buben, den Tobias,
+ein Handwerk erlernen, Zimmermann, und der war ein ordentlicher
+Mensch und wohlgelitten bei allen Leuten im Dörfli. Aber dem Alten
+traute keiner, man sagte auch, er sei von Neapel desertiert, es
+wäre ihm sonst schlimm gegangen, denn er habe einen erschlagen,
+natürlich nicht im Krieg, verstehst du, sondern beim Raufhandel.
+Wir anerkannten aber die Verwandtschaft, da meiner Mutter
+Großmutter mit seiner Großmutter Geschwisterkind gewesen war. So
+nannten wir ihn Öhi, und da wir fast mit allen Leuten im Dörfli
+wieder verwandt sind vom Vater her, so nannten ihn diese alle auch
+Öhi, und seit er dann auf die Alm hinaufgezogen war, hieß er eben
+nur noch der 'Alm-Öhi'."
+</p>
+
+<p>
+"Aber wie ist es dann mit dem Tobias gegangen?", fragte gespannt
+die Barbel.
+</p>
+
+<p>
+"Wart nur, das kommt schon, ich kann nicht alles auf einmal sagen",
+erklärte Dete. "Also der Tobias war in der Lehre draußen in Mels,
+und sowie er fertig war, kam er heim ins Dörfli und nahm meine
+Schwester zur Frau, die Adelheid, denn sie hatten sich schon immer
+gern gehabt, und auch wie sie nun verheiratet waren, konnten sie's
+sehr gut zusammen. Aber es ging nicht lange. Schon zwei Jahre
+nachher, wie er an einem Hausbau mithalf, fiel ein Balken auf ihn
+herunter und schlug ihn tot. Und wie man den Mann so entstellt
+nach Hause brachte, da fiel die Adelheid vor Schrecken und Leid in
+ein heftiges Fieber und konnte sich nicht mehr erholen, sie war
+sonst nicht sehr kräftig und hatte manchmal so eigene Zustände
+gehabt, dass man nicht recht wusste, schlief sie oder war sie wach.
+Nur ein paar Wochen, nachdem der Tobias tot war, begrub man auch
+die Adelheid. Da sprachen alle Leute weit und breit von dem
+traurigen Schicksal der beiden, und leise und laut sagten sie, das
+sei die Strafe, die der Öhi verdient habe für sein gottloses Leben,
+und ihm selbst wurde es gesagt und auch der Herr Pfarrer redete ihm
+ins Gewissen, er sollte doch jetzt Buße tun, aber er wurde nur
+immer grimmiger und verstockter und redete mit niemandem mehr, es
+ging ihm auch jeder aus dem Wege. Auf einmal hieß es, der Öhi sei
+auf die Alm hinaufgezogen und komme gar nicht mehr herunter, und
+seither ist er dort und lebt mit Gott und Menschen im Unfrieden.
+Das kleine Kind der Adelheid nahmen wir zu uns, die Mutter und ich;
+es war ein Jahr alt. Wie nun im letzten Sommer die Mutter starb
+und ich im Bad drunten etwas verdienen wollte, nahm ich es mit und
+gab es der alten Ursel oben im Pfäfferserdorf in die Kost. Ich
+konnte auch im Winter im Bad bleiben, es gab allerhand Arbeit, weil
+ich zu nähen und flicken verstehe, und früh im Frühling kam die
+Herrschaft aus Frankfurt wieder, die ich voriges Jahr bedient hatte
+und die mich mitnehmen will; übermorgen reisen wir ab, und der
+Dienst ist gut, das kann ich dir sagen."
+</p>
+
+<p>
+"Und dem Alten da droben willst du nun das Kind übergeben? Es
+nimmt mich nur wunder, was du denkst, Dete", sagte die Barbel
+vorwurfsvoll.
+</p>
+
+<p>
+"Was meinst du denn?", gab Dete zurück. "Ich habe das Meinige an
+dem Kinde getan, und was sollte ich denn mit ihm machen? Ich denke,
+ich kann eines, das erst fünf Jahre alt wird, nicht mit nach
+Frankfurt nehmen. Aber wohin gehst du eigentlich, Barbel, wir sind
+ja schon halbwegs auf der Alm?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich bin auch gleich da, wo ich hinmuss", entgegnete die Barbel;
+"ich habe mit der Geißenpeterin zu reden, sie spinnt mir im Winter.
+So leb wohl, Dete, mit Glück!"
+</p>
+
+<p>
+Dete reichte der Begleiterin die Hand und blieb stehen, während
+diese der kleinen, dunkelbraunen Almhütte zuging, die einige
+Schritte seitwärts vom Pfad in einer Mulde stand, wo sie vor dem
+Bergwind ziemlich geschützt war. Die Hütte stand auf der halben
+Höhe der Alm, vom Dörfli aus gerechnet, und dass sie in einer
+kleinen Vertiefung des Berges stand, war gut, denn sie sah so
+baufällig und verfallen aus, dass es auch so noch ein gefährliches
+Darinwohnen sein musste, wenn der Föhnwind so mächtig über die
+Berge strich, dass alles an der Hütte klapperte, Türen und Fenster,
+und alle die morschen Balken zitterten und krachten. Hätte die
+Hütte an solchen Tagen oben auf der Alm gestanden, sie wäre
+unverzüglich ins Tal hinabgeweht worden.
+</p>
+
+<p>
+Hier wohnte der Geißenpeter, der elfjährige Bube, der jeden Morgen
+unten im Dörfli die Geißen holte, um sie hoch auf die Alm
+hinaufzutreiben, um sie da die kurzen kräftigen Kräuter fressen zu
+lassen bis zum Abend; dann sprang der Peter mit den leichtfüßigen
+Tierchen wieder herunter, tat, im Dörfli angekommen, einen
+schrillen Pfiff durch die Finger, und jeder Besitzer holte seine
+Geiß auf dem Platz. Meistens kamen kleine Buben und Mädchen, denn
+die friedlichen Geißen waren nicht zu fürchten, und das war denn
+den ganzen Sommer durch die einzige Zeit am Tage, da der Peter mit
+seinesgleichen verkehrte; sonst lebte er nur mit den Geißen. Er
+hatte zwar daheim seine Mutter und die blinde Großmutter; aber da
+er immer am Morgen sehr früh fortmusste und am Abend vom Dörfli
+spät heimkam, weil er sich da noch so lange als möglich mit den
+Kindern unterhalten musste, so verbrachte er daheim nur gerade so
+viel Zeit, um am Morgen seine Milch und Brot und am Abend
+ebendasselbe hinunterzuschlucken und dann sich aufs Ohr zu legen
+und zu schlafen. Sein Vater, der auch schon der Geißenpeter
+genannt worden war, weil er in früheren Jahren in demselben Berufe
+gestanden hatte, war vor einigen Jahren beim Holzfällen verunglückt.
+Seine Mutter, die zwar Brigitte hieß, wurde von jedermann um des
+Zusammenhangs willen die Geißenpeterin genannt, und die blinde
+Großmutter kannten weit und breit Alt und Jung nur unter dem Namen
+Großmutter.
+</p>
+
+<p>
+Die Dete hatte wohl zehn Minuten gewartet und sich nach allen
+Seiten umgesehen, ob die Kinder mit den Geißen noch nirgends zu
+sehen seien; als dies aber nicht der Fall war, so stieg sie noch
+ein wenig höher, wo sie besser die ganze Alm bis hinunter übersehen
+konnte, und guckte nun von hier aus bald dahin, bald dorthin mit
+Zeichen großer Ungeduld auf dem Gesicht und in den Bewegungen.
+Unterdessen rückten die Kinder auf einem großen Umwege heran, denn
+der Peter wusste viele Stellen, wo allerhand Gutes an Sträuchern
+und Gebüschen für seine Geißen zu nagen war; darum machte er mit
+seiner Herde vielerlei Wendungen auf dem Wege. Erst war das Kind
+mühsam nachgeklettert, in seiner schweren Rüstung vor Hitze und
+Unbequemlichkeit keuchend und alle Kräfte anstrengend. Es sagte
+kein Wort, blickte aber unverwandt bald auf den Peter, der mit
+seinen nackten Füßen und leichten Höschen ohne alle Mühe hin und
+her sprang, bald auf die Geißen, die mit den dünnen, schlanken
+Beinchen noch leichter über Busch und Stein und steile Abhänge
+hinaufkletterten. Auf einmal setzte das Kind sich auf den Boden
+nieder, zog mit großer Schnelligkeit Schuhe und Strümpfe aus, stand
+wieder auf, zog sein rotes, dickes Halstuch weg, machte sein
+Röckchen auf, zog es schnell aus und hatte gleich noch eins
+auszuhäkeln, denn die Base Dete hatte ihm das Sonntagskleidchen
+über das Alltagszeug angezogen, um der Kürze willen, damit niemand
+es tragen müsse. Blitzschnell war auch das Alltagsröcklein weg,
+und nun stand das Kind im leichten Unterröckchen, die bloßen Arme
+aus den kurzen Hemdärmelchen vergnüglich in die Luft
+hinausstreckend. Dann legte es schön alles auf ein Häufchen, und
+nun sprang und kletterte es hinter den Geißen und neben dem Peter
+her, so leicht als nur eines aus der ganzen Gesellschaft. Der
+Peter hatte nicht Acht gegeben, was das Kind mache, als es
+zurückgeblieben war. Wie es nun in der neuen Bekleidung
+nachgesprungen kam, zog er lustig grinsend das ganze Gesicht
+auseinander und schaute zurück, und wie er unten das Häuflein
+Kleider liegen sah, ging sein Gesicht noch ein wenig mehr
+auseinander, und sein Mund kam fast von einem Ohr bis zum anderen;
+er sagte aber nichts. Wie nun das Kind sich so frei und leicht
+fühlte, fing es ein Gespräch mit dem Peter an, und er fing auch an
+zu reden und musste auf vielerlei antworten, denn das Kind wollte
+wissen, wie viele Geißen er habe und wohin er mit ihnen gehe und
+was er dort tue, wo er hinkomme. So langten endlich die Kinder
+samt den Geißen oben bei der Hütte an und kamen der Base Dete zu
+Gesicht. Kaum aber hatte diese die herankletternde Gesellschaft
+erblickt, als sie laut aufschrie: "Heidi, was machst du? Wie
+siehst du aus? Wo hast du deinen Rock und den zweiten und das
+Halstuch? Und ganz neue Schuhe habe ich dir gekauft auf den Berg
+und dir neue Strümpfe gemacht, und alles fort! Alles fort! Heidi,
+was machst du, wo hast du alles?"
+</p>
+
+<p>
+Das Kind zeigte ruhig den Berg hinunter und sagte: "Dort!" Die Base
+folgte seinem Finger. Richtig, dort lag etwas und obenauf war ein
+roter Punkt, das musste das Halstuch sein.
+</p>
+
+<p>
+"Du Unglückstropf!", rief die Base in großer Aufregung. "Was kommt
+dir denn in den Sinn, warum hast du alles ausgezogen? Was soll das
+sein?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich brauch es nicht", sagte das Kind und sah gar nicht reuevoll
+aus über seine Tat.
+</p>
+
+<p>
+"Ach du unglückseliges, vernunftloses Heidi, hast du denn auch noch
+gar keine Begriffe?", jammerte und schalt die Base weiter. "Wer
+sollte nun wieder da hinunter, es ist ja eine halbe Stunde! Komm,
+Peter, lauf du mir schnell zurück und hol das Zeug, komm schnell
+und steh nicht dort und glotze mich an, als wärst du am Boden
+festgenagelt."
+</p>
+
+<p>
+"Ich bin schon zu spät", sagte Peter langsam und blieb, ohne sich
+zu rühren, auf demselben Fleck stehen, von dem aus er, beide Hände
+in die Taschen gesteckt, dem Schreckensausbruch der Base zugehört
+hatte.
+</p>
+
+<p>
+"Du stehst ja doch nur und reißest deine Augen auf und kommst, denk
+ich, nicht weit auf die Art!", rief ihm die Base Dete zu. "Komm
+her, du musst etwas Schönes haben, siehst du?" Sie hielt ihm ein
+neues Fünferchen hin, das glänzte ihm in die Augen. Plötzlich
+sprang er auf und davon auf dem geradesten Weg die Alm hinunter und
+kam in ungeheuren Sätzen in kurzer Zeit bei dem Häuflein Kleider an,
+packte sie auf und erschien damit so schnell, dass ihn die Base
+rühmen musste und ihm sogleich sein Fünfrappenstück überreichte.
+Peter steckte es schnell tief in seine Tasche, und sein Gesicht
+glänzte und lachte in voller Breite, denn ein solcher Schatz wurde
+ihm nicht oft zuteil.
+</p>
+
+<p>
+"Du kannst mir das Zeug noch tragen bis zum Öhi hinauf, du gehst ja
+auch den Weg", sagte die Base Dete jetzt, indem sie sich anschickte,
+den steilen Abhang zu erklimmen, der gleich hinter der Hütte des
+Geißenpeter emporragte. Willig übernahm dieser den Auftrag und
+folgte der Voranschreitenden auf dem Fuße nach, den linken Arm um
+sein Bündel geschlungen, in der Rechten die Geißenrute schwingend.
+Das Heidi und die Geißen hüpften und sprangen fröhlich neben ihm
+her. So gelangte der Zug nach drei Viertelstunden auf die Almhöhe,
+wo frei auf dem Vorsprung des Berges die Hütte des alten Öhi stand,
+allen Winden ausgesetzt, aber auch jedem Sonnenblick zugänglich und
+mit der vollen Aussicht weit ins Tal hinab. Hinter der Hütte
+standen drei alte Tannen mit dichten, langen, unbeschnittenen Ästen.
+Weiter hinten ging es nochmals bergan bis hoch hinauf in die
+alten, grauen Felsen, erst noch über schöne, kräuterreiche Höhen,
+dann in steiniges Gestrüpp und endlich zu den kahlen, steilen
+Felsen hinan.
+</p>
+
+<p>
+An die Hütte festgemacht, der Talseite zu, hatte sich der Öhi eine
+Bank gezimmert. Hier saß er, eine Pfeife im Mund, beide Hände auf
+seine Knie gelegt, und schaute ruhig zu, wie die Kinder, die Geißen
+und die Base Dete herankletterten, denn die Letztere war nach und
+nach von den anderen überholt worden. Heidi war zuerst oben; es
+ging geradeaus auf den Alten zu, streckte ihm die Hand entgegen und
+sagte: "Guten Abend, Großvater!"
+</p>
+
+<p>
+"So, so, wie ist das gemeint?", fragte der Alte barsch, gab dem
+Kinde kurz die Hand und schaute es mit einem langen,
+durchdringenden Blick an, unter seinen buschigen Augenbrauen hervor.
+Heidi gab den langen Blick ausdauernd zurück, ohne nur einmal mit
+den Augen zu zwinkern, denn der Großvater mit dem langen Bart und
+den dichten, grauen Augenbrauen, die in der Mitte zusammengewachsen
+waren und aussahen wie eine Art Gesträuch, war so verwunderlich
+anzusehen, dass Heidi ihn recht betrachten musste. Unterdessen war
+auch die Base herangekommen samt dem Peter, der eine Weile stille
+stand und zusah, was sich da ereigne.
+</p>
+
+<p>
+"Ich wünsche Euch guten Tag, Öhi", sagte die Dete hinzutretend,
+"und hier bring ich Euch das Kind vom Tobias und der Adelheid. Ihr
+werdet es wohl nicht mehr kennen, denn seit es jährig war, habt Ihr
+es nie mehr gesehen."
+</p>
+
+<p>
+"So, was muss das Kind bei mir?", fragte der Alte kurz; "und du
+dort", rief er dem Peter zu, "du kannst gehen mit deinen Geißen, du
+bist nicht zu früh; nimm meine mit!"
+</p>
+
+<p>
+Der Peter gehorchte sofort und verschwand, denn der Öhi hatte ihn
+angeschaut, dass er schon genug davon hatte.
+</p>
+
+<p>
+"Es muss eben bei Euch bleiben, Öhi", gab die Dete auf seine Frage
+zurück. "Ich habe, denk ich, das Meinige an ihm getan die vier
+Jahre durch, es wird jetzt wohl an Euch sein, das Eurige auch
+einmal zu tun."
+</p>
+
+<p>
+"So", sagte der Alte und warf einen blitzenden Blick auf die Dete.
+"Und wenn nun das Kind anfängt, dir nachzuflennen und zu winseln,
+wie kleine Unvernünftige tun, was muss ich dann mit ihm anfangen?"
+</p>
+
+<p>
+"Das ist dann Eure Sache", warf die Dete zurück, "ich meine fast,
+es habe mir auch kein Mensch gesagt, wie ich es mit dem Kleinen
+anzufangen habe, als es mir auf den Händen lag, ein einziges
+Jährchen alt, und ich schon für mich und die Mutter genug zu tun
+hatte. Jetzt muss ich meinem Verdienst nach, und Ihr seid der
+Nächste am Kind; wenn Ihr's nicht haben könnt, so macht mit ihm,
+was Ihr wollt, dann habt Ihr's zu verantworten, wenn's verdirbt,
+und Ihr werdet wohl nicht nötig haben, noch etwas aufzuladen."
+</p>
+
+<p>
+Die Dete hatte kein recht gutes Gewissen bei der Sache, darum war
+sie so hitzig geworden und hatte mehr gesagt, als sie im Sinn
+gehabt hatte. Bei ihren letzten Worten war der Öhi aufgestanden;
+er schaute sie so an, dass sie einige Schritte zurückwich; dann
+streckte er den Arm aus und sagte befehlend: "Mach, dass du
+hinunterkommst, wo du heraufgekommen bist, und zeig dich nicht so
+bald wieder!" Das ließ sich die Dete nicht zweimal sagen. "So lebt
+wohl, und du auch, Heidi", sagte sie schnell und lief den Berg
+hinunter in einem Trab bis ins Dörfli hinab, denn die innere
+Aufregung trieb sie vorwärts wie eine wirksame Dampfkraft. Im
+Dörfli wurde sie diesmal noch viel mehr angerufen, denn es wunderte
+die Leute, wo das Kind sei; sie kannten ja alle die Dete genau und
+wussten, wem das Kind gehörte und alles, was mit ihm vorgegangen
+war. Als es nun aus allen Türen und Fenstern tönte: "Wo ist das
+Kind? Dete, wo hast du das Kind gelassen?", rief sie immer
+unwilliger zurück: "Droben beim Alm-Öhi! Nun, beim Alm-Öhi, ihr
+hört's ja!"
+</p>
+
+<p>
+Sie wurde aber so maßleidig, weil die Frauen von allen Seiten ihr
+zuriefen: "Wie kannst du so etwas tun!", und: "Das arme Tröpfli!",
+und: "So ein kleines Hilfloses da droben lassen!", und dann wieder
+und wieder: "Das arme Tröpfli!" Die Dete lief, so schnell sie
+konnte, weiter und war froh, als sie nichts mehr hörte, denn es war
+ihr nicht wohl bei der Sache; ihre Mutter hatte ihr beim Sterben
+das Kind noch übergeben. Aber sie sagte sich zur Beruhigung, sie
+könne dann ja eher wieder etwas für das Kind tun, wenn sie nun viel
+Geld verdiene, und so war sie sehr froh, dass sie bald weit von
+allen Leuten, die ihr dreinredeten, weg- und zu einem schönen
+Verdienst kommen konnte.
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap02"></a>
+Beim Großvater
+</h3>
+
+<p>
+Nachdem die Dete verschwunden war, hatte der Öhi sich wieder auf
+die Bank hingesetzt und blies nun große Wolken aus seiner Pfeife;
+dabei starrte er auf den Boden und sagte kein Wort. Derweilen
+schaute das Heidi vergnüglich um sich, entdeckte den Geißenstall,
+der an die Hütte angebaut war, und guckte hinein. Es war nichts
+drin. Das Kind setzte seine Untersuchungen fort und kam hinter die
+Hütte zu den alten Tannen. Da blies der Wind durch die Äste so
+stark, dass es sauste und brauste oben in den Wipfeln. Heidi blieb
+stehen und hörte zu. Als es ein wenig stiller wurde, ging das Kind
+um die kommende Ecke der Hütte herum und kam vorn wieder zum
+Großvater zurück. Als es diesen noch in derselben Stellung
+erblickte, wie es ihn verlassen hatte, stellte es sich vor ihn hin,
+legte die Hände auf den Rücken und betrachtete ihn. Der Großvater
+schaute auf. "Was willst du jetzt tun?", fragte er, als das Kind
+immer noch unbeweglich vor ihm stand.
+</p>
+
+<p>
+"Ich will sehen, was du drinnen hast, in der Hütte", sagte Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"So komm!", und der Großvater stand auf und ging voran in die Hütte
+hinein.
+</p>
+
+<p>
+"Nimm dort dein Bündel Kleider noch mit", befahl er im Hereintreten.
+</p>
+
+<p>
+"Das brauch ich nicht mehr", erklärte Heidi.
+</p>
+
+<p>
+Der Alte kehrte sich um und schaute durchdringend auf das Kind,
+dessen schwarze Augen glühten in Erwartung der Dinge, die da
+drinnen sein konnten. "Es kann ihm nicht an Verstand fehlen",
+sagte er halblaut. "Warum brauchst du's nicht mehr?", setzte er
+laut hinzu.
+</p>
+
+<p>
+"Ich will am liebsten gehen wie die Geißen, die haben ganz leichte
+Beinchen."
+</p>
+
+<p>
+"So, das kannst du, aber hol das Zeug", befahl der Großvater, "es
+kommt in den Kasten." Heidi gehorchte. Jetzt machte der Alte die
+Tür auf und Heidi trat hinter ihm her in einen ziemlich großen Raum
+ein, es war der Umfang der ganzen Hütte. Da stand ein Tisch und
+ein Stuhl daran; in einer Ecke war des Großvaters Schlaflager, in
+einer anderen hing der große Kessel über dem Herd; auf der anderen
+Seite war eine große Tür in der Wand, die machte der Großvater auf,
+es war der Schrank. Da hingen seine Kleider drin und auf einem
+Gestell lagen ein paar Hemden, Strümpfe und Tücher und auf einem
+anderen einige Teller und Tassen und Gläser und auf dem obersten
+ein rundes Brot und geräuchertes Fleisch und Käse, denn in dem
+Kasten war alles enthalten, was der Alm-Öhi besaß und zu seinem
+Lebensunterhalt gebrauchte. Wie er nun den Schrank aufgemacht
+hatte, kam das Heidi schnell heran und stieß sein Zeug hinein, so
+weit hinter des Großvaters Kleider als möglich, damit es nicht so
+leicht wieder zu finden sei. Nun sah es sich aufmerksam um in dem
+Raum und sagte dann: "Wo muss ich schlafen, Großvater?"
+</p>
+
+<p>
+"Wo du willst", gab dieser zur Antwort.
+</p>
+
+<p>
+Das war dem Heidi eben recht. Nun fuhr es in alle Winkel hinein
+und schaute jedes Plätzchen aus, wo am schönsten zu schlafen wäre.
+In der Ecke vorüber des Großvaters Lagerstätte war eine kleine
+Leiter aufgerichtet; Heidi kletterte hinauf und langte auf dem
+Heuboden an. Da lag ein frischer, duftender Heuhaufen oben, und
+durch eine runde Luke sah man weit ins Tal hinab.
+</p>
+
+<p>
+"Hier will ich schlafen", rief Heidi hinunter, "hier ist's schön!
+Komm und sieh einmal, wie schön es hier ist, Großvater!"
+</p>
+
+<p>
+"Weiß schon", tönte es von unten herauf.
+</p>
+
+<p>
+"Ich mache jetzt das Bett!", rief das Kind wieder, indem es oben
+geschäftig hin und her fuhr; "aber du musst heraufkommen und mir
+ein Leintuch mitbringen, denn auf ein Bett kommt auch ein Leintuch,
+und darauf liegt man."
+</p>
+
+<p>
+"So, so", sagte unten der Großvater, und nach einer Weile ging er
+an den Schrank und kramte ein wenig darin herum; dann zog er unter
+seinen Hemden ein langes, grobes Tuch hervor, das musste so etwas
+sein wie ein Leintuch. Er kam damit die Leiter herauf. Da war auf
+dem Heuboden ein ganz artiges Bettlein zugerichtet; oben, wo der
+Kopf liegen musste, war das Heu hoch aufgeschichtet, und das
+Gesicht kam so zu liegen, dass es gerade auf das offene, runde Loch
+traf.
+</p>
+
+<p>
+"Das ist recht gemacht", sagte der Großvater, "jetzt wird das Tuch
+kommen, aber wart noch"--damit nahm er einen guten Wisch Heu von
+dem Haufen und machte das Lager doppelt so dick, damit der harte
+Boden nicht durchgefühlt werden konnte--; "so, jetzt komm her
+damit." Heidi hatte das Leintuch schnell zuhanden genommen, konnte
+es aber fast nicht tragen, so schwer war's; aber das war sehr gut,
+denn durch das feste Zeug konnten die spitzen Heuhalme nicht
+durchstechen. Jetzt breiteten die beiden miteinander das Tuch über
+das Heu, und wo es zu breit und zu lang war, stopfte Heidi die
+Enden eilfertig unter das Lager. Nun sah es recht gut und reinlich
+aus, und Heidi stellte sich davor und betrachtete es nachdenklich.
+</p>
+
+<p>
+"Wir haben noch etwas vergessen, Großvater", sagte es dann.
+</p>
+
+<p>
+"Was denn?", fragte er.
+</p>
+
+<p>
+"Eine Decke; denn wenn man ins Bett geht, kriecht man zwischen das
+Leintuch und die Decke hinein."
+</p>
+
+<p>
+"So, meinst du? Wenn ich aber keine habe?", sagte der Alte.
+</p>
+
+<p>
+"Oh, dann ist's gleich, Großvater", beruhigte Heidi, "dann nimmt
+man wieder Heu zur Decke", und eilfertig wollte es gleich wieder an
+den Heustock gehen, aber der Großvater wehrte es ihm.
+</p>
+
+<p>
+"Wart einen Augenblick", sagte er, stieg die Leiter hinab und ging
+an sein Lager hin. Dann kam er wieder und legte einen großen,
+schweren, leinenen Sack auf den Boden.
+</p>
+
+<p>
+"Ist das nicht besser als Heu?", fragte er. Heidi zog aus
+Leibeskräften an dem Sacke hin und her, um ihn auseinander zu legen,
+aber die kleinen Hände konnten das schwere Zeug nicht bewältigen.
+Der Großvater half, und wie es nun ausgebreitet auf dem Bette lag,
+da sah alles sehr gut und haltbar aus, und Heidi stand staunend vor
+seinem neuen Lager und sagte: "Das ist eine prächtige Decke und das
+ganze Bett! Jetzt wollt ich, es wäre schon Nacht, so könnte ich
+hineinliegen."
+</p>
+
+<p>
+"Ich meine, wir könnten erst einmal etwas essen", sagte der
+Großvater, "oder was meinst du?" Heidi hatte über dem Eifer des
+Bettens alles andere vergessen; nun ihm aber der Gedanke ans Essen
+kam, stieg ein großer Hunger in ihm auf, denn es hatte auch heute
+noch gar nichts bekommen als früh am Morgen sein Stück Brot und ein
+paar Schlucke dünnen Kaffees, und nachher hatte es die lange Reise
+gemacht. So sagte Heidi ganz zustimmend: "Ja, ich mein es auch."
+</p>
+
+<p>
+"So geh hinunter, wenn wir denn einig sind", sagte der Alte und
+folgte dem Kind auf dem Fuß nach. Dann ging er zum Kessel hin,
+schob den großen weg und drehte den kleinen heran, der an der Kette
+hing, setzte sich auf den hölzernen Dreifuß mit dem runden Sitz
+davor hin und blies ein helles Feuer an. Im Kessel fing es an zu
+sieden, und unten hielt der Alte an einer langen Eisengabel ein
+großes Stück Käse über das Feuer und drehte es hin und her, bis es
+auf allen Seiten goldgelb war. Heidi hatte mit gespannter
+Aufmerksamkeit zugesehen; jetzt musste ihm etwas Neues in den Sinn
+gekommen sein; auf einmal sprang es weg und an den Schrank und von
+da hin und her. Jetzt kam der Großvater mit einem Topf und dem
+Käsebraten an der Gabel zum Tisch heran; da lag schon das runde
+Brot darauf und zwei Teller und zwei Messer, alles schön geordnet,
+denn das Heidi hatte alles im Schrank gut wahrgenommen und wusste,
+dass man das alles nun gleich zum Essen brauchen werde.
+</p>
+
+<p>
+"So, das ist recht, dass du selbst etwas ausdenkst", sagte der
+Großvater und legte den Braten auf das Brot als Unterlage; "aber es
+fehlt noch etwas auf dem Tisch."
+</p>
+
+<p>
+Heidi sah, wie einladend es aus dem Topf hervordampfte, und sprang
+schnell wieder an den Schrank. Da stand aber nur ein einziges
+Schüsselchen. Heidi war nicht lang in Verlegenheit, dort hinten
+standen zwei Gläser; augenblicklich kam das Kind zurück und stellte
+Schüsselchen und Glas auf den Tisch.
+</p>
+
+<p>
+"Recht so; du weißt dir zu helfen; aber wo willst du sitzen?" Auf
+dem einzigen Stuhl saß der Großvater selbst. Heidi schoss
+pfeilschnell zum Herd hin, brachte den kleinen Dreifuß zurück und
+setzte sich drauf.
+</p>
+
+<p>
+"Einen Sitz hast du wenigstens, das ist wahr, nur ein wenig weit
+unten", sagte der Großvater; "aber von meinem Stuhl wärst auch zu
+kurz, auf den Tisch zu langen; jetzt musst aber einmal etwas haben,
+so komm!" Damit stand er auf, füllte das Schüsselchen mit Milch,
+stellte es auf den Stuhl und rückte den ganz nah an den Dreifuß hin,
+so dass das Heidi nun einen Tisch vor sich hatte. Der Großvater
+legte ein großes Stück Brot und ein Stück von dem goldenen Käse
+darauf und sagte: "Jetzt iss!" Er selbst setzte sich nun auf die
+Ecke des Tisches und begann sein Mittagsmahl. Heidi ergriff sein
+Schüsselchen und trank und trank ohne Aufenthalt, denn der ganze
+Durst seiner langen Reise war ihm wieder aufgestiegen. Jetzt tat
+es einen langen Atemzug--denn im Eifer des Trinkens hatte es lange
+den Atem nicht holen können--und stellte sein Schüsselchen hin.
+</p>
+
+<p>
+"Gefällt dir die Milch?", fragte der Großvater.
+</p>
+
+<p>
+"Ich habe noch gar nie so gute Milch getrunken", antwortete Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"So musst du mehr haben", und der Großvater füllte das Schüsselchen
+noch einmal bis oben hin und stellte es vor das Kind, das
+vergnüglich in sein Brot biss, nachdem es von dem weichen Käse
+darauf gestrichen, denn der war, so gebraten, weich wie Butter, und
+das schmeckte ganz kräftig zusammen, und zwischendurch trank es
+seine Milch und sah sehr vergnüglich aus. Als nun das Essen zu
+Ende war, ging der Großvater in den Geißenstall hinaus und hatte da
+allerhand in Ordnung zu bringen, und Heidi sah ihm aufmerksam zu,
+wie er erst mit dem Besen säuberte, dann frische Streu legte, dass
+die Tierchen darauf schlafen konnten; wie er dann nach dem
+Schöpfchen ging nebenan und hier runde Stöcke zurechtschnitt und an
+einem Brett herumhackte und Löcher hineinbohrte und dann die runden
+Stöcke hineinsteckte und aufstellte; da war es auf einmal ein Stuhl,
+wie der vom Großvater, nur viel höher, und Heidi staunte das Werk
+an, sprachlos vor Verwunderung.
+</p>
+
+<p>
+"Was ist das, Heidi?", fragte der Großvater.
+</p>
+
+<p>
+"Das ist mein Stuhl, weil er so hoch ist; auf einmal war er fertig",
+sagte das Kind, noch in tiefem Erstaunen und Bewunderung.
+</p>
+
+<p>
+"Es weiß, was es sieht, es hat die Augen am rechten Ort", bemerkte
+der Großvater vor sich hin, als er nun um die Hütte herumging und
+hier einen Nagel einschlug und dort einen und dann an der Tür etwas
+zu befestigen hatte und so mit Hammer und Nägeln und Holzstücken
+von einem Ort zum anderen wanderte und immer etwas ausbesserte oder
+wegschlug, je nach dem Bedürfnis. Heidi ging Schritt für Schritt
+hinter ihm her und schaute ihm unverwandt mit der größten
+Aufmerksamkeit zu, und alles, was da vorging, war ihm sehr
+kurzweilig anzusehen.
+</p>
+
+<p>
+So kam der Abend heran. Es fing stärker an zu rauschen in den
+alten Tannen, ein mächtiger Wind fuhr daher und sauste und brauste
+durch die dichten Wipfel. Das tönte dem Heidi so schön in die
+Ohren und ins Herz hinein, dass es ganz fröhlich darüber wurde und
+hüpfte und sprang unter den Tannen umher, als hätte es eine
+unerhörte Freude erlebt. Der Großvater stand unter der Schopftür
+und schaute dem Kind zu. Jetzt ertönte ein schriller Pfiff. Heidi
+hielt an in seinen Sprüngen, der Großvater trat heraus. Von oben
+herunter kam es gesprungen, Geiß um Geiß, wie eine Jagd, und
+mittendrin der Peter. Mit einem Freudenruf schoss Heidi mitten in
+das Rudel hinein und begrüßte die alten Freunde von heute Morgen
+einen um den anderen. Bei der Hütte angekommen, stand alles still,
+und aus der Herde heraus kamen zwei schöne, schlanke Geißen, eine
+weiße und eine braune, auf den Großvater zu und leckten seine Hände,
+denn er hielt ein wenig Salz darin, wie er jeden Abend zum Empfang
+seiner zwei Tierlein tat. Der Peter verschwand mit seiner Schar.
+Heidi streichelte zärtlich die eine und dann die andere von den
+Geißen und sprang um sie herum, um sie von der anderen Seite auch
+zu streicheln, und war ganz Glück und Freude über die Tierchen.
+"Sind sie unser, Großvater? Sind sie beide unser? Kommen sie in
+den Stall? Bleiben sie immer bei uns?", so fragte Heidi
+hintereinander in seinem Vergnügen, und der Großvater konnte kaum
+sein stetiges "Ja, ja!" zwischen die eine und die andere Frage
+hineinbringen. Als die Geißen ihr Salz aufgeleckt hatten, sagte
+der Alte: "Geh und hol dein Schüsselchen heraus und das Brot."
+</p>
+
+<p>
+Heidi gehorchte und kam gleich wieder. Nun melkte der Großvater
+gleich von der Weißen das Schüsselchen voll und schnitt ein Stück
+Brot ab und sagte: "Nun iss und dann geh hinauf und schlaf! Die
+Base Dete hat noch ein Bündelchen abgelegt für dich, da seien
+Hemdlein und so etwas darin, das liegt unten im Kasten, wenn du's
+brauchst; ich muss nun mit den Geißen hinein, so schlaf wohl!"
+</p>
+
+<p>
+"Gut Nacht, Großvater! Gut Nacht--wie heißen sie, Großvater, wie
+heißen sie?", rief das Kind und lief dem verschwindenden Alten und
+den Geißen nach.
+</p>
+
+<p>
+"Die Weiße heißt Schwänli und die Braune Bärli", gab der Großvater
+zurück.
+</p>
+
+<p>
+"Gut Nacht, Schwänli, gut Nacht, Bärli!", rief nun Heidi noch mit
+Macht, denn eben verschwanden beide in den Stall hinein. Nun
+setzte sich Heidi noch auf die Bank und aß sein Brot und trank
+seine Milch; aber der starke Wind wehte es fast von seinem Sitz
+herunter; so machte es schnell fertig, ging dann hinein und stieg
+zu seinem Bett hinauf, in dem es auch gleich nachher so fest und
+herrlich schlief, als nur einer im schönsten Fürstenbett schlafen
+konnte. Nicht lange nachher, noch eh es völlig dunkel war, legte
+auch der Großvater sich auf sein Lager, denn am Morgen war er immer
+schon mit der Sonne wieder draußen, und die kam sehr früh über die
+Berge hereingestiegen in dieser Sommerszeit. In der Nacht kam der
+Wind so gewaltig, dass bei seinen Stößen die ganze Hütte erzitterte
+und es in allen Balken krachte; durch den Schornstein heulte und
+ächzte es wie Jammerstimmen, und in den alten Tannen draußen tobte
+es mit solcher Wut, dass hier und da ein Ast niederkrachte. Mitten
+in der Nacht stand der Großvater auf und sagte halblaut vor sich
+hin: "Es wird sich wohl fürchten." Er stieg die Leiter hinauf und
+trat an Heidis Lager heran. Der Mond draußen stand einmal hell
+leuchtend am Himmel, dann fuhren wieder die jagenden Wolken darüber
+hin und alles wurde dunkel. Jetzt kam der Mondschein eben
+leuchtend durch die runde Öffnung herein und fiel gerade auf Heidis
+Lager. Es hatte sich feuerrote Backen erschlafen unter seiner
+schweren Decke, und ruhig und friedlich lag es auf seinem runden
+Ärmchen und träumte von etwas Erfreulichem, denn sein Gesichtchen
+sah ganz wohlgemut aus. Der Großvater schaute so lange auf das
+friedlich schlafende Kind, bis der Mond wieder hinter die Wolken
+trat und es dunkel wurde, dann kehrte er auf sein Lager zurück.
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap03"></a>
+Auf der Weide
+</h3>
+
+<p>
+Heidi erwachte am frühen Morgen an einem lauten Pfiff, und als es
+die Augen aufschlug, kam ein goldener Schein durch das runde Loch
+hereingeflossen auf sein Lager und auf das Heu daneben, dass alles
+golden leuchtete ringsherum. Heidi schaute erstaunt um sich und
+wusste durchaus nicht, wo es war. Aber nun hörte es draußen des
+Großvaters tiefe Stimme, und jetzt kam ihm alles in den Sinn: Woher
+es gekommen war und dass es nun auf der Alm beim Großvater sei,
+nicht mehr bei der alten Ursel, die fast nichts mehr hörte und
+meistens fror, so dass sie immer am Küchenfenster oder am
+Stubenofen gesessen hatte, wo dann auch Heidi hatte verweilen
+müssen oder doch ganz in der Nähe, damit die Alte sehen konnte, wo
+es war, weil sie es nicht hören konnte. Da war es dem Heidi
+manchmal zu eng drinnen, und es wäre lieber hinausgelaufen. So war
+es sehr froh, als es in der neuen Behausung erwachte und sich
+erinnerte, wie viel Neues es gestern gesehen hatte und was es heute
+wieder alles sehen könnte, vor allem das Schwänli und das Bärli.
+Heidi sprang eilig aus seinem Bett und hatte in wenig Minuten alles
+wieder angelegt, was es gestern getragen hatte, denn es war sehr
+wenig. Nun stieg es die Leiter hinunter und sprang vor die Hütte
+hinaus. Da stand schon der Geißenpeter mit seiner Schar, und der
+Großvater brachte eben Schwänli und Bärli aus dem Stall herbei,
+dass sie sich der Gesellschaft anschlossen. Heidi lief ihm
+entgegen, um ihm und den Geißen guten Tag zu sagen.
+</p>
+
+<p>
+"Willst mit auf die Weide?", fragte der Großvater. Das war dem
+Heidi eben recht, es hüpfte hoch auf vor Freude.
+</p>
+
+<p>
+"Aber erst waschen und sauber sein, sonst lacht einen die Sonne aus,
+wenn sie so schön glänzt da droben und sieht, dass du schwarz bist;
+sieh, dort ist's für dich gerichtet." Der Großvater zeigte auf
+einen großen Zuber voll Wasser, der vor der Tür in der Sonne stand.
+Heidi sprang hin und patschte und rieb, bis es ganz glänzend war.
+Unterdessen ging der Großvater in die Hütte hinein und rief dem
+Peter zu: "Komm hierher, Geißengeneral, und bring deinen Habersack
+mit." Verwundert folgte Peter dem Ruf und streckte sein Säcklein
+hin, in dem er sein mageres Mittagessen bei sich trug.
+</p>
+
+<p>
+"Mach auf", befahl der Alte und steckte nun ein großes Stück Brot
+und ein ebenso großes Stück Käse hinein. Der Peter machte vor
+Erstaunen seine runden Augen so weit auf als nur möglich, denn die
+beiden Stücke waren wohl doppelt so groß wie die zwei, die er als
+eignes Mittagsmahl drinnen hatte.
+</p>
+
+<p>
+"So, nun kommt noch das Schüsselchen hinein", fuhr der Öhi fort,
+"denn das Kind kann nicht trinken wie du, nur so von der Geiß weg,
+es kennt das nicht. Du melkst ihm zwei Schüsselchen voll zu Mittag,
+denn das Kind geht mit dir und bleibt bei dir, bis du wieder
+herunterkommst; gib Acht, dass es nicht über die Felsen
+hinunterfällt, hörst du?"--
+</p>
+
+<p>
+Nun kam Heidi hereingelaufen. "Kann mich die Sonne jetzt nicht
+auslachen, Großvater?", fragte es angelegentlich. Es hatte sich
+mit dem groben Tuch, das der Großvater neben dem Wasserzuber
+aufgehängt hatte, Gesicht, Hals und Arme in seinem Schrecken vor
+der Sonne so erstaunlich gerieben, dass es krebsrot vor dem
+Großvater stand. Er lachte ein wenig.
+</p>
+
+<p>
+"Nein, nun hat sie nichts zu lachen", bestätigte er. "Aber weißt
+was? Am Abend, wenn du heimkommst, da gehst du noch ganz hinein in
+den Zuber, wie ein Fisch; denn wenn man geht wie die Geißen, da
+bekommt man schwarze Füße. Jetzt könnt ihr ausziehen."
+</p>
+
+<p>
+Nun ging es lustig die Alm hinan. Der Wind hatte in der Nacht das
+letzte Wölkchen weggeblasen; dunkelblau schaute der Himmel von
+allen Seiten hernieder, und mittendrauf stand die leuchtende Sonne
+und schimmerte auf die grüne Alp, und alle die blauen und gelben
+Blümchen darauf machten ihre Kelche auf und schauten ihr fröhlich
+entgegen. Heidi sprang hierhin und dorthin und jauchzte vor Freude,
+denn da waren ganze Trüppchen feiner, roter Himmelsschlüsselchen
+beieinander, und dort schimmerte es ganz blau von den schönen
+Enzianen, und überall lachten und nickten die zartblätterigen,
+goldenen Cystusröschen in der Sonne. Vor Entzücken über all die
+flimmernden winkenden Blümchen vergaß Heidi sogar die Geißen und
+auch den Peter. Es sprang ganze Strecken voran und dann auf die
+Seite, denn dort funkelte es rot und da gelb und lockte Heidi auf
+alle Seiten. Und überall brach Heidi ganze Scharen von den Blumen
+und packte sie in sein Schürzchen ein, denn es wollte sie alle mit
+heimnehmen und ins Heu stecken in seiner Schlafkammer, dass es dort
+werde wie hier draußen. --So hatte der Peter heut nach allen
+Seiten zu gucken, und seine kugelrunden Augen, die nicht besonders
+schnell hin und her gingen, hatten mehr Arbeit, als der Peter gut
+bewältigen konnte, denn die Geißen machten es wie das Heidi: Sie
+liefen auch dahin und dorthin, und er musste überallhin pfeifen und
+rufen und seine Rute schwingen, um wieder alle die Verlaufenen
+zusammenzutreiben.
+</p>
+
+<p>
+"Wo bist du schon wieder, Heidi?", rief er jetzt mit ziemlich
+grimmiger Stimme.
+</p>
+
+<p>
+"Da", tönte es von irgendwoher zurück. Sehen konnte Peter niemand,
+denn Heidi saß am Boden hinter einem Hügelchen, das dicht mit
+duftenden Prünellen besät war; da war die ganze Luft umher so mit
+Wohlgeruch erfüllt, dass Heidi noch nie so Liebliches eingeatmet
+hatte. Es setzte sich in die Blumen hinein und zog den Duft in
+vollen Zügen ein.
+</p>
+
+<p>
+"Komm nach!", rief der Peter wieder. "Du musst nicht über die
+Felsen hinunterfallen, der Öhi hat's verboten."
+</p>
+
+<p>
+"Wo sind die Felsen?", fragte Heidi zurück, bewegte sich aber nicht
+von der Stelle, denn der süße Duft strömte mit jedem Windhauch dem
+Kinde lieblicher entgegen.
+</p>
+
+<p>
+"Dort oben, ganz oben, wir haben noch weit, drum komm jetzt! Und
+oben am höchsten sitzt der alte Raubvogel und krächzt."
+</p>
+
+<p>
+Das half. Augenblicklich sprang Heidi in die Höhe und rannte mit
+seiner Schürze voller Blumen dem Peter zu.
+</p>
+
+<p>
+"Jetzt hast genug", sagte dieser, als sie wieder zusammen
+weiterkletterten; "sonst bleibst du immer stecken, und wenn du alle
+nimmst, hat's morgen keine mehr." Der letzte Grund leuchtete Heidi
+ein, und dann hatte es die Schürze schon so angefüllt, dass da
+wenig Platz mehr gewesen wäre, und morgen mussten auch noch da sein.
+So zog es nun mit dem Peter weiter, und die Geißen gingen nun
+alle geregelter, denn sie rochen die guten Kräuter von dem hohen
+Weideplatz schon von fern und strebten nun ohne Aufenthalt dahin.
+Der Weideplatz, wo Peter gewöhnlich Halt machte mit seinen Geißen
+und sein Quartier für den Tag aufschlug, lag am Fuße der hohen
+Felsen, die, erst noch von Gebüsch und Tannen bedeckt, zuletzt ganz
+kahl und schroff zum Himmel hinaufragen. An der einen Seite der
+Alp ziehen sich Felsenklüfte weit hinunter und der Großvater hatte
+Recht, davor zu warnen. Als nun dieser Punkt der Höhe erreicht war,
+nahm Peter seinen Sack ab und legte ihn sorgfältig in eine kleine
+Vertiefung des Bodens hinein, denn der Wind kam manchmal in starken
+Stößen dahergefahren, und den kannte Peter und wollte seine
+kostbare Habe nicht den Berg hinunterrollen sehen; dann streckte er
+sich lang und breit auf den sonnigen Weideboden hin, denn er musste
+sich nun von der Anstrengung des Steigens erholen.
+</p>
+
+<p>
+Heidi hatte unterdessen sein Schürzchen losgemacht und schön fest
+zusammengerollt mit den Blumen darin zum Proviantsack in die
+Vertiefung hineingelegt, und nun setzte es sich neben den
+ausgestreckten Peter hin und schaute um sich. Das Tal lag weit
+unten im vollen Morgenglanz; vor sich sah Heidi ein großes, weites
+Schneefeld sich erheben, hoch in den dunkelblauen Himmel hinauf,
+und links davon stand eine ungeheure Felsenmasse, und zu jeder
+Seite derselben ragte ein hoher Felsenturm kahl und zackig in die
+Bläue hinauf und schaute von dort oben ganz ernsthaft auf das Heidi
+nieder. Das Kind saß mäuschenstill da und schaute ringsum, und
+weit umher war eine große, tiefe Stille; nur ganz sanft und leise
+ging der Wind über die zarten, blauen Glockenblümchen und die
+goldnen, strahlenden Cystusröschen, die überall herumstanden auf
+ihren dünnen Stängelchen und leise und fröhlich hin und her nickten.
+Der Peter war entschlafen nach seiner Anstrengung, und die Geißen
+kletterten oben an den Büschen umher. Dem Heidi war es so schön
+zumute, wie in seinem Leben noch nie. Es trank das goldene
+Sonnenlicht, die frischen Lüfte, den zarten Blumenduft in sich ein
+und begehrte gar nichts mehr, als so dazubleiben immerzu. So
+verging eine gute Zeit und Heidi hatte so oft und so lange zu den
+hohen Bergstöcken drüben aufgeschaut, dass es nun war, als hätten
+sie alle auch Gesichter bekommen und schauten ganz bekannt zu ihm
+hernieder, so wie gute Freunde.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt hörte Heidi über sich ein lautes, scharfes Geschrei und
+Krächzen ertönen, und wie es aufschaute, kreiste über ihm ein so
+großer Vogel, wie es nie in seinem Leben gesehen hatte, mit weit
+ausgebreiteten Schwingen in der Luft umher, und in großen Bogen
+kehrte er immer wieder zurück und krächzte laut und durchdringend
+über Heidis Kopf.
+</p>
+
+<p>
+"Peter! Peter! Erwache!", rief Heidi laut. "Sieh, der Raubvogel
+ist da, sieh! Sieh!"
+</p>
+
+<p>
+Peter erhob sich auf den Ruf und schaute mit Heidi dem Vogel nach,
+der sich nun höher und höher hinaufschwang ins Himmelsblau und
+endlich über grauen Felsen verschwand.
+</p>
+
+<p>
+"Wo ist er jetzt hin?", fragte Heidi, das mit gespannter
+Aufmerksamkeit den Vogel verfolgt hatte.
+</p>
+
+<p>
+"Heim ins Nest", war Peters Antwort.
+</p>
+
+<p>
+"Ist er dort oben daheim? Oh, wie schön so hoch oben! Warum
+schreit er so?", fragte Heidi weiter.
+</p>
+
+<p>
+"Weil er muss", erklärte Peter.
+</p>
+
+<p>
+"Wir wollen doch dort hinaufklettern und sehen, wo er daheim ist",
+schlug Heidi vor.
+</p>
+
+<p>
+"Oh! oh! oh!", brach der Peter aus, jeden Ausruf mit verstärkter
+Missbilligung hervorstoßend; "wenn keine Geiß mehr dorthin kann und
+der Öhi gesagt hat, du dürfest nicht über die Felsen hinunterfallen."
+</p>
+
+<p>
+Jetzt begann der Peter mit einem Mal ein so gewaltiges Pfeifen und
+Rufen anzustimmen, dass Heidi gar nicht wusste, was begegnen sollte;
+aber die Geißen mussten die Töne verstehen, denn eine nach der
+anderen kam heruntergesprungen, und nun war die ganze Schar auf der
+grünen Halde versammelt, die einen fortnagend an den würzigen
+Halmen, die anderen hin und her rennend und die Dritten ein wenig
+gegeneinander stoßend mit ihren Hörnern zum Zeitvertreib. Heidi
+war aufgesprungen und rannte mitten unter den Geißen umher, denn
+das war ihm ein neuer, unbeschreiblich vergnüglicher Anblick, wie
+die Tierlein durcheinander sprangen und sich lustig machten, und
+Heidi sprang von einem zum anderen und machte mit jedem ganz
+persönliche Bekanntschaft, denn jedes war eine ganz besondere
+Erscheinung für sich und hatte seine eigenen Manieren. Unterdessen
+hatte Peter den Sack herbeigeholt und alle vier Stücke, die drin
+waren, schön auf den Boden hingelegt in ein Viereck, die großen
+Stücke auf Heidis Seite und die kleinen auf die seinige hin, denn
+er wusste genau, wie er sie erhalten hatte. Dann nahm er das
+Schüsselchen und melkte schöne, frische Milch hinein vom Schwänli
+und stellte das Schüsselchen mitten ins Viereck. Dann rief er
+Heidi herbei, musste aber länger rufen als nach den Geißen, denn
+das Kind war so in Eifer und Freude über die mannigfaltigen Sprünge
+und Erlustigungen seiner neuen Spielkameraden, dass es nichts sah
+und nichts hörte außer diesen. Aber Peter wusste sich verständlich
+zu machen, er rief, dass es bis in die Felsen hinaufdröhnte, und
+nun erschien Heidi und die gedeckte Tafel sah so einladend aus,
+dass es um sie herumhüpfte vor Wohlgefallen.
+</p>
+
+<p>
+"Hör auf zu hopsen, es ist Zeit zum Essen", sagte Peter, "jetzt
+sitz und fang an."
+</p>
+
+<p>
+Heidi setzte sich hin. "Ist die Milch mein?", fragte es, nochmals
+das schöne Viereck und den Hauptpunkt in der Mitte mit Wohlgefallen
+betrachtend.
+</p>
+
+<p>
+"Ja", erwiderte Peter, "und die zwei großen Stücke zum Essen sind
+auch dein, und wenn du ausgetrunken hast, bekommst du noch ein
+Schüsselchen vom Schwänli und dann komm ich."
+</p>
+
+<p>
+"Und von wem bekommst du die Milch?", wollte Heidi wissen.
+</p>
+
+<p>
+"Von meiner Geiß, von der Schnecke. Fang einmal zu essen an",
+mahnte Peter wieder. Heidi fing bei seiner Milch an, und sowie es
+sein leeres Schüsselchen hinstellte, stand Peter auf und holte ein
+zweites herbei. Dazu brach Heidi ein Stück von seinem Brot ab, und
+das ganze übrige Stück, das immer noch größer war, als Peters
+eigenes Stück gewesen, das nun schon samt Zubehör fast zu Ende war,
+reichte es diesem hinüber mit dem ganzen großen Brocken Käse und
+sagte: "Das kannst du haben, ich habe nun genug."
+</p>
+
+<p>
+Peter schaute das Heidi mit sprachloser Verwunderung an, denn noch
+nie in seinem Leben hätte er so sagen und etwas weggeben können.
+Er zögerte noch ein wenig, denn er konnte nicht recht glauben, dass
+es dem Heidi ernst sei; aber dieses hielt erst fest seine Stücke
+hin, und da Peter nicht zugriff, legte sie es ihm aufs Knie. Nun
+sah er, dass es ernst gemeint sei; er erfasste sein Geschenk,
+nickte in Dank und Zustimmung und hielt nun ein so reichliches
+Mittagsmahl wie noch nie in seinem Leben als Geißbub. Heidi
+schaute derweilen nach den Geißen aus. "Wie heißen sie alle,
+Peter?", fragte es.
+</p>
+
+<p>
+Das wusste dieser nun ganz genau und konnte es umso besser in
+seinem Kopf behalten, da er daneben wenig darin aufzubewahren hatte.
+Er fing also an und nannte ohne Anstoß eine nach der anderen,
+immer je mit dem Finger die betreffende bezeichnend. Heidi hörte
+mit gespannter Aufmerksamkeit der Unterweisung zu, und es währte
+gar nicht lange, so konnte es sie alle voneinander unterscheiden
+und jede bei ihrem Namen nennen, denn es hatte eine jede ihre
+Besonderheiten, die einem gleich im Sinne bleiben mussten; man
+musste nur allen genau zusehen, und das tat Heidi. Da war der
+große Türk mit den starken Hörnern, der wollte mit diesen immer
+gegen alle anderen stoßen, und die meisten liefen davon, wenn er
+kam, und wollten nichts von dem groben Kameraden wissen. Nur der
+kecke Distelfink, das schlanke, behände Geißchen, wich ihm nicht
+aus, sondern rannte von sich aus manchmal drei-, viermal
+hintereinander so rasch und tüchtig gegen ihn an, dass der große
+Türk öfters ganz erstaunt dastand und nicht mehr angriff, denn der
+Distelfink stand ganz kriegslustig vor ihm und hatte scharfe
+Hörnchen. Da war das kleine, weiße Schneehöppli, das immer so
+eindringlich und flehentlich meckerte, dass Heidi schon mehrmals zu
+ihm hingelaufen war und es tröstend beim Kopf genommen hatte. Auch
+jetzt sprang das Kind wieder hin, denn die junge, jammernde Stimme
+hatte eben wieder flehentlich gerufen. Heidi legte seinen Arm um
+den Hals des Geißleins und fragte ganz teilnehmend: "Was hast du,
+Schneehöppli? Warum rufst du so um Hilfe?" Das Geißlein schmiegte
+sich nahe und vertrauensvoll an Heidi an und war jetzt ganz still.
+Peter rief von seinem Sitz aus, mit einigen Unterbrechungen, denn
+er hatte immer noch zu beißen und zu schlucken: "Es tut so, weil
+die Alte nicht mehr mitkommt, sie haben sie verkauft nach Maienfeld
+vorgestern, nun kommt sie nicht mehr auf die Alm."
+</p>
+
+<p>
+"Wer ist die Alte?", fragte Heidi zurück.
+</p>
+
+<p>
+"Pah, seine Mutter", war die Antwort.
+</p>
+
+<p>
+"Wo ist die Großmutter?", rief Heidi wieder.
+</p>
+
+<p>
+"Hat keine."
+</p>
+
+<p>
+"Und der Großvater?"
+</p>
+
+<p>
+"Hat keinen."
+</p>
+
+<p>
+"Du armes Schneehöppli du", sagte Heidi und drückte das Tierlein
+zärtlich an sich. "Aber jammere jetzt nur nicht mehr so; siehst du,
+ich komme nun jeden Tag mit dir, dann bist du nicht mehr so
+verlassen, und wenn dir etwas fehlt, kannst du nur zu mir kommen."
+</p>
+
+<p>
+Das Schneehöppli rieb ganz vergnügt seinen Kopf an Heidis Schulter
+und meckerte nicht mehr kläglich. Unterdessen hatte Peter sein
+Mittagsmahl beendet und kam nun auch wieder zu seiner Herde und zu
+Heidi heran, das schon wieder allerlei Betrachtungen angestellt
+hatte.
+</p>
+
+<p>
+Weitaus die zwei schönsten und saubersten Geißen der ganzen Schar
+waren Schwänli und Bärli, die sich auch mit einer gewissen
+Vornehmheit betrugen, meistens ihre eigenen Wege gingen und
+besonders dem zudringlichen Türk abweisend und verächtlich
+begegneten.--
+</p>
+
+<p>
+Die Tierchen hatten nun wieder begonnen, nach den Büschen
+hinaufzuklettern, und jedes hatte seine eigene Weise dabei, die
+einen leichtfertig über alles weg hüpfend, die anderen bedächtlich
+die guten Kräutlein suchend unterwegs, der Türk hier und da seine
+Angriffe probierend. Schwänli und Bärli kletterten hübsch und
+leicht hinan und fanden oben sogleich die schönsten Büsche,
+stellten sich geschickt daran auf und nagten sie zierlich ab.
+Heidi stand mit den Händen auf dem Rücken und schaute dem allen mit
+der größten Aufmerksamkeit zu.
+</p>
+
+<p>
+"Peter", bemerkte es jetzt zu dem wieder auf dem Boden Liegenden,
+"die schönsten von allen sind das Schwänli und das Bärli."
+</p>
+
+<p>
+"Weiß schon", war die Antwort. "Der Alm-Öhi putzt und wäscht sie
+und gibt ihnen Salz und hat den schönsten Stall."
+</p>
+
+<p>
+Aber auf einmal sprang Peter auf und setzte in großen Sprüngen den
+Geißen nach, und das Heidi lief hintendrein; da musste etwas
+begegnet sein, es konnte da nicht zurückbleiben. Der Peter sprang
+durch den Geißenrudel durch der Seite der Alm zu, wo die Felsen
+schroff und kahl weit hinabstiegen und ein unbesonnenes Geißlein,
+wenn es dorthin ging, leicht hinunterstürzen und alle Beine brechen
+konnte. Er hatte gesehen, wie der vorwitzige Distelfink nach jener
+Seite hin gehüpft war, und kam noch gerade recht, denn eben sprang
+das Geißlein dem Rande des Abgrundes zu. Peter wollte es eben
+packen, da stürzte er auf den Boden und konnte nur noch im Sturze
+ein Bein des Tierleins erwischen und es daran festhalten. Der
+Distelfink meckerte voller Zorn und Überraschung, dass er so am
+Bein festgehalten und am Fortsetzen seines fröhlichen Streifzuges
+gehindert war, und strebte eigensinnig vorwärts. Der Peter schrie
+nach Heidi, dass es ihm beistehe, denn er konnte nicht aufstehen
+und riss dem Distelfink fast das Bein aus. Heidi war schon da und
+erkannte gleich die schlimme Lage der beiden. Es riss schnell
+einige wohlduftende Kräuter aus dem Boden und hielt sie dem
+Distelfink unter die Nase und sagte begütigend:
+</p>
+
+<p>
+"Komm, komm, Distelfink, du musst auch vernünftig sein! Sieh, da
+kannst du hinabfallen und ein Bein brechen, das tut dir furchtbar
+weh."
+</p>
+
+<p>
+Das Geißlein hatte sich schnell umgewandt und dem Heidi vergnüglich
+die Kräuter aus der Hand gefressen. Derweilen war der Peter auf
+seine Füße gekommen und hatte den Distelfink an der Schnur erfasst,
+an welcher sein Glöckchen um den Hals gebunden war, und Heidi
+erfasste diese von der anderen Seite, und so führten die beiden den
+Ausreißer zu der friedlich weidenden Herde zurück. Als ihn aber
+Peter hier in Sicherheit hatte, erhob er seine Rute und wollte ihn
+zur Strafe tüchtig durchprügeln, und der Distelfink wich scheu
+zurück, denn er merkte, was begegnen sollte. Aber Heidi schrie
+laut auf: "Nein, Peter, nein, du musst ihn nicht schlagen, sieh,
+wie er sich fürchtet!"
+</p>
+
+<p>
+"Er verdient's", schnurrte Peter und wollte zuschlagen. Aber Heidi
+fiel ihm in den Arm und rief ganz entrüstet: "Du darfst ihm nichts
+tun, es tut ihm weh, lass ihn los!"
+</p>
+
+<p>
+Peter schaute erstaunt auf das gebietende Heidi, dessen schwarze
+Augen ihn so anfunkelten, dass er unwillkürlich seine Rute
+niederhielt. "So kann er gehen, wenn du mir morgen wieder von
+deinem Käse gibst", sagte dann der Peter nachgebend, denn eine
+Entschädigung wollte er haben für den Schrecken.
+</p>
+
+<p>
+"Allen kannst du haben, das ganze Stück morgen und alle Tage, ich
+brauche ihn gar nicht", sagte Heidi zustimmend, "und Brot gebe ich
+dir auch ganz viel, wie heute; aber dann darfst du den Distelfink
+nie, gar nie schlagen und auch das Schneehöppli nie und gar keine
+Geiß."
+</p>
+
+<p>
+"Es ist mir gleich", bemerkte Peter, und das war bei ihm soviel als
+eine Zusage. Jetzt ließ er den Schuldigen los, und der fröhliche
+Distelfink sprang in hohen Sprüngen auf und davon in die Herde
+hinein.--
+</p>
+
+<p>
+So war unvermerkt der Tag vergangen, und schon war die Sonne im
+Begriff, weit drüben hinter den Bergen hinabzugehen. Heidi saß
+wieder am Boden und schaute ganz still auf die Blauglöckchen und
+die Cystusröschen, die im goldenen Abendschein leuchteten, und
+alles Gras wurde wie golden angehaucht und die Felsen droben fingen
+an zu schimmern und zu funkeln, und auf einmal sprang Heidi auf und
+schrie: "Peter! Peter! Es brennt! Es brennt! Alle Berge brennen
+und der große Schnee drüben brennt und der Himmel. O sieh! Sieh!
+Der hohe Felsenberg ist ganz glühend! Oh, der schöne, feurige
+Schnee! Peter, sieh auf, sieh, das Feuer ist auch beim Raubvogel!
+Sieh doch die Felsen! Sieh die Tannen! Alles, alles ist im Feuer!"
+</p>
+
+<p>
+"Es war immer so", sagte jetzt der Peter gemütlich und schälte an
+seiner Rute fort, "aber es ist kein Feuer."
+</p>
+
+<p>
+"Was ist es denn?", rief Heidi und sprang hierhin und dorthin, dass
+es überallhin sehe, denn es konnte gar nicht genug bekommen, so
+schön war's auf allen Seiten. "Was ist es, Peter, was ist es?",
+rief Heidi wieder.
+</p>
+
+<p>
+"Es kommt von selbst so", erklärte Peter.
+</p>
+
+<p>
+"O sieh, sieh", rief Heidi in großer Aufregung, "auf einmal werden
+sie rosenrot! Sieh den mit dem Schnee und den mit den hohen,
+spitzigen Felsen! Wie heißen sie, Peter?"
+</p>
+
+<p>
+"Berge heißen nicht", erwiderte dieser.
+</p>
+
+<p>
+"O wie schön, sieh den rosenroten Schnee! Oh, und an den Felsen
+oben sind viele, viele Rosen! Oh, nun werden sie grau! Oh! Oh!
+Nun ist alles ausgelöscht! Nun ist alles aus, Peter!" Und Heidi
+setzte sich auf den Boden und sah so verstört aus, als ginge
+wirklich alles zu Ende.
+</p>
+
+<p>
+"Es ist morgen wieder so", erklärte Peter. "Steh auf, nun müssen
+wir heim."
+</p>
+
+<p>
+Die Geißen wurden herbeigepfiffen und <span style="white-space: nowrap;">-gerufen</span> und die Heimfahrt
+angetreten.
+</p>
+
+<p>
+"Ist's alle Tage wieder so, alle Tage, wenn wir auf der Weide
+sind?", fragte Heidi, begierig nach einer bejahenden Versicherung
+horchend, als es nun neben dem Peter die Alm hinunterstieg.
+</p>
+
+<p>
+"Meistens", gab dieser zur Antwort.
+</p>
+
+<p>
+"Aber gewiss morgen wieder?", wollte es noch wissen.
+</p>
+
+<p>
+"Ja, ja, morgen schon!", versicherte Peter.
+</p>
+
+<p>
+Nun war Heidi wieder froh und es hatte so viele Eindrücke in sich
+aufgenommen und so viele Dinge gingen ihm im Sinn herum, dass es
+nun ganz stillschwieg, bis es bei der Almhütte ankam und den
+Großvater unter den Tannen sitzen sah, wo er auch eine Bank
+angebracht hatte und am Abend seine Geißen erwartete, die von
+dieser Seite herunterkämen. Heidi sprang gleich auf ihn zu und
+Schwänli und Bärli hinter ihm drein, denn die Geißen kannten ihren
+Herrn und ihren Stall. Der Peter rief dem Heidi nach: "Komm dann
+morgen wieder! Gute Nacht!" Denn es war ihm sehr daran gelegen,
+dass das Heidi wiederkomme.
+</p>
+
+<p>
+Da rannte das Heidi schnell wieder zurück und gab dem Peter die
+Hand und versicherte ihm, dass es wieder mitkomme, und dann sprang
+es mitten in die davonziehende Herde hinein und fasste noch einmal
+das Schneehöppli um den Hals und sagte vertraulich: "Schlaf wohl,
+Schneehöppli, und denk dran, dass ich morgen wiederkomme und dass
+du nie mehr so jämmerlich meckern musst."
+</p>
+
+<p>
+Das Schneehöppli schaute ganz freundlich und dankbar zu Heidi auf
+und sprang dann fröhlich der Herde nach.
+</p>
+
+<p>
+Heidi kam unter die Tannen zurück.
+</p>
+
+<p>
+"O Großvater, das war so schön!", rief es, noch bevor es bei ihm
+war. "Das Feuer und die Rosen am Felsen und die blauen und gelben
+Blumen, und sieh, was ich hier bringe!" Und damit schüttete Heidi
+seinen ganzen Blumenreichtum aus dem gefalteten Schürzchen vor den
+Großvater hin. Aber wie sahen die armen Blümchen aus! Heidi
+erkannte sie nicht mehr. Es war alles wie Heu, und kein einziges
+Kelchlein stand mehr offen.
+</p>
+
+<p>
+"O Großvater, was haben sie?", rief Heidi ganz erschrocken aus.
+"So waren sie nicht, warum sehen sie so aus?"
+</p>
+
+<p>
+"Die wollen draußen stehen in der Sonne und nicht ins Schürzchen
+hinein", sagte der Großvater.
+</p>
+
+<p>
+"Dann will ich gar keine mehr mitnehmen. Aber, Großvater, warum
+hat der Raubvogel so gekrächzt?", fragte Heidi nun angelegentlich.
+</p>
+
+<p>
+"Jetzt gehst du ins Wasser und ich in den Stall und hole Milch, und
+nachher kommen wir hinein zusammen in die Hütte und essen zu Nacht,
+dann sag ich dir's."
+</p>
+
+<p>
+So wurde getan, und wie nun später Heidi auf seinem hohen Stuhl saß
+vor seinem Milchschüsselchen und der Großvater neben ihm, da kam
+das Kind gleich wieder mit seiner Frage: "Warum krächzt der
+Raubvogel so und schreit immer so herunter, Großvater?"
+</p>
+
+<p>
+"Der höhnt die Leute aus dort unten, dass sie so viele
+zusammensitzen in den Dörfern und einander bös machen. Da höhnt er
+hinunter: 'Würdet ihr auseinander gehen und jedes seinen Weg
+und auf eine Höhe steigen wie ich, so wär's euch wohler!'"
+Der Großvater sagte diese Worte fast wild, so dass dem Heidi das
+Gekrächz des Raubvogels dadurch noch eindrücklicher wurde in der
+Erinnerung.
+</p>
+
+<p>
+"Warum haben die Berge keinen Namen, Großvater?", fragte Heidi
+wieder.
+</p>
+
+<p>
+"Die haben Namen", erwiderte dieser, "und wenn du mir einen so
+beschreiben kannst, dass ich ihn kenne, so sage ich dir, wie er
+heißt."
+</p>
+
+<p>
+Nun beschrieb Heidi den Felsenberg mit den zwei hohen Türmen genau
+so, wie es ihn gesehen hatte, und der Großvater sagte wohlgefällig:
+"Recht so, den kenn ich, der heißt Falknis. Hast du noch einen
+gesehen?"
+</p>
+
+<p>
+Nun beschrieb Heidi den Berg mit dem großen Schneefeld, auf dem der
+ganze Schnee im Feuer gestanden hatte und dann rosenrot geworden
+war und dann auf einmal ganz bleich und erloschen dastand.
+</p>
+
+<p>
+"Den erkenn ich auch", sagte der Großvater, "das ist die
+Schesaplana; so hat es dir gefallen auf der Weide?"
+</p>
+
+<p>
+Nun erzählte Heidi alles vom ganzen Tage, wie schön es gewesen, und
+besonders von dem Feuer am Abend, und nun sollte der Großvater auch
+sagen, woher es gekommen war, denn der Peter hätte nichts davon
+gewusst.
+</p>
+
+<p>
+"Siehst du", erklärte der Großvater, "das macht die Sonne, wenn sie
+den Bergen gute Nacht sagt, dann wirft sie ihnen noch ihre
+schönsten Strahlen zu, dass sie sie nicht vergessen, bis sie am
+Morgen wiederkommt."
+</p>
+
+<p>
+Das gefiel dem Heidi und es konnte fast nicht erwarten, dass wieder
+ein Tag komme, da es hinaufkonnte auf die Weide und wieder sehen,
+wie die Sonne den Bergen gute Nacht sagte. Aber erst musste es nun
+schlafen gehen, und es schlief auch die ganze Nacht herrlich auf
+seinem Heulager, und träumte von lauter schimmernden Bergen und
+roten Rosen darauf und mittendrin das Schneehöppli in fröhlichen
+Sprüngen.
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap04"></a>
+Bei der Großmutter
+</h3>
+
+<p>
+Am andern Morgen kam wieder die helle Sonne, und dann kam der Peter
+und die Geißen, und wieder zogen sie alle miteinander nach der
+Weide hinauf, und so ging es Tag für Tag, und Heidi wurde bei
+diesem Weideleben ganz gebräunt und so kräftig und gesund, dass ihm
+gar nie etwas fehlte, und so froh und glücklich lebte Heidi von
+einem Tag zum anderen, wie nur die lustigen Vögelein leben auf
+allen Bäumen im grünen Wald. Wie es nun Herbst wurde und der Wind
+lauter zu sausen anfing über die Berge hin, dann sagte etwa der
+Großvater: "Heut bleibst du da, Heidi; ein Kleines, wie du bist,
+kann der Wind mit einem Ruck über alle Felsen ins Tal hinabwehen."
+</p>
+
+<p>
+Wenn aber das am Morgen der Peter vernahm, sah er sehr unglücklich
+aus, denn er sah lauter Missgeschick vor sich: Einmal wusste er vor
+Langeweile nun gar nicht mehr, was anfangen, wenn Heidi nicht bei
+ihm war; dann kam er um sein reichliches Mittagsmahl, und dann
+waren die Geißen so störrig an diesen Tagen, dass er die doppelte
+Mühe mit ihnen hatte; denn die waren nun auch so an Heidis
+Gesellschaft gewöhnt, dass sie nicht vorwärts wollten, wenn es
+nicht dabei war, und auf alle Seiten rannten. Heidi wurde niemals
+unglücklich, denn es sah immer irgendetwas Erfreuliches vor sich.
+Am liebsten ging es schon mit Hirt und Geißen auf die Weide zu den
+Blumen und zum Raubvogel hinauf, wo so mannigfaltige Dinge zu
+erleben waren mit all den verschieden gearteten Geißen; aber auch
+das Hämmern und Sägen und Zimmern des Großvaters war sehr
+unterhaltend für Heidi; und traf es sich, dass er gerade die
+schönen runden Geißkäschen zubereitete, wenn es daheim bleiben
+musste, so war das ein ganz besonderes Vergnügen, dieser
+merkwürdigen Tätigkeit zuzuschauen, wobei der Großvater beide Arme
+bloß machte und damit in dem großen Kessel herumrührte. Aber vor
+allem anziehend war für das Heidi an solchen Windtagen das Wogen
+und Rauschen in den drei alten Tannen hinter der Hütte. Da musste
+es immer von Zeit zu Zeit hinlaufen von allem anderen weg, was es
+auch sein mochte, denn so schön und wunderbar war gar nichts wie
+dieses tiefe, geheimnisvolle Tosen in den Wipfeln da droben; da
+stand Heidi unten und lauschte hinauf und konnte niemals genug
+bekommen, zu sehen und zu hören, wie das wehte und wogte und
+rauschte in den Bäumen mit großer Macht. Jetzt gab die Sonne nicht
+mehr heiß wie im Sommer, und Heidi suchte seine Strümpfe und Schuhe
+hervor und auch den Rock, denn nun wurde es immer frischer, und
+wenn das Heidi unter den Tannen stand, wurde es durchblasen wie ein
+dünnes Blättlein, aber es lief doch immer wieder hin und konnte
+nicht in der Hütte bleiben, wenn es das Windeswehen vernahm.
+</p>
+
+<p>
+Dann wurde es kalt, und der Peter hauchte in die Hände, wenn er
+früh am Morgen heraufkam, aber nicht lange; denn auf einmal fiel
+über Nacht ein tiefer Schnee, und am Morgen war die ganze Alm
+schneeweiß und kein einziges grünes Blättlein mehr zu sehen ringsum
+und um. Da kam der Geißenpeter nicht mehr mit seiner Herde, und
+Heidi schaute ganz verwundert durch das kleine Fenster, denn nun
+fing es wieder zu schneien an, und die dicken Flocken fielen fort
+und fort, bis der Schnee so hoch wurde, dass er bis ans Fenster
+hinaufreichte, und dann noch höher, dass man das Fenster gar nicht
+mehr aufmachen konnte und man ganz verpackt war in dem Häuschen.
+Das kam dem Heidi so lustig vor, dass es immer von einem Fenster
+zum anderen rannte, um zu sehen, wie es denn noch werden wollte und
+ob der Schnee noch die ganze Hütte zudecken wollte, dass man müsste
+ein Licht anzünden am hellen Tag. Es kam aber nicht so weit, und
+am anderen Tag ging der Großvater hinaus--denn nun schneite es
+nicht mehr--und schaufelte ums ganze Haus herum und warf große,
+große Schneehaufen aufeinander, dass es war wie hier ein Berg und
+dort ein Berg und dort ein Berg um die Hütte herum; aber nun waren
+die Fenster wieder frei und auch die Tür, und das war gut, denn als
+am Nachmittag Heidi und der Großvater am Feuer saßen, jedes auf
+seinem Dreifuß--denn der Großvater hatte längst auch einen für das
+Kind gezimmert--, da polterte auf einmal etwas heran und schlug
+immerzu gegen die Holzschwelle und machte endlich die Tür auf. Es
+war der Geißenpeter; er hatte aber nicht aus Unart so gegen die Tür
+gepoltert, sondern um seinen Schnee von den Schuhen abzuschlagen,
+die hoch hinauf davon bedeckt waren; eigentlich der ganze Peter war
+von Schnee bedeckt, denn er hatte sich durch die hohen Schichten so
+durchkämpfen müssen, dass ganze Massen an ihm hängen geblieben und
+auf ihm festgefroren waren, denn es war sehr kalt. Aber er hatte
+nicht nachgegeben, denn er wollte zu Heidi hinauf, er hatte es
+jetzt acht Tage lang nicht gesehen.
+</p>
+
+<p>
+"Guten Abend", sagte er im Eintreten, stellte sich gleich so nah
+als möglich ans Feuer heran und sagte weiter nichts mehr; aber sein
+ganzes Gesicht lachte vor Vergnügen, dass er da war. Heidi schaute
+ihn sehr verwundert an, denn nun er so nah am Feuer war, fing es
+überall an ihm zu tauen an, so dass der ganze Peter anzusehen war
+wie ein gelinder Wasserfall.
+</p>
+
+<p>
+"Nun, General, wie steht's?", sagte jetzt der Großvater. "Nun bist
+du ohne Armee und musst am Griffel nagen."
+</p>
+
+<p>
+"Warum muss er am Griffel nagen, Großvater?", fragte Heidi sogleich
+mit Wissbegierde.
+</p>
+
+<p>
+"Im Winter muss er in die Schule gehen", erklärte der Großvater;
+"da lernt man lesen und schreiben, und das geht manchmal schwer, da
+hilft's ein wenig nach, wenn man am Griffel nagt; ist's nicht wahr,
+General?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja, 's ist wahr", bestätigte Peter.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt war Heidis Teilnahme an der Sache wach geworden und es hatte
+sehr viele Fragen über die Schule und alles, was da begegnete und
+zu hören und zu sehen war, an den Peter zu richten, und da immer
+viel Zeit verfloss über einer Unterhaltung, an der Peter teilnehmen
+musste, so konnte er derweilen schön trocknen von oben bis unten.
+Es war immer eine große Anstrengung für ihn, seine Vorstellungen in
+die Worte zu bringen, die bedeuteten, was er meinte; aber diesmal
+hatte er's besonders streng, denn kaum hatte er eine Antwort
+zustande gebracht, so hatte ihm Heidi schon wieder zwei oder drei
+unerwartete Fragen zugeworfen und meistens solche, die einen ganzen
+Satz als Antwort erforderten.
+</p>
+
+<p>
+Der Großvater hatte sich ganz still verhalten während dieser
+Unterhaltung, aber es hatte ihm öfter ganz lustig um die Mundwinkel
+gezuckt, was ein Zeichen war, dass er zuhörte.
+</p>
+
+<p>
+"So, General, nun warst du im Feuer und brauchst Stärkung, komm,
+halt mit!" Damit stand der Großvater auf und holte das Abendessen
+aus dem Schrank hervor, und Heidi rückte die Stühle zum Tisch.
+Unterdessen war auch eine Bank an die Wand gezimmert worden vom
+Großvater; nun er nicht mehr allein war, hatte er da und dort
+allerlei Sitze zu zweien eingerichtet, denn Heidi hatte die Art,
+dass es sich überall nah zum Großvater hielt, wo er ging und stand
+und saß. So hatten sie alle drei gut Platz zum Sitzen und der
+Peter tat seine runden Augen ganz weit auf, als er sah, welch ein
+mächtiges Stück von dem schönen getrockneten Fleisch der Alm-Öhi
+ihm auf seine dicke Brotschnitte legte. So gut hatte es der Peter
+lange nicht gehabt. Als nun das vergnügte Mahl zu Ende war, fing
+es an zu dunkeln, und Peter schickte sich zur Heimkehr an. Als er
+nun "Gute Nacht" und "Dank Euch Gott" gesagt hatte und schon unter
+der Tür war, kehrte er sich noch einmal um und sagte: "Am Sonntag
+komm ich wieder, heut über acht Tag, und du solltest auch einmal
+zur Großmutter kommen, hat sie gesagt."
+</p>
+
+<p>
+Das war ein ganz neuer Gedanke für Heidi, dass es zu jemandem gehen
+sollte, aber er fasste auf der Stelle Boden bei ihm, und gleich am
+folgenden Morgen war sein Erstes, dass es erklärte: "Großvater,
+jetzt muss ich gewiss zu der Großmutter hinunter, sie erwartet mich."
+</p>
+
+<p>
+"Es hat zu viel Schnee", erwiderte der Großvater abwehrend.
+</p>
+
+<p>
+Aber das Vorhaben saß fest in Heidis Sinn, denn die Großmutter
+hatte es ja sagen lassen; so musste es sein. So verging kein Tag
+mehr, an dem das Kind nicht fünf- und sechsmal sagte: "Großvater,
+jetzt muss ich gewiss gehen, die Großmutter wartet ja immer auf
+mich."
+</p>
+
+<p>
+Am vierten Tag, als es draußen knisterte und knarrte vor Kälte bei
+jedem Schritt und die ganze große Schneedecke ringsum hart gefroren
+war, aber eine schöne Sonne ins Fenster guckte, gerade auf Heidis
+hohen Stuhl hin, wo es am Mittagsmahl saß, da begann es wieder sein
+Sprüchlein: "Heut muss ich aber gewiss zur Großmutter gehen, es
+währt ihr sonst zu lange." Da stand der Großvater auf vom
+Mittagstisch, stieg auf den Heuboden hinauf, brachte den dicken
+Sack herunter, der Heidis Bettdecke war, und sagte: "So komm!" In
+großer Freude hüpfte das Kind ihm nach in die glitzernde Schneewelt
+hinaus. In den alten Tannen war es nun ganz still und auf allen
+Ästen lag der weiße Schnee und in dem Sonnenschein schimmerte und
+funkelte es überall von den Bäumen in solcher Pracht, dass Heidi
+hoch aufsprang vor Entzücken und ein Mal übers andere ausrief:
+"Komm heraus, Großvater, komm heraus! Es ist lauter Silber und
+Gold an den Tannen!" Denn der Großvater war in den Schopf
+hineingegangen und kam nun heraus mit einem breiten Stoßschlitten:
+Da war vorn eine Stange angebracht, und von dem flachen Sitz konnte
+man die Füße nach vorn hinunterhalten und gegen den Schneeboden
+stemmen und der Fahrt die Weisung geben. Hier setzte sich der
+Großvater hin, nachdem er erst die Tannen ringsum mit Heidi hatte
+beschauen müssen, nahm das Kind auf seinen Schoß, wickelte es um
+und um in den Sack ein, damit es hübsch warm bleibe, und drückte es
+fest mit dem linken Arm an sich, denn das war nötig bei der
+kommenden Fahrt. Dann umfasste er mit der rechten Hand die Stange
+und gab einen Ruck mit beiden Füßen. Da schoss der Schlitten davon
+die Alm hinab mit einer solchen Schnelligkeit, dass das Heidi
+meinte, es fliege in der Luft wie ein Vogel, und laut aufjauchzte.
+Auf einmal stand der Schlitten still, gerade bei der Hütte vom
+Geißenpeter. Der Großvater stellte das Kind auf den Boden,
+wickelte es aus seiner Decke heraus und sagte:
+</p>
+
+<p>
+"So, nun geh hinein, und wenn es anfängt dunkel zu werden, dann
+komm wieder heraus und mach dich auf den Weg." Dann kehrte er um
+mit seinem Schlitten und zog ihn den Berg hinauf.
+</p>
+
+<p>
+Heidi machte die Tür auf und kam in einen kleinen Raum hinein, da
+sah es schwarz aus, und ein Herd war da und einige Schüsselchen auf
+einem Gestell, das war die kleine Küche; dann kam gleich wieder
+eine Tür, die machte Heidi wieder auf und kam in eine enge Stube
+hinein, denn das Ganze war nicht eine Sennhütte, wie beim Großvater,
+wo ein einziger, großer Raum war und oben ein Heuboden, sondern es
+war ein kleines, uraltes Häuschen, wo alles eng war und schmal und
+dürftig. Als Heidi in das Stübchen trat, stand es gleich vor dem
+Tisch, daran saß eine Frau und flickte an Peters Wams, denn dieses
+erkannte Heidi sogleich. In der Ecke saß ein altes, gekrümmtes
+Mütterchen und spann. Heidi wusste gleich, woran es war; es ging
+geradaus auf das Spinnrad zu und sagte: "Guten Tag, Großmutter,
+jetzt komme ich zu dir; hast du gedacht, es währe lang, bis ich
+komme?"
+</p>
+
+<p>
+Die Großmutter erhob den Kopf und suchte die Hand, die gegen sie
+ausgestreckt war, und als sie diese erfasst hatte, befühlte sie
+dieselbe erst eine Weile nachdenklich in der ihrigen, dann sagte
+sie: "Bist du das Kind droben beim Alm-Öhi, bist du das Heidi?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja, ja", bestätigte das Kind, "jetzt gerade bin ich mit dem
+Großvater im Schlitten heruntergefahren."
+</p>
+
+<p>
+"Wie ist das möglich! Du hast ja eine so warme Hand! Sag,
+Brigitte, ist der Alm-Öhi selber mit dem Kind heruntergekommen?"
+</p>
+
+<p>
+Peters Mutter, die Brigitte, die am Tisch geflickt hatte, war
+aufgestanden und betrachtete nun mit Neugierde das Kind von oben
+bis unten; dann sagte sie: "Ich weiß nicht, Mutter, ob der Öhi
+selber heruntergekommen ist mit ihm; es ist nicht glaublich, das
+Kind wird's nicht recht wissen."
+</p>
+
+<p>
+Aber das Heidi sah die Frau sehr bestimmt an und gar nicht, als sei
+es im Ungewissen, und sagte: "Ich weiß ganz gut, wer mich in die
+Bettdecke gewickelt hat und mit mir heruntergeschlittelt ist; das
+ist der Großvater."
+</p>
+
+<p>
+"Es muss doch etwas daran sein, was der Peter so gesagt hat den
+Sommer durch vom Alm-Öhi, wenn wir dachten, er wisse es nicht
+recht", sagte die Großmutter; "wer hätte freilich auch glauben
+können, dass so etwas möglich sei; ich dachte, das Kind lebte keine
+drei Wochen da oben. Wie sieht es auch aus, Brigitte!" Diese hatte
+das Kind unterdessen so von allen Seiten angesehen, dass sie nun
+wohl berichten konnte, wie es aussah.
+</p>
+
+<p>
+"Es ist so fein gegliedert, wie die Adelheid war", gab sie zur
+Antwort; "aber es hat die schwarzen Augen und das krause Haar, wie
+es der Tobias hatte und auch der Alte droben; ich glaube, es sieht
+den zweien gleich."
+</p>
+
+<p>
+Unterdessen war Heidi müßig geblieben; es hatte ringsum geguckt und
+alles genau betrachtet, was da zu sehen war. Jetzt sagte es: "Sieh,
+Großmutter, dort schlägt es einen Laden immer hin und her, und der
+Großvater würde auf der Stelle einen Nagel einschlagen, dass er
+wieder fest hält, sonst schlägt er auch einmal eine Scheibe ein;
+sieh, sieh, wie er tut!"
+</p>
+
+<p>
+"Ach, du gutes Kind", sagte die Großmutter, "sehen kann ich es
+nicht, aber hören kann ich es wohl und noch viel mehr, nicht nur
+den Laden; da kracht und klappert es überall, wenn der Wind kommt,
+und er kann überall hereinblasen; es hält nichts mehr zusammen, und
+in der Nacht, wenn sie beide schlafen, ist es mir manchmal so angst
+und bang, es falle alles über uns zusammen und schlage uns alle
+drei tot; ach, und da ist kein Mensch, der etwas ausbessern könnte
+an der Hütte, der Peter versteht's nicht."
+</p>
+
+<p>
+"Aber warum kannst du denn nicht sehen, wie der Laden tut,
+Großmutter? Sieh jetzt wieder, dort, gerade dort." Und Heidi
+zeigte die Stelle deutlich mit dem Finger.
+</p>
+
+<p>
+"Ach Kind, ich kann ja gar nichts sehen, gar nichts, nicht nur den
+Laden nicht", klagte die Großmutter.
+</p>
+
+<p>
+"Aber wenn ich hinausgehe und den Laden ganz aufmache, dass es
+recht hell wird, kannst du dann sehen, Großmutter?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, nein, auch dann nicht, es kann mir niemand mehr hell machen."
+</p>
+
+<p>
+"Aber wenn du hinausgehst in den ganz weißen Schnee, dann wird es
+dir gewiss hell; komm nur mit mir, Großmutter, ich will dir's
+zeigen." Heidi nahm die Großmutter bei der Hand und wollte sie
+fortziehen, denn es fing an, ihm ganz ängstlich zumute zu werden,
+dass es ihr nirgends hell wurde.
+</p>
+
+<p>
+"Lass mich nur sitzen, du gutes Kind; es bleibt doch dunkel bei mir,
+auch im Schnee und in der Helle, sie dringt nicht mehr in meine
+Augen."
+</p>
+
+<p>
+"Aber dann doch im Sommer, Großmutter", sagte Heidi, immer
+ängstlicher nach einem guten Ausweg suchend; "weißt, wenn dann
+wieder die Sonne ganz heiß herunterbrennt und dann 'gute
+Nacht' sagt und die Berge alle feuerrot schimmern und alle
+gelben Blümlein glitzern, dann wird es dir wieder schön hell?"
+</p>
+
+<p>
+"Ach, Kind, ich kann sie nie mehr sehen, die feurigen Berge und die
+goldenen Blümlein droben, es wird mir nie mehr hell auf Erden, nie
+mehr."
+</p>
+
+<p>
+Jetzt brach Heidi in lautes Weinen aus. Voller Jammer schluchzte
+es fortwährend: "Wer kann dir denn wieder hell machen? Kann es
+niemand? Kann es gar niemand?"
+</p>
+
+<p>
+Die Großmutter suchte nun das Kind zu trösten, aber es gelang ihr
+nicht so bald. Heidi weinte fast nie; wenn es aber einmal anfing,
+dann konnte es auch fast nicht mehr aus der Betrübnis herauskommen.
+Die Großmutter hatte schon allerhand probiert, um das Kind zu
+beschwichtigen, denn es ging ihr zu Herzen, dass es so jämmerlich
+schluchzen musste. Jetzt sagte sie: "Komm, du gutes Heidi, komm
+hier heran, ich will dir etwas sagen. Siehst du, wenn man nichts
+sehen kann, dann hört man so gern ein freundliches Wort, und ich
+höre es gern, wenn du redest; komm, setz dich da nahe zu mir und
+erzähl mir etwas, was du machst da droben und was der Großvater
+macht, ich habe ihn früher gut gekannt; aber jetzt hab ich seit
+manchem Jahr nichts mehr gehört von ihm als durch den Peter, aber
+der sagt nicht viel."
+</p>
+
+<p>
+Jetzt kam dem Heidi ein neuer Gedanke; es wischte rasch seine
+Tränen weg und sagte tröstlich: "Wart nur, Großmutter, ich will
+alles dem Großvater sagen, er macht dir schon wieder hell und macht,
+dass die Hütte nicht zusammenfällt, er kann alles wieder in
+Ordnung machen."
+</p>
+
+<p>
+Die Großmutter schwieg stille, und nun fing Heidi an, ihr mit
+großer Lebendigkeit zu erzählen von seinem Leben mit dem Großvater
+und von den Tagen auf der Weide und von dem jetzigen Winterleben
+mit dem Großvater, was er alles aus Holz machen könne, Bänke und
+Stühle und schöne Krippen, wo man für das Schwänli und Bärli das
+Heu hineinlegen könnte, und einen neuen großen Wassertrog zum Baden
+im Sommer, und ein neues Milchschüsselchen und Löffel, und Heidi
+wurde immer eifriger im Beschreiben all der schönen Sachen, die so
+auf einmal aus einem Stück Holz herauskommen, und wie es dann neben
+dem Großvater stehe und ihm zuschaue und wie es das alles auch
+einmal machen wolle. Die Großmutter hörte mit großer
+Aufmerksamkeit zu, und von Zeit zu Zeit sagte sie dazwischen:
+"Hörst du's auch, Brigitte? Hörst du, was es vom Öhi sagt?"
+</p>
+
+<p>
+Mit einem Mal wurde die Erzählung unterbrochen durch ein großes
+Gepolter an der Tür, und herein stampfte der Peter, blieb aber
+sogleich stille stehen und sperrte seine runden Augen ganz
+erstaunlich weit auf, als er das Heidi erblickte, und schnitt die
+allerfreundlichste Grimasse, als es ihm sogleich zurief: "Guten
+Abend, Peter!"
+</p>
+
+<p>
+"Ist denn das möglich, dass der schon aus der Schule kommt", rief
+die Großmutter ganz verwundert aus. "So geschwind ist mir seit
+manchem Jahr kein Nachmittag vergangen! Guten Abend, Peterli, wie
+geht es mit dem Lesen?"
+</p>
+
+<p>
+"Gleich", gab der Peter zur Antwort.
+</p>
+
+<p>
+"So, so", sagte die Großmutter ein wenig seufzend, "ich habe
+gedacht, es gäbe vielleicht eine Änderung auf die Zeit, wenn du
+dann zwölf Jahre alt wirst gegen den Hornung hin."
+</p>
+
+<p>
+"Warum muss es eine Änderung geben, Großmutter?", fragte Heidi
+gleich mit Interesse.
+</p>
+
+<p>
+"Ich meine nur, dass er es etwa noch hätte lernen können", sagte
+die Großmutter, "das Lesen mein ich. Ich habe dort oben auf dem
+Gestell ein altes Gebetbuch, da sind schöne Lieder drin, die habe
+ich so lange nicht mehr gehört, und im Gedächtnis habe ich sie auch
+nicht mehr; da habe ich gehofft, wenn der Peterli nun lesen lerne,
+so könne er mir etwa ein gutes Lied lesen; aber er kann es nicht
+lernen, es ist ihm zu schwer."
+</p>
+
+<p>
+"Ich denke, ich muss Licht machen, es wird ja schon ganz dunkel",
+sagte jetzt Peters Mutter, die immer emsig am Wams fortgeflickt
+hatte; "der Nachmittag ist mir auch vergangen, ohne dass ich's
+merkte."
+</p>
+
+<p>
+Nun sprang Heidi von seinem Stühlchen auf, streckte eilig seine
+Hand aus und sagte: "Gut Nacht, Großmutter, ich muss auf der Stelle
+heim, wenn es dunkel wird", und hintereinander bot es dem Peter und
+seiner Mutter die Hand und ging der Tür zu. Aber die Großmutter
+rief besorgt: "Wart, wart, Heidi; so allein musst du nicht fort,
+der Peter muss mit dir, hörst du? Und gib Acht auf das Kind,
+Peterli, dass es nicht umfällt, und steh nicht still mit ihm, dass
+es nicht friert, hörst du? Hat es auch ein dickes Halstuch an?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich habe gar kein Halstuch an", rief Heidi zurück, "aber ich will
+schon nicht frieren"; damit war es zur Tür hinaus und huschte so
+behend weiter, dass der Peter kaum nachkam. Aber die Großmutter
+rief jammernd: "Lauf ihm nach, Brigitte, lauf, das Kind muss ja
+erfrieren, so bei der Nacht, nimm mein Halstuch mit, lauf schnell!"
+Die Brigitte gehorchte. Die Kinder hatten aber kaum ein paar
+Schritte den Berg hinan getan, so sahen sie von oben herunter den
+Großvater kommen, und mit wenigen rüstigen Schritten stand er vor
+ihnen.
+</p>
+
+<p>
+"Recht so, Heidi, Wort gehalten!", sagte er, packte das Kind wieder
+fest in seine Decke ein, nahm es auf seinen Arm und stieg den Berg
+hinauf. Eben hatte die Brigitte noch gesehen, wie der Alte das
+Kind wohl verpackt auf seinen Arm genommen und den Rückweg
+angetreten hatte. Sie trat mit dem Peter wieder in die Hütte ein
+und erzählte der Großmutter mit Verwunderung, was sie gesehen hatte.
+Auch diese musste sich sehr verwundern und ein Mal über das
+andere sagen: "Gott Lob und Dank, dass er so ist mit dem Kind, Gott
+Lob und Dank! Wenn er es nur auch wieder zu mir lässt, das Kind
+hat mir so wohl gemacht! Was hat es für ein gutes Herz und wie
+kann es so kurzweilig erzählen!" Und immer wieder freute sich die
+Großmutter, und bis sie ins Bett ging, sagte sie immer wieder:
+"Wenn es nur auch wiederkommt! Jetzt habe ich doch noch etwas auf
+der Welt, auf das ich mich freuen kann!" Und die Brigitte stimmte
+jedes Mal ein, wenn die Großmutter wieder dasselbe sagte, und auch
+der Peter nickte jedes Mal zustimmend mit dem Kopf und zog seinen
+Mund weit auseinander vor Vergnüglichkeit und sagte: "Hab's schon
+gewusst."
+</p>
+
+<p>
+Unterdessen redete das Heidi in seinem Sack drinnen immerzu an den
+Großvater heran; da die Stimme aber nicht durch den achtfachen
+Umschlag dringen konnte und er daher kein Wort verstand, sagte er:
+"Wart ein wenig, bis wir daheim sind, dann sag's."
+</p>
+
+<p>
+Sobald er nun, oben angekommen, in seine Hütte eingetreten war und
+Heidi aus seiner Hülle herausgeschält hatte, sagte es: "Großvater,
+morgen müssen wir den Hammer und die großen Nägel mitnehmen und den
+Laden festschlagen bei der Großmutter und sonst noch viele Nägel
+einschlagen, denn es kracht und klappert alles bei ihr."
+</p>
+
+<p>
+"Müssen wir? So, das müssen wir? Wer hat dir das gesagt?", fragte
+der Großvater.
+</p>
+
+<p>
+"Das hat mir kein Mensch gesagt, ich weiß es sonst", entgegnete
+Heidi, "denn es hält alles nicht mehr fest und es ist der
+Großmutter angst und bang, wenn sie nicht schlafen kann und es so
+tut, und sie denkt: 'Jetzt fällt alles ein und gerade auf
+unsere Köpfe'; und der Großmutter kann man gar nicht mehr
+hell machen, sie weiß gar nicht, wie man es könnte, aber du kannst
+es schon, Großvater; denk nur, wie traurig es ist, wenn sie immer
+im Dunkeln ist und es ihr dann noch angst und bang ist und es kann
+ihr kein Mensch helfen als du! Morgen wollen wir gehen und ihr
+helfen; gelt, Großvater, wir wollen?"
+</p>
+
+<p>
+Heidi hatte sich an den Großvater angeklammert und schaute mit
+zweifellosem Vertrauen zu ihm auf. Der Alte schaute eine kleine
+Welle auf das Kind nieder, dann sagte er: "Ja, Heidi, wir wollen
+machen, dass es nicht mehr so klappert bei der Großmutter, das
+können wir; morgen tun wir's."
+</p>
+
+<p>
+Nun hüpfte das Kind vor Freude im ganzen Hüttenraum herum und rief
+ein Mal ums andere: "Morgen tun wir's! Morgen tun wir's!"
+</p>
+
+<p>
+Der Großvater hielt Wort. Am folgenden Nachmittag wurde dieselbe
+Schlittenfahrt ausgeführt. Wie am vorhergehenden Tag stellte der
+Alte das Kind vor der Tür der Geißenpeter-Hütte nieder und sagte:
+"Nun geh hinein, und wenn's Nacht wird, komm wieder." Dann legte er
+den Sack auf den Schlitten und ging um das Häuschen herum.
+</p>
+
+<p>
+Kaum hatte Heidi die Tür aufgemacht und war in die Stube
+hineingesprungen, so rief schon die Großmutter aus der Ecke: "Da
+kommt das Kind! Das ist das Kind!", und ließ vor Freude den Faden
+los und das Rädchen stehen und streckte beide Hände nach dem Kinde
+aus. Heidi lief zu ihr, rückte gleich das niedere Stühlchen ganz
+nahe an sie heran, setzte sich darauf und hatte der Großmutter
+schon wieder eine große Menge von Dingen zu erzählen und von ihr zu
+erfragen. Aber auf einmal ertönten so gewaltige Schläge an das
+Haus, dass die Großmutter vor Schrecken so zusammenfuhr, dass sie
+fast das Spinnrad umwarf, und zitternd ausrief: "Ach du mein Gott,
+jetzt kommt's, es fällt alles zusammen!" Aber Heidi hielt sie fest
+um den Arm und sagte tröstend: "Nein, nein, Großmutter, erschrick
+du nur nicht, das ist der Großvater mit dem Hammer, jetzt macht er
+alles fest, dass es dir nicht mehr angst und bang wird."
+</p>
+
+<p>
+"Ach, ist auch das möglich! Ist auch so etwas möglich! So hat uns
+doch der liebe Gott nicht ganz vergessen!", rief die Großmutter aus.
+"Hast du's gehört, Brigitte, was es ist, hörst du's? Wahrhaftig,
+es ist ein Hammer! Geh hinaus, Brigitte, und wenn es der Alm-Öhi
+ist, so sag ihm, er soll doch dann auch einen Augenblick
+hereinkommen, dass ich ihm auch danken kann."
+</p>
+
+<p>
+Die Brigitte ging hinaus. Eben schlug der Alm-Öhi mit großer
+Gewalt neue Kloben in die Mauer; Brigitte trat an ihn heran und
+sagte: "Ich wünsche Euch guten Abend, Öhi, und die Mutter auch, und
+wir haben Euch zu danken, dass Ihr uns einen solchen Dienst tut,
+und die Mutter möchte Euch noch gern eigens danken drinnen; sicher,
+es hätte uns das nicht gerad einer getan, wir wollen Euch auch dran
+denken, denn sicher--"
+</p>
+
+<p>
+"Macht's kurz", unterbrach sie der Alte hier; "was Ihr vom Alm-Öhi
+haltet, weiß ich schon. Geht nur wieder hinein; wo's fehlt, find
+ich selber."
+</p>
+
+<p>
+Brigitte gehorchte sogleich, denn der Öhi hatte eine Art, der man
+sich nicht leicht widersetzte. Er klopfte und hämmerte um das
+ganze Häuschen herum, stieg dann das schmale Treppchen hinauf bis
+unter das Dach, hämmerte weiter und weiter, bis er auch den letzten
+Nagel eingeschlagen, den er mitgebracht hatte. Unterdessen war
+auch schon die Dunkelheit hereingebrochen, und kaum war er
+heruntergestiegen und hatte seinen Schlitten hinter dem Geißenstall
+hervorgezogen, als auch schon Heidi aus der Tür trat und vom
+Großvater wie gestern verpackt auf den Arm genommen und der
+Schlitten nachgezogen wurde, denn allein da drauf sitzend, wäre die
+ganze Umhüllung vom Heidi abgefallen, und es wäre fast oder ganz
+erfroren. Das wusste der Großvater wohl und hielt das Kind ganz
+warm in seinem Arm.
+</p>
+
+<p>
+So ging der Winter dahin. In das freudlose Leben der blinden
+Großmutter war nach langen Jahren eine Freude gefallen und ihre
+Tage waren nicht mehr lang und dunkel, einer wie der andere, denn
+nun hatte sie immer etwas in Aussicht, nach dem sie verlangen
+konnte. Vom frühen Morgen an lauschte sie auch schon auf den
+trippelnden Schritt, und ging dann die Tür auf und das Kind kam
+wirklich dahergesprungen, dann rief sie jedes Mal in lauter Freude:
+"Gottlob! Da kommt's wieder!" Und Heidi setzte sich zu ihr und
+plauderte und erzählte so lustig von allem, was es wusste, dass es
+der Großmutter ganz wohl machte und ihr die Stunden dahingingen,
+sie merkte es nicht, und kein einziges Mal fragte sie mehr so wie
+früher: "Brigitte, ist der Tag noch nicht um?", sondern jedes Mal,
+wenn Heidi die Tür hinter sich schloss, sagte sie: "Wie war doch
+der Nachmittag so kurz; ist es nicht wahr, Brigitte?" Und diese
+sagte: "Doch sicher, es ist mir, wir haben erst die Teller vom
+Essen weggestellt." Und die Großmutter sagte wieder: "Wenn mir nur
+der Herrgott das Kind erhält und dem Alm-Öhi den guten Willen!
+Sieht es auch gesund aus, Brigitte?" Und jedes Mal erwiderte diese:
+"Es sieht aus wie ein Erdbeerapfel."
+</p>
+
+<p>
+Heidi hatte auch eine große Anhänglichkeit an die alte Großmutter,
+und wenn es ihm wieder in den Sinn kam, dass ihr gar niemand, auch
+der Großvater nicht mehr hell machen konnte, überkam es immer
+wieder eine große Betrübnis; aber die Großmutter sagte ihm immer
+wieder, dass sie am wenigsten davon leide, wenn es bei ihr sei, und
+Heidi kam auch an jedem schönen Wintertag heruntergefahren auf
+seinem Schlitten. Der Großvater hatte, ohne weitere Worte, so
+fortgefahren, hatte jedes Mal den Hammer und allerlei andere Sachen
+mit aufgeladen und manchen Nachmittag durch an dem Geißenpeter-Häuschen
+herumgeklopft. Das hatte aber auch seine gute Wirkung; es
+krachte und klapperte nicht mehr die ganzen Nächte durch, und die
+Großmutter sagte, so habe sie manchen Winter lang nicht mehr
+schlafen können, das wolle sie auch dem Öhi nie vergessen.
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap05"></a>
+Es kommt ein Besuch und dann noch einer,<br/>
+der mehr Folgen hat
+</h3>
+
+<p>
+Schnell war der Winter und noch schneller der fröhliche Sommer
+darauf vergangen, und ein neuer Winter neigte sich schon wieder dem
+Ende zu. Heidi war glücklich und froh wie die Vöglein des Himmels
+und freute sich jeden Tag mehr auf die herannahenden Frühlingstage,
+da der warme Föhn durch die Tannen brausen und den Schnee wegfegen
+würde und dann die helle Sonne die blauen und gelben Blümlein
+hervorlocken und die Tage der Weide kommen würden, die für Heidi
+das Schönste mit sich brachten, was es auf Erden geben konnte.
+Heidi stand nun in seinem achten Jahre; es hatte vom Großvater
+allerlei Kunstgriffe erlernt: Mit den Geißen wusste es so gut
+umzugehen als nur einer, und Schwänli und Bärli liefen ihm nach wie
+treue Hündlein und meckerten gleich laut vor Freude, wenn sie nur
+seine Stimme hörten. In diesem Winter hatte Peter schon zweimal
+vom Schullehrer im Dörfli den Bericht gebracht, der Alm-Öhi solle
+das Kind, das bei ihm sei, nun in die Schule schicken, es habe
+schon mehr als das Alter und hätte schon im letzten Winter kommen
+sollen. Der Öhi hatte beide Male dem Schullehrer sagen lassen,
+wenn er etwas mit ihm wolle, so sei er daheim, das Kind schicke er
+nicht in die Schule. Diesen Bericht hatte der Peter richtig
+überbracht.
+</p>
+
+<p>
+Als die Märzsonne den Schnee an den Abhängen geschmolzen hatte und
+überall die weißen Schneeglöckchen hervorguckten im Tal und auf der
+Alm die Tannen ihre Schneelast abgeschüttelt hatten und die Äste
+wieder lustig wehten, da rannte Heidi vor Wonne immer hin und her
+von der Haustür zum Geißenstall und von da unter die Tannen und
+dann wieder hinein zum Großvater, um ihm zu berichten, wie viel
+größer das Stück grüner Boden unter den Bäumen wieder geworden sei,
+und gleich nachher kam es wieder nachzusehen, denn es konnte nicht
+erwarten, dass alles wieder grün wurde und der ganze schöne Sommer
+mit Grün und Blumen wieder auf die Alm gezogen kam.
+</p>
+
+<p>
+Als Heidi so am sonnigen Märzmorgen hin und her rannte und jetzt
+wohl zum zehnten Mal über die Türschwelle sprang, wäre es vor
+Schrecken fast rückwärts wieder hineingefallen, denn auf einmal
+stand es vor einem schwarzen alten Herrn, der es ganz ernsthaft
+anblickte. Als er aber seinen Schrecken sah, sagte er freundlich:
+"Du musst nicht erschrecken vor mir, die Kinder sind mir lieb. Gib
+mir die Hand! Du wirst das Heidi sein; wo ist der Großvater?"
+</p>
+
+<p>
+"Er sitzt am Tisch und schnitzt runde Löffel von Holz", erklärte
+Heidi und machte nun die Tür wieder auf.
+</p>
+
+<p>
+Es war der alte Herr Pfarrer aus dem Dörfli, der den Öhi vor Jahren
+gut gekannt hatte, als er noch unten wohnte und sein Nachbar war.
+Er trat in die Hütte ein, ging auf den Alten zu, der sich über sein
+Schnitzwerk hinbeugte, und sagte: "Guten Morgen, Nachbar."
+</p>
+
+<p>
+Verwundert schaute dieser in die Höhe, stand dann auf und
+entgegnete: "Guten Morgen dem Herrn Pfarrer." Dann stellte er
+seinen Stuhl vor den Herrn hin und fuhr fort: "Wenn der Herr
+Pfarrer einen Holzsitz nicht scheut, hier ist einer."
+</p>
+
+<p>
+Der Herr Pfarrer setzte sich. "Ich habe Euch lange nicht gesehen,
+Nachbar", sagte er dann.
+</p>
+
+<p>
+"Ich den Herrn Pfarrer auch nicht", war die Antwort.
+</p>
+
+<p>
+"Ich komme heut, um etwas mit Euch zu besprechen", fing der Herr
+Pfarrer wieder an; "ich denke, Ihr könnt schon wissen, was meine
+Angelegenheit ist, worüber ich mich mit Euch verständigen und hören
+will, was Ihr im Sinne habt."
+</p>
+
+<p>
+Der Herr Pfarrer schwieg und schaute auf Heidi, das an der Tür
+stand und die neue Erscheinung aufmerksam betrachtete.
+</p>
+
+<p>
+"Heidi, geh zu den Geißen", sagte der Großvater. "Kannst ein wenig
+Salz mitnehmen und bei ihnen bleiben, bis ich auch komme."
+</p>
+
+<p>
+Heidi verschwand sofort.
+</p>
+
+<p>
+"Das Kind hätte schon vor dem Jahr und noch sicherer diesen Winter
+die Schule besuchen sollen", sagte nun der Herr Pfarrer; "der
+Lehrer hat Euch mahnen lassen, Ihr habt keine Antwort darauf
+gegeben; was habt Ihr mit dem Kind im Sinn, Nachbar?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich habe im Sinn, es nicht in die Schule zu schicken", war die
+Antwort.
+</p>
+
+<p>
+Verwundert schaute der Herr Pfarrer auf den Alten, der mit
+gekreuzten Armen auf seiner Bank saß und gar nicht nachgiebig
+aussah.
+</p>
+
+<p>
+"Was wollt Ihr aus dem Kinde machen?", fragte jetzt der Herr
+Pfarrer.
+</p>
+
+<p>
+"Nichts, es wächst und gedeiht mit den Geißen und den Vögeln; bei
+denen ist es ihm wohl und es lernt nichts Böses von ihnen."
+</p>
+
+<p>
+"Aber das Kind ist keine Geiß und kein Vogel, es ist ein
+Menschenkind. Wenn es nichts Böses lernt von diesen seinen
+Kameraden, so lernt es auch sonst nichts von ihnen; es soll aber
+etwas lernen, und die Zeit dazu ist da. Ich bin gekommen, es Euch
+zeitig zu sagen, Nachbar, damit Ihr Euch besinnen und einrichten
+könnt den Sommer durch. Dies war der letzte Winter, den das Kind
+so ohne allen Unterricht zugebracht hat; nächsten Winter kommt es
+zur Schule, und zwar jeden Tag."
+</p>
+
+<p>
+"Ich tu's nicht, Herr Pfarrer", sagte der Alte unentwegt.
+</p>
+
+<p>
+"Meint Ihr denn wirklich, es gebe kein Mittel, Euch zur Vernunft zu
+bringen, wenn Ihr so eigensinnig bei Eurem unvernünftigen Tun
+beharren wollt?", sagte der Herr Pfarrer jetzt ein wenig eifrig.
+"Ihr seid weit in der Welt herumgekommen und habt viel gesehen und
+vieles lernen können, ich hätte Euch mehr Einsicht zugetraut,
+Nachbar."
+</p>
+
+<p>
+"So", sagte jetzt der Alte und seine Stimme verriet, dass es auch
+in seinem Innern nicht mehr so ganz ruhig war; "und meint denn der
+Herr Pfarrer, ich werde wirklich im nächsten Winter am eisigen
+Morgen durch Sturm und Schnee ein zartgliedriges Kind den Berg
+hinunterschicken, zwei Stunden weit, und zur Nacht wieder
+heraufkommen lassen, wenn's manchmal tobt und tut, dass unsereiner
+fast in Wind und Schnee ersticken müsste, und dann ein Kind wie
+dieses? Und vielleicht kann sich der Herr Pfarrer auch noch der
+Mutter erinnern, der Adelheid; sie war mondsüchtig und hatte
+Zufälle, soll das Kind auch so etwas holen mit der Anstrengung? Es
+soll mir einer kommen und mich zwingen wollen! Ich gehe vor alle
+Gerichte mit ihm, und dann wollen wir sehen, wer mich zwingt!"
+</p>
+
+<p>
+"Ihr habt ganz Recht, Nachbar", sagte der Herr Pfarrer mit
+Freundlichkeit; "es wäre nicht möglich, das Kind von hier aus zur
+Schule zu schicken. Aber ich kann sehen, das Kind ist Euch lieb;
+tut um seinetwillen etwas, das Ihr schon lange hättet tun sollen,
+kommt wieder ins Dörfli herunter und lebt wieder mit den Menschen.
+Was ist das für ein Leben hier oben, allein und verbittert gegen
+Gott und Menschen! Wenn Euch einmal etwas zustoßen würde hier oben,
+wer würde Euch beistehen? Ich kann auch gar nicht begreifen, dass
+Ihr den Winter durch nicht halb erfriert in Eurer Hütte, und wie
+das zarte Kind es nur aushalten kann!"
+</p>
+
+<p>
+"Das Kind hat junges Blut und eine gute Decke, das möchte ich dem
+Herrn Pfarrer sagen, und dann noch eins: Ich weiß, wo es Holz gibt,
+und auch, wann die gute Zeit ist, es zu holen; der Herr Pfarrer
+darf in meinen Schopf hineingehen, es ist etwas drin, in meiner
+Hütte geht das Feuer nie aus den Winter durch. Was der Herr
+Pfarrer mit dem Herunterkommen meint, ist nicht für mich; die
+Menschen da unten verachten mich und ich sie auch, wir bleiben
+voneinander, so ist's beiden wohl."
+</p>
+
+<p>
+"Nein, nein, es ist Euch nicht wohl; ich weiß, was Euch fehlt",
+sagte der Herr Pfarrer mit herzlichem Ton. "Mit der Verachtung der
+Menschen dort unten ist es so schlimm nicht. Glaubt mir, Nachbar:
+Sucht Frieden mit Eurem Gott zu machen, bittet um seine Verzeihung,
+wo Ihr sie nötig habt, und dann kommt und seht, wie anders Euch die
+Menschen ansehen und wie wohl es Euch noch werden kann."
+</p>
+
+<p>
+Der Herr Pfarrer war aufgestanden, er hielt dem Alten die Hand hin
+und sagte nochmals mit Herzlichkeit: "Ich zähle darauf, Nachbar, im
+nächsten Winter seid Ihr wieder unten bei uns und wir sind die
+alten, guten Nachbarn. Es würde mir großen Kummer machen, wenn ein
+Zwang gegen Euch müsste angewandt werden; gebt mir jetzt die Hand
+darauf, dass ihr herunterkommt und wieder unter uns leben wollt,
+ausgesöhnt mit Gott und den Menschen."
+</p>
+
+<p>
+Der Alm-Öhi gab dem Herrn Pfarrer die Hand und sagte fest und
+bestimmt: "Der Herr Pfarrer meint es recht mit mir; aber was er
+erwartet, das tu ich nicht, ich sag es sicher und ohne Wandel: Das
+Kind schick ich nicht, und herunter komm ich nicht."
+</p>
+
+<p>
+"So helf Euch Gott!", sagte der Herr Pfarrer und ging traurig zur
+Tür hinaus und den Berg hinunter.
+</p>
+
+<p>
+Der Alm-Öhi war verstimmt. Als Heidi am Nachmittag sagte: "Jetzt
+wollen wir zur Großmutter", erwiderte er kurz: "Heut nicht." Den
+ganzen Tag sprach er nicht mehr, und am folgenden Morgen, als Heidi
+fragte: "Gehen wir heut zur Großmutter?", war er noch gleich kurz
+von Worten wie im Ton und sagte nur: "Wollen sehen." Aber noch
+bevor die Schüsselchen vom Mittagessen weggestellt waren, trat
+schon wieder ein Besuch zur Tür herein, es war die Base Dete. Sie
+hatte einen schönen Hut auf dem Kopf mit einer Feder darauf und ein
+Kleid, das alles mitfegte, was am Boden lag, und in der Sennhütte
+lag da allerlei, das nicht an ein Kleid gehörte. Der Öhi schaute
+sie an von oben bis unten und sagte kein Wort. Aber die Base Dete
+hatte im Sinn, ein sehr freundliches Gespräch zu führen, denn sie
+fing an zu rühmen und sagte, das Heidi sehe so gut aus, sie habe es
+fast nicht mehr gekannt und man könne schon sehen, dass es ihm
+nicht schlecht gegangen sei beim Großvater. Sie habe aber gewiss
+auch immer darauf gedacht, es ihm wieder abzunehmen, denn sie habe
+ja schon begreifen können, dass ihm das Kleine im Weg sein müsse,
+aber in jenem Augenblick habe sie es ja nirgends sonst hintun
+können; seitdem aber habe sie Tag und Nacht nachgesonnen, wo sie
+das Kind etwa unterbringen könnte, und deswegen komme sie auch
+heute, denn auf einmal habe sie etwas vernommen, da könne das Heidi
+zu einem solchen Glück kommen, dass sie es gar nicht habe glauben
+wollen. Dann sei sie aber auf der Stelle der Sache nachgegangen,
+und nun könne sie sagen, es sei alles so gut wie in Richtigkeit,
+das Heidi komme zu einem Glück wie unter Hunderttausenden nicht
+eines. Furchtbar reiche Verwandte von ihrer Herrschaft, die fast
+im schönsten Haus in ganz Frankfurt wohnen, die haben ein einziges
+Töchterlein, das müsse immer im Rollstuhl sitzen, denn es sei auf
+einer Seite lahm und sonst nicht gesund, und so sei es fast immer
+allein und müsse auch allen Unterricht allein nehmen bei einem
+Lehrer, und das sei ihm so langweilig, und auch sonst hätte es gern
+eine Gespielin im Haus, und da haben sie so davon geredet bei ihrer
+Herrschaft, und wenn man nur so ein Kind finden könnte, wie die
+Dame beschrieb, die in dem Haus die Wirtschaft führte, denn ihre
+Herrschaft habe viel Mitgefühl und möchte dem kranken Töchterlein
+eine gute Gespielin gönnen. Die Wirtschaftsdame hatte nun gesagt,
+sie wolle so ein recht unverdorbenes, so ein eigenartiges, das
+nicht sei wie alle, die man so alle Tage sehe. Da habe sie selbst
+denn auf der Stelle an das Heidi gedacht und sei gleich hingelaufen
+und habe der Dame alles so beschrieben vom Heidi und so von seinem
+Charakter, und die Dame habe sogleich zugesagt. Nun könne gar kein
+Mensch wissen, was dem Heidi alles an Glück und Wohlfahrt
+bevorstehe, denn wenn es dann einmal dort sei und die Leute es gern
+mögen und es etwa mit dem eigenen Töchterchen etwas geben sollte--
+man könne ja nie wissen, es sei doch so schwächlich--, und wenn
+eben die Leute doch nicht ohne ein Kind bleiben wollten, so könnte
+ja das unerhörteste Glück--
+</p>
+
+<p>
+"Bist du bald fertig?", unterbrach hier der Öhi, der bis dahin kein
+Wort dazwischengeredet hatte.
+</p>
+
+<p>
+"Pah", gab die Dete zurück und warf den Kopf auf, "Ihr tut gerade,
+wie wenn ich Euch das ordinärste Zeug gesagt hätte, und ist doch
+durchs ganze Prättigau auf und ab nicht einer, der nicht Gott im
+Himmel dankte, wenn ich ihm die Nachricht brächte, die ich Euch
+gebracht habe."
+</p>
+
+<p>
+"Bring sie, wem du willst, ich will nichts davon", sagte der Öhi
+trocken.
+</p>
+
+<p>
+Aber jetzt fuhr die Dete auf wie eine Rakete und rief: "Ja, wenn
+Ihr es so meint, dann will ich Euch denn schon auch sagen, wie ich
+es meine: Das Kind ist jetzt acht Jahre alt und kann nichts und
+weiß nichts, und Ihr wollt es nichts lernen lassen; Ihr wollt es in
+keine Schule und in keine Kirche schicken, das haben sie mir gesagt
+unten im Dörfli, und es ist meiner einzigen Schwester Kind; ich hab
+es zu verantworten, wie's mit ihm geht, und wenn ein Kind ein Glück
+erlangen kann wie jetzt das Heidi, so kann ihm nur einer davor sein,
+dem es um alle Leute gleich ist und der keinem etwas Gutes wünscht.
+Aber ich gebe nicht nach, das sag ich Euch, und die Leute habe
+ich alle für mich, es ist kein Einziger unten im Dörfli, der nicht
+mir hilft und gegen Euch ist, und wenn Ihr's etwa wollt vor Gericht
+kommen lassen, so besinnt Euch wohl, Öhi; es gibt noch Sachen, die
+Euch dann könnten aufgewärmt werden, die Ihr nicht gern hörtet,
+denn wenn man's einmal mit dem Gericht zu tun hat, so wird noch
+manches aufgespürt, an das keiner mehr denkt."
+</p>
+
+<p>
+"Schweig!", donnerte der Öhi heraus, und seine Augen flammten wie
+Feuer. "Nimm's und verdirb's! Komm mir nie mehr vor Augen mit ihm,
+ich will's nie sehen mit dem Federhut auf dem Kopf und Worten im
+Mund wie dich heut!"
+</p>
+
+<p>
+Der Öhi ging mit großen Schritten zur Tür hinaus.
+</p>
+
+<p>
+"Du hast den Großvater bös gemacht", sagte Heidi und blitzte mit
+seinen schwarzen Augen die Base wenig freundlich an.
+</p>
+
+<p>
+"Er wird schon wieder gut, komm jetzt", drängte die Base; "wo sind
+deine Kleider?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich komme nicht", sagte Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"Was sagst du?", fuhr die Base auf; dann änderte sie den Ton ein
+wenig und fuhr halb freundlich, halb ärgerlich weiter: "Komm, komm,
+du verstehst's nicht besser, du wirst es so gut haben, wie du gar
+nicht weißt." Dann ging sie an den Schrank, nahm Heidis Sachen
+hervor und packte sie zusammen: "So, komm jetzt, nimm dort dein
+Hütchen, es sieht nicht schön aus, aber es ist gleich für einmal,
+setz es auf und mach, dass wir fortkommen."
+</p>
+
+<p>
+"Ich komme nicht", wiederholte Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"Sei doch nicht so dumm und störrig wie eine Geiß; denen hast du's
+abgesehen. Begreif doch nur, jetzt ist der Großvater bös, du
+hast's ja gehört, dass er gesagt hat, wir sollen ihm nicht mehr vor
+Augen kommen, er will es nun haben, dass du mit mir gehst, und
+jetzt musst du ihn nicht noch böser machen. Du weißt gar nicht,
+wie schön es ist in Frankfurt und was du alles sehen wirst, und
+gefällt es dir dann nicht, so kannst du wieder heimgehen; bis dahin
+ist der Großvater dann wieder gut."
+</p>
+
+<p>
+"Kann ich gerad wieder umkehren und heimkommen heut Abend?", fragte
+Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"Ach was, komm jetzt! Ich sag dir's ja, du kannst wieder heim,
+wann du willst. Heut gehen wir bis nach Maienfeld hinunter und
+morgen früh sitzen wir in der Eisenbahn, mit der bist du nachher im
+Augenblick wieder daheim, das geht wie geflogen."
+</p>
+
+<p>
+Die Base Dete hatte das Bündelchen Kleider auf den Arm und Heidi an
+die Hand genommen; so gingen sie den Berg hinunter.
+</p>
+
+<p>
+Da es noch nicht Weidezeit war, ging der Peter noch zur Schule ins
+Dörfli hinunter, oder sollte doch dahin gehen; aber er machte hier
+und da einen Tag Ferien, denn er dachte, es nütze nichts, dahin zu
+gehen, das Lesen brauche man auch nicht, und ein wenig herumfahren
+und große Ruten suchen nütze etwas, denn diese könne man brauchen.
+So kam er eben in der Nähe seiner Hütte von der Seite her mit
+sichtlichem Erfolg seiner heutigen Bestrebungen, denn er trug ein
+ungeheures Bündel langer, dicker Haselruten auf der Achsel. Er
+stand still und starrte die zwei Entgegenkommenden an, bis sie bei
+ihm ankamen; dann sagte er: "Wo willst du hin?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich muss nur geschwind nach Frankfurt mit der Base", antwortete
+Heidi, "aber ich will zuerst noch zur Großmutter hinein, sie wartet
+auf mich."
+</p>
+
+<p>
+"Nein, nein, keine Rede, es ist schon viel zu spät", sagte die Base
+eilig und hielt das fortstrebende Heidi fest bei der Hand; "du
+kannst dann gehen, wenn du wieder heimkommst, komm jetzt!" Damit
+zog die Base das Heidi fest weiter und ließ es nicht mehr los, denn
+sie fürchtete, es könne drinnen dem Kinde wieder in den Sinn kommen,
+es wolle nicht fort, und die Großmutter könne ihm helfen wollen.
+Der Peter sprang in die Hütte hinein und schlug mit seinem ganzen
+Bündel Ruten so furchtbar auf den Tisch los, dass alles erzitterte
+und die Großmutter vor Schrecken vom Spinnrad aufsprang und laut
+aufjammerte. Der Peter hatte sich Luft machen müssen.
+</p>
+
+<p>
+"Was ist's denn? Was ist's denn?", rief angstvoll die Großmutter,
+und die Mutter, die am Tisch gesessen hatte und fast aufgeflogen
+war bei dem Knall, sagte in angeborener Langmut: "Was hast, Peterli;
+warum tust so wüst?"
+</p>
+
+<p>
+"Weil sie das Heidi mitgenommen hat", erklärte Peter.
+</p>
+
+<p>
+"Wer? Wer? Wohin, Peterli, wohin?", fragte die Großmutter jetzt
+mit neuer Angst; sie musste aber schnell erraten haben, was vorging,
+die Tochter hatte ihr ja vor kurzem berichtet, sie habe die Dete
+gesehen zum Alm-Öhi hinaufgehen. Ganz zitternd vor Eile machte die
+Großmutter das Fenster auf und rief flehentlich hinaus: "Dete, Dete,
+nimm uns das Kind nicht weg! Nimm uns das Heidi nicht!"
+</p>
+
+<p>
+Die beiden Laufenden hörten die Stimme, und die Dete mochte wohl
+ahnen, was sie rief, denn sie fasste das Kind noch fester und lief,
+was sie konnte. Heidi widerstrebte und sagte: "Die Großmutter hat
+gerufen, ich will zu ihr."
+</p>
+
+<p>
+Aber das wollte die Base gerade nicht und beschwichtigte das Kind,
+es solle nur schnell kommen jetzt, dass sie nicht noch zu spät
+kämen, sondern dass sie morgen weiterreisen könnten, es könnte ja
+dann sehen, wie es ihm gefallen werde in Frankfurt, dass es gar nie
+mehr fortwolle dort; und wenn es doch heim wolle, so könne es ja
+gleich gehen und dann erst noch der Großmutter etwas mit
+heimbringen, was sie freue. Das war eine Aussicht für Heidi, die
+ihm gefiel. Es fing an zu laufen ohne Widerstreben.
+</p>
+
+<p>
+"Was kann ich der Großmutter heimbringen?", fragte es nach einer
+Welle.
+</p>
+
+<p>
+"Etwas Gutes", sagte die Base, "so schöne, weiche Weißbrötchen, da
+wird sie Freud haben daran, sie kann ja doch das harte, schwarze
+Brot fast nicht mehr essen."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, sie gibt es immer wieder dem Peter und sagt: 'Es ist mir
+zu hart'; das habe ich selbst gesehen", bestätigte das Heidi.
+"So wollen wir geschwind gehen, Base Dete; dann kommen wir
+vielleicht heut noch nach Frankfurt, dass ich bald wieder da bin
+mit den Brötchen."
+</p>
+
+<p>
+Heidi fing nun so zu rennen an, dass die Base mit ihrem Bündel auf
+dem Arm fast nicht mehr nachkam. Aber sie war sehr froh, dass es
+so rasch ging, denn nun kamen sie gleich zu den ersten Häusern vom
+Dörfli, und da konnte es wieder allerhand Reden und Fragen geben,
+die das Heidi wieder auf andere Gedanken bringen konnten. So lief
+sie stracks durch, und das Kind zog dabei noch so stark an ihrer
+Hand, dass alle Leute es sehen konnten, wie sie um des Kindes
+willen so pressieren musste. So rief sie auf alle die Fragen und
+Anrufungen, die ihr aus allen Fenstern und Türen entgegentönten,
+nur immer zurück: "Ihr seht's ja, ich kann jetzt nicht still stehen,
+das Kind pressiert und wir haben noch weit."
+</p>
+
+<p>
+"Nimmst's mit?"--"Läuft's dem Alm-Öhi fort?"--"Es ist nur ein
+Wunder, dass es noch am Leben ist!"--"Und dazu noch so rotbackig!"
+So tönte es von allen Seiten, und die Dete war froh, dass sie ohne
+Verzug durchkam und keinen Bescheid geben musste und auch Heidi
+kein Wort sagte, sondern nur immer vorwärts strebte in großem Eifer.
+--
+</p>
+
+<p>
+Von dem Tage an machte der Alm-Öhi, wenn er herunterkam und durchs
+Dörfli ging, ein böseres Gesicht als je zuvor. Er grüßte keinen
+Menschen und sah mit seinem Käsereff auf dem Rücken, mit dem
+ungeheuren Stock in der Hand und den zusammengezogenen dicken
+Brauen so drohend aus, dass die Frauen zu den kleinen Kindern
+sagten: "Gib Acht! Geh dem Alm-Öhi aus dem Weg, er könnte dir noch
+etwas tun!"
+</p>
+
+<p>
+Der Alte verkehrte mit keinem Menschen im Dörfli, er ging nur durch
+und weit ins Tal hinab, wo er seinen Käse verhandelte und seine
+Vorräte an Brot und Fleisch einnahm. Wenn er so vorbeigegangen war
+im Dörfli, dann standen hinter ihm die Leute alle in Trüppchen
+zusammen, und jeder wusste etwas Besonderes, was er am Alm-Öhi
+gesehen hatte, wie er immer wilder aussehe und dass er jetzt keinem
+Menschen mehr auch nur einen Gruß abnehme, und alle kamen darin
+überein, dass es ein großes Glück sei, dass das Kind habe
+entweichen können, und man habe auch wohl gesehen, wie es
+fortgedrängt habe, so, als fürchte es, der Alte sei schon hinter
+ihm drein, um es zurückzuholen. Nur die blinde Großmutter hielt
+unverrückt zum Alm-Öhi, und wer zu ihr heraufkam, um bei ihr
+spinnen zu lassen oder das Gesponnene zu holen, dem erzählte sie es
+immer wieder, wie gut und sorgfältig der Alm-Öhi mit dem Kind
+gewesen sei und was er an ihr und der Tochter getan habe, wie
+manchen Nachmittag er an ihrem Häuschen herumgeflickt, das ohne
+seine Hilfe gewiss schon zusammengefallen wäre. So kamen denn auch
+diese Berichte ins Dörfli herunter; aber die meisten, die sie
+vernahmen, sagten dann, die Großmutter sei vielleicht zu alt zum
+Begreifen, sie werde es wohl nicht recht verstanden haben, sie
+werde wohl auch nicht mehr gut hören, weil sie nichts mehr sehe.
+</p>
+
+<p>
+Der Alm-Öhi zeigte sich jetzt nicht mehr bei den Geißenpeters; es
+war gut, dass er die Hütte so fest zusammengenagelt hatte, denn sie
+blieb für lange Zeit ganz unberührt. Jetzt begann die blinde
+Großmutter ihre Tage wieder mit Seufzen, und nicht einer verstrich,
+an dem sie nicht klagend sagte: "Ach, mit dem Kind ist alles Gute
+und alle Freude von uns genommen, und die Tage sind so leer! Wenn
+ich nur noch einmal das Heidi hören könnte, eh ich sterben muss!"
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap06"></a>
+Ein neues Kapitel und lauter neue Dinge
+</h3>
+
+<p>
+Im Hause des Herrn Sesemann in Frankfurt lag das kranke Töchterlein,
+Klara, in dem bequemen Rollstuhl, in welchem es den ganzen Tag
+sich aufhielt und von einem Zimmer ins andere gestoßen wurde.
+Jetzt saß es im so genannten Studierzimmer, das neben der großen
+Essstube lag und wo vielerlei Gerätschaften herumstanden und <span style="white-space: nowrap;">-lagen,</span>
+die das Zimmer wohnlich machten und zeigten, dass man hier
+gewöhnlich sich aufhielt. An dem großen, schönen Bücherschrank mit
+den Glastüren konnte man sehen, woher das Zimmer seinen Namen hatte
+und dass es wohl der Raum war, wo dem lahmen Töchterchen der
+tägliche Unterricht erteilt wurde.
+</p>
+
+<p>
+Klara hatte ein blasses, schmales Gesichtchen, aus dem zwei milde,
+blaue Augen herausschauten, die in diesem Augenblick auf die große
+Wanduhr gerichtet waren, die heute besonders langsam zu gehen
+schien, denn Klara, die sonst kaum ungeduldig wurde, sagte jetzt
+mit ziemlicher Ungeduld in der Stimme: "Ist es denn immer noch
+nicht Zeit, Fräulein Rottenmeier?"
+</p>
+
+<p>
+Die Letztere saß sehr aufrecht an einem kleinen Arbeitstisch und
+stickte. Sie hatte eine geheimnisvolle Hülle um sich, einen großen
+Kragen oder Halbmantel, welcher der Persönlichkeit einen
+feierlichen Anstrich verlieh, der noch erhöht wurde durch eine Art
+von hoch gebauter Kuppel, die sie auf dem Kopf trug. Fräulein
+Rottenmeier war schon seit mehreren Jahren, seitdem die Dame des
+Hauses gestorben war, im Hause Sesemann, führte die Wirtschaft und
+hatte die Oberaufsicht über das ganze Dienstpersonal.
+</p>
+
+<p>
+Herr Sesemann war meistens auf Reisen, überließ daher dem Fräulein
+Rottenmeier das ganze Haus, nur mit der Bedingung, dass sein
+Töchterlein in allem eine Stimme haben solle und nichts gegen
+dessen Wunsch geschehen dürfe.
+</p>
+
+<p>
+Während oben Klara zum zweiten Mal mit Zeichen der Ungeduld
+Fräulein Rottenmeier befragte, ob die Zeit noch nicht da sei, da
+die Erwarteten erscheinen konnten, stand unten vor der Haustür die
+Dete mit Heidi an der Hand und fragte den Kutscher Johann, der eben
+vom Wagen gestiegen war, ob sie wohl Fräulein Rottenmeier so spät
+noch stören dürfe.
+</p>
+
+<p>
+"Das ist nicht meine Sache", brummte der Kutscher; "klingeln Sie
+den Sebastian herunter, drinnen im Korridor."
+</p>
+
+<p>
+Dete tat, wie ihr geheißen war, und der Bediente des Hauses kam die
+Treppe herunter mit großen, runden Knöpfen auf seinem Aufwärterrock
+und fast ebenso großen runden Augen im Kopfe.
+</p>
+
+<p>
+"Ich wollte fragen, ob ich um diese Zeit Fräulein Rottenmeier noch
+stören dürfe", brachte die Dete wieder an.
+</p>
+
+<p>
+"Das ist nicht meine Sache", gab der Bediente zurück; "klingeln Sie
+die Jungfer Tinette herunter an der anderen Klingel", und ohne
+weitere Auskunft verschwand der Sebastian.
+</p>
+
+<p>
+Dete klingelte wieder. Jetzt erschien auf der Treppe die Jungfer
+Tinette mit einem blendend weißen Deckelchen auf der Mitte des
+Kopfes und einer spöttischen Miene auf dem Gesicht.
+</p>
+
+<p>
+"Was ist?", fragte sie auf der Treppe, ohne herunterzukommen. Dete
+wiederholte ihr Gesuch. Jungfer Tinette verschwand, kam aber bald
+wieder und rief von der Treppe herunter: "Sie sind erwartet!"
+</p>
+
+<p>
+Jetzt stieg Dete mit Heidi die Treppe hinauf und trat, der Jungfer
+Tinette folgend, in das Studierzimmer ein. Hier blieb Dete höflich
+an der Tür stehen, Heidi immer fest an der Hand haltend, denn sie
+war gar nicht sicher, was dem Kinde etwa begegnen konnte auf diesem
+so fremden Boden.
+</p>
+
+<p>
+Fräulein Rottenmeier erhob sich langsam von ihrem Sitz und kam
+näher, um die angekommene Gespielin der Tochter des Hauses zu
+betrachten. Der Anblick schien sie nicht zu befriedigen. Heidi
+hatte sein einfaches Baumwollröckchen an und sein altes,
+zerdrücktes Strohhütchen auf dem Kopf. Das Kind guckte sehr
+harmlos darunter hervor und betrachtete mit unverhehlter
+Verwunderung den Turmbau auf dem Kopf der Dame.
+</p>
+
+<p>
+"Wie heißest du?", fragte Fräulein Rottenmeier, nachdem auch sie
+einige Minuten lang forschend das Kind angesehen hatte, das kein
+Auge von ihr verwandte.
+</p>
+
+<p>
+"Heidi", antwortete es deutlich und mit klangvoller Stimme.
+</p>
+
+<p>
+"Wie? Wie? Das soll doch wohl kein christlicher Name sein? So
+bist du doch nicht getauft worden. Welchen Namen hast du in der
+Taufe erhalten?", fragte Fräulein Rottenmeier weiter.
+</p>
+
+<p>
+"Das weiß ich jetzt nicht mehr", entgegnete Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"Ist das eine Antwort!", bemerkte die Dame mit Kopfschütteln.
+"Jungfer Dete, ist das Kind einfältig oder schnippisch?"
+</p>
+
+<p>
+"Mit Erlaubnis und wenn es die Dame gestattet, so will ich gern
+reden für das Kind, denn es ist sehr unerfahren", sagte die Dete,
+nachdem sie dem Heidi heimlich einen kleinen Stoß gegeben hatte für
+die unpassende Antwort. "Es ist aber nicht einfältig und auch
+nicht schnippisch, davon weiß es gar nichts; es meint alles so, wie
+es redet. Aber es ist heut zum ersten Mal in einem Herrenhaus und
+kennt die gute Manier nicht; aber es ist willig und nicht
+ungelehrig, wenn die Dame wollte gütige Nachsicht haben. Es ist
+Adelheid getauft worden, wie seine Mutter, meine Schwester selig."
+</p>
+
+<p>
+"Nun wohl, dies ist doch ein Name, den man sagen kann", bemerkte
+Fräulein Rottenmeier. "Aber, Jungfer Dete, ich muss Ihnen doch
+sagen, dass mir das Kind für sein Alter sonderbar vorkommt. Ich
+habe Ihnen mitgeteilt, die Gespielin für Fräulein Klara müsste in
+ihrem Alter sein, um denselben Unterricht mit ihr zu verfolgen und
+überhaupt ihre Beschäftigungen zu teilen. Fräulein Klara hat das
+zwölfte Jahr zurückgelegt; wie alt ist das Kind?"
+</p>
+
+<p>
+"Mit Erlaubnis der Dame", fing die Dete wieder beredt an, "es war
+mir eben selber nicht mehr so ganz gegenwärtig, wie alt es sei; es
+ist wirklich ein wenig jünger, viel trifft es nicht an, ich kann's
+so ganz genau nicht sagen, es wird so um das zehnte Jahr, oder so
+noch etwas dazu sein, nehm ich an."
+</p>
+
+<p>
+"Jetzt bin ich acht, der Großvater hat's gesagt", erklärte Heidi.
+Die Base stieß es wieder an, aber Heidi hatte keine Ahnung, warum,
+und wurde keineswegs verlegen.
+</p>
+
+<p>
+"Was, erst acht Jahre alt?", rief Fräulein Rottenmeier mit einiger
+Entrüstung aus. "Vier Jahre zu wenig! Was soll das geben! Und
+was hast du denn gelernt? Was hast du für Bücher gehabt bei deinem
+Unterricht?"
+</p>
+
+<p>
+"Keine", sagte Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"Wie? Was? Wie hast du denn lesen gelernt?", fragte die Dame
+weiter.
+</p>
+
+<p>
+"Das hab ich nicht gelernt und der Peter auch nicht", berichtete
+Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"Barmherzigkeit! Du kannst nicht lesen? Du kannst wirklich nicht
+lesen!", rief Fräulein Rottenmeier im höchsten Schrecken aus. "Ist
+es die Möglichkeit, nicht lesen! Was hast du denn aber gelernt?"
+</p>
+
+<p>
+"Nichts", sagte Heidi der Wahrheit gemäß.
+</p>
+
+<p>
+"Jungfer Dete", sagte Fräulein Rottenmeier nach einigen Minuten, in
+denen sie nach Fassung rang, "es ist alles nicht nach Abrede, wie
+konnten Sie mir dieses Wesen zuführen?" Aber die Dete ließ sich
+nicht so bald einschüchtern; sie antwortete herzhaft: "Mit
+Erlaubnis der Dame, das Kind ist gerade, was ich dachte, dass sie
+haben wolle; die Dame hat mir beschrieben, wie es sein müsse, so
+ganz apart und nicht wie die anderen, und so musste ich das Kleine
+nehmen, denn die Größeren sind bei uns dann nicht mehr so apart,
+und ich dachte, dieses passe wie gemacht auf die Beschreibung.
+Jetzt muss ich aber gehen, denn meine Herrschaft erwartet mich; ich
+will, wenn's meine Herrschaft erlaubt, bald wieder kommen und
+nachsehen, wie es geht mit ihm." Mit einem Knicks war die Dete zur
+Tür hinaus und die Treppe hinunter mit schnellen Schritten.
+Fräulein Rottenmeier stand einen Augenblick noch da, dann lief sie
+der Dete nach; es war ihr wohl in den Sinn gekommen, dass sie noch
+eine Menge von Dingen mit der Base besprechen wollte, wenn das Kind
+wirklich dableiben sollte, und da war es doch nun einmal und, wie
+sie bemerkte, hatte die Base fest im Sinn, es dazulassen.
+</p>
+
+<p>
+Heidi stand noch auf demselben Platz an der Tür, wo es von Anfang
+an gestanden hatte. Bis dahin hatte Klara von ihrem Sessel aus
+schweigend allem zugesehen. Jetzt winkte sie Heidi: "Komm hierher!"
+</p>
+
+<p>
+Heidi trat an den Rollstuhl heran.
+</p>
+
+<p>
+"Willst du lieber Heidi heißen oder Adelheid?", fragte Klara.
+</p>
+
+<p>
+"Ich heiße nur Heidi und sonst nichts", war Heidis Antwort.
+</p>
+
+<p>
+"So will ich dich immer so nennen", sagte Klara; "der Name gefällt
+mir für dich, ich habe ihn aber nie gehört, ich habe aber auch nie
+ein Kind gesehen, das so aussieht wie du. Hast du immer nur so
+kurzes, krauses Haar gehabt?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja, ich denk's", gab Heidi zur Antwort.
+</p>
+
+<p>
+"Bist du gern nach Frankfurt gekommen?", fragte Klara weiter.
+</p>
+
+<p>
+"Nein, aber morgen geh ich dann wieder heim und bringe der
+Großmutter weiße Brötchen!", erklärte Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"Du bist aber ein kurioses Kind!", fuhr jetzt Klara auf. "Man hat
+dich ja express nach Frankfurt kommen lassen, dass du bei mir
+bleibest und die Stunden mit mir nehmest, und siehst du, es wird
+nun ganz lustig, weil du gar nicht lesen kannst, nun kommt etwas
+ganz Neues in den Stunden vor. Sonst ist es manchmal so
+schrecklich langweilig und der Morgen will gar nicht zu Ende kommen.
+Denn siehst du, alle Morgen um zehn Uhr kommt der Herr Kandidat,
+und dann fangen die Stunden an und dauern bis um zwei Uhr, das ist
+so lange. Der Herr Kandidat nimmt auch manchmal das Buch ganz nahe
+ans Gesicht heran, so, als wäre er auf einmal ganz kurzsichtig
+geworden, aber er gähnt nur furchtbar hinter dem Buch, und Fräulein
+Rottenmeier nimmt auch von Zeit zu Zeit ihr großes Taschentuch
+hervor und hält es vor das ganze Gesicht hin, so, als sei sie ganz
+ergriffen von etwas, das wir lesen; aber ich weiß recht gut, dass
+sie nur ganz schrecklich gähnt dahinter, und dann sollte ich auch
+so stark gähnen und muss es immer hinunterschlucken, denn wenn ich
+nur ein einziges Mal herausgähne, so holt Fräulein Rottenmeier
+gleich den Fischtran und sagt, ich sei wieder schwach, und
+Fischtran nehmen ist das Allerschrecklichste, da will ich doch
+lieber Gähnen schlucken. Aber nun wird's viel kurzweiliger, da
+kann ich dann zuhören, wie du lesen lernst."
+</p>
+
+<p>
+Heidi schüttelte ganz bedenklich mit dem Kopf, als es vom
+Lesenlernen hörte.
+</p>
+
+<p>
+"Doch, doch, Heidi, natürlich musst du lesen lernen, alle Menschen
+müssen, und der Herr Kandidat ist sehr gut, er wird niemals böse,
+und er erklärt dir dann schon alles. Aber siehst du, wenn er etwas
+erklärt, dann verstehst du nichts davon; dann musst du nur warten
+und gar nichts sagen, sonst erklärt er dir noch viel mehr und du
+verstehst es noch weniger. Aber dann nachher, wenn du etwas
+gelernt hast und es weißt, dann verstehst du schon, was er gemeint
+hat."
+</p>
+
+<p>
+Jetzt kam Fräulein Rottenmeier wieder ins Zimmer zurück; sie hatte
+Dete nicht mehr zurückrufen können und war sichtlich aufgeregt
+davon, denn sie hatte dieser eigentlich gar nicht einlässlich sagen
+können, was alles nicht nach Abrede sei bei dem Kinde, und da sie
+nicht wusste, was nun zu tun sei, um ihren Schritt rückgängig zu
+machen, war sie umso aufgeregter, denn sie selbst hatte die ganze
+Sache angestiftet. Sie lief nun vom Studierzimmer ins Esszimmer
+hinüber, und von da wieder zurück, und kehrte dann unmittelbar
+wieder um und fuhr hier den Sebastian an, der seine runden Augen
+eben nachdenklich über den gedeckten Tisch gleiten ließ, um zu
+sehen, ob sein Werk keinen Mangel habe.
+</p>
+
+<p>
+"Denk Er morgen Seine großen Gedanken fertig und mach Er, dass man
+heut noch zu Tische komme."
+</p>
+
+<p>
+Mit diesen Worten fuhr Fräulein Rottenmeier an Sebastian vorbei und
+rief nach der Tinette mit so wenig einladendem Ton, dass die
+Jungfer Tinette mit noch viel kleineren Schritten herantrippelte
+als sonst gewöhnlich--und sich mit so spöttischem Gesicht
+hinstellte, dass selbst Fräulein Rottenmeier nicht wagte, sie
+anzufahren; umso mehr schlug ihr die Aufregung nach innen.
+</p>
+
+<p>
+"Das Zimmer der Angekommenen ist in Ordnung zu bringen, Tinette",
+sagte die Dame mit schwer errungener Ruhe; "es liegt alles bereit,
+nehmen Sie noch den Staub von den Möbeln weg."
+</p>
+
+<p>
+"Es ist der Mühe wert", spöttelte Tinette und ging.
+</p>
+
+<p>
+Unterdessen hatte Sebastian die Doppeltüren zum Studierzimmer mit
+ziemlichem Knall aufgeschlagen, denn er war sehr ergrimmt, aber
+sich in Antworten Luft zu machen durfte er nicht wagen Fräulein
+Rottenmeier gegenüber; dann trat er ganz gelassen ins Studierzimmer,
+um den Rollstuhl hinüberzustoßen. Während er den Griff hinten am
+Stuhl, der sich verschoben hatte, zurechtdrehte, stellte sich Heidi
+vor ihn hin und schaute ihn unverwandt an, was er bemerkte. Auf
+einmal fuhr er auf. "Na, was ist denn da Besonderes dran?",
+schnurrte er Heidi an in einer Weise, wie er es wohl nicht getan,
+hätte er Fräulein Rottenmeier gesehen, die eben wieder auf der
+Schwelle stand und gerade hereintrat, als Heidi entgegnete: "Du
+siehst dem Geißenpeter gleich."
+</p>
+
+<p>
+Entsetzt schlug die Dame ihre Hände zusammen. "Ist es die
+Möglichkeit!", stöhnte sie halblaut. "Nun duzt sie mir den
+Bedienten! Dem Wesen fehlen alle Urbegriffe!"
+</p>
+
+<p>
+Der Stuhl kam herangerollt und Klara wurde von Sebastian
+hinausgeschoben und auf ihren Sessel an den Tisch gesetzt.
+</p>
+
+<p>
+Fräulein Rottenmeier setzte sich neben sie und winkte Heidi, es
+sollte den Platz ihr gegenüber einnehmen. Sonst kam niemand zu
+Tische, und es war viel Platz da; die drei saßen auch weit
+auseinander, so dass Sebastian mit seiner Schüssel zum Anbieten
+guten Raum fand. Neben Heidis Teller lag ein schönes, weißes
+Brötchen; das Kind schaute mit erfreuten Blicken darauf. Die
+Ähnlichkeit, die Heidi entdeckt hatte, musste sein ganzes Vertrauen
+für den Sebastian erweckt haben, denn es saß mäuschenstill und
+rührte sich nicht, bis er mit der großen Schüssel zu ihm herantrat
+und ihm die gebratenen Fischchen hinhielt, dann zeigte es auf das
+Brötchen und fragte: "Kann ich das haben?" Sebastian nickte und
+warf dabei einen Seitenblick auf Fräulein Rottenmeier, denn es
+wunderte ihn, was die Frage für einen Eindruck auf sie mache.
+Augenblicklich ergriff Heidi sein Brötchen und steckte es in die
+Tasche. Sebastian machte eine Grimasse, denn das Lachen kam ihn an;
+er wusste aber wohl, dass ihm das nicht erlaubt war. Stumm und
+unbeweglich blieb er immer noch vor Heidi stehen, denn reden durfte
+er nicht, und weggehen durfte er wieder nicht, bis man sich bedient
+hatte. Heidi schaute ihm eine Zeit lang verwundert zu, dann fragte
+es: "Soll ich auch von dem essen?" Sebastian nickte wieder. "So
+gib mir", sagte es und schaute ruhig auf seinen Teller. Sebastians
+Grimasse wurde sehr bedenklich, und die Schüssel in seinen Händen
+fing an gefährlich zu zittern.
+</p>
+
+<p>
+"Er kann die Schüssel auf den Tisch setzen und nachher
+wiederkommen", sagte jetzt Fräulein Rottenmeier mit strengem
+Gesicht. Sebastian verschwand sogleich. "Dir, Adelheid, muss ich
+überall die ersten Begriffe beibringen, das sehe ich", fuhr
+Fräulein Rottenmeier mit tiefem Seufzer fort. "Vor allem will ich
+dir zeigen, wie man sich am Tische bedient", und nun machte die
+Dame deutlich und eingehend alles vor, was Heidi zu tun hatte.
+"Dann", fuhr sie weiter, "muss ich dir hauptsächlich bemerken, dass
+du am Tisch nicht mit Sebastian zu sprechen hast, auch sonst nur
+dann, wenn du einen Auftrag oder eine notwendige Frage an ihn zu
+richten hast; dann aber nennst du ihn nie mehr anders als _Sie_
+oder _Er_, hörst du? Dass ich dich niemals mehr ihn anders nennen
+höre. Auch Tinette nennst du _Sie_, Jungfer Tinette. Mich nennst
+du so, wie du mich von allen nennen hörst; wie du Klara nennen
+sollst, wird sie selbst bestimmen."
+</p>
+
+<p>
+"Natürlich Klara", sagte diese. Nun folgte aber noch eine Menge
+von Verhaltungsmaßregeln, über Aufstehen und Zubettegehen, über
+Hereintreten und Hinausgehen, über Ordnunghalten, Türenschließen,
+und über alledem fielen dem Heidi die Augen zu, denn es war heute
+vor fünf Uhr aufgestanden und hatte eine lange Reise gemacht. Es
+lehnte sich an den Sesselrücken und schlief ein. Als dann nach
+längerer Zeit Fräulein Rottenmeier zu Ende gekommen war mit ihrer
+Unterweisung, sagte sie: "Nun denke daran, Adelheid! Hast du alles
+recht begriffen?"
+</p>
+
+<p>
+"Heidi schläft schon lange", sagte Klara mit ganz belustigtem
+Gesicht, denn das Abendessen war für sie seit langer Zeit nie so
+kurzweilig verflossen.
+</p>
+
+<p>
+"Es ist doch völlig unerhört, was man mit diesem Kind erlebt!",
+rief Fräulein Rottenmeier in großem Ärger und klingelte so heftig,
+dass Tinette und Sebastian miteinander herbeigestürzt kamen; aber
+trotz allen Lärms erwachte Heidi nicht, und man hatte die größte
+Mühe, es so weit zu erwecken, dass es nach seinem Schlafgemach
+gebracht werden konnte; erst durch das Studierzimmer, dann durch
+Klaras Schlafstube, dann durch die Stube von Fräulein Rottenmeier
+zu dem Eckzimmer, das nun für Heidi eingerichtet war.
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap07"></a>
+Fräulein Rottenmeier hat einen unruhigen Tag
+</h3>
+
+<p>
+Als Heidi am ersten Morgen in Frankfurt seine Augen aufschlug,
+konnte es durchaus nicht begreifen, was es erblickte. Es rieb ganz
+gewaltig seine Augen, guckte dann wieder auf und sah dasselbe. Es
+saß auf einem hohen, weißen Bett und vor sich sah es einen großen,
+weiten Raum, und wo die Helle herkam, hingen lange, lange weiße
+Vorhänge, und dabei standen zwei Sessel mit großen Blumen darauf,
+und dann kam ein Sofa an der Wand mit denselben Blumen und ein
+runder Tisch davor, und in der Ecke stand ein Waschtisch mit Sachen
+darauf, wie Heidi sie noch gar nie gesehen hatte. Aber nun kam ihm
+auf einmal in den Sinn, dass es in Frankfurt sei, und der ganze
+gestrige Tag kam ihm in Erinnerung und zuletzt noch ganz klar die
+Unterweisungen der Dame, soweit es sie gehört hatte. Heidi sprang
+nun von seinem Bett herunter und machte sich fertig. Dann ging es
+an ein Fenster und dann an das andere; es musste den Himmel sehen
+und die Erde draußen, es fühlte sich wie im Käfig hinter den großen
+Vorhängen. Es konnte diese nicht wegschieben; so kroch es dahinter,
+um an ein Fenster zu kommen. Aber dieses war so hoch, dass Heidi
+nur gerade mit dem Kopf so weit hinaufreichte, dass es durchsehen
+konnte. Aber Heidi fand nicht, was es suchte. Es lief von einem
+Fenster zum anderen und dann wieder zum ersten zurück; aber immer
+war dasselbe vor seinen Augen, Mauern und Fenster und wieder Mauern
+und dann wieder Fenster. Es wurde Heidi ganz bange. Noch war es
+früh am Morgen, denn Heidi war gewöhnt, früh aufzustehen auf der
+Alm und dann sogleich hinauszulaufen vor die Tür und zu sehen,
+wie's draußen sei, ob der Himmel blau und die Sonne schon droben
+sei, ob die Tannen rauschen und die kleinen Blumen schon die Augen
+offen haben. Wie das Vögelein, das zum ersten Mal in seinem schön
+glänzenden Gefängnis sitzt, hin und her schießt und bei allen
+Stäben probiert, ob es nicht dazwischen durchschlüpfen und in die
+Freiheit hinausfliegen könne, so lief Heidi immer von dem einen
+Fenster zum anderen, um zu probieren, ob es nicht aufgemacht werden
+könne, denn dann musste man doch etwas anderes sehen als Mauern und
+Fenster, da musste doch unten der Erdboden, das grüne Gras und der
+letzte schmelzende Schnee an den Abhängen zum Vorschein kommen, und
+Heidi sehnte sich, das zu sehen. Aber die Fenster blieben fest
+verschlossen, wie sehr auch das Kind drehte und zog und von unten
+suchte, die kleinen Finger unter die Rahmen einzutreiben, damit es
+Kraft hätte, sie aufzudrücken; es blieb alles eisenfest aufeinander
+sitzen. Nach langer Zeit, als Heidi einsah, dass alle
+Anstrengungen nichts halfen, gab es seinen Plan auf und überdachte
+nun, wie es wäre, wenn es vor das Haus hinausginge und hintenherum,
+bis es auf den Grasboden käme, denn es erinnerte sich, dass es
+gestern Abend vorn am Haus nur über Steine gekommen war. Jetzt
+klopfte es an seiner Tür und unmittelbar darauf steckte Tinette den
+Kopf herein und sagte kurz: "Frühstück bereit!"
+</p>
+
+<p>
+Heidi verstand keineswegs eine Einladung unter diesen Worten; auf
+dem spöttischen Gesicht der Tinette stand viel mehr eine Warnung,
+ihr nicht zu nah zu kommen, als eine freundliche Einladung
+geschrieben, und das las Heidi deutlich von dem Gesicht und
+richtete sich danach. Es nahm den kleinen Schemel unter dem Tisch
+empor, stellte ihn in eine Ecke, setzte sich darauf und wartete so
+ganz still ab, was nun kommen würde. Nach einiger Zeit kam etwas
+mit ziemlichem Geräusch, es war Fräulein Rottenmeier, die schon
+wieder in Aufregung geraten war und in Heidis Stube hineinrief:
+"Was ist mit dir, Adelheid? Begreifst du nicht, was ein Frühstück
+ist? Komm herüber!"
+</p>
+
+<p>
+Das verstand nun Heidi und folgte sogleich nach. Im Esszimmer saß
+Klara schon lang an ihrem Platz und begrüßte Heidi freundlich,
+machte auch ein viel vergnügteres Gesicht als sonst gewöhnlich,
+denn sie sah voraus, dass heute wieder allerlei Neues geschehen
+würde. Das Frühstück ging nun ohne Störung vor sich; Heidi aß ganz
+anständig sein Butterbrot, und wie alles zu Ende war, wurde Klara
+wieder ins Studierzimmer hinübergerollt und Heidi wurde von
+Fräulein Rottenmeier angewiesen, nachzufolgen und bei Klara zu
+bleiben, bis der Herr Kandidat kommen würde, um die
+Unterrichtsstunden zu beginnen. Als die beiden Kinder allein waren,
+sagte Heidi sogleich: "Wie kann man hinaussehen hier und ganz
+hinunter auf den Boden?"
+</p>
+
+<p>
+"Man macht ein Fenster auf und guckt hinaus", antwortete Klara
+belustigt.
+</p>
+
+<p>
+"Man kann diese Fenster nicht aufmachen", versetzte Heidi traurig.
+</p>
+
+<p>
+"Doch, doch", versicherte Klara, "nur du noch nicht, und ich kann
+dir auch nicht helfen; aber wenn du einmal den Sebastian siehst, so
+macht er dir schon eines auf."
+</p>
+
+<p>
+Das war eine große Erleichterung für Heidi zu wissen, dass man doch
+die Fenster öffnen und hinausschauen könne, denn noch war es ganz
+unter dem Druck des Gefangenseins von seinem Zimmer her. Klara
+fing nun an, Heidi zu fragen, wie es bei ihm zu Hause sei, und
+Heidi erzählte mit Freuden von der Alm und den Geißen und der Weide
+und allem, was ihm lieb war.
+</p>
+
+<p>
+Unterdessen war der Herr Kandidat angekommen; aber Fräulein
+Rottenmeier führte ihn nicht, wie gewöhnlich, ins Studierzimmer,
+denn sie musste sich erst aussprechen und geleitete ihn zu diesem
+Zweck ins Esszimmer, wo sie sich vor ihn hinsetzte und ihm in
+großer Aufregung ihre bedrängte Lage schilderte und wie sie in
+diese hineingekommen war.
+</p>
+
+<p>
+Sie hatte nämlich vor einiger Zeit Herrn Sesemann nach Paris
+geschrieben, wo er eben verweilte, seine Tochter habe längst
+gewünscht, es möchte eine Gespielin für sie ins Haus aufgenommen
+werden, und auch sie selbst glaube, dass eine solche in den
+Unterrichtsstunden ein Sporn, in der übrigen Zeit eine anregende
+Gesellschaft für Klara sein würde. Eigentlich war die Sache für
+Fräulein Rottenmeier selbst sehr wünschbar, denn sie wollte gern,
+dass jemand da sei, der ihr die Unterhaltung der kranken Klara
+abnehme, wenn es ihr zu viel war, was öfters geschah. Herr
+Sesemann hatte geantwortet, er erfülle gern den Wunsch seiner
+Tochter, doch mit der Bedingung, dass eine solche Gespielin in
+allem ganz gehalten werde wie jene, er wolle keine Kinderquälerei
+in seinem Hause--"was freilich eine sehr unnütze Bemerkung von dem
+Herrn war", setzte Fräulein Rottenmeier hinzu, "denn wer wollte
+Kinder quälen!" Nun aber erzählte sie weiter, wie ganz
+erschrecklich sie hineingefallen sei mit dem Kinde, und führte alle
+Beispiele von seinem völlig begriffslosen Dasein an, die es bis
+jetzt geliefert hatte, dass nicht nur der Unterricht des Herrn
+Kandidaten buchstäblich beim Abc anfangen müsse, sondern dass auch
+sie auf jedem Punkte der menschlichen Erziehung mit dem Uranfang zu
+beginnen hätte. Aus dieser unheilvollen Lage sehe sie nur ein
+Rettungsmittel: Wenn der Herr Kandidat erklären werde, zwei so
+verschiedene Wesen könnten nicht miteinander unterrichtet werden
+ohne großen Schaden des vorgerückteren Teiles; das wäre für Herrn
+Sesemann ein triftiger Grund, die Sache rückgängig zu machen, und
+so würde er zugeben, dass das Kind gleich wieder dahin
+zurückgeschickt würde, woher es gekommen war; ohne seine Zustimmung
+aber dürfte sie das nicht unternehmen, nun der Hausherr wisse, dass
+das Kind angekommen sei. Aber der Herr Kandidat war behutsam und
+niemals einseitig im Urteilen. Er tröstete Fräulein Rottenmeier
+mit vielen Worten und der Ansicht, wenn die junge Tochter auf der
+einen Seite so zurück sei, so möchte sie auf der anderen umso
+geförderter sein, was bei einem geregelten Unterricht bald ins
+Gleichgewicht kommen werde. Als Fräulein Rottenmeier sah, dass der
+Herr Kandidat sie nicht unterstützen, sondern seinen Abc-Unterricht
+übernehmen wollte, machte sie ihm die Tür zum Studierzimmer auf,
+und nachdem er hereingetreten war, schloss sie schnell hinter ihm
+zu und blieb auf der anderen Seite, denn vor dem Abc hatte sie
+einen Schrecken. Sie ging jetzt mit großen Schritten im Zimmer auf
+und nieder, denn sie hatte zu überlegen, wie die Dienstboten
+Adelheid zu benennen hätten. Herr Sesemann hatte ja geschrieben,
+sie müsste wie seine Tochter gehalten werden, und dieses Wort
+musste sich hauptsächlich auf das Verhältnis zu den Dienstboten
+beziehen, dachte Fräulein Rottenmeier. Sie konnte aber nicht lange
+ungestört überlegen, denn auf einmal ertönte drinnen im
+Studierzimmer ein erschreckliches Gekrache fallender Gegenstände
+und dann ein Hilferuf nach Sebastian. Sie stürzte hinein. Da lag
+auf dem Boden alles übereinander, die sämtlichen Studien-Hilfsmittel,
+Bücher, Hefte, Tintenfass und obendrauf der
+Tischteppich, unter dem ein schwarzes Tintenbächlein hervorfloss,
+die ganze Stube entlang. Heidi war verschwunden.
+</p>
+
+<p>
+"Da haben wir's", rief Fräulein Rottenmeier händeringend aus.
+"Teppich, Bücher, Arbeitskorb, alles in der Tinte! Das ist noch
+nie geschehen! Das ist das Unglückswesen, da ist kein Zweifel!"
+</p>
+
+<p>
+Der Herr Kandidat stand sehr erschrocken da und schaute auf die
+Verwüstung, die allerdings nur _eine_ Seite hatte und eine recht
+bestürzende. Klara dagegen verfolgte mit vergnügtem Gesicht die
+ungewöhnlichen Ereignisse und deren Wirkungen und sagte nun
+erklärend: "Ja, Heidi hat's gemacht, aber nicht mit Absicht, es
+muss gewiss nicht gestraft werden, es war nur so schrecklich eilig,
+fortzukommen, und riss den Teppich mit, und so fiel alles
+hintereinander auf den Boden. Es fuhren viele Wagen hintereinander
+vorbei, darum ist es so fortgeschossen; es hat vielleicht noch nie
+eine Kutsche gesehen."
+</p>
+
+<p>
+"Da, ist's nicht, wie ich sagte, Herr Kandidat? Nicht _einen_
+Urbegriff hat das Wesen! Keine Ahnung davon, was eine
+Unterrichtsstunde ist, dass man dabei zuzuhören und still zu sitzen
+hat. Aber wo ist das Unheil bringende Ding hin? Wenn es
+fortgelaufen wäre! Was würde mir Herr Sesemann--"
+</p>
+
+<p>
+Fräulein Rottenmeier lief hinaus und die Treppe hinunter. Hier,
+unter der geöffneten Haustür, stand Heidi und guckte ganz verblüfft
+die Straße auf und ab.
+</p>
+
+<p>
+"Was ist denn? Was fällt dir denn ein? Wie kannst du so
+davonlaufen!", fuhr Fräulein Rottenmeier das Kind an.
+</p>
+
+<p>
+"Ich habe die Tannen rauschen gehört, aber ich weiß nicht, wo sie
+stehen, und höre sie nicht mehr", antwortete Heidi und schaute
+enttäuscht nach der Seite hin, wo das Rollen der Wagen verhallt war,
+das in Heidis Ohren dem Tosen des Föhns in den Tannen ähnlich
+geklungen hatte, so dass es in höchster Freude dem Ton nachgerannt
+war.
+</p>
+
+<p>
+"Tannen! Sind wir im Wald? Was sind das für Einfälle! Komm
+herauf und sieh, was du angerichtet hast!" Damit stieg Fräulein
+Rottenmeier wieder die Treppe hinan; Heidi folgte ihr und stand nun
+sehr verwundert vor der großen Verheerung, denn es hatte nicht
+gemerkt, was es alles mitriss vor Freude und Eile, die Tannen zu
+hören.
+</p>
+
+<p>
+"Das hast du einmal getan, ein zweites Mal tust du's nicht wieder",
+sagte Fräulein Rottenmeier, auf den Boden zeigend; "zum Lernen
+sitzt man still auf seinem Sessel und gibt Acht. Kannst du das
+nicht selbst fertig bringen, so muss ich dich an deinen Stuhl
+festbinden. Kannst du das verstehen?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja", entgegnete Heidi, "aber ich will schon festsitzen." Denn
+jetzt hatte es begriffen, dass es eine Regel ist, in einer
+Unterrichtsstunde still zu sitzen.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt mussten Sebastian und Tinette hereinkommen, um die Ordnung
+wiederherzustellen. Der Herr Kandidat entfernte sich, denn der
+weitere Unterricht musste nun aufgegeben werden. Zum Gähnen war
+heute gar keine Zeit gewesen.
+</p>
+
+<p>
+Am Nachmittag musste Klara immer eine Zeit lang ruhen und Heidi
+hatte alsdann seine Beschäftigung selbst zu wählen; so hatte
+Fräulein Rottenmeier ihm am Morgen erklärt. Als nun nach Tisch
+Klara sich in ihrem Sessel zur Ruhe gelegt hatte, ging Fräulein
+Rottenmeier nach ihrem Zimmer, und Heidi sah, dass nun die Zeit da
+war, da es seine Beschäftigung selbst wählen konnte. Das war dem
+Heidi sehr erwünscht, denn es hatte schon immer im Sinn, etwas zu
+unternehmen; es musste aber Hilfe dazu haben und stellte sich darum
+vor das Esszimmer mitten auf den Korridor, damit die Persönlichkeit,
+die es zu beraten gedachte, ihm nicht entgehen könne. Richtig,
+nach kurzer Zeit kam Sebastian die Treppe herauf mit dem großen
+Teebrett auf den Armen, denn er brachte das Silberzeug aus der
+Küche herauf, um es im Schrank des Esszimmers zu verwahren. Als er
+auf der letzten Stufe der Treppe angekommen war, trat Heidi vor ihn
+hin und sagte mit großer Deutlichkeit: "Sie oder Er!"
+</p>
+
+<p>
+Sebastian riss die Augen so weit auf, als es nur möglich war, und
+sagte ziemlich barsch: "Was soll das heißen, Mamsell?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich möchte nur gern etwas fragen, aber es ist gewiss nichts Böses
+wie heute Morgen", fügte Heidi beschwichtigend hinzu, denn es
+merkte, dass Sebastian ein wenig erbittert war, und dachte, es
+komme noch von der Tinte am Boden her.
+</p>
+
+<p>
+"So, und warum muss es denn heißen Sie oder Er, das möcht ich
+zuerst wissen", gab Sebastian im gleichen barschen Ton zurück.
+</p>
+
+<p>
+"Ja, so muss ich jetzt immer sagen", versicherte Heidi; "Fräulein
+Rottenmeier hat es befohlen."
+</p>
+
+<p>
+Jetzt lachte Sebastian so laut auf, dass Heidi ihn ganz verwundert
+ansehen musste, denn es hatte nichts Lustiges bemerkt; aber
+Sebastian hatte auf einmal begriffen, was Fräulein Rottenmeier
+befohlen hatte, und sagte nun sehr erlustigt: "Schon recht, so
+fahre die Mamsell nur zu."
+</p>
+
+<p>
+"Ich heiße gar nicht Mamsell", sagte nun Heidi seinerseits ein
+wenig geärgert; "ich heiße Heidi."
+</p>
+
+<p>
+"Ist schon recht; die gleiche Dame hat aber befohlen, dass ich
+Mamsell sage", erklärte Sebastian.
+</p>
+
+<p>
+"Hat sie? Ja, dann muss ich schon so heißen", sagte Heidi mit
+Ergebung, denn es hatte wohl gemerkt, dass alles so geschehen
+musste, wie Fräulein Rottenmeier befahl.
+</p>
+
+<p>
+"Jetzt habe ich schon drei Namen", setzte es mit einem Seufzer
+hinzu.
+</p>
+
+<p>
+"Was wollte die kleine Mamsell denn fragen?", fragte Sebastian
+jetzt, indem er, ins Esszimmer eingetreten, sein Silberzeug im
+Schrank zurechtlegte.
+</p>
+
+<p>
+"Wie kann man ein Fenster aufmachen, Sebastian?"
+</p>
+
+<p>
+"So, gerade so", und er machte den großen Fensterflügel auf.
+</p>
+
+<p>
+Heidi trat heran, aber es war zu klein, um etwas sehen zu können;
+es langte nur bis zum Gesims hinauf.
+</p>
+
+<p>
+"Da, so kann das Mamsellchen einmal hinausgucken und sehen, was
+unten ist", sagte Sebastian, indem er einen hohen hölzernen Schemel
+herbeigeholt hatte und hinstellte. Hoch erfreut stieg Heidi hinauf
+und konnte endlich den ersehnten Blick durch das Fenster tun. Aber
+mit dem Ausdruck der größten Enttäuschung zog es sogleich den Kopf
+wieder zurück.
+</p>
+
+<p>
+"Man sieht nur die steinerne Straße hier, sonst gar nichts", sagte
+das Kind bedauerlich; "aber wenn man um das ganze Haus herumgeht,
+was sieht man dann auf der anderen Seite, Sebastian?"
+</p>
+
+<p>
+"Gerade dasselbe", gab dieser zur Antwort.
+</p>
+
+<p>
+"Aber wohin kann man denn gehen, dass man weit, weit hinuntersehen
+kann über das ganze Tal hinab?"
+</p>
+
+<p>
+"Da muss man auf einen hohen Turm hinaufsteigen, einen Kirchturm,
+so einen, wie der dort ist mit der goldenen Kugel oben drauf. Da
+guckt man von oben herunter und sieht weit über alles weg."
+</p>
+
+<p>
+Jetzt stieg Heidi eilig von seinem Schemel herunter, rannte zur Tür
+hinaus, die Treppe hinunter und trat auf die Straße hinaus. Aber
+die Sache ging nicht, wie Heidi sich vorgestellt hatte. Als es aus
+dem Fenster den Turm gesehen hatte, kam es ihm vor, es könne nur
+über die Straße gehen, so müsste er gleich vor ihm stehen. Nun
+ging Heidi die ganze Straße hinunter, aber es kam nicht an den Turm,
+konnte ihn auch nirgends mehr entdecken und kam nun in eine andere
+Straße hinein und weiter und weiter, aber immer noch sah es den
+Turm nicht. Es gingen viele Leute an ihm vorbei, aber die waren
+alle so eilig, dass Heidi dachte, sie hätten nicht Zeit, ihm
+Bescheid zu geben. Jetzt sah es an der nächsten Straßenecke einen
+Jungen stehen, der eine kleine Drehorgel auf dem Rücken und ein
+ganz kurioses Tier auf dem Arme trug. Heidi lief zu ihm hin und
+fragte: "Wo ist der Turm mit der goldenen Kugel zuoberst?"
+</p>
+
+<p>
+"Weiß nicht", war die Antwort.
+</p>
+
+<p>
+"Wen kann ich denn fragen, wo er sei?", fragte Heidi weiter.
+</p>
+
+<p>
+"Weiß nicht."
+</p>
+
+<p>
+"Weißt du keine andere Kirche mit einem hohen Turm?"
+</p>
+
+<p>
+"Freilich weiß ich eine."
+</p>
+
+<p>
+"So komm und zeige mir sie."
+</p>
+
+<p>
+"Zeig du zuerst, was du mir dafür gibst." Der Junge hielt seine
+Hand hin. Heidi suchte in seiner Tasche herum. Jetzt zog es ein
+Bildchen hervor, darauf ein schönes Kränzchen von roten Rosen
+gemalt war; erst sah es noch eine kleine Weile darauf hin, denn es
+reute Heidi ein wenig. Erst heute Morgen hatte Klara es ihm
+geschenkt; aber hinuntersehen ins Tal, über die grünen Abhänge!
+"Da", sagte Heidi und hielt das Bildchen hin, "willst du das?"
+</p>
+
+<p>
+Der Junge zog die Hand zurück und schüttelte den Kopf.
+</p>
+
+<p>
+"Was willst du denn?", fragte Heidi und steckte vergnügt sein
+Bildchen wieder ein.
+</p>
+
+<p>
+"Geld."
+</p>
+
+<p>
+"Ich habe keins, aber Klara hat, sie gibt mir dann schon; wie viel
+willst du?"
+</p>
+
+<p>
+"Zwanzig Pfennige."
+</p>
+
+<p>
+"So komm jetzt."
+</p>
+
+<p>
+Nun wanderten die beiden eine lange Straße hin, und auf dem Wege
+fragte Heidi den Begleiter, was er auf dem Rücken trage, und er
+erklärte ihm, es sei eine schöne Orgel unter dem Tuch, die mache
+eine prachtvolle Musik, wenn er daran drehe.
+</p>
+
+<p>
+Auf einmal standen sie vor einer alten Kirche mit hohem Turm; der
+Junge stand still und sagte: "Da."
+</p>
+
+<p>
+"Aber wie komm ich da hinein?", fragte Heidi, als es die fest
+verschlossenen Türen sah.
+</p>
+
+<p>
+"Weiß nicht", war wieder die Antwort.
+</p>
+
+<p>
+"Glaubst du, man könne hier klingeln, so wie man dem Sebastian tut?"
+</p>
+
+<p>
+"Weiß nicht."
+</p>
+
+<p>
+Heidi hatte eine Klingel entdeckt an der Mauer und zog jetzt aus
+allen Kräften daran.
+</p>
+
+<p>
+"Wenn ich dann hinaufgehe, so musst du warten hier unten, ich weiß
+jetzt den Weg nicht mehr zurück, du musst mir ihn dann zeigen."
+</p>
+
+<p>
+"Was gibst du mir dann?"
+</p>
+
+<p>
+"Was muss ich dir dann wieder geben?"
+</p>
+
+<p>
+"Wieder zwanzig Pfennige."
+</p>
+
+<p>
+Jetzt wurde das alte Schloss inwendig umgedreht und die knarrende
+Tür geöffnet; ein alter Mann trat heraus und schaute erst
+verwundert, dann ziemlich erzürnt auf die Kinder und fuhr sie an:
+"Was untersteht ihr euch, mich da herunterzuklingeln? Könnt ihr
+nicht lesen, was über der Klingel steht: 'Für solche, die den
+Turm besteigen wollen'?"
+</p>
+
+<p>
+Der Junge wies mit dem Zeigefinger auf Heidi und sagte kein Wort.
+Heidi antwortete: "Eben auf den Turm wollt ich."
+</p>
+
+<p>
+"Was hast du droben zu tun?", fragte der Türmer; "hat dich jemand
+geschickt?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein", entgegnete Heidi, "ich möchte nur hinaufgehen, dass ich
+hinuntersehen kann."
+</p>
+
+<p>
+"Macht, dass ihr heimkommt, und probiert den Spaß nicht wieder,
+oder ihr kommt nicht gut weg zum zweiten Mal!" Damit kehrte sich
+der Türmer um und wollte die Tür zumachen.
+</p>
+
+<p>
+Aber Heidi hielt ihn ein wenig am Rockschoß und sagte bittend: "Nur
+ein einziges Mal!"
+</p>
+
+<p>
+Er sah sich um, und Heidis Augen schauten so flehentlich zu ihm auf,
+dass es ihn ganz umstimmte; er nahm das Kind bei der Hand und
+sagte freundlich: "Wenn dir so viel daran gelegen ist, so komm mit
+mir!"
+</p>
+
+<p>
+Der Junge setzte sich auf die steinernen Stufen vor der Tür nieder
+und zeigte, dass er nicht mitwollte.
+</p>
+
+<p>
+Heidi stieg an der Hand des Türmers viele, viele Treppen hinauf;
+dann wurden diese immer schmäler, und endlich ging es noch ein ganz
+enges Treppchen hinauf, und nun waren sie oben. Der Türmer hob
+Heidi vom Boden auf und hielt es an das offene Fenster.
+</p>
+
+<p>
+"Da, jetzt guck hinunter", sagte er.
+</p>
+
+<p>
+Heidi sah auf ein Meer von Dächern, Türmen und Schornsteinen nieder;
+es zog bald seinen Kopf zurück und sagte niedergeschlagen: "Es ist
+gar nicht, wie ich gemeint habe."
+</p>
+
+<p>
+"Siehst du wohl? Was versteht so ein Kleines von Aussicht! So,
+komm nun wieder herunter und läute nie mehr an einem Turm!"
+</p>
+
+<p>
+Der Türmer stellte Heidi wieder auf den Boden und stieg ihm voran
+die schmalen Stufen hinab. Wo diese breiter wurden, kam links die
+Tür, die in des Türmers Stübchen führte, und nebenan ging der Boden
+bis unter das schräge Dach hin. Dort hinten stand ein großer Korb
+und davor saß eine dicke graue Katze und knurrte, denn in dem Korb
+wohnte ihre Familie und sie wollte jeden Vorübergehenden davor
+warnen, sich in ihre Familienangelegenheiten zu mischen. Heidi
+stand still und schaute verwundert hinüber, eine so mächtige Katze
+hatte es noch nie gesehen; in dem alten Turm wohnten aber ganze
+Herden von Mäusen, so holte sich die Katze ohne Mühe jeden Tag ein
+halbes Dutzend Mäusebraten. Der Türmer sah Heidis Bewunderung und
+sagte: "Komm, sie tut dir nichts, wenn ich dabei bin; du kannst die
+Jungen ansehen."
+</p>
+
+<p>
+Heidi trat an den Korb heran und brach in ein großes Entzücken aus.
+</p>
+
+<p>
+"Oh, die netten Tierlein! Die schönen Kätzchen!", rief es ein Mal
+ums andere und sprang hin und her um den Korb herum, um auch recht
+alle komischen Gebärden und Sprünge zu sehen, welche die sieben
+oder acht jungen Kätzchen vollführten, die in dem Korb rastlos
+übereinanderhin krabbelten, sprangen, fielen.
+</p>
+
+<p>
+"Willst du eins haben?", fragte der Türmer, der Heidis
+Freudensprüngen vergnügt zuschaute.
+</p>
+
+<p>
+"Selbst für mich? Für immer?", fragte Heidi gespannt und konnte
+das große Glück fast nicht glauben.
+</p>
+
+<p>
+"Ja, gewiss, du kannst auch noch mehr haben, du kannst sie alle
+zusammen haben, wenn du Platz hast", sagte der Mann, dem es gerade
+recht war, seine kleinen Katzen loszuwerden, ohne dass er ihnen ein
+Leid antun musste.
+</p>
+
+<p>
+Heidi war im höchsten Glück. In dem großen Hause hatten ja die
+Kätzchen so viel Platz, und wie musste Klara erstaunt und erfreut
+sein, wenn die niedlichen Tierchen ankamen!
+</p>
+
+<p>
+"Aber wie kann ich sie mitnehmen?", fragte nun Heidi und wollte
+schnell einige fangen mit seinen Händen, aber die dicke Katze
+sprang ihm auf den Arm und fauchte es so grimmig an, dass es sehr
+erschrocken zurückfuhr.
+</p>
+
+<p>
+"Ich will sie dir bringen, sag nur, wohin", sagte der Türmer, der
+die alte Katze nun streichelte, um sie wieder gut zu machen, denn
+sie war seine Freundin und hatte schon viele Jahre mit ihm auf dem
+Turm gelebt.
+</p>
+
+<p>
+"Zum Herrn Sesemann in dem großen Haus, wo an der Haustür ein
+goldener Hundskopf ist mit einem dicken Ring im Maul", erklärte
+Heidi.
+</p>
+
+<p>
+Es hätte nicht einmal so viel gebraucht für den Türmer, der schon
+seit langen Jahren auf dem Turm saß und jedes Haus weithin kannte,
+und dazu war der Sebastian noch ein alter Bekannter von ihm.
+</p>
+
+<p>
+"Ich weiß schon", bemerkte er; "aber wem muss ich die Dinger
+bringen, bei wem muss ich nachfragen, du gehörst doch nicht Herrn
+Sesemann?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, aber die Klara, sie hat eine so große Freude, wenn die
+Kätzchen kommen!"
+</p>
+
+<p>
+Der Türmer wollte nun weitergehen, aber Heidi konnte sich von dem
+unterhaltenden Schauspiel fast nicht trennen.
+</p>
+
+<p>
+"Wenn ich nur schon eins oder zwei mitnehmen könnte! Eins für mich
+und eins für Klara, kann ich nicht?"
+</p>
+
+<p>
+"So wart ein wenig", sagte der Türmer, trug dann die alte Katze
+behutsam in sein Stübchen hinein und stellte sie an das
+Essschüsselchen hin, schloss die Tür vor ihr zu und kam zurück: "So,
+nun nimm zwei!"
+</p>
+
+<p>
+Heidis Augen leuchteten vor Wonne. Es las ein weißes und dann ein
+gelb und weiß gestreiftes aus und steckte eins in die rechte und
+eins in die linke Tasche. Nun ging's die Treppe hinunter.
+</p>
+
+<p>
+Der Junge saß noch auf den Stufen draußen, und als nun der Türmer
+hinter Heidi die Tür zugeschlossen hatte, sagte das Kind: "Welchen
+Weg müssen wir nun zu Herrn Sesemanns Haus?"
+</p>
+
+<p>
+"Weiß nicht", war die Antwort.
+</p>
+
+<p>
+Heidi fing nun an zu beschreiben, was es wusste, die Haustür und
+die Fenster und die Treppen, aber der Junge schüttelte zu allem den
+Kopf, es war ihm alles unbekannt.
+</p>
+
+<p>
+"Siehst du", fuhr dann Heidi im Beschreiben fort, "aus einem
+Fenster sieht man ein großes, großes, graues Haus und das Dach geht
+so"--Heidi zeichnete hier mit dem Zeigefinger große Zacken in die
+Luft hinaus.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt sprang der Junge auf, er mochte ähnliche Merkmale haben,
+seine Wege zu finden. Er lief nun in einem Zug drauflos und Heidi
+hinter ihm drein, und in kurzer Zeit standen sie richtig vor der
+Haustür mit dem großen Messing-Tierkopf. Heidi zog die Glocke.
+Bald erschien Sebastian, und wie er Heidi erblickte, rief er
+drängend: "Schnell! Schnell!"
+</p>
+
+<p>
+Heidi sprang eilig herein, und Sebastian schlug die Tür zu; den
+Jungen, der verblüfft draußen stand, hatte er gar nicht bemerkt.
+</p>
+
+<p>
+"Schnell, Mamsellchen", drängte Sebastian weiter, "gleich ins
+Esszimmer hinein, sie sitzen schon am Tisch. Fräulein Rottenmeier
+sieht aus wie eine geladene Kanone; was stellt aber auch die kleine
+Mamsell an, so fortzulaufen?"
+</p>
+
+<p>
+Heidi war ins Zimmer getreten. Fräulein Rottenmeier blickte nicht
+auf; Klara sagte auch nichts, es war eine etwas unheimliche Stille.
+Sebastian rückte Heidi den Sessel zurecht. Jetzt, wie es auf
+seinem Stuhl saß, begann Fräulein Rottenmeier mit strengem Gesicht
+und einem ganz feierlich-ernsten Ton: "Adelheid, ich werde nachher
+mit dir sprechen, jetzt nur so viel: Du hast dich sehr ungezogen,
+wirklich strafbar benommen, dass du das Haus verlässt, ohne zu
+fragen, ohne dass jemand ein Wort davon wusste, und herumstreichst
+bis zum späten Abend; es ist eine völlig beispiellose Aufführung."
+</p>
+
+<p>
+"Miau", tönte es wie als Antwort zurück.
+</p>
+
+<p>
+Aber jetzt stieg der Zorn der Dame. "Wie, Adelheid", rief sie in
+immer höheren Tönen, "du unterstehst dich noch, nach aller
+Ungezogenheit einen schlechten Spaß zu machen? Hüte dich wohl, sag
+ich dir!"
+</p>
+
+<p>
+"Ich mache", fing Heidi an--"Miau! Miau!"
+</p>
+
+<p>
+Sebastian warf fast seine Schüssel auf den Tisch und stürzte hinaus.
+</p>
+
+<p>
+"Es ist genug", wollte Fräulein Rottenmeier rufen; aber vor
+Aufregung tönte ihre Stimme gar nicht mehr. "Steh auf und verlass
+das Zimmer."
+</p>
+
+<p>
+Heidi stand erschrocken von seinem Sessel auf und wollte noch
+einmal erklären: "Ich mache gewiss"--"Miau! Miau! Miau!"
+</p>
+
+<p>
+"Aber Heidi", sagte jetzt Klara, "wenn du doch siehst, dass du
+Fräulein Rottenmeier so böse machst, warum machst du immer wieder
+'miau'?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich mache nicht, die Kätzlein machen", konnte Heidi endlich
+ungestört hervorbringen.
+</p>
+
+<p>
+"Wie? Was? Katzen? junge Katzen?", schrie Fräulein Rottenmeier
+auf. "Sebastian! Tinette! Sucht die greulichen Tiere! Schafft
+sie fort!" Damit stürzte die Dame ins Studierzimmer hinein und
+riegelte die Türen zu, um sicherer zu sein, denn junge Katzen waren
+für Fräulein Rottenmeier das Schrecklichste in der Schöpfung.
+Sebastian stand draußen vor der Tür und musste erst fertig lachen,
+eh er wieder eintreten konnte. Er hatte, als er Heidi bediente,
+einen kleinen Katzenkopf aus dessen Tasche herausgucken gesehen und
+sah dem Spektakel entgegen, und wie er nun ausbrach, konnte er sich
+nicht mehr halten, kaum noch seine Schüssel auf den Tisch setzen.
+Endlich trat er denn wieder gefasst ins Zimmer herein, nachdem die
+Hilferufe der geängsteten Dame schon längere Zeit verklungen waren.
+Jetzt sah es ganz still und friedlich aus drinnen; Klara hielt die
+Kätzchen auf ihrem Schoß, Heidi kniete neben ihr und beide spielten
+mit großer Wonne mit den zwei winzigen, graziösen Tierchen.
+</p>
+
+<p>
+"Sebastian", sagte Klara zu dem Eintretenden, "Sie müssen uns
+helfen; Sie müssen ein Nest finden für die Kätzchen, wo Fräulein
+Rottenmeier sie nicht sieht, denn sie fürchtet sich vor ihnen und
+will sie forthaben; aber wir wollen die niedlichen Tierchen
+behalten und sie immer hervorholen, sobald wir allein sind. Wo
+kann man sie hintun?"
+</p>
+
+<p>
+"Das will ich schon besorgen, Fräulein Klara", entgegnete Sebastian
+bereitwillig; "ich mache ein schönes Bettchen in einem Korb und
+stelle den an einen Ort, wo mir die furchtsame Dame nicht dahinter
+kommt, verlassen Sie sich auf mich." Sebastian ging gleich an die
+Arbeit und kicherte beständig vor sich hin, denn er dachte: "Das
+wird noch was absetzen!", und der Sebastian sah es nicht ungern,
+wenn Fräulein Rottenmeier ein wenig in Aufregung geriet.
+</p>
+
+<p>
+Nach längerer Zeit erst, als der Augenblick des Schlafengehens
+nahte, machte Fräulein Rottenmeier ein ganz klein wenig die Tür auf
+und rief durch das Spältchen heraus: "Sind die abscheulichen Tiere
+fortgeschafft?"
+</p>
+
+<p>
+"Jawohl! Jawohl!", gab Sebastian zurück, der sich im Zimmer zu
+schaffen gemacht hatte in Erwartung dieser Frage. Schnell und
+leise fasste er die beiden Kätzchen auf Klaras Schoß und verschwand
+damit.
+</p>
+
+<p>
+Die besondere Strafrede, die Fräulein Rottenmeier Heidi noch zu
+halten gedachte, verschob sie auf den folgenden Tag, denn heute
+fühlte sie sich zu erschöpft nach all den vorhergegangenen
+Gemütsbewegungen von Ärger, Zorn und Schrecken, die ihr Heidi ganz
+unwissentlich nacheinander verursacht hatte. Sie zog sich
+schweigend zurück, und Klara und Heidi folgten vergnügt nach, denn
+sie wussten ihre Kätzchen in einem guten Bett.
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap08"></a>
+Im Hause Sesemann geht's unruhig zu
+</h3>
+
+<p>
+Als Sebastian am folgenden Morgen dem Herrn Kandidaten die Haustür
+geöffnet und ihn zum Studierzimmer geführt hatte, zog schon wieder
+jemand die Hausglocke an, aber mit solcher Gewalt, dass Sebastian
+die Treppe völlig hinunterschoss, denn er dachte: "So schellt nur
+der Herr Sesemann selbst, er muss unerwartet nach Hause gekommen
+sein." Er riss die Tür auf--ein zerlumpter Junge mit einer
+Drehorgel auf dem Rücken stand vor ihm.
+</p>
+
+<p>
+"Was soll das heißen?", fuhr ihn Sebastian an. "Ich will dich
+lehren, Glocken herunterzureißen! Was hast du hier zu tun?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich muss zur Klara", war die Antwort.
+</p>
+
+<p>
+"Du ungewaschener Straßenkäfer du; kannst du nicht sagen
+'Fräulein Klara', wie unsereins tut? Was hast du bei Fräulein
+Klara zu tun?", fragte Sebastian barsch.
+</p>
+
+<p>
+"Sie ist mir vierzig Pfennige schuldig", erklärte der Junge.
+</p>
+
+<p>
+"Du bist, denk ich, nicht recht im Kopf! Wie weißt du überhaupt,
+dass ein Fräulein Klara hier ist?"
+</p>
+
+<p>
+"Gestern habe ich ihr den Weg gezeigt, macht zwanzig, und dann
+wieder zurück den Weg gezeigt, macht vierzig."
+</p>
+
+<p>
+"Da siehst du, was für Zeug du zusammenflunkerst; Fräulein Klara
+geht niemals aus, kann gar nicht gehen, mach, dass du dahin kommst,
+wo du hingehörst, bevor ich dir dazu verhelfe!"
+</p>
+
+<p>
+Aber der Junge ließ sich nicht einschüchtern; er blieb unbeweglich
+stehen und sagte trocken: "Ich habe sie doch gesehen auf der Straße,
+ich kann sie beschreiben: Sie hat kurzes, krauses Haar, das ist
+schwarz, und die Augen sind schwarz und der Rock ist braun, und sie
+kann nicht reden wie wir."
+</p>
+
+<p>
+"Oho", dachte jetzt Sebastian und kicherte in sich hinein, "das ist
+die kleine Mamsell, die hat wieder etwas angestellt." Dann sagte er,
+den Jungen hereinziehend: "'s ist schon recht, komm mir nur nach
+und warte vor der Tür, bis ich wieder herauskomme. Wenn ich dich
+dann einlasse, kannst du gleich etwas spielen; das Fräulein hört es
+gern."
+</p>
+
+<p>
+Oben klopfte er am Studierzimmer und wurde hereingerufen.
+</p>
+
+<p>
+"Es ist ein Junge da, der durchaus an Fräulein Klara selbst etwas
+zu bestellen hat", berichtete Sebastian.
+</p>
+
+<p>
+Klara war sehr erfreut über das außergewöhnliche Ereignis.
+</p>
+
+<p>
+"Er soll nur gleich hereinkommen", sagte sie, "nicht wahr, Herr
+Kandidat, wenn er doch mit mir selbst sprechen muss."
+</p>
+
+<p>
+Der Junge war schon eingetreten, und nach Anweisung fing er sofort
+seine Orgel zu drehen an. Fräulein Rottenmeier hatte, um dem Abc
+auszuweichen, sich im Esszimmer allerlei zu schaffen gemacht. Auf
+einmal horchte sie auf.--Kamen die Töne von der Straße her? Aber
+so nahe? Wie konnte vom Studierzimmer her eine Drehorgel ertönen?
+Und dennoch--wahrhaftig--sie stürzte durch das lange Esszimmer
+und riss die Tür auf. Da--unglaublich--da stand mitten im
+Studierzimmer ein zerlumpter Orgelspieler und drehte sein
+Instrument mit größter Emsigkeit. Der Herr Kandidat schien
+immerfort etwas sagen zu wollen, aber es wurde nichts vernommen.
+Klara und Heidi hörten mit ganz erfreuten Gesichtern der Musik zu.
+</p>
+
+<p>
+"Aufhören! Sofort aufhören!", rief Fräulein Rottenmeier ins Zimmer
+hinein. Ihre Stimme wurde übertönt von der Musik. Jetzt lief sie
+auf den Jungen zu--aber auf einmal hatte sie etwas zwischen den
+Füßen, sie sah auf den Boden: ein grausiges, schwarzes Tier kroch
+ihr zwischen den Füßen durch--eine Schildkröte. Jetzt tat
+Fräulein Rottenmeier einen Sprung in die Höhe, wie sie seit vielen
+Jahren keinen getan hatte, dann schrie sie aus Leibeskräften:
+"Sebastian! Sebastian!"
+</p>
+
+<p>
+Plötzlich hielt der Orgelspieler inne, denn diesmal hatte die
+Stimme die Musik übertönt. Sebastian stand draußen vor der halb
+offenen Tür und krümmte sich vor Lachen, denn er hatte zugesehen,
+wie der Sprung vor sich ging. Endlich kam er herein. Fräulein
+Rottenmeier war auf einen Stuhl niedergesunken.
+</p>
+
+<p>
+"Fort mit allem, Mensch und Tier! Schaffen Sie sie weg, Sebastian,
+sofort!", rief sie ihm entgegen. Sebastian gehorchte bereitwillig,
+zog den Jungen hinaus, der schnell seine Schildkröte erfasst hatte,
+drückte ihm draußen etwas in die Hand und sagte: "Vierzig für
+Fräulein Klara, und vierzig fürs Spielen, das hast du gut gemacht";
+damit schloss er hinter ihm die Haustür. Im Studierzimmer war es
+wieder ruhig geworden; die Studien wurden wieder fortgesetzt, und
+Fräulein Rottenmeier hatte sich nun auch festgesetzt in dem Zimmer,
+um durch ihre Gegenwart ähnliche Gräuel zu verhüten. Den Vorfall
+wollte sie nach den Unterrichtsstunden untersuchen und den
+Schuldigen so bestrafen, dass er daran denken würde.
+</p>
+
+<p>
+Schon wieder klopfte es an die Tür, und herein trat abermals
+Sebastian mit der Nachricht, es sei ein großer Korb gebracht worden,
+der sogleich an Fräulein Klara selbst abzugeben sei.
+</p>
+
+<p>
+"An mich?", fragte Klara erstaunt und äußerst neugierig, was das
+sein möchte; "zeigen Sie doch gleich einmal her, wie er aussieht."
+</p>
+
+<p>
+Sebastian brachte einen bedeckten Korb herein und entfernte sich
+dann eilig wieder.
+</p>
+
+<p>
+"Ich denke, erst wird der Unterricht beendet, dann der Korb
+ausgepackt", bemerkte Fräulein Rottenmeier.
+</p>
+
+<p>
+Klara konnte sich nicht vorstellen, was man ihr gebracht hatte; sie
+schaute sehr verlangend nach dem Korb.
+</p>
+
+<p>
+"Herr Kandidat", sagte sie, sich selbst in ihrem Deklinieren
+unterbrechend, "könnte ich nicht nur einmal schnell hineinsehen, um
+zu wissen, was drin ist, und dann gleich wieder fortfahren?"
+</p>
+
+<p>
+"In einer Hinsicht könnte man dafür, in einer anderen dawider sein",
+entgegnete der Herr Kandidat; "_dafür_ spräche der Grund, dass,
+wenn nun Ihre ganze Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand gerichtet
+ist--"; die Rede konnte nicht beendigt werden. Der Deckel des
+Korbes saß nur lose darauf, und nun sprangen mit einem Mal ein,
+zwei drei und wieder zwei und immer noch mehr junge Kätzchen
+darunter hervor und ins Zimmer hinaus, und mit einer so
+unbegreiflichen Schnelligkeit fuhren sie überall herum, dass es war,
+als wäre das ganze Zimmer voll solcher Tierchen. Sie sprangen
+über die Stiefel des Herrn Kandidaten, bissen an seinen
+Beinkleidern, kletterten am Kleid von Fräulein Rottenmeier empor,
+krabbelten um ihre Füße herum, sprangen an Klaras Sessel hinauf,
+kratzten, krabbelten, miauten; es war ein arges Gewirre. Klara
+rief immerfort voller Entzücken: "Oh, die niedlichen Tierchen! Die
+lustigen Sprünge! Sieh! Sieh! Heidi, hier, dort, sieh dieses!"
+Heidi schoss ihnen vor Freude in alle Winkel nach. Der Herr
+Kandidat stand sehr verlegen am Tisch und zog bald den einen, bald
+den andern Fuß in die Höhe, um ihn dem unheimlichen Gekrabbel zu
+entziehen. Fräulein Rottenmeier saß erst sprachlos vor Entsetzen
+in ihrem Sessel, dann fing sie an aus Leibeskräften zu schreien:
+"Tinette! Tinette! Sebastian! Sebastian!", denn vom Sessel
+aufzustehen konnte sie unmöglich wagen, da konnten ja mit einem Mal
+alle die kleinen Scheusale an ihr emporspringen.
+</p>
+
+<p>
+Endlich kamen Sebastian und Tinette auf die wiederholten Hilferufe
+herbei, und jener packte gleich eins nach dem andern der kleinen
+Geschöpfe in den Korb hinein und trug sie auf den Estrich zu dem
+Katzenlager, das er für die zwei von gestern bereitet hatte.
+</p>
+
+<p>
+Auch am heutigen Tage hatte kein Gähnen während der
+Unterrichtsstunden stattgefunden. Am späten Abend, als Fräulein
+Rottenmeier sich von den Aufregungen des Morgens wieder hinlänglich
+erholt hatte, berief sie Sebastian und Tinette ins Studierzimmer
+herauf, um hier eine gründliche Untersuchung über die strafwürdigen
+Vorgänge anzustellen. Nun kam es denn heraus, dass Heidi auf
+seinem gestrigen Ausflug die sämtlichen Ereignisse vorbereitet und
+herbeigeführt hatte. Fräulein Rottenmeier saß weiß vor Entrüstung
+da und konnte erst keine Worte für ihre Empfindungen finden. Sie
+winkte mit der Hand, dass Sebastian und Tinette sich entfernen
+sollten. Jetzt wandte sie sich an Heidi, das neben Klaras Sessel
+stand und nicht recht begriff, was es verbrochen hatte.
+</p>
+
+<p>
+"Adelheid", begann sie mit strengem Ton, "ich weiß nur _eine_
+Strafe, die dir empfindlich sein könnte, denn du bist eine Barbarin;
+aber wir wollen sehen, ob du unten im dunklen Keller bei Molchen
+und Ratten nicht zahm wirst, dass du dir keine solchen Dinge mehr
+einfallen lässt."
+</p>
+
+<p>
+Heidi hörte still und verwundert sein Urteil an, denn in einem
+schreckhaften Keller war es noch nie gewesen, der anstoßende Raum
+in der Almhütte, den der Großvater Keller nannte, wo immer die
+fertigen Käse lagen und die frische Milch stand, war eher ein
+anmutiger und einladender Ort, und Ratten und Molche hatte es noch
+keine gesehen.
+</p>
+
+<p>
+Aber Klara erhob einen lauten Jammer: "Nein, nein, Fräulein
+Rottenmeier, man muss warten, bis der Papa da ist; er hat ja
+geschrieben, er komme nun bald, und dann will ich ihm alles
+erzählen, und er sagt dann schon, was mit Heidi geschehen soll."
+</p>
+
+<p>
+Gegen diesen Oberrichter durfte Fräulein Rottenmeier nichts
+einwenden, umso weniger, da er wirklich in Bälde zu erwarten war.
+Sie stand auf und sagte etwas grimmig: "Gut, Klara, aber auch ich
+werde ein Wort mit Herrn Sesemann sprechen." Damit verließ sie das
+Zimmer.
+</p>
+
+<p>
+Es verflossen nun ein paar ungestörte Tage, aber Fräulein
+Rottenmeier kam nicht mehr aus der Aufregung heraus, stündlich trat
+ihr die Täuschung vor Augen, die sie in Heidis Persönlichkeit
+erlebt hatte, und es war ihr, als sei seit seiner Erscheinung im
+Hause Sesemann alles aus den Fugen gekommen und komme nicht wieder
+hinein. Klara war sehr vergnügt; sie langweilte sich nie mehr,
+denn in den Unterrichtsstunden machte Heidi die kurzweiligsten
+Sachen; die Buchstaben machte es immer alle durcheinander und
+konnte sie nie kennen lernen, und wenn der Herr Kandidat mitten im
+Erklären und Beschreiben ihrer Formen war, um sie ihm anschaulicher
+zu machen und als Vergleichung etwa von einem Hörnchen oder einem
+Schnabel sprach dabei, rief es auf einmal in aller Freude aus: "Es
+ist eine Geiß!", oder: "Es ist ein Raubvogel!" Denn die
+Beschreibungen weckten in seinem Gehirn allerlei Vorstellungen, nur
+keine Buchstaben. In den späteren Nachmittagsstunden saß Heidi
+wieder bei Klara und erzählte ihr immer wieder von der Alm und dem
+Leben dort, so viel und so lange, bis das Verlangen darnach in ihm
+so brennend wurde, dass es immer zum Schluss versicherte: "Nun muss
+ich gewiss wieder heim! Morgen muss ich gewiss gehen!" Aber Klara
+beschwichtigte immer wieder diese Anfälle und bewies Heidi, dass es
+doch sicher dableiben müsse, bis der Papa komme; dann werde man
+schon sehen, wie es weitergehe. Wenn Heidi alsdann immer wieder
+nachgab und gleich wieder zufrieden war, so half ihm eine fröhliche
+Aussicht dazu, die es im Stillen hatte, dass mit jedem Tage, den es
+noch dablieb, sein Häuflein Brötchen für die Großmutter wieder um
+zwei größer würde, denn mittags und abends lag immer ein schönes
+Weißbrötchen bei seinem Teller; das steckte es gleich ein, denn es
+hätte das Brötchen nie essen können beim Gedanken, dass die
+Großmutter nie eines habe und das harte, schwarze Brot fast nicht
+mehr essen konnte. Nach Tisch saß Heidi jeden Tag ein paar Stunden
+lang ganz allein in seinem Zimmer und regte sich nicht, denn dass
+es in Frankfurt verboten war, nur so hinauszulaufen, wie es auf der
+Alm getan, das hatte es nun begriffen und tat es nie mehr. Mit
+Sebastian drüben im Esszimmer ein Gespräch führen durfte es auch
+nicht, das hatte Fräulein Rottenmeier auch verboten, und mit
+Tinette eine Unterhaltung zu probieren, daran kam ihm kein Sinn; es
+ging ihr immer scheu aus dem Wege, denn sie redete nur in
+höhnischem Ton mit ihm und spöttelte es fortwährend an, und Heidi
+verstand ihre Art ganz gut, und dass sie es nur immer ausspottete.
+So saß Heidi täglich da und hatte alle Zeit, sich auszudenken, wie
+nun die Alm wieder grün war und wie die gelben Blümchen im
+Sonnenschein glitzerten und wie alles leuchtete rings um die Sonne,
+der Schnee und die Berge und das ganze weite Tal, und Heidi konnte
+es manchmal fast nicht mehr aushalten vor Verlangen, wieder dort zu
+sein. Die Base hatte ja auch gesagt, es könne wieder heimgehen,
+wann es wolle. So kam es, dass Heidi eines Tages es nicht mehr
+aushielt; es packte in aller Eile seine Brötchen in das große rote
+Halstuch zusammen, setzte sein Strohhütchen auf und zog aus. Aber
+schon unter der Haustür traf es auf ein großes Reisehindernis, auf
+Fräulein Rottenmeier selbst, die eben von einem Ausgang
+zurückkehrte. Sie stand still und schaute in starrem Erstaunen
+Heidi von oben bis unten an, und ihr Blick blieb vorzüglich auf dem
+gefüllten roten Halstuch haften. Jetzt brach sie los.
+</p>
+
+<p>
+"Was ist das für ein Aufzug? Was heißt das überhaupt? Habe ich
+dir nicht streng verboten, je wieder herumzustreichen? Nun
+probierst du's doch wieder und dazu noch völlig aussehend wie eine
+Landstreicherin."
+</p>
+
+<p>
+"Ich wollte nicht herumstreichen, ich wollte nur heimgehen",
+entgegnete Heidi erschrocken.
+</p>
+
+<p>
+"Wie? Was? Heimgehen? Heimgehen wolltest du?" Fräulein
+Rottenmeier schlug die Hände zusammen vor Aufregung. "Fortlaufen!
+Wenn das Herr Sesemann wüsste! Fortlaufen aus seinem Hause! Mach
+nicht, dass er das je erfährt! Und was ist dir denn nicht recht in
+seinem Hause? Wirst du nicht viel besser behandelt, als du
+verdienst? Fehlt es dir an irgendetwas? Hast du je in deinem
+ganzen Leben eine Wohnung oder einen Tisch oder eine Bedienung
+gehabt, wie du hier hast? Sag!"
+</p>
+
+<p>
+"Nein", entgegnete Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"Das weiß ich wohl!", fuhr die Dame eifrig fort. "Nichts fehlt dir,
+gar nichts, du bist ein ganz unglaublich undankbares Kind, und vor
+lauter Wohlsein weißt du nicht, was du noch alles anstellen willst!"
+</p>
+
+<p>
+Aber jetzt kam dem Heidi alles obenauf, was in ihm war, und brach
+hervor: "Ich will ja nur heim, und wenn ich so lang nicht komme, so
+muss das Schneehöppli immer klagen, und die Großmutter erwartet
+mich, und der Distelfink bekommt die Rute, wenn der Geißenpeter
+keinen Käse bekommt, und hier kann man gar nie sehen, wie die Sonne
+gute Nacht sagt zu den Bergen; und wenn der Raubvogel in Frankfurt
+obenüber fliegen würde, so würde er noch viel lauter krächzen, dass
+so viele Menschen beieinander sitzen und einander bös machen und
+nicht auf den Felsen gehen, wo es einem wohl ist."
+</p>
+
+<p>
+"Barmherzigkeit, das Kind ist übergeschnappt!", rief Fräulein
+Rottenmeier aus und stürzte mit Schrecken die Treppe hinauf, wo sie
+sehr unsanft gegen den Sebastian rannte, der eben hinunter wollte.
+"Holen Sie auf der Stelle das unglückliche Wesen herauf!", rief sie
+ihm zu, indem sie sich den Kopf rieb, denn sie war hart angestoßen.
+</p>
+
+<p>
+"Ja, ja, schon recht, danke schön", gab Sebastian zurück und rieb
+sich den seinen, denn er war noch härter angefahren.
+</p>
+
+<p>
+Heidi stand mit flammenden Augen noch auf derselben Stelle fest und
+zitterte vor innerer Erregung am ganzen Körper.
+</p>
+
+<p>
+"Na, schon wieder was angestellt?", fragte Sebastian lustig; als er
+aber Heidi, das sich nicht rührte, recht ansah, klopfte er ihm
+freundlich auf die Schulter und sagte tröstend: "Pah! Pah! Das
+muss sich das Mamsellchen nicht so zu Herzen nehmen, nur lustig,
+das ist die Hauptsache! Sie hat mir eben jetzt auch fast ein Loch
+in den Kopf gerannt; aber nur nicht einschüchtern lassen! Na?
+Immer noch auf demselben Fleck? Wir müssen hinauf, sie hat's
+befohlen."
+</p>
+
+<p>
+Heidi ging nun die Treppe hinauf, aber langsam und leise und gar
+nicht, wie sonst seine Art war. Das tat dem Sebastian Leid zu
+sehen; er ging hinter dem Heidi her und sprach ermutigende Worte zu
+ihm: "Nur nicht abgeben! Nur nicht traurig werden! Nur immer
+tapfer darauf zu! Wir haben ja ein ganz vernünftiges Mamsellchen,
+hat noch gar nie geweint, seit es bei uns ist; sonst weinen sie ja
+zwölfmal im Tag in dem Alter, das kennt man. Die Kätzchen sind
+auch lustig droben, die springen auf dem ganzen Estrich herum und
+tun wie närrisch. Nachher gehen wir mal zusammen hinauf und
+schauen ihnen zu, wenn die Dame drinnen weg ist, ja?"
+</p>
+
+<p>
+Heidi nickte ein wenig mit dem Kopf, aber so freudlos, dass es dem
+Sebastian recht zu Herzen ging und er ganz teilnehmend dem Heidi
+nachschaute, wie es nach seinem Zimmer hin schlich.
+</p>
+
+<p>
+Am Abendessen heute sagte Fräulein Rottenmeier kein Wort, aber
+fortwährend warf sie sonderbar wachsame Blicke zu Heidi hinüber, so
+als erwartete sie, es könnte plötzlich etwas Unerhörtes unternehmen;
+aber Heidi saß mäuschenstill am Tisch und rührte sich nicht, es aß
+nicht und trank nicht; nur sein Brötchen hatte es schnell in die
+Tasche gesteckt.
+</p>
+
+<p>
+Am folgenden Morgen, als der Herr Kandidat die Treppe heraufkam,
+winkte ihn Fräulein Rottenmeier geheimnisvoll ins Esszimmer herein,
+und hier teilte sie ihm in großer Aufregung ihre Besorgnis mit, die
+Luftveränderung, die neue Lebensart und die ungewohnten Eindrücke
+hätten das Kind um den Verstand gebracht, und sie erzählte ihm von
+Heidis Fluchtversuch und wiederholte ihm von seinen sonderbaren
+Reden, was sie noch wusste. Aber der Herr Kandidat besänftigte und
+beruhigte Fräulein Rottenmeier, indem er sie versicherte, dass er
+die Wahrnehmung gemacht habe, die Adelheid sei zwar einerseits
+allerdings eher exzentrisch, aber anderseits doch wieder bei
+richtigem Verstand, so dass sich nach und nach bei einer allseitig
+erwogenen Behandlung das nötige Gleichgewicht einstellen könne, was
+er im Auge habe; er finde den Umstand wichtiger, dass er durchaus
+nicht über das Abc hinauskomme mit ihr, indem sie die Buchstaben
+nicht zu fassen imstande sei.
+</p>
+
+<p>
+Fräulein Rottenmeier fühlte sich beruhigter und entließ den Herrn
+Kandidaten zu seiner Arbeit. Am späteren Nachmittag stieg ihr die
+Erinnerung an Heidis Aufzug bei seiner vorgehabten Abreise auf, und
+sie beschloss, die Gewandung des Kindes durch verschiedene
+Kleidungsstücke der Klara in den nötigen Stand zu setzen, bevor
+Herr Sesemann erscheinen würde. Sie teilte ihre Gedanken darüber
+an Klara mit, und da diese mit allem einverstanden war und dem
+Heidi eine Menge Kleider und Tücher und Hüte schenken wollte,
+verfügte sich die Dame in Heidis Zimmer, um seinen Kleiderschrank
+zu besehen und zu untersuchen, was da von dem Vorhandenen bleiben
+und was entfernt werden solle. Aber in wenig Minuten kam sie
+wieder zurück mit Gebärden des Abscheus. "Was muss ich entdecken,
+Adelheid!", rief sie aus. "Es ist nie dagewesen! In deinem
+Kleiderschrank, einem Schrank für Kleider, Adelheid, im Fuß dieses
+Schrankes, was finde ich? Einen Haufen kleiner Brote! Brot, sage
+ich, Klara, im Kleiderschrank! Und einen solchen Haufen
+aufspeichern!"--"Tinette", rief sie jetzt ins Esszimmer hinaus,
+"schaffen Sie mir das alte Brot fort aus dem Schrank der Adelheid
+und den zerdrückten Strohhut auf dem Tisch!"
+</p>
+
+<p>
+"Nein! Nein!", schrie Heidi auf; "ich muss den Hut haben, und die
+Brötchen sind für die Großmutter", und Heidi wollte der Tinette
+nachstürzen, aber es wurde von Fräulein Rottenmeier festgehalten.
+</p>
+
+<p>
+"Du bleibst hier und der Kram wird hingebracht, wo er hingehört",
+sagte sie bestimmt und hielt das Kind zurück. Aber nun warf sich
+Heidi an Klaras Sessel nieder und fing ganz verzweiflungsvoll zu
+weinen an, immer lauter und schmerzlicher, und schluchzte ein Mal
+ums andere in seinem Jammer auf: "Nun hat die Großmutter keine
+Brötchen mehr. Sie waren für die Großmutter, nun sind sie alle
+fort und die Großmutter bekommt keine!", und Heidi weinte auf, als
+wollte ihm das Herz zerspringen. Fräulein Rottenmeier lief hinaus.
+Klara wurde es angst und bange bei dem Jammer. "Heidi, Heidi,
+weine nur nicht so", sagte sie bittend, "hör mich nur! Jammere nur
+nicht so, sieh, ich verspreche dir, ich gebe dir gerade so viel
+Brötchen für die Großmutter, oder noch mehr, wenn du einmal
+heimgehst, und dann sind diese frisch und weich, und die deinen
+wären ja ganz hart geworden und waren es schon. Komm, Heidi, weine
+nur nicht mehr so!"
+</p>
+
+<p>
+Heidi konnte noch lange nicht aus seinem Schluchzen herauskommen;
+aber es verstand Klaras Trost und hielt sich daran, sonst hätte es
+gar nicht mehr zu weinen aufhören können. Es musste auch noch
+mehrere Male seiner Hoffnung gewiss werden und Klara, durch die
+letzten Anfälle von Schluchzen unterbrochen, fragen: "Gibst du mir
+so viele, viele, wie ich hatte, für die Großmutter?"
+</p>
+
+<p>
+Und Klara versicherte immer wieder: "Gewiss, ganz gewiss, noch mehr,
+sei nur wieder froh!"
+</p>
+
+<p>
+Noch zum Abendtisch kam Heidi mit den rot verweinten Augen, und als
+es sein Brötchen erblickte, musste es gleich noch einmal
+aufschluchzen. Aber es bezwang sich jetzt mit Gewalt, denn es
+verstand, dass es sich am Tisch ruhig verhalten musste. Sebastian
+machte heute jedes Mal die merkwürdigsten Gebärden, wenn er in
+Heidis Nähe kam; er deutete bald auf seinen, bald auf Heidis Kopf,
+dann nickte er wieder und kniff die Augen zu, so als wollte er
+sagen: "Nur getrost! Ich hab's schon gemerkt und besorgt."
+</p>
+
+<p>
+Als Heidi später in sein Zimmer kam und in sein Bett steigen wollte,
+lag sein zerdrücktes Strohhütchen unter der Decke versteckt. Mit
+Entzücken zog es den alten Hut hervor, zerdrückte ihn vor lauter
+Freude noch ein wenig mehr und versteckte ihn dann, in ein
+Taschentüchlein eingewickelt, in die allerhinterste Ecke seines
+Schrankes. Das Hütchen hatte der Sebastian unter die Decke
+gesteckt; er war zu gleicher Zeit mit Tinette im Esszimmer gewesen,
+als diese gerufen wurde, und hatte Heidis Jammerruf vernommen.
+Dann war er Tinette nachgegangen, und als sie aus Heidis Zimmer
+heraustrat mit ihrer Brotlast und dem Hütchen oben darauf, hatte er
+schnell dieses weggenommen und ihr zugerufen: "Das will ich schon
+forttun." Darauf hatte er es in aller Freude für Heidi gerettet,
+was er ihm beim Abendessen zur Erheiterung andeuten wollte.
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap09"></a>
+Der Hausherr hört allerlei in seinem Hause,<br />
+das er noch nicht gehört hat
+</h3>
+
+<p>
+Einige Tage nach diesen Ereignissen war im Hause Sesemann große
+Lebendigkeit und ein eifriges Treppauf- und Treppabrennen, denn
+eben war der Hausherr von seiner Reise zurückgekehrt, und aus dem
+bepackten Wagen wurde von Sebastian und Tinette eine Last nach der
+anderen hinaufgetragen, denn Herr Sesemann brachte immer eine Menge
+schöner Sachen mit nach Hause.
+</p>
+
+<p>
+Er selbst war vor allem in das Zimmer seiner Tochter eingetreten,
+um sie zu begrüßen. Heidi saß bei ihr, denn es war die Zeit des
+späten Nachmittags, da die beiden immer zusammen waren. Klara
+begrüßte ihren Vater mit großer Zärtlichkeit, denn sie liebte ihn
+sehr, und der gute Papa grüßte sein Klärchen nicht weniger
+liebevoll. Dann streckte er seine Hand dem Heidi entgegen, das
+sich leise in eine Ecke zurückgezogen hatte, und sagte freundlich:
+"Und das ist unsre kleine Schweizerin; komm her, gib mir mal eine
+Hand! So ist's recht! Nun sag mir mal, seid ihr auch gute Freunde
+zusammen, Klara und du? Nicht zanken und böse werden, und dann
+weinen und dann versöhnen, und dann wieder von vorn anfangen, nun?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, Klara ist immer gut mit mir", entgegnete Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"Und Heidi hat auch noch gar nie versucht zu zanken, Papa", warf
+Klara schnell ein.
+</p>
+
+<p>
+"So ist's gut, das hör ich gern", sagte der Papa, indem er aufstand.
+"Nun musst du aber erlauben, Klärchen, dass ich etwas genieße;
+heute habe ich noch nichts bekommen. Nachher komm ich wieder zu
+dir und du sollst sehen, was ich mitgebracht habe!"
+</p>
+
+<p>
+Herr Sesemann trat ins Esszimmer ein, wo Fräulein Rottenmeier den
+Tisch überschaute, der für sein Mittagsmahl gerüstet war. Nachdem
+Herr Sesemann sich niedergelassen und die Dame ihm gegenüber Platz
+genommen hatte und aussah wie ein lebendiges Missgeschick, wandte
+sich der Hausherr zu ihr: "Aber Fräulein Rottenmeier, was muss ich
+denken? Sie haben zu meinem Empfang ein wahrhaft erschreckendes
+Gesicht aufgesetzt. Wo fehlt es denn? Klärchen ist ganz munter."
+</p>
+
+<p>
+"Herr Sesemann", begann die Dame mit gewichtigem Ernst, "Klara ist
+mit betroffen, wir sind fürchterlich getäuscht worden."
+</p>
+
+<p>
+"Wieso?", fragte Herr Sesemann und trank in aller Ruhe einen
+Schluck Wein.
+</p>
+
+<p>
+"Wir hatten ja beschlossen, wie Sie wissen, Herr Sesemann, eine
+Gespielin für Klara ins Haus zu nehmen, und da ich ja weiß, wie
+sehr Sie darauf halten, dass nur Gutes und Edles Ihre Tochter
+umgebe, hatte ich meinen Sinn auf ein junges Schweizermädchen
+gerichtet, indem ich hoffte, eines jener Wesen bei uns eintreten zu
+sehen, von denen ich schon so oft gelesen, welche, der reinen
+Bergluft entsprossen, sozusagen, ohne die Erde zu berühren, durch
+das Leben gehen."
+</p>
+
+<p>
+"Ich glaube zwar", bemerkte hier Herr Sesemann, "dass auch die
+Schweizerkinder den Erdboden berühren, wenn sie vorwärts kommen
+wollen; sonst wären ihnen wohl Flügel gewachsen statt der Füße."
+</p>
+
+<p>
+"Ach, Herr Sesemann, Sie verstehen mich wohl", fuhr das Fräulein
+fort; "Ich meinte eine jener so bekannten, in den hohen, reinen
+Bergregionen lebenden Gestalten, die nur wie ein idealer Hauch an
+uns vorüberziehen."
+</p>
+
+<p>
+"Was sollte aber meine Klara mit einem idealen Hauch anfangen,
+Fräulein Rottenmeier?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, Herr Sesemann, ich scherze nicht, die Sache ist mir ernster,
+als Sie denken; ich bin schrecklich, wirklich ganz schrecklich
+getäuscht worden."
+</p>
+
+<p>
+"Aber worin liegt denn das Schreckliche? So gar erschrecklich
+sieht mir das Kind nicht aus", bemerkte ruhig Herr Sesemann.
+</p>
+
+<p>
+"Sie sollten nur _eines_ wissen, Herr Sesemann, nur das _eine_, mit
+was für Menschen und Tieren dieses Wesen Ihr Haus in Ihrer
+Abwesenheit bevölkert hat; davon könnte der Herr Kandidat erzählen."
+</p>
+
+<p>
+"Mit Tieren? Wie muss ich das verstehen, Fräulein Rottenmeier?"
+</p>
+
+<p>
+"Es ist eben nicht zu verstehen; die ganze Aufführung dieses Wesens
+wäre nicht zu verstehen, wenn nicht aus dem _einen_ Punkte, dass es
+Anfälle von völliger Verstandesgestörtheit hat."
+</p>
+
+<p>
+Bis hierher hatte Herr Sesemann die Sache nicht für wichtig
+gehalten; aber Gestörtheit des Verstandes? Eine solche konnte ja
+für seine Tochter die bedenklichsten Folgen haben. Herr Sesemann
+schaute Fräulein Rottenmeier sehr genau an, so, als wollte er sich
+erst versichern, ob nicht etwa bei ihr eine derartige Störung zu
+bemerken sei. In diesem Augenblick wurde die Tür aufgetan und der
+Herr Kandidat angemeldet.
+</p>
+
+<p>
+"Ah, da kommt unser Herr Kandidat, der wird uns Aufschluss geben!",
+rief ihm Herr Sesemann entgegen. "Kommen Sie, kommen Sie, setzen
+Sie sich zu mir!" Herr Sesemann streckte dem Eintretenden die Hand
+entgegen. "Der Herr Kandidat trinkt eine Tasse schwarzen Kaffee
+mit mir, Fräulein Rottenmeier! Setzen Sie sich, setzen Sie sich--
+keine Komplimente! Und nun sagen Sie mir, Herr Kandidat, was ist
+mit dem Kinde, das als Gespielin meiner Tochter ins Haus gekommen
+ist und das Sie unterrichten. Was hat es für eine Bewandtnis mit
+den Tieren, die es ins Haus gebracht, und wie steht es mit seinem
+Verstand?"
+</p>
+
+<p>
+Der Herr Kandidat musste erst seine Freude über Herrn Sesemanns
+glückliche Rückkehr aussprechen und ihn willkommen heißen, weswegen
+er ja gekommen war; aber Herr Sesemann drängte ihn, dass er ihm
+Aufschluss gebe über die fraglichen Punkte. So begann denn der
+Herr Kandidat: "Wenn ich mich über das Wesen dieses jungen Mädchens
+aussprechen soll, Herr Sesemann, so möchte ich vor allem darauf
+aufmerksam machen, dass, wenn auch auf der einen Seite sich ein
+Mangel der Entwicklung, welcher durch eine mehr oder weniger
+vernachlässigte Erziehung, oder besser gesagt, etwas verspäteten
+Unterricht verursacht und durch die mehr oder weniger, jedoch
+durchaus nicht in jeder Beziehung zu verurteilende, im Gegenteil
+ihre guten Seiten unstreitig dartuende Abgeschiedenheit eines
+längeren Alpenaufenthalts, welcher, wenn er nicht eine gewisse
+Dauer überschreitet, ja ohne Zweifel seine gute Seite--"
+</p>
+
+<p>
+"Mein lieber Herr Kandidat", unterbrach hier Herr Sesemann, "Sie
+geben sich wirklich zu viel Mühe; sagen Sie mir, hat auch Ihnen das
+Kind einen Schrecken beigebracht durch eingeschleppte Tiere, und
+was halten Sie überhaupt von diesem Umgang für mein Töchterchen?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich möchte dem jungen Mädchen in keiner Art zu nahe treten",
+begann der Herr Kandidat wieder, "denn wenn es auch auf der einen
+Seite in einer Art von gesellschaftlicher Unerfahrenheit, welche
+mit dem mehr oder weniger unkultivierten Leben, in welchem das
+junge Mädchen bis zu dem Augenblick seiner Versetzung nach
+Frankfurt sich bewegte, welche Versetzung allerdings in die
+Entwicklung dieses, ich möchte sagen noch völlig, wenigstens
+teilweise unentwickelten, aber anderseits mit nicht zu verachtenden
+Anlagen begabten und wenn allseitig umsichtig geleitet--"
+</p>
+
+<p>
+"Entschuldigen Sie, Herr Kandidat, bitte, lassen Sie sich nicht
+stören, ich werde--ich muss schnell einmal nach meiner Tochter
+sehen." Damit lief Herr Sesemann zur Tür hinaus und kam nicht
+wieder. Drüben im Studierzimmer setzte er sich zu seinem
+Töchterchen hin; Heidi war aufgestanden. Herr Sesemann wandte sich
+nach dem Kinde um: "Hör mal, Kleine, hol mir doch schnell--wart
+einmal--hol mir mal"--(Herr Sesemann wusste nicht recht, was er
+bedurfte, Heidi sollte aber ein wenig ausgeschickt werden)--"hol
+mir doch mal ein Glas Wasser."
+</p>
+
+<p>
+"Frisches?", fragte Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"Jawohl! Jawohl! Recht frisches!", gab Herr Sesemann zurück.
+Heidi verschwand.
+</p>
+
+<p>
+"Nun, mein liebes Klärchen", sagte der Papa, indem er ganz nah an
+sein Töchterchen heranrückte und dessen Hand in die seinige legte,
+"sag du mir klar und fasslich: Was für Tiere hat diese deine
+Gespielin ins Haus gebracht und warum muss Fräulein Rottenmeier
+denken, sie sei zeitweise nicht ganz recht im Kopf; kannst du mir
+das sagen?"
+</p>
+
+<p>
+Das konnte Klara, denn die erschrockene Dame hatte auch ihr von
+Heidis sich verwirrenden Reden gesprochen, die aber für Klara alle
+einen Sinn hatten. Sie erzählte erst dem Vater die Geschichten von
+der Schildkröte und den jungen Katzen und erklärte ihm dann Heidis
+Reden, welche die Dame so erschreckt hatten. Jetzt lachte Herr
+Sesemann herzlich. "So willst du nicht, dass ich das Kind nach
+Haus schicke, Klärchen, du bist seiner nicht müde?", fragte der
+Vater.
+</p>
+
+<p>
+"Nein, nein, Papa, tu nur das nicht!", rief Klara abwehrend aus.
+"Seit Heidi da ist, begegnet immer etwas, jeden Tag, und es ist so
+kurzweilig, ganz anders als vorher, da begegnete nie etwas, und
+Heidi erzählt mir auch so viel."
+</p>
+
+<p>
+"Schon gut, schon gut, Klärchen, da kommt ja auch deine Freundin
+schon wieder. Na, schönes, frisches Wasser geholt?", fragte Herr
+Sesemann, da ihm Heidi nun ein Glas Wasser hinstreckte.
+</p>
+
+<p>
+"Ja, frisch vom Brunnen", antwortete Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"Du bist doch nicht selbst zum Brunnen gelaufen, Heidi?", sagte
+Klara.
+</p>
+
+<p>
+"Doch gewiss, es ist ganz frisch, aber ich musste weit gehen, denn
+am ersten Brunnen waren so viele Leute. Da ging ich die Straße
+ganz hinab, aber beim zweiten waren wieder so viele Leute; da ging
+ich in die andere Straße hinein und dort nahm ich Wasser, und der
+Herr mit den weißen Haaren lässt Herrn Sesemann freundlich grüßen."
+</p>
+
+<p>
+"Na, die Expedition ist gut", lachte Herr Sesemann, "und wer ist
+denn der Herr?"
+</p>
+
+<p>
+"Er kam beim Brunnen vorbei und dann stand er still und sagte:
+'Weil du doch ein Glas hast, so gib mir auch einmal zu
+trinken; wem bringst du dein Glas Wasser?' Und ich sagte:
+'Herrn Sesemann.' Da lachte er sehr stark, und dann
+sagte er den Gruß und auch noch, Herr Sesemann solle sich's
+schmecken lassen."
+</p>
+
+<p>
+"So, und wer lässt mir denn wohl den guten Wunsch sagen? Wie sah
+der Herr denn weiter aus?", fragte Herr Sesemann.
+</p>
+
+<p>
+"Er lacht freundlich und hat eine dicke goldene Kette und ein
+goldenes Ding hängt daran mit einem großen roten Stein und auf
+seinem Stock ist ein Rosskopf."
+</p>
+
+<p>
+"Das ist der Herr Doktor"--"Das ist mein alter Doktor", sagten
+Klara und ihr Vater wie aus einem Munde, und Herr Sesemann lachte
+noch ein wenig in sich hinein im Gedanken an seinen Freund und
+dessen Betrachtungen über diese neue Weise, seinen Wasserbedarf
+sich zuführen zu lassen.
+</p>
+
+<p>
+Noch an demselben Abend erklärte Herr Sesemann, als er allein mit
+Fräulein Rottenmeier im Esszimmer saß, um allerlei häusliche
+Angelegenheiten mit ihr zu besprechen, die Gespielin seiner Tochter
+werde im Hause bleiben; er finde, das Kind sei in einem normalen
+Zustand, und seine Gesellschaft sei seiner Tochter sehr lieb und
+angenehmer als jede andere. "Ich wünsche daher", setzte Herr
+Sesemann sehr bestimmt hinzu, "dass dieses Kind jederzeit durchaus
+freundlich behandelt und seine Eigentümlichkeiten nicht als
+Vergehen betrachtet werden. Sollten Sie übrigens mit dem Kinde
+nicht allein fertig werden, Fräulein Rottenmeier, so ist ja eine
+gute Hilfe für Sie in Aussicht, da in nächster Zeit meine Mutter zu
+ihrem längeren Aufenthalt in mein Haus kommt, und meine Mutter wird
+mit jedem Menschen fertig, wie er sich auch anstelle, das wissen
+Sie ja wohl, Fräulein Rottenmeier?"
+</p>
+
+<p>
+"Jawohl, das weiß ich, Herr Sesemann", entgegnete die Dame, aber
+nicht mit dem Ausdruck der Erleichterung im Hinblick auf die
+angezeigte Hilfe.--
+</p>
+
+<p>
+Herr Sesemann hatte diesmal nur eine kurze Zeit Ruhe zu Hause,
+schon nach vierzehn Tagen riefen ihn seine Geschäfte wieder nach
+Paris, und er tröstete sein Töchterchen, das mit der nahen Abreise
+nicht einverstanden war, mit der Aussicht auf die baldige Ankunft
+der Großmama, die schon nach einigen Tagen erwartet werden konnte.
+</p>
+
+<p>
+Kaum war auch Herr Sesemann abgereist, als schon der Brief anlangte,
+der die Abreise der Frau Sesemann aus Holstein, wo sie auf einem
+alten Gute wohnte, anzeigte und die bestimmte Zeit ihrer Ankunft
+auf den folgenden Tag meldete, damit der Wagen nach dem Bahnhof
+geschickt würde, um sie abzuholen.
+</p>
+
+<p>
+Klara war voller Freude über die Nachricht und erzählte noch an
+demselben Abend dem Heidi so viel und so lange von der Großmama,
+dass Heidi auch anfing, von der 'Großmama' zu reden,
+worauf Fräulein Rottenmeier Heidi mit Missbilligung anblickte, was
+aber das Kind auf nichts Besonderes bezog, denn es fühlte sich
+unter fortdauernder Missbilligung der Dame. Als es sich dann
+später entfernte, um in sein Schlafzimmer zu gehen, berief Fräulein
+Rottenmeier es erst in das ihrige herein und erklärte ihm hier, es
+habe niemals den Namen 'Großmama' anzuwenden, sondern
+wenn Frau Sesemann nun da sei, habe es sie stets 'gnädige
+Frau' anzureden. "Verstehst du das?", fragte die Dame, als
+Heidi sie etwas zweifelhaft ansah; sie gab ihm aber einen so
+abschließenden Blick zurück, dass Heidi sich keine Erklärung mehr
+erbat, obschon es den Titel nicht verstanden hatte.
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap10"></a>
+Eine Großmama
+</h3>
+
+<p>
+Am folgenden Abend waren große Erwartungen und lebhafte
+Vorbereitungen im Hause Sesemann sichtbar, man konnte deutlich
+bemerken, dass die erwartete Dame ein bedeutendes Wort im Hause
+mitzusprechen hatte und dass jedermann großen Respekt vor ihr
+empfand. Tinette hatte ein ganz neues, weißes Deckelchen auf den
+Kopf gesetzt, und Sebastian raffte eine Menge von Schemeln zusammen
+und stellte sie an alle passenden Stellen hin, damit die Dame
+gleich einen Schemel unter den Füßen finde, wohin sie sich auch
+setzen möge. Fräulein Rottenmeier ging zur Musterung der Dinge
+sehr aufrecht durch die Zimmer, so wie um anzudeuten, dass, wenn
+auch eine zweite Herrschermacht herannahe, die ihrige dennoch nicht
+am Erlöschen sei.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt rollte der Wagen vor das Haus, und Sebastian und Tinette
+stürzten die Treppe hinunter; langsam und würdevoll folgte Fräulein
+Rottenmeier nach, denn sie wusste, dass auch sie zum Empfang der
+Frau Sesemann zu erscheinen hatte. Heidi war beordert worden, sich
+in sein Zimmer zurückzuziehen und da zu warten, bis es gerufen
+würde, denn die Großmutter würde zuerst bei Klara eintreten und
+diese wohl allein sehen wollen. Heidi setzte sich in einen Winkel
+und repetierte seine Anrede. Es währte gar nicht lange, so steckte
+die Tinette den Kopf ein klein wenig unter Heidis Zimmertür und
+sagte kurz angebunden wie immer: "Hinübergehen ins Studierzimmer!"
+</p>
+
+<p>
+Heidi hatte Fräulein Rottenmeier nicht fragen dürfen, wie es mit
+der Anrede sei, aber es dachte, die Dame habe sich nur versprochen,
+denn es hatte bis jetzt immer erst den Titel nennen gehört und
+nachher den Namen; so hatte es sich nun die Sache zurechtgelegt.
+Wie es die Tür zum Studierzimmer aufmachte, rief ihm die Großmutter
+mit freundlicher Stimme entgegen: "Ah, da kommt ja das Kind! Komm
+mal her zu mir und lass dich recht ansehen."
+</p>
+
+<p>
+Heidi trat heran, und mit seiner klaren Stimme sagte es sehr
+deutlich: "Guten Tag, Frau Gnädige."
+</p>
+
+<p>
+"Warum nicht gar!", lachte die Großmama. "Sagt man so bei euch?
+Hast du das daheim auf der Alp gehört?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, bei uns heißt niemand so", erklärte Heidi ernsthaft.
+</p>
+
+<p>
+"So, bei uns auch nicht", lachte die Großmama wieder und klopfte
+Heidi freundlich auf die Wange. "Das ist nichts! In der
+Kinderstube bin ich die Großmama; so sollst du mich nennen, das
+kannst du wohl behalten, wie?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja, das kann ich gut", versicherte Heidi, "vorher hab ich schon
+immer so gesagt."
+</p>
+
+<p>
+"So, so, verstehe schon!", sagte die Großmama und nickte ganz
+lustig mit dem Kopfe. Dann schaute sie Heidi genau an und nickte
+von Zeit zu Zeit wieder mit dem Kopf, und Heidi guckte ihr auch
+ganz ernsthaft in die Augen, denn da kam etwas so Herzliches heraus,
+dass es dem Heidi ganz wohl machte, und die ganze Großmama gefiel
+dem Heidi so, dass es sie unverwandt anschauen musste. Sie hatte
+so schöne weiße Haare, und um den Kopf ging eine schöne
+Spitzenkrause, und zwei breite Bänder flatterten von der Haube weg
+und bewegten sich immer irgendwie, so als ob stets ein leichter
+Wind um die Großmama wehe, was das Heidi ganz besonders anmutete.
+</p>
+
+<p>
+"Und wie heißt du, Kind?", fragte jetzt die Großmama.
+</p>
+
+<p>
+"Ich heiße nur Heidi; aber weil ich soll Adelheid heißen, so will
+ich schon Acht geben--"; Heidi stockte, denn es fühlte sich ein
+wenig schuldig, da es noch immer keine Antwort gab, wenn Fräulein
+Rottenmeier unversehens rief: "Adelheid!", indem es ihm noch immer
+nicht recht gegenwärtig war, dass dies sein Name sei, und Fräulein
+Rottenmeier war eben ins Zimmer getreten.
+</p>
+
+<p>
+"Frau Sesemann wird unstreitig billigen", fiel hier die eben
+Eingetretene ein, "dass ich einen Namen wählen musste, den man doch
+aussprechen kann, ohne sich selbst genieren zu müssen, schon um der
+Dienstboten willen."
+</p>
+
+<p>
+"Werteste Rottenmeier", entgegnete Frau Sesemann, "wenn ein Mensch
+einmal 'Heidi' heißt und an den Namen gewöhnt ist, so
+nenn ich ihn so, und dabei bleibt's!"
+</p>
+
+<p>
+Es war Fräulein Rottenmeier sehr genierlich, dass die alte Dame sie
+beständig nur bei ihrem Namen nannte, ohne weitere Titulatur; aber
+da war nichts zu machen; die Großmama hatte einmal ihre eigenen
+Wege, und diese ging sie, da half kein Mittel dagegen. Auch ihre
+fünf Sinne hatte die Großmama noch ganz scharf und gesund, und sie
+bemerkte, was im Hause vorging, sobald sie es betreten hatte.
+</p>
+
+<p>
+Als am Tage nach ihrer Ankunft Klara sich zur gewohnten Zeit nach
+Tisch niederlegte, setzte die Großmama sich neben sie auf einen
+Lehnstuhl und schloss ihre Augen für einige Minuten; dann stand sie
+schon wieder auf--denn sie war gleich wieder munter--und trat ins
+Esszimmer hinaus; da war niemand. "Die schläft", sagte sie vor
+sich hin, ging dann nach dem Zimmer der Dame Rottenmeier und
+klopfte kräftig an die Tür. Nach einiger Zeit erschien diese und
+fuhr erschrocken ein wenig zurück bei dem unerwarteten Besuch.
+</p>
+
+<p>
+"Wo hält sich das Kind auf um diese Zeit, und was tut es? Das
+wollte ich wissen", sagte Frau Sesemann.
+</p>
+
+<p>
+"In seinem Zimmer sitzt es, wo es sich nützlich beschäftigen könnte,
+wenn es den leisesten Tätigkeitstrieb hätte; aber Frau Sesemann
+sollte nur wissen, was für verkehrtes Zeug sich dieses Wesen oft
+ausdenkt und wirklich ausführt, Dinge, die ich in gebildeter
+Gesellschaft kaum erzählen könnte."
+</p>
+
+<p>
+"Das würde ich gerade auch tun, wenn ich so da drinnen säße wie
+dieses Kind, das kann ich Ihnen sagen, und Sie könnten zusehen, wie
+Sie mein Zeug in gebildeter Gesellschaft erzählen wollten! Jetzt
+holen Sie mir das Kind heraus und bringen Sie mir's in meine Stube,
+ich will ihm einige hübsche Bücher geben, die ich mitgebracht habe."
+</p>
+
+<p>
+"Das ist ja gerade das Unglück, das ist es ja eben!", rief Fräulein
+Rottenmeier aus und schlug die Hände zusammen. "Was sollte das
+Kind mit Büchern tun? In all dieser Zeit hat es noch nicht einmal
+das Abc erlernt; es ist völlig unmöglich, diesem Wesen auch nur
+_einen_ Begriff beizubringen, davon kann der Herr Kandidat reden!
+Wenn dieser treffliche Mensch nicht die Geduld eines himmlischen
+Engels besäße, er hätte diesen Unterricht längst aufgegeben."
+</p>
+
+<p>
+"So, das ist merkwürdig, das Kind sieht nicht aus wie eines, das
+das Abc nicht erlernen kann", sagte Frau Sesemann. "Jetzt holen
+Sie mir's herüber, es kann vorläufig die Bilder in den Büchern
+ansehen."
+</p>
+
+<p>
+Fräulein Rottenmeier wollte noch einiges bemerken, aber Frau
+Sesemann hatte sich schon umgewandt und ging rasch ihrem Zimmer zu.
+Sie musste sich sehr verwundern über die Nachricht von Heidis
+Beschränktheit und gedachte, die Sache zu untersuchen, jedoch nicht
+mit dem Herrn Kandidaten, den sie zwar um seines guten Charakters
+willen sehr schätzte; sie grüßte ihn auch immer, wenn sie mit ihm
+zusammentraf, überaus freundlich, lief dann aber sehr schnell auf
+eine andere Seite, um nicht in ein Gespräch mit ihm verwickelt zu
+werden, denn seine Ausdrucksweise war ihr ein wenig beschwerlich.
+</p>
+
+<p>
+Heidi erschien im Zimmer der Großmama und machte die Augen weit auf,
+als es die prächtigen bunten Bilder in den großen Büchern sah,
+welche die Großmama mitgebracht hatte. Auf einmal schrie Heidi
+laut auf, als die Großmama wieder ein Blatt umgewandt hatte; mit
+glühendem Blick schaute es auf die Figuren, dann stürzten ihm
+plötzlich die hellen Tränen aus den Augen, und es fing gewaltig zu
+schluchzen an. Die Großmama schaute das Bild an. Es war eine
+schöne, grüne Weide, wo allerlei Tierlein herumweideten und an den
+grünen Gebüschen nagten. In der Mitte stand der Hirt, auf einen
+langen Stab gestützt, der schaute den fröhlichen Tierchen zu.
+Alles war wie in Goldschimmer gemalt, denn hinten am Horizont war
+eben die Sonne im Untergehen.
+</p>
+
+<p>
+Die Großmama nahm Heidi bei der Hand. "Komm, komm, Kind", sagte
+sie in freundlichster Weise, "nicht weinen, nicht weinen. Das hat
+dich wohl an etwas erinnert; aber sieh, da ist auch eine schöne
+Geschichte dazu, die erzähl ich heut Abend. Und da sind noch so
+viele schöne Geschichten in dem Buch, die kann man alle lesen und
+wieder erzählen. Komm, nun müssen wir etwas besprechen zusammen,
+trockne schön deine Tränen, so, und nun stell dich hier vor mich
+hin, dass ich dich recht ansehen kann; so ist's recht, nun sind wir
+wieder fröhlich."
+</p>
+
+<p>
+Aber noch verging einige Zeit, bevor Heidi zu schluchzen aufhören
+konnte. Die Großmama ließ ihm auch eine gute Weile zur Erholung,
+nur sagte sie von Zeit zu Zeit ermunternd: "So, nun ist's gut, nun
+sind wir wieder froh zusammen."
+</p>
+
+<p>
+Als sie endlich das Kind beruhigt sah, sagte sie: "Nun musst du mir
+was erzählen, Kind! Wie geht es denn beim Herrn Kandidaten in den
+Unterrichtsstunden, lernst du auch gut und kannst du was?"
+</p>
+
+<p>
+"O nein", antwortete Heidi seufzend; "aber ich wusste schon, dass
+man es nicht lernen kann."
+</p>
+
+<p>
+"Was kann man denn nicht lernen, Heidi, was meinst du?"
+</p>
+
+<p>
+"Lesen kann man nicht lernen, es ist zu schwer."
+</p>
+
+<p>
+"Das wäre! Und woher weißt du denn diese Neuigkeit?"
+</p>
+
+<p>
+"Der Peter hat es mir gesagt und er weiß es schon, der muss immer
+wieder probieren, aber er kann es nie lernen, es ist zu schwer."
+</p>
+
+<p>
+"So, das ist mir ein eigener Peter, der! Aber sieh, Heidi, man
+muss nicht alles nur so hinnehmen, was einem ein Peter sagt, man
+muss selbst probieren. Gewiss hast du nicht recht mit all deinen
+Gedanken dem Herrn Kandidaten zugehört und seine Buchstaben
+angesehen."
+</p>
+
+<p>
+"Es nützt nichts", versicherte Heidi mit dem Ton der vollen
+Ergebung in das Unabänderliche.
+</p>
+
+<p>
+"Heidi", sagte nun die Großmama, "jetzt will ich dir etwas sagen:
+Du hast noch nie lesen gelernt, weil du deinem Peter geglaubt hast;
+nun aber sollst du mir glauben, und ich sage dir fest und sicher,
+dass du in kurzer Zeit lesen lernen kannst, wie eine große Menge
+von Kindern, die geartet sind wie du und nicht wie der Peter. Und
+nun musst du wissen, was nachher kommt, wenn du dann lesen kannst--
+du hast den Hirten gesehen auf der schönen, grünen Weide--; sobald
+du nun lesen kannst, bekommst du das Buch, da kannst du seine ganze
+Geschichte vernehmen, ganz so, als ob sie dir jemand erzählte,
+alles, was er macht mit seinen Schafen und Ziegen und was ihm für
+merkwürdige Dinge begegnen. Das möchtest du schon wissen, Heidi,
+nicht?"
+</p>
+
+<p>
+Heidi hatte mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört, und mit
+leuchtenden Augen sagte es jetzt, tief Atem holend: "Oh, wenn ich
+nur schon lesen könnte!"
+</p>
+
+<p>
+"Jetzt wird's kommen, und gar nicht lange wird's währen, das kann
+ich schon sehen, Heidi, und nun müssen wir mal nach der Klara sehen;
+komm, die schönen Bücher nehmen wir mit." Damit nahm die Großmama
+Heidi bei der Hand und ging mit ihm nach dem Studierzimmer.
+</p>
+
+<p>
+Seit dem Tage, da Heidi hatte heimgehen wollen und Fräulein
+Rottenmeier es auf der Treppe ausgescholten und ihm gesagt hatte,
+wie schlecht und undankbar es sich erweise durch sein
+Fortlaufenwollen und wie gut es sei, dass Herr Sesemann nichts
+davon wisse, war mit dem Kinde eine Veränderung vorgegangen. Es
+hatte begriffen, dass es nicht heimgehen könne, wenn es wolle, wie
+ihm die Base gesagt hatte, sondern dass es in Frankfurt zu bleiben
+habe, lange, lange, vielleicht für immer. Es hatte auch verstanden,
+dass Herr Sesemann es sehr undankbar von ihm finden würde, wenn es
+heimgehen wollte, und es dachte sich aus, dass die Großmama und
+Klara auch so denken würden. So durfte es keinem Menschen sagen,
+dass es heimgehen möchte, denn dass die Großmama, die so freundlich
+mit ihm war, auch böse würde, wie Fräulein Rottenmeier geworden war,
+das wollte Heidi nicht verursachen. Aber in seinem Herzen wurde
+die Last, die darinnen lag, immer schwerer; es konnte nicht mehr
+essen, und jeden Tag wurde es ein wenig bleicher. Am Abend konnte
+es oft lange, lange nicht einschlafen, denn sobald es allein war
+und alles still ringsumher, kam ihm alles so lebendig vor die Augen,
+die Alm und der Sonnenschein darauf und die Blumen; und schlief es
+endlich doch ein, so sah es im Traum die roten Felsenspitzen am
+Falknis und das feurige Schneefeld an der Schesaplana, und erwachte
+dann Heidi am Morgen und wollte voller Freude hinausspringen aus
+der Hütte--da war es auf einmal in seinem großen Bett in Frankfurt,
+so weit, weit weg, und konnte nicht mehr heim. Dann drückte Heidi
+oft seinen Kopf in das Kissen und weinte lang, ganz leise, dass
+niemand es höre.
+</p>
+
+<p>
+Heidis freudloser Zustand entging der Großmama nicht. Sie ließ
+einige Tage vorübergehen und sah zu, ob die Sache sich ändere und
+das Kind sein niedergeschlagenes Wesen verlieren würde. Als es
+aber gleich blieb und die Großmama manchmal am frühen Morgen schon
+sehen konnte, dass Heidi geweint hatte, da nahm sie eines Tages das
+Kind wieder in ihre Stube, stellte es vor sich hin und sagte mit
+großer Freundlichkeit: "Jetzt sag mir, was dir fehlt, Heidi; hast
+du einen Kummer?"
+</p>
+
+<p>
+Aber gerade dieser freundlichen Großmama wollte Heidi nicht sich so
+undankbar zeigen, dass sie vielleicht nachher gar nicht mehr so
+freundlich wäre; so sagte Heidi traurig: "Man kann es nicht sagen."
+</p>
+
+<p>
+"Nicht? Kann man es etwa der Klara sagen?", fragte die Großmama.
+</p>
+
+<p>
+"O nein, keinem Menschen", versicherte Heidi und sah dabei so
+unglücklich aus, dass es die Großmama erbarmte.
+</p>
+
+<p>
+"Komm, Kind", sagte sie, "ich will dir was sagen: Wenn man einen
+Kummer hat, den man keinem Menschen sagen kann, so klagt man ihn
+dem lieben Gott im Himmel und bittet ihn, dass er helfe, denn er
+kann allem Leid abhelfen, das uns drückt. Das verstehst du, nicht
+wahr? Du betest doch jeden Abend zum lieben Gott im Himmel und
+dankst ihm für alles Gute und bittest ihn, dass er dich vor allem
+Bösen behüte?"
+</p>
+
+<p>
+"O nein, das tu ich nie", antwortete das Kind.
+</p>
+
+<p>
+"Hast du denn gar nie gebetet, Heidi, weißt du nicht, was das ist?"
+</p>
+
+<p>
+"Nur mit der ersten Großmutter habe ich gebetet, aber es ist schon
+lang, und jetzt habe ich es vergessen."
+</p>
+
+<p>
+"Siehst du, Heidi, darum musst du so traurig sein, weil du jetzt
+gar niemanden kennst, der dir helfen kann. Denk einmal nach, wie
+wohl das tun muss, wenn einen im Herzen etwas immerfort drückt und
+quält und man kann so jeden Augenblick zum lieben Gott hingehen und
+ihm alles sagen und ihn bitten, dass er helfe, wo uns sonst gar
+niemand helfen kann! Und er kann überall helfen und uns geben, was
+uns wieder froh macht."
+</p>
+
+<p>
+Durch Heidis Augen fuhr ein Freudenstrahl: "Darf man ihm alles,
+alles sagen?"
+</p>
+
+<p>
+"Alles, Heidi, alles."
+</p>
+
+<p>
+Das Kind zog seine Hand aus den Händen der Großmama und sagte eilig:
+"Kann ich gehen?"
+</p>
+
+<p>
+"Gewiss! Gewiss!", gab diese zur Antwort, und Heidi lief davon und
+hinüber in sein Zimmer, und hier setzte es sich auf seinen Schemel
+nieder und faltete seine Hände und sagte dem lieben Gott alles, was
+in seinem Herzen war und es so traurig machte, und bat ihn dringend
+und herzlich, dass er ihm helfe und es wieder heimkommen lasse zum
+Großvater.--
+</p>
+
+<p>
+Es mochte etwas mehr als eine Woche verflossen sein seit diesem
+Tage, als der Herr Kandidat begehrte, der Frau Sesemann seine
+Aufwartung zu machen, indem er eine Besprechung über einen
+merkwürdigen Gegenstand mit der Dame abzuhalten gedachte. Er wurde
+auf ihre Stube berufen, und hier, wie er eintrat, streckte ihm Frau
+Sesemann sogleich freundlich die Hand entgegen: "Mein lieber Herr
+Kandidat, seien Sie mir willkommen! Setzen Sie sich her zu mir,
+hier"--sie rückte ihm den Stuhl zurecht. "So, nun sagen Sie mir,
+was bringt Sie zu mir; doch nichts Schlimmes, keine Klagen?"
+</p>
+
+<p>
+"Im Gegenteil, gnädige Frau", begann der Herr Kandidat; "es ist
+etwas vorgefallen, das ich nicht mehr erwarten konnte und keiner,
+der einen Blick in alles Vorhergegangene hätte werfen können, denn
+nach allen Voraussetzungen musste angenommen werden, dass es eine
+völlige Unmöglichkeit sein müsse, was dennoch jetzt wirklich
+geschehen ist und in der wunderbarsten Weise stattgefunden hat,
+gleichsam im Gegensatz zu allem folgerichtig zu Erwartenden--"
+</p>
+
+<p>
+"Sollte das Kind Heidi etwa lesen gelernt haben, Herr Kandidat?",
+setzte hier Frau Sesemann ein.
+</p>
+
+<p>
+In sprachlosem Erstaunen schaute der überraschte Herr die Dame an.
+</p>
+
+<p>
+"Es ist ja wirklich völlig wunderbar", sagte er endlich, "nicht nur,
+dass das junge Mädchen nach all meinen gründlichen Erklärungen,
+und ungewöhnlichen Bemühungen das Abc nicht erlernt hat, sondern
+auch und besonders, dass es jetzt in kürzester Zeit, nachdem ich
+mich entschlossen hatte, das Unerreichbare aus den Augen zu lassen
+und ohne alle weiter greifenden Erläuterungen nur noch sozusagen
+die nackten Buchstaben vor die Augen des jungen Mädchens zu bringen,
+sozusagen über Nacht das Lesen erfasst hat, und dann sogleich mit
+einer Korrektheit die Worte liest, wie mir bei Anfängern noch
+selten vorgekommen ist. Fast ebenso wunderbar ist mir die
+Wahrnehmung, dass die gnädige Frau gerade diese fern liegende
+Tatsache als Möglichkeit vermutete."
+</p>
+
+<p>
+"Es geschehen viele wunderbare Dinge im Menschenleben", bestätigte
+Frau Sesemann und lächelte vergnüglich; "es können auch einmal zwei
+Dinge glücklich zusammentreffen, wie ein neuer Lerneifer und eine
+neue Lehrmethode, und beide können nichts schaden, Herr Kandidat.
+Jetzt wollen wir uns freuen, dass das Kind so weit ist, und auf
+guten Fortgang hoffen."
+</p>
+
+<p>
+Damit begleitete sie den Herrn Kandidaten zur Tür hinaus und ging
+rasch nach dem Studierzimmer, um sich selbst der erfreulichen
+Nachricht zu versichern. Richtig saß hier Heidi neben Klara und
+las dieser eine Geschichte vor, sichtlich selbst mit dem größten
+Erstaunen und mit einem wachsenden Eifer in die neue Welt
+eindringend, die ihm aufgegangen war, nun ihm mit einem Mal aus den
+schwarzen Buchstaben Menschen und Dinge entgegentraten und Leben
+gewannen und zu herzbewegenden Geschichten wurden. Noch am selben
+Abend, als man sich zu Tische setzte, fand Heidi auf seinem Teller
+das große Buch liegen mit den schönen Bildern, und als es fragend
+nach der Großmama blickte, sagte diese freundlich nickend: "Ja, ja,
+nun gehört es dir."
+</p>
+
+<p>
+"Für immer? Auch wenn ich heimgehe?", fragte Heidi ganz rot vor
+Freude.
+</p>
+
+<p>
+"Gewiss, für immer!", versicherte die Großmama; "morgen fangen wir
+an zu lesen."
+</p>
+
+<p>
+"Aber du gehst nicht heim, noch viele Jahre nicht, Heidi", warf
+Klara hier ein; "wenn nun die Großmama wieder fortgeht, dann musst
+du erst recht bei mir bleiben."
+</p>
+
+<p>
+Noch vor dem Schlafengehen musste Heidi in seinem Zimmer sein
+schönes Buch ansehen, und von dem Tage an war es sein Liebstes,
+über seinem Buch zu sitzen und immer wieder die Geschichten zu
+lesen, zu denen die schönen bunten Bilder gehörten. Sagte am Abend
+die Großmama: "Nun liest uns Heidi vor", so war das Kind sehr
+beglückt, denn das Lesen ging ihm nun ganz leicht, und wenn es die
+Geschichten laut vorlas, so kamen sie ihm noch viel schöner und
+verständlicher vor, und die Großmama erklärte dann noch so vieles
+und erzählte immer noch mehr dazu. Am liebsten beschaute Heidi
+immer wieder seine grüne Weide und den Hirten mitten unter der
+Herde, wie er so vergnüglich, auf seinen langen Stab gelehnt,
+dastand, denn da war er noch bei der schönen Herde des Vaters und
+ging nur den lustigen Schäfchen und Ziegen nach, weil es ihn freute.
+Aber dann kam das Bild, wo er, vom Vaterhaus weggelaufen, nun in
+der Fremde war und die Schweinchen hüten musste und ganz mager
+geworden war bei den Trebern, die er allein noch zu essen bekam.
+Und auf dem Bilde schien auch die Sonne nicht mehr so golden, da
+war das Land grau und nebelig. Aber dann kam noch ein Bild zu der
+Geschichte: Da kam der alte Vater mit ausgebreiteten Armen aus dem
+Hause heraus und lief dem heimkehrenden reuigen Sohn entgegen, um
+ihn zu empfangen, der ganz furchtsam und abgemagert in einem
+zerrissenen Wams daherkam. Das war Heidis Lieblingsgeschichte, die
+es immer wieder las, laut und leise, und es konnte nie genug der
+Erklärungen bekommen, welche die Großmama den Kindern dazu machte.
+Da waren aber noch so viele schöne Geschichten in dem Buch, und bei
+dem Lesen derselben und dem Bilderbesehen gingen die Tage sehr
+schnell dahin, und schon nahte die Zeit heran, welche die Großmama
+zu ihrer Abreise bestimmt hatte.
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap11"></a>
+Heidi nimmt auf einer Seite zu und auf der anderen ab
+</h3>
+
+<p>
+Die Großmama hatte während der ganzen Zeit ihres Aufenthalts jeden
+Nachmittag, wenn Klara sich hinlegte und Fräulein Rottenmeier,
+wahrscheinlich der Ruhe bedürftig, geheimnisvoll verschwand, sich
+einen Augenblick neben Klara hingesetzt; aber schon nach fünf
+Minuten war sie wieder auf den Füßen und hatte dann immer Heidi auf
+ihre Stube berufen, sich mit ihm besprochen und es auf allerlei
+Weise beschäftigt und unterhalten. Die Großmama hatte hübsche
+kleine Puppen und zeigte dem Heidi, wie man ihnen Kleider und
+Schürzchen macht, und ganz unvermerkt hatte Heidi das Nähen erlernt
+und machte den kleinen Frauenzimmern die schönsten Röcke und
+Mäntelchen, denn die Großmama hatte immer Zeugstücke von den
+prächtigsten Farben. Nun Heidi lesen konnte, durfte es auch immer
+wieder der Großmama seine Geschichten vorlesen; das machte ihm die
+größte Freude, denn je mehr es seine Geschichten las, desto lieber
+wurden sie ihm, denn Heidi lebte alles ganz mit durch, was die
+Leute alle zu erleben hatten, und so hatte es zu ihnen allen ein
+sehr nahes Verhältnis und freute sich immer wieder, bei ihnen zu
+sein. Aber so recht froh sah Heidi nie aus, und seine lustigen
+Augen waren nie mehr zu sehen.
+</p>
+
+<p>
+Es war die letzte Woche, welche die Großmama in Frankfurt zubringen
+wollte. Sie hatte eben nach Heidi gerufen, dass es auf ihre Stube
+komme; es war die Zeit, da Klara schlief. Als Heidi eintrat mit
+seinem großen Buch unter dem Arm, winkte ihm die Großmama, dass es
+ganz nahe zu ihr herankomme, legte das Buch weg und sagte: "Nun
+komm, Kind, und sag mir, warum bist du nicht fröhlich? Hast du
+immer noch denselben Kummer im Herzen?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja", nickte Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"Hast du ihn dem lieben Gott geklagt?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja."
+</p>
+
+<p>
+"Und betest du nun alle Tage, dass alles gut werde und er dich froh
+mache?"
+</p>
+
+<p>
+"O nein, ich bete jetzt gar nie mehr."
+</p>
+
+<p>
+"Was sagst du mir, Heidi? Was muss ich hören? Warum betest du
+denn nicht mehr?"
+</p>
+
+<p>
+"Es nützt nichts, der liebe Gott hat nicht zugehört, und ich glaube
+es auch wohl", fuhr Heidi in einiger Aufregung weiter, "wenn nun am
+Abend so viele, viele Leute in Frankfurt alle miteinander beten, so
+kann der liebe Gott ja nicht auf alle Acht geben, und mich hat er
+gewiss gar nicht gehört."
+</p>
+
+<p>
+"So, wie weißt du denn das so sicher, Heidi?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich habe alle Tage das Gleiche gebetet, manche Woche lang, und der
+liebe Gott hat es nie getan."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, so geht's nicht zu, Heidi! Das musst du nicht meinen! Siehst
+du, der liebe Gott ist für uns alle ein guter Vater, der immer weiß,
+was gut für uns ist, wenn wir es gar nicht wissen. Wenn wir aber
+nun etwas von ihm haben wollen, das nicht gut für uns ist, so gibt
+er uns das nicht, sondern etwas viel Besseres, wenn wir fortfahren,
+so recht herzlich zu ihm zu beten, aber nicht gleich weglaufen und
+alles Vertrauen zu ihm verlieren. Siehst du, was du nun von ihm
+erbitten wolltest, das war in diesem Augenblick nicht gut für dich;
+der liebe Gott hat dich schon gehört, er kann alle Menschen auf
+einmal anhören und übersehen, siehst du, dafür ist er der liebe
+Gott und nicht ein Mensch wie du und ich. Und weil er nun wohl
+wusste, was für dich gut ist, dachte er bei sich: 'Ja, das
+Heidi soll schon einmal haben, wofür es bittet, aber erst dann,
+wenn es ihm gut ist, und so wie es darüber recht froh werden kann.
+Denn wenn ich jetzt tue, was es will, und es merkt nachher, dass es
+doch besser gewesen wäre, ich hätte ihm seinen Willen nicht getan,
+dann weint es nachher und sagt: Hätte mir doch der liebe Gott nur
+nicht gegeben, wofür ich bat, es ist gar nicht so gut, wie ich
+gemeint habe.' Und während nun der liebe Gott auf dich
+niedersah, ob du ihm auch recht vertrautest und täglich zu ihm
+kommest und betest und immer zu ihm aufsehest, wenn dir etwas fehlt,
+da bist du weggelaufen ohne alles Vertrauen, hast nie mehr gebetet
+und hast den lieben Gott ganz vergessen. Aber siehst du, wenn
+einer es so macht und der liebe Gott hört seine Stimme gar nie mehr
+unter den Betenden, so vergisst er ihn auch und lässt ihn gehen,
+wohin er will. Wenn es ihm dabei aber schlecht geht und er jammert:
+'Mir hilft aber auch gar niemand!', dann hat keiner
+Mitleiden mit ihm, sondern jeder sagt zu ihm: 'Du bist ja
+selbst vom lieben Gott weggelaufen, der dir helfen konnte!'
+Willst du's so haben, Heidi, oder willst du gleich wieder zum
+lieben Gott gehen und ihn um Verzeihung bitten, dass du so von ihm
+weggelaufen bist, und dann alle Tage zu ihm beten und ihm vertrauen,
+dass er alles gut für dich machen werde, so dass du auch wieder
+ein frohes Herz bekommen kannst?"
+</p>
+
+<p>
+Heidi hatte sehr aufmerksam zugehört; jedes Wort der Großmama fiel
+in sein Herz, denn zu ihr hatte das Kind ein unbedingtes Vertrauen.
+</p>
+
+<p>
+"Ich will jetzt gleich auf der Stelle gehen und den lieben Gott um
+Verzeihung bitten, und ich will ihn nie mehr vergessen", sagte
+Heidi reumütig.
+</p>
+
+<p>
+"So ist's recht, Kind, er wird dir auch helfen zur rechten Zeit,
+sei nur getrost!", ermunterte die Großmama, und Heidi lief sofort
+in sein Zimmer hinüber und betete ernstlich und reuig zum lieben
+Gott und bat ihn, dass er es doch nicht vergessen und auch wieder
+zu ihm niederschauen möge.--
+</p>
+
+<p>
+Der Tag der Abreise war gekommen, es war für Klara und Heidi ein
+trauriger Tag; aber die Großmama wusste es so einzurichten, dass
+sie gar nicht zum Bewusstsein kamen, dass es eigentlich ein
+trauriger Tag sei, sondern es war eher wie ein Festtag, bis die
+gute Großmama im Wagen davonfuhr. Da trat eine Leere und Stille im
+Hause ein, als wäre alles vorüber, und solange noch der Tag währte,
+saßen Klara und Heidi wie verloren da und wussten gar nicht, wie es
+nun weiter kommen sollte.
+</p>
+
+<p>
+Am folgenden Tag, als die Unterrichtsstunden vorbei und die Zeit da
+war, da die Kinder gewöhnlich zusammensaßen, trat Heidi mit seinem
+Buch unter dem Arm herein und sagte: "Ich will dir nun immer, immer
+vorlesen; willst du, Klara?"
+</p>
+
+<p>
+Der Klara war der Vorschlag recht für einmal, und Heidi machte sich
+mit Eifer an seine Tätigkeit. Aber es ging nicht lange, so hörte
+schon wieder alles auf, denn kaum hatte Heidi eine Geschichte zu
+lesen begonnen, die von einer sterbenden Großmutter handelte, als
+es auf einmal laut aufschrie: "Oh, nun ist die Großmutter tot!",
+und in ein jammervolles Weinen ausbrach, denn alles, was es las,
+war dem Heidi volle Gegenwart, und es glaubte nicht anders, als nun
+sei die Großmutter auf der Alm gestorben, und es klagte in immer
+lauterem Weinen: "Nun ist die Großmutter tot, und ich kann nie mehr
+zu ihr gehen, und sie hat nicht ein einziges Brötchen mehr bekommen!"
+</p>
+
+<p>
+Klara suchte immerfort dem Heidi zu erklären, dass es ja nicht die
+Großmutter auf der Alm sei, sondern eine ganz andere, von der diese
+Geschichte handle; aber auch, als sie endlich dazu gekommen war,
+dem aufgeregten Heidi diese Verwechslung klar zu machen, konnte es
+sich doch nicht beruhigen und weinte immer noch untröstlich weiter,
+denn der Gedanke war ihm nun im Herzen erwacht, die Großmutter
+könne ja sterben, während es so weit weg sei, und der Großvater
+auch noch, und wenn es dann nach einiger Zeit wieder heimkomme, so
+sei alles still und tot auf der Alm und es stehe ganz allein da und
+könne niemals mehr die sehen, die ihm lieb waren.
+</p>
+
+<p>
+Währenddessen war Fräulein Rottenmeier ins Zimmer getreten und
+hatte noch Klaras Bemühungen, Heidi über seinen Irrtum aufzuklären,
+mit angehört. Als das Kind aber immer noch nicht aufhören konnte
+zu schluchzen, trat sie mit sichtlichen Zeichen der Ungeduld zu den
+Kindern heran und sagte mit bestimmtem Ton: "Adelheid, nun ist des
+grundlosen Geschreis genug! Ich will dir eines sagen: Wenn du noch
+ein einziges Mal beim Lesen deiner Geschichten solchen Ausbrüchen
+den Lauf lässt, so nehme ich das Buch aus deinen Händen und für
+immer!"
+</p>
+
+<p>
+Das machte Eindruck. Heidi wurde ganz weiß vor Schrecken, das Buch
+war sein höchster Schatz. Es trocknete in größter Eile seine
+Tränen und schluckte und würgte sein Schluchzen mit Gewalt hinunter,
+so dass kein Tönchen mehr laut wurde. Das Mittel hatte geholfen,
+Heidi weinte nie mehr, was es auch lesen mochte; aber manchmal
+hatte es solche Anstrengungen zu machen, um sich zu überwinden und
+nicht aufzuschreien, dass Klara öfter ganz erstaunt sagte: "Heidi,
+du machst so schreckliche Grimassen, wie ich noch nie gesehen habe."
+Aber die Grimassen machten keinen Lärm und fielen der Dame
+Rottenmeier nicht auf, und wenn Heidi seinen Anfall von
+verzweiflungsvoller Traurigkeit niedergerungen hatte, kam alles
+wieder ins Geleise für einige Zeit und war tonlos vorübergegangen.
+Aber seinen Appetit verlor Heidi so sehr und sah so mager und
+bleich aus, dass der Sebastian fast nicht ertragen konnte, das so
+mit anzusehen und Zeuge sein zu müssen, wie Heidi bei Tisch die
+schönsten Gerichte an sich vorübergehen ließ und nichts essen
+wollte. Er flüsterte ihm auch öfter ermunternd zu, wenn er ihm
+eine Schüssel hinhielt: "Nehmen von dem, Mamsellchen, 's ist
+vortrefflich. Nicht so! Einen rechten Löffel voll, noch einen!",
+und dergleichen väterlicher Räte mehr; aber es half nichts: Heidi
+aß fast gar nicht mehr, und wenn es sich am Abend auf sein Kissen
+legte, so hatte es augenblicklich alles vor Augen, was daheim war,
+und nur ganz leise weinte es dann vor Sehnsucht in sein Kissen
+hinein, so dass es gar niemand hören konnte.
+</p>
+
+<p>
+So ging eine lange Zeit dahin. Heidi wusste gar nie, ob es Sommer
+oder Winter sei, denn die Mauern und Fenster, die es aus allen
+Fenstern des Hauses Sesemann erblickte, sahen immer gleich aus, und
+hinaus kam es nur, wenn es Klara besonders gut ging und eine
+Ausfahrt im Wagen mit ihr gemacht werden konnte, die aber immer
+sehr kurz war, denn Klara konnte nicht vertragen, lang zu fahren.
+So kam man kaum aus den Mauern und Steinstraßen heraus, sondern
+kehrte gewöhnlich vorher wieder um und fuhr immerfort durch große,
+schöne Straßen, wo Häuser und Menschen in Fülle zu sehen waren,
+aber nicht Gras und Blumen, keine Tannen und keine Berge, und
+Heidis Verlangen nach dem Anblick der schönen gewohnten Dinge
+steigerte sich mit jedem Tage mehr, so dass es jetzt nur den Namen
+eines dieser Erinnerung weckenden Worte zu lesen brauchte, so war
+schon ein Ausbruch des Schmerzes nahe, und Heidi hatte mit aller
+Gewalt dagegen zu ringen. So waren Herbst und Winter vergangen,
+und schon blendete die Sonne wieder so stark auf die weißen Mauern
+am Hause gegenüber, dass Heidi ahnte, nun sei die Zeit nahe, da der
+Peter wieder zur Alm führe mit den Geißen, da die goldenen
+Cystusröschen glitzerten droben im Sonnenschein und allabendlich
+ringsum alle Berge im Feuer ständen. Heidi setzte sich in seinem
+einsamen Zimmer in einen Winkel und hielt sich mit beiden Händen
+die Augen zu, dass es den Sonnenschein drüben an der Mauer nicht
+sehe; und so saß es regungslos, sein brennendes Heimweh lautlos
+niederkämpfend, bis Klara wieder nach ihm rief.
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap12"></a>
+Im Hause Sesemann spukt's
+</h3>
+
+<p>
+Seit einigen Tagen wanderte Fräulein Rottenmeier meistens
+schweigend und in sich gekehrt im Haus herum. Wenn sie um die Zeit
+der Dämmerung von einem Zimmer ins andere oder über den langen
+Korridor ging, schaute sie öfters um sich, gegen die Ecken hin und
+auch schnell einmal hinter sich, so, als denke sie, es könnte
+jemand leise hinter ihr herkommen und sie unversehens am Rock
+zupfen. So allein ging sie aber nur noch in den bewohnten Räumen
+herum. Hatte sie auf dem oberen Boden, wo die feierlich
+aufgerüsteten Gastzimmer lagen, oder gar in den unteren Räumen
+etwas zu besorgen, wo der große geheimnisvolle Saal war, in dem
+jeder Tritt einen weithin schallenden Widerhall gab und die alten
+Ratsherren mit den großen, weißen Kragen so ernsthaft und
+unverwandt auf einen niederschauten, da rief sie nun regelmäßig die
+Tinette herbei und sagte ihr, sie habe mitzukommen, im Fall etwas
+von dort herauf- oder von oben herunterzutragen wäre. Tinette
+ihrerseits machte es pünktlich ebenso; hatte sie oben oder unten
+irgendein Geschäft abzutun, so rief sie den Sebastian herbei und
+sagte ihm, er habe sie zu begleiten, es möchte etwas
+herbeizubringen sein, das sie nicht allein tragen könnte.
+Wunderbarerweise tat auch Sebastian akkurat dasselbe; wurde er in
+die abgelegenen Räume geschickt, so holte er den Johann herauf und
+wies ihn an, ihn zu begleiten, im Fall er nicht herbeischaffen
+könnte, was erforderlich sei. Und jedes folgte immer ganz willig
+dem Ruf, obschon eigentlich nie etwas herbeizutragen war, so dass
+jedes gut hätte allein gehen können; aber es war so, als denke der
+Herbeigerufene immer bei sich, er könne den anderen auch bald für
+denselben Dienst nötig haben. Während sich solches oben zutrug,
+stand unten die langjährige Köchin tiefsinnig bei ihren Töpfen und
+schüttelte den Kopf und seufzte: "Dass ich das noch erleben musste!"
+</p>
+
+<p>
+Es ging im Hause Sesemann seit einiger Zeit etwas ganz Seltsames
+und Unheimliches vor. Jeden Morgen, wenn die Dienerschaft
+herunterkam, stand die Haustür weit offen; aber weit und breit war
+niemand zu sehen, der mit dieser Erscheinung im Zusammenhang stehen
+konnte. In den ersten Tagen, da dies geschehen war, wurden gleich
+mit Schrecken alle Zimmer und Räume des Hauses durchsucht, um zu
+sehen, was alles gestohlen sei, denn man dachte, ein Dieb habe sich
+im Hause verstecken können und sei in der Nacht mit dem Gestohlenen
+entflohen; aber da war gar nichts fortgekommen, es fehlte im ganzen
+Hause nicht ein einziges Ding. Abends wurde nicht nur die Tür
+doppelt zugeriegelt, sondern es wurde noch der hölzerne Balken
+vorgeschoben--es half nichts: Am Morgen stand die Tür weit offen;
+und so früh nun auch die ganze Dienerschaft in ihrer Aufregung am
+Morgen herunterkommen mochte--die Tür stand offen, wenn auch
+ringsum alles noch im tiefen Schlaf lag und Fenster und Türen an
+allen anderen Häusern noch fest verrammelt waren. Endlich fassten
+sich der Johann und der Sebastian ein Herz und machten sich auf die
+dringenden Zureden der Dame Rottenmeier bereit, die Nacht unten in
+dem Zimmer, das an den großen Saal stieß, zuzubringen und zu
+erwarten, was geschehe. Fräulein Rottenmeier suchte mehrere Waffen
+des Herrn Sesemann hervor und übergab dem Sebastian eine große
+Liqueurflasche, damit Stärkung vorausgehen und gute Wehr nachfolgen
+könne, wo sie nötig sei.
+</p>
+
+<p>
+Die beiden setzten sich an dem festgesetzten Abend hin und fingen
+gleich an, sich Stärkung zuzutrinken, was sie erst sehr gesprächig
+und dann ziemlich schläfrig machte, worauf sie beide sich an die
+Sesselrücken lehnten und verstummten. Als die alte Turmuhr drüben
+zwölf schlug, ermannte sich Sebastian und rief seinen Kameraden an;
+der war aber nicht leicht zu erwecken; sooft ihn Sebastian anrief,
+legte er seinen Kopf von einer Seite der Sessellehne auf die andere
+und schlief weiter. Sebastian lauschte nunmehr gespannt, er war
+nun wieder ganz munter geworden. Es war alles mäuschenstill, auch
+von der Straße war kein Laut mehr zu hören. Sebastian entschlief
+nicht wieder, denn jetzt wurde es ihm sehr unheimlich in der großen
+Stille, und er rief den Johann nur noch mit gedämpfter Stimme an
+und rüttelte ihn von Zeit zu Zeit ein wenig. Endlich, als es
+droben schon ein Uhr geschlagen hatte, war der Johann wach geworden
+und wieder zum klaren Bewusstsein gekommen, warum er auf dem Stuhl
+sitze und nicht in seinem Bett liege. Jetzt fuhr er auf einmal
+sehr tapfer empor und rief: "Nun, Sebastian, wir müssen doch einmal
+hinaus und sehen, wie's steht; du wirst dich ja nicht fürchten.
+Nur mir nach."
+</p>
+
+<p>
+Johann machte die leicht angelehnte Zimmertür weit auf und trat
+hinaus. Im gleichen Augenblick blies aus der offenen Haustür ein
+scharfer Luftzug her und löschte das Licht aus, das der Johann in
+der Hand hielt. Dieser stürzte zurück, warf den hinter ihm
+stehenden Sebastian beinah rücklings ins Zimmer hinein, riss ihn
+dann mit, schlug die Tür zu und drehte in fieberhafter Eile den
+Schlüssel um, solang er nur umging. Dann riss er seine
+Streichhölzer hervor und zündete sein Licht wieder an. Sebastian
+wusste gar nicht recht, was vorgefallen war, denn hinter dem
+breiten Johann stehend, hatte er den Luftzug nicht so deutlich
+empfunden. Wie er aber jenen nun bei Licht besah, tat er einen
+Schreckensruf, denn der Johann war kreideweiß und zitterte wie
+Espenlaub. "Was ist's denn? Was war denn draußen?", fragte der
+Sebastian teilnehmend.
+</p>
+
+<p>
+"Sperrangelweit offen die Tür", keuchte Johann, "und auf der Treppe
+eine weiße Gestalt, siehst du, Sebastian, nur so die Treppe hinauf--
+husch und verschwunden."
+</p>
+
+<p>
+Dem Sebastian gruselte es den ganzen Rücken hinauf. Jetzt setzten
+sich die beiden ganz nah zusammen und regten sich nicht mehr, bis
+dass der neue Morgen da war und es auf der Straße anfing, lebendig
+zu werden. Dann traten sie zusammen hinaus, machten die weit offen
+stehende Haustür zu und stiegen dann hinauf, um Fräulein
+Rottenmeier Bericht zu erstatten über das Erlebte. Die Dame war
+auch schon zu sprechen, denn die Erwartung der zu vernehmenden
+Dinge hatte sie nicht mehr schlafen lassen. Sobald sie nun
+vernommen hatte, was vorgefallen war, setzte sie sich hin und
+schrieb einen Brief an Herrn Sesemann, wie er noch keinen erhalten
+hatte; er möge sich nur sogleich, ohne Verzug, aufmachen und nach
+Hause zurückkehren, denn da geschähen unerhörte Dinge. Dann wurde
+ihm das Vorgefallene mitgeteilt sowie auch die Nachricht, dass
+fortgesetzt die Tür jeden Morgen offen stehe; dass also keiner im
+Hause seines Lebens mehr sicher sei bei dergestalt allnächtlich
+offen stehender Hauspforte und dass man überhaupt nicht absehen
+könne, was für dunkle Folgen dieser unheimliche Vorgang noch nach
+sich ziehen könne. Herr Sesemann antwortete umgehend, es sei ihm
+unmöglich, so plötzlich alles liegen zu lassen und nach Hause zu
+kommen. Die Gespenstergeschichte sei ihm sehr befremdend, er hoffe
+auch, sie sei vorübergehend; sollte es indessen keine Ruhe geben,
+so möge Fräulein Rottenmeier an Frau Sesemann schreiben und sie
+fragen, ob sie nicht nach Frankfurt zu Hilfe kommen wollte; gewiss
+würde seine Mutter in kürzester Zeit mit den Gespenstern fertig,
+und diese trauten sich nachher sicher so bald nicht wieder, sein
+Haus zu beunruhigen. Fräulein Rottenmeier war nicht zufrieden mit
+dem Ton dieses Briefes; die Sache war ihr zu wenig ernst aufgefasst.
+Sie schrieb unverzüglich an Frau Sesemann, aber von dieser Seite
+her tönte es nicht eben befriedigender, und die Antwort enthielt
+einige ganz anzügliche Bemerkungen. Frau Sesemann schrieb, sie
+gedenke nicht, extra von Holstein nach Frankfurt hinunterzureisen,
+weil die Rottenmeier Gespenster sehe. Übrigens sei niemals ein
+Gespenst gesehen worden im Hause Sesemann, und wenn jetzt eines
+darin herumfahre, so könne es nur ein lebendiges sein, mit dem die
+Rottenmeier sich sollte verständigen können; wo nicht, so solle sie
+die Nachtwächter zu Hilfe rufen.
+</p>
+
+<p>
+Aber Fräulein Rottenmeier war entschlossen, ihre Tage nicht mehr in
+Schrecken zuzubringen, und sie wusste sich zu helfen. Bis dahin
+hatte sie den beiden Kindern nichts von der Geistererscheinung
+gesagt, denn sie befürchtete, die Kinder würden vor Furcht Tag und
+Nacht keinen Augenblick mehr allein bleiben wollen, und das konnte
+sehr unbequeme Folgen für sie haben. Jetzt ging sie stracks ins
+Studierzimmer hinüber, wo die beiden zusammensaßen, und erzählte
+mit gedämpfter Stimme von den nächtlichen Erscheinungen eines
+Unbekannten. Sofort schrie Klara auf, sie bleibe keinen Augenblick
+mehr allein, der Papa müsse nach Hause kommen und Fräulein
+Rottenmeier müsse zum Schlafen in ihr Zimmer hinüberziehen, und
+Heidi dürfe auch nicht mehr allein sein, sonst könne das Gespenst
+einmal zu ihm kommen und ihm etwas tun; sie wollten alle in _einem_
+Zimmer schlafen und die ganze Nacht das Licht brennen lassen, und
+Tinette müsste nebenan schlafen und der Sebastian und der Johann
+müssten auch herunterkommen und auf dem Korridor schlafen, dass sie
+gleich schreien und das Gespenst erschrecken könnten, wenn es etwa
+die Treppe heraufkommen wollte. Klara war sehr aufgeregt und
+Fräulein Rottenmeier hatte nun die größte Mühe, sie etwas zu
+beschwichtigen. Sie versprach ihr, sogleich an den Papa zu
+schreiben und auch ihr Bett in Klaras Zimmer stellen und sie nie
+mehr allein lassen zu wollen. Alle konnten sie nicht in demselben
+Raume schlafen, aber wenn Adelheid sich auch fürchten sollte, so
+müsste Tinette ihr Nachtlager bei ihr aufschlagen. Aber Heidi
+fürchtete sich mehr vor der Tinette als vor Gespenstern, von denen
+das Kind noch gar nie etwas gehört hatte, und es erklärte gleich,
+es fürchte das Gespenst nicht und wolle schon allein in seinem
+Zimmer bleiben. Hierauf eilte Fräulein Rottenmeier an ihren
+Schreibtisch und schrieb an Herrn Sesemann, die unheimlichen
+Vorgänge im Hause, die allnächtlich sich wiederholten, hätten die
+zarte Konstitution seiner Tochter dergestalt erschüttert, dass die
+schlimmsten Folgen zu befürchten seien; man habe Beispiele von
+plötzlich eintretenden epileptischen Zufällen oder Veitstanz in
+solchen Verhältnissen, und seine Tochter sei allem ausgesetzt, wenn
+dieser Zustand des Schreckens im Hause nicht gehoben werde.
+</p>
+
+<p>
+Das half. Zwei Tage darauf stand Herr Sesemann vor seiner Tür und
+schellte dergestalt an seiner Hausglocke, dass alles zusammenlief
+und einer den anderen anstarrte, denn man glaubte nicht anders, als
+nun lasse der Geist frecherweise noch vor Nacht seine boshaften
+Stücke aus. Sebastian guckte ganz behutsam durch einen halb
+geöffneten Laden von oben herunter; in dem Augenblick schellte es
+noch einmal so nachdrücklich, dass jeder unwillkürlich eine
+Menschenhand hinter dem tüchtigen Ruck vermutete. Sebastian hatte
+die Hand erkannt, stürzte durchs Zimmer, kopfüber die Treppe
+hinunter, kam aber unten wieder auf die Füße und riss die Haustür
+auf. Herr Sesemann grüßte kurz und stieg ohne weiteres nach dem
+Zimmer seiner Tochter hinauf. Klara empfing den Papa mit einem
+lauten Freudenruf, und als er sie so munter und völlig unverändert
+sah, glättete sich seine Stirn, die er vorher sehr zusammengezogen
+hatte, und immer mehr, als er nun von ihr selbst hörte, sie sei so
+wohl wie immer und sie sei so froh, dass er gekommen sei, dass es
+ihr jetzt ganz recht sei, dass ein Geist im Haus herumfahre, weil
+er doch daran schuld sei, dass der Papa heimkommen musste.
+</p>
+
+<p>
+"Und wie führt sich das Gespenst weiter auf, Fräulein Rottenmeier?",
+fragte nun Herr Sesemann mit einem lustigen Ausdruck in den
+Mundwinkeln.
+</p>
+
+<p>
+"Nein, Herr Sesemann", entgegnete die Dame ernst, "es ist kein
+Scherz. Ich zweifle nicht daran, dass morgen Herr Sesemann nicht
+mehr lachen wird; denn was in dem Hause vorgeht, deutet auf
+Fürchterliches, das hier in vergangener Zeit muss vorgegangen und
+verheimlicht worden sein."
+</p>
+
+<p>
+"So, davon weiß ich nichts", bemerkte Herr Sesemann, "muss aber
+bitten, meine völlig ehrenwerten Ahnen nicht verdächtigen zu wollen.
+Und nun rufen Sie mir den Sebastian ins Esszimmer, ich will
+allein mit ihm reden."
+</p>
+
+<p>
+Herr Sesemann ging hinüber und Sebastian erschien. Es war Herrn
+Sesemann nicht entgangen, dass Sebastian und Fräulein Rottenmeier
+sich nicht eben mit Zuneigung betrachteten; so hatte er seine
+Gedanken.
+</p>
+
+<p>
+"Komm Er her, Bursche", winkte er dem Eintretenden entgegen, "und
+sag Er mir nun ganz ehrlich: Hat Er nicht etwa selbst ein wenig
+Gespenst gespielt, so um Fräulein Rottenmeier etwas Kurzweil zu
+machen, he?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, meiner Treu, das muss der gnädige Herr nicht glauben; es ist
+mir selbst nicht ganz gemütlich bei der Sache", entgegnete
+Sebastian mit unverkennbarer Ehrlichkeit.
+</p>
+
+<p>
+"Nun, wenn es so steht, so will ich morgen Ihm und dem tapferen
+Johann zeigen, wie Gespenster beim Licht aussehen. Schäme Er sich,
+Sebastian, ein junger, kräftiger Bursch, wie Er ist, vor
+Gespenstern davonzulaufen! Nun geh Er unverzüglich zu meinem alten
+Freund, Doktor Classen: meine Empfehlung und er möchte unfehlbar
+heut Abend neun Uhr bei mir erscheinen; ich sei extra von Paris
+hergereist, um ihn zu konsultieren. Er müsse die Nacht bei mir
+wachen, so schlimm sei's; er solle sich richten! Verstanden,
+Sebastian?"
+</p>
+
+<p>
+"Jawohl, jawohl! Der gnädige Herr kann sicher sein, dass ich's gut
+mache." Damit entfernte sich Sebastian, und Herr Sesemann kehrte zu
+seinem Töchterchen zurück, um ihr alle Furcht vor einer Erscheinung
+zu benehmen, die er noch heute ins nötige Licht stellen wollte.
+</p>
+
+<p>
+Punkt neun Uhr, als die Kinder zur Ruhe gegangen und auch Fräulein
+Rottenmeier sich zurückgezogen hatte, erschien der Doktor, der
+unter seinen grauen Haaren noch ein recht frisches Gesicht und zwei
+lebhaft und freundlich blickende Augen zeigte. Er sah etwas
+ängstlich aus, brach aber gleich nach seiner Begrüßung in ein
+helles Lachen aus und sagte, seinem Freunde auf die Schulter
+klopfend: "Nun, nun, für einen, bei dem man wachen soll, siehst du
+noch leidlich aus, Alter."
+</p>
+
+<p>
+"Nur Geduld, Alter", gab Herr Sesemann zurück; "derjenige, für den
+du wachen musst, wird schon schlimmer aussehen, wenn wir ihn erst
+abgefangen haben."
+</p>
+
+<p>
+"Also doch ein Kranker im Haus und dazu einer, der eingefangen
+werden muss?"
+</p>
+
+<p>
+"Weit schlimmer, Doktor, weit schlimmer. Ein Gespenst im Hause,
+bei mir spukt's!"
+</p>
+
+<p>
+Der Doktor lachte laut auf.
+</p>
+
+<p>
+"Schöne Teilnahme das, Doktor!", fuhr Herr Sesemann fort; "schade,
+dass meine Freundin Rottenmeier sie nicht genießen kann. Sie ist
+fest überzeugt, dass ein alter Sesemann hier herumrumort und
+Schauertaten abbüßt."
+</p>
+
+<p>
+"Wie hat sie ihn aber nur kennen gelernt?", fragte der Doktor noch
+immer sehr erheitert.
+</p>
+
+<p>
+Herr Sesemann erzählte nun seinem Freunde den ganzen Vorgang und
+wie noch jetzt allnächtlich die Haustür geöffnet werde, nach der
+Angabe der sämtlichen Hausbewohner, und fügte hinzu, um für alle
+Fälle vorbereitet zu sein, habe er zwei gut geladene Revolver in
+das Wachtlokal legen lassen; denn entweder sei die Sache ein sehr
+unerwünschter Scherz, den sich vielleicht irgendein Bekannter der
+Dienerschaft mache, um die Leute des Hauses in Abwesenheit des
+Hausherrn zu erschrecken--dann könnte ein kleiner Schrecken, wie
+ein guter Schuss ins Leere, ihm nicht unheilsam sein--; oder auch
+es handle sich um Diebe, die auf diese Weise erst den Gedanken an
+Gespenster aufkommen lassen wollten, um nachher umso sicherer zu
+sein, dass niemand sich herauswage--in diesem Falle könnte eine
+gute Waffe auch nicht schaden.
+</p>
+
+<p>
+Während dieser Erklärungen waren die Herren die Treppe
+hinuntergestiegen und traten in dasselbe Zimmer ein, wo Johann und
+Sebastian auch gewacht hatten. Auf dem Tische standen einige
+Flaschen schönen Weines, denn eine kleine Stärkung von Zeit zu Zeit
+konnte nicht unerwünscht sein, wenn die Nacht da zugebracht werden
+musste. Daneben lagen die beiden Revolver, und zwei, ein helles
+Licht verbreitende Armleuchter standen mitten auf dem Tisch, denn
+so im Halbdunkel wollte Herr Sesemann das Gespenst denn doch nicht
+erwarten.
+</p>
+
+<p>
+Nun wurde die Tür ans Schloss gelehnt, denn zu viel Licht durfte
+nicht in den Korridor hinausfließen, es konnte das Gespenst
+verscheuchen. Jetzt setzten sich die Herren gemütlich in ihre
+Lehnstühle und fingen an, sich allerlei zu erzählen, nahmen auch
+hier und da dazwischen einen guten Schluck, und so schlug es zwölf
+Uhr, eh sie sich's versahen.
+</p>
+
+<p>
+"Das Gespenst hat uns gewittert und kommt wohl heut gar nicht",
+sagte der Doktor jetzt.
+</p>
+
+<p>
+"Nur Geduld, es soll erst um ein Uhr kommen", entgegnete der Freund.
+</p>
+
+<p>
+Das Gespräch wurde wieder aufgenommen. Es schlug ein Uhr. Ringsum
+war es völlig still, auch auf den Straßen war aller Lärm verklungen.
+Auf einmal hob der Doktor den Finger empor.
+</p>
+
+<p>
+"Pst, Sesemann, hörst du nichts?"
+</p>
+
+<p>
+Sie lauschten beide. Leise, aber ganz deutlich hörten sie, wie der
+Balken zurückgeschoben, dann der Schlüssel zweimal im Schloss
+umgedreht, jetzt die Tür geöffnet wurde. Herr Sesemann fuhr mit
+der Hand nach seinem Revolver.
+</p>
+
+<p>
+"Du fürchtest dich doch nicht?", sagte der Doktor und stand auf.
+</p>
+
+<p>
+"Behutsam ist besser", flüsterte Herr Sesemann, erfasste mit der
+Linken den Armleuchter mit drei Kerzen, mit der Rechten den
+Revolver und folgte dem Doktor, der, gleichermaßen mit Leuchter und
+Schießgewehr bewaffnet, voranging. Sie traten auf den Korridor
+hinaus.
+</p>
+
+<p>
+Durch die weit geöffnete Tür floss ein bleicher Mondschein herein
+und beleuchtete eine weiße Gestalt, die regungslos auf der Schwelle
+stand.
+</p>
+
+<p>
+"Wer da?", donnerte jetzt der Doktor heraus, dass es durch den
+ganzen Korridor hallte, und beide Herren traten nun mit Lichtern
+und Waffen an die Gestalt heran. Sie kehrte sich um und tat einen
+leisen Schrei. Mit bloßen Füßen im weißen Nachtkleidchen stand
+Heidi da, schaute mit verwirrten Blicken in die hellen Flammen und
+auf die Waffen und zitterte und bebte wie ein Blättlein im Winde
+von oben bis unten. Die Herren schauten einander in großem
+Erstaunen an.
+</p>
+
+<p>
+"Ich glaube wahrhaftig, Sesemann, es ist deine kleine
+Wasserträgerin", sagte der Doktor.
+</p>
+
+<p>
+"Kind, was soll das heißen?", fragte nun Herr Sesemann. "Was
+wolltest du tun? Warum bist du hier heruntergekommen?"
+</p>
+
+<p>
+Schneeweiß vor Schrecken stand Heidi vor ihm und sagte fast tonlos:
+"Ich weiß nicht."
+</p>
+
+<p>
+Jetzt trat der Doktor vor: "Sesemann, der Fall gehört in mein
+Gebiet; geh, setz dich einstweilen in deinen Lehnstuhl drinnen, ich
+will vor allem das Kind hinbringen, wo es hingehört."
+</p>
+
+<p>
+Damit legte er seinen Revolver auf den Boden, nahm das zitternde
+Kind ganz väterlich bei der Hand und ging mit ihm der Treppe zu.
+</p>
+
+<p>
+"Nicht fürchten, nicht fürchten", sagte er freundlich im
+Hinaufsteigen, "nur ganz ruhig sein, da ist gar nichts Schlimmes
+dabei, nur getrost sein."
+</p>
+
+<p>
+In Heidis Zimmer eingetreten, stellte der Doktor seinen Leuchter
+auf den Tisch, nahm Heidi auf den Arm, legte es in sein Bett hinein
+und deckte es sorgfältig zu. Dann setzte er sich auf den Sessel am
+Bett und wartete, bis Heidi ein wenig beruhigt war und nicht mehr
+an allen Gliedern bebte. Dann nahm er das Kind bei der Hand und
+sagte begütigend: "So, nun ist alles in Ordnung, nun sag mir auch
+noch, wo wolltest du denn hin?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich wollte gewiss nirgends hin", versicherte Heidi; "ich bin auch
+gar nicht selbst hinuntergegangen, ich war nur auf einmal da."
+</p>
+
+<p>
+"So, so, und hast du etwa geträumt in der Nacht, weißt du, so, dass
+du deutlich etwas sahst und hörtest?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja, jede Nacht träumt es mir und immer gleich. Dann mein ich, ich
+sei beim Großvater, und draußen hör ich's in den Tannen sausen und
+denke: Jetzt glitzern so schön die Sterne am Himmel, und ich laufe
+geschwind und mache die Tür auf an der Hütte und da ist's so schön!
+Aber wenn ich erwache, bin ich immer noch in Frankfurt." Heidi
+fing schon an zu kämpfen und zu schlucken an dem Gewicht, das den
+Hals hinaufstieg.
+</p>
+
+<p>
+"Hm, und tut dir denn auch nichts weh, nirgends? Nicht im Kopf
+oder im Rücken?"
+</p>
+
+<p>
+"O nein, nur hier drückt es so wie ein großer Stein immerfort."
+</p>
+
+<p>
+"Hm, etwa so, wie wenn man etwas gegessen hat und wollte es nachher
+lieber wieder zurückgeben?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, so nicht, aber so schwer, wie wenn man stark weinen sollte."
+</p>
+
+<p>
+"So, so, und weinst du denn so recht heraus?"
+</p>
+
+<p>
+"O nein, das darf man nicht, Fräulein Rottenmeier hat es verboten."
+</p>
+
+<p>
+"Dann schluckst du's herunter zum andern, nicht wahr, so? Richtig!
+Nun, du bist doch recht gern in Frankfurt, nicht?"
+</p>
+
+<p>
+"O ja", war die leise Antwort; sie klang aber so, als bedeute sie
+eher das Gegenteil.
+</p>
+
+<p>
+"Hm, und wo hast du mit deinem Großvater gelebt?"
+</p>
+
+<p>
+"Immer auf der Alm."
+</p>
+
+<p>
+"So, da ist's doch nicht so besonders kurzweilig, eher ein wenig
+langweilig, nicht?"
+</p>
+
+<p>
+"O nein, da ist's so schön, so schön!" Heidi konnte nicht weiter;
+die Erinnerung, die eben durchgemachte Aufregung, das lang
+verhaltene Weinen überwältigten die Kräfte des Kindes; gewaltsam
+stürzten ihm die Tränen aus den Augen und es brach in ein lautes,
+heftiges Schluchzen aus.
+</p>
+
+<p>
+Der Doktor stand auf; er legte freundlich Heidis Kopf auf das
+Kissen nieder und sagte: "So, noch ein klein wenig weinen, das kann
+nichts schaden, und dann schlafen, ganz fröhlich einschlafen;
+morgen wird alles gut." Dann verließ er das Zimmer.
+</p>
+
+<p>
+Wieder unten in die Wachtstube eingetreten, ließ er sich dem
+harrenden Freunde gegenüber in den Lehnstuhl nieder und erklärte
+dem mit gespannter Erwartung Lauschenden: "Sesemann, dein kleiner
+Schützling ist erstens mondsüchtig; völlig unbewusst hat er dir
+allnächtlich als Gespenst die Haustür aufgemacht und deiner ganzen
+Mannschaft die Fieber des Schreckens ins Gebein gejagt. Zweitens
+wird das Kind vom Heimweh verzehrt, so dass es schon jetzt fast zum
+Geripplein abgemagert ist und es noch völlig werden würde; also
+schnelle Hilfe! Für das erste Übel und die in hohem Grade
+stattfindende Nervenaufregung gibt es nur ein Heilmittel, nämlich,
+dass du sofort das Kind in die heimatliche Bergluft
+zurückversetzest; für das zweite gibt's ebenfalls nur _eine_
+Medizin, nämlich ganz dieselbe. Demnach reist das Kind morgen ab,
+das ist mein Rezept."
+</p>
+
+<p>
+Herr Sesemann war aufgestanden. In größter Aufregung lief er das
+Zimmer auf und ab; jetzt brach er aus: "Mondsüchtig! Krank!
+Heimweh! Abgemagert in meinem Hause! Das alles in meinem Hause!
+Und niemand sieht zu und weiß etwas davon! Und du, Doktor, du
+meinst, das Kind, das frisch und gesund in mein Haus gekommen ist,
+schicke ich elend und abgemagert seinem Großvater zurück? Nein,
+Doktor, das kannst du nicht verlangen, das tu ich nicht, das werde
+ich nie tun. Jetzt nimm das Kind in die Hand, mach Kuren mit ihm,
+mach, was du willst, aber mach es mir heil und gesund, dann will
+ich es heimschicken, wenn es will; aber erst hilf du!"
+</p>
+
+<p>
+"Sesemann", entgegnete der Doktor ernsthaft, "bedenke, was du tust!
+Dieser Zustand ist keine Krankheit, die man mit Pulvern und Pillen
+heilt. Das Kind hat keine zähe Natur, indessen, wenn du es jetzt
+gleich wieder in die kräftige Bergluft hinaufschickst, an die es
+gewöhnt ist, so kann es wieder völlig gesunden; wenn nicht--du
+willst nicht, dass das Kind dem Großvater unheilbar oder gar nicht
+mehr zurückkomme?"
+</p>
+
+<p>
+Herr Sesemann war erschrocken stehen geblieben: "Ja, wenn du so
+redest, Doktor, dann ist nur _ein_ Weg, dann muss sofort gehandelt
+werden." Mit diesen Worten nahm Herr Sesemann den Arm seines
+Freundes und wanderte mit ihm hin und her, um die Sache noch weiter
+zu besprechen. Dann brach der Doktor auf, um nach Hause zu gehen,
+denn es war unterdessen viel Zeit vergangen, und durch die Haustür,
+die diesmal vom Herrn des Hauses aufgeschlossen wurde, drang schon
+der helle Morgenschimmer herein.
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap13"></a>
+Am Sommerabend die Alm hinan
+</h3>
+
+<p>
+Herr Sesemann stieg in großer Erregtheit die Treppe hinauf und
+wanderte mit festem Schritt zum Schlafgemach der Dame Rottenmeier.
+Hier klopfte er so ungewöhnlich kräftig an die Tür, dass die
+Bewohnerin mit einem Schreckensruf aus dem Schlaf auffuhr. Sie
+hörte die Stimme des Hausherrn draußen: "Bitte sich zu beeilen und
+im Esszimmer zu erscheinen, es muss sofort eine Abreise vorbereitet
+werden."
+</p>
+
+<p>
+Fräulein Rottenmeier schaute auf ihre Uhr, es war halb fünf des
+Morgens; zu solcher Stunde war sie in ihrem Leben noch nie
+aufgestanden. Was konnte nur vorgefallen sein? Vor Neugierde und
+angstvoller Erwartung nahm sie alles verkehrt in die Hand und kam
+durchaus nicht vorwärts, denn was sie einmal auf den Leib gebracht
+hatte, suchte sie nachher rastlos im Zimmer herum.
+</p>
+
+<p>
+Unterdessen ging Herr Sesemann den Korridor entlang und zog mit
+aller Kraft an jedem Glockenzug, der je für die verschiedenen
+Glieder der Dienerschaft angebracht war, so dass in jedem der
+betreffenden Zimmer eine Schreckensgestalt aus dem Bett sprang und
+verkehrt in die Kleider fuhr, denn einer wie der andere dachte
+sogleich, das Gespenst habe irgendwie den Hausherrn gepackt und
+dies sei sein Hilferuf. So kamen sie nach und nach, einer
+schauerlicher aussehend als der andere, herunter und stellten sich
+mit Erstaunen vor den Hausherrn hin, denn dieser ging frisch und
+munter im Esszimmer auf und ab und sah keineswegs aus, als habe ihn
+ein Gespenst erschreckt. Johann wurde sofort hingeschickt, Pferde
+und Wagen in Ordnung zu bringen und sie nachher vorzuführen.
+Tinette erhielt den Auftrag, sogleich Heidi aufzuwecken und es in
+den Stand zu stellen, eine Reise anzutreten. Sebastian erhielt den
+Auftrag, nach dem Hause zu eilen, wo Heidis Base im Dienst stand,
+und diese herbeizuholen. Fräulein Rottenmeier war unterdessen
+zurechtgekommen mit ihrem Anzug, und alles saß, wie es musste, nur
+die Haube saß verkehrt auf dem Kopf, so dass es von weitem aussah,
+als sitze ihr das Gesicht auf dem Rücken. Herr Sesemann schrieb
+den rätselhaften Anblick dem frühen Schlafbrechen zu und ging
+unverweilt an die Geschäftsverhandlungen. Er erklärte der Dame,
+sie habe ohne Zögern einen Koffer zur Stelle zu schaffen, die
+sämtliche Habe des Schweizerkindes hineinzupacken--so nannte Herr
+Sesemann gewöhnlich das Heidi, dessen Name ihm etwas ungewohnt war--,
+dazu noch einen guten Teil von Klaras Zeug, damit das Kind was
+Rechtes mitbringe; es müsse aber alles schnell und ohne langes
+Besinnen vor sich gehen.
+</p>
+
+<p>
+Fräulein Rottenmeier blieb vor Überraschung wie in den Boden
+eingewurzelt stehen und starrte Herrn Sesemann an. Sie hatte
+erwartet, er wolle ihr im Vertrauen die Mitteilung einer
+schauerlichen Geistergeschichte machen, die er in der Nacht erlebt
+und die sie eben jetzt bei dem hellen Morgenlicht nicht ungern
+gehört hätte; stattdessen diese völlig prosaischen und dazu noch
+sehr unbequemen Aufträge. So schnell konnte sie das Unerwartete
+nicht bewältigen. Sprachlos stand sie immer noch da und erwartete
+ein Weiteres.
+</p>
+
+<p>
+Aber Herr Sesemann hatte keine Erklärungen im Sinn; er ließ die
+Dame stehen, wo sie stand, und ging nach dem Zimmer seiner Tochter.
+Wie er vermutet hatte, war diese durch die ungewöhnliche Bewegung
+im Hause wach geworden und lauschte nach allen Seiten hin, was wohl
+vorgehe. Der Vater setzte sich nun an ihr Bett und erzählte ihr
+den ganzen Verlauf der Geistererscheinung und dass Heidi nach des
+Doktors Ausspruch sehr angegriffen sei und wohl nach und nach seine
+nächtlichen Wanderungen ausdehnen, vielleicht gar das Dach
+besteigen würde, was dann mit den höchsten Gefahren verbunden wäre.
+Er habe also beschlossen, das Kind sofort heimzuschicken, denn
+solche Verantwortung könne er nicht auf sich nehmen, und Klara
+müsse sich dareinfinden, sie sehe ja ein, dass es nicht anders sein
+könne.
+</p>
+
+<p>
+Klara war sehr schmerzlich überrascht von der Mitteilung und wollte
+erst allerlei Auswege finden, aber es half nichts, der Vater blieb
+fest bei seinem Entschluss, versprach aber, im nächsten Jahre mit
+Klara nach der Schweiz zu reisen, wenn sie nun recht vernünftig sei
+und keinen Jammer erhebe. So ergab sich Klara in das
+Unvermeidliche, begehrte aber zum Ersatz, dass der Koffer für Heidi
+in ihr Zimmer gebracht und da gepackt werde, damit sie
+hineinstecken könne, was ihr Freude mache, was der Papa sehr gern
+bewilligte, ja er ermunterte Klara noch, dem Kinde eine schöne
+Aussteuer zurechtzumachen. Unterdessen war die Base Dete angelangt
+und stand in großer Erwartung im Vorzimmer, denn dass sie um diese
+ungewöhnliche Zeit einberufen worden war, musste etwas
+Außerordentliches bedeuten. Herr Sesemann trat zu ihr heraus und
+erklärte ihr, wie es mit Heidi stehe und dass er wünsche, sie
+möchte das Kind sofort, gleich heute noch, nach Hause bringen. Die
+Base sah sehr enttäuscht aus; diese Nachricht hatte sie nicht
+erwartet. Sie erinnerte sich auch noch recht wohl der Worte, die
+ihr der Öhi mit auf den Weg gegeben hatte, dass sie ihm nie mehr
+vor die Augen kommen solle, und so das Kind dem Alten einmal
+bringen und dann nehmen und dann wiederbringen, das schien ihr
+nicht ganz geraten zu sein. Sie besann sich also nicht lange,
+sondern sagte mit großer Beredsamkeit, heute wäre es ihr leider
+völlig unmöglich, die Reise anzutreten, und morgen könnte sie noch
+weniger daran denken, und die Tage darauf wäre es am
+allerunmöglichsten, um der darauf folgenden Geschäfte willen, und
+nachher könnte sie dann gar nicht mehr. Herr Sesemann verstand die
+Sprache und entließ die Base ohne weiteres. Nun ließ er den
+Sebastian vortreten und erklärte ihm, er habe sich unverzüglich zur
+Reise zu rüsten; heute habe er mit dem Kinde bis nach Basel zu
+fahren, morgen bringe er es heim. Dann könne er sogleich wieder
+umkehren, zu berichten habe er nichts, ein Brief an den Großvater
+werde diesem alles erklären.
+</p>
+
+<p>
+"Nun aber noch eine Hauptsache, Sebastian", schloss Herr Sesemann,
+"und dass Er mir das pünktlich besorgt! Den Gasthof in Basel, den
+ich Ihm hier auf meine Karte geschrieben, kenne ich. Er weist
+meine Karte vor, dann wird Ihm ein gutes Zimmer angewiesen werden
+für das Kind; für sich selbst wird Er schon sorgen. Dann geht Er
+erst in des Kindes Zimmer hinein und verrammelt alle Fenster so
+vollständig, dass nur große Gewalt sie aufzubringen vermöchte. Ist
+das Kind zu Bett, so geht Er und schließt von außen die Tür ab,
+denn das Kind wandert herum in der Nacht und könnte Gefahr laufen
+in dem fremden Haus, wenn es etwa hinausginge und die Haustür
+aufmachen wollte; versteht Er das?"
+</p>
+
+<p>
+"Ah! Ah! Ah! Das war's? So war's?", stieß Sebastian jetzt in
+größter Verwunderung aus, denn es war ihm eben ein großes Licht
+aufgegangen über die Geistererscheinung.
+</p>
+
+<p>
+"Ja, so war's! Das war's! Und Er ist ein Hasenfuß, und dem Johann
+kann Er sagen, er sei desgleichen und alle miteinander eine
+lächerliche Mannschaft." Damit ging Herr Sesemann nach seiner Stube,
+setzte sich hin und schrieb einen Brief an den Alm-Öhi.
+</p>
+
+<p>
+Sebastian war verdutzt mitten im Zimmer stehen geblieben und
+wiederholte jetzt zu öfteren Malen in seinem Innern: "Hätt ich mich
+doch von dem Feigling von einem Johann nicht in die Wachtstube
+hineinreißen lassen, sondern wäre dem weißen Figürchen nachgegangen,
+was ich doch jetzt unzweifelhaft tun würde!", denn jetzt
+beleuchtete die helle Sonne jeden Winkel der hellgrauen Stube mit
+voller Klarheit.
+</p>
+
+<p>
+Unterdessen stand Heidi völlig ahnungslos in seinem
+Sonntagsröckchen und wartete ab, was geschehen sollte, denn die
+Tinette hatte es nur aus dem Schlafe aufgerüttelt, die Kleider aus
+dem Schrank genommen und das Anziehen gefördert, ohne ein Wort zu
+sagen. Sie sprach niemals mit dem ungebildeten Heidi, denn das war
+ihr zu gering.
+</p>
+
+<p>
+Herr Sesemann trat mit seinem Brief ins Esszimmer ein, wo das
+Frühstück bereitstand, und rief: "Wo ist das Kind?"
+</p>
+
+<p>
+Heidi wurde gerufen. Als es zu Herrn Sesemann herantrat, um ihm
+'guten Morgen' zu sagen, schaute er ihm fragend ins
+Gesicht: "Nun, was sagst du denn dazu, Kleine?"
+</p>
+
+<p>
+Heidi blickte verwundert zu ihm auf.
+</p>
+
+<p>
+"Du weißt am Ende noch gar nichts", lachte Herr Sesemann. "Nun,
+heut gehst du heim, jetzt gleich."
+</p>
+
+<p>
+"Heim?", wiederholte Heidi tonlos und wurde schneeweiß, und eine
+kleine Weile konnte es gar keinen Atem mehr holen, so stark wurde
+sein Herz von dem Eindruck gepackt.
+</p>
+
+<p>
+"Nun, willst du etwa nichts wissen davon?", fragte Herr Sesemann
+lächelnd.
+</p>
+
+<p>
+"O ja, ich will schon", kam jetzt heraus, und nun war Heidi
+dunkelrot geworden.
+</p>
+
+<p>
+"Gut, gut", sagte Herr Sesemann ermunternd, indem er sich setzte
+und Heidi winkte, dasselbe zu tun. "Und nun tüchtig frühstücken
+und hernach in den Wagen und fort."
+</p>
+
+<p>
+Aber Heidi konnte keinen Bissen herunterbringen, wie es sich auch
+zwingen wollte aus Gehorsam; es war in einem Zustand von Aufregung,
+dass es gar nicht wusste, ob es wache oder träume und ob es
+vielleicht wieder auf einmal erwachen und im Nachthemdchen an der
+Haustür stehen werde.
+</p>
+
+<p>
+"Sebastian soll reichlich Proviant mitnehmen", rief Herr Sesemann
+Fräulein Rottenmeier zu, die eben eintrat; "das Kind kann nicht
+essen, begreiflicherweise.--Geh hinüber zu Klara, bis der Wagen
+vorfährt", setzte er freundlich, zu Heidi gewandt, hinzu.
+</p>
+
+<p>
+Das war Heidis Wunsch: Es sprang hinüber. Mitten in Klaras Zimmer
+war ein ungeheurer Koffer zu sehen, noch stand dessen Deckel weit
+offen.
+</p>
+
+<p>
+"Komm, Heidi, komm", rief ihm Klara entgegen. "Sieh, was ich dir
+habe einpacken lassen, komm, freut's dich?"
+</p>
+
+<p>
+Und sie nannte ihm eine ganze Menge von Dingen, Kleider und
+Schürzen, Tücher und Nähgerät, "und sieh hier, Heidi", und Klara
+hob triumphierend einen Korb in die Höhe. Heidi guckte hinein und
+sprang hoch auf vor Freude, denn drinnen lagen wohl zwölf schöne,
+weiße, runde Brötchen, alle für die Großmutter. Die Kinder
+vergaßen in ihrem Jubel ganz, dass nun der Augenblick komme, da sie
+sich trennen mussten, und als mit einem Mal der Ruf erschallte:
+"Der Wagen ist bereit!"--da war keine Zeit mehr zum Traurigwerden.
+Heidi lief in sein Zimmer, da musste noch ein schönes Buch von der
+Großmama liegen, niemand konnte es eingepackt haben, denn es lag
+unter dem Kopfkissen, weil Heidi Tag und Nacht sich nicht davon
+trennen konnte. Das wurde in den Korb auf die Brötchen gelegt.
+Dann machte es seinen Schrank auf; noch suchte es nach einem Gute,
+das man vielleicht auch nicht eingepackt hatte. Richtig--auch das
+alte rote Tuch lag noch da, Fräulein Rottenmeier hatte es zu gering
+erachtet, um mit eingepackt zu werden. Heidi wickelte es um einen
+anderen Gegenstand und legte es zuoberst auf den Korb, so dass das
+rote Paket sehr sichtbar zur Erscheinung kam. Dann setzte es sein
+schönes Hütchen auf und verließ sein Zimmer.
+</p>
+
+<p>
+Die beiden Kinder mussten sich schnell Lebewohl sagen, denn Herr
+Sesemann stand schon da, um Heidi nach dem Wagen zu bringen.
+Fräulein Rottenmeier stand oben an der Treppe, um hier Heidi zu
+verabschieden. Als sie das seltsame rote Bündelchen erblickte,
+nahm sie es schnell aus dem Korb heraus und warf es auf den Boden.
+</p>
+
+<p>
+"Nein, Adelheid", sagte sie tadelnd, "so kannst du nicht reisen von
+diesem Hause aus; solches Zeug brauchst du überhaupt nicht
+mitzuschleppen. Nun lebe wohl."
+</p>
+
+<p>
+Auf dieses Verbot hin durfte Heidi sein Bündelchen nicht wieder
+aufnehmen, aber es schaute mit einem flehentlichen Blick zu dem
+Hausherrn auf, so, als wollte man ihm seinen größten Schatz nehmen.
+</p>
+
+<p>
+"Nein, nein", sagte Herr Sesemann in sehr bestimmtem Tone, "das
+Kind soll mit heimtragen, was ihm Freude macht, und sollte es auch
+junge Katzen oder Schildkröten mit fortschleppen, so wollen wir uns
+darüber nicht aufregen, Fräulein Rottenmeier."
+</p>
+
+<p>
+Heidi hob eilig sein Bündelchen wieder vom Boden auf, und Dank und
+Freude leuchteten ihm aus den Augen. Unten am Wagen reichte Herr
+Sesemann dem Kinde die Hand und sagte ihm mit freundlichen Worten,
+sie würden seiner gedenken, er und seine Tochter Klara; er wünschte
+ihm alles Gute auf den Weg, und Heidi dankte recht schön für alle
+Guttaten, die ihm zuteil geworden waren, und zum Schluss sagte es:
+"Und den Herrn Doktor lasse ich tausendmal grüßen und ihm auch
+vielmals danken." Denn es hatte sich wohl gemerkt, wie er gestern
+Abend gesagt hatte: "Und morgen wird alles gut." Nun war es so
+gekommen, und Heidi dachte, er habe dazu geholfen.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt wurde das Kind in den Wagen gehoben und der Korb und die
+Provianttasche und der Sebastian kamen nach. Herr Sesemann rief
+noch einmal freundlich: "Glückliche Reise!", und der Wagen rollte
+davon.
+</p>
+
+<p>
+Bald nachher saß Heidi in der Eisenbahn und hielt unbeweglich
+seinen Korb auf dem Schoße fest, denn es wollte ihn nicht einen
+Augenblick aus den Händen lassen, seine kostbaren Brötchen für die
+Großmutter waren ja darin, die musste es sorgfältig hüten und von
+Zeit zu Zeit einmal wieder ansehen und sich freuen darüber. Heidi
+saß mäuschenstille während mehrerer Stunden, denn erst jetzt kam es
+recht zum Bewusstsein, dass es auf dem Wege sei heim zum Großvater,
+auf die Alm, zur Großmutter, zum Geißenpeter, und nun kam ihm alles
+vor Augen, eins nach dem anderen, was es wieder sehen werde und wie
+alles aussehen werde daheim, und dabei stiegen ihm wieder neue
+Gedanken auf, und auf einmal sagte es ängstlich: "Sebastian, ist
+auch sicher die Großmutter auf der Alm nicht gestorben?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, nein", beruhigte dieser, "wollen's nicht hoffen, wird schon
+noch am Leben sein."
+</p>
+
+<p>
+Dann fiel Heidi wieder in sein Sinnen zurück; nur hier und da
+guckte es einmal in seinen Korb hinein, denn alle die Brötchen der
+Großmutter auf den Tisch legen war sein Hauptgedanke. Nach
+längerer Zeit sagte es wieder: "Sebastian, wenn man nur auch ganz
+sicher wissen könnte, dass die Großmutter noch am Leben ist."
+</p>
+
+<p>
+"Jawohl! Jawohl!", entgegnete der Begleiter halb schlafend; "Wird
+schon noch leben, wüsste auch gar nicht, warum nicht."
+</p>
+
+<p>
+Nach einiger Zeit drückte der Schlaf auch Heidis Augen zu, und nach
+der vergangenen unruhigen Nacht und dem frühen Aufstehen war es so
+schlafbedürftig, dass es erst wieder erwachte, als Sebastian es
+tüchtig am Arm schüttelte und ihm zurief: "Erwachen! Erwachen!
+Gleich aussteigen, in Basel angekommen!"
+</p>
+
+<p>
+Am folgenden Morgen ging's weiter, viele Stunden lang. Heidi saß
+wieder mit seinem Korb auf dem Schoß, den es um keinen Preis dem
+Sebastian übergeben wollte; aber heute sagte es gar nichts mehr,
+denn nun wurde mit jeder Stunde die Erwartung gespannter. Dann auf
+einmal, als Heidi gar nicht daran dachte, ertönte laut der Ruf:
+"Maienfeld!" Es sprang von seinem Sitz auf, und dasselbe tat
+Sebastian, der auch überrascht worden war. Jetzt standen sie
+draußen, der Koffer mit ihnen, und der Bahnzug pfiff weiter ins Tal
+hinein. Sebastian sah ihm wehmütig nach, denn er wäre viel lieber
+so sicher und ohne Mühe weitergereist, als dass er nun eine
+Fußpartie unternehmen sollte, die dazu noch mit einer
+Bergbesteigung enden musste, die sehr beschwerlich und dazu
+gefahrvoll sein konnte in diesem Lande, wo doch alles noch halb
+wild war, wie Sebastian annahm. Er schaute daher sehr vorsichtig
+um sich, wen er etwa beraten könnte über den sichersten Weg nach
+dem 'Dörfli'. Unweit des kleinen Stationsgebäudes
+stand ein kleiner Leiterwagen mit einem mageren Rösslein davor; auf
+diesen wurden von einem breitschultrigen Manne ein paar große Säcke
+aufgeladen, die mit der Bahn hergebracht worden waren. Sebastian
+trat zu ihm heran und brachte seine Frage nach dem sichersten Weg
+zum Dörfli vor.
+</p>
+
+<p>
+"Hier sind alle Wege sicher", war die kurze Antwort.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt fragte Sebastian nach dem besten Wege, auf dem man gehen
+könne, ohne in die Abgründe zu stürzen, und auch wie man einen
+Koffer nach dem betreffenden Dörfli befördern könnte. Der Mann
+schaute nach dem Koffer hin und maß ihn ein wenig mit den Augen;
+dann erklärte er, wenn das Ding nicht zu schwer sei, so wolle er es
+auf seinen Wagen nehmen, da er selbst nach dem Dörfli fahre, und so
+gab noch ein Wort das andere, und endlich kamen die beiden überein,
+der Mann solle Kind und Koffer mit auf seinen Wagen nehmen, und
+nachher vom Dörfli aus könne das Kind am Abend mit irgendjemand auf
+die Alm geschickt werden.
+</p>
+
+<p>
+"Ich kann allein gehen, ich weiß schon den Weg vom Dörfli auf die
+Alm", sagte hier Heidi, das mit Aufmerksamkeit der Verhandlung
+zugehört hatte. Dem Sebastian fiel eine schwere Last vom Herzen,
+als er sich so auf einmal seiner Aussicht auf das Bergklettern
+entledigt sah. Er winkte nun Heidi geheimnisvoll auf die Seite und
+überreichte ihm hier eine schwere Rolle und einen Brief an den
+Großvater und erklärte ihm, die Rolle sei ein Geschenk von Herrn
+Sesemann, die müsse aber zuunterst in den Korb gesteckt werden,
+noch unter die Brötchen, und darauf müsse genau Acht gegeben werden,
+dass sie nicht verloren gehe, denn darüber würde Herr Sesemann
+ganz fürchterlich böse und sein Leben lang nie mehr gut werden; das
+sollte das Mamsellchen nur ja bedenken.
+</p>
+
+<p>
+"Ich verliere sie schon nicht", sagte Heidi zuversichtlich und
+steckte die Rolle samt dem Brief zuallerunterst in den Korb hinein.
+Nun wurde der Koffer aufgeladen, und nachher hob Sebastian Heidi
+samt seinem Korb auf den hohen Sitz empor, reichte ihm seine Hand
+hinauf zum Abschied und ermahnte es noch einmal mit allerlei
+Zeichen, auf den Inhalt des Korbes ein Auge zu haben; denn der
+Führer war noch in der Nähe, und Sebastian war vorsichtig,
+besonders jetzt, da er wusste, er hätte eigentlich selbst das Kind
+an Ort und Stelle bringen sollen. Der Führer schwang sich jetzt
+neben Heidi auf den Sitz hinauf, und der Wagen rollte den Bergen zu,
+während Sebastian, froh über seine Befreiung von der gefürchteten
+Bergreise, sich am Stationshäuschen niedersetzte, um den
+zurückgehenden Bahnzug abzuwarten.
+</p>
+
+<p>
+Der Mann auf dem Wagen war der Bäcker vom Dörfli, welcher seine
+Mehlsäcke nach Hause fuhr. Er hatte Heidi nie gesehen, aber wie
+jedermann im Dörfli wusste er von dem Kinde, das man dem Alm-Öhi
+gebracht hatte; auch hatte er Heidis Eltern gekannt und sich gleich
+vorgestellt, er werde es mit dem viel besprochenen Kinde hier zu
+tun haben. Es wunderte ihn nun ein wenig, warum das Kind schon
+wieder heimkommen und während der Fahrt fing er nun mit Heidi ein
+Gespräch an: "Du wirst das Kind sein, das oben beim Alm-Öhi war,
+beim Großvater?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja."
+</p>
+
+<p>
+"So ist es dir schlecht gegangen, dass du schon wieder von so weit
+her heimkommst?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, das ist es mir nicht; kein Mensch kann es so gut haben, wie
+man es in Frankfurt hat."
+</p>
+
+<p>
+"Warum läufst du denn heim?"
+</p>
+
+<p>
+"Nur weil es mir der Herr Sesemann erlaubt hat, sonst wär ich nicht
+heimgelaufen."
+</p>
+
+<p>
+"Pah, warum bist du denn aber nicht lieber dort geblieben, wenn man
+dir's erlaubt hat, heimzugehen?"
+</p>
+
+<p>
+"Weil ich tausendmal lieber heimwill zum Großvater auf die Alm als
+sonst alles auf der Welt."
+</p>
+
+<p>
+"Denkst vielleicht anders, wenn du hinaufkommst", brummte der
+Bäcker; "nimmt mich aber doch wunder", sagte er dann zu sich selbst,
+"es kann wissen, wie's ist."
+</p>
+
+<p>
+Nun fing er an zu pfeifen und sagte nichts mehr, und Heidi schaute
+um sich und fing an innerlich zu zittern vor Erregung, denn es
+erkannte die Bäume am Wege, und drüben standen die hohen Zacken des
+Falknis-Berges und schauten zu ihm herüber, so als grüßten sie es
+wie gute alte Freunde; und Heidi grüßte wieder, und mit jedem
+Schritt vorwärts wurde Heidis Erwartung gespannter, und es meinte,
+es müsse vom Wagen herunterspringen und aus allen Kräften laufen,
+bis es ganz oben wäre. Aber es blieb doch still sitzen und rührte
+sich nicht, aber alles zitterte an ihm. Jetzt fuhren sie im Dörfli
+ein, eben schlug die Glocke fünf Uhr. Augenblicklich sammelte sich
+eine Gesellschaft von Kindern und Frauen um den Wagen herum, und
+ein paar Nachbarn traten auch noch herzu, denn der Koffer und das
+Kind auf des Bäckers Wagen hatten die Aufmerksamkeit aller
+Umwohnenden auf sich gezogen, und jeder wollte wissen, woher und
+wohin und wem beide zugehörten. Als der Bäcker Heidi
+heruntergehoben hatte, sagte es eilig: "Danke, der Großvater holt
+dann schon den Koffer", und wollte davonrennen. Aber von allen
+Seiten wurde es festgehalten, und eine Menge von Stimmen fragten
+alle auf einmal, jede etwas Eigenes. Heidi drängte sich mit einer
+solchen Angst auf dem Gesichte durch die Leute, dass man ihm
+unwillkürlich Platz machte und es laufen ließ, und einer sagte zum
+anderen: "Du siehst ja, wie es sich fürchtet, es hat auch alle
+Ursache." Und dann fingen sie noch an, sich zu erzählen, wie der
+Alm-Öhi seit einem Jahr noch viel ärger geworden sei als vorher und
+mit keinem Menschen mehr ein Wort rede und ein Gesicht mache, als
+wolle er am liebsten jeden umbringen, der ihm in den Weg komme, und
+wenn das Kind auf der ganzen Welt noch wüsste wohin, so liefe es
+nicht in das alte Drachennest hinauf. Aber hier fiel der Bäcker in
+das Gespräch ein und sagte, er werde wohl mehr wissen als sie alle,
+und erzählte dann sehr geheimnisvoll, wie ein Herr das Kind bis
+nach Maienfeld gebracht und es ganz freundlich entlassen habe und
+auch gleich ohne Markten ihm den geforderten Fahrpreis und dazu
+noch ein Trinkgeld gegeben habe, und überhaupt könne er sicher
+sagen, dass es dem Kind wohl genug gewesen sei, wo es war, und es
+selbst begehrt habe, zum Großvater zurückzugehen. Diese Nachricht
+brachte eine große Verwunderung hervor und wurde nun gleich im
+ganzen Dörfli so verbreitet, dass noch am gleichen Abend kein Haus
+daselbst war, in dem man nicht davon redete, dass das Heidi aus
+allem Wohlleben zum Großvater zurückbegehrt habe.
+</p>
+
+<p>
+Heidi lief vom Dörfli bergan, so schnell es nur konnte; von Zeit zu
+Zeit musste es aber plötzlich stille stehen, denn es hatte ganz den
+Atem verloren; sein Korb am Arm war doch ziemlich schwer, und dazu
+ging es nun immer steiler, je höher hinauf es ging. Heidi hatte
+nur noch einen Gedanken: "Wird auch die Großmutter noch auf ihrem
+Plätzchen sitzen am Spinnrad in der Ecke, ist sie auch nicht
+gestorben unterdessen?" Jetzt erblickte Heidi die Hütte oben in der
+Vertiefung an der Alm, sein Herz fing an zu klopfen, Heidi rannte
+noch mehr, immer mehr und immer lauter schlug ihm das Herz. Jetzt
+war es oben--vor Zittern konnte es fast die Tür nicht aufmachen--
+doch jetzt--es sprang hinein bis mitten in die kleine Stube und
+stand da, völlig außer Atem, und brachte keinen Ton hervor.
+</p>
+
+<p>
+"Ach du mein Gott", tönte es aus der Ecke hervor, "so sprang unser
+Heidi herein, ach, wenn ich es noch ein Mal im Leben bei mir haben
+könnte! Wer ist hereingekommen?"
+</p>
+
+<p>
+"Da bin ich ja, Großmutter, da bin ich ja", rief Heidi jetzt und
+stürzte nach der Ecke und gleich auf seine Knie zu der Großmutter
+heran, fasste ihren Arm und ihre Hände und legte sich an sie und
+konnte vor Freude gar nichts mehr sagen. Erst war die Großmutter
+so überrascht, dass auch sie kein Wort hervorbringen konnte; dann
+fuhr sie mit der Hand streichelnd über Heidis Kraushaare hin, und
+nun sagte sie ein Mal über das andere: "Ja, ja, das sind seine
+Haare und es ist ja seine Stimme, ach du lieber Gott, dass du mich
+das noch erleben lässt!" Und aus den blinden Augen fielen ein paar
+große Freudentränen auf Heidis Hand nieder. "Bist du's auch, Heidi,
+bist du auch sicher wieder da?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja, ja, sicher, Großmutter", rief Heidi nun mit aller Zuversicht,
+"weine nur nicht, ich bin ganz gewiss wieder da und komme alle Tage
+zu dir und gehe nie wieder fort, und du musst auch manchen Tag kein
+hartes Brot mehr essen, siehst du, Großmutter, siehst du?"
+</p>
+
+<p>
+Und Heidi packte nun aus seinem Korb ein Brötchen nach dem andern
+aus, bis es alle zwölf auf dem Schoß der Großmutter aufgehäuft
+hatte.
+</p>
+
+<p>
+"Ach Kind! Ach Kind! Was bringst du denn für einen Segen mit!",
+rief die Großmutter aus, als es nicht enden wollte mit den Brötchen
+und immer noch eines folgte. "Aber der größte Segen bist du mir
+doch selber, Kind!" Dann griff sie wieder in Heidis krause Haare
+und strich über seine heißen Wangen und sagte wieder: "Sag noch ein
+Wort, Kind, sag noch etwas, dass ich dich hören kann."
+</p>
+
+<p>
+Heidi erzählte nun der Großmutter, welche große Angst es habe
+ausstehen müssen, sie sei vielleicht gestorben unterdessen und habe
+nun gar nie die weißen Brötchen bekommen, und es könne nie, nie
+mehr zu ihr gehen.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt trat Peters Mutter herein und blieb einen Augenblick
+unbeweglich stehen vor Erstaunen. Dann rief sie: "Sicher, es ist
+das Heidi, wie kann auch das sein!"
+</p>
+
+<p>
+Heidi stand auf und gab ihr die Hand, und die Brigitte konnte sich
+gar nicht genug verwundern darüber, wie Heidi aussehe, und ging um
+das Kind herum und sagte: "Großmutter, wenn du doch nur sehen
+könntest, was für ein schönes Röcklein das Heidi hat und wie es
+aussieht; man kennt es fast nicht mehr. Und das Federnhütlein auf
+dem Tisch gehört dir auch noch? Setz es doch einmal auf, so kann
+ich sehen, wie du drin aussiehst."
+</p>
+
+<p>
+"Nein, ich will nicht", erklärte Heidi, "du kannst es haben, ich
+brauche es nicht mehr, ich habe schon noch mein eigenes." Damit
+machte Heidi sein rotes Bündelchen auf und nahm sein altes Hütchen
+daraus hervor, das auf der Reise zu den Knicken, die es schon
+vorher gehabt, noch einige bekommen hatte. Aber das kümmerte das
+Heidi wenig; es hatte ja nicht vergessen, wie der Großvater beim
+Abschied nachgerufen hatte, in einem Federnhut wolle er es niemals
+sehen; darum hatte Heidi sein Hütchen so sorgfältig aufgehoben,
+denn es dachte ja immer ans Heimgehen zum Großvater. Aber die
+Brigitte sagte, so einfältig müsse es nicht sein, es sei ja ein
+prächtiges Hütchen, das nehme sie nicht; man könnte es ja etwa dem
+Töchterlein vom Lehrer im Dörfli verkaufen und noch viel Geld
+bekommen, wenn es das Hütlein nicht tragen wolle. Aber Heidi blieb
+bei seinem Vorhaben und legte das Hütchen leise hinter die
+Großmutter in den Winkel, wo es ganz verborgen war. Dann zog Heidi
+auf einmal sein schönes Röcklein aus, und über das Unterröckchen,
+in dem es nun mit bloßen Armen dastand, band es das rote Halstuch,
+und nun fasste es die Hand der Großmutter und sagte: "Jetzt muss
+ich heim zum Großvater, aber morgen komm ich wieder zu dir; gute
+Nacht, Großmutter."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, komm auch wieder, Heidi, komm auch morgen wieder", bat die
+Großmutter und drückte seine Hand zwischen den ihrigen und konnte
+das Kind fast nicht loslassen.
+</p>
+
+<p>
+"Warum hast du denn dein schönes Röcklein ausgezogen?", fragte die
+Brigitte.
+</p>
+
+<p>
+"Weil ich lieber so zum Großvater will, sonst kennt er mich
+vielleicht nicht mehr, du hast mich ja auch fast nicht gekannt
+darin."
+</p>
+
+<p>
+Die Brigitte ging noch mit Heidi vor die Tür hinaus, und hier sagte
+sie ein wenig geheimnisvoll zu ihm: "Den Rock hättest du schon
+anbehalten können, er hätte dich doch gekannt; aber sonst musst du
+dich in Acht nehmen; der Peterli sagt, der Alm-Öhi sei jetzt immer
+bös und rede kein Wort mehr."
+</p>
+
+<p>
+Heidi sagte 'gute Nacht' und stieg die Alm hinan mit
+seinem Korb am Arm. Die Abendsonne leuchtete ringsum auf die grüne
+Alm, und jetzt war auch drüben das große Schneefeld an der
+Schesaplana sichtbar geworden und strahlte herüber. Heidi musste
+alle paar Schritte wieder stille stehen und sich umkehren, denn die
+hohen Berge hatte es im Rücken beim Hinaufsteigen. Jetzt fiel ein
+roter Schimmer vor seinen Füßen auf das Gras, es kehrte sich um, da
+--so hatte es die Herrlichkeit nicht mehr im Sinn gehabt und auch
+nie so im Traum gesehen--die Felshörner am Falknis flammten zum
+Himmel auf, das weite Schneefeld glühte und rosenrote Wolken zogen
+darüber hin; das Gras rings auf der Alm war golden, von allen
+Felsen flimmerte und leuchtete es nieder und unten schwamm weithin
+das ganze Tal in Duft und Gold. Heidi stand mitten in der
+Herrlichkeit, und vor Freude und Wonne liefen ihm die hellen Tränen
+die Wangen herunter, und es musste die Hände falten und in den
+Himmel hinaufschauen und ganz laut dem lieben Gott danken, dass er
+es wieder heimgebracht hatte und dass alles, alles noch so schön
+sei und noch viel schöner, als es gewusst hatte, und dass alles
+wieder ihm gehöre; und Heidi war so glücklich und so reich in all
+der großen Herrlichkeit, dass es gar nicht Worte fand, dem lieben
+Gott genug zu danken. Erst als das Licht ringsum verglühte, konnte
+Heidi wieder von der Stelle weg; nun rannte es aber so den Berg
+hinan, dass es gar nicht lange dauerte, so erblickte es oben die
+Tannenwipfel über dem Dache und jetzt das Dach und die ganze Hütte,
+und auf der Bank an der Hütte saß der Großvater und rauchte sein
+Pfeifchen, und über die Hütte her wogten die alten Tannenwipfel und
+raschelten im Abendwind. Jetzt rannte das Heidi noch mehr, und
+bevor der Alm-Öhi nur recht sehen konnte, was da herankam, stürzte
+das Kind schon auf ihn hin, warf seinen Korb auf den Boden und
+umklammerte den Alten, und vor Aufregung des Wiedersehens konnte es
+nichts sagen, als nur immer ausrufen: "Großvater! Großvater!
+Großvater!"
+</p>
+
+<p>
+Der Großvater sagte auch nichts. Seit vielen Jahren waren ihm zum
+erstenmal wieder die Augen nass geworden, und er musste mit der
+Hand darüber fahren. Dann löste er Heidis Arme von seinem Hals,
+setzte das Kind auf seine Knie und betrachtete es einen Augenblick.
+"So, bist du wieder heimgekommen, Heidi", sagte er dann; "wie ist
+das? Besonders hoffärtig siehst du nicht aus, haben sie dich
+fortgeschickt?"
+</p>
+
+<p>
+"O nein, Großvater", fing Heidi nun mit Eifer an, "das musst du
+nicht glauben, sie waren alle so gut, die Klara und die Großmama
+und der Herr Sesemann; aber siehst du, Großvater, ich konnte es
+fast gar nicht mehr aushalten, bis ich wieder bei dir daheim sein
+könnte, und ich habe manchmal gemeint, ich müsse ganz ersticken, so
+hat es mich gewürgt; aber ich habe gewiss nichts gesagt, weil es
+undankbar war. Aber dann auf einmal an einem Morgen rief mich der
+Herr Sesemann ganz früh--aber ich glaube, der Herr Doktor war
+schuld daran--aber es steht vielleicht alles in dem Brief"--damit
+sprang Heidi auf den Boden und holte seinen Brief und seine Rolle
+aus dem Korb herbei und legte beide in die Hand des Großvaters.
+</p>
+
+<p>
+"Das gehört dir", sagte dieser und legte die Rolle neben sich auf
+die Bank. Dann nahm er den Brief und las ihn durch: Ohne ein Wort
+zu sagen, steckte er dann das Blatt in die Tasche.
+</p>
+
+<p>
+"Meinst, du könntest auch noch Milch trinken mit mir, Heidi?",
+fragte er nun, indem er das Kind bei der Hand nahm, um in die Hütte
+einzutreten. "Aber nimm dort dein Geld mit dir, da kannst du ein
+ganzes Bett daraus kaufen und Kleider für ein paar Jahre."
+</p>
+
+<p>
+"Ich brauch es gewiss nicht, Großvater", versicherte Heidi; "ein
+Bett hab ich schon, und Kleider hat mir Klara so viele eingepackt,
+dass ich gewiss nie mehr andere brauche."
+</p>
+
+<p>
+"Nimm's, nimm's, und leg's in den Schrank, du wirst's schon einmal
+brauchen können."
+</p>
+
+<p>
+Heidi gehorchte und hüpfte nun dem Großvater nach in die Hütte
+hinein, wo es vor Freude über das Wiedersehen in alle Winkel sprang
+und die Leiter hinauf--aber da stand es plötzlich still und rief
+in Betroffenheit von oben herunter: "Oh, Großvater, ich habe kein
+Bett mehr!"
+</p>
+
+<p>
+"Kommt schon wieder", tönte es von unten herauf, "wusste ja nicht,
+dass du wieder heimkommst; jetzt komm zur Milch!"
+</p>
+
+<p>
+Heidi kam herunter und setzte sich auf seinen hohen Stuhl am alten
+Platze, und nun erfasste es sein Schüsselchen und trank mit einer
+Begierde, als wäre etwas so Köstliches noch nie in seinen Bereich
+gekommen, und als es mit einem tiefen Atemzug das Schüsselchen
+hinstellte, sagte es: "So gut wie unsere Milch ist doch gar nichts
+auf der Welt, Großvater."
+</p>
+
+<p>
+Jetzt ertönte draußen ein schriller Pfiff; wie der Blitz schoss
+Heidi zur Tür hinaus. Da kam die ganze Schar der Geißen hüpfend,
+springend, Sätze machend von der Höhe herunter, mittendrin der
+Peter. Als er Heidi ansichtig wurde, blieb er auf der Stelle
+völlig wie angewurzelt stehen und starrte es sprachlos an. Heidi
+rief: "Guten Abend, Peter!", und stürzte mitten in die Geißen
+hinein: "Schwänli! Bärli! Kennt ihr mich noch?", und die Geißlein
+mussten seine Stimme gleich erkannt haben, denn sie rieben ihre
+Köpfe an Heidi und fingen an leidenschaftlich zu meckern vor Freude,
+und Heidi rief alle nacheinander beim Namen, und alle rannten wie
+wild durcheinander und drängten sich zu ihm heran; der ungeduldige
+Distelfink sprang hoch auf und über zwei Geißen weg, um gleich in
+die Nähe zu kommen, und sogar das schüchterne Schneehöppli drängte
+mit einem ziemlich eigensinnigen Bohren den großen Türk auf die
+Seite, der nun ganz verwundert über die Frechheit dastand und
+seinen Bart in die Luft hob, um zu zeigen, dass er es sei.
+</p>
+
+<p>
+Heidi war außer sich vor Freude, alle die alten Gefährten wieder zu
+haben; es umarmte das kleine, zärtliche Schneehöppli wieder und
+wieder und streichelte den stürmischen Distelfink und wurde vor
+großer Liebe und Zutraulichkeit der Geißen hin und her gedrängt und
+geschoben, bis es nun ganz in Peters Nähe kam, der noch immer auf
+demselben Platze stand.
+</p>
+
+<p>
+"Komm herunter, Peter, und sag mir einmal guten Abend!", rief ihm
+Heidi jetzt zu.
+</p>
+
+<p>
+"Bist denn wieder da?", brachte er nun endlich in seinem Erstaunen
+heraus, und nun kam er herzu und nahm Heidis Hand, die dieses ihm
+schon lange hingehalten hatte, und nun fragte er, so wie er immer
+getan hatte bei der Heimkehr am Abend: "Kommst morgen wieder mit?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, morgen nicht, aber übermorgen vielleicht, denn morgen muss
+ich zur Großmutter."
+</p>
+
+<p>
+"Es ist recht, dass du wieder da bist", sagte der Peter und verzog
+sein Gesicht auf alle Seiten vor ungeheurem Vergnügen, dann
+schickte er sich zur Heimfahrt an; aber heute wurde es ihm so
+schwer wie noch nie mit seinen Geißen, denn als er sie endlich mit
+Locken und Drohen so weit gebracht hatte, dass sie sich um ihn
+sammelten, und Heidi, den einen Arm um Schwänlis und den andern um
+Bärlis Kopf gelegt, davonspazierte, da kehrten mit einem Male alle
+wieder um und liefen den dreien nach. Heidi musste mit seinen zwei
+Geißen in den Stall eintreten und die Tür zumachen, sonst wäre der
+Peter niemals mit seiner Herde fortgekommen. Als das Kind dann in
+die Hütte zurückkam, da sah es sein Bett schon wieder aufgerichtet,
+prächtig hoch und duftend, denn das Heu war noch nicht lange
+hereingeholt, und darüber hatte der Großvater ganz sorgfältig die
+sauberen Leintücher gebreitet. Heidi legte sich mit großer Lust
+hinein und schlief so herrlich, wie es ein ganzes Jahr lang nicht
+geschlafen hatte. Während der Nacht verließ der Großvater wohl
+zehnmal sein Lager und stieg die Leiter hinauf und lauschte sorgsam,
+ob Heidi auch schlafe und nicht unruhig werde, und suchte am Loch
+nach, wo sonst der Mond hereinkam auf Heidis Lager, ob auch das Heu
+noch fest drinnen sitze, das er hineingestopft hatte, denn von nun
+an durfte der Mondschein nicht mehr hereinkommen. Aber Heidi
+schlief in einem Zuge fort und wanderte keinen Schritt herum, denn
+sein großes, brennendes Verlangen war gestillt worden: Es hatte
+alle Berge und Felsen wieder im Abendglühen gesehen, es hatte die
+Tannen rauschen gehört, es war wieder daheim auf der Alm.
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap14"></a>
+Am Sonntag, wenn's läutet
+</h3>
+
+<p>
+Heidi stand unter den wogenden Tannen und wartete auf den Großvater,
+der mitgehen und den Koffer vom Dörfli heraufholen wollte, während
+es bei der Großmutter wäre. Das Kind konnte es fast nicht erwarten,
+die Großmutter wieder zu sehen und zu hören, wie ihr die Brötchen
+geschmeckt hatten, und doch wurde ihm wieder die Zeit nicht lang,
+denn es konnte ja nicht genug die heimatlichen Töne von dem
+Tannenrauschen über ihm und das Duften und Leuchten der grünen
+Weiden und der goldenen Blumen darauf eintrinken.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt trat der Großvater aus der Hütte, schaute noch einmal rings
+um sich und sagte dann mit zufriedenem Ton: "So, nun können wir
+gehen."
+</p>
+
+<p>
+Denn es war Sonnabend heut, und an dem Tage machte der Alm-Öhi
+alles sauber und in Ordnung in der Hütte, im Stall und ringsherum,
+das war seine Gewohnheit, und heut hatte er den Morgen dazu
+genommen, um gleich nachmittags mit Heidi ausziehen zu können, und
+so sah nun alles ringsherum gut und zu seiner Zufriedenheit aus.
+Bei der Geißenpeter-Hütte trennten sie sich, und Heidi sprang
+hinein. Schon hatte die Großmutter seinen Schritt gehört und rief
+ihm liebevoll entgegen: "Kommst du, Kind? Kommst du wieder?"
+</p>
+
+<p>
+Dann erfasste sie Heidis Hand und hielt sie ganz fest, denn immer
+noch fürchtete sie, das Kind könnte ihr wieder entrissen werden.
+Und nun musste die Großmutter erzählen, wie die Brötchen geschmeckt
+hätten, und sie sagte, sie habe sich so daran erlabt, dass sie
+meine, sie sei heute viel kräftiger als lang nicht mehr, und Peters
+Mutter fügte hinzu, die Großmutter habe vor lauter Sorge, sie werde
+zu bald fertig damit, nur ein einziges Brötchen essen wollen,
+gestern und heut zusammen, und sie käme gewiss noch ziemlich zu
+Kräften, wenn sie so acht Tage lang hintereinander jeden Tage eines
+essen wollte. Heidi hörte der Brigitte mit Aufmerksamkeit zu und
+blieb jetzt noch eine Zeit lang nachdenklich. Nun hatte es seinen
+Weg gefunden. "Ich weiß schon, was ich mache, Großmutter", sagte
+es in freudigem Eifer; "ich schreibe der Klara einen Brief und dann
+schickt sie mir gewiss noch einmal so viel Brötchen, wie da sind,
+oder zweimal, denn ich hatte schon einen großen Haufen ganz gleiche
+im Kasten, und als man mir sie weggenommen hatte, sagte Klara, sie
+gebe mir gerade so viele wieder, und das tut sie schon."
+</p>
+
+<p>
+"Ach Gott", sagte die Brigitte, "das ist eine gute Meinung; aber
+denk, sie werden auch hart. Wenn man nur hier und da einen übrigen
+Batzen hätte, der Bäcker unten im Dörfli macht auch solche, aber
+ich vermag kaum das schwarze Brot zu bezahlen."
+</p>
+
+<p>
+Jetzt schoss ein heller Freudenstrahl über Heidis Gesicht: "Oh, ich
+habe furchtbar viel Geld, Großmutter", rief es jubelnd aus und
+hüpfte vor Freuden in die Höhe, "jetzt weiß ich, was ich damit
+mache! Alle, alle Tage musst du ein neues Brötchen haben und am
+Sonntage zwei, und der Peter kann sie heraufbringen vom Dörfli."
+</p>
+
+<p>
+"Nein, nein, Kind!", wehrte die Großmutter; "das kann nicht sein,
+das Geld hast du nicht dazu bekommen, du musst es dem Großvater
+geben, er sagt dir dann schon, was du damit machen musst."
+</p>
+
+<p>
+Aber Heidi ließ sich nicht stören in seiner Freude, es jauchzte und
+hüpfte in der Stube herum und rief ein Mal übers andere: "Jetzt
+kann die Großmutter jeden Tag ein Brötchen essen und wird wieder
+ganz kräftig, und--oh, Großmutter", rief es mit neuem Jubel, "wenn
+du dann so gesund wirst, so wird es dir gewiss auch wieder hell, es
+ist vielleicht nur, weil du so schwach bist."
+</p>
+
+<p>
+Die Großmutter schwieg still, sie wollte des Kindes Freude nicht
+trüben. Bei seinem Herumhüpfen fiel dem Heidi auf einmal das alte
+Liederbuch der Großmutter in die Augen, und es kam ihm ein neuer
+freudiger Gedanke: "Großmutter, jetzt kann ich auch ganz gut lesen;
+soll ich dir einmal ein Lied lesen aus deinem alten Buch?"
+</p>
+
+<p>
+"O ja", bat die Großmutter freudig überrascht; "kannst du das auch
+wirklich, Kind, kannst du das?"
+</p>
+
+<p>
+Heidi war auf einen Stuhl geklettert und hatte das Buch mit einer
+dicken Staubwolke heruntergezogen, denn es hatte lange unberührt
+gelegen da oben; nun wischte es Heidi sauber ab, setzte sich damit
+auf seinen Schemel zur Großmutter hin und fragte, was es nun lesen
+solle.
+</p>
+
+<p>
+"Was du willst, Kind, was du willst", und mit gespannter Erwartung
+saß die Großmutter da und hatte ihr Spinnrad ein wenig von sich
+geschoben.
+</p>
+
+<p>
+Heidi blätterte und las leise hier und da eine Linie: "jetzt kommt
+etwas von der Sonne, das will ich dir lesen, Großmutter." Und Heidi
+begann und wurde selbst immer eifriger und immer wärmer, während es
+las:
+</p>
+
+<p class="poem">
+ "Die güldne Sonne Voll<br />
+ Freud und Wonne<br />
+ Bringt unsern Grenzen<br />
+ Mit ihrem Glänzen<br />
+ Ein herzerquickendes, liebliches Licht.<br />
+</p>
+
+<p class="poem">
+ Mein Haupt und Glieder<br />
+ Die lagen darnieder;<br />
+ Aber nun steh ich,<br />
+ Bin munter und fröhlich,<br />
+ Schaue den Himmel mit meinem Gesicht.<br />
+</p>
+
+<p class="poem">
+ Mein Auge schauet,<br />
+ Was Gott gebauet<br />
+ Zu seinen Ehren,<br />
+ Und uns zu lehren,<br />
+ Wie sein Vermögen sei mächtig und groß.<br />
+</p>
+
+<p class="poem">
+ Und wo die Frommen<br />
+ Dann sollen hinkommen,<br />
+ Wenn sie mit Frieden<br />
+ Von hinnen geschieden<br />
+ Aus dieser Erde vergänglichem Schoß.<br />
+</p>
+
+<p class="poem">
+ Alles vergehet,<br />
+ Gott aber stehet<br />
+ Ohn alles Wanken,<br />
+ Seine Gedanken,<br />
+ Sein Wort und Wille hat ewigen Grund.<br />
+</p>
+
+<p class="poem">
+ Sein Heil und Gnaden<br />
+ Die nehmen nicht Schaden,<br />
+ Heilen im Herzen,<br />
+ Die tödlichen Schmerzen,<br />
+ Halten uns zeitlich und ewig gesund.<br />
+</p>
+
+<p class="poem">
+ Kreuz und Elende--<br />
+ Das nimmt ein Ende,<br />
+ Nach Meeresbrausen<br />
+ Und Windessausen<br />
+ Leuchtet der Sonne erwünschtes Gesicht.<br />
+</p>
+
+<p class="poem">
+ Freude die Fülle<br />
+ Und selige Stille<br />
+ Darf ich erwarten<br />
+ Im himmlischen Garten,<br />
+ Dahin sind meine Gedanken gericht'."<br />
+</p>
+
+<p><br /></p>
+
+<p>
+Die Großmutter saß still da mit gefalteten Händen, und ein Ausdruck
+unbeschreiblicher Freude, so wie ihn Heidi nie an ihr gesehen hatte,
+lag auf ihrem Gesicht, obschon ihr die Tränen die Wangen
+herabliefen. Als Heidi schwieg, bat sie mit Verlangen: "Oh, noch
+einmal, Heidi, lass es mich noch einmal hören:
+</p>
+
+<p class="poem">
+ 'Kreuz und Elende<br />
+ Das nimmt ein Ende'--"<br />
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Und das Kind fing noch einmal an und las in eigener Freude und
+Verlangen:
+</p>
+
+<p class="poem">
+ "Kreuz und Elende--<br />
+ Das nimmt ein Ende,<br />
+ Nach Meeresbrausen<br />
+ Und Windessausen<br />
+ Leuchtet der Sonne erwünschtes Gesicht.<br />
+</p>
+
+<p class="poem">
+ Freude die Fülle<br />
+ Und selige Stille<br />
+ Darf ich erwarten<br />
+ Im himmlischen Garten,<br />
+ Dahin sind meine Gedanken gericht'."<br />
+</p>
+
+<p><br /></p>
+
+<p>
+"O Heidi, das macht hell! Das macht so hell im Herzen! Oh, wie
+hast du mir wohl gemacht, Heidi!"
+</p>
+
+<p>
+Ein Mal ums andere sagte die Großmutter die Worte der Freude, und
+Heidi strahlte vor Glück und musste sie nur immer ansehen, denn so
+hatte es die Großmutter nie gesehen. Sie hatte gar nicht mehr das
+alte trübselige Gesicht, sondern schaute so freudig und dankend auf,
+als sähe sie schon mit neuen, hellen Augen in den schönen
+himmlischen Garten hinein.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt klopfte es am Fenster, und Heidi sah den Großvater draußen,
+der ihm winkte, mit heimzukommen. Es folgte schnell, aber nicht
+ohne die Großmutter zu versichern, morgen komme es wieder, und auch
+wenn es mit Peter auf die Weide gehe, so komme es doch im halben
+Tag zurück; denn dass es der Großmutter wieder hell machen konnte
+und sie wieder fröhlich wurde, das war nun für Heidi das
+allergrößte Glück, das es kannte, noch viel größer, als auf der
+sonnigen Weide und bei den Blumen und Geißen zu sein. Die Brigitte
+lief dem Heidi unter die Tür nach mit Rock und Hut, dass es seine
+Habe mitnehme. Den Rock nahm es auf den Arm, denn der Großvater
+kenne es jetzt schon, dachte es bei sich; aber den Hut wies es
+hartnäckig zurück, die Brigitte sollte ihn nur behalten, es setze
+ihn nie, nie mehr auf den Kopf. Heidi war so erfüllt von seinen
+Erlebnissen, dass es gleich dem Großvater alles erzählen musste,
+was ihm das Herz erfreute, dass man die weißen Brötchen auch unten
+im Dörfli für die Großmutter holen könne, wenn man nur Geld habe,
+und dass es der Großmutter auf einmal so hell und wohl geworden war,
+und wie Heidi das alles zu Ende geschildert hatte, kehrte es
+wieder zum Ersten zurück und sagte ganz zuversichtlich: "Gelt,
+Großvater, wenn die Großmuttter schon nicht will, so gibst du mir
+doch alles Geld in der Rolle, dass ich dem Peter jeden Tag ein
+Stück geben kann zu einem Brötchen und am Sonntag zwei?"
+</p>
+
+<p>
+"Aber das Bett, Heidi?", sagte der Großvater; "ein rechtes Bett für
+dich wäre gut, und nachher bleibt schon noch für manches Brötchen."
+</p>
+
+<p>
+Aber Heidi ließ dem Großvater keine Ruhe und bewies ihm, dass es
+auf seinem Heubett viel besser schlafe, als es jemals in seinem
+Kissenbett in Frankfurt geschlafen habe, und bat so eindringlich
+und unablässig, dass der Großvater zuletzt sagte: "Das Geld ist
+dein, mach, was dich freut; du kannst der Großmutter manches Jahr
+lang Brot holen dafür."
+</p>
+
+<p>
+Heidi jauchzte auf: "O juhe! Nun muss die Großmutter gar nie mehr
+hartes, schwarzes Brot essen, und, o Großvater! Nun ist doch alles
+so schön wie noch gar nie, seit wir leben!", und Heidi hüpfte hoch
+auf an der Hand des Großvaters und jauchzte in die Luft hinauf wie
+die fröhlichen Vögel des Himmels. Aber auf einmal wurde es ganz
+ernsthaft und sagte: "Oh, wenn nun der liebe Gott gleich auf der
+Stelle getan hätte, was ich so stark erbetete, dann wäre doch alles
+nicht so geworden, ich wäre nur gleich wieder heimgekommen und
+hätte der Großmutter nur wenige Brötchen gebracht und hätte ihr
+nicht lesen können, was ihr wohl macht; aber der liebe Gott hatte
+schon alles ausgedacht, so viel schöner, als ich es wusste; die
+Großmama hat es mir gesagt, und nun ist alles so gekommen. Oh, wie
+bin ich froh, dass der liebe Gott nicht nachgab, wie ich so bat und
+jammerte! Aber jetzt will ich immer so beten, wie die Großmama
+sagte, und dem lieben Gott immer danken, und wenn er etwas nicht
+tut, das ich erbeten will, dann will ich gleich denken: Es geht
+gewiss wieder wie in Frankfurt, der liebe Gott denkt gewiss etwas
+viel Besseres aus. Aber wir wollen auch alle Tage beten, gelt
+Großvater, und wir wollen es nie mehr vergessen, damit der liebe
+Gott uns auch nicht vergisst."
+</p>
+
+<p>
+"Und wenn's einer doch täte?", murmelte der Großvater.
+</p>
+
+<p>
+"Oh, dem geht's nicht gut, denn der liebe Gott vergisst ihn dann
+auch und lässt ihn ganz laufen, und wenn es ihm einmal schlecht
+geht und er jammert, so hat kein Mensch Mitleid mit ihm, sondern
+alle sagen nur: Er ist ja zuerst vom lieben Gott weggelaufen, nun
+lässt ihn der liebe Gott auch gehen, der ihm helfen könnte."
+</p>
+
+<p>
+"Das ist wahr, Heidi, woher weißt du das?"
+</p>
+
+<p>
+"Von der Großmama, sie hat mir alles erklärt."
+</p>
+
+<p>
+Der Großvater ging eine Weile schweigend weiter. Dann sagte er,
+seine Gedanken verfolgend, vor sich hin: "Und wenn's einmal so ist,
+dann ist es so; zurück kann keiner, und wen der Herrgott vergessen
+hat, den hat er vergessen."
+</p>
+
+<p>
+"O nein, Großvater, zurück kann einer, das weiß ich auch von der
+Großmama, und dann geht es so wie in der schönen Geschichte in
+meinem Buch, aber die weißt du nicht; jetzt sind wir aber gleich
+daheim, und dann wirst du schon erfahren, wie schön die Geschichte
+ist."
+</p>
+
+<p>
+Heidi strebte in seinem Eifer rascher und rascher die letzte
+Steigung hinan, und kaum waren sie oben angelangt, als es des
+Großvaters Hand losließ und in die Hütte hineinrannte. Der
+Großvater nahm den Korb von seinem Rücken, in den er die Hälfte der
+Sachen aus dem Koffer hineingestoßen hatte, denn den ganzen Koffer
+heraufzubringen wäre ihm zu schwer gewesen. Dann setzte er sich
+nachdenklich auf die Bank nieder. Heidi kam wieder herbeigerannt,
+sein großes Buch unter dem Arm: "Oh, das ist recht, Großvater, dass
+du schon dasitzt", und mit einem Satz war Heidi an seiner Seite und
+hatte schon seine Geschichte aufgeschlagen, denn die hatte es schon
+so oft und immer wieder gelesen, dass das Buch von selbst aufging
+an dieser Stelle. Jetzt las Heidi mit großer Teilnahme von dem
+Sohne, der es gut hatte daheim, wo draußen auf des Vaters Feldern
+die schönen Kühe und Schäflein weideten und er in einem schönen
+Mäntelchen, auf seinen Hirtenstab gestützt, bei ihnen auf der Weide
+stehen und dem Sonnenuntergang zusehen konnte, wie es alles auf dem
+Bilde zu sehen war. "Aber auf einmal wollte er sein Hab und Gut
+für sich haben und sein eigener Meister sein und forderte es dem
+Vater ab und lief fort damit und verprasste alles. Und als er gar
+nichts mehr hatte, musste er hingehen und Knecht sein bei einem
+Bauer, der hatte aber nicht so schöne Tiere, wie auf seines Vaters
+Feldern waren, sondern nur Schweinlein; diese musste er hüten, und
+er hatte nur noch Fetzen auf sich und bekam nur von den Trebern,
+welche die Schweinchen aßen, ein klein wenig. Da dachte er daran,
+wie er es daheim beim Vater gehabt und wie gut der Vater mit ihm
+gewesen war und wie undankbar er gegen den Vater gehandelt hatte,
+und er musste weinen vor Reue und Heimweh. Und er dachte: 'Ich
+will zu meinem Vater gehen und ihn um Verzeihung bitten und ihm
+sagen, ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen, aber lass mich
+nur dein Tagelöhner bei dir sein.' Und wie er von ferne gegen
+das Haus seines Vaters kam, da sah ihn der Vater und kam
+herausgelaufen--was meinst du jetzt, Großvater?", unterbrach sich
+Heidi in seinem Vorlesen; "jetzt meinst du, der Vater sei noch böse
+und sage zu ihm: 'Ich habe dir's ja gesagt!'? Jetzt
+hör nur, was kommt: Und sein Vater sah ihn und es jammerte ihn und
+lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn, und der Sohn sprach
+zu ihm: 'Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor
+dir und bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen.' Aber der
+Vater sprach zu seinen Knechten: 'Bringt das beste Kleid her
+und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und
+Schuhe an die Füße, und bringt das gemästete Kalb her und
+schlachtet es und lasst uns essen und fröhlich sein, denn dieser
+mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, und er war
+verloren und ist wieder gefunden worden.' Und sie fingen an,
+fröhlich zu sein."
+</p>
+
+<p>
+"Ist denn das nicht eine schöne Geschichte, Großvater?", fragte
+Heidi, als dieser immer noch schweigend dasaß und es doch erwartet
+hatte, er werde sich freuen und verwundern.
+</p>
+
+<p>
+"Doch, Heidi, die Geschichte ist schön", sagte der Großvater; aber
+sein Gesicht war so ernsthaft, dass Heidi ganz stille wurde und
+seine Bilder ansah. Leise schob es noch einmal sein Buch vor den
+Großvater hin und sagte: "Sieh, wie es ihm wohl ist", und zeigte
+mit seinem Finger auf das Bild des Heimgekehrten, wie er im
+frischen Kleid neben dem Vater steht und wieder zu ihm gehört als
+sein Sohn.
+</p>
+
+<p>
+Ein paar Stunden später, als Heidi längst im tiefen Schlafe lag,
+stieg der Großvater die kleine Leiter hinauf; er stellte sein
+Lämpchen neben Heidis Lager hin, so dass das Licht auf das
+schlafende Kind fiel. Es lag da mit gefalteten Händen, denn zu
+beten hatte Heidi nicht vergessen. Auf seinem rosigen Gesichtchen
+lag ein Ausdruck des Friedens und seligen Vertrauens, der zu dem
+Großvater reden musste, denn lange, lange stand er da und rührte
+sich nicht und wandte kein Auge von dem schlafenden Kinde ab.
+Jetzt faltete auch er die Hände, und halblaut sagte er mit
+gesenktem Haupte: "Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und
+vor dir und bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen!" Und ein paar
+große Tränen rollten dem Alten die Wangen herab.--
+</p>
+
+<p>
+Wenige Stunden nachher in der ersten Frühe des Tages stand der
+Alm-Öhi vor seiner Hütte und schaute mit hellen Augen um sich. Der
+Sonntagmorgen flimmerte und leuchtete über Berg und Tal. Einzelne
+Frühglocken tönten aus den Tälern herauf, und oben in den Tannen
+sangen die Vögel ihre Morgenlieder.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt trat der Großvater in die Hütte zurück. "Komm, Heidi!", rief
+er auf den Boden hinauf. "Die Sonne ist da! Zieh ein gutes
+Röcklein an, wir wollen in die Kirche miteinander!"
+</p>
+
+<p>
+Heidi machte nicht lange; das war ein ganz neuer Ruf vom Großvater,
+dem musste es schnell folgen. In kurzer Zeit kam es
+heruntergesprungen in seinem schmucken Frankfurter Röckchen. Aber
+voller Erstaunen blieb Heidi vor seinem Großvater stehen und
+schaute ihn an. "O Großvater, so hab ich dich nie gesehen", brach
+es endlich aus, "und den Rock mit den silbernen Knöpfen hast du
+noch gar nicht getragen, oh, du bist so schön in deinem schönen
+Sonntagsrock."
+</p>
+
+<p>
+Der Alte blickte vergnüglich lächelnd auf das Kind und sagte: "Und
+du in dem deinen; jetzt komm!" Er nahm Heidis Hand in die seine,
+und so wanderten sie miteinander den Berg hinunter. Von allen
+Seiten tönten jetzt die hellen Glocken ihnen entgegen, immer voller
+und reicher, je weiter sie kamen, und Heidi lauschte mit Entzücken
+und sagte: "Hörst du's, Großvater? Es ist wie ein großes, großes
+Fest."
+</p>
+
+<p>
+Unten im Dörfli waren schon alle Leute in der Kirche und fingen
+eben zu singen an, als der Großvater mit Heidi eintrat und ganz
+hinten auf der letzten Bank sich niedersetzte. Aber mitten im
+Singen stieß der zunächst Sitzende seinen Nachbar mit dem
+Ellenbogen an und sagte: "Hast du das gesehen? Der Alm-Öhi ist in
+der Kirche!"
+</p>
+
+<p>
+Und der Angestoßene stieß den Zweiten an und so fort, und in
+kürzester Zeit flüsterte es an allen Ecken: "Der Alm-Öhi! Der
+Alm-Öhi!", und die Frauen mussten fast alle einen Augenblick den Kopf
+umdrehen, und die meisten fielen ein wenig aus der Melodie, so dass
+der Vorsänger die größte Mühe hatte, den Gesang schön
+aufrechtzuerhalten. Aber als dann der Herr Pfarrer anfing zu
+predigen, ging die Zerstreutheit ganz vorüber, denn es war ein so
+warmes Loben und Danken in seinen Worten, dass alle Zuhörer davon
+ergriffen wurden, und es war, als sei ihnen allen eine große Freude
+widerfahren. Als der Gottesdienst zu Ende war, trat der Alm-Öhi
+mit dem Kinde an der Hand heraus und schritt dem Pfarrhaus zu, und
+alle, die mit ihm heraustraten und die schon draußen standen,
+schauten ihm nach, und die meisten gingen hinter ihm her, um zu
+sehen, ob er wirklich ins Pfarrhaus eintrete, was er tat. Dann
+sammelten sie sich in Gruppen zusammen und besprachen in großer
+Aufregung das Unerhörte, dass der Alm-Öhi in der Kirche erschienen
+war, und alle schauten mit Spannung nach der Pfarrhaustür, wie der
+Öhi wohl wieder herauskommen werde, ob in Zorn und Hader oder im
+Frieden mit dem Herrn Pfarrer, denn man wusste ja gar nicht, was
+den Alten heruntergebracht hatte und wie es eigentlich gemeint sei.
+Aber doch war schon bei vielen eine neue Stimmung eingetreten, und
+einer sagte zum andern: "Es wird wohl mit dem Alm-Öhi nicht so bös
+sein, wie man tut; man kann ja nur sehen, wie sorglich er das
+Kleine an der Hand hält." Und der andere sagte: "Das hab ich ja
+immer gesagt, und zum Pfarrer hinein ginge er auch nicht, wenn er
+so bodenschlecht wäre, sonst müsste er sich ja fürchten; man
+übertreibt auch viel." Und der Bäcker sagte: "Hab ich das nicht
+zuallererst gesagt? Seit wann läuft denn ein kleines Kind, das zu
+essen und zu trinken hat, was es will, und sonst alles Gute, aus
+alledem weg und heim zu einem Großvater, wenn der bös und wild ist
+und es sich zu fürchten hat vor ihm?" Und es kam eine ganz
+liebevolle Stimmung gegen den Alm-Öhi auf und nahm überhand, denn
+jetzt nahten sich auch die Frauen herzu, und diese hatten so
+manches von der Geißenpeterin und der Großmutter gehört, das den
+Alm-Öhi ganz anders darstellte, als die allgemeine Meinung war, und
+das ihnen jetzt auf einmal glaublich schien, dass es mehr und mehr
+so wurde, als warteten sie alle da, um einen alten Freund zu
+bewillkommnen, der ihnen lange gemangelt hatte.
+</p>
+
+<p>
+Der Alm-Öhi war unterdessen an die Tür der Studierstube getreten
+und hatte angeklopft. Der Herr Pfarrer machte auf und trat dem
+Eintretenden entgegen, nicht überrascht, wie er wohl hätte sein
+können, sondern so, als habe er ihn erwartet; die ungewohnte
+Erscheinung in der Kirche musste ihm nicht entgangen sein. Er
+ergriff die Hand des Alten und schüttelte sie wiederholt mit der
+größten Herzlichkeit, und der Alm-Öhi stand schweigend da und
+konnte erst kein Wort herausbringen, denn auf solchen herzlichen
+Empfang war er nicht vorbereitet. Jetzt fasste er sich und sagte:
+"Ich komme, um den Herrn Pfarrer zu bitten, dass er mir die Worte
+vergessen möchte, die ich zu ihm auf der Alm geredet habe, und dass
+er mir nicht nachtragen wolle, wenn ich widerspenstig war gegen
+seinen wohlmeinenden Rat. Der Herr Pfarrer hat ja in allem Recht
+gehabt und ich war im Unrecht, aber ich will jetzt seinem Rate
+folgen und auf den Winter wieder ein Quartier im Dörfli beziehen,
+denn die harte Jahreszeit ist nichts für das Kind dort oben, es ist
+zu zart, und wenn auch dann die Leute hier unten mich von der Seite
+ansehen, so wie einen, dem nicht zu trauen ist, so habe ich es
+nicht besser verdient, und der Herr Pfarrer wird es ja nicht tun."
+</p>
+
+<p>
+Die freundlichen Augen des Pfarrers glänzten vor Freude. Er nahm
+noch einmal des Alten Hand und drückte sie in der seinen und sagte
+mit Rührung: "Nachbar, Ihr seid in der rechten Kirche gewesen, noch
+eh Ihr in die meinige herunterkamt; des freu ich mich, und dass Ihr
+wieder zu uns kommen und mit uns leben wollt, soll Euch nicht
+gereuen, bei mir sollt Ihr als ein lieber Freund und Nachbar alle
+Zeit willkommen sein, und ich gedenke manches Winterabendstündchen
+fröhlich mit Euch zu verbringen, denn Eure Gesellschaft ist mir
+lieb und wert, und für das Kleine wollen wir auch gute Freunde
+finden." Und der Herr Pfarrer legte sehr freundlich seine Hand auf
+Heidis Krauskopf und nahm es bei der Hand und führte es hinaus,
+indem er den Großvater fortbegleitete, und erst draußen vor der
+Haustür nahm er Abschied, und nun konnten alle die herumstehenden
+Leute sehen, wie der Herr Pfarrer dem Alm-Öhi die Hand immer noch
+einmal schüttelte, gerade als wäre das sein bester Freund, von dem
+er sich fast nicht trennen könnte. Kaum hatte dann auch die Tür
+sich hinter dem Herrn Pfarrer geschlossen, so drängte die ganze
+Versammlung dem Alm-Öhi entgegen, und jeder wollte der Erste sein,
+und so viele Hände wurden miteinander dem Herankommenden
+entgegengestreckt, dass er gar nicht wusste, welche zuerst
+ergreifen, und einer rief ihm zu: "Das freut mich! Das freut mich,
+Öhi, dass Ihr auch wieder einmal zu uns kommt!", und ein anderer:
+"Ich hätte auch schon lang gern wieder einmal ein Wort mit Euch
+geredet, Öhi!" Und so tönte und drängte es von allen Seiten, und
+wie nun der Öhi auf alle die freundlichen Begrüßungen erwiderte, er
+gedenke, sein altes Quartier im Dörfli wieder zu beziehen und den
+Winter mit den alten Bekannten zu verleben, da gab es erst einen
+rechten Lärm, und es war gerade so, wie wenn der Alm-Öhi die
+beliebteste Persönlichkeit im ganzen Dörfli wäre, die jeder mit
+Nachteil entbehrt hatte. Noch weit an die Alm hinauf wurden
+Großvater und Kind von den meisten begleitet, und beim Abschied
+wollte jeder die Versicherung haben, dass der Alm-Öhi bald einmal
+bei ihm vorspreche, wenn er wieder herunterkomme; und wie nun die
+Leute den Berg hinab zurückkehrten, blieb der Alte stehen und
+schaute ihnen lange nach, und auf seinem Gesichte lag ein so warmes
+Licht, als schiene bei ihm die Sonne von innen heraus. Heidi
+schaute unverwandt zu ihm auf und sagte ganz erfreut: "Großvater,
+heut wirst du immer schöner, so warst du noch gar nie."
+</p>
+
+<p>
+"Meinst du?", lächelte der Großvater. "Ja, und siehst du, Heidi,
+mir geht's auch heut über Verstehen und Verdienen gut, und mit Gott
+und Menschen im Frieden stehen, das macht einem so wohl! Der liebe
+Gott hat's gut mit mir gemeint, dass er dich auf die Alm schickte."
+</p>
+
+<p>
+Bei der Geißenpeter-Hütte angekommen, machte der Großvater gleich
+die Tür auf und trat ein. "Grüß Gott, Großmutter", rief er hinein;
+"ich denke, wir müssen einmal wieder ans Flicken gehen, bevor der
+Herbstwind kommt."
+</p>
+
+<p>
+"Du mein Gott, das ist der Öhi!", rief die Großmutter voll
+freudiger Überraschung aus. "Dass ich das noch erlebe! Dass ich
+Euch noch einmal danken kann für alles, das Ihr für uns getan habt,
+Öhi! Vergelt's Gott! Vergelt's Gott!"
+</p>
+
+<p>
+Und mit zitternder Freude streckte die alte Großmutter ihre Hand
+aus, und als der Angeredete sie herzlich schüttelte, fuhr sie fort,
+indem sie die seinige fest hielt: "Und eine Bitte hab ich auch noch
+auf dem Herzen, Öhi: Wenn ich Euch je etwas zuleid getan habe, so
+straft mich nicht damit, dass Ihr noch einmal das Heidi fortlasst,
+bevor ich unten bei der Kirche liege. Oh, Ihr wisst nicht, was mir
+das Kind ist!", und sie hielt es fest an sich, denn Heidi hatte
+sich schon an sie geschmiegt.
+</p>
+
+<p>
+"Keine Sorge, Großmutter", beruhigte der Öhi; "damit will ich weder
+Euch noch mich strafen. Jetzt bleiben wir alle beieinander und,
+will's Gott, noch lange so."
+</p>
+
+<p>
+Jetzt zog die Brigitte den Öhi ein wenig geheimnisvoll in eine Ecke
+hinein und zeigte ihm das schöne Federnhütchen und erzählte ihm,
+wie es sich damit verhalte, und dass sie ja natürlich so etwas
+einem Kinde nicht abnehme.
+</p>
+
+<p>
+Aber der Großvater sah ganz wohlgefällig auf sein Heidi hin und
+sagte: "Der Hut ist sein, und wenn es ihn nicht mehr auf den Kopf
+tun will, so hat es Recht, und hat es ihn dir gegeben, so nimm ihn
+nur."
+</p>
+
+<p>
+Die Brigitte war höchlich erfreut über das unerwartete Urteil. "Er
+ist gewiss mehr als zehn Franken wert, seht nur!", und in ihrer
+Freude streckte sie das Hütchen hoch auf. "Was aber auch dieses
+Heidi für einen Segen von Frankfurt mit heimgebracht hat! Ich habe
+schon manchmal denken müssen, ob ich nicht den Peterli auch ein
+wenig nach Frankfurt schicken solle; was meint Ihr, Öhi?"
+</p>
+
+<p>
+Dem Öhi schoss es ganz lustig aus den Augen. Er meinte, es könnte
+dem Peterli nichts schaden; aber er würde doch eine gute
+Gelegenheit dazu abwarten.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt fuhr der Besprochene eben zur Tür herein, nachdem er zuerst
+mit dem Kopf so fest dagegen gerannt war, dass alles erklirrte
+davon; er musste pressiert sein. Atemlos und keuchend stand er nun
+mitten in der Stube still und streckte einen Brief aus. Das war
+auch ein Ereignis, das noch nie vorgekommen war, ein Brief mit
+einer Aufschrift an das Heidi, den man ihm auf der Post im Dörfli
+übergeben hatte. Jetzt setzten sich alle voller Erwartung um den
+Tisch herum, und Heidi machte seinen Brief auf und las ihn laut und
+ohne Anstoß vor. Der Brief war von der Klara Sesemann geschrieben.
+Sie erzählte Heidi, dass es seit seiner Abreise so langweilig
+geworden sei in ihrem Hause, sie es nicht lang hintereinander so
+aushalten könne und so lange den Vater gebeten habe, bis er die
+Reise ins Bad Ragaz schon auf den kommenden Herbst festgestellt
+habe, und die Großmama wolle auch mitkommen, denn sie wolle auch
+das Heidi und den Großvater besuchen auf der Alm. Und weiter ließ
+die Großmama noch dem Heidi sagen, es habe Recht getan, dass es der
+alten Großmutter die Brötchen habe mitbringen wollen, und damit sie
+diese nicht trocken essen müsse, komme gleich der Kaffee noch dazu,
+er sei schon auf der Reise, und wenn sie selbst nach der Alm komme,
+so müsse das Heidi sie auch zur Großmutter führen.
+</p>
+
+<p>
+Da gab es nun eine solche Freude und Verwunderung über diese
+Nachrichten und so viel zu reden und zu fragen, da die große
+Erwartung alle gleich betraf, dass selbst der Großvater nicht
+bemerkte, wie spät es schon war, und so vergnügt und fröhlich waren
+sie alle in der Aussicht auf die kommenden Tage und fast noch mehr
+in der Freude über das Zusammensein an dem heutigen, dass die
+Großmutter zuletzt sagte: "Das Schönste ist doch, wenn so ein alter
+Freund kommt und uns wieder die Hand gibt, so wie vor langer Zeit;
+das gibt so ein tröstliches Gefühl ins Herz, dass wir einmal alles
+wieder finden, was uns lieb ist. Ihr kommt doch bald wieder, Öhi,
+und das Kind morgen schon?"
+</p>
+
+<p>
+Das wurde der Großmutter in die Hand hinein versprochen; nun aber
+war es Zeit zum Aufbruch, und der Großvater wanderte mit Heidi die
+Alm hinan, und wie am Morgen die hellen Glocken von nah und fern
+sie heruntergerufen hatten, so begleitete nun aus dem Tale herauf
+das friedliche Geläut der Abendglocken sie bis hinauf zur sonnigen
+Almhütte, die ganz sonntäglich im Abendschimmer ihnen
+entgegenglänzte.
+</p>
+
+<p>
+Wenn aber die Großmama kommt im Herbst, dann gibt es gewiss noch
+manche neue Freude und Überraschung für das Heidi wie für die
+Großmutter, und sicher kommt auch gleich ein richtiges Bett auf den
+Heuboden hinauf, denn wo die Großmama hintritt, da kommen alle
+Dinge bald in die erwünschte Ordnung und Richtigkeit, nach außen
+wie nach innen.
+</p>
+
+<div style='display:block; margin-top:4em'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK HEIDIS LEHR- UND WANDERJAHRE ***</div>
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+
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+</div>
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+Vanilla ASCII&#8221; or other form. Any alternate format must include the
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+</div>
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+</div>
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+</div>
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+or any Project Gutenberg&#8482; work, (b) alteration, modification, or
+additions or deletions to any Project Gutenberg&#8482; work, and (c) any
+Defect you cause.
+</div>
+
+<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'>
+Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg&#8482;
+</div>
+
+<div style='display:block; margin:1em 0'>
+Project Gutenberg&#8482; is synonymous with the free distribution of
+electronic works in formats readable by the widest variety of
+computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
+exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
+from people in all walks of life.
+</div>
+
+<div style='display:block; margin:1em 0'>
+Volunteers and financial support to provide volunteers with the
+assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg&#8482;&#8217;s
+goals and ensuring that the Project Gutenberg&#8482; collection will
+remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
+and permanent future for Project Gutenberg&#8482; and future
+generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
+Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org.
+</div>
+
+<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'>
+Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+</div>
+
+<div style='display:block; margin:1em 0'>
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
+501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
+state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
+Revenue Service. The Foundation&#8217;s EIN or federal tax identification
+number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
+U.S. federal laws and your state&#8217;s laws.
+</div>
+
+<div style='display:block; margin:1em 0'>
+The Foundation&#8217;s business office is located at 809 North 1500 West,
+Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
+to date contact information can be found at the Foundation&#8217;s website
+and official page at www.gutenberg.org/contact
+</div>
+
+<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'>
+Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+</div>
+
+<div style='display:block; margin:1em 0'>
+Project Gutenberg&#8482; depends upon and cannot survive without widespread
+public support and donations to carry out its mission of
+increasing the number of public domain and licensed works that can be
+freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
+array of equipment including outdated equipment. Many small donations
+($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
+status with the IRS.
+</div>
+
+<div style='display:block; margin:1em 0'>
+The Foundation is committed to complying with the laws regulating
+charities and charitable donations in all 50 states of the United
+States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
+considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
+with these requirements. We do not solicit donations in locations
+where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
+DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state
+visit <a href="https://www.gutenberg.org/donate/">www.gutenberg.org/donate</a>.
+</div>
+
+<div style='display:block; margin:1em 0'>
+While we cannot and do not solicit contributions from states where we
+have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
+against accepting unsolicited donations from donors in such states who
+approach us with offers to donate.
+</div>
+
+<div style='display:block; margin:1em 0'>
+International donations are gratefully accepted, but we cannot make
+any statements concerning tax treatment of donations received from
+outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
+</div>
+
+<div style='display:block; margin:1em 0'>
+Please check the Project Gutenberg web pages for current donation
+methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
+ways including checks, online payments and credit card donations. To
+donate, please visit: www.gutenberg.org/donate
+</div>
+
+<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'>
+Section 5. General Information About Project Gutenberg&#8482; electronic works
+</div>
+
+<div style='display:block; margin:1em 0'>
+Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
+Gutenberg&#8482; concept of a library of electronic works that could be
+freely shared with anyone. For forty years, he produced and
+distributed Project Gutenberg&#8482; eBooks with only a loose network of
+volunteer support.
+</div>
+
+<div style='display:block; margin:1em 0'>
+Project Gutenberg&#8482; eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
+the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
+necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
+edition.
+</div>
+
+<div style='display:block; margin:1em 0'>
+Most people start at our website which has the main PG search
+facility: <a href="https://www.gutenberg.org">www.gutenberg.org</a>.
+</div>
+
+<div style='display:block; margin:1em 0'>
+This website includes information about Project Gutenberg&#8482;,
+including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
+subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
+</div>
+</div>
+
+</body>
+
+</html>
diff --git a/LICENSE.txt b/LICENSE.txt
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--- /dev/null
+++ b/LICENSE.txt
@@ -0,0 +1,11 @@
+This eBook, including all associated images, markup, improvements,
+metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be
+in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES.
+
+Procedures for determining public domain status are described in
+the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org.
+
+No investigation has been made concerning possible copyrights in
+jurisdictions other than the United States. Anyone seeking to utilize
+this eBook outside of the United States should confirm copyright
+status under the laws that apply to them.
diff --git a/README.md b/README.md
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@@ -0,0 +1,2 @@
+Project Gutenberg (https://www.gutenberg.org) public repository for
+eBook #7500 (https://www.gutenberg.org/ebooks/7500)
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new file mode 100644
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--- /dev/null
+++ b/old/20140901-7500-8.txt
@@ -0,0 +1,6477 @@
+The Project Gutenberg EBook of Heidis Lehr- und Wanderjahre, by Johanna Spyri
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
+other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
+whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of
+the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
+www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have
+to check the laws of the country where you are located before using this ebook.
+
+Title: Heidis Lehr- und Wanderjahre
+
+Author: Johanna Spyri
+
+Posting Date: September 1, 2014 [EBook #7500]
+Release Date: February, 2005
+First Posted: May 11, 2003
+
+Language: German
+
+Character set encoding: ISO-8859-1
+
+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK HEIDIS LEHR- UND WANDERJAHRE ***
+
+
+
+
+Produced by Mike Pullen and Juliet Sunderland. HTML version
+by Al Haines.
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+This book content was graciously contributed by the Gutenberg Projekt-DE.
+That project is reachable at the web site http://gutenberg2000.de.
+
+Dieses Buch wurde uns freundlicherweise vom "Gutenberg Projekt-DE"
+zur Verfügung gestellt. Das Projekt ist unter der Internet-Adresse
+http://gutenberg2000.de erreichbar.
+
+
+
+
+Heidis Lehr- und Wanderjahre
+
+Johanna Spyri
+
+
+ Inhalt
+
+ 1 Zum Alm-Öhi hinauf
+ 2 Beim Großvater
+ 3 Auf der Weide
+ 4 Bei der Großmutter
+ 5 Es kommt ein Besuch und dann noch einer, der mehr Folgen hat
+ 6 Ein neues Kapitel und lauter neue Dinge
+ 7 Fräulein Rottenmeier hat einen unruhigen Tag
+ 8 Im Hause Sesemann geht's unruhig zu
+ 9 Der Hausherr hört allerlei in seinem Hause, das er noch nicht gehört hat
+ 10 Eine Großmama
+ 11 Heidi nimmt auf einer Seite zu und auf der anderen ab
+ 12 Im Hause Sesemann spukt's
+ 13 Am Sommerabend die Alm hinan
+ 14 Am Sonntag, wenn's läutet
+
+
+
+
+Zum Alm-Öhi hinauf
+
+Vom freundlichen Dorfe Maienfeld führt ein Fußweg durch grüne,
+baumreiche Fluren bis zum Fuße der Höhen, die von dieser Seite groß
+und ernst auf das Tal herniederschauen. Wo der Fußweg anfängt,
+beginnt bald Heideland mit dem kurzen Gras und den kräftigen
+Bergkräutern dem Kommenden entgegenzuduften, denn der Fußweg geht
+steil und direkt zu den Alpen hinauf.
+
+Auf diesem schmalen Bergpfade stieg am hellen, sonnigen Junimorgen
+ein großes, kräftig aussehendes Mädchen dieses Berglandes hinan,
+ein Kind an der Hand führend, dessen Wangen so glühend waren, dass
+sie selbst die sonnverbrannte, völlig braune Haut des Kindes
+flammend rot durchleuchteten. Es war auch kein Wunder: Das Kind
+war trotz der heißen Junisonne so verpackt, als hätte es sich eines
+bitteren Frostes zu erwehren. Das kleine Mädchen mochte kaum fünf
+Jahre zählen; was aber seine natürliche Gestalt war, konnte man
+nicht ersehen, denn es hatte sichtlich zwei, wenn nicht drei
+Kleider übereinander angezogen und drüberhin ein großes, rotes
+Baumwolltuch um und um gebunden, so dass die kleine Person eine
+völlig formlose Figur darstellte, die, in zwei schwere, mit Nägeln
+beschlagene Bergschuhe gesteckt, sich heiß und mühsam den Berg
+hinaufarbeitete. Eine Stunde vom Tal aufwärts mochten die beiden
+gestiegen sein, als sie zu dem Weiler kamen, der auf halber Höhe
+der Alm liegt und 'im Dörfli' heißt. Hier wurden die
+Wandernden fast von jedem Hause aus angerufen, einmal vom Fenster,
+einmal von einer Haustür und einmal vom Wege her, denn das Mädchen
+war in seinem Heimatort angelangt. Es machte aber nirgends Halt,
+sondern erwiderte alle zugerufenen Grüße und Fragen im Vorbeigehen,
+ohne still zu stehen, bis es am Ende des Weilers bei dem letzten
+der zerstreuten Häuschen angelangt war. Hier rief es aus einer Tür:
+"Wart einen Augenblick, Dete, ich komme mit, wenn du weiter
+hinaufgehst."
+
+Die Angeredete stand still; sofort machte sich das Kind von ihrer
+Hand los und setzte sich auf den Boden.
+
+"Bist du müde, Heidi?", fragte die Begleiterin.
+
+"Nein, es ist mir heiß", entgegnete das Kind.
+
+"Wir sind jetzt gleich oben, du musst dich nur noch ein wenig
+anstrengen und große Schritte nehmen, dann sind wir in einer Stunde
+oben", ermunterte die Gefährtin.
+
+Jetzt trat eine breite gutmütig aussehende Frau aus der Tür und
+gesellte sich zu den beiden. Das Kind war aufgestanden und
+wanderte nun hinter den zwei alten Bekannten her, die sofort in ein
+lebhaftes Gespräch gerieten über allerlei Bewohner des 'Dörfli' und
+vieler umherliegender Behausungen.
+
+"Aber wohin willst du eigentlich mit dem Kinde, Dete?", fragte
+jetzt die neu Hinzugekommene. "Es wird wohl deiner Schwester Kind
+sein, das hinterlassene."
+
+"Das ist es", erwiderte Dete, "ich will mit ihm hinauf zum Öhi, es
+muss dort bleiben."
+
+"Was, beim Alm-Öhi soll das Kind bleiben? Du bist, denk ich, nicht
+recht bei Verstand, Dete! Wie kannst du so etwas tun! Der Alte
+wird dich aber schon heimschicken mit deinem Vorhaben!"
+
+"Das kann er nicht, er ist der Großvater, er muss etwas tun, ich
+habe das Kind bis jetzt gehabt, und das kann ich dir schon sagen,
+Barbel, dass ich einen Platz, wie ich ihn jetzt haben kann, nicht
+dahinten lasse um des Kindes willen; jetzt soll der Großvater das
+Seinige tun."
+
+"Ja, wenn der wäre wie andere Leute, dann schon", bestätigte die
+kleine Barbel eifrig; "aber du kennst ja den. Was wird der mit
+einem Kinde anfangen und dann noch einem so kleinen! Das hält's
+nicht aus bei ihm! Aber wo willst du denn hin?"
+
+"Nach Frankfurt", erklärte Dete, "da bekomm ich einen extraguten
+Dienst. Die Herrschaft war schon im vorigen Sommer unten im Bad,
+ich habe ihre Zimmer auf meinem Gang gehabt und sie besorgt, und
+schon damals wollten sie mich mitnehmen, aber ich konnte nicht
+fortkommen, und jetzt sind sie wieder da und wollen mich mitnehmen,
+und ich will auch gehen, da kannst du sicher sein."
+
+"Ich möchte nicht das Kind sein!", rief die Barbel mit abwehrender
+Gebärde aus. "Es weiß ja kein Mensch, was mit dem Alten da oben
+ist! Mit keinem Menschen will er etwas zu tun haben, jahraus,
+jahrein setzt er keinen Fuß in eine Kirche, und wenn er mit seinem
+dicken Stock im Jahr einmal herunterkommt, so weicht ihm alles aus
+und muss sich vor ihm fürchten. Mit seinen dicken grauen
+Augenbrauen und dem furchtbaren Bart sieht er auch aus wie ein
+alter Heide und Indianer, dass man froh ist, wenn man ihm nicht
+allein begegnet."
+
+"Und wenn auch", sagte Dete trotzig, "er ist der Großvater und muss
+für das Kind sorgen, er wird ihm wohl nichts tun, sonst hat er's zu
+verantworten, nicht ich."
+
+"Ich möchte nur wissen", sagte die Barbel forschend, "was der Alte
+auf dem Gewissen hat, dass er solche Augen macht und so
+mutterseelenallein da droben auf der Alm bleibt und sich fast nie
+blicken lässt. Man sagt allerhand von ihm; du weißt doch gewiss
+auch etwas davon, von deiner Schwester, nicht, Dete?"
+
+"Freilich, aber ich rede nicht; wenn er's hörte, so käme ich schön
+an!"
+
+Aber die Barbel hätte schon lange gern gewusst, wie es sich mit dem
+Alm-Öhi verhalte, dass er so menschenfeindlich aussehe und da oben
+ganz allein wohne und die Leute immer so mit halben Worten von ihm
+redeten, als fürchteten sie sich, gegen ihn zu sein, und wollten
+doch nicht für ihn sein. Auch wusste die Barbel gar nicht, warum
+der Alte von allen Leuten im Dörfli der Alm-Öhi genannt wurde, er
+konnte doch nicht der wirkliche Oheim von den sämtlichen Bewohnern
+sein; da aber alle ihn so nannten, tat sie es auch und nannte den
+Alten nie anders als Öhi, was die Aussprache der Gegend für Oheim
+ist. Die Barbel hatte sich erst vor kurzer Zeit nach dem Dörfli
+hinauf verheiratet, vorher hatte sie unten im Prättigau gewohnt,
+und so war sie noch nicht so ganz bekannt mit allen Erlebnissen und
+besonderen Persönlichkeiten aller Zeiten vom Dörfli und der
+Umgegend. Die Dete, ihre gute Bekannte, war dagegen vom Dörfli
+gebürtig und hatte da gelebt mit ihrer Mutter bis vor einem Jahr;
+da war diese gestorben, und die Dete war nach dem Bade Ragaz
+hinübergezogen, wo sie im großen Hotel als Zimmermädchen einen
+guten Verdienst fand. Sie war auch an diesem Morgen mit dem Kinde
+von Ragaz hergekommen; bis Maienfeld hatte sie auf einem Heuwagen
+fahren können, auf dem ein Bekannter von ihr heimfuhr und sie und
+das Kind mitnahm. --Die Barbel wollte also diesmal die gute
+Gelegenheit, etwas zu vernehmen, nicht unbenutzt vorbeigehen lassen;
+sie fasste vertraulich die Dete am Arm und sagte: "Von dir kann
+man doch vernehmen, was wahr ist und was die Leute darüber hinaus
+sagen; du weißt, denk ich, die ganze Geschichte. Sag mir jetzt ein
+wenig, was mit dem Alten ist und ob der immer so gefürchtet und ein
+solcher Menschenhasser war."
+
+"Ob er immer so war, kann ich, denk ich, nicht präzis wissen, ich
+bin jetzt sechsundzwanzig und er sicher siebzig Jahr alt; so hab
+ich ihn nicht gesehen, wie er jung war, das wirst du nicht erwarten.
+Wenn ich aber wüsste, dass es nachher nicht im ganzen Prättigau
+herumkäme, so könnte ich dir schon allerhand erzählen von ihm;
+meine Mutter war aus dem Domleschg und er auch."
+
+"A bah, Dete, was meinst denn?", gab die Barbel ein wenig beleidigt
+zurück; "es geht nicht so streng mit dem Schwatzen im Prättigau,
+und dann kann ich schon etwas für mich behalten, wenn es sein muss.
+Erzähl mir's jetzt, es muss dich nicht gereuen."
+
+"Ja nu, so will ich, aber halt Wort!", mahnte die Dete. Erst sah
+sie sich aber um, ob das Kind nicht zu nah sei und alles anhöre,
+was sie sagen wollte; aber das Kind war gar nicht zu sehen, es
+musste schon seit einiger Zeit den beiden Begleiterinnen nicht mehr
+gefolgt sein, diese hatten es aber im Eifer der Unterhaltung nicht
+bemerkt. Dete stand still und schaute sich überall um. Der Fußweg
+machte einige Krümmungen, doch konnte man ihn fast bis zum Dörfli
+hinunter übersehen, es war aber niemand darauf sichtbar.
+
+"Jetzt seh ich's", erklärte die Barbel; "siehst du dort?", und sie
+wies mit dem Zeigefinger weitab vom Bergpfad. "Es klettert die
+Abhänge hinauf mit dem Geißenpeter und seinen Geißen. Warum der
+heut so spät hinauffährt mit seinen Tieren? Es ist aber gerad
+recht, er kann nun zu dem Kinde sehen, und du kannst mir umso
+besser erzählen."
+
+"Mit dem Nach-ihm-Sehen muss sich der Peter nicht anstrengen",
+bemerkte die Dete; "es ist nicht dumm für seine fünf Jahre, es tut
+seine Augen auf und sieht, was vorgeht, das hab ich schon bemerkt
+an ihm, und es wird ihm einmal zugut kommen, denn der Alte hat gar
+nichts mehr als seine zwei Geißen und die Almhütte."
+
+"Hat er denn einmal mehr gehabt?", fragte die Barbel.
+
+"Der? Ja, das denk ich, dass er einmal mehr gehabt hat",
+entgegnete eifrig die Dete; "eins der schönsten Bauerngüter im
+Domleschg hat er gehabt. Er war der ältere Sohn und hatte nur noch
+einen Bruder, der war still und ordentlich. Aber der Ältere wollte
+nichts tun, als den Herrn spielen und im Lande herumfahren und mit
+bösem Volk zu tun haben, das niemand kannte. Den ganzen Hof hat er
+verspielt und verzecht, und wie es herauskam, da sind sein Vater
+und seine Mutter hintereinander gestorben vor lauter Gram, und der
+Bruder, der nun auch am Bettelstab war, ist vor Verdruss in die
+Welt hinaus, es weiß kein Mensch wohin, und der Öhi selber, als er
+nichts mehr hatte als einen bösen Namen, ist auch verschwunden.
+Erst wusste niemand wohin, dann vernahm man, er sei unter das
+Militär gegangen nach Neapel, und dann hörte man nichts mehr von
+ihm zwölf oder fünfzehn Jahre lang. Dann auf einmal erschien er
+wieder im Domleschg mit einem halb erwachsenen Buben und wollte
+diesen in der Verwandtschaft unterzubringen suchen. Aber es
+schlossen sich alle Türen vor ihm, und keiner wollte mehr etwas von
+ihm wissen. Das erbitterte ihn sehr; er sagte, ins Domleschg setze
+er keinen Fuß mehr, und dann kam er hierher ins Dörfli und lebte da
+mit dem Buben. Die Frau muss eine Bündnerin gewesen sein, die er
+dort unten getroffen und dann bald wieder verloren hatte. Er
+musste noch etwas Geld haben, denn er ließ den Buben, den Tobias,
+ein Handwerk erlernen, Zimmermann, und der war ein ordentlicher
+Mensch und wohlgelitten bei allen Leuten im Dörfli. Aber dem Alten
+traute keiner, man sagte auch, er sei von Neapel desertiert, es
+wäre ihm sonst schlimm gegangen, denn er habe einen erschlagen,
+natürlich nicht im Krieg, verstehst du, sondern beim Raufhandel.
+Wir anerkannten aber die Verwandtschaft, da meiner Mutter
+Großmutter mit seiner Großmutter Geschwisterkind gewesen war. So
+nannten wir ihn Öhi, und da wir fast mit allen Leuten im Dörfli
+wieder verwandt sind vom Vater her, so nannten ihn diese alle auch
+Öhi, und seit er dann auf die Alm hinaufgezogen war, hieß er eben
+nur noch der 'Alm-Öhi'."
+
+"Aber wie ist es dann mit dem Tobias gegangen?", fragte gespannt
+die Barbel.
+
+"Wart nur, das kommt schon, ich kann nicht alles auf einmal sagen",
+erklärte Dete. "Also der Tobias war in der Lehre draußen in Mels,
+und sowie er fertig war, kam er heim ins Dörfli und nahm meine
+Schwester zur Frau, die Adelheid, denn sie hatten sich schon immer
+gern gehabt, und auch wie sie nun verheiratet waren, konnten sie's
+sehr gut zusammen. Aber es ging nicht lange. Schon zwei Jahre
+nachher, wie er an einem Hausbau mithalf, fiel ein Balken auf ihn
+herunter und schlug ihn tot. Und wie man den Mann so entstellt
+nach Hause brachte, da fiel die Adelheid vor Schrecken und Leid in
+ein heftiges Fieber und konnte sich nicht mehr erholen, sie war
+sonst nicht sehr kräftig und hatte manchmal so eigene Zustände
+gehabt, dass man nicht recht wusste, schlief sie oder war sie wach.
+Nur ein paar Wochen, nachdem der Tobias tot war, begrub man auch
+die Adelheid. Da sprachen alle Leute weit und breit von dem
+traurigen Schicksal der beiden, und leise und laut sagten sie, das
+sei die Strafe, die der Öhi verdient habe für sein gottloses Leben,
+und ihm selbst wurde es gesagt und auch der Herr Pfarrer redete ihm
+ins Gewissen, er sollte doch jetzt Buße tun, aber er wurde nur
+immer grimmiger und verstockter und redete mit niemandem mehr, es
+ging ihm auch jeder aus dem Wege. Auf einmal hieß es, der Öhi sei
+auf die Alm hinaufgezogen und komme gar nicht mehr herunter, und
+seither ist er dort und lebt mit Gott und Menschen im Unfrieden.
+Das kleine Kind der Adelheid nahmen wir zu uns, die Mutter und ich;
+es war ein Jahr alt. Wie nun im letzten Sommer die Mutter starb
+und ich im Bad drunten etwas verdienen wollte, nahm ich es mit und
+gab es der alten Ursel oben im Pfäfferserdorf in die Kost. Ich
+konnte auch im Winter im Bad bleiben, es gab allerhand Arbeit, weil
+ich zu nähen und flicken verstehe, und früh im Frühling kam die
+Herrschaft aus Frankfurt wieder, die ich voriges Jahr bedient hatte
+und die mich mitnehmen will; übermorgen reisen wir ab, und der
+Dienst ist gut, das kann ich dir sagen."
+
+"Und dem Alten da droben willst du nun das Kind übergeben? Es
+nimmt mich nur wunder, was du denkst, Dete", sagte die Barbel
+vorwurfsvoll.
+
+"Was meinst du denn?", gab Dete zurück. "Ich habe das Meinige an
+dem Kinde getan, und was sollte ich denn mit ihm machen? Ich denke,
+ich kann eines, das erst fünf Jahre alt wird, nicht mit nach
+Frankfurt nehmen. Aber wohin gehst du eigentlich, Barbel, wir sind
+ja schon halbwegs auf der Alm?"
+
+"Ich bin auch gleich da, wo ich hinmuss", entgegnete die Barbel;
+"ich habe mit der Geißenpeterin zu reden, sie spinnt mir im Winter.
+So leb wohl, Dete, mit Glück!"
+
+Dete reichte der Begleiterin die Hand und blieb stehen, während
+diese der kleinen, dunkelbraunen Almhütte zuging, die einige
+Schritte seitwärts vom Pfad in einer Mulde stand, wo sie vor dem
+Bergwind ziemlich geschützt war. Die Hütte stand auf der halben
+Höhe der Alm, vom Dörfli aus gerechnet, und dass sie in einer
+kleinen Vertiefung des Berges stand, war gut, denn sie sah so
+baufällig und verfallen aus, dass es auch so noch ein gefährliches
+Darinwohnen sein musste, wenn der Föhnwind so mächtig über die
+Berge strich, dass alles an der Hütte klapperte, Türen und Fenster,
+und alle die morschen Balken zitterten und krachten. Hätte die
+Hütte an solchen Tagen oben auf der Alm gestanden, sie wäre
+unverzüglich ins Tal hinabgeweht worden.
+
+Hier wohnte der Geißenpeter, der elfjährige Bube, der jeden Morgen
+unten im Dörfli die Geißen holte, um sie hoch auf die Alm
+hinaufzutreiben, um sie da die kurzen kräftigen Kräuter fressen zu
+lassen bis zum Abend; dann sprang der Peter mit den leichtfüßigen
+Tierchen wieder herunter, tat, im Dörfli angekommen, einen
+schrillen Pfiff durch die Finger, und jeder Besitzer holte seine
+Geiß auf dem Platz. Meistens kamen kleine Buben und Mädchen, denn
+die friedlichen Geißen waren nicht zu fürchten, und das war denn
+den ganzen Sommer durch die einzige Zeit am Tage, da der Peter mit
+seinesgleichen verkehrte; sonst lebte er nur mit den Geißen. Er
+hatte zwar daheim seine Mutter und die blinde Großmutter; aber da
+er immer am Morgen sehr früh fortmusste und am Abend vom Dörfli
+spät heimkam, weil er sich da noch so lange als möglich mit den
+Kindern unterhalten musste, so verbrachte er daheim nur gerade so
+viel Zeit, um am Morgen seine Milch und Brot und am Abend
+ebendasselbe hinunterzuschlucken und dann sich aufs Ohr zu legen
+und zu schlafen. Sein Vater, der auch schon der Geißenpeter
+genannt worden war, weil er in früheren Jahren in demselben Berufe
+gestanden hatte, war vor einigen Jahren beim Holzfällen verunglückt.
+Seine Mutter, die zwar Brigitte hieß, wurde von jedermann um des
+Zusammenhangs willen die Geißenpeterin genannt, und die blinde
+Großmutter kannten weit und breit Alt und Jung nur unter dem Namen
+Großmutter.
+
+Die Dete hatte wohl zehn Minuten gewartet und sich nach allen
+Seiten umgesehen, ob die Kinder mit den Geißen noch nirgends zu
+sehen seien; als dies aber nicht der Fall war, so stieg sie noch
+ein wenig höher, wo sie besser die ganze Alm bis hinunter übersehen
+konnte, und guckte nun von hier aus bald dahin, bald dorthin mit
+Zeichen großer Ungeduld auf dem Gesicht und in den Bewegungen.
+Unterdessen rückten die Kinder auf einem großen Umwege heran, denn
+der Peter wusste viele Stellen, wo allerhand Gutes an Sträuchern
+und Gebüschen für seine Geißen zu nagen war; darum machte er mit
+seiner Herde vielerlei Wendungen auf dem Wege. Erst war das Kind
+mühsam nachgeklettert, in seiner schweren Rüstung vor Hitze und
+Unbequemlichkeit keuchend und alle Kräfte anstrengend. Es sagte
+kein Wort, blickte aber unverwandt bald auf den Peter, der mit
+seinen nackten Füßen und leichten Höschen ohne alle Mühe hin und
+her sprang, bald auf die Geißen, die mit den dünnen, schlanken
+Beinchen noch leichter über Busch und Stein und steile Abhänge
+hinaufkletterten. Auf einmal setzte das Kind sich auf den Boden
+nieder, zog mit großer Schnelligkeit Schuhe und Strümpfe aus, stand
+wieder auf, zog sein rotes, dickes Halstuch weg, machte sein
+Röckchen auf, zog es schnell aus und hatte gleich noch eins
+auszuhäkeln, denn die Base Dete hatte ihm das Sonntagskleidchen
+über das Alltagszeug angezogen, um der Kürze willen, damit niemand
+es tragen müsse. Blitzschnell war auch das Alltagsröcklein weg,
+und nun stand das Kind im leichten Unterröckchen, die bloßen Arme
+aus den kurzen Hemdärmelchen vergnüglich in die Luft
+hinausstreckend. Dann legte es schön alles auf ein Häufchen, und
+nun sprang und kletterte es hinter den Geißen und neben dem Peter
+her, so leicht als nur eines aus der ganzen Gesellschaft. Der
+Peter hatte nicht Acht gegeben, was das Kind mache, als es
+zurückgeblieben war. Wie es nun in der neuen Bekleidung
+nachgesprungen kam, zog er lustig grinsend das ganze Gesicht
+auseinander und schaute zurück, und wie er unten das Häuflein
+Kleider liegen sah, ging sein Gesicht noch ein wenig mehr
+auseinander, und sein Mund kam fast von einem Ohr bis zum anderen;
+er sagte aber nichts. Wie nun das Kind sich so frei und leicht
+fühlte, fing es ein Gespräch mit dem Peter an, und er fing auch an
+zu reden und musste auf vielerlei antworten, denn das Kind wollte
+wissen, wie viele Geißen er habe und wohin er mit ihnen gehe und
+was er dort tue, wo er hinkomme. So langten endlich die Kinder
+samt den Geißen oben bei der Hütte an und kamen der Base Dete zu
+Gesicht. Kaum aber hatte diese die herankletternde Gesellschaft
+erblickt, als sie laut aufschrie: "Heidi, was machst du? Wie
+siehst du aus? Wo hast du deinen Rock und den zweiten und das
+Halstuch? Und ganz neue Schuhe habe ich dir gekauft auf den Berg
+und dir neue Strümpfe gemacht, und alles fort! Alles fort! Heidi,
+was machst du, wo hast du alles?"
+
+Das Kind zeigte ruhig den Berg hinunter und sagte: "Dort!" Die Base
+folgte seinem Finger. Richtig, dort lag etwas und obenauf war ein
+roter Punkt, das musste das Halstuch sein.
+
+"Du Unglückstropf!", rief die Base in großer Aufregung. "Was kommt
+dir denn in den Sinn, warum hast du alles ausgezogen? Was soll das
+sein?"
+
+"Ich brauch es nicht", sagte das Kind und sah gar nicht reuevoll
+aus über seine Tat.
+
+"Ach du unglückseliges, vernunftloses Heidi, hast du denn auch noch
+gar keine Begriffe?", jammerte und schalt die Base weiter. "Wer
+sollte nun wieder da hinunter, es ist ja eine halbe Stunde! Komm,
+Peter, lauf du mir schnell zurück und hol das Zeug, komm schnell
+und steh nicht dort und glotze mich an, als wärst du am Boden
+festgenagelt."
+
+"Ich bin schon zu spät", sagte Peter langsam und blieb, ohne sich
+zu rühren, auf demselben Fleck stehen, von dem aus er, beide Hände
+in die Taschen gesteckt, dem Schreckensausbruch der Base zugehört
+hatte.
+
+"Du stehst ja doch nur und reißest deine Augen auf und kommst, denk
+ich, nicht weit auf die Art!", rief ihm die Base Dete zu. "Komm
+her, du musst etwas Schönes haben, siehst du?" Sie hielt ihm ein
+neues Fünferchen hin, das glänzte ihm in die Augen. Plötzlich
+sprang er auf und davon auf dem geradesten Weg die Alm hinunter und
+kam in ungeheuren Sätzen in kurzer Zeit bei dem Häuflein Kleider an,
+packte sie auf und erschien damit so schnell, dass ihn die Base
+rühmen musste und ihm sogleich sein Fünfrappenstück überreichte.
+Peter steckte es schnell tief in seine Tasche, und sein Gesicht
+glänzte und lachte in voller Breite, denn ein solcher Schatz wurde
+ihm nicht oft zuteil.
+
+"Du kannst mir das Zeug noch tragen bis zum Öhi hinauf, du gehst ja
+auch den Weg", sagte die Base Dete jetzt, indem sie sich anschickte,
+den steilen Abhang zu erklimmen, der gleich hinter der Hütte des
+Geißenpeter emporragte. Willig übernahm dieser den Auftrag und
+folgte der Voranschreitenden auf dem Fuße nach, den linken Arm um
+sein Bündel geschlungen, in der Rechten die Geißenrute schwingend.
+Das Heidi und die Geißen hüpften und sprangen fröhlich neben ihm
+her. So gelangte der Zug nach drei Viertelstunden auf die Almhöhe,
+wo frei auf dem Vorsprung des Berges die Hütte des alten Öhi stand,
+allen Winden ausgesetzt, aber auch jedem Sonnenblick zugänglich und
+mit der vollen Aussicht weit ins Tal hinab. Hinter der Hütte
+standen drei alte Tannen mit dichten, langen, unbeschnittenen Ästen.
+Weiter hinten ging es nochmals bergan bis hoch hinauf in die
+alten, grauen Felsen, erst noch über schöne, kräuterreiche Höhen,
+dann in steiniges Gestrüpp und endlich zu den kahlen, steilen
+Felsen hinan.
+
+An die Hütte festgemacht, der Talseite zu, hatte sich der Öhi eine
+Bank gezimmert. Hier saß er, eine Pfeife im Mund, beide Hände auf
+seine Knie gelegt, und schaute ruhig zu, wie die Kinder, die Geißen
+und die Base Dete herankletterten, denn die Letztere war nach und
+nach von den anderen überholt worden. Heidi war zuerst oben; es
+ging geradeaus auf den Alten zu, streckte ihm die Hand entgegen und
+sagte: "Guten Abend, Großvater!"
+
+"So, so, wie ist das gemeint?", fragte der Alte barsch, gab dem
+Kinde kurz die Hand und schaute es mit einem langen,
+durchdringenden Blick an, unter seinen buschigen Augenbrauen hervor.
+Heidi gab den langen Blick ausdauernd zurück, ohne nur einmal mit
+den Augen zu zwinkern, denn der Großvater mit dem langen Bart und
+den dichten, grauen Augenbrauen, die in der Mitte zusammengewachsen
+waren und aussahen wie eine Art Gesträuch, war so verwunderlich
+anzusehen, dass Heidi ihn recht betrachten musste. Unterdessen war
+auch die Base herangekommen samt dem Peter, der eine Welle stille
+stand und zusah, was sich da ereigne.
+
+"Ich wünsche Euch guten Tag, Öhi", sagte die Dete hinzutretend,
+"und hier bring ich Euch das Kind vom Tobias und der Adelheid. Ihr
+werdet es wohl nicht mehr kennen, denn seit es jährig war, habt Ihr
+es nie mehr gesehen."
+
+"So, was muss das Kind bei mir?", fragte der Alte kurz; "und du
+dort", rief er dem Peter zu, "du kannst gehen mit deinen Geißen, du
+bist nicht zu früh; nimm meine mit!"
+
+Der Peter gehorchte sofort und verschwand, denn der Öhi hatte ihn
+angeschaut, dass er schon genug davon hatte.
+
+"Es muss eben bei Euch bleiben, Öhi", gab die Dete auf seine Frage
+zurück. "Ich habe, denk ich, das Meinige an ihm getan die vier
+Jahre durch, es wird jetzt wohl an Euch sein, das Eurige auch
+einmal zu tun."
+
+"So", sagte der Alte und warf einen blitzenden Blick auf die Dete.
+"Und wenn nun das Kind anfängt, dir nachzuflennen und zu winseln,
+wie kleine Unvernünftige tun, was muss ich dann mit ihm anfangen?"
+
+"Das ist dann Eure Sache", warf die Dete zurück, "ich meine fast,
+es habe mir auch kein Mensch gesagt, wie ich es mit dem Kleinen
+anzufangen habe, als es mir auf den Händen lag, ein einziges
+Jährchen alt, und ich schon für mich und die Mutter genug zu tun
+hatte. Jetzt muss ich meinem Verdienst nach, und Ihr seid der
+Nächste am Kind; wenn Ihr's nicht haben könnt, so macht mit ihm,
+was Ihr wollt, dann habt Ihr's zu verantworten, wenn's verdirbt,
+und Ihr werdet wohl nicht nötig haben, noch etwas aufzuladen."
+
+Die Dete hatte kein recht gutes Gewissen bei der Sache, darum war
+sie so hitzig geworden und hatte mehr gesagt, als sie im Sinn
+gehabt hatte. Bei ihren letzten Worten war der Öhi aufgestanden;
+er schaute sie so an, dass sie einige Schritte zurückwich; dann
+streckte er den Arm aus und sagte befehlend: "Mach, dass du
+hinunterkommst, wo du heraufgekommen bist, und zeig dich nicht so
+bald wieder!" Das ließ sich die Dete nicht zweimal sagen. "So lebt
+wohl, und du auch, Heidi", sagte sie schnell und lief den Berg
+hinunter in einem Trab bis ins Dörfli hinab, denn die innere
+Aufregung trieb sie vorwärts wie eine wirksame Dampfkraft. Im
+Dörfli wurde sie diesmal noch viel mehr angerufen, denn es wunderte
+die Leute, wo das Kind sei; sie kannten ja alle die Dete genau und
+wussten, wem das Kind gehörte und alles, was mit ihm vorgegangen
+war. Als es nun aus allen Türen und Fenstern tönte: "Wo ist das
+Kind? Dete, wo hast du das Kind gelassen?", rief sie immer
+unwilliger zurück: "Droben beim Alm-Öhi! Nun, beim Alm-Öhi, ihr
+hört's ja!"
+
+Sie wurde aber so maßleidig, weil die Frauen von allen Seiten ihr
+zuriefen: "Wie kannst du so etwas tun!", und: "Das arme Tröpfli!",
+und: "So ein kleines Hilfloses da droben lassen!", und dann wieder
+und wieder: "Das arme Tröpfli!" Die Dete lief, so schnell sie
+konnte, weiter und war froh, als sie nichts mehr hörte, denn es war
+ihr nicht wohl bei der Sache; ihre Mutter hatte ihr beim Sterben
+das Kind noch übergeben. Aber sie sagte sich zur Beruhigung, sie
+könne dann ja eher wieder etwas für das Kind tun, wenn sie nun viel
+Geld verdiene, und so war sie sehr froh, dass sie bald weit von
+allen Leuten, die ihr dreinredeten, weg- und zu einem schönen
+Verdienst kommen konnte.
+
+
+
+
+Beim Großvater
+
+Nachdem die Dete verschwunden war, hatte der Öhi sich wieder auf
+die Bank hingesetzt und blies nun große Wolken aus seiner Pfeife;
+dabei starrte er auf den Boden und sagte kein Wort. Derweilen
+schaute das Heidi vergnüglich um sich, entdeckte den Geißenstall,
+der an die Hütte angebaut war, und guckte hinein. Es war nichts
+drin. Das Kind setzte seine Untersuchungen fort und kam hinter die
+Hütte zu den alten Tannen. Da blies der Wind durch die Äste so
+stark, dass es sauste und brauste oben in den Wipfeln. Heidi blieb
+stehen und hörte zu. Als es ein wenig stiller wurde, ging das Kind
+um die kommende Ecke der Hütte herum und kam vorn wieder zum
+Großvater zurück. Als es diesen noch in derselben Stellung
+erblickte, wie es ihn verlassen hatte, stellte es sich vor ihn hin,
+legte die Hände auf den Rücken und betrachtete ihn. Der Großvater
+schaute auf. "Was willst du jetzt tun?", fragte er, als das Kind
+immer noch unbeweglich vor ihm stand.
+
+"Ich will sehen, was du drinnen hast, in der Hütte", sagte Heidi.
+
+"So komm!", und der Großvater stand auf und ging voran in die Hütte
+hinein.
+
+"Nimm dort dein Bündel Kleider noch mit", befahl er im Hereintreten.
+
+"Das brauch ich nicht mehr", erklärte Heidi.
+
+Der Alte kehrte sich um und schaute durchdringend auf das Kind,
+dessen schwarze Augen glühten in Erwartung der Dinge, die da
+drinnen sein konnten. "Es kann ihm nicht an Verstand fehlen",
+sagte er halblaut. "Warum brauchst du's nicht mehr?", setzte er
+laut hinzu.
+
+"Ich will am liebsten gehen wie die Geißen, die haben ganz leichte
+Beinchen."
+
+"So, das kannst du, aber hol das Zeug", befahl der Großvater, "es
+kommt in den Kasten." Heidi gehorchte. Jetzt machte der Alte die
+Tür auf und Heidi trat hinter ihm her in einen ziemlich großen Raum
+ein, es war der Umfang der ganzen Hütte. Da stand ein Tisch und
+ein Stuhl daran; in einer Ecke war des Großvaters Schlaflager, in
+einer anderen hing der große Kessel über dem Herd; auf der anderen
+Seite war eine große Tür in der Wand, die machte der Großvater auf,
+es war der Schrank. Da hingen seine Kleider drin und auf einem
+Gestell lagen ein paar Hemden, Strümpfe und Tücher und auf einem
+anderen einige Teller und Tassen und Gläser und auf dem obersten
+ein rundes Brot und geräuchertes Fleisch und Käse, denn in dem
+Kasten war alles enthalten, was der Alm-Öhi besaß und zu seinem
+Lebensunterhalt gebrauchte. Wie er nun den Schrank aufgemacht
+hatte, kam das Heidi schnell heran und stieß sein Zeug hinein, so
+weit hinter des Großvaters Kleider als möglich, damit es nicht so
+leicht wieder zu finden sei. Nun sah es sich aufmerksam um in dem
+Raum und sagte dann: "Wo muss ich schlafen, Großvater?"
+
+"Wo du willst", gab dieser zur Antwort.
+
+Das war dem Heidi eben recht. Nun fuhr es in alle Winkel hinein
+und schaute jedes Plätzchen aus, wo am schönsten zu schlafen wäre.
+In der Ecke vorüber des Großvaters Lagerstätte war eine kleine
+Leiter aufgerichtet; Heidi kletterte hinauf und langte auf dem
+Heuboden an. Da lag ein frischer, duftender Heuhaufen oben, und
+durch eine runde Luke sah man weit ins Tal hinab.
+
+"Hier will ich schlafen", rief Heidi hinunter, "hier ist's schön!
+Komm und sieh einmal, wie schön es hier ist, Großvater!"
+
+"Weiß schon", tönte es von unten herauf.
+
+"Ich mache jetzt das Bett!", rief das Kind wieder, indem es oben
+geschäftig hin und her fuhr; "aber du musst heraufkommen und mir
+ein Leintuch mitbringen, denn auf ein Bett kommt auch ein Leintuch,
+und darauf liegt man."
+
+"So, so", sagte unten der Großvater, und nach einer Weile ging er
+an den Schrank und kramte ein wenig darin herum; dann zog er unter
+seinen Hemden ein langes, grobes Tuch hervor, das musste so etwas
+sein wie ein Leintuch. Er kam damit die Leiter herauf. Da war auf
+dem Heuboden ein ganz artiges Bettlein zugerichtet; oben, wo der
+Kopf liegen musste, war das Heu hoch aufgeschichtet, und das
+Gesicht kam so zu liegen, dass es gerade auf das offene, runde Loch
+traf.
+
+"Das ist recht gemacht", sagte der Großvater, "jetzt wird das Tuch
+kommen, aber wart noch"--damit nahm er einen guten Wisch Heu von
+dem Haufen und machte das Lager doppelt so dick, damit der harte
+Boden nicht durchgefühlt werden konnte--; "so, jetzt komm her
+damit." Heidi hatte das Leintuch schnell zuhanden genommen, konnte
+es aber fast nicht tragen, so schwer war's; aber das war sehr gut,
+denn durch das feste Zeug konnten die spitzen Heuhalme nicht
+durchstechen. Jetzt breiteten die beiden miteinander das Tuch über
+das Heu, und wo es zu breit und zu lang war, stopfte Heidi die
+Enden eilfertig unter das Lager. Nun sah es recht gut und reinlich
+aus, und Heidi stellte sich davor und betrachtete es nachdenklich.
+
+"Wir haben noch etwas vergessen, Großvater", sagte es dann.
+
+"Was denn?", fragte er.
+
+"Eine Decke; denn wenn man ins Bett geht, kriecht man zwischen das
+Leintuch und die Decke hinein."
+
+"So, meinst du? Wenn ich aber keine habe?", sagte der Alte.
+
+"Oh, dann ist's gleich, Großvater", beruhigte Heidi, "dann nimmt
+man wieder Heu zur Decke", und eilfertig wollte es gleich wieder an
+den Heustock gehen, aber der Großvater wehrte es ihm.
+
+"Wart einen Augenblick", sagte er, stieg die Leiter hinab und ging
+an sein Lager hin. Dann kam er wieder und legte einen großen,
+schweren, leinenen Sack auf den Boden.
+
+"Ist das nicht besser als Heu?", fragte er. Heidi zog aus
+Leibeskräften an dem Sacke hin und her, um ihn auseinander zu legen,
+aber die kleinen Hände konnten das schwere Zeug nicht bewältigen.
+Der Großvater half, und wie es nun ausgebreitet auf dem Bette lag,
+da sah alles sehr gut und haltbar aus, und Heidi stand staunend vor
+seinem neuen Lager und sagte: "Das ist eine prächtige Decke und das
+ganze Bett! Jetzt wollt ich, es wäre schon Nacht, so könnte ich
+hineinliegen."
+
+"Ich meine, wir könnten erst einmal etwas essen", sagte der
+Großvater, "oder was meinst du?" Heidi hatte über dem Eifer des
+Bettens alles andere vergessen; nun ihm aber der Gedanke ans Essen
+kam, stieg ein großer Hunger in ihm auf, denn es hatte auch heute
+noch gar nichts bekommen als früh am Morgen sein Stück Brot und ein
+paar Schlucke dünnen Kaffees, und nachher hatte es die lange Reise
+gemacht. So sagte Heidi ganz zustimmend: "Ja, ich mein es auch."
+
+"So geh hinunter, wenn wir denn einig sind", sagte der Alte und
+folgte dem Kind auf dem Fuß nach. Dann ging er zum Kessel hin,
+schob den großen weg und drehte den kleinen heran, der an der Kette
+hing, setzte sich auf den hölzernen Dreifuß mit dem runden Sitz
+davor hin und blies ein helles Feuer an. Im Kessel fing es an zu
+sieden, und unten hielt der Alte an einer langen Eisengabel ein
+großes Stück Käse über das Feuer und drehte es hin und her, bis es
+auf allen Seiten goldgelb war. Heidi hatte mit gespannter
+Aufmerksamkeit zugesehen; jetzt musste ihm etwas Neues in den Sinn
+gekommen sein; auf einmal sprang es weg und an den Schrank und von
+da hin und her. Jetzt kam der Großvater mit einem Topf und dem
+Käsebraten an der Gabel zum Tisch heran; da lag schon das runde
+Brot darauf und zwei Teller und zwei Messer, alles schön geordnet,
+denn das Heidi hatte alles im Schrank gut wahrgenommen und wusste,
+dass man das alles nun gleich zum Essen brauchen werde.
+
+"So, das ist recht, dass du selbst etwas ausdenkst", sagte der
+Großvater und legte den Braten auf das Brot als Unterlage; "aber es
+fehlt noch etwas auf dem Tisch."
+
+Heidi sah, wie einladend es aus dem Topf hervordampfte, und sprang
+schnell wieder an den Schrank. Da stand aber nur ein einziges
+Schüsselchen. Heidi war nicht lang in Verlegenheit, dort hinten
+standen zwei Gläser; augenblicklich kam das Kind zurück und stellte
+Schüsselchen und Glas auf den Tisch.
+
+"Recht so; du weißt dir zu helfen; aber wo willst du sitzen?" Auf
+dem einzigen Stuhl saß der Großvater selbst. Heidi schoss
+pfeilschnell zum Herd hin, brachte den kleinen Dreifuß zurück und
+setzte sich drauf.
+
+"Einen Sitz hast du wenigstens, das ist wahr, nur ein wenig weit
+unten", sagte der Großvater; "aber von meinem Stuhl wärst auch zu
+kurz, auf den Tisch zu langen; jetzt musst aber einmal etwas haben,
+so komm!" Damit stand er auf, füllte das Schüsselchen mit Milch,
+stellte es auf den Stuhl und rückte den ganz nah an den Dreifuß hin,
+so dass das Heidi nun einen Tisch vor sich hatte. Der Großvater
+legte ein großes Stück Brot und ein Stück von dem goldenen Käse
+darauf und sagte: "Jetzt iss!" Er selbst setzte sich nun auf die
+Ecke des Tisches und begann sein Mittagsmahl. Heidi ergriff sein
+Schüsselchen und trank und trank ohne Aufenthalt, denn der ganze
+Durst seiner langen Reise war ihm wieder aufgestiegen. Jetzt tat
+es einen langen Atemzug--denn im Eifer des Trinkens hatte es lange
+den Atem nicht holen können--und stellte sein Schüsselchen hin.
+
+"Gefällt dir die Milch?", fragte der Großvater.
+
+"Ich habe noch gar nie so gute Milch getrunken", antwortete Heidi.
+
+"So musst du mehr haben", und der Großvater füllte das Schüsselchen
+noch einmal bis oben hin und stellte es vor das Kind, das
+vergnüglich in sein Brot biss, nachdem es von dem weichen Käse
+darauf gestrichen, denn der war, so gebraten, weich wie Butter, und
+das schmeckte ganz kräftig zusammen, und zwischendurch trank es
+seine Milch und sah sehr vergnüglich aus. Als nun das Essen zu
+Ende war, ging der Großvater in den Geißenstall hinaus und hatte da
+allerhand in Ordnung zu bringen, und Heidi sah ihm aufmerksam zu,
+wie er erst mit dem Besen säuberte, dann frische Streu legte, dass
+die Tierchen darauf schlafen konnten; wie er dann nach dem
+Schöpfchen ging nebenan und hier runde Stöcke zurechtschnitt und an
+einem Brett herumhackte und Löcher hineinbohrte und dann die runden
+Stöcke hineinsteckte und aufstellte; da war es auf einmal ein Stuhl,
+wie der vom Großvater, nur viel höher, und Heidi staunte das Werk
+an, sprachlos vor Verwunderung.
+
+"Was ist das, Heidi?", fragte der Großvater.
+
+"Das ist mein Stuhl, weil er so hoch ist; auf einmal war er fertig",
+sagte das Kind, noch in tiefem Erstaunen und Bewunderung.
+
+"Es weiß, was es sieht, es hat die Augen am rechten Ort", bemerkte
+der Großvater vor sich hin, als er nun um die Hütte herumging und
+hier einen Nagel einschlug und dort einen und dann an der Tür etwas
+zu befestigen hatte und so mit Hammer und Nägeln und Holzstücken
+von einem Ort zum anderen wanderte und immer etwas ausbesserte oder
+wegschlug, je nach dem Bedürfnis. Heidi ging Schritt für Schritt
+hinter ihm her und schaute ihm unverwandt mit der größten
+Aufmerksamkeit zu, und alles, was da vorging, war ihm sehr
+kurzweilig anzusehen.
+
+So kam der Abend heran. Es fing stärker an zu rauschen in den
+alten Tannen, ein mächtiger Wind fuhr daher und sauste und brauste
+durch die dichten Wipfel. Das tönte dem Heidi so schön in die
+Ohren und ins Herz hinein, dass es ganz fröhlich darüber wurde und
+hüpfte und sprang unter den Tannen umher, als hätte es eine
+unerhörte Freude erlebt. Der Großvater stand unter der Schopftür
+und schaute dem Kind zu. Jetzt ertönte ein schriller Pfiff. Heidi
+hielt an in seinen Sprüngen, der Großvater trat heraus. Von oben
+herunter kam es gesprungen, Geiß um Geiß, wie eine Jagd, und
+mittendrin der Peter. Mit einem Freudenruf schoss Heidi mitten in
+das Rudel hinein und begrüßte die alten Freunde von heute Morgen
+einen um den anderen. Bei der Hütte angekommen, stand alles still,
+und aus der Herde heraus kamen zwei schöne, schlanke Geißen, eine
+weiße und eine braune, auf den Großvater zu und leckten seine Hände,
+denn er hielt ein wenig Salz darin, wie er jeden Abend zum Empfang
+seiner zwei Tierlein tat. Der Peter verschwand mit seiner Schar.
+Heidi streichelte zärtlich die eine und dann die andere von den
+Geißen und sprang um sie herum, um sie von der anderen Seite auch
+zu streicheln, und war ganz Glück und Freude über die Tierchen.
+"Sind sie unser, Großvater? Sind sie beide unser? Kommen sie in
+den Stall? Bleiben sie immer bei uns?", so fragte Heidi
+hintereinander in seinem Vergnügen, und der Großvater konnte kaum
+sein stetiges "Ja, ja!" zwischen die eine und die andere Frage
+hineinbringen. Als die Geißen ihr Salz aufgeleckt hatten, sagte
+der Alte: "Geh und hol dein Schüsselchen heraus und das Brot."
+
+Heidi gehorchte und kam gleich wieder. Nun melkte der Großvater
+gleich von der Weißen das Schüsselchen voll und schnitt ein Stück
+Brot ab und sagte: "Nun iss und dann geh hinauf und schlaf! Die
+Base Dete hat noch ein Bündelchen abgelegt für dich, da seien
+Hemdlein und so etwas darin, das liegt unten im Kasten, wenn du's
+brauchst; ich muss nun mit den Geißen hinein, so schlaf wohl!"
+
+"Gut Nacht, Großvater! Gut Nacht--wie heißen sie, Großvater, wie
+heißen sie?", rief das Kind und lief dem verschwindenden Alten und
+den Geißen nach.
+
+"Die Weiße heißt Schwänli und die Braune Bärli", gab der Großvater
+zurück.
+
+"Gut Nacht, Schwänli, gut Nacht, Bärli!", rief nun Heidi noch mit
+Macht, denn eben verschwanden beide in den Stall hinein. Nun
+setzte sich Heidi noch auf die Bank und aß sein Brot und trank
+seine Milch; aber der starke Wind wehte es fast von seinem Sitz
+herunter; so machte es schnell fertig, ging dann hinein und stieg
+zu seinem Bett hinauf, in dem es auch gleich nachher so fest und
+herrlich schlief, als nur einer im schönsten Fürstenbett schlafen
+konnte. Nicht lange nachher, noch eh es völlig dunkel war, legte
+auch der Großvater sich auf sein Lager, denn am Morgen war er immer
+schon mit der Sonne wieder draußen, und die kam sehr früh über die
+Berge hereingestiegen in dieser Sommerszeit. In der Nacht kam der
+Wind so gewaltig, dass bei seinen Stößen die ganze Hütte erzitterte
+und es in allen Balken krachte; durch den Schornstein heulte und
+ächzte es wie Jammerstimmen, und in den alten Tannen draußen tobte
+es mit solcher Wut, dass hier und da ein Ast niederkrachte. Mitten
+in der Nacht stand der Großvater auf und sagte halblaut vor sich
+hin: "Es wird sich wohl fürchten." Er stieg die Leiter hinauf und
+trat an Heidis Lager heran. Der Mond draußen stand einmal hell
+leuchtend am Himmel, dann fuhren wieder die jagenden Wolken darüber
+hin und alles wurde dunkel. Jetzt kam der Mondschein eben
+leuchtend durch die runde Öffnung herein und fiel gerade auf Heidis
+Lager. Es hatte sich feuerrote Backen erschlafen unter seiner
+schweren Decke, und ruhig und friedlich lag es auf seinem runden
+Ärmchen und träumte von etwas Erfreulichem, denn sein Gesichtchen
+sah ganz wohlgemut aus. Der Großvater schaute so lange auf das
+friedlich schlafende Kind, bis der Mond wieder hinter die Wolken
+trat und es dunkel wurde, dann kehrte er auf sein Lager zurück.
+
+
+
+
+Auf der Weide
+
+Heidi erwachte am frühen Morgen an einem lauten Pfiff, und als es
+die Augen aufschlug, kam ein goldener Schein durch das runde Loch
+hereingeflossen auf sein Lager und auf das Heu daneben, dass alles
+golden leuchtete ringsherum. Heidi schaute erstaunt um sich und
+wusste durchaus nicht, wo es war. Aber nun hörte es draußen des
+Großvaters tiefe Stimme, und jetzt kam ihm alles in den Sinn: Woher
+es gekommen war und dass es nun auf der Alm beim Großvater sei,
+nicht mehr bei der alten Ursel, die fast nichts mehr hörte und
+meistens fror, so dass sie immer am Küchenfenster oder am
+Stubenofen gesessen hatte, wo dann auch Heidi hatte verweilen
+müssen oder doch ganz in der Nähe, damit die Alte sehen konnte, wo
+es war, weil sie es nicht hören konnte. Da war es dem Heidi
+manchmal zu eng drinnen, und es wäre lieber hinausgelaufen. So war
+es sehr froh, als es in der neuen Behausung erwachte und sich
+erinnerte, wie viel Neues es gestern gesehen hatte und was es heute
+wieder alles sehen könnte, vor allem das Schwänli und das Bärli.
+Heidi sprang eilig aus seinem Bett und hatte in wenig Minuten alles
+wieder angelegt, was es gestern getragen hatte, denn es war sehr
+wenig. Nun stieg es die Leiter hinunter und sprang vor die Hütte
+hinaus. Da stand schon der Geißenpeter mit seiner Schar, und der
+Großvater brachte eben Schwänli und Bärli aus dem Stall herbei,
+dass sie sich der Gesellschaft anschlossen. Heidi lief ihm
+entgegen, um ihm und den Geißen guten Tag zu sagen.
+
+"Willst mit auf die Weide?", fragte der Großvater. Das war dem
+Heidi eben recht, es hüpfte hoch auf vor Freude.
+
+"Aber erst waschen und sauber sein, sonst lacht einen die Sonne aus,
+wenn sie so schön glänzt da droben und sieht, dass du schwarz bist;
+sieh, dort ist's für dich gerichtet." Der Großvater zeigte auf
+einen großen Zuber voll Wasser, der vor der Tür in der Sonne stand.
+Heidi sprang hin und patschte und rieb, bis es ganz glänzend war.
+Unterdessen ging der Großvater in die Hütte hinein und rief dem
+Peter zu: "Komm hierher, Geißengeneral, und bring deinen Habersack
+mit." Verwundert folgte Peter dem Ruf und streckte sein Säcklein
+hin, in dem er sein mageres Mittagessen bei sich trug.
+
+"Mach auf", befahl der Alte und steckte nun ein großes Stück Brot
+und ein ebenso großes Stück Käse hinein. Der Peter machte vor
+Erstaunen seine runden Augen so weit auf als nur möglich, denn die
+beiden Stücke waren wohl doppelt so groß wie die zwei, die er als
+eignes Mittagsmahl drinnen hatte.
+
+"So, nun kommt noch das Schüsselchen hinein", fuhr der Öhi fort,
+"denn das Kind kann nicht trinken wie du, nur so von der Geiß weg,
+es kennt das nicht. Du melkst ihm zwei Schüsselchen voll zu Mittag,
+denn das Kind geht mit dir und bleibt bei dir, bis du wieder
+herunterkommst; gib Acht, dass es nicht über die Felsen
+hinunterfällt, hörst du?"--
+
+Nun kam Heidi hereingelaufen. "Kann mich die Sonne jetzt nicht
+auslachen, Großvater?", fragte es angelegentlich. Es hatte sich
+mit dem groben Tuch, das der Großvater neben dem Wasserzuber
+aufgehängt hatte, Gesicht, Hals und Arme in seinem Schrecken vor
+der Sonne so erstaunlich gerieben, dass es krebsrot vor dem
+Großvater stand. Er lachte ein wenig.
+
+"Nein, nun hat sie nichts zu lachen", bestätigte er. "Aber weißt
+was? Am Abend, wenn du heimkommst, da gehst du noch ganz hinein in
+den Zuber, wie ein Fisch; denn wenn man geht wie die Geißen, da
+bekommt man schwarze Füße. Jetzt könnt ihr ausziehen."
+
+Nun ging es lustig die Alm hinan. Der Wind hatte in der Nacht das
+letzte Wölkchen weggeblasen; dunkelblau schaute der Himmel von
+allen Seiten hernieder, und mittendrauf stand die leuchtende Sonne
+und schimmerte auf die grüne Alp, und alle die blauen und gelben
+Blümchen darauf machten ihre Kelche auf und schauten ihr fröhlich
+entgegen. Heidi sprang hierhin und dorthin und jauchzte vor Freude,
+denn da waren ganze Trüppchen feiner, roter Himmelsschlüsselchen
+beieinander, und dort schimmerte es ganz blau von den schönen
+Enzianen, und überall lachten und nickten die zartblätterigen,
+goldenen Cystusröschen in der Sonne. Vor Entzücken über all die
+flimmernden winkenden Blümchen vergaß Heidi sogar die Geißen und
+auch den Peter. Es sprang ganze Strecken voran und dann auf die
+Seite, denn dort funkelte es rot und da gelb und lockte Heidi auf
+alle Seiten. Und überall brach Heidi ganze Scharen von den Blumen
+und packte sie in sein Schürzchen ein, denn es wollte sie alle mit
+heimnehmen und ins Heu stecken in seiner Schlafkammer, dass es dort
+werde wie hier draußen. --So hatte der Peter heut nach allen
+Seiten zu gucken, und seine kugelrunden Augen, die nicht besonders
+schnell hin und her gingen, hatten mehr Arbeit, als der Peter gut
+bewältigen konnte, denn die Geißen machten es wie das Heidi: Sie
+liefen auch dahin und dorthin, und er musste überallhin pfeifen und
+rufen und seine Rute schwingen, um wieder alle die Verlaufenen
+zusammenzutreiben.
+
+"Wo bist du schon wieder, Heidi?", rief er jetzt mit ziemlich
+grimmiger Stimme.
+
+"Da", tönte es von irgendwoher zurück. Sehen konnte Peter niemand,
+denn Heidi saß am Boden hinter einem Hügelchen, das dicht mit
+duftenden Prünellen besät war; da war die ganze Luft umher so mit
+Wohlgeruch erfüllt, dass Heidi noch nie so Liebliches eingeatmet
+hatte. Es setzte sich in die Blumen hinein und zog den Duft in
+vollen Zügen ein.
+
+"Komm nach!", rief der Peter wieder. "Du musst nicht über die
+Felsen hinunterfallen, der Öhi hat's verboten."
+
+"Wo sind die Felsen?", fragte Heidi zurück, bewegte sich aber nicht
+von der Stelle, denn der süße Duft strömte mit jedem Windhauch dem
+Kinde lieblicher entgegen.
+
+"Dort oben, ganz oben, wir haben noch weit, drum komm jetzt! Und
+oben am höchsten sitzt der alte Raubvogel und krächzt."
+
+Das half. Augenblicklich sprang Heidi in die Höhe und rannte mit
+seiner Schürze voller Blumen dem Peter zu.
+
+"Jetzt hast genug", sagte dieser, als sie wieder zusammen
+weiterkletterten; "sonst bleibst du immer stecken, und wenn du alle
+nimmst, hat's morgen keine mehr." Der letzte Grund leuchtete Heidi
+ein, und dann hatte es die Schürze schon so angefüllt, dass da
+wenig Platz mehr gewesen wäre, und morgen mussten auch noch da sein.
+So zog es nun mit dem Peter weiter, und die Geißen gingen nun
+alle geregelter, denn sie rochen die guten Kräuter von dem hohen
+Weideplatz schon von fern und strebten nun ohne Aufenthalt dahin.
+Der Weideplatz, wo Peter gewöhnlich Halt machte mit seinen Geißen
+und sein Quartier für den Tag aufschlug, lag am Fuße der hohen
+Felsen, die, erst noch von Gebüsch und Tannen bedeckt, zuletzt ganz
+kahl und schroff zum Himmel hinaufragen. An der einen Seite der
+Alp ziehen sich Felsenklüfte weit hinunter und der Großvater hatte
+Recht, davor zu warnen. Als nun dieser Punkt der Höhe erreicht war,
+nahm Peter seinen Sack ab und legte ihn sorgfältig in eine kleine
+Vertiefung des Bodens hinein, denn der Wind kam manchmal in starken
+Stößen dahergefahren, und den kannte Peter und wollte seine
+kostbare Habe nicht den Berg hinunterrollen sehen; dann streckte er
+sich lang und breit auf den sonnigen Weideboden hin, denn er musste
+sich nun von der Anstrengung des Steigens erholen.
+
+Heidi hatte unterdessen sein Schürzchen losgemacht und schön fest
+zusammengerollt mit den Blumen darin zum Proviantsack in die
+Vertiefung hineingelegt, und nun setzte es sich neben den
+ausgestreckten Peter hin und schaute um sich. Das Tal lag weit
+unten im vollen Morgenglanz; vor sich sah Heidi ein großes, weites
+Schneefeld sich erheben, hoch in den dunkelblauen Himmel hinauf,
+und links davon stand eine ungeheure Felsenmasse, und zu jeder
+Seite derselben ragte ein hoher Felsenturm kahl und zackig in die
+Bläue hinauf und schaute von dort oben ganz ernsthaft auf das Heidi
+nieder. Das Kind saß mäuschenstill da und schaute ringsum, und
+weit umher war eine große, tiefe Stille; nur ganz sanft und leise
+ging der Wind über die zarten, blauen Glockenblümchen und die
+goldnen, strahlenden Cystusröschen, die überall herumstanden auf
+ihren dünnen Stängelchen und leise und fröhlich hin und her nickten.
+Der Peter war entschlafen nach seiner Anstrengung, und die Geißen
+kletterten oben an den Büschen umher. Dem Heidi war es so schön
+zumute, wie in seinem Leben noch nie. Es trank das goldene
+Sonnenlicht, die frischen Lüfte, den zarten Blumenduft in sich ein
+und begehrte gar nichts mehr, als so dazubleiben immerzu. So
+verging eine gute Zeit und Heidi hatte so oft und so lange zu den
+hohen Bergstöcken drüben aufgeschaut, dass es nun war, als hätten
+sie alle auch Gesichter bekommen und schauten ganz bekannt zu ihm
+hernieder, so wie gute Freunde.
+
+Jetzt hörte Heidi über sich ein lautes, scharfes Geschrei und
+Krächzen ertönen, und wie es aufschaute, kreiste über ihm ein so
+großer Vogel, wie es nie in seinem Leben gesehen hatte, mit weit
+ausgebreiteten Schwingen in der Luft umher, und in großen Bogen
+kehrte er immer wieder zurück und krächzte laut und durchdringend
+über Heidis Kopf.
+
+"Peter! Peter! Erwache!", rief Heidi laut. "Sich, der Raubvogel
+ist da, sieh! Sieh!"
+
+Peter erhob sich auf den Ruf und schaute mit Heidi dem Vogel nach,
+der sich nun höher und höher hinaufschwang ins Himmelsblau und
+endlich über grauen Felsen verschwand.
+
+"Wo ist er jetzt hin?", fragte Heidi, das mit gespannter
+Aufmerksamkeit den Vogel verfolgt hatte.
+
+"Heim ins Nest", war Peters Antwort.
+
+"Ist er dort oben daheim? Oh, wie schön so hoch oben! Warum
+schreit er so?", fragte Heidi weiter.
+
+"Weil er muss", erklärte Peter.
+
+"Wir wollen doch dort hinaufklettern und sehen, wo er daheim ist",
+schlug Heidi vor.
+
+"Oh! oh! oh!", brach der Peter aus, jeden Ausruf mit verstärkter
+Missbilligung hervorstoßend; "wenn keine Geiß mehr dorthin kann und
+der Öhi gesagt hat, du dürfest nicht über die Felsen hinunterfallen."
+
+Jetzt begann der Peter mit einem Mal ein so gewaltiges Pfeifen und
+Rufen anzustimmen, dass Heidi gar nicht wusste, was begegnen sollte;
+aber die Geißen mussten die Töne verstehen, denn eine nach der
+anderen kam heruntergesprungen, und nun war die ganze Schar auf der
+grünen Halde versammelt, die einen fortnagend an den würzigen
+Halmen, die anderen hin und her rennend und die Dritten ein wenig
+gegeneinander stoßend mit ihren Hörnern zum Zeitvertreib. Heidi
+war aufgesprungen und rannte mitten unter den Geißen umher, denn
+das war ihm ein neuer, unbeschreiblich vergnüglicher Anblick, wie
+die Tierlein durcheinander sprangen und sich lustig machten, und
+Heidi sprang von einem zum anderen und machte mit jedem ganz
+persönliche Bekanntschaft, denn jedes war eine ganz besondere
+Erscheinung für sich und hatte seine eigenen Manieren. Unterdessen
+hatte Peter den Sack herbeigeholt und alle vier Stücke, die drin
+waren, schön auf den Boden hingelegt in ein Viereck, die großen
+Stücke auf Heidis Seite und die kleinen auf die seinige hin, denn
+er wusste genau, wie er sie erhalten hatte. Dann nahm er das
+Schüsselchen und melkte schöne, frische Milch hinein vom Schwänli
+und stellte das Schüsselchen mitten ins Viereck. Dann rief er
+Heidi herbei, musste aber länger rufen als nach den Geißen, denn
+das Kind war so in Eifer und Freude über die mannigfaltigen Sprünge
+und Erlustigungen seiner neuen Spielkameraden, dass es nichts sah
+und nichts hörte außer diesen. Aber Peter wusste sich verständlich
+zu machen, er rief, dass es bis in die Felsen hinaufdröhnte, und
+nun erschien Heidi und die gedeckte Tafel sah so einladend aus,
+dass es um sie herumhüpfte vor Wohlgefallen.
+
+"Hör auf zu hopsen, es ist Zeit zum Essen", sagte Peter, "jetzt
+sitz und fang an."
+
+Heidi setzte sich hin. "Ist die Milch mein?", fragte es, nochmals
+das schöne Viereck und den Hauptpunkt in der Mitte mit Wohlgefallen
+betrachtend.
+
+"Ja", erwiderte Peter, "und die zwei großen Stücke zum Essen sind
+auch dein, und wenn du ausgetrunken hast, bekommst du noch ein
+Schüsselchen vom Schwänli und dann komm ich."
+
+"Und von wem bekommst du die Milch?", wollte Heidi wissen.
+
+"Von meiner Geiß, von der Schnecke. Fang einmal zu essen an",
+mahnte Peter wieder. Heidi fing bei seiner Milch an, und sowie es
+sein leeres Schüsselchen hinstellte, stand Peter auf und holte ein
+zweites herbei. Dazu brach Heidi ein Stück von seinem Brot ab, und
+das ganze übrige Stück, das immer noch größer war, als Peters
+eigenes Stück gewesen, das nun schon samt Zubehör fast zu Ende war,
+reichte es diesem hinüber mit dem ganzen großen Brocken Käse und
+sagte: "Das kannst du haben, ich habe nun genug."
+
+Peter schaute das Heidi mit sprachloser Verwunderung an, denn noch
+nie in seinem Leben hätte er so sagen und etwas weggeben können.
+Er zögerte noch ein wenig, denn er konnte nicht recht glauben, dass
+es dem Heidi ernst sei; aber dieses hielt erst fest seine Stücke
+hin, und da Peter nicht zugriff, legte sie es ihm aufs Knie. Nun
+sah er, dass es ernst gemeint sei; er erfasste sein Geschenk,
+nickte in Dank und Zustimmung und hielt nun ein so reichliches
+Mittagsmahl wie noch nie in seinem Leben als Geißbub. Heidi
+schaute derweilen nach den Geißen aus. "Wie heißen sie alle,
+Peter?", fragte es.
+
+Das wusste dieser nun ganz genau und konnte es umso besser in
+seinem Kopf behalten, da er daneben wenig darin aufzubewahren hatte.
+Er fing also an und nannte ohne Anstoß eine nach der anderen,
+immer je mit dem Finger die betreffende bezeichnend. Heidi hörte
+mit gespannter Aufmerksamkeit der Unterweisung zu, und es währte
+gar nicht lange, so konnte es sie alle voneinander unterscheiden
+und jede bei ihrem Namen nennen, denn es hatte eine jede ihre
+Besonderheiten, die einem gleich im Sinne bleiben mussten; man
+musste nur allen genau zusehen, und das tat Heidi. Da war der
+große Türk mit den starken Hörnern, der wollte mit diesen immer
+gegen alle anderen stoßen, und die meisten liefen davon, wenn er
+kam, und wollten nichts von dem groben Kameraden wissen. Nur der
+kecke Distelfink, das schlanke, behände Geißchen, wich ihm nicht
+aus, sondern rannte von sich aus manchmal drei-, viermal
+hintereinander so rasch und tüchtig gegen ihn an, dass der große
+Türk öfters ganz erstaunt dastand und nicht mehr angriff, denn der
+Distelfink stand ganz kriegslustig vor ihm und hatte scharfe
+Hörnchen. Da war das kleine, weiße Schneehöppli, das immer so
+eindringlich und flehentlich meckerte, dass Heidi schon mehrmals zu
+ihm hingelaufen war und es tröstend beim Kopf genommen hatte. Auch
+jetzt sprang das Kind wieder hin, denn die junge, jammernde Stimme
+hatte eben wieder flehentlich gerufen. Heidi legte seinen Arm um
+den Hals des Geißleins und fragte ganz teilnehmend: "Was hast du,
+Schneehöppli? Warum rufst du so um Hilfe?" Das Geißlein schmiegte
+sich nahe und vertrauensvoll an Heidi an und war jetzt ganz still.
+Peter rief von seinem Sitz aus, mit einigen Unterbrechungen, denn
+er hatte immer noch zu beißen und zu schlucken: "Es tut so, weil
+die Alte nicht mehr mitkommt, sie haben sie verkauft nach Maienfeld
+vorgestern, nun kommt sie nicht mehr auf die Alm."
+
+"Wer ist die Alte?", fragte Heidi zurück.
+
+"Pah, seine Mutter", war die Antwort.
+
+"Wo ist die Großmutter?", rief Heidi wieder.
+
+"Hat keine."
+
+"Und der Großvater?"
+
+"Hat keinen."
+
+"Du armes Schneehöppli du", sagte Heidi und drückte das Tierlein
+zärtlich an sich. "Aber jammere jetzt nur nicht mehr so; siehst du,
+ich komme nun jeden Tag mit dir, dann bist du nicht mehr so
+verlassen, und wenn dir etwas fehlt, kannst du nur zu mir kommen."
+
+Das Schneehöppli rieb ganz vergnügt seinen Kopf an Heidis Schulter
+und meckerte nicht mehr kläglich. Unterdessen hatte Peter sein
+Mittagsmahl beendet und kam nun auch wieder zu seiner Herde und zu
+Heidi heran, das schon wieder allerlei Betrachtungen angestellt
+hatte.
+
+Weitaus die zwei schönsten und saubersten Geißen der ganzen Schar
+waren Schwänli und Bärli, die sich auch mit einer gewissen
+Vornehmheit betrugen, meistens ihre eigenen Wege gingen und
+besonders dem zudringlichen Türk abweisend und verächtlich
+begegneten.--
+
+Die Tierchen hatten nun wieder begonnen, nach den Büschen
+hinaufzuklettern, und jedes hatte seine eigene Weise dabei, die
+einen leichtfertig über alles weg hüpfend, die anderen bedächtlich
+die guten Kräutlein suchend unterwegs, der Türk hier und da seine
+Angriffe probierend. Schwänli und Bärli kletterten hübsch und
+leicht hinan und fanden oben sogleich die schönsten Büsche,
+stellten sich geschickt daran auf und nagten sie zierlich ab.
+Heidi stand mit den Händen auf dem Rücken und schaute dem allen mit
+der größten Aufmerksamkeit zu.
+
+"Peter", bemerkte es jetzt zu dem wieder auf dem Boden Liegenden,
+"die schönsten von allen sind das Schwänli und das Bärli."
+
+"Weiß schon", war die Antwort. "Der Alm-Öhi putzt und wäscht sie
+und gibt ihnen Salz und hat den schönsten Stall."
+
+Aber auf einmal sprang Peter auf und setzte in großen Sprüngen den
+Geißen nach, und das Heidi lief hintendrein; da musste etwas
+begegnet sein, es konnte da nicht zurückbleiben. Der Peter sprang
+durch den Geißenrudel durch der Seite der Alm zu, wo die Felsen
+schroff und kahl weit hinabstiegen und ein unbesonnenes Geißlein,
+wenn es dorthin ging, leicht hinunterstürzen und alle Beine brechen
+konnte. Er hatte gesehen, wie der vorwitzige Distelfink nach jener
+Seite hin gehüpft war, und kam noch gerade recht, denn eben sprang
+das Geißlein dem Rande des Abgrundes zu. Peter wollte es eben
+packen, da stürzte er auf den Boden und konnte nur noch im Sturze
+ein Bein des Tierleins erwischen und es daran festhalten. Der
+Distelfink meckerte voller Zorn und Überraschung, dass er so am
+Bein festgehalten und am Fortsetzen seines fröhlichen Streifzuges
+gehindert war, und strebte eigensinnig vorwärts. Der Peter schrie
+nach Heidi, dass es ihm beistehe, denn er konnte nicht aufstehen
+und riss dem Distelfink fast das Bein aus. Heidi war schon da und
+erkannte gleich die schlimme Lage der beiden. Es riss schnell
+einige wohlduftende Kräuter aus dem Boden und hielt sie dem
+Distelfink unter die Nase und sagte begütigend:
+
+"Komm, komm, Distelfink, du musst auch vernünftig sein! Sieh, da
+kannst du hinabfallen und ein Bein brechen, das tut dir furchtbar
+weh."
+
+Das Geißlein hatte sich schnell umgewandt und dem Heidi vergnüglich
+die Kräuter aus der Hand gefressen. Derweilen war der Peter auf
+seine Füße gekommen und hatte den Distelfink an der Schnur erfasst,
+an welcher sein Glöckchen um den Hals gebunden war, und Heidi
+erfasste diese von der anderen Seite, und so führten die beiden den
+Ausreißer zu der friedlich weidenden Herde zurück. Als ihn aber
+Peter hier in Sicherheit hatte, erhob er seine Rute und wollte ihn
+zur Strafe tüchtig durchprügeln, und der Distelfink wich scheu
+zurück, denn er merkte, was begegnen sollte. Aber Heidi schrie
+laut auf: "Nein, Peter, nein, du musst ihn nicht schlagen, sieh,
+wie er sich fürchtet!"
+
+"Er verdient's", schnurrte Peter und wollte zuschlagen. Aber Heidi
+fiel ihm in den Arm und rief ganz entrüstet: "Du darfst ihm nichts
+tun, es tut ihm weh, lass ihn los!"
+
+Peter schaute erstaunt auf das gebietende Heidi, dessen schwarze
+Augen ihn so anfunkelten, dass er unwillkürlich seine Rute
+niederhielt. "So kann er gehen, wenn du mir morgen wieder von
+deinem Käse gibst", sagte dann der Peter nachgebend, denn eine
+Entschädigung wollte er haben für den Schrecken.
+
+"Allen kannst du haben, das ganze Stück morgen und alle Tage, ich
+brauche ihn gar nicht", sagte Heidi zustimmend, "und Brot gebe ich
+dir auch ganz viel, wie heute; aber dann darfst du den Distelfink
+nie, gar nie schlagen und auch das Schneehöppli nie und gar keine
+Geiß."
+
+"Es ist mir gleich", bemerkte Peter, und das war bei ihm soviel als
+eine Zusage. Jetzt ließ er den Schuldigen los, und der fröhliche
+Distelfink sprang in hohen Sprüngen auf und davon in die Herde
+hinein.--
+
+So war unvermerkt der Tag vergangen, und schon war die Sonne im
+Begriff, weit drüben hinter den Bergen hinabzugehen. Heidi saß
+wieder am Boden und schaute ganz still auf die Blauglöckchen und
+die Cystusröschen, die im goldenen Abendschein leuchteten, und
+alles Gras wurde wie golden angehaucht und die Felsen droben fingen
+an zu schimmern und zu funkeln, und auf einmal sprang Heidi auf und
+schrie: "Peter! Peter! Es brennt! Es brennt! Alle Berge brennen
+und der große Schnee drüben brennt und der Himmel. O sieh! Sieh!
+Der hohe Felsenberg ist ganz glühend! Oh, der schöne, feurige
+Schnee! Peter, sieh auf, sieh, das Feuer ist auch beim Raubvogel!
+Sieh doch die Felsen! Sieh die Tannen! Alles, alles ist im Feuer!"
+
+"Es war immer so", sagte jetzt der Peter gemütlich und schälte an
+seiner Rute fort, "aber es ist kein Feuer."
+
+"Was ist es denn?", rief Heidi und sprang hierhin und dorthin, dass
+es überallhin sehe, denn es konnte gar nicht genug bekommen, so
+schön war's auf allen Seiten. "Was ist es, Peter, was ist es?",
+rief Heidi wieder.
+
+"Es kommt von selbst so", erklärte Peter.
+
+"O sieh, sieh", rief Heidi in großer Aufregung, "auf einmal werden
+sie rosenrot! Sieh den mit dem Schnee und den mit den hohen,
+spitzigen Felsen! Wie heißen sie, Peter?"
+
+"Berge heißen nicht", erwiderte dieser.
+
+"O wie schön, sieh den rosenroten Schnee! Oh, und an den Felsen
+oben sind viele, viele Rosen! Oh, nun werden sie grau! Oh! Oh!
+Nun ist alles ausgelöscht! Nun ist alles aus, Peter!" Und Heidi
+setzte sich auf den Boden und sah so verstört aus, als ginge
+wirklich alles zu Ende.
+
+"Es ist morgen wieder so", erklärte Peter. "Steh auf, nun müssen
+wir heim."
+
+Die Geißen wurden herbeigepfiffen und--gerufen und die Heimfahrt
+angetreten.
+
+"Ist's alle Tage wieder so, alle Tage, wenn wir auf der Weide
+sind?", fragte Heidi, begierig nach einer bejahenden Versicherung
+horchend, als es nun neben dem Peter die Alm hinunterstieg.
+
+"Meistens", gab dieser zur Antwort.
+
+"Aber gewiss morgen wieder?", wollte es noch wissen.
+
+"Ja, ja, morgen schon!", versicherte Peter.
+
+Nun war Heidi wieder froh und es hatte so viele Eindrücke in sich
+aufgenommen und so viele Dinge gingen ihm im Sinn herum, dass es
+nun ganz stillschwieg, bis es bei der Almhütte ankam und den
+Großvater unter den Tannen sitzen sah, wo er auch eine Bank
+angebracht hatte und am Abend seine Geißen erwartete, die von
+dieser Seite herunterkämen. Heidi sprang gleich auf ihn zu und
+Schwänli und Bärli hinter ihm drein, denn die Geißen kannten ihren
+Herrn und ihren Stall. Der Peter rief dem Heidi nach: "Komm dann
+morgen wieder! Gute Nacht!" Denn es war ihm sehr daran gelegen,
+dass das Heidi wiederkomme.
+
+Da rannte das Heidi schnell wieder zurück und gab dem Peter die
+Hand und versicherte ihm, dass es wieder mitkomme, und dann sprang
+es mitten in die davonziehende Herde hinein und fasste noch einmal
+das Schneehöppli um den Hals und sagte vertraulich: "Schlaf wohl,
+Schneehöppli, und denk dran, dass ich morgen wiederkomme und dass
+du nie mehr so jämmerlich meckern musst."
+
+Das Schneehöppli schaute ganz freundlich und dankbar zu Heidi auf
+und sprang dann fröhlich der Herde nach.
+
+Heidi kam unter die Tannen zurück.
+
+"O Großvater, das war so schön!", rief es, noch bevor es bei ihm
+war. "Das Feuer und die Rosen am Felsen und die blauen und gelben
+Blumen, und sieh, was ich hier bringe!" Und damit schüttete Heidi
+seinen ganzen Blumenreichtum aus dem gefalteten Schürzchen vor den
+Großvater hin. Aber wie sahen die armen Blümchen aus! Heidi
+erkannte sie nicht mehr. Es war alles wie Heu, und kein einziges
+Kelchlein stand mehr offen.
+
+"O Großvater, was haben sie?", rief Heidi ganz erschrocken aus.
+"So waren sie nicht, warum sehen sie so aus?"
+
+"Die wollen draußen stehen in der Sonne und nicht ins Schürzchen
+hinein", sagte der Großvater.
+
+"Dann will ich gar keine mehr mitnehmen. Aber, Großvater, warum
+hat der Raubvogel so gekrächzt?", fragte Heidi nun angelegentlich.
+
+"Jetzt gehst du ins Wasser und ich in den Stall und hole Milch, und
+nachher kommen wir hinein zusammen in die Hütte und essen zu Nacht,
+dann sag ich dir's."
+
+So wurde getan, und wie nun später Heidi auf seinem hohen Stuhl saß
+vor seinem Milchschüsselchen und der Großvater neben ihm, da kam
+das Kind gleich wieder mit seiner Frage: "Warum krächzt der
+Raubvogel so und schreit immer so herunter, Großvater?"
+
+"Der höhnt die Leute aus dort unten, dass sie so viele
+zusammensitzen in den Dörfern und einander bös machen. Da höhnt er
+hinunter: 'Würdet ihr auseinander gehen und jedes seinen Weg
+und auf eine Höhe steigen wie ich, so wär's euch wohler!'"
+Der Großvater sagte diese Worte fast wild, so dass dem Heidi das
+Gekrächz des Raubvogels dadurch noch eindrücklicher wurde in der
+Erinnerung.
+
+"Warum haben die Berge keinen Namen, Großvater?", fragte Heidi
+wieder.
+
+"Die haben Namen", erwiderte dieser, "und wenn du mir einen so
+beschreiben kannst, dass ich ihn kenne, so sage ich dir, wie er
+heißt."
+
+Nun beschrieb Heidi den Felsenberg mit den zwei hohen Türmen genau
+so, wie es ihn gesehen hatte, und der Großvater sagte wohlgefällig:
+"Recht so, den kenn ich, der heißt Falknis. Hast du noch einen
+gesehen?"
+
+Nun beschrieb Heidi den Berg mit dem großen Schneefeld, auf dem der
+ganze Schnee im Feuer gestanden hatte und dann rosenrot geworden
+war und dann auf einmal ganz bleich und erloschen dastand.
+
+"Den erkenn ich auch", sagte der Großvater, "das ist die
+Schesaplana; so hat es dir gefallen auf der Weide?"
+
+Nun erzählte Heidi alles vom ganzen Tage, wie schön es gewesen, und
+besonders von dem Feuer am Abend, und nun sollte der Großvater auch
+sagen, woher es gekommen war, denn der Peter hätte nichts davon
+gewusst.
+
+"Siehst du", erklärte der Großvater, "das macht die Sonne, wenn sie
+den Bergen gute Nacht sagt, dann wirft sie ihnen noch ihre
+schönsten Strahlen zu, dass sie sie nicht vergessen, bis sie am
+Morgen wiederkommt."
+
+Das gefiel dem Heidi und es konnte fast nicht erwarten, dass wieder
+ein Tag komme, da es hinaufkonnte auf die Weide und wieder sehen,
+wie die Sonne den Bergen gute Nacht sagte. Aber erst musste es nun
+schlafen gehen, und es schlief auch die ganze Nacht herrlich auf
+seinem Heulager, und träumte von lauter schimmernden Bergen und
+roten Rosen darauf und mittendrin das Schneehöppli in fröhlichen
+Sprüngen.
+
+
+
+
+Bei der Großmutter
+
+Am andern Morgen kam wieder die helle Sonne, und dann kam der Peter
+und die Geißen, und wieder zogen sie alle miteinander nach der
+Weide hinauf, und so ging es Tag für Tag, und Heidi wurde bei
+diesem Weideleben ganz gebräunt und so kräftig und gesund, dass ihm
+gar nie etwas fehlte, und so froh und glücklich lebte Heidi von
+einem Tag zum anderen, wie nur die lustigen Vögelein leben auf
+allen Bäumen im grünen Wald. Wie es nun Herbst wurde und der Wind
+lauter zu sausen anfing über die Berge hin, dann sagte etwa der
+Großvater: "Heut bleibst du da, Heidi; ein Kleines, wie du bist,
+kann der Wind mit einem Ruck über alle Felsen ins Tal hinabwehen."
+
+Wenn aber das am Morgen der Peter vernahm, sah er sehr unglücklich
+aus, denn er sah lauter Missgeschick vor sich: Einmal wusste er vor
+Langeweile nun gar nicht mehr, was anfangen, wenn Heidi nicht bei
+ihm war; dann kam er um sein reichliches Mittagsmahl, und dann
+waren die Geißen so störrig an diesen Tagen, dass er die doppelte
+Mühe mit ihnen hatte; denn die waren nun auch so an Heidis
+Gesellschaft gewöhnt, dass sie nicht vorwärts wollten, wenn es
+nicht dabei war, und auf alle Seiten rannten. Heidi wurde niemals
+unglücklich, denn es sah immer irgendetwas Erfreuliches vor sich.
+Am liebsten ging es schon mit Hirt und Geißen auf die Weide zu den
+Blumen und zum Raubvogel hinauf, wo so mannigfaltige Dinge zu
+erleben waren mit all den verschieden gearteten Geißen; aber auch
+das Hämmern und Sägen und Zimmern des Großvaters war sehr
+unterhaltend für Heidi; und traf es sich, dass er gerade die
+schönen runden Geißkäschen zubereitete, wenn es daheim bleiben
+musste, so war das ein ganz besonderes Vergnügen, dieser
+merkwürdigen Tätigkeit zuzuschauen, wobei der Großvater beide Arme
+bloß machte und damit in dem großen Kessel herumrührte. Aber vor
+allem anziehend war für das Heidi an solchen Windtagen das Wogen
+und Rauschen in den drei alten Tannen hinter der Hütte. Da musste
+es immer von Zeit zu Zeit hinlaufen von allem anderen weg, was es
+auch sein mochte, denn so schön und wunderbar war gar nichts wie
+dieses tiefe, geheimnisvolle Tosen in den Wipfeln da droben; da
+stand Heidi unten und lauschte hinauf und konnte niemals genug
+bekommen, zu sehen und zu hören, wie das wehte und wogte und
+rauschte in den Bäumen mit großer Macht. Jetzt gab die Sonne nicht
+mehr heiß wie im Sommer, und Heidi suchte seine Strümpfe und Schuhe
+hervor und auch den Rock, denn nun wurde es immer frischer, und
+wenn das Heidi unter den Tannen stand, wurde es durchblasen wie ein
+dünnes Blättlein, aber es lief doch immer wieder hin und konnte
+nicht in der Hütte bleiben, wenn es das Windeswehen vernahm.
+
+Dann wurde es kalt, und der Peter hauchte in die Hände, wenn er
+früh am Morgen heraufkam, aber nicht lange; denn auf einmal fiel
+über Nacht ein tiefer Schnee, und am Morgen war die ganze Alm
+schneeweiß und kein einziges grünes Blättlein mehr zu sehen ringsum
+und um. Da kam der Geißenpeter nicht mehr mit seiner Herde, und
+Heidi schaute ganz verwundert durch das kleine Fenster, denn nun
+fing es wieder zu schneien an, und die dicken Flocken fielen fort
+und fort, bis der Schnee so hoch wurde, dass er bis ans Fenster
+hinaufreichte, und dann noch höher, dass man das Fenster gar nicht
+mehr aufmachen konnte und man ganz verpackt war in dem Häuschen.
+Das kam dem Heidi so lustig vor, dass es immer von einem Fenster
+zum anderen rannte, um zu sehen, wie es denn noch werden wollte und
+ob der Schnee noch die ganze Hütte zudecken wollte, dass man müsste
+ein Licht anzünden am hellen Tag. Es kam aber nicht so weit, und
+am anderen Tag ging der Großvater hinaus--denn nun schneite es
+nicht mehr--und schaufelte ums ganze Haus herum und warf große,
+große Schneehaufen aufeinander, dass es war wie hier ein Berg und
+dort ein Berg und dort ein Berg um die Hütte herum; aber nun waren
+die Fenster wieder frei und auch die Tür, und das war gut, denn als
+am Nachmittag Heidi und der Großvater am Feuer saßen, jedes auf
+seinem Dreifuß--denn der Großvater hatte längst auch einen für das
+Kind gezimmert--, da polterte auf einmal etwas heran und schlug
+immerzu gegen die Holzschwelle und machte endlich die Tür auf. Es
+war der Geißenpeter; er hatte aber nicht aus Unart so gegen die Tür
+gepoltert, sondern um seinen Schnee von den Schuhen abzuschlagen,
+die hoch hinauf davon bedeckt waren; eigentlich der ganze Peter war
+von Schnee bedeckt, denn er hatte sich durch die hohen Schichten so
+durchkämpfen müssen, dass ganze Massen an ihm hängen geblieben und
+auf ihm festgefroren waren, denn es war sehr kalt. Aber er hatte
+nicht nachgegeben, denn er wollte zu Heidi hinauf, er hatte es
+jetzt acht Tage lang nicht gesehen.
+
+"Guten Abend", sagte er im Eintreten, stellte sich gleich so nah
+als möglich ans Feuer heran und sagte weiter nichts mehr; aber sein
+ganzes Gesicht lachte vor Vergnügen, dass er da war. Heidi schaute
+ihn sehr verwundert an, denn nun er so nah am Feuer war, fing es
+überall an ihm zu tauen an, so dass der ganze Peter anzusehen war
+wie ein gelinder Wasserfall.
+
+"Nun, General, wie steht's?", sagte jetzt der Großvater. "Nun bist
+du ohne Armee und musst am Griffel nagen."
+
+"Warum muss er am Griffel nagen, Großvater?", fragte Heidi sogleich
+mit Wissbegierde.
+
+"Im Winter muss er in die Schule gehen", erklärte der Großvater;
+"da lernt man lesen und schreiben, und das geht manchmal schwer, da
+hilft's ein wenig nach, wenn man am Griffel nagt; ist's nicht wahr,
+General?"
+
+"Ja, 's ist wahr", bestätigte Peter.
+
+Jetzt war Heidis Teilnahme an der Sache wach geworden und es hatte
+sehr viele Fragen über die Schule und alles, was da begegnete und
+zu hören und zu sehen war, an den Peter zu richten, und da immer
+viel Zeit verfloss über einer Unterhaltung, an der Peter teilnehmen
+musste, so konnte er derweilen schön trocknen von oben bis unten.
+Es war immer eine große Anstrengung für ihn, seine Vorstellungen in
+die Worte zu bringen, die bedeuteten, was er meinte; aber diesmal
+hatte er's besonders streng, denn kaum hatte er eine Antwort
+zustande gebracht, so hatte ihm Heidi schon wieder zwei oder drei
+unerwartete Fragen zugeworfen und meistens solche, die einen ganzen
+Satz als Antwort erforderten.
+
+Der Großvater hatte sich ganz still verhalten während dieser
+Unterhaltung, aber es hatte ihm öfter ganz lustig um die Mundwinkel
+gezuckt, was ein Zeichen war, dass er zuhörte.
+
+"So, General, nun warst du im Feuer und brauchst Stärkung, komm,
+halt mit!" Damit stand der Großvater auf und holte das Abendessen
+aus dem Schrank hervor, und Heidi rückte die Stühle zum Tisch.
+Unterdessen war auch eine Bank an die Wand gezimmert worden vom
+Großvater; nun er nicht mehr allein war, hatte er da und dort
+allerlei Sitze zu zweien eingerichtet, denn Heidi hatte die Art,
+dass es sich überall nah zum Großvater hielt, wo er ging und stand
+und saß. So hatten sie alle drei gut Platz zum Sitzen und der
+Peter tat seine runden Augen ganz weit auf, als er sah, welch ein
+mächtiges Stück von dem schönen getrockneten Fleisch der Alm-Öhi
+ihm auf seine dicke Brotschnitte legte. So gut hatte es der Peter
+lange nicht gehabt. Als nun das vergnügte Mahl zu Ende war, fing
+es an zu dunkeln, und Peter schickte sich zur Heimkehr an. Als er
+nun "Gute Nacht" und "Dank Euch Gott" gesagt hatte und schon unter
+der Tür war, kehrte er sich noch einmal um und sagte: "Am Sonntag
+komm ich wieder, heut über acht Tag, und du solltest auch einmal
+zur Großmutter kommen, hat sie gesagt."
+
+Das war ein ganz neuer Gedanke für Heidi, dass es zu jemandem gehen
+sollte, aber er fasste auf der Stelle Boden bei ihm, und gleich am
+folgenden Morgen war sein Erstes, dass es erklärte: "Großvater,
+jetzt muss ich gewiss zu der Großmutter hinunter, sie erwartet mich.
+"
+
+"Es hat zu viel Schnee", erwiderte der Großvater abwehrend.
+
+Aber das Vorhaben saß fest in Heidis Sinn, denn die Großmutter
+hatte es ja sagen lassen; so musste es sein. So verging kein Tag
+mehr, an dem das Kind nicht fünf- und sechsmal sagte: "Großvater,
+jetzt muss ich gewiss gehen, die Großmutter wartet ja immer auf
+mich."
+
+Am vierten Tag, als es draußen knisterte und knarrte vor Kälte bei
+jedem Schritt und die ganze große Schneedecke ringsum hart gefroren
+war, aber eine schöne Sonne ins Fenster guckte, gerade auf Heidis
+hohen Stuhl hin, wo es am Mittagsmahl saß, da begann es wieder sein
+Sprüchlein: "Heut muss ich aber gewiss zur Großmutter gehen, es
+währt ihr sonst zu lange." Da stand der Großvater auf vom
+Mittagstisch, stieg auf den Heuboden hinauf, brachte den dicken
+Sack herunter, der Heidis Bettdecke war, und sagte: "So komm!" In
+großer Freude hüpfte das Kind ihm nach in die glitzernde Schneewelt
+hinaus. In den alten Tannen war es nun ganz still und auf allen
+Ästen lag der weiße Schnee und in dem Sonnenschein schimmerte und
+funkelte es überall von den Bäumen in solcher Pracht, dass Heidi
+hoch aufsprang vor Entzücken und ein Mal übers andere ausrief:
+"Komm heraus, Großvater, komm heraus! Es ist lauter Silber und
+Gold an den Tannen!" Denn der Großvater war in den Schopf
+hineingegangen und kam nun heraus mit einem breiten Stoßschlitten:
+Da war vorn eine Stange angebracht, und von dem flachen Sitz konnte
+man die Füße nach vorn hinunterhalten und gegen den Schneeboden
+stemmen und der Fahrt die Weisung geben. Hier setzte sich der
+Großvater hin, nachdem er erst die Tannen ringsum mit Heidi hatte
+beschauen müssen, nahm das Kind auf seinen Schoß, wickelte es um
+und um in den Sack ein, damit es hübsch warm bleibe, und drückte es
+fest mit dem linken Arm an sich, denn das war nötig bei der
+kommenden Fahrt. Dann umfasste er mit der rechten Hand die Stange
+und gab einen Ruck mit beiden Füßen. Da schoss der Schlitten davon
+die Alm hinab mit einer solchen Schnelligkeit, dass das Heidi
+meinte, es fliege in der Luft wie ein Vogel, und laut aufjauchzte.
+Auf einmal stand der Schlitten still, gerade bei der Hütte vom
+Geißenpeter. Der Großvater stellte das Kind auf den Boden,
+wickelte es aus seiner Decke heraus und sagte:
+
+"So, nun geh hinein, und wenn es anfängt dunkel zu werden, dann
+komm wieder heraus und mach dich auf den Weg." Dann kehrte er um
+mit seinem Schlitten und zog ihn den Berg hinauf.
+
+Heidi machte die Tür auf und kam in einen kleinen Raum hinein, da
+sah es schwarz aus, und ein Herd war da und einige Schüsselchen auf
+einem Gestell, das war die kleine Küche; dann kam gleich wieder
+eine Tür, die machte Heidi wieder auf und kam in eine enge Stube
+hinein, denn das Ganze war nicht eine Sennhütte, wie beim Großvater,
+wo ein einziger, großer Raum war und oben ein Heuboden, sondern es
+war ein kleines, uraltes Häuschen, wo alles eng war und schmal und
+dürftig. Als Heidi in das Stübchen trat, stand es gleich vor dem
+Tisch, daran saß eine Frau und flickte an Peters Wams, denn dieses
+erkannte Heidi sogleich. In der Ecke saß ein altes, gekrümmtes
+Mütterchen und spann. Heidi wusste gleich, woran es war; es ging
+geradaus auf das Spinnrad zu und sagte: "Guten Tag, Großmutter,
+jetzt komme ich zu dir; hast du gedacht, es währe lang, bis ich
+komme?"
+
+Die Großmutter erhob den Kopf und suchte die Hand, die gegen sie
+ausgestreckt war, und als sie diese erfasst hatte, befühlte sie
+dieselbe erst eine Weile nachdenklich in der ihrigen, dann sagte
+sie: "Bist du das Kind droben beim Alm-Öhi, bist du das Heidi?"
+
+"Ja, ja", bestätigte das Kind, "jetzt gerade bin ich mit dem
+Großvater im Schlitten heruntergefahren."
+
+"Wie ist das möglich! Du hast ja eine so warme Hand! Sag,
+Brigitte, ist der Alm-Öhi selber mit dem Kind heruntergekommen?"
+
+Peters Mutter, die Brigitte, die am Tisch geflickt hatte, war
+aufgestanden und betrachtete nun mit Neugierde das Kind von oben
+bis unten; dann sagte sie: "Ich weiß nicht, Mutter, ob der Öhi
+selber heruntergekommen ist mit ihm; es ist nicht glaublich, das
+Kind wird's nicht recht wissen."
+
+Aber das Heidi sah die Frau sehr bestimmt an und gar nicht, als sei
+es im Ungewissen, und sagte: "Ich weiß ganz gut, wer mich in die
+Bettdecke gewickelt hat und mit mir heruntergeschlittelt ist; das
+ist der Großvater."
+
+"Es muss doch etwas daran sein, was der Peter so gesagt hat den
+Sommer durch vom Alm-Öhi, wenn wir dachten, er wisse es nicht
+recht", sagte die Großmutter; "wer hätte freilich auch glauben
+können, dass so etwas möglich sei; ich dachte, das Kind lebte keine
+drei Wochen da oben. Wie sieht es auch aus, Brigitte!" Diese hatte
+das Kind unterdessen so von allen Seiten angesehen, dass sie nun
+wohl berichten konnte, wie es aussah.
+
+"Es ist so fein gegliedert, wie die Adelheid war", gab sie zur
+Antwort; "aber es hat die schwarzen Augen und das krause Haar, wie
+es der Tobias hatte und auch der Alte droben; ich glaube, es sieht
+den zweien gleich."
+
+Unterdessen war Heidi müßig geblieben; es hatte ringsum geguckt und
+alles genau betrachtet, was da zu sehen war. Jetzt sagte es: "Sieh,
+Großmutter, dort schlägt es einen Laden immer hin und her, und der
+Großvater würde auf der Stelle einen Nagel einschlagen, dass er
+wieder fest hält, sonst schlägt er auch einmal eine Scheibe ein;
+sieh, sieh, wie er tut!"
+
+"Ach, du gutes Kind", sagte die Großmutter, "sehen kann ich es
+nicht, aber hören kann ich es wohl und noch viel mehr, nicht nur
+den Laden; da kracht und klappert es überall, wenn der Wind kommt,
+und er kann überall hereinblasen; es hält nichts mehr zusammen, und
+in der Nacht, wenn sie beide schlafen, ist es mir manchmal so angst
+und bang, es falle alles über uns zusammen und schlage uns alle
+drei tot; ach, und da ist kein Mensch, der etwas ausbessern könnte
+an der Hütte, der Peter versteht's nicht."
+
+"Aber warum kannst du denn nicht sehen, wie der Laden tut,
+Großmutter? Sieh jetzt wieder, dort, gerade dort." Und Heidi
+zeigte die Stelle deutlich mit dem Finger.
+
+"Ach Kind, ich kann ja gar nichts sehen, gar nichts, nicht nur den
+Laden nicht", klagte die Großmutter.
+
+"Aber wenn ich hinausgehe und den Laden ganz aufmache, dass es
+recht hell wird, kannst du dann sehen, Großmutter?"
+
+"Nein, nein, auch dann nicht, es kann mir niemand mehr hell machen."
+
+"Aber wenn du hinausgehst in den ganz weißen Schnee, dann wird es
+dir gewiss hell; komm nur mit mir, Großmutter, ich will dir's
+zeigen." Heidi nahm die Großmutter bei der Hand und wollte sie
+fortziehen, denn es fing an, ihm ganz ängstlich zumute zu werden,
+dass es ihr nirgends hell wurde.
+
+"Lass mich nur sitzen, du gutes Kind; es bleibt doch dunkel bei mir,
+auch im Schnee und in der Helle, sie dringt nicht mehr in meine
+Augen."
+
+"Aber dann doch im Sommer, Großmutter", sagte Heidi, immer
+ängstlicher nach einem guten Ausweg suchend; "weißt, wenn dann
+wieder die Sonne ganz heiß herunterbrennt und dann 'gute
+Nacht' sagt und die Berge alle feuerrot schimmern und alle
+gelben Blümlein glitzern, dann wird es dir wieder schön hell?"
+
+"Ach, Kind, ich kann sie nie mehr sehen, die feurigen Berge und die
+goldenen Blümlein droben, es wird mir nie mehr hell auf Erden, nie
+mehr."
+
+Jetzt brach Heidi in lautes Weinen aus. Voller Jammer schluchzte
+es fortwährend: "Wer kann dir denn wieder hell machen? Kann es
+niemand? Kann es gar niemand?"
+
+Die Großmutter suchte nun das Kind zu trösten, aber es gelang ihr
+nicht so bald. Heidi weinte fast nie; wenn es aber einmal anfing,
+dann konnte es auch fast nicht mehr aus der Betrübnis herauskommen.
+Die Großmutter hatte schon allerhand probiert, um das Kind zu
+beschwichtigen, denn es ging ihr zu Herzen, dass es so jämmerlich
+schluchzen musste. Jetzt sagte sie: "Komm, du gutes Heidi, komm
+hier heran, ich will dir etwas sagen. Siehst du, wenn man nichts
+sehen kann, dann hört man so gern ein freundliches Wort, und ich
+höre es gern, wenn du redest; komm, setz dich da nahe zu mir und
+erzähl mir etwas, was du machst da droben und was der Großvater
+macht, ich habe ihn früher gut gekannt; aber jetzt hab ich seit
+manchem Jahr nichts mehr gehört von ihm als durch den Peter, aber
+der sagt nicht viel."
+
+Jetzt kam dem Heidi ein neuer Gedanke; es wischte rasch seine
+Tränen weg und sagte tröstlich: "Wart nur, Großmutter, ich will
+alles dem Großvater sagen, er macht dir schon wieder hell und macht,
+dass die Hütte nicht zusammenfällt, er kann alles wieder in
+Ordnung machen."
+
+Die Großmutter schwieg stille, und nun fing Heidi an, ihr mit
+großer Lebendigkeit zu erzählen von seinem Leben mit dem Großvater
+und von den Tagen auf der Weide und von dem jetzigen Winterleben
+mit dem Großvater, was er alles aus Holz machen könne, Bänke und
+Stühle und schöne Krippen, wo man für das Schwänli und Bärli das
+Heu hineinlegen könnte, und einen neuen großen Wassertrog zum Baden
+im Sommer, und ein neues Milchschüsselchen und Löffel, und Heidi
+wurde immer eifriger im Beschreiben all der schönen Sachen, die so
+auf einmal aus einem Stück Holz herauskommen, und wie es dann neben
+dem Großvater stehe und ihm zuschaue und wie es das alles auch
+einmal machen wolle. Die Großmutter hörte mit großer
+Aufmerksamkeit zu, und von Zeit zu Zeit sagte sie dazwischen:
+"Hörst du's auch, Brigitte? Hörst du, was es vom Öhi sagt?"
+
+Mit einem Mal wurde die Erzählung unterbrochen durch ein großes
+Gepolter an der Tür, und herein stampfte der Peter, blieb aber
+sogleich stille stehen und sperrte seine runden Augen ganz
+erstaunlich weit auf, als er das Heidi erblickte, und schnitt die
+allerfreundlichste Grimasse, als es ihm sogleich zurief: "Guten
+Abend, Peter!"
+
+"Ist denn das möglich, dass der schon aus der Schule kommt", rief
+die Großmutter ganz verwundert aus. "So geschwind ist mir seit
+manchem Jahr kein Nachmittag vergangen! Guten Abend, Peterli, wie
+geht es mit dem Lesen?"
+
+"Gleich", gab der Peter zur Antwort.
+
+"So, so", sagte die Großmutter ein wenig seufzend, "ich habe
+gedacht, es gäbe vielleicht eine Änderung auf die Zeit, wenn du
+dann zwölf Jahre alt wirst gegen den Hornung hin."
+
+"Warum muss es eine Änderung geben, Großmutter?", fragte Heidi
+gleich mit Interesse.
+
+"Ich meine nur, dass er es etwa noch hätte lernen können", sagte
+die Großmutter, "das Lesen mein ich. Ich habe dort oben auf dem
+Gestell ein altes Gebetbuch, da sind schöne Lieder drin, die habe
+ich so lange nicht mehr gehört, und im Gedächtnis habe ich sie auch
+nicht mehr; da habe ich gehofft, wenn der Peterli nun lesen lerne,
+so könne er mir etwa ein gutes Lied lesen; aber er kann es nicht
+lernen, es ist ihm zu schwer."
+
+"Ich denke, ich muss Licht machen, es wird ja schon ganz dunkel",
+sagte jetzt Peters Mutter, die immer emsig am Wams fortgeflickt
+hatte; "der Nachmittag ist mir auch vergangen, ohne dass ich's
+merkte."
+
+Nun sprang Heidi von seinem Stühlchen auf, streckte eilig seine
+Hand aus und sagte: "Gut Nacht, Großmutter, ich muss auf der Stelle
+heim, wenn es dunkel wird", und hintereinander bot es dem Peter und
+seiner Mutter die Hand und ging der Tür zu. Aber die Großmutter
+rief besorgt: "Wart, wart, Heidi; so allein musst du nicht fort,
+der Peter muss mit dir, hörst du? Und gib Acht auf das Kind,
+Peterli, dass es nicht umfällt, und steh nicht still mit ihm, dass
+es nicht friert, hörst du? Hat es auch ein dickes Halstuch an?"
+
+"Ich habe gar kein Halstuch an", rief Heidi zurück, "aber ich will
+schon nicht frieren"; damit war es zur Tür hinaus und huschte so
+behend weiter, dass der Peter kaum nachkam. Aber die Großmutter
+rief jammernd: "Lauf ihm nach, Brigitte, lauf, das Kind muss ja
+erfrieren, so bei der Nacht, nimm mein Halstuch mit, lauf schnell!"
+Die Brigitte gehorchte. Die Kinder hatten aber kaum ein paar
+Schritte den Berg hinan getan, so sahen sie von oben herunter den
+Großvater kommen, und mit wenigen rüstigen Schritten stand er vor
+ihnen.
+
+"Recht so, Heidi, Wort gehalten!", sagte er, packte das Kind wieder
+fest in seine Decke ein, nahm es auf seinen Arm und stieg den Berg
+hinauf. Eben hatte die Brigitte noch gesehen, wie der Alte das
+Kind wohl verpackt auf seinen Arm genommen und den Rückweg
+angetreten hatte. Sie trat mit dem Peter wieder in die Hütte ein
+und erzählte der Großmutter mit Verwunderung, was sie gesehen hatte.
+Auch diese musste sich sehr verwundern und ein Mal über das
+andere sagen: "Gott Lob und Dank, dass er so ist mit dem Kind, Gott
+Lob und Dank! Wenn er es nur auch wieder zu mir lässt, das Kind
+hat mir so wohl gemacht! Was hat es für ein gutes Herz und wie
+kann es so kurzweilig erzählen!" Und immer wieder freute sich die
+Großmutter, und bis sie ins Bett ging, sagte sie immer wieder:
+"Wenn es nur auch wiederkommt! Jetzt habe ich doch noch etwas auf
+der Welt, auf das ich mich freuen kann!" Und die Brigitte stimmte
+jedes Mal ein, wenn die Großmutter wieder dasselbe sagte, und auch
+der Peter nickte jedes Mal zustimmend mit dem Kopf und zog seinen
+Mund weit auseinander vor Vergnüglichkeit und sagte: "Hab's schon
+gewusst."
+
+Unterdessen redete das Heidi in seinem Sack drinnen immerzu an den
+Großvater heran; da die Stimme aber nicht durch den achtfachen
+Umschlag dringen konnte und er daher kein Wort verstand, sagte er:
+"Wart ein wenig, bis wir daheim sind, dann sag's."
+
+Sobald er nun, oben angekommen, in seine Hütte eingetreten war und
+Heidi aus seiner Hülle herausgeschält hatte, sagte es: "Großvater,
+morgen müssen wir den Hammer und die großen Nägel mitnehmen und den
+Laden festschlagen bei der Großmutter und sonst noch viele Nägel
+einschlagen, denn es kracht und klappert alles bei ihr."
+
+"Müssen wir? So, das müssen wir? Wer hat dir das gesagt?", fragte
+der Großvater.
+
+"Das hat mir kein Mensch gesagt, ich weiß es sonst", entgegnete
+Heidi, "denn es hält alles nicht mehr fest und es ist der
+Großmutter angst und bang, wenn sie nicht schlafen kann und es so
+tut, und sie denkt: 'Jetzt fällt alles ein und gerade auf
+unsere Köpfe'; und der Großmutter kann man gar nicht mehr
+hell machen, sie weiß gar nicht, wie man es könnte, aber du kannst
+es schon, Großvater; denk nur, wie traurig es ist, wenn sie immer
+im Dunkeln ist und es ihr dann noch angst und bang ist und es kann
+ihr kein Mensch helfen als du! Morgen wollen wir gehen und ihr
+helfen; gelt, Großvater, wir wollen?"
+
+Heidi hatte sich an den Großvater angeklammert und schaute mit
+zweifellosem Vertrauen zu ihm auf. Der Alte schaute eine kleine
+Welle auf das Kind nieder, dann sagte er: "Ja, Heidi, wir wollen
+machen, dass es nicht mehr so klappert bei der Großmutter, das
+können wir; morgen tun wir's."
+
+Nun hüpfte das Kind vor Freude im ganzen Hüttenraum herum und rief
+ein Mal ums andere: "Morgen tun wir's! Morgen tun wir's!"
+
+Der Großvater hielt Wort. Am folgenden Nachmittag wurde dieselbe
+Schlittenfahrt ausgeführt. Wie am vorhergehenden Tag stellte der
+Alte das Kind vor der Tür der Geißenpeter-Hütte nieder und sagte:
+"Nun geh hinein, und wenn's Nacht wird, komm wieder." Dann legte er
+den Sack auf den Schlitten und ging um das Häuschen herum.
+
+Kaum hatte Heidi die Tür aufgemacht und war in die Stube
+hineingesprungen, so rief schon die Großmutter aus der Ecke: "Da
+kommt das Kind! Das ist das Kind!", und ließ vor Freude den Faden
+los und das Rädchen stehen und streckte beide Hände nach dem Kinde
+aus. Heidi lief zu ihr, rückte gleich das niedere Stühlchen ganz
+nahe an sie heran, setzte sich darauf und hatte der Großmutter
+schon wieder eine große Menge von Dingen zu erzählen und von ihr zu
+erfragen. Aber auf einmal ertönten so gewaltige Schläge an das
+Haus, dass die Großmutter vor Schrecken so zusammenfuhr, dass sie
+fast das Spinnrad umwarf, und zitternd ausrief: "Ach du mein Gott,
+jetzt kommt's, es fällt alles zusammen!" Aber Heidi hielt sie fest
+um den Arm und sagte tröstend: "Nein, nein, Großmutter, erschrick
+du nur nicht, das ist der Großvater mit dem Hammer, jetzt macht er
+alles fest, dass es dir nicht mehr angst und bang wird."
+
+"Ach, ist auch das möglich! Ist auch so etwas möglich! So hat uns
+doch der liebe Gott nicht ganz vergessen!", rief die Großmutter aus.
+"Hast du's gehört, Brigitte, was es ist, hörst du's? Wahrhaftig,
+es ist ein Hammer! Geh hinaus, Brigitte, und wenn es der Alm-Öhi
+ist, so sag ihm, er soll doch dann auch einen Augenblick
+hereinkommen, dass ich ihm auch danken kann."
+
+Die Brigitte ging hinaus. Eben schlug der Alm-Öhi mit großer
+Gewalt neue Kloben in die Mauer; Brigitte trat an ihn heran und
+sagte: "Ich wünsche Euch guten Abend, Öhi, und die Mutter auch, und
+wir haben Euch zu danken, dass Ihr uns einen solchen Dienst tut,
+und die Mutter möchte Euch noch gern eigens danken drinnen; sicher,
+es hätte uns das nicht gerad einer getan, wir wollen Euch auch dran
+denken, denn sicher--"
+
+"Macht's kurz", unterbrach sie der Alte hier; "was Ihr vom Alm-Öhi
+haltet, weiß ich schon. Geht nur wieder hinein; wo's fehlt, find
+ich selber."
+
+Brigitte gehorchte sogleich, denn der Öhi hatte eine Art, der man
+sich nicht leicht widersetzte. Er klopfte und hämmerte um das
+ganze Häuschen herum, stieg dann das schmale Treppchen hinauf bis
+unter das Dach, hämmerte weiter und weiter, bis er auch den letzten
+Nagel eingeschlagen, den er mitgebracht hatte. Unterdessen war
+auch schon die Dunkelheit hereingebrochen, und kaum war er
+heruntergestiegen und hatte seinen Schlitten hinter dem Geißenstall
+hervorgezogen, als auch schon Heidi aus der Tür trat und vom
+Großvater wie gestern verpackt auf den Arm genommen und der
+Schlitten nachgezogen wurde, denn allein da drauf sitzend, wäre die
+ganze Umhüllung vom Heidi abgefallen, und es wäre fast oder ganz
+erfroren. Das wusste der Großvater wohl und hielt das Kind ganz
+warm in seinem Arm.
+
+So ging der Winter dahin. In das freudlose Leben der blinden
+Großmutter war nach langen Jahren eine Freude gefallen und ihre
+Tage waren nicht mehr lang und dunkel, einer wie der andere, denn
+nun hatte sie immer etwas in Aussicht, nach dem sie verlangen
+konnte. Vom frühen Morgen an lauschte sie auch schon auf den
+trippelnden Schritt, und ging dann die Tür auf und das Kind kam
+wirklich dahergesprungen, dann rief sie jedes Mal in lauter Freude:
+"Gottlob! Da kommt's wieder!" Und Heidi setzte sich zu ihr und
+plauderte und erzählte so lustig von allem, was es wusste, dass es
+der Großmutter ganz wohl machte und ihr die Stunden dahingingen,
+sie merkte es nicht, und kein einziges Mal fragte sie mehr so wie
+früher: "Brigitte, ist der Tag noch nicht um?", sondern jedes Mal,
+wenn Heidi die Tür hinter sich schloss, sagte sie: "Wie war doch
+der Nachmittag so kurz; ist es nicht wahr, Brigitte?" Und diese
+sagte: "Doch sicher, es ist mir, wir haben erst die Teller vom
+Essen weggestellt." Und die Großmutter sagte wieder: "Wenn mir nur
+der Herrgott das Kind erhält und dem Alm-Öhi den guten Willen!
+Sieht es auch gesund aus, Brigitte?" Und jedes Mal erwiderte diese:
+"Es sieht aus wie ein Erdbeerapfel."
+
+Heidi hatte auch eine große Anhänglichkeit an die alte Großmutter,
+und wenn es ihm wieder in den Sinn kam, dass ihr gar niemand, auch
+der Großvater nicht mehr hell machen konnte, überkam es immer
+wieder eine große Betrübnis; aber die Großmutter sagte ihm immer
+wieder, dass sie am wenigsten davon leide, wenn es bei ihr sei, und
+Heidi kam auch an jedem schönen Wintertag heruntergefahren auf
+seinem Schlitten. Der Großvater hatte, ohne weitere Worte, so
+fortgefahren, hatte jedes Mal den Hammer und allerlei andere Sachen
+mit aufgeladen und manchen Nachmittag durch an dem Geißenpeter-
+Häuschen herumgeklopft. Das hatte aber auch seine gute Wirkung; es
+krachte und klapperte nicht mehr die ganzen Nächte durch, und die
+Großmutter sagte, so habe sie manchen Winter lang nicht mehr
+schlafen können, das wolle sie auch dem Öhi nie vergessen.
+
+
+
+
+Es kommt ein Besuch und dann noch einer, der mehr Folgen hat
+
+Schnell war der Winter und noch schneller der fröhliche Sommer
+darauf vergangen, und ein neuer Winter neigte sich schon wieder dem
+Ende zu. Heidi war glücklich und froh wie die Vöglein des Himmels
+und freute sich jeden Tag mehr auf die herannahenden Frühlingstage,
+da der warme Föhn durch die Tannen brausen und den Schnee wegfegen
+würde und dann die helle Sonne die blauen und gelben Blümlein
+hervorlocken und die Tage der Weide kommen würden, die für Heidi
+das Schönste mit sich brachten, was es auf Erden geben konnte.
+Heidi stand nun in seinem achten Jahre; es hatte vom Großvater
+allerlei Kunstgriffe erlernt: Mit den Geißen wusste es so gut
+umzugehen als nur einer, und Schwänli und Bärli liefen ihm nach wie
+treue Hündlein und meckerten gleich laut vor Freude, wenn sie nur
+seine Stimme hörten. In diesem Winter hatte Peter schon zweimal
+vom Schullehrer im Dörfli den Bericht gebracht, der Alm-Öhi solle
+das Kind, das bei ihm sei, nun in die Schule schicken, es habe
+schon mehr als das Alter und hätte schon im letzten Winter kommen
+sollen. Der Öhi hatte beide Male dem Schullehrer sagen lassen,
+wenn er etwas mit ihm wolle, so sei er daheim, das Kind schicke er
+nicht in die Schule. Diesen Bericht hatte der Peter richtig
+überbracht.
+
+Als die Märzsonne den Schnee an den Abhängen geschmolzen hatte und
+überall die weißen Schneeglöckchen hervorguckten im Tal und auf der
+Alm die Tannen ihre Schneelast abgeschüttelt hatten und die Äste
+wieder lustig wehten, da rannte Heidi vor Wonne immer hin und her
+von der Haustür zum Geißenstall und von da unter die Tannen und
+dann wieder hinein zum Großvater, um ihm zu berichten, wie viel
+größer das Stück grüner Boden unter den Bäumen wieder geworden sei,
+und gleich nachher kam es wieder nachzusehen, denn es konnte nicht
+erwarten, dass alles wieder grün wurde und der ganze schöne Sommer
+mit Grün und Blumen wieder auf die Alm gezogen kam.
+
+Als Heidi so am sonnigen Märzmorgen hin und her rannte und jetzt
+wohl zum zehnten Mal über die Türschwelle sprang, wäre es vor
+Schrecken fast rückwärts wieder hineingefallen, denn auf einmal
+stand es vor einem schwarzen alten Herrn, der es ganz ernsthaft
+anblickte. Als er aber seinen Schrecken sah, sagte er freundlich:
+"Du musst nicht erschrecken vor mir, die Kinder sind mir lieb. Gib
+mir die Hand! Du wirst das Heidi sein; wo ist der Großvater?"
+
+"Er sitzt am Tisch und schnitzt runde Löffel von Holz", erklärte
+Heidi und machte nun die Tür wieder auf.
+
+Es war der alte Herr Pfarrer aus dem Dörfli, der den Öhi vor Jahren
+gut gekannt hatte, als er noch unten wohnte und sein Nachbar war.
+Er trat in die Hütte ein, ging auf den Alten zu, der sich über sein
+Schnitzwerk hinbeugte, und sagte: "Guten Morgen, Nachbar."
+
+Verwundert schaute dieser in die Höhe, stand dann auf und
+entgegnete: "Guten Morgen dem Herrn Pfarrer." Dann stellte er
+seinen Stuhl vor den Herrn hin und fuhr fort: "Wenn der Herr
+Pfarrer einen Holzsitz nicht scheut, hier ist einer."
+
+Der Herr Pfarrer setzte sich. "Ich habe Euch lange nicht gesehen,
+Nachbar", sagte er dann.
+
+"Ich den Herrn Pfarrer auch nicht", war die Antwort.
+
+"Ich komme heut, um etwas mit Euch zu besprechen", fing der Herr
+Pfarrer wieder an; "ich denke, Ihr könnt schon wissen, was meine
+Angelegenheit ist, worüber ich mich mit Euch verständigen und hören
+will, was Ihr im Sinne habt."
+
+Der Herr Pfarrer schwieg und schaute auf Heidi, das an der Tür
+stand und die neue Erscheinung aufmerksam betrachtete.
+
+"Heidi, geh zu den Geißen", sagte der Großvater. "Kannst ein wenig
+Salz mitnehmen und bei ihnen bleiben, bis ich auch komme."
+
+Heidi verschwand sofort.
+
+"Das Kind hätte schon vor dem Jahr und noch sicherer diesen Winter
+die Schule besuchen sollen", sagte nun der Herr Pfarrer; "der
+Lehrer hat Euch mahnen lassen, Ihr habt keine Antwort darauf
+gegeben; was habt Ihr mit dem Kind im Sinn, Nachbar?"
+
+"Ich habe im Sinn, es nicht in die Schule zu schicken", war die
+Antwort.
+
+Verwundert schaute der Herr Pfarrer auf den Alten, der mit
+gekreuzten Armen auf seiner Bank saß und gar nicht nachgiebig
+aussah.
+
+"Was wollt Ihr aus dem Kinde machen?", fragte jetzt der Herr
+Pfarrer.
+
+"Nichts, es wächst und gedeiht mit den Geißen und den Vögeln; bei
+denen ist es ihm wohl und es lernt nichts Böses von ihnen."
+
+"Aber das Kind ist keine Geiß und kein Vogel, es ist ein
+Menschenkind. Wenn es nichts Böses lernt von diesen seinen
+Kameraden, so lernt es auch sonst nichts von ihnen; es soll aber
+etwas lernen, und die Zeit dazu ist da. Ich bin gekommen, es Euch
+zeitig zu sagen, Nachbar, damit Ihr Euch besinnen und einrichten
+könnt den Sommer durch. Dies war der letzte Winter, den das Kind
+so ohne allen Unterricht zugebracht hat; nächsten Winter kommt es
+zur Schule, und zwar jeden Tag."
+
+"Ich tu's nicht, Herr Pfarrer", sagte der Alte unentwegt.
+
+"Meint Ihr denn wirklich, es gebe kein Mittel, Euch zur Vernunft zu
+bringen, wenn Ihr so eigensinnig bei Eurem unvernünftigen Tun
+beharren wollt?", sagte der Herr Pfarrer jetzt ein wenig eifrig.
+"Ihr seid weit in der Welt herumgekommen und habt viel gesehen und
+vieles lernen können, ich hätte Euch mehr Einsicht zugetraut,
+Nachbar."
+
+"So", sagte jetzt der Alte und seine Stimme verriet, dass es auch
+in seinem Innern nicht mehr so ganz ruhig war; "und meint denn der
+Herr Pfarrer, ich werde wirklich im nächsten Winter am eisigen
+Morgen durch Sturm und Schnee ein zartgliedriges Kind den Berg
+hinunterschicken, zwei Stunden weit, und zur Nacht wieder
+heraufkommen lassen, wenn's manchmal tobt und tut, dass unsereiner
+fast in Wind und Schnee ersticken müsste, und dann ein Kind wie
+dieses? Und vielleicht kann sich der Herr Pfarrer auch noch der
+Mutter erinnern, der Adelheid; sie war mondsüchtig und hatte
+Zufälle, soll das Kind auch so etwas holen mit der Anstrengung? Es
+soll mir einer kommen und mich zwingen wollen! Ich gehe vor alle
+Gerichte mit ihm, und dann wollen wir sehen, wer mich zwingt!"
+
+"Ihr habt ganz Recht, Nachbar", sagte der Herr Pfarrer mit
+Freundlichkeit; "es wäre nicht möglich, das Kind von hier aus zur
+Schule zu schicken. Aber ich kann sehen, das Kind ist Euch lieb;
+tut um seinetwillen etwas, das Ihr schon lange hättet tun sollen,
+kommt wieder ins Dörfli herunter und lebt wieder mit den Menschen.
+Was ist das für ein Leben hier oben, allein und verbittert gegen
+Gott und Menschen! Wenn Euch einmal etwas zustoßen würde hier oben,
+wer würde Euch beistehen? Ich kann auch gar nicht begreifen, dass
+Ihr den Winter durch nicht halb erfriert in Eurer Hütte, und wie
+das zarte Kind es nur aushalten kann!"
+
+"Das Kind hat junges Blut und eine gute Decke, das möchte ich dem
+Herrn Pfarrer sagen, und dann noch eins: Ich weiß, wo es Holz gibt,
+und auch, wann die gute Zeit ist, es zu holen; der Herr Pfarrer
+darf in meinen Schopf hineingehen, es ist etwas drin, in meiner
+Hütte geht das Feuer nie aus den Winter durch. Was der Herr
+Pfarrer mit dem Herunterkommen meint, ist nicht für mich; die
+Menschen da unten verachten mich und ich sie auch, wir bleiben
+voneinander, so ist's beiden wohl."
+
+"Nein, nein, es ist Euch nicht wohl; ich weiß, was Euch fehlt",
+sagte der Herr Pfarrer mit herzlichem Ton. "Mit der Verachtung der
+Menschen dort unten ist es so schlimm nicht. Glaubt mir, Nachbar:
+Sucht Frieden mit Eurem Gott zu machen, bittet um seine Verzeihung,
+wo Ihr sie nötig habt, und dann kommt und seht, wie anders Euch die
+Menschen ansehen und wie wohl es Euch noch werden kann."
+
+Der Herr Pfarrer war aufgestanden, er hielt dem Alten die Hand hin
+und sagte nochmals mit Herzlichkeit: "Ich zähle darauf, Nachbar, im
+nächsten Winter seid Ihr wieder unten bei uns und wir sind die
+alten, guten Nachbarn. Es würde mir großen Kummer machen, wenn ein
+Zwang gegen Euch müsste angewandt werden; gebt mir jetzt die Hand
+darauf, dass ihr herunterkommt und wieder unter uns leben wollt,
+ausgesöhnt mit Gott und den Menschen."
+
+Der Alm-Öhi gab dem Herrn Pfarrer die Hand und sagte fest und
+bestimmt: "Der Herr Pfarrer meint es recht mit mir; aber was er
+erwartet, das tu ich nicht, ich sag es sicher und ohne Wandel: Das
+Kind schick ich nicht, und herunter komm ich nicht."
+
+"So helf Euch Gott!", sagte der Herr Pfarrer und ging traurig zur
+Tür hinaus und den Berg hinunter.
+
+Der Alm-Öhi war verstimmt. Als Heidi am Nachmittag sagte: "Jetzt
+wollen wir zur Großmutter", erwiderte er kurz: "Heut nicht." Den
+ganzen Tag sprach er nicht mehr, und am folgenden Morgen, als Heidi
+fragte: "Gehen wir heut zur Großmutter?", war er noch gleich kurz
+von Worten wie im Ton und sagte nur: "Wollen sehen." Aber noch
+bevor die Schüsselchen vom Mittagessen weggestellt waren, trat
+schon wieder ein Besuch zur Tür herein, es war die Base Dete. Sie
+hatte einen schönen Hut auf dem Kopf mit einer Feder darauf und ein
+Kleid, das alles mitfegte, was am Boden lag, und in der Sennhütte
+lag da allerlei, das nicht an ein Kleid gehörte. Der Öhi schaute
+sie an von oben bis unten und sagte kein Wort. Aber die Base Dete
+hatte im Sinn, ein sehr freundliches Gespräch zu führen, denn sie
+fing an zu rühmen und sagte, das Heidi sehe so gut aus, sie habe es
+fast nicht mehr gekannt und man könne schon sehen, dass es ihm
+nicht schlecht gegangen sei beim Großvater. Sie habe aber gewiss
+auch immer darauf gedacht, es ihm wieder abzunehmen, denn sie habe
+ja schon begreifen können, dass ihm das Kleine im Weg sein müsse,
+aber in jenem Augenblick habe sie es ja nirgends sonst hintun
+können; seitdem aber habe sie Tag und Nacht nachgesonnen, wo sie
+das Kind etwa unterbringen könnte, und deswegen komme sie auch
+heute, denn auf einmal habe sie etwas vernommen, da könne das Heidi
+zu einem solchen Glück kommen, dass sie es gar nicht habe glauben
+wollen. Dann sei sie aber auf der Stelle der Sache nachgegangen,
+und nun könne sie sagen, es sei alles so gut wie in Richtigkeit,
+das Heidi komme zu einem Glück wie unter Hunderttausenden nicht
+eines. Furchtbar reiche Verwandte von ihrer Herrschaft, die fast
+im schönsten Haus in ganz Frankfurt wohnen, die haben ein einziges
+Töchterlein, das müsse immer im Rollstuhl sitzen, denn es sei auf
+einer Seite lahm und sonst nicht gesund, und so sei es fast immer
+allein und müsse auch allen Unterricht allein nehmen bei einem
+Lehrer, und das sei ihm so langweilig, und auch sonst hätte es gern
+eine Gespielin im Haus, und da haben sie so davon geredet bei ihrer
+Herrschaft, und wenn man nur so ein Kind finden könnte, wie die
+Dame beschrieb, die in dem Haus die Wirtschaft führte, denn ihre
+Herrschaft habe viel Mitgefühl und möchte dem kranken Töchterlein
+eine gute Gespielin gönnen. Die Wirtschaftsdame hatte nun gesagt,
+sie wolle so ein recht unverdorbenes, so ein eigenartiges, das
+nicht sei wie alle, die man so alle Tage sehe. Da habe sie selbst
+denn auf der Stelle an das Heidi gedacht und sei gleich hingelaufen
+und habe der Dame alles so beschrieben vom Heidi und so von seinem
+Charakter, und die Dame habe sogleich zugesagt. Nun könne gar kein
+Mensch wissen, was dem Heidi alles an Glück und Wohlfahrt
+bevorstehe, denn wenn es dann einmal dort sei und die Leute es gern
+mögen und es etwa mit dem eigenen Töchterchen etwas geben sollte--
+man könne ja nie wissen, es sei doch so schwächlich--, und wenn
+eben die Leute doch nicht ohne ein Kind bleiben wollten, so könnte
+ja das unerhörteste Glück--
+
+"Bist du bald fertig?", unterbrach hier der Öhi, der bis dahin kein
+Wort dazwischengeredet hatte.
+
+"Pah", gab die Dete zurück und warf den Kopf auf, "Ihr tut gerade,
+wie wenn ich Euch das ordinärste Zeug gesagt hätte, und ist doch
+durchs ganze Prättigau auf und ab nicht einer, der nicht Gott im
+Himmel dankte, wenn ich ihm die Nachricht brächte, die ich Euch
+gebracht habe."
+
+"Bring sie, wem du willst, ich will nichts davon", sagte der Öhi
+trocken.
+
+Aber jetzt fuhr die Dete auf wie eine Rakete und rief: "Ja, wenn
+Ihr es so meint, dann will ich Euch denn schon auch sagen, wie ich
+es meine: Das Kind ist jetzt acht Jahre alt und kann nichts und
+weiß nichts, und Ihr wollt es nichts lernen lassen; Ihr wollt es in
+keine Schule und in keine Kirche schicken, das haben sie mir gesagt
+unten im Dörfli, und es ist meiner einzigen Schwester Kind; ich hab
+es zu verantworten, wie's mit ihm geht, und wenn ein Kind ein Glück
+erlangen kann wie jetzt das Heidi, so kann ihm nur einer davor sein,
+dem es um alle Leute gleich ist und der keinem etwas Gutes wünscht.
+Aber ich gebe nicht nach, das sag ich Euch, und die Leute habe
+ich alle für mich, es ist kein Einziger unten im Dörfli, der nicht
+mir hilft und gegen Euch ist, und wenn Ihr's etwa wollt vor Gericht
+kommen lassen, so besinnt Euch wohl, Öhi; es gibt noch Sachen, die
+Euch dann könnten aufgewärmt werden, die Ihr nicht gern hörtet,
+denn wenn man's einmal mit dem Gericht zu tun hat, so wird noch
+manches aufgespürt, an das keiner mehr denkt."
+
+"Schweig!", donnerte der Öhi heraus, und seine Augen flammten wie
+Feuer. "Nimm's und verdirb's! Komm mir nie mehr vor Augen mit ihm,
+ich will's nie sehen mit dem Federhut auf dem Kopf und Worten im
+Mund wie dich heut!"
+
+Der Öhi ging mit großen Schritten zur Tür hinaus.
+
+"Du hast den Großvater bös gemacht", sagte Heidi und blitzte mit
+seinen schwarzen Augen die Base wenig freundlich an.
+
+"Er wird schon wieder gut, komm jetzt", drängte die Base; "wo sind
+deine Kleider?"
+
+"Ich komme nicht", sagte Heidi.
+
+"Was sagst du?", fuhr die Base auf; dann änderte sie den Ton ein
+wenig und fuhr halb freundlich, halb ärgerlich weiter: "Komm, komm,
+du verstehst's nicht besser, du wirst es so gut haben, wie du gar
+nicht weißt." Dann ging sie an den Schrank, nahm Heidis Sachen
+hervor und packte sie zusammen: "So, komm jetzt, nimm dort dein
+Hütchen, es sieht nicht schön aus, aber es ist gleich für einmal,
+setz es auf und mach, dass wir fortkommen."
+
+"Ich komme nicht", wiederholte Heidi.
+
+"Sei doch nicht so dumm und störrig wie eine Geiß; denen hast du's
+abgesehen. Begreif doch nur, jetzt ist der Großvater bös, du
+hast's ja gehört, dass er gesagt hat, wir sollen ihm nicht mehr vor
+Augen kommen, er will es nun haben, dass du mit mir gehst, und
+jetzt musst du ihn nicht noch böser machen. Du weißt gar nicht,
+wie schön es ist in Frankfurt und was du alles sehen wirst, und
+gefällt es dir dann nicht, so kannst du wieder heimgehen; bis dahin
+ist der Großvater dann wieder gut."
+
+"Kann ich gerad wieder umkehren und heimkommen heut Abend?", fragte
+Heidi.
+
+"Ach was, komm jetzt! Ich sag dir's ja, du kannst wieder heim,
+wann du willst. Heut gehen wir bis nach Maienfeld hinunter und
+morgen früh sitzen wir in der Eisenbahn, mit der bist du nachher im
+Augenblick wieder daheim, das geht wie geflogen."
+
+Die Base Dete hatte das Bündelchen Kleider auf den Arm und Heidi an
+die Hand genommen; so gingen sie den Berg hinunter.
+
+Da es noch nicht Weidezeit war, ging der Peter noch zur Schule ins
+Dörfli hinunter, oder sollte doch dahin gehen; aber er machte hier
+und da einen Tag Ferien, denn er dachte, es nütze nichts, dahin zu
+gehen, das Lesen brauche man auch nicht, und ein wenig herumfahren
+und große Ruten suchen nütze etwas, denn diese könne man brauchen.
+So kam er eben in der Nähe seiner Hütte von der Seite her mit
+sichtlichem Erfolg seiner heutigen Bestrebungen, denn er trug ein
+ungeheures Bündel langer, dicker Haselruten auf der Achsel. Er
+stand still und starrte die zwei Entgegenkommenden an, bis sie bei
+ihm ankamen; dann sagte er: "Wo willst du hin?"
+
+"Ich muss nur geschwind nach Frankfurt mit der Base", antwortete
+Heidi, "aber ich will zuerst noch zur Großmutter hinein, sie wartet
+auf mich."
+
+"Nein, nein, keine Rede, es ist schon viel zu spät", sagte die Base
+eilig und hielt das fortstrebende Heidi fest bei der Hand; "du
+kannst dann gehen, wenn du wieder heimkommst, komm jetzt!" Damit
+zog die Base das Heidi fest weiter und ließ es nicht mehr los, denn
+sie fürchtete, es könne drinnen dem Kinde wieder in den Sinn kommen,
+es wolle nicht fort, und die Großmutter könne ihm helfen wollen.
+Der Peter sprang in die Hütte hinein und schlug mit seinem ganzen
+Bündel Ruten so furchtbar auf den Tisch los, dass alles erzitterte
+und die Großmutter vor Schrecken vom Spinnrad aufsprang und laut
+aufjammerte. Der Peter hatte sich Luft machen müssen.
+
+"Was ist's denn? Was ist's denn?", rief angstvoll die Großmutter,
+und die Mutter, die am Tisch gesessen hatte und fast aufgeflogen
+war bei dem Knall, sagte in angeborener Langmut: "Was hast, Peterli;
+warum tust so wüst?"
+
+"Weil sie das Heidi mitgenommen hat", erklärte Peter.
+
+"Wer? Wer? Wohin, Peterli, wohin?", fragte die Großmutter jetzt
+mit neuer Angst; sie musste aber schnell erraten haben, was vorging,
+die Tochter hatte ihr ja vor kurzem berichtet, sie habe die Dete
+gesehen zum Alm-Öhi hinaufgehen. Ganz zitternd vor Eile machte die
+Großmutter das Fenster auf und rief flehentlich hinaus: "Dete, Dete,
+nimm uns das Kind nicht weg! Nimm uns das Heidi nicht!"
+
+Die beiden Laufenden hörten die Stimme, und die Dete mochte wohl
+ahnen, was sie rief, denn sie fasste das Kind noch fester und lief,
+was sie konnte. Heidi widerstrebte und sagte: "Die Großmutter hat
+gerufen, ich will zu ihr."
+
+Aber das wollte die Base gerade nicht und beschwichtigte das Kind,
+es solle nur schnell kommen jetzt, dass sie nicht noch zu spät
+kämen, sondern dass sie morgen weiterreisen könnten, es könnte ja
+dann sehen, wie es ihm gefallen werde in Frankfurt, dass es gar nie
+mehr fortwolle dort; und wenn es doch heim wolle, so könne es ja
+gleich gehen und dann erst noch der Großmutter etwas mit
+heimbringen, was sie freue. Das war eine Aussicht für Heidi, die
+ihm gefiel. Es fing an zu laufen ohne Widerstreben.
+
+"Was kann ich der Großmutter heimbringen?", fragte es nach einer
+Welle.
+
+"Etwas Gutes", sagte die Base, "so schöne, weiche Weißbrötchen, da
+wird sie Freud haben daran, sie kann ja doch das harte, schwarze
+Brot fast nicht mehr essen."
+
+"Ja, sie gibt es immer wieder dem Peter und sagt: 'Es ist mir
+zu hart'; das habe ich selbst gesehen", bestätigte das Heidi.
+"So wollen wir geschwind gehen, Base Dete; dann kommen wir
+vielleicht heut noch nach Frankfurt, dass ich bald wieder da bin
+mit den Brötchen."
+
+Heidi fing nun so zu rennen an, dass die Base mit ihrem Bündel auf
+dem Arm fast nicht mehr nachkam. Aber sie war sehr froh, dass es
+so rasch ging, denn nun kamen sie gleich zu den ersten Häusern vom
+Dörfli, und da konnte es wieder allerhand Reden und Fragen geben,
+die das Heidi wieder auf andere Gedanken bringen konnten. So lief
+sie stracks durch, und das Kind zog dabei noch so stark an ihrer
+Hand, dass alle Leute es sehen konnten, wie sie um des Kindes
+willen so pressieren musste. So rief sie auf alle die Fragen und
+Anrufungen, die ihr aus allen Fenstern und Türen entgegentönten,
+nur immer zurück: "Ihr seht's ja, ich kann jetzt nicht still stehen,
+das Kind pressiert und wir haben noch weit."
+
+"Nimmst's mit?"--"Läuft's dem Alm-Öhi fort?"--"Es ist nur ein
+Wunder, dass es noch am Leben ist!"--"Und dazu noch so rotbackig!"
+So tönte es von allen Seiten, und die Dete war froh, dass sie ohne
+Verzug durchkam und keinen Bescheid geben musste und auch Heidi
+kein Wort sagte, sondern nur immer vorwärts strebte in großem Eifer.
+--
+
+Von dem Tage an machte der Alm-Öhi, wenn er herunterkam und durchs
+Dörfli ging, ein böseres Gesicht als je zuvor. Er grüßte keinen
+Menschen und sah mit seinem Käsereff auf dem Rücken, mit dem
+ungeheuren Stock in der Hand und den zusammengezogenen dicken
+Brauen so drohend aus, dass die Frauen zu den kleinen Kindern
+sagten: "Gib Acht! Geh dem Alm-Öhi aus dem Weg, er könnte dir noch
+etwas tun!"
+
+Der Alte verkehrte mit keinem Menschen im Dörfli, er ging nur durch
+und weit ins Tal hinab, wo er seinen Käse verhandelte und seine
+Vorräte an Brot und Fleisch einnahm. Wenn er so vorbeigegangen war
+im Dörfli, dann standen hinter ihm die Leute alle in Trüppchen
+zusammen, und jeder wusste etwas Besonderes, was er am Alm-Öhi
+gesehen hatte, wie er immer wilder aussehe und dass er jetzt keinem
+Menschen mehr auch nur einen Gruß abnehme, und alle kamen darin
+überein, dass es ein großes Glück sei, dass das Kind habe
+entweichen können, und man habe auch wohl gesehen, wie es
+fortgedrängt habe, so, als fürchte es, der Alte sei schon hinter
+ihm drein, um es zurückzuholen. Nur die blinde Großmutter hielt
+unverrückt zum Alm-Öhi, und wer zu ihr heraufkam, um bei ihr
+spinnen zu lassen oder das Gesponnene zu holen, dem erzählte sie es
+immer wieder, wie gut und sorgfältig der Alm-Öhi mit dem Kind
+gewesen sei und was er an ihr und der Tochter getan habe, wie
+manchen Nachmittag er an ihrem Häuschen herumgeflickt, das ohne
+seine Hilfe gewiss schon zusammengefallen wäre. So kamen denn auch
+diese Berichte ins Dörfli herunter; aber die meisten, die sie
+vernahmen, sagten dann, die Großmutter sei vielleicht zu alt zum
+Begreifen, sie werde es wohl nicht recht verstanden haben, sie
+werde wohl auch nicht mehr gut hören, weil sie nichts mehr sehe.
+
+Der Alm-Öhi zeigte sich jetzt nicht mehr bei den Geißenpeters; es
+war gut, dass er die Hütte so fest zusammengenagelt hatte, denn sie
+blieb für lange Zeit ganz unberührt. Jetzt begann die blinde
+Großmutter ihre Tage wieder mit Seufzen, und nicht einer verstrich,
+an dem sie nicht klagend sagte: "Ach, mit dem Kind ist alles Gute
+und alle Freude von uns genommen, und die Tage sind so leer! Wenn
+ich nur noch einmal das Heidi hören könnte, eh ich sterben muss!"
+
+
+
+
+Ein neues Kapitel und lauter neue Dinge
+
+Im Hause des Herrn Sesemann in Frankfurt lag das kranke Töchterlein,
+Klara, in dem bequemen Rollstuhl, in welchem es den ganzen Tag
+sich aufhielt und von einem Zimmer ins andere gestoßen wurde.
+Jetzt saß es im so genannten Studierzimmer, das neben der großen
+Essstube lag und wo vielerlei Gerätschaften herumstanden und--lagen,
+die das Zimmer wohnlich machten und zeigten, dass man hier
+gewöhnlich sich aufhielt. An dem großen, schönen Bücherschrank mit
+den Glastüren konnte man sehen, woher das Zimmer seinen Namen hatte
+und dass es wohl der Raum war, wo dem lahmen Töchterchen der
+tägliche Unterricht erteilt wurde.
+
+Klara hatte ein blasses, schmales Gesichtchen, aus dem zwei milde,
+blaue Augen herausschauten, die in diesem Augenblick auf die große
+Wanduhr gerichtet waren, die heute besonders langsam zu gehen
+schien, denn Klara, die sonst kaum ungeduldig wurde, sagte jetzt
+mit ziemlicher Ungeduld in der Stimme: "Ist es denn immer noch
+nicht Zeit, Fräulein Rottenmeier?"
+
+Die Letztere saß sehr aufrecht an einem kleinen Arbeitstisch und
+stickte. Sie hatte eine geheimnisvolle Hülle um sich, einen großen
+Kragen oder Halbmantel, welcher der Persönlichkeit einen
+feierlichen Anstrich verlieh, der noch erhöht wurde durch eine Art
+von hoch gebauter Kuppel, die sie auf dem Kopf trug. Fräulein
+Rottenmeier war schon seit mehreren Jahren, seitdem die Dame des
+Hauses gestorben war, im Hause Sesemann, führte die Wirtschaft und
+hatte die Oberaufsicht über das ganze Dienstpersonal.
+
+Herr Sesemann war meistens auf Reisen, überließ daher dem Fräulein
+Rottenmeier das ganze Haus, nur mit der Bedingung, dass sein
+Töchterlein in allem eine Stimme haben solle und nichts gegen
+dessen Wunsch geschehen dürfe.
+
+Während oben Klara zum zweiten Mal mit Zeichen der Ungeduld
+Fräulein Rottenmeier befragte, ob die Zeit noch nicht da sei, da
+die Erwarteten erscheinen konnten, stand unten vor der Haustür die
+Dete mit Heidi an der Hand und fragte den Kutscher Johann, der eben
+vom Wagen gestiegen war, ob sie wohl Fräulein Rottenmeier so spät
+noch stören dürfe.
+
+"Das ist nicht meine Sache", brummte der Kutscher; "klingeln Sie
+den Sebastian herunter, drinnen im Korridor."
+
+Dete tat, wie ihr geheißen war, und der Bediente des Hauses kam die
+Treppe herunter mit großen, runden Knöpfen auf seinem Aufwärterrock
+und fast ebenso großen runden Augen im Kopfe.
+
+"Ich wollte fragen, ob ich um diese Zeit Fräulein Rottenmeier noch
+stören dürfe", brachte die Dete wieder an.
+
+"Das ist nicht meine Sache", gab der Bediente zurück; "klingeln Sie
+die Jungfer Tinette herunter an der anderen Klingel", und ohne
+weitere Auskunft verschwand der Sebastian.
+
+Dete klingelte wieder. Jetzt erschien auf der Treppe die Jungfer
+Tinette mit einem blendend weißen Deckelchen auf der Mitte des
+Kopfes und einer spöttischen Miene auf dem Gesicht.
+
+"Was ist?", fragte sie auf der Treppe, ohne herunterzukommen. Dete
+wiederholte ihr Gesuch. Jungfer Tinette verschwand, kam aber bald
+wieder und rief von der Treppe herunter: "Sie sind erwartet!"
+
+Jetzt stieg Dete mit Heidi die Treppe hinauf und trat, der Jungfer
+Tinette folgend, in das Studierzimmer ein. Hier blieb Dete höflich
+an der Tür stehen, Heidi immer fest an der Hand haltend, denn sie
+war gar nicht sicher, was dem Kinde etwa begegnen konnte auf diesem
+so fremden Boden.
+
+Fräulein Rottenmeier erhob sich langsam von ihrem Sitz und kam
+näher, um die angekommene Gespielin der Tochter des Hauses zu
+betrachten. Der Anblick schien sie nicht zu befriedigen. Heidi
+hatte sein einfaches Baumwollröckchen an und sein altes,
+zerdrücktes Strohhütchen auf dem Kopf. Das Kind guckte sehr
+harmlos darunter hervor und betrachtete mit unverhehlter
+Verwunderung den Turmbau auf dem Kopf der Dame.
+
+"Wie heißest du?", fragte Fräulein Rottenmeier, nachdem auch sie
+einige Minuten lang forschend das Kind angesehen hatte, das kein
+Auge von ihr verwandte.
+
+"Heidi", antwortete es deutlich und mit klangvoller Stimme.
+
+"Wie? Wie? Das soll doch wohl kein christlicher Name sein? So
+bist du doch nicht getauft worden. Welchen Namen hast du in der
+Taufe erhalten?", fragte Fräulein Rottenmeier weiter.
+
+"Das weiß ich jetzt nicht mehr", entgegnete Heidi.
+
+"Ist das eine Antwort!", bemerkte die Dame mit Kopfschütteln.
+"Jungfer Dete, ist das Kind einfältig oder schnippisch?"
+
+"Mit Erlaubnis und wenn es die Dame gestattet, so will ich gern
+reden für das Kind, denn es ist sehr unerfahren", sagte die Dete,
+nachdem sie dem Heidi heimlich einen kleinen Stoß gegeben hatte für
+die unpassende Antwort. "Es ist aber nicht einfältig und auch
+nicht schnippisch, davon weiß es gar nichts; es meint alles so, wie
+es redet. Aber es ist heut zum ersten Mal in einem Herrenhaus und
+kennt die gute Manier nicht; aber es ist willig und nicht
+ungelehrig, wenn die Dame wollte gütige Nachsicht haben. Es ist
+Adelheid getauft worden, wie seine Mutter, meine Schwester selig."
+
+"Nun wohl, dies ist doch ein Name, den man sagen kann", bemerkte
+Fräulein Rottenmeier. "Aber, Jungfer Dete, ich muss Ihnen doch
+sagen, dass mir das Kind für sein Alter sonderbar vorkommt. Ich
+habe Ihnen mitgeteilt, die Gespielin für Fräulein Klara müsste in
+ihrem Alter sein, um denselben Unterricht mit ihr zu verfolgen und
+überhaupt ihre Beschäftigungen zu teilen. Fräulein Klara hat das
+zwölfte Jahr zurückgelegt; wie alt ist das Kind?"
+
+"Mit Erlaubnis der Dame", fing die Dete wieder beredt an, "es war
+mir eben selber nicht mehr so ganz gegenwärtig, wie alt es sei; es
+ist wirklich ein wenig jünger, viel trifft es nicht an, ich kann's
+so ganz genau nicht sagen, es wird so um das zehnte Jahr, oder so
+noch etwas dazu sein, nehm ich an."
+
+"Jetzt bin ich acht, der Großvater hat's gesagt", erklärte Heidi.
+Die Base stieß es wieder an, aber Heidi hatte keine Ahnung, warum,
+und wurde keineswegs verlegen.
+
+"Was, erst acht Jahre alt?", rief Fräulein Rottenmeier mit einiger
+Entrüstung aus. "Vier Jahre zu wenig! Was soll das geben! Und
+was hast du denn gelernt? Was hast du für Bücher gehabt bei deinem
+Unterricht?"
+
+"Keine", sagte Heidi.
+
+"Wie? Was? Wie hast du denn lesen gelernt?", fragte die Dame
+weiter.
+
+"Das hab ich nicht gelernt und der Peter auch nicht", berichtete
+Heidi.
+
+"Barmherzigkeit! Du kannst nicht lesen? Du kannst wirklich nicht
+lesen!", rief Fräulein Rottenmeier im höchsten Schrecken aus. "Ist
+es die Möglichkeit, nicht lesen! Was hast du denn aber gelernt?"
+
+"Nichts", sagte Heidi der Wahrheit gemäß.
+
+"Jungfer Dete", sagte Fräulein Rottenmeier nach einigen Minuten, in
+denen sie nach Fassung rang, "es ist alles nicht nach Abrede, wie
+konnten Sie mir dieses Wesen zuführen?" Aber die Dete ließ sich
+nicht so bald einschüchtern; sie antwortete herzhaft: "Mit
+Erlaubnis der Dame, das Kind ist gerade, was ich dachte, dass sie
+haben wolle; die Dame hat mir beschrieben, wie es sein müsse, so
+ganz apart und nicht wie die anderen, und so musste ich das Kleine
+nehmen, denn die Größeren sind bei uns dann nicht mehr so apart,
+und ich dachte, dieses passe wie gemacht auf die Beschreibung.
+Jetzt muss ich aber gehen, denn meine Herrschaft erwartet mich; ich
+will, wenn's meine Herrschaft erlaubt, bald wieder kommen und
+nachsehen, wie es geht mit ihm." Mit einem Knicks war die Dete zur
+Tür hinaus und die Treppe hinunter mit schnellen Schritten.
+Fräulein Rottenmeier stand einen Augenblick noch da, dann lief sie
+der Dete nach; es war ihr wohl in den Sinn gekommen, dass sie noch
+eine Menge von Dingen mit der Base besprechen wollte, wenn das Kind
+wirklich dableiben sollte, und da war es doch nun einmal und, wie
+sie bemerkte, hatte die Base fest im Sinn, es dazulassen.
+
+Heidi stand noch auf demselben Platz an der Tür, wo es von Anfang
+an gestanden hatte. Bis dahin hatte Klara von ihrem Sessel aus
+schweigend allem zugesehen. Jetzt winkte sie Heidi: "Komm hierher!"
+
+Heidi trat an den Rollstuhl heran.
+
+"Willst du lieber Heidi heißen oder Adelheid?", fragte Klara.
+
+"Ich heiße nur Heidi und sonst nichts", war Heidis Antwort.
+
+"So will ich dich immer so nennen", sagte Klara; "der Name gefällt
+mir für dich, ich habe ihn aber nie gehört, ich habe aber auch nie
+ein Kind gesehen, das so aussieht wie du. Hast du immer nur so
+kurzes, krauses Haar gehabt?"
+
+"Ja, ich denk's", gab Heidi zur Antwort.
+
+"Bist du gern nach Frankfurt gekommen?", fragte Klara weiter.
+
+"Nein, aber morgen geh ich dann wieder heim und bringe der
+Großmutter weiße Brötchen!", erklärte Heidi.
+
+"Du bist aber ein kurioses Kind!", fuhr jetzt Klara auf. "Man hat
+dich ja express nach Frankfurt kommen lassen, dass du bei mir
+bleibest und die Stunden mit mir nehmest, und siehst du, es wird
+nun ganz lustig, weil du gar nicht lesen kannst, nun kommt etwas
+ganz Neues in den Stunden vor. Sonst ist es manchmal so
+schrecklich langweilig und der Morgen will gar nicht zu Ende kommen.
+Denn siehst du, alle Morgen um zehn Uhr kommt der Herr Kandidat,
+und dann fangen die Stunden an und dauern bis um zwei Uhr, das ist
+so lange. Der Herr Kandidat nimmt auch manchmal das Buch ganz nahe
+ans Gesicht heran, so, als wäre er auf einmal ganz kurzsichtig
+geworden, aber er gähnt nur furchtbar hinter dem Buch, und Fräulein
+Rottenmeier nimmt auch von Zeit zu Zeit ihr großes Taschentuch
+hervor und hält es vor das ganze Gesicht hin, so, als sei sie ganz
+ergriffen von etwas, das wir lesen; aber ich weiß recht gut, dass
+sie nur ganz schrecklich gähnt dahinter, und dann sollte ich auch
+so stark gähnen und muss es immer hinunterschlucken, denn wenn ich
+nur ein einziges Mal herausgähne, so holt Fräulein Rottenmeier
+gleich den Fischtran und sagt, ich sei wieder schwach, und
+Fischtran nehmen ist das Allerschrecklichste, da will ich doch
+lieber Gähnen schlucken. Aber nun wird's viel kurzweiliger, da
+kann ich dann zuhören, wie du lesen lernst."
+
+Heidi schüttelte ganz bedenklich mit dem Kopf, als es vom
+Lesenlernen hörte.
+
+"Doch, doch, Heidi, natürlich musst du lesen lernen, alle Menschen
+müssen, und der Herr Kandidat ist sehr gut, er wird niemals böse,
+und er erklärt dir dann schon alles. Aber siehst du, wenn er etwas
+erklärt, dann verstehst du nichts davon; dann musst du nur warten
+und gar nichts sagen, sonst erklärt er dir noch viel mehr und du
+verstehst es noch weniger. Aber dann nachher, wenn du etwas
+gelernt hast und es weißt, dann verstehst du schon, was er gemeint
+hat."
+
+Jetzt kam Fräulein Rottenmeier wieder ins Zimmer zurück; sie hatte
+Dete nicht mehr zurückrufen können und war sichtlich aufgeregt
+davon, denn sie hatte dieser eigentlich gar nicht einlässlich sagen
+können, was alles nicht nach Abrede sei bei dem Kinde, und da sie
+nicht wusste, was nun zu tun sei, um ihren Schritt rückgängig zu
+machen, war sie umso aufgeregter, denn sie selbst hatte die ganze
+Sache angestiftet. Sie lief nun vom Studierzimmer ins Esszimmer
+hinüber, und von da wieder zurück, und kehrte dann unmittelbar
+wieder um und fuhr hier den Sebastian an, der seine runden Augen
+eben nachdenklich über den gedeckten Tisch gleiten ließ, um zu
+sehen, ob sein Werk keinen Mangel habe.
+
+"Denk Er morgen Seine großen Gedanken fertig und mach Er, dass man
+heut noch zu Tische komme."
+
+Mit diesen Worten fuhr Fräulein Rottenmeier an Sebastian vorbei und
+rief nach der Tinette mit so wenig einladendem Ton, dass die
+Jungfer Tinette mit noch viel kleineren Schritten herantrippelte
+als sonst gewöhnlich--und sich mit so spöttischem Gesicht
+hinstellte, dass selbst Fräulein Rottenmeier nicht wagte, sie
+anzufahren; umso mehr schlug ihr die Aufregung nach innen.
+
+"Das Zimmer der Angekommenen ist in Ordnung zu bringen, Tinette",
+sagte die Dame mit schwer errungener Ruhe; "es liegt alles bereit,
+nehmen Sie noch den Staub von den Möbeln weg."
+
+"Es ist der Mühe wert", spöttelte Tinette und ging.
+
+Unterdessen hatte Sebastian die Doppeltüren zum Studierzimmer mit
+ziemlichem Knall aufgeschlagen, denn er war sehr ergrimmt, aber
+sich in Antworten Luft zu machen durfte er nicht wagen Fräulein
+Rottenmeier gegenüber; dann trat er ganz gelassen ins Studierzimmer,
+um den Rollstuhl hinüberzustoßen. Während er den Griff hinten am
+Stuhl, der sich verschoben hatte, zurechtdrehte, stellte sich Heidi
+vor ihn hin und schaute ihn unverwandt an, was er bemerkte. Auf
+einmal fuhr er auf. "Na, was ist denn da Besonderes dran?",
+schnurrte er Heidi an in einer Weise, wie er es wohl nicht getan,
+hätte er Fräulein Rottenmeier gesehen, die eben wieder auf der
+Schwelle stand und gerade hereintrat, als Heidi entgegnete: "Du
+siehst dem Geißenpeter gleich."
+
+Entsetzt schlug die Dame ihre Hände zusammen. "Ist es die
+Möglichkeit!", stöhnte sie halblaut. "Nun duzt sie mir den
+Bedienten! Dem Wesen fehlen alle Urbegriffe!"
+
+Der Stuhl kam herangerollt und Klara wurde von Sebastian
+hinausgeschoben und auf ihren Sessel an den Tisch gesetzt.
+
+Fräulein Rottenmeier setzte sich neben sie und winkte Heidi, es
+sollte den Platz ihr gegenüber einnehmen. Sonst kam niemand zu
+Tische, und es war viel Platz da; die drei saßen auch weit
+auseinander, so dass Sebastian mit seiner Schüssel zum Anbieten
+guten Raum fand. Neben Heidis Teller lag ein schönes, weißes
+Brötchen; das Kind schaute mit erfreuten Blicken darauf. Die
+Ähnlichkeit, die Heidi entdeckt hatte, musste sein ganzes Vertrauen
+für den Sebastian erweckt haben, denn es saß mäuschenstill und
+rührte sich nicht, bis er mit der großen Schüssel zu ihm herantrat
+und ihm die gebratenen Fischchen hinhielt, dann zeigte es auf das
+Brötchen und fragte: "Kann ich das haben?" Sebastian nickte und
+warf dabei einen Seitenblick auf Fräulein Rottenmeier, denn es
+wunderte ihn, was die Frage für einen Eindruck auf sie mache.
+Augenblicklich ergriff Heidi sein Brötchen und steckte es in die
+Tasche. Sebastian machte eine Grimasse, denn das Lachen kam ihn an;
+er wusste aber wohl, dass ihm das nicht erlaubt war. Stumm und
+unbeweglich blieb er immer noch vor Heidi stehen, denn reden durfte
+er nicht, und weggehen durfte er wieder nicht, bis man sich bedient
+hatte. Heidi schaute ihm eine Zeit lang verwundert zu, dann fragte
+es: "Soll ich auch von dem essen?" Sebastian nickte wieder. "So
+gib mir", sagte es und schaute ruhig auf seinen Teller. Sebastians
+Grimasse wurde sehr bedenklich, und die Schüssel in seinen Händen
+fing an gefährlich zu zittern.
+
+"Er kann die Schüssel auf den Tisch setzen und nachher
+wiederkommen", sagte jetzt Fräulein Rottenmeier mit strengem
+Gesicht. Sebastian verschwand sogleich. "Dir, Adelheid, muss ich
+überall die ersten Begriffe beibringen, das sehe ich", fuhr
+Fräulein Rottenmeier mit tiefem Seufzer fort. "Vor allem will ich
+dir zeigen, wie man sich am Tische bedient", und nun machte die
+Dame deutlich und eingehend alles vor, was Heidi zu tun hatte.
+"Dann", fuhr sie weiter, "muss ich dir hauptsächlich bemerken, dass
+du am Tisch nicht mit Sebastian zu sprechen hast, auch sonst nur
+dann, wenn du einen Auftrag oder eine notwendige Frage an ihn zu
+richten hast; dann aber nennst du ihn nie mehr anders als (Sie)
+oder (Er), hörst du? Dass ich dich niemals mehr ihn anders nennen
+höre. Auch Tinette nennst du (Sie), Jungfer Tinette. Mich nennst
+du so, wie du mich von allen nennen hörst; wie du Klara nennen
+sollst, wird sie selbst bestimmen."
+
+"Natürlich Klara", sagte diese. Nun folgte aber noch eine Menge
+von Verhaltungsmaßregeln, über Aufstehen und Zubettegehen, über
+Hereintreten und Hinausgehen, über Ordnunghalten, Türenschließen,
+und über alledem fielen dem Heidi die Augen zu, denn es war heute
+vor fünf Uhr aufgestanden und hatte eine lange Reise gemacht. Es
+lehnte sich an den Sesselrücken und schlief ein. Als dann nach
+längerer Zeit Fräulein Rottenmeier zu Ende gekommen war mit ihrer
+Unterweisung, sagte sie: "Nun denke daran, Adelheid! Hast du alles
+recht begriffen?"
+
+"Heidi schläft schon lange", sagte Klara mit ganz belustigtem
+Gesicht, denn das Abendessen war für sie seit langer Zeit nie so
+kurzweilig verflossen.
+
+"Es ist doch völlig unerhört, was man mit diesem Kind erlebt!",
+rief Fräulein Rottenmeier in großem Ärger und klingelte so heftig,
+dass Tinette und Sebastian miteinander herbeigestürzt kamen; aber
+trotz allen Lärms erwachte Heidi nicht, und man hatte die größte
+Mühe, es so weit zu erwecken, dass es nach seinem Schlafgemach
+gebracht werden konnte; erst durch das Studierzimmer, dann durch
+Klaras Schlafstube, dann durch die Stube von Fräulein Rottenmeier
+zu dem Eckzimmer, das nun für Heidi eingerichtet war.
+
+
+
+
+Fräulein Rottenmeier hat einen unruhigen Tag
+
+Als Heidi am ersten Morgen in Frankfurt seine Augen aufschlug,
+konnte es durchaus nicht begreifen, was es erblickte. Es rieb ganz
+gewaltig seine Augen, guckte dann wieder auf und sah dasselbe. Es
+saß auf einem hohen, weißen Bett und vor sich sah es einen großen,
+weiten Raum, und wo die Helle herkam, hingen lange, lange weiße
+Vorhänge, und dabei standen zwei Sessel mit großen Blumen darauf,
+und dann kam ein Sofa an der Wand mit denselben Blumen und ein
+runder Tisch davor, und in der Ecke stand ein Waschtisch mit Sachen
+darauf, wie Heidi sie noch gar nie gesehen hatte. Aber nun kam ihm
+auf einmal in den Sinn, dass es in Frankfurt sei, und der ganze
+gestrige Tag kam ihm in Erinnerung und zuletzt noch ganz klar die
+Unterweisungen der Dame, soweit es sie gehört hatte. Heidi sprang
+nun von seinem Bett herunter und machte sich fertig. Dann ging es
+an ein Fenster und dann an das andere; es musste den Himmel sehen
+und die Erde draußen, es fühlte sich wie im Käfig hinter den großen
+Vorhängen. Es konnte diese nicht wegschieben; so kroch es dahinter,
+um an ein Fenster zu kommen. Aber dieses war so hoch, dass Heidi
+nur gerade mit dem Kopf so weit hinaufreichte, dass es durchsehen
+konnte. Aber Heidi fand nicht, was es suchte. Es lief von einem
+Fenster zum anderen und dann wieder zum ersten zurück; aber immer
+war dasselbe vor seinen Augen, Mauern und Fenster und wieder Mauern
+und dann wieder Fenster. Es wurde Heidi ganz bange. Noch war es
+früh am Morgen, denn Heidi war gewöhnt, früh aufzustehen auf der
+Alm und dann sogleich hinauszulaufen vor die Tür und zu sehen,
+wie's draußen sei, ob der Himmel blau und die Sonne schon droben
+sei, ob die Tannen rauschen und die kleinen Blumen schon die Augen
+offen haben. Wie das Vögelein, das zum ersten Mal in seinem schön
+glänzenden Gefängnis sitzt, hin und her schießt und bei allen
+Stäben probiert, ob es nicht dazwischen durchschlüpfen und in die
+Freiheit hinausfliegen könne, so lief Heidi immer von dem einen
+Fenster zum anderen, um zu probieren, ob es nicht aufgemacht werden
+könne, denn dann musste man doch etwas anderes sehen als Mauern und
+Fenster, da musste doch unten der Erdboden, das grüne Gras und der
+letzte schmelzende Schnee an den Abhängen zum Vorschein kommen, und
+Heidi sehnte sich, das zu sehen. Aber die Fenster blieben fest
+verschlossen, wie sehr auch das Kind drehte und zog und von unten
+suchte, die kleinen Finger unter die Rahmen einzutreiben, damit es
+Kraft hätte, sie aufzudrücken; es blieb alles eisenfest aufeinander
+sitzen. Nach langer Zeit, als Heidi einsah, dass alle
+Anstrengungen nichts halfen, gab es seinen Plan auf und überdachte
+nun, wie es wäre, wenn es vor das Haus hinausginge und hintenherum,
+bis es auf den Grasboden käme, denn es erinnerte sich, dass es
+gestern Abend vorn am Haus nur über Steine gekommen war. Jetzt
+klopfte es an seiner Tür und unmittelbar darauf steckte Tinette den
+Kopf herein und sagte kurz: "Frühstück bereit!"
+
+Heidi verstand keineswegs eine Einladung unter diesen Worten; auf
+dem spöttischen Gesicht der Tinette stand viel mehr eine Warnung,
+ihr nicht zu nah zu kommen, als eine freundliche Einladung
+geschrieben, und das las Heidi deutlich von dem Gesicht und
+richtete sich danach. Es nahm den kleinen Schemel unter dem Tisch
+empor, stellte ihn in eine Ecke, setzte sich darauf und wartete so
+ganz still ab, was nun kommen würde. Nach einiger Zeit kam etwas
+mit ziemlichem Geräusch, es war Fräulein Rottenmeier, die schon
+wieder in Aufregung geraten war und in Heidis Stube hineinrief:
+"Was ist mit dir, Adelheid? Begreifst du nicht, was ein Frühstück
+ist? Komm herüber!"
+
+Das verstand nun Heidi und folgte sogleich nach. Im Esszimmer saß
+Klara schon lang an ihrem Platz und begrüßte Heidi freundlich,
+machte auch ein viel vergnügteres Gesicht als sonst gewöhnlich,
+denn sie sah voraus, dass heute wieder allerlei Neues geschehen
+würde. Das Frühstück ging nun ohne Störung vor sich; Heidi aß ganz
+anständig sein Butterbrot, und wie alles zu Ende war, wurde Klara
+wieder ins Studierzimmer hinübergerollt und Heidi wurde von
+Fräulein Rottenmeier angewiesen, nachzufolgen und bei Klara zu
+bleiben, bis der Herr Kandidat kommen würde, um die
+Unterrichtsstunden zu beginnen. Als die beiden Kinder allein waren,
+sagte Heidi sogleich: "Wie kann man hinaussehen hier und ganz
+hinunter auf den Boden?"
+
+"Man macht ein Fenster auf und guckt hinaus", antwortete Klara
+belustigt.
+
+"Man kann diese Fenster nicht aufmachen", versetzte Heidi traurig.
+
+"Doch, doch", versicherte Klara, "nur du noch nicht, und ich kann
+dir auch nicht helfen; aber wenn du einmal den Sebastian siehst, so
+macht er dir schon eines auf."
+
+Das war eine große Erleichterung für Heidi zu wissen, dass man doch
+die Fenster öffnen und hinausschauen könne, denn noch war es ganz
+unter dem Druck des Gefangenseins von seinem Zimmer her. Klara
+fing nun an, Heidi zu fragen, wie es bei ihm zu Hause sei, und
+Heidi erzählte mit Freuden von der Alm und den Geißen und der Weide
+und allem, was ihm lieb war.
+
+Unterdessen war der Herr Kandidat angekommen; aber Fräulein
+Rottenmeier führte ihn nicht, wie gewöhnlich, ins Studierzimmer,
+denn sie musste sich erst aussprechen und geleitete ihn zu diesem
+Zweck ins Esszimmer, wo sie sich vor ihn hinsetzte und ihm in
+großer Aufregung ihre bedrängte Lage schilderte und wie sie in
+diese hineingekommen war.
+
+Sie hatte nämlich vor einiger Zeit Herrn Sesemann nach Paris
+geschrieben, wo er eben verweilte, seine Tochter habe längst
+gewünscht, es möchte eine Gespielin für sie ins Haus aufgenommen
+werden, und auch sie selbst glaube, dass eine solche in den
+Unterrichtsstunden ein Sporn, in der übrigen Zeit eine anregende
+Gesellschaft für Klara sein würde. Eigentlich war die Sache für
+Fräulein Rottenmeier selbst sehr wünschbar, denn sie wollte gern,
+dass jemand da sei, der ihr die Unterhaltung der kranken Klara
+abnehme, wenn es ihr zu viel war, was öfters geschah. Herr
+Sesemann hatte geantwortet, er erfülle gern den Wunsch seiner
+Tochter, doch mit der Bedingung, dass eine solche Gespielin in
+allem ganz gehalten werde wie jene, er wolle keine Kinderquälerei
+in seinem Hause--"was freilich eine sehr unnütze Bemerkung von dem
+Herrn war", setzte Fräulein Rottenmeier hinzu, "denn wer wollte
+Kinder quälen!" Nun aber erzählte sie weiter, wie ganz
+erschrecklich sie hineingefallen sei mit dem Kinde, und führte alle
+Beispiele von seinem völlig begriffslosen Dasein an, die es bis
+jetzt geliefert hatte, dass nicht nur der Unterricht des Herrn
+Kandidaten buchstäblich beim Abc anfangen müsse, sondern dass auch
+sie auf jedem Punkte der menschlichen Erziehung mit dem Uranfang zu
+beginnen hätte. Aus dieser unheilvollen Lage sehe sie nur ein
+Rettungsmittel: Wenn der Herr Kandidat erklären werde, zwei so
+verschiedene Wesen könnten nicht miteinander unterrichtet werden
+ohne großen Schaden des vorgerückteren Teiles; das wäre für Herrn
+Sesemann ein triftiger Grund, die Sache rückgängig zu machen, und
+so würde er zugeben, dass das Kind gleich wieder dahin
+zurückgeschickt würde, woher es gekommen war; ohne seine Zustimmung
+aber dürfte sie das nicht unternehmen, nun der Hausherr wisse, dass
+das Kind angekommen sei. Aber der Herr Kandidat war behutsam und
+niemals einseitig im Urteilen. Er tröstete Fräulein Rottenmeier
+mit vielen Worten und der Ansicht, wenn die junge Tochter auf der
+einen Seite so zurück sei, so möchte sie auf der anderen umso
+geförderter sein, was bei einem geregelten Unterricht bald ins
+Gleichgewicht kommen werde. Als Fräulein Rottenmeier sah, dass der
+Herr Kandidat sie nicht unterstützen, sondern seinen Abc-Unterricht
+übernehmen wollte, machte sie ihm die Tür zum Studierzimmer auf,
+und nachdem er hereingetreten war, schloss sie schnell hinter ihm
+zu und blieb auf der anderen Seite, denn vor dem Abc hatte sie
+einen Schrecken. Sie ging jetzt mit großen Schritten im Zimmer auf
+und nieder, denn sie hatte zu überlegen, wie die Dienstboten
+Adelheid zu benennen hätten. Herr Sesemann hatte ja geschrieben,
+sie müsste wie seine Tochter gehalten werden, und dieses Wort
+musste sich hauptsächlich auf das Verhältnis zu den Dienstboten
+beziehen, dachte Fräulein Rottenmeier. Sie konnte aber nicht lange
+ungestört überlegen, denn auf einmal ertönte drinnen im
+Studierzimmer ein erschreckliches Gekrache fallender Gegenstände
+und dann ein Hilferuf nach Sebastian. Sie stürzte hinein. Da lag
+auf dem Boden alles übereinander, die sämtlichen Studien-
+Hilfsmittel, Bücher, Hefte, Tintenfass und obendrauf der
+Tischteppich, unter dem ein schwarzes Tintenbächlein hervorfloss,
+die ganze Stube entlang. Heidi war verschwunden.
+
+"Da haben wir's", rief Fräulein Rottenmeier händeringend aus.
+"Teppich, Bücher, Arbeitskorb, alles in der Tinte! Das ist noch
+nie geschehen! Das ist das Unglückswesen, da ist kein Zweifel!"
+
+Der Herr Kandidat stand sehr erschrocken da und schaute auf die
+Verwüstung, die allerdings nur (eine) Seite hatte und eine recht
+bestürzende. Klara dagegen verfolgte mit vergnügtem Gesicht die
+ungewöhnlichen Ereignisse und deren Wirkungen und sagte nun
+erklärend: "Ja, Heidi hat's gemacht, aber nicht mit Absicht, es
+muss gewiss nicht gestraft werden, es war nur so schrecklich eilig,
+fortzukommen, und riss den Teppich mit, und so fiel alles
+hintereinander auf den Boden. Es fuhren viele Wagen hintereinander
+vorbei, darum ist es so fortgeschossen; es hat vielleicht noch nie
+eine Kutsche gesehen."
+
+"Da, ist's nicht, wie ich sagte, Herr Kandidat? Nicht (einen)
+Urbegriff hat das Wesen! Keine Ahnung davon, was eine
+Unterrichtsstunde ist, dass man dabei zuzuhören und still zu sitzen
+hat. Aber wo ist das Unheil bringende Ding hin? Wenn es
+fortgelaufen wäre! Was würde mir Herr Sesemann--"
+
+Fräulein Rottenmeier lief hinaus und die Treppe hinunter. Hier,
+unter der geöffneten Haustür, stand Heidi und guckte ganz verblüfft
+die Straße auf und ab.
+
+"Was ist denn? Was fällt dir denn ein? Wie kannst du so
+davonlaufen!", fuhr Fräulein Rottenmeier das Kind an.
+
+"Ich habe die Tannen rauschen gehört, aber ich weiß nicht, wo sie
+stehen, und höre sie nicht mehr", antwortete Heidi und schaute
+enttäuscht nach der Seite hin, wo das Rollen der Wagen verhallt war,
+das in Heidis Ohren dem Tosen des Föhns in den Tannen ähnlich
+geklungen hatte, so dass es in höchster Freude dem Ton nachgerannt
+war.
+
+"Tannen! Sind wir im Wald? Was sind das für Einfälle! Komm
+herauf und sieh, was du angerichtet hast!" Damit stieg Fräulein
+Rottenmeier wieder die Treppe hinan; Heidi folgte ihr und stand nun
+sehr verwundert vor der großen Verheerung, denn es hatte nicht
+gemerkt, was es alles mitriss vor Freude und Eile, die Tannen zu
+hören.
+
+"Das hast du einmal getan, ein zweites Mal tust du's nicht wieder",
+sagte Fräulein Rottenmeier, auf den Boden zeigend; "zum Lernen
+sitzt man still auf seinem Sessel und gibt Acht. Kannst du das
+nicht selbst fertig bringen, so muss ich dich an deinen Stuhl
+festbinden. Kannst du das verstehen?"
+
+"Ja", entgegnete Heidi, "aber ich will schon festsitzen." Denn
+jetzt hatte es begriffen, dass es eine Regel ist, in einer
+Unterrichtsstunde still zu sitzen.
+
+Jetzt mussten Sebastian und Tinette hereinkommen, um die Ordnung
+wiederherzustellen. Der Herr Kandidat entfernte sich, denn der
+weitere Unterricht musste nun aufgegeben werden. Zum Gähnen war
+heute gar keine Zeit gewesen.
+
+Am Nachmittag musste Klara immer eine Zeit lang ruhen und Heidi
+hatte alsdann seine Beschäftigung selbst zu wählen; so hatte
+Fräulein Rottenmeier ihm am Morgen erklärt. Als nun nach Tisch
+Klara sich in ihrem Sessel zur Ruhe gelegt hatte, ging Fräulein
+Rottenmeier nach ihrem Zimmer, und Heidi sah, dass nun die Zeit da
+war, da es seine Beschäftigung selbst wählen konnte. Das war dem
+Heidi sehr erwünscht, denn es hatte schon immer im Sinn, etwas zu
+unternehmen; es musste aber Hilfe dazu haben und stellte sich darum
+vor das Esszimmer mitten auf den Korridor, damit die Persönlichkeit,
+die es zu beraten gedachte, ihm nicht entgehen könne. Richtig,
+nach kurzer Zeit kam Sebastian die Treppe herauf mit dem großen
+Teebrett auf den Armen, denn er brachte das Silberzeug aus der
+Küche herauf, um es im Schrank des Esszimmers zu verwahren. Als er
+auf der letzten Stufe der Treppe angekommen war, trat Heidi vor ihn
+hin und sagte mit großer Deutlichkeit: "Sie oder Er!"
+
+Sebastian riss die Augen so weit auf, als es nur möglich war, und
+sagte ziemlich barsch: "Was soll das heißen, Mamsell?"
+
+"Ich möchte nur gern etwas fragen, aber es ist gewiss nichts Böses
+wie heute Morgen", fügte Heidi beschwichtigend hinzu, denn es
+merkte, dass Sebastian ein wenig erbittert war, und dachte, es
+komme noch von der Tinte am Boden her.
+
+"So, und warum muss es denn heißen Sie oder Er, das möcht ich
+zuerst wissen", gab Sebastian im gleichen barschen Ton zurück.
+
+"Ja, so muss ich jetzt immer sagen", versicherte Heidi; "Fräulein
+Rottenmeier hat es befohlen."
+
+Jetzt lachte Sebastian so laut auf, dass Heidi ihn ganz verwundert
+ansehen musste, denn es hatte nichts Lustiges bemerkt; aber
+Sebastian hatte auf einmal begriffen, was Fräulein Rottenmeier
+befohlen hatte, und sagte nun sehr erlustigt: "Schon recht, so
+fahre die Mamsell nur zu."
+
+"Ich heiße gar nicht Mamsell", sagte nun Heidi seinerseits ein
+wenig geärgert; "ich heiße Heidi."
+
+"Ist schon recht; die gleiche Dame hat aber befohlen, dass ich
+Mamsell sage", erklärte Sebastian.
+
+"Hat sie? Ja, dann muss ich schon so heißen", sagte Heidi mit
+Ergebung, denn es hatte wohl gemerkt, dass alles so geschehen
+musste, wie Fräulein Rottenmeier befahl.
+
+"Jetzt habe ich schon drei Namen", setzte es mit einem Seufzer
+hinzu.
+
+"Was wollte die kleine Mamsell denn fragen?", fragte Sebastian
+jetzt, indem er, ins Esszimmer eingetreten, sein Silberzeug im
+Schrank zurechtlegte.
+
+"Wie kann man ein Fenster aufmachen, Sebastian?"
+
+"So, gerade so", und er machte den großen Fensterflügel auf.
+
+Heidi trat heran, aber es war zu klein, um etwas sehen zu können;
+es langte nur bis zum Gesims hinauf.
+
+"Da, so kann das Mamsellchen einmal hinausgucken und sehen, was
+unten ist", sagte Sebastian, indem er einen hohen hölzernen Schemel
+herbeigeholt hatte und hinstellte. Hoch erfreut stieg Heidi hinauf
+und konnte endlich den ersehnten Blick durch das Fenster tun. Aber
+mit dem Ausdruck der größten Enttäuschung zog es sogleich den Kopf
+wieder zurück.
+
+"Man sieht nur die steinerne Straße hier, sonst gar nichts", sagte
+das Kind bedauerlich; "aber wenn man um das ganze Haus herumgeht,
+was sieht man dann auf der anderen Seite, Sebastian?"
+
+"Gerade dasselbe", gab dieser zur Antwort.
+
+"Aber wohin kann man denn gehen, dass man weit, weit hinuntersehen
+kann über das ganze Tal hinab?"
+
+"Da muss man auf einen hohen Turm hinaufsteigen, einen Kirchturm,
+so einen, wie der dort ist mit der goldenen Kugel oben drauf. Da
+guckt man von oben herunter und sieht weit über alles weg."
+
+Jetzt stieg Heidi eilig von seinem Schemel herunter, rannte zur Tür
+hinaus, die Treppe hinunter und trat auf die Straße hinaus. Aber
+die Sache ging nicht, wie Heidi sich vorgestellt hatte. Als es aus
+dem Fenster den Turm gesehen hatte, kam es ihm vor, es könne nur
+über die Straße gehen, so müsste er gleich vor ihm stehen. Nun
+ging Heidi die ganze Straße hinunter, aber es kam nicht an den Turm,
+konnte ihn auch nirgends mehr entdecken und kam nun in eine andere
+Straße hinein und weiter und weiter, aber immer noch sah es den
+Turm nicht. Es gingen viele Leute an ihm vorbei, aber die waren
+alle so eilig, dass Heidi dachte, sie hätten nicht Zeit, ihm
+Bescheid zu geben. Jetzt sah es an der nächsten Straßenecke einen
+Jungen stehen, der eine kleine Drehorgel auf dem Rücken und ein
+ganz kurioses Tier auf dem Arme trug. Heidi lief zu ihm hin und
+fragte: "Wo ist der Turm mit der goldenen Kugel zuoberst?"
+
+"Weiß nicht", war die Antwort.
+
+"Wen kann ich denn fragen, wo er sei?", fragte Heidi weiter.
+
+"Weiß nicht."
+
+"Weißt du keine andere Kirche mit einem hohen Turm?"
+
+"Freilich weiß ich eine."
+
+"So komm und zeige mir sie."
+
+"Zeig du zuerst, was du mir dafür gibst." Der Junge hielt seine
+Hand hin. Heidi suchte in seiner Tasche herum. Jetzt zog es ein
+Bildchen hervor, darauf ein schönes Kränzchen von roten Rosen
+gemalt war; erst sah es noch eine kleine Weile darauf hin, denn es
+reute Heidi ein wenig. Erst heute Morgen hatte Klara es ihm
+geschenkt; aber hinuntersehen ins Tal, über die grünen Abhänge!
+"Da", sagte Heidi und hielt das Bildchen hin, "willst du das?"
+
+Der Junge zog die Hand zurück und schüttelte den Kopf.
+
+"Was willst du denn?", fragte Heidi und steckte vergnügt sein
+Bildchen wieder ein.
+
+"Geld."
+
+"Ich habe keins, aber Klara hat, sie gibt mir dann schon; wie viel
+willst du?"
+
+"Zwanzig Pfennige."
+
+"So komm jetzt."
+
+Nun wanderten die beiden eine lange Straße hin, und auf dem Wege
+fragte Heidi den Begleiter, was er auf dem Rücken trage, und er
+erklärte ihm, es sei eine schöne Orgel unter dem Tuch, die mache
+eine prachtvolle Musik, wenn er daran drehe.
+
+Auf einmal standen sie vor einer alten Kirche mit hohem Turm; der
+Junge stand still und sagte: "Da."
+
+"Aber wie komm ich da hinein?", fragte Heidi, als es die fest
+verschlossenen Türen sah.
+
+"Weiß nicht", war wieder die Antwort.
+
+"Glaubst du, man könne hier klingeln, so wie man dem Sebastian tut?"
+
+"Weiß nicht."
+
+Heidi hatte eine Klingel entdeckt an der Mauer und zog jetzt aus
+allen Kräften daran.
+
+"Wenn ich dann hinaufgehe, so musst du warten hier unten, ich weiß
+jetzt den Weg nicht mehr zurück, du musst mir ihn dann zeigen."
+
+"Was gibst du mir dann?"
+
+"Was muss ich dir dann wieder geben?"
+
+"Wieder zwanzig Pfennige."
+
+Jetzt wurde das alte Schloss inwendig umgedreht und die knarrende
+Tür geöffnet; ein alter Mann trat heraus und schaute erst
+verwundert, dann ziemlich erzürnt auf die Kinder und fuhr sie an:
+"Was untersteht ihr euch, mich da herunterzuklingeln? Könnt ihr
+nicht lesen, was über der Klingel steht: 'Für solche, die den
+Turm besteigen wollen'?"
+
+Der Junge wies mit dem Zeigefinger auf Heidi und sagte kein Wort.
+Heidi antwortete: "Eben auf den Turm wollt ich."
+
+"Was hast du droben zu tun?", fragte der Türmer; "hat dich jemand
+geschickt?"
+
+"Nein", entgegnete Heidi, "ich möchte nur hinaufgehen, dass ich
+hinuntersehen kann."
+
+"Macht, dass ihr heimkommt, und probiert den Spaß nicht wieder,
+oder ihr kommt nicht gut weg zum zweiten Mal!" Damit kehrte sich
+der Türmer um und wollte die Tür zumachen.
+
+Aber Heidi hielt ihn ein wenig am Rockschoß und sagte bittend: "Nur
+ein einziges Mal!"
+
+Er sah sich um, und Heidis Augen schauten so flehentlich zu ihm auf,
+dass es ihn ganz umstimmte; er nahm das Kind bei der Hand und
+sagte freundlich: "Wenn dir so viel daran gelegen ist, so komm mit
+mir!"
+
+Der Junge setzte sich auf die steinernen Stufen vor der Tür nieder
+und zeigte, dass er nicht mitwollte.
+
+Heidi stieg an der Hand des Türmers viele, viele Treppen hinauf;
+dann wurden diese immer schmäler, und endlich ging es noch ein ganz
+enges Treppchen hinauf, und nun waren sie oben. Der Türmer hob
+Heidi vom Boden auf und hielt es an das offene Fenster.
+
+"Da, jetzt guck hinunter", sagte er.
+
+Heidi sah auf ein Meer von Dächern, Türmen und Schornsteinen nieder;
+es zog bald seinen Kopf zurück und sagte niedergeschlagen: "Es ist
+gar nicht, wie ich gemeint habe."
+
+"Siehst du wohl? Was versteht so ein Kleines von Aussicht! So,
+komm nun wieder herunter und läute nie mehr an einem Turm!"
+
+Der Türmer stellte Heidi wieder auf den Boden und stieg ihm voran
+die schmalen Stufen hinab. Wo diese breiter wurden, kam links die
+Tür, die in des Türmers Stübchen führte, und nebenan ging der Boden
+bis unter das schräge Dach hin. Dort hinten stand ein großer Korb
+und davor saß eine dicke graue Katze und knurrte, denn in dem Korb
+wohnte ihre Familie und sie wollte jeden Vorübergehenden davor
+warnen, sich in ihre Familienangelegenheiten zu mischen. Heidi
+stand still und schaute verwundert hinüber, eine so mächtige Katze
+hatte es noch nie gesehen; in dem alten Turm wohnten aber ganze
+Herden von Mäusen, so holte sich die Katze ohne Mühe jeden Tag ein
+halbes Dutzend Mäusebraten. Der Türmer sah Heidis Bewunderung und
+sagte: "Komm, sie tut dir nichts, wenn ich dabei bin; du kannst die
+Jungen ansehen."
+
+Heidi trat an den Korb heran und brach in ein großes Entzücken aus.
+
+"Oh, die netten Tierlein! Die schönen Kätzchen!", rief es ein Mal
+ums andere und sprang hin und her um den Korb herum, um auch recht
+alle komischen Gebärden und Sprünge zu sehen, welche die sieben
+oder acht jungen Kätzchen vollführten, die in dem Korb rastlos
+übereinanderhin krabbelten, sprangen, fielen.
+
+"Willst du eins haben?", fragte der Türmer, der Heidis
+Freudensprüngen vergnügt zuschaute.
+
+"Selbst für mich? Für immer?", fragte Heidi gespannt und konnte
+das große Glück fast nicht glauben.
+
+"Ja, gewiss, du kannst auch noch mehr haben, du kannst sie alle
+zusammen haben, wenn du Platz hast", sagte der Mann, dem es gerade
+recht war, seine kleinen Katzen loszuwerden, ohne dass er ihnen ein
+Leid antun musste.
+
+Heidi war im höchsten Glück. In dem großen Hause hatten ja die
+Kätzchen so viel Platz, und wie musste Klara erstaunt und erfreut
+sein, wenn die niedlichen Tierchen ankamen!
+
+"Aber wie kann ich sie mitnehmen?", fragte nun Heidi und wollte
+schnell einige fangen mit seinen Händen, aber die dicke Katze
+sprang ihm auf den Arm und fauchte es so grimmig an, dass es sehr
+erschrocken zurückfuhr.
+
+"Ich will sie dir bringen, sag nur, wohin", sagte der Türmer, der
+die alte Katze nun streichelte, um sie wieder gut zu machen, denn
+sie war seine Freundin und hatte schon viele Jahre mit ihm auf dem
+Turm gelebt.
+
+"Zum Herrn Sesemann in dem großen Haus, wo an der Haustür ein
+goldener Hundskopf ist mit einem dicken Ring im Maul", erklärte
+Heidi.
+
+Es hätte nicht einmal so viel gebraucht für den Türmer, der schon
+seit langen Jahren auf dem Turm saß und jedes Haus weithin kannte,
+und dazu war der Sebastian noch ein alter Bekannter von ihm.
+
+"Ich weiß schon", bemerkte er; "aber wem muss ich die Dinger
+bringen, bei wem muss ich nachfragen, du gehörst doch nicht Herrn
+Sesemann?"
+
+"Nein, aber die Klara, sie hat eine so große Freude, wenn die
+Kätzchen kommen!"
+
+Der Türmer wollte nun weitergehen, aber Heidi konnte sich von dem
+unterhaltenden Schauspiel fast nicht trennen.
+
+"Wenn ich nur schon eins oder zwei mitnehmen könnte! Eins für mich
+und eins für Klara, kann ich nicht?"
+
+"So wart ein wenig", sagte der Türmer, trug dann die alte Katze
+behutsam in sein Stübchen hinein und stellte sie an das
+Essschüsselchen hin, schloss die Tür vor ihr zu und kam zurück: "So,
+nun nimm zwei!"
+
+Heidis Augen leuchteten vor Wonne. Es las ein weißes und dann ein
+gelb und weiß gestreiftes aus und steckte eins in die rechte und
+eins in die linke Tasche. Nun ging's die Treppe hinunter.
+
+Der Junge saß noch auf den Stufen draußen, und als nun der Türmer
+hinter Heidi die Tür zugeschlossen hatte, sagte das Kind: "Welchen
+Weg müssen wir nun zu Herrn Sesemanns Haus?"
+
+"Weiß nicht", war die Antwort.
+
+Heidi fing nun an zu beschreiben, was es wusste, die Haustür und
+die Fenster und die Treppen, aber der Junge schüttelte zu allem den
+Kopf, es war ihm alles unbekannt.
+
+"Siehst du", fuhr dann Heidi im Beschreiben fort, "aus einem
+Fenster sieht man ein großes, großes, graues Haus und das Dach geht
+so"--Heidi zeichnete hier mit dem Zeigefinger große Zacken in die
+Luft hinaus.
+
+Jetzt sprang der Junge auf, er mochte ähnliche Merkmale haben,
+seine Wege zu finden. Er lief nun in einem Zug drauflos und Heidi
+hinter ihm drein, und in kurzer Zeit standen sie richtig vor der
+Haustür mit dem großen Messing-Tierkopf. Heidi zog die Glocke.
+Bald erschien Sebastian, und wie er Heidi erblickte, rief er
+drängend: "Schnell! Schnell!"
+
+Heidi sprang eilig herein, und Sebastian schlug die Tür zu; den
+Jungen, der verblüfft draußen stand, hatte er gar nicht bemerkt.
+
+"Schnell, Mamsellchen", drängte Sebastian weiter, "gleich ins
+Esszimmer hinein, sie sitzen schon am Tisch. Fräulein Rottenmeier
+sieht aus wie eine geladene Kanone; was stellt aber auch die kleine
+Mamsell an, so fortzulaufen?"
+
+Heidi war ins Zimmer getreten. Fräulein Rottenmeier blickte nicht
+auf; Klara sagte auch nichts, es war eine etwas unheimliche Stille.
+Sebastian rückte Heidi den Sessel zurecht. Jetzt, wie es auf
+seinem Stuhl saß, begann Fräulein Rottenmeier mit strengem Gesicht
+und einem ganz feierlich-ernsten Ton: "Adelheid, ich werde nachher
+mit dir sprechen, jetzt nur so viel: Du hast dich sehr ungezogen,
+wirklich strafbar benommen, dass du das Haus verlässt, ohne zu
+fragen, ohne dass jemand ein Wort davon wusste, und herumstreichst
+bis zum späten Abend; es ist eine völlig beispiellose Aufführung."
+
+"Miau", tönte es wie als Antwort zurück.
+
+Aber jetzt stieg der Zorn der Dame. "Wie, Adelheid", rief sie in
+immer höheren Tönen, "du unterstehst dich noch, nach aller
+Ungezogenheit einen schlechten Spaß zu machen? Hüte dich wohl, sag
+ich dir!"
+
+"Ich mache", fing Heidi an--"Miau! Miau!"
+
+Sebastian warf fast seine Schüssel auf den Tisch und stürzte hinaus.
+
+"Es ist genug", wollte Fräulein Rottenmeier rufen; aber vor
+Aufregung tönte ihre Stimme gar nicht mehr. "Steh auf und verlass
+das Zimmer."
+
+Heidi stand erschrocken von seinem Sessel auf und wollte noch
+einmal erklären: "Ich mache gewiss"--"Miau! Miau! Miau!"
+
+"Aber Heidi", sagte jetzt Klara, "wenn du doch siehst, dass du
+Fräulein Rottenmeier so böse machst, warum machst du immer wieder
+'miau'?"
+
+"Ich mache nicht, die Kätzlein machen", konnte Heidi endlich
+ungestört hervorbringen.
+
+"Wie? Was? Katzen? junge Katzen?", schrie Fräulein Rottenmeier
+auf. "Sebastian! Tinette! Sucht die greulichen Tiere! Schafft
+sie fort!" Damit stürzte die Dame ins Studierzimmer hinein und
+riegelte die Türen zu, um sicherer zu sein, denn junge Katzen waren
+für Fräulein Rottenmeier das Schrecklichste in der Schöpfung.
+Sebastian stand draußen vor der Tür und musste erst fertig lachen,
+eh er wieder eintreten konnte. Er hatte, als er Heidi bediente,
+einen kleinen Katzenkopf aus dessen Tasche herausgucken gesehen und
+sah dem Spektakel entgegen, und wie er nun ausbrach, konnte er sich
+nicht mehr halten, kaum noch seine Schüssel auf den Tisch setzen.
+Endlich trat er denn wieder gefasst ins Zimmer herein, nachdem die
+Hilferufe der geängsteten Dame schon längere Zeit verklungen waren.
+Jetzt sah es ganz still und friedlich aus drinnen; Klara hielt die
+Kätzchen auf ihrem Schoß, Heidi kniete neben ihr und beide spielten
+mit großer Wonne mit den zwei winzigen, graziösen Tierchen.
+
+"Sebastian", sagte Klara zu dem Eintretenden, "Sie müssen uns
+helfen; Sie müssen ein Nest finden für die Kätzchen, wo Fräulein
+Rottenmeier sie nicht sieht, denn sie fürchtet sich vor ihnen und
+will sie forthaben; aber wir wollen die niedlichen Tierchen
+behalten und sie immer hervorholen, sobald wir allein sind. Wo
+kann man sie hintun?"
+
+"Das will ich schon besorgen, Fräulein Klara", entgegnete Sebastian
+bereitwillig; "ich mache ein schönes Bettchen in einem Korb und
+stelle den an einen Ort, wo mir die furchtsame Dame nicht dahinter
+kommt, verlassen Sie sich auf mich." Sebastian ging gleich an die
+Arbeit und kicherte beständig vor sich hin, denn er dachte: "Das
+wird noch was absetzen!", und der Sebastian sah es nicht ungern,
+wenn Fräulein Rottenmeier ein wenig in Aufregung geriet.
+
+Nach längerer Zeit erst, als der Augenblick des Schlafengehens
+nahte, machte Fräulein Rottenmeier ein ganz klein wenig die Tür auf
+und rief durch das Spältchen heraus: "Sind die abscheulichen Tiere
+fortgeschafft?"
+
+"Jawohl! Jawohl!", gab Sebastian zurück, der sich im Zimmer zu
+schaffen gemacht hatte in Erwartung dieser Frage. Schnell und
+leise fasste er die beiden Kätzchen auf Klaras Schoß und verschwand
+damit.
+
+Die besondere Strafrede, die Fräulein Rottenmeier Heidi noch zu
+halten gedachte, verschob sie auf den folgenden Tag, denn heute
+fühlte sie sich zu erschöpft nach all den vorhergegangenen
+Gemütsbewegungen von Ärger, Zorn und Schrecken, die ihr Heidi ganz
+unwissentlich nacheinander verursacht hatte. Sie zog sich
+schweigend zurück, und Klara und Heidi folgten vergnügt nach, denn
+sie wussten ihre Kätzchen in einem guten Bett.
+
+
+
+
+Im Hause Sesemann geht's unruhig zu
+
+Als Sebastian am folgenden Morgen dem Herrn Kandidaten die Haustür
+geöffnet und ihn zum Studierzimmer geführt hatte, zog schon wieder
+jemand die Hausglocke an, aber mit solcher Gewalt, dass Sebastian
+die Treppe völlig hinunterschoss, denn er dachte: "So schellt nur
+der Herr Sesemann selbst, er muss unerwartet nach Hause gekommen
+sein." Er riss die Tür auf--ein zerlumpter Junge mit einer
+Drehorgel auf dem Rücken stand vor ihm.
+
+"Was soll das heißen?", fuhr ihn Sebastian an. "Ich will dich
+lehren, Glocken herunterzureißen! Was hast du hier zu tun?"
+
+"Ich muss zur Klara", war die Antwort.
+
+"Du ungewaschener Straßenkäfer du; kannst du nicht sagen '
+Fräulein Klara', wie unsereins tut? Was hast du bei Fräulein
+Klara zu tun?", fragte Sebastian barsch.
+
+"Sie ist mir vierzig Pfennige schuldig", erklärte der Junge.
+
+"Du bist, denk ich, nicht recht im Kopf! Wie weißt du überhaupt,
+dass ein Fräulein Klara hier ist?"
+
+"Gestern habe ich ihr den Weg gezeigt, macht zwanzig, und dann
+wieder zurück den Weg gezeigt, macht vierzig."
+
+"Da siehst du, was für Zeug du zusammenflunkerst; Fräulein Klara
+geht niemals aus, kann gar nicht gehen, mach, dass du dahin kommst,
+wo du hingehörst, bevor ich dir dazu verhelfe!"
+
+Aber der Junge ließ sich nicht einschüchtern; er blieb unbeweglich
+stehen und sagte trocken: "Ich habe sie doch gesehen auf der Straße,
+ich kann sie beschreiben: Sie hat kurzes, krauses Haar, das ist
+schwarz, und die Augen sind schwarz und der Rock ist braun, und sie
+kann nicht reden wie wir."
+
+"Oho", dachte jetzt Sebastian und kicherte in sich hinein, "das ist
+die kleine Mamsell, die hat wieder etwas angestellt." Dann sagte er,
+den Jungen hereinziehend: "'s ist schon recht, komm mir nur nach
+und warte vor der Tür, bis ich wieder herauskomme. Wenn ich dich
+dann einlasse, kannst du gleich etwas spielen; das Fräulein hört es
+gern."
+
+Oben klopfte er am Studierzimmer und wurde hereingerufen.
+
+"Es ist ein Junge da, der durchaus an Fräulein Klara selbst etwas
+zu bestellen hat", berichtete Sebastian.
+
+Klara war sehr erfreut über das außergewöhnliche Ereignis.
+
+"Er soll nur gleich hereinkommen", sagte sie, "nicht wahr, Herr
+Kandidat, wenn er doch mit mir selbst sprechen muss."
+
+Der Junge war schon eingetreten, und nach Anweisung fing er sofort
+seine Orgel zu drehen an. Fräulein Rottenmeier hatte, um dem Abc
+auszuweichen, sich im Esszimmer allerlei zu schaffen gemacht. Auf
+einmal horchte sie auf.--Kamen die Töne von der Straße her? Aber
+so nahe? Wie konnte vom Studierzimmer her eine Drehorgel ertönen?
+Und dennoch--wahrhaftig--sie stürzte durch das lange Esszimmer
+und riss die Tür auf. Da--unglaublich--da stand mitten im
+Studierzimmer ein zerlumpter Orgelspieler und drehte sein
+Instrument mit größter Emsigkeit. Der Herr Kandidat schien
+immerfort etwas sagen zu wollen, aber es wurde nichts vernommen.
+Klara und Heidi hörten mit ganz erfreuten Gesichtern der Musik zu.
+
+"Aufhören! Sofort aufhören!", rief Fräulein Rottenmeier ins Zimmer
+hinein. Ihre Stimme wurde übertönt von der Musik. Jetzt lief sie
+auf den Jungen zu--aber auf einmal hatte sie etwas zwischen den
+Füßen, sie sah auf den Boden: ein grausiges, schwarzes Tier kroch
+ihr zwischen den Füßen durch--eine Schildkröte. Jetzt tat
+Fräulein Rottenmeier einen Sprung in die Höhe, wie sie seit vielen
+Jahren keinen getan hatte, dann schrie sie aus Leibeskräften:
+"Sebastian! Sebastian!"
+
+Plötzlich hielt der Orgelspieler inne, denn diesmal hatte die
+Stimme die Musik übertönt. Sebastian stand draußen vor der halb
+offenen Tür und krümmte sich vor Lachen, denn er hatte zugesehen,
+wie der Sprung vor sich ging. Endlich kam er herein. Fräulein
+Rottenmeier war auf einen Stuhl niedergesunken.
+
+"Fort mit allem, Mensch und Tier! Schaffen Sie sie weg, Sebastian,
+sofort!", rief sie ihm entgegen. Sebastian gehorchte bereitwillig,
+zog den Jungen hinaus, der schnell seine Schildkröte erfasst hatte,
+drückte ihm draußen etwas in die Hand und sagte: "Vierzig für
+Fräulein Klara, und vierzig fürs Spielen, das hast du gut gemacht";
+damit schloss er hinter ihm die Haustür. Im Studierzimmer war es
+wieder ruhig geworden; die Studien wurden wieder fortgesetzt, und
+Fräulein Rottenmeier hatte sich nun auch festgesetzt in dem Zimmer,
+um durch ihre Gegenwart ähnliche Gräuel zu verhüten. Den Vorfall
+wollte sie nach den Unterrichtsstunden untersuchen und den
+Schuldigen so bestrafen, dass er daran denken würde.
+
+Schon wieder klopfte es an die Tür, und herein trat abermals
+Sebastian mit der Nachricht, es sei ein großer Korb gebracht worden,
+der sogleich an Fräulein Klara selbst abzugeben sei.
+
+"An mich?", fragte Klara erstaunt und äußerst neugierig, was das
+sein möchte; "zeigen Sie doch gleich einmal her, wie er aussieht."
+
+Sebastian brachte einen bedeckten Korb herein und entfernte sich
+dann eilig wieder.
+
+"Ich denke, erst wird der Unterricht beendet, dann der Korb
+ausgepackt", bemerkte Fräulein Rottenmeier.
+
+Klara konnte sich nicht vorstellen, was man ihr gebracht hatte; sie
+schaute sehr verlangend nach dem Korb.
+
+"Herr Kandidat", sagte sie, sich selbst in ihrem Deklinieren
+unterbrechend, "könnte ich nicht nur einmal schnell hineinsehen, um
+zu wissen, was drin ist, und dann gleich wieder fortfahren?"
+
+"In einer Hinsicht könnte man dafür, in einer anderen dawider sein",
+entgegnete der Herr Kandidat; "(dafür) spräche der Grund, dass,
+wenn nun Ihre ganze Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand gerichtet
+ist--"; die Rede konnte nicht beendigt werden. Der Deckel des
+Korbes saß nur lose darauf, und nun sprangen mit einem Mal ein,
+zwei drei und wieder zwei und immer noch mehr junge Kätzchen
+darunter hervor und ins Zimmer hinaus, und mit einer so
+unbegreiflichen Schnelligkeit fuhren sie überall herum, dass es war,
+als wäre das ganze Zimmer voll solcher Tierchen. Sie sprangen
+über die Stiefel des Herrn Kandidaten, bissen an seinen
+Beinkleidern, kletterten am Kleid von Fräulein Rottenmeier empor,
+krabbelten um ihre Füße herum, sprangen an Klaras Sessel hinauf,
+kratzten, krabbelten, miauten; es war ein arges Gewirre. Klara
+rief immerfort voller Entzücken: "Oh, die niedlichen Tierchen! Die
+lustigen Sprünge! Sieh! Sieh! Heidi, hier, dort, sieh dieses!"
+Heidi schoss ihnen vor Freude in alle Winkel nach. Der Herr
+Kandidat stand sehr verlegen am Tisch und zog bald den einen, bald
+den andern Fuß in die Höhe, um ihn dem unheimlichen Gekrabbel zu
+entziehen. Fräulein Rottenmeier saß erst sprachlos vor Entsetzen
+in ihrem Sessel, dann fing sie an aus Leibeskräften zu schreien:
+"Tinette! Tinette! Sebastian! Sebastian!", denn vom Sessel
+aufzustehen konnte sie unmöglich wagen, da konnten ja mit einem Mal
+alle die kleinen Scheusale an ihr emporspringen.
+
+Endlich kamen Sebastian und Tinette auf die wiederholten Hilferufe
+herbei, und jener packte gleich eins nach dem andern der kleinen
+Geschöpfe in den Korb hinein und trug sie auf den Estrich zu dem
+Katzenlager, das er für die zwei von gestern bereitet hatte.
+
+Auch am heutigen Tage hatte kein Gähnen während der
+Unterrichtsstunden stattgefunden. Am späten Abend, als Fräulein
+Rottenmeier sich von den Aufregungen des Morgens wieder hinlänglich
+erholt hatte, berief sie Sebastian und Tinette ins Studierzimmer
+herauf, um hier eine gründliche Untersuchung über die strafwürdigen
+Vorgänge anzustellen. Nun kam es denn heraus, dass Heidi auf
+seinem gestrigen Ausflug die sämtlichen Ereignisse vorbereitet und
+herbeigeführt hatte. Fräulein Rottenmeier saß weiß vor Entrüstung
+da und konnte erst keine Worte für ihre Empfindungen finden. Sie
+winkte mit der Hand, dass Sebastian und Tinette sich entfernen
+sollten. Jetzt wandte sie sich an Heidi, das neben Klaras Sessel
+stand und nicht recht begriff, was es verbrochen hatte.
+
+"Adelheid", begann sie mit strengem Ton, "ich weiß nur (eine)
+Strafe, die dir empfindlich sein könnte, denn du bist eine Barbarin;
+aber wir wollen sehen, ob du unten im dunklen Keller bei Molchen
+und Ratten nicht zahm wirst, dass du dir keine solchen Dinge mehr
+einfallen lässt."
+
+Heidi hörte still und verwundert sein Urteil an, denn in einem
+schreckhaften Keller war es noch nie gewesen, der anstoßende Raum
+in der Almhütte, den der Großvater Keller nannte, wo immer die
+fertigen Käse lagen und die frische Milch stand, war eher ein
+anmutiger und einladender Ort, und Ratten und Molche hatte es noch
+keine gesehen.
+
+Aber Klara erhob einen lauten Jammer: "Nein, nein, Fräulein
+Rottenmeier, man muss warten, bis der Papa da ist; er hat ja
+geschrieben, er komme nun bald, und dann will ich ihm alles
+erzählen, und er sagt dann schon, was mit Heidi geschehen soll."
+
+Gegen diesen Oberrichter durfte Fräulein Rottenmeier nichts
+einwenden, umso weniger, da er wirklich in Bälde zu erwarten war.
+Sie stand auf und sagte etwas grimmig: "Gut, Klara, aber auch ich
+werde ein Wort mit Herrn Sesemann sprechen." Damit verließ sie das
+Zimmer.
+
+Es verflossen nun ein paar ungestörte Tage, aber Fräulein
+Rottenmeier kam nicht mehr aus der Aufregung heraus, stündlich trat
+ihr die Täuschung vor Augen, die sie in Heidis Persönlichkeit
+erlebt hatte, und es war ihr, als sei seit seiner Erscheinung im
+Hause Sesemann alles aus den Fugen gekommen und komme nicht wieder
+hinein. Klara war sehr vergnügt; sie langweilte sich nie mehr,
+denn in den Unterrichtsstunden machte Heidi die kurzweiligsten
+Sachen; die Buchstaben machte es immer alle durcheinander und
+konnte sie nie kennen lernen, und wenn der Herr Kandidat mitten im
+Erklären und Beschreiben ihrer Formen war, um sie ihm anschaulicher
+zu machen und als Vergleichung etwa von einem Hörnchen oder einem
+Schnabel sprach dabei, rief es auf einmal in aller Freude aus: "Es
+ist eine Geiß!", oder: "Es ist ein Raubvogel!" Denn die
+Beschreibungen weckten in seinem Gehirn allerlei Vorstellungen, nur
+keine Buchstaben. In den späteren Nachmittagsstunden saß Heidi
+wieder bei Klara und erzählte ihr immer wieder von der Alm und dem
+Leben dort, so viel und so lange, bis das Verlangen darnach in ihm
+so brennend wurde, dass es immer zum Schluss versicherte: "Nun muss
+ich gewiss wieder heim! Morgen muss ich gewiss gehen!" Aber Klara
+beschwichtigte immer wieder diese Anfälle und bewies Heidi, dass es
+doch sicher dableiben müsse, bis der Papa komme; dann werde man
+schon sehen, wie es weitergehe. Wenn Heidi alsdann immer wieder
+nachgab und gleich wieder zufrieden war, so half ihm eine fröhliche
+Aussicht dazu, die es im Stillen hatte, dass mit jedem Tage, den es
+noch dablieb, sein Häuflein Brötchen für die Großmutter wieder um
+zwei größer würde, denn mittags und abends lag immer ein schönes
+Weißbrötchen bei seinem Teller; das steckte es gleich ein, denn es
+hätte das Brötchen nie essen können beim Gedanken, dass die
+Großmutter nie eines habe und das harte, schwarze Brot fast nicht
+mehr essen konnte. Nach Tisch saß Heidi jeden Tag ein paar Stunden
+lang ganz allein in seinem Zimmer und regte sich nicht, denn dass
+es in Frankfurt verboten war, nur so hinauszulaufen, wie es auf der
+Alm getan, das hatte es nun begriffen und tat es nie mehr. Mit
+Sebastian drüben im Esszimmer ein Gespräch führen durfte es auch
+nicht, das hatte Fräulein Rottenmeier auch verboten, und mit
+Tinette eine Unterhaltung zu probieren, daran kam ihm kein Sinn; es
+ging ihr immer scheu aus dem Wege, denn sie redete nur in
+höhnischem Ton mit ihm und spöttelte es fortwährend an, und Heidi
+verstand ihre Art ganz gut, und dass sie es nur immer ausspottete.
+So saß Heidi täglich da und hatte alle Zeit, sich auszudenken, wie
+nun die Alm wieder grün war und wie die gelben Blümchen im
+Sonnenschein glitzerten und wie alles leuchtete rings um die Sonne,
+der Schnee und die Berge und das ganze weite Tal, und Heidi konnte
+es manchmal fast nicht mehr aushalten vor Verlangen, wieder dort zu
+sein. Die Base hatte ja auch gesagt, es könne wieder heimgehen,
+wann es wolle. So kam es, dass Heidi eines Tages es nicht mehr
+aushielt; es packte in aller Eile seine Brötchen in das große rote
+Halstuch zusammen, setzte sein Strohhütchen auf und zog aus. Aber
+schon unter der Haustür traf es auf ein großes Reisehindernis, auf
+Fräulein Rottenmeier selbst, die eben von einem Ausgang
+zurückkehrte. Sie stand still und schaute in starrem Erstaunen
+Heidi von oben bis unten an, und ihr Blick blieb vorzüglich auf dem
+gefüllten roten Halstuch haften. Jetzt brach sie los.
+
+"Was ist das für ein Aufzug? Was heißt das überhaupt? Habe ich
+dir nicht streng verboten, je wieder herumzustreichen? Nun
+probierst du's doch wieder und dazu noch völlig aussehend wie eine
+Landstreicherin."
+
+"Ich wollte nicht herumstreichen, ich wollte nur heimgehen",
+entgegnete Heidi erschrocken.
+
+"Wie? Was? Heimgehen? Heimgehen wolltest du?" Fräulein
+Rottenmeier schlug die Hände zusammen vor Aufregung. "Fortlaufen!
+Wenn das Herr Sesemann wüsste! Fortlaufen aus seinem Hause! Mach
+nicht, dass er das je erfährt! Und was ist dir denn nicht recht in
+seinem Hause? Wirst du nicht viel besser behandelt, als du
+verdienst? Fehlt es dir an irgendetwas? Hast du je in deinem
+ganzen Leben eine Wohnung oder einen Tisch oder eine Bedienung
+gehabt, wie du hier hast? Sag!"
+
+"Nein", entgegnete Heidi.
+
+"Das weiß ich wohl!", fuhr die Dame eifrig fort. "Nichts fehlt dir,
+gar nichts, du bist ein ganz unglaublich undankbares Kind, und vor
+lauter Wohlsein weißt du nicht, was du noch alles anstellen willst!"
+
+Aber jetzt kam dem Heidi alles obenauf, was in ihm war, und brach
+hervor: "Ich will ja nur heim, und wenn ich so lang nicht komme, so
+muss das Schneehöppli immer klagen, und die Großmutter erwartet
+mich, und der Distelfink bekommt die Rute, wenn der Geißenpeter
+keinen Käse bekommt, und hier kann man gar nie sehen, wie die Sonne
+gute Nacht sagt zu den Bergen; und wenn der Raubvogel in Frankfurt
+obenüber fliegen würde, so würde er noch viel lauter krächzen, dass
+so viele Menschen beieinander sitzen und einander bös machen und
+nicht auf den Felsen gehen, wo es einem wohl ist."
+
+"Barmherzigkeit, das Kind ist übergeschnappt!", rief Fräulein
+Rottenmeier aus und stürzte mit Schrecken die Treppe hinauf, wo sie
+sehr unsanft gegen den Sebastian rannte, der eben hinunter wollte.
+"Holen Sie auf der Stelle das unglückliche Wesen herauf!", rief sie
+ihm zu, indem sie sich den Kopf rieb, denn sie war hart angestoßen.
+
+"Ja, ja, schon recht, danke schön", gab Sebastian zurück und rieb
+sich den seinen, denn er war noch härter angefahren.
+
+Heidi stand mit flammenden Augen noch auf derselben Stelle fest und
+zitterte vor innerer Erregung am ganzen Körper.
+
+"Na, schon wieder was angestellt?", fragte Sebastian lustig; als er
+aber Heidi, das sich nicht rührte, recht ansah, klopfte er ihm
+freundlich auf die Schulter und sagte tröstend: "Pah! Pah! Das
+muss sich das Mamsellchen nicht so zu Herzen nehmen, nur lustig,
+das ist die Hauptsache! Sie hat mir eben jetzt auch fast ein Loch
+in den Kopf gerannt; aber nur nicht einschüchtern lassen! Na?
+Immer noch auf demselben Fleck? Wir müssen hinauf, sie hat's
+befohlen."
+
+Heidi ging nun die Treppe hinauf, aber langsam und leise und gar
+nicht, wie sonst seine Art war. Das tat dem Sebastian Leid zu
+sehen; er ging hinter dem Heidi her und sprach ermutigende Worte zu
+ihm: "Nur nicht abgeben! Nur nicht traurig werden! Nur immer
+tapfer darauf zu! Wir haben ja ein ganz vernünftiges Mamsellchen,
+hat noch gar nie geweint, seit es bei uns ist; sonst weinen sie ja
+zwölfmal im Tag in dem Alter, das kennt man. Die Kätzchen sind
+auch lustig droben, die springen auf dem ganzen Estrich herum und
+tun wie närrisch. Nachher gehen wir mal zusammen hinauf und
+schauen ihnen zu, wenn die Dame drinnen weg ist, ja?"
+
+Heidi nickte ein wenig mit dem Kopf, aber so freudlos, dass es dem
+Sebastian recht zu Herzen ging und er ganz teilnehmend dem Heidi
+nachschaute, wie es nach seinem Zimmer hin schlich.
+
+Am Abendessen heute sagte Fräulein Rottenmeier kein Wort, aber
+fortwährend warf sie sonderbar wachsame Blicke zu Heidi hinüber, so
+als erwartete sie, es könnte plötzlich etwas Unerhörtes unternehmen;
+aber Heidi saß mäuschenstill am Tisch und rührte sich nicht, es aß
+nicht und trank nicht; nur sein Brötchen hatte es schnell in die
+Tasche gesteckt.
+
+Am folgenden Morgen, als der Herr Kandidat die Treppe heraufkam,
+winkte ihn Fräulein Rottenmeier geheimnisvoll ins Esszimmer herein,
+und hier teilte sie ihm in großer Aufregung ihre Besorgnis mit, die
+Luftveränderung, die neue Lebensart und die ungewohnten Eindrücke
+hätten das Kind um den Verstand gebracht, und sie erzählte ihm von
+Heidis Fluchtversuch und wiederholte ihm von seinen sonderbaren
+Reden, was sie noch wusste. Aber der Herr Kandidat besänftigte und
+beruhigte Fräulein Rottenmeier, indem er sie versicherte, dass er
+die Wahrnehmung gemacht habe, die Adelheid sei zwar einerseits
+allerdings eher exzentrisch, aber anderseits doch wieder bei
+richtigem Verstand, so dass sich nach und nach bei einer allseitig
+erwogenen Behandlung das nötige Gleichgewicht einstellen könne, was
+er im Auge habe; er finde den Umstand wichtiger, dass er durchaus
+nicht über das Abc hinauskomme mit ihr, indem sie die Buchstaben
+nicht zu fassen imstande sei.
+
+Fräulein Rottenmeier fühlte sich beruhigter und entließ den Herrn
+Kandidaten zu seiner Arbeit. Am späteren Nachmittag stieg ihr die
+Erinnerung an Heidis Aufzug bei seiner vorgehabten Abreise auf, und
+sie beschloss, die Gewandung des Kindes durch verschiedene
+Kleidungsstücke der Klara in den nötigen Stand zu setzen, bevor
+Herr Sesemann erscheinen würde. Sie teilte ihre Gedanken darüber
+an Klara mit, und da diese mit allem einverstanden war und dem
+Heidi eine Menge Kleider und Tücher und Hüte schenken wollte,
+verfügte sich die Dame in Heidis Zimmer, um seinen Kleiderschrank
+zu besehen und zu untersuchen, was da von dem Vorhandenen bleiben
+und was entfernt werden solle. Aber in wenig Minuten kam sie
+wieder zurück mit Gebärden des Abscheus. "Was muss ich entdecken,
+Adelheid!", rief sie aus. "Es ist nie dagewesen! In deinem
+Kleiderschrank, einem Schrank für Kleider, Adelheid, im Fuß dieses
+Schrankes, was finde ich? Einen Haufen kleiner Brote! Brot, sage
+ich, Klara, im Kleiderschrank! Und einen solchen Haufen
+aufspeichern!"--"Tinette", rief sie jetzt ins Esszimmer hinaus,
+"schaffen Sie mir das alte Brot fort aus dem Schrank der Adelheid
+und den zerdrückten Strohhut auf dem Tisch!"
+
+"Nein! Nein!", schrie Heidi auf; "ich muss den Hut haben, und die
+Brötchen sind für die Großmutter", und Heidi wollte der Tinette
+nachstürzen, aber es wurde von Fräulein Rottenmeier festgehalten.
+
+"Du bleibst hier und der Kram wird hingebracht, wo er hingehört",
+sagte sie bestimmt und hielt das Kind zurück. Aber nun warf sich
+Heidi an Klaras Sessel nieder und fing ganz verzweiflungsvoll zu
+weinen an, immer lauter und schmerzlicher, und schluchzte ein Mal
+ums andere in seinem Jammer auf: "Nun hat die Großmutter keine
+Brötchen mehr. Sie waren für die Großmutter, nun sind sie alle
+fort und die Großmutter bekommt keine!", und Heidi weinte auf, als
+wollte ihm das Herz zerspringen. Fräulein Rottenmeier lief hinaus.
+Klara wurde es angst und bange bei dem Jammer. "Heidi, Heidi,
+weine nur nicht so", sagte sie bittend, "hör mich nur! Jammere nur
+nicht so, sieh, ich verspreche dir, ich gebe dir gerade so viel
+Brötchen für die Großmutter, oder noch mehr, wenn du einmal
+heimgehst, und dann sind diese frisch und weich, und die deinen
+wären ja ganz hart geworden und waren es schon. Komm, Heidi, weine
+nur nicht mehr so!"
+
+Heidi konnte noch lange nicht aus seinem Schluchzen herauskommen;
+aber es verstand Klaras Trost und hielt sich daran, sonst hätte es
+gar nicht mehr zu weinen aufhören können. Es musste auch noch
+mehrere Male seiner Hoffnung gewiss werden und Klara, durch die
+letzten Anfälle von Schluchzen unterbrochen, fragen: "Gibst du mir
+so viele, viele, wie ich hatte, für die Großmutter?"
+
+Und Klara versicherte immer wieder: "Gewiss, ganz gewiss, noch mehr,
+sei nur wieder froh!"
+
+Noch zum Abendtisch kam Heidi mit den rot verweinten Augen, und als
+es sein Brötchen erblickte, musste es gleich noch einmal
+aufschluchzen. Aber es bezwang sich jetzt mit Gewalt, denn es
+verstand, dass es sich am Tisch ruhig verhalten musste. Sebastian
+machte heute jedes Mal die merkwürdigsten Gebärden, wenn er in
+Heidis Nähe kam; er deutete bald auf seinen, bald auf Heidis Kopf,
+dann nickte er wieder und kniff die Augen zu, so als wollte er
+sagen: "Nur getrost! Ich hab's schon gemerkt und besorgt."
+
+Als Heidi später in sein Zimmer kam und in sein Bett steigen wollte,
+lag sein zerdrücktes Strohhütchen unter der Decke versteckt. Mit
+Entzücken zog es den alten Hut hervor, zerdrückte ihn vor lauter
+Freude noch ein wenig mehr und versteckte ihn dann, in ein
+Taschentüchlein eingewickelt, in die allerhinterste Ecke seines
+Schrankes. Das Hütchen hatte der Sebastian unter die Decke
+gesteckt; er war zu gleicher Zeit mit Tinette im Esszimmer gewesen,
+als diese gerufen wurde, und hatte Heidis Jammerruf vernommen.
+Dann war er Tinette nachgegangen, und als sie aus Heidis Zimmer
+heraustrat mit ihrer Brotlast und dem Hütchen oben darauf, hatte er
+schnell dieses weggenommen und ihr zugerufen: "Das will ich schon
+forttun." Darauf hatte er es in aller Freude für Heidi gerettet,
+was er ihm beim Abendessen zur Erheiterung andeuten wollte.
+
+
+
+
+Der Hausherr hört allerlei in seinem Hause, das er noch nicht
+gehört hat
+
+Einige Tage nach diesen Ereignissen war im Hause Sesemann große
+Lebendigkeit und ein eifriges Treppauf- und Treppabrennen, denn
+eben war der Hausherr von seiner Reise zurückgekehrt, und aus dem
+bepackten Wagen wurde von Sebastian und Tinette eine Last nach der
+anderen hinaufgetragen, denn Herr Sesemann brachte immer eine Menge
+schöner Sachen mit nach Hause.
+
+Er selbst war vor allem in das Zimmer seiner Tochter eingetreten,
+um sie zu begrüßen. Heidi saß bei ihr, denn es war die Zeit des
+späten Nachmittags, da die beiden immer zusammen waren. Klara
+begrüßte ihren Vater mit großer Zärtlichkeit, denn sie liebte ihn
+sehr, und der gute Papa grüßte sein Klärchen nicht weniger
+liebevoll. Dann streckte er seine Hand dem Heidi entgegen, das
+sich leise in eine Ecke zurückgezogen hatte, und sagte freundlich:
+"Und das ist unsre kleine Schweizerin; komm her, gib mir mal eine
+Hand! So ist's recht! Nun sag mir mal, seid ihr auch gute Freunde
+zusammen, Klara und du? Nicht zanken und böse werden, und dann
+weinen und dann versöhnen, und dann wieder von vorn anfangen, nun?"
+
+"Nein, Klara ist immer gut mit mir", entgegnete Heidi.
+
+"Und Heidi hat auch noch gar nie versucht zu zanken, Papa", warf
+Klara schnell ein.
+
+"So ist's gut, das hör ich gern", sagte der Papa, indem er aufstand.
+"Nun musst du aber erlauben, Klärchen, dass ich etwas genieße;
+heute habe ich noch nichts bekommen. Nachher komm ich wieder zu
+dir und du sollst sehen, was ich mitgebracht habe!"
+
+Herr Sesemann trat ins Esszimmer ein, wo Fräulein Rottenmeier den
+Tisch überschaute, der für sein Mittagsmahl gerüstet war. Nachdem
+Herr Sesemann sich niedergelassen und die Dame ihm gegenüber Platz
+genommen hatte und aussah wie ein lebendiges Missgeschick, wandte
+sich der Hausherr zu ihr: "Aber Fräulein Rottenmeier, was muss ich
+denken? Sie haben zu meinem Empfang ein wahrhaft erschreckendes
+Gesicht aufgesetzt. Wo fehlt es denn? Klärchen ist ganz munter."
+
+"Herr Sesemann", begann die Dame mit gewichtigem Ernst, "Klara ist
+mit betroffen, wir sind fürchterlich getäuscht worden."
+
+"Wieso?", fragte Herr Sesemann und trank in aller Ruhe einen
+Schluck Wein.
+
+"Wir hatten ja beschlossen, wie Sie wissen, Herr Sesemann, eine
+Gespielin für Klara ins Haus zu nehmen, und da ich ja weiß, wie
+sehr Sie darauf halten, dass nur Gutes und Edles Ihre Tochter
+umgebe, hatte ich meinen Sinn auf ein junges Schweizermädchen
+gerichtet, indem ich hoffte, eines jener Wesen bei uns eintreten zu
+sehen, von denen ich schon so oft gelesen, welche, der reinen
+Bergluft entsprossen, sozusagen, ohne die Erde zu berühren, durch
+das Leben gehen."
+
+"Ich glaube zwar", bemerkte hier Herr Sesemann, "dass auch die
+Schweizerkinder den Erdboden berühren, wenn sie vorwärts kommen
+wollen; sonst wären ihnen wohl Flügel gewachsen statt der Füße."
+
+"Ach, Herr Sesemann, Sie verstehen mich wohl", fuhr das Fräulein
+fort; "Ich meinte eine jener so bekannten, in den hohen, reinen
+Bergregionen lebenden Gestalten, die nur wie ein idealer Hauch an
+uns vorüberziehen."
+
+"Was sollte aber meine Klara mit einem idealen Hauch anfangen,
+Fräulein Rottenmeier?"
+
+"Nein, Herr Sesemann, ich scherze nicht, die Sache ist mir ernster,
+als Sie denken; ich bin schrecklich, wirklich ganz schrecklich
+getäuscht worden."
+
+"Aber worin liegt denn das Schreckliche? So gar erschrecklich
+sieht mir das Kind nicht aus", bemerkte ruhig Herr Sesemann.
+
+"Sie sollten nur (eines) wissen, Herr Sesemann, nur das (eine), mit
+was für Menschen und Tieren dieses Wesen Ihr Haus in Ihrer
+Abwesenheit bevölkert hat; davon könnte der Herr Kandidat erzählen."
+
+"Mit Tieren? Wie muss ich das verstehen, Fräulein Rottenmeier?"
+
+"Es ist eben nicht zu verstehen; die ganze Aufführung dieses Wesens
+wäre nicht zu verstehen, wenn nicht aus dem (einen) Punkte, dass es
+Anfälle von völliger Verstandesgestörtheit hat."
+
+Bis hierher hatte Herr Sesemann die Sache nicht für wichtig
+gehalten; aber Gestörtheit des Verstandes? Eine solche konnte ja
+für seine Tochter die bedenklichsten Folgen haben. Herr Sesemann
+schaute Fräulein Rottenmeier sehr genau an, so, als wollte er sich
+erst versichern, ob nicht etwa bei ihr eine derartige Störung zu
+bemerken sei. In diesem Augenblick wurde die Tür aufgetan und der
+Herr Kandidat angemeldet.
+
+"Ah, da kommt unser Herr Kandidat, der wird uns Aufschluss geben!",
+rief ihm Herr Sesemann entgegen. "Kommen Sie, kommen Sie, setzen
+Sie sich zu mir!" Herr Sesemann streckte dem Eintretenden die Hand
+entgegen. "Der Herr Kandidat trinkt eine Tasse schwarzen Kaffee
+mit mir, Fräulein Rottenmeier! Setzen Sie sich, setzen Sie sich--
+keine Komplimente! Und nun sagen Sie mir, Herr Kandidat, was ist
+mit dem Kinde, das als Gespielin meiner Tochter ins Haus gekommen
+ist und das Sie unterrichten. Was hat es für eine Bewandtnis mit
+den Tieren, die es ins Haus gebracht, und wie steht es mit seinem
+Verstand?"
+
+Der Herr Kandidat musste erst seine Freude über Herrn Sesemanns
+glückliche Rückkehr aussprechen und ihn willkommen heißen, weswegen
+er ja gekommen war; aber Herr Sesemann drängte ihn, dass er ihm
+Aufschluss gebe über die fraglichen Punkte. So begann denn der
+Herr Kandidat: "Wenn ich mich über das Wesen dieses jungen Mädchens
+aussprechen soll, Herr Sesemann, so möchte ich vor allem darauf
+aufmerksam machen, dass, wenn auch auf der einen Seite sich ein
+Mangel der Entwicklung, welcher durch eine mehr oder weniger
+vernachlässigte Erziehung, oder besser gesagt, etwas verspäteten
+Unterricht verursacht und durch die mehr oder weniger, jedoch
+durchaus nicht in jeder Beziehung zu verurteilende, im Gegenteil
+ihre guten Seiten unstreitig dartuende Abgeschiedenheit eines
+längeren Alpenaufenthalts, welcher, wenn er nicht eine gewisse
+Dauer überschreitet, ja ohne Zweifel seine gute Seite--"
+
+"Mein lieber Herr Kandidat", unterbrach hier Herr Sesemann, "Sie
+geben sich wirklich zu viel Mühe; sagen Sie mir, hat auch Ihnen das
+Kind einen Schrecken beigebracht durch eingeschleppte Tiere, und
+was halten Sie überhaupt von diesem Umgang für mein Töchterchen?"
+
+"Ich möchte dem jungen Mädchen in keiner Art zu nahe treten",
+begann der Herr Kandidat wieder, "denn wenn es auch auf der einen
+Seite in einer Art von gesellschaftlicher Unerfahrenheit, welche
+mit dem mehr oder weniger unkultivierten Leben, in welchem das
+junge Mädchen bis zu dem Augenblick seiner Versetzung nach
+Frankfurt sich bewegte, welche Versetzung allerdings in die
+Entwicklung dieses, ich möchte sagen noch völlig, wenigstens
+teilweise unentwickelten, aber anderseits mit nicht zu verachtenden
+Anlagen begabten und wenn allseitig umsichtig geleitet--"
+
+"Entschuldigen Sie, Herr Kandidat, bitte, lassen Sie sich nicht
+stören, ich werde--ich muss schnell einmal nach meiner Tochter
+sehen." Damit lief Herr Sesemann zur Tür hinaus und kam nicht
+wieder. Drüben im Studierzimmer setzte er sich zu seinem
+Töchterchen hin; Heidi war aufgestanden. Herr Sesemann wandte sich
+nach dem Kinde um: "Hör mal, Kleine, hol mir doch schnell--wart
+einmal--hol mir mal"--(Herr Sesemann wusste nicht recht, was er
+bedurfte, Heidi sollte aber ein wenig ausgeschickt werden)--"hol
+mir doch mal ein Glas Wasser."
+
+"Frisches?", fragte Heidi.
+
+"Jawohl! Jawohl! Recht frisches!", gab Herr Sesemann zurück.
+Heidi verschwand.
+
+"Nun, mein liebes Klärchen", sagte der Papa, indem er ganz nah an
+sein Töchterchen heranrückte und dessen Hand in die seinige legte,
+"sag du mir klar und fasslich: Was für Tiere hat diese deine
+Gespielin ins Haus gebracht und warum muss Fräulein Rottenmeier
+denken, sie sei zeitweise nicht ganz recht im Kopf; kannst du mir
+das sagen?"
+
+Das konnte Klara, denn die erschrockene Dame hatte auch ihr von
+Heidis sich verwirrenden Reden gesprochen, die aber für Klara alle
+einen Sinn hatten. Sie erzählte erst dem Vater die Geschichten von
+der Schildkröte und den jungen Katzen und erklärte ihm dann Heidis
+Reden, welche die Dame so erschreckt hatten. Jetzt lachte Herr
+Sesemann herzlich. "So willst du nicht, dass ich das Kind nach
+Haus schicke, Klärchen, du bist seiner nicht müde?", fragte der
+Vater.
+
+"Nein, nein, Papa, tu nur das nicht!", rief Klara abwehrend aus.
+"Seit Heidi da ist, begegnet immer etwas, jeden Tag, und es ist so
+kurzweilig, ganz anders als vorher, da begegnete nie etwas, und
+Heidi erzählt mir auch so viel."
+
+"Schon gut, schon gut, Klärchen, da kommt ja auch deine Freundin
+schon wieder. Na, schönes, frisches Wasser geholt?", fragte Herr
+Sesemann, da ihm Heidi nun ein Glas Wasser hinstreckte.
+
+"Ja, frisch vom Brunnen", antwortete Heidi.
+
+"Du bist doch nicht selbst zum Brunnen gelaufen, Heidi?", sagte
+Klara.
+
+"Doch gewiss, es ist ganz frisch, aber ich musste weit gehen, denn
+am ersten Brunnen waren so viele Leute. Da ging ich die Straße
+ganz hinab, aber beim zweiten waren wieder so viele Leute; da ging
+ich in die andere Straße hinein und dort nahm ich Wasser, und der
+Herr mit den weißen Haaren lässt Herrn Sesemann freundlich grüßen."
+
+"Na, die Expedition ist gut", lachte Herr Sesemann, "und wer ist
+denn der Herr?"
+
+"Er kam beim Brunnen vorbei und dann stand er still und sagte:
+'Weil du doch ein Glas hast, so gib mir auch einmal zu
+trinken; wem bringst du dein Glas Wasser?' Und ich sagte:
+'Herrn Sesemann.' Da lachte er sehr stark, und dann
+sagte er den Gruß und auch noch, Herr Sesemann solle sich's
+schmecken lassen."
+
+"So, und wer lässt mir denn wohl den guten Wunsch sagen? Wie sah
+der Herr denn weiter aus?", fragte Herr Sesemann.
+
+"Er lacht freundlich und hat eine dicke goldene Kette und ein
+goldenes Ding hängt daran mit einem großen roten Stein und auf
+seinem Stock ist ein Rosskopf."
+
+"Das ist der Herr Doktor"--"Das ist mein alter Doktor", sagten
+Klara und ihr Vater wie aus einem Munde, und Herr Sesemann lachte
+noch ein wenig in sich hinein im Gedanken an seinen Freund und
+dessen Betrachtungen über diese neue Weise, seinen Wasserbedarf
+sich zuführen zu lassen.
+
+Noch an demselben Abend erklärte Herr Sesemann, als er allein mit
+Fräulein Rottenmeier im Esszimmer saß, um allerlei häusliche
+Angelegenheiten mit ihr zu besprechen, die Gespielin seiner Tochter
+werde im Hause bleiben; er finde, das Kind sei in einem normalen
+Zustand, und seine Gesellschaft sei seiner Tochter sehr lieb und
+angenehmer als jede andere. "Ich wünsche daher", setzte Herr
+Sesemann sehr bestimmt hinzu, "dass dieses Kind jederzeit durchaus
+freundlich behandelt und seine Eigentümlichkeiten nicht als
+Vergehen betrachtet werden. Sollten Sie übrigens mit dem Kinde
+nicht allein fertig werden, Fräulein Rottenmeier, so ist ja eine
+gute Hilfe für Sie in Aussicht, da in nächster Zeit meine Mutter zu
+ihrem längeren Aufenthalt in mein Haus kommt, und meine Mutter wird
+mit jedem Menschen fertig, wie er sich auch anstelle, das wissen
+Sie ja wohl, Fräulein Rottenmeier?"
+
+"Jawohl, das weiß ich, Herr Sesemann", entgegnete die Dame, aber
+nicht mit dem Ausdruck der Erleichterung im Hinblick auf die
+angezeigte Hilfe.--
+
+Herr Sesemann hatte diesmal nur eine kurze Zeit Ruhe zu Hause,
+schon nach vierzehn Tagen riefen ihn seine Geschäfte wieder nach
+Paris, und er tröstete sein Töchterchen, das mit der nahen Abreise
+nicht einverstanden war, mit der Aussicht auf die baldige Ankunft
+der Großmama, die schon nach einigen Tagen erwartet werden konnte.
+
+Kaum war auch Herr Sesemann abgereist, als schon der Brief anlangte,
+der die Abreise der Frau Sesemann aus Holstein, wo sie auf einem
+alten Gute wohnte, anzeigte und die bestimmte Zeit ihrer Ankunft
+auf den folgenden Tag meldete, damit der Wagen nach dem Bahnhof
+geschickt würde, um sie abzuholen.
+
+Klara war voller Freude über die Nachricht und erzählte noch an
+demselben Abend dem Heidi so viel und so lange von der Großmama,
+dass Heidi auch anfing, von der 'Großmama' zu reden,
+worauf Fräulein Rottenmeier Heidi mit Missbilligung anblickte, was
+aber das Kind auf nichts Besonderes bezog, denn es fühlte sich
+unter fortdauernder Missbilligung der Dame. Als es sich dann
+später entfernte, um in sein Schlafzimmer zu gehen, berief Fräulein
+Rottenmeier es erst in das ihrige herein und erklärte ihm hier, es
+habe niemals den Namen 'Großmama' anzuwenden, sondern
+wenn Frau Sesemann nun da sei, habe es sie stets 'gnädige
+Frau' anzureden. "Verstehst du das?", fragte die Dame, als
+Heidi sie etwas zweifelhaft ansah; sie gab ihm aber einen so
+abschließenden Blick zurück, dass Heidi sich keine Erklärung mehr
+erbat, obschon es den Titel nicht verstanden hatte.
+
+
+
+
+Eine Großmama
+
+Am folgenden Abend waren große Erwartungen und lebhafte
+Vorbereitungen im Hause Sesemann sichtbar, man konnte deutlich
+bemerken, dass die erwartete Dame ein bedeutendes Wort im Hause
+mitzusprechen hatte und dass jedermann großen Respekt vor ihr
+empfand. Tinette hatte ein ganz neues, weißes Deckelchen auf den
+Kopf gesetzt, und Sebastian raffte eine Menge von Schemeln zusammen
+und stellte sie an alle passenden Stellen hin, damit die Dame
+gleich einen Schemel unter den Füßen finde, wohin sie sich auch
+setzen möge. Fräulein Rottenmeier ging zur Musterung der Dinge
+sehr aufrecht durch die Zimmer, so wie um anzudeuten, dass, wenn
+auch eine zweite Herrschermacht herannahe, die ihrige dennoch nicht
+am Erlöschen sei.
+
+Jetzt rollte der Wagen vor das Haus, und Sebastian und Tinette
+stürzten die Treppe hinunter; langsam und würdevoll folgte Fräulein
+Rottenmeier nach, denn sie wusste, dass auch sie zum Empfang der
+Frau Sesemann zu erscheinen hatte. Heidi war beordert worden, sich
+in sein Zimmer zurückzuziehen und da zu warten, bis es gerufen
+würde, denn die Großmutter würde zuerst bei Klara eintreten und
+diese wohl allein sehen wollen. Heidi setzte sich in einen Winkel
+und repetierte seine Anrede. Es währte gar nicht lange, so steckte
+die Tinette den Kopf ein klein wenig unter Heidis Zimmertür und
+sagte kurz angebunden wie immer: "Hinübergehen ins Studierzimmer!"
+
+Heidi hatte Fräulein Rottenmeier nicht fragen dürfen, wie es mit
+der Anrede sei, aber es dachte, die Dame habe sich nur versprochen,
+denn es hatte bis jetzt immer erst den Titel nennen gehört und
+nachher den Namen; so hatte es sich nun die Sache zurechtgelegt.
+Wie es die Tür zum Studierzimmer aufmachte, rief ihm die Großmutter
+mit freundlicher Stimme entgegen: "Ah, da kommt ja das Kind! Komm
+mal her zu mir und lass dich recht ansehen."
+
+Heidi trat heran, und mit seiner klaren Stimme sagte es sehr
+deutlich: "Guten Tag, Frau Gnädige."
+
+"Warum nicht gar!", lachte die Großmama. "Sagt man so bei euch?
+Hast du das daheim auf der Alp gehört?"
+
+"Nein, bei uns heißt niemand so", erklärte Heidi ernsthaft.
+
+"So, bei uns auch nicht", lachte die Großmama wieder und klopfte
+Heidi freundlich auf die Wange. "Das ist nichts! In der
+Kinderstube bin ich die Großmama; so sollst du mich nennen, das
+kannst du wohl behalten, wie?"
+
+"Ja, das kann ich gut", versicherte Heidi, "vorher hab ich schon
+immer so gesagt."
+
+"So, so, verstehe schon!", sagte die Großmama und nickte ganz
+lustig mit dem Kopfe. Dann schaute sie Heidi genau an und nickte
+von Zeit zu Zeit wieder mit dem Kopf, und Heidi guckte ihr auch
+ganz ernsthaft in die Augen, denn da kam etwas so Herzliches heraus,
+dass es dem Heidi ganz wohl machte, und die ganze Großmama gefiel
+dem Heidi so, dass es sie unverwandt anschauen musste. Sie hatte
+so schöne weiße Haare, und um den Kopf ging eine schöne
+Spitzenkrause, und zwei breite Bänder flatterten von der Haube weg
+und bewegten sich immer irgendwie, so als ob stets ein leichter
+Wind um die Großmama wehe, was das Heidi ganz besonders anmutete.
+
+"Und wie heißt du, Kind?", fragte jetzt die Großmama.
+
+"Ich heiße nur Heidi; aber weil ich soll Adelheid heißen, so will
+ich schon Acht geben--"; Heidi stockte, denn es fühlte sich ein
+wenig schuldig, da es noch immer keine Antwort gab, wenn Fräulein
+Rottenmeier unversehens rief: "Adelheid!", indem es ihm noch immer
+nicht recht gegenwärtig war, dass dies sein Name sei, und Fräulein
+Rottenmeier war eben ins Zimmer getreten.
+
+"Frau Sesemann wird unstreitig billigen", fiel hier die eben
+Eingetretene ein, "dass ich einen Namen wählen musste, den man doch
+aussprechen kann, ohne sich selbst genieren zu müssen, schon um der
+Dienstboten willen."
+
+"Werteste Rottenmeier", entgegnete Frau Sesemann, "wenn ein Mensch
+einmal 'Heidi' heißt und an den Namen gewöhnt ist, so
+nenn ich ihn so, und dabei bleibt's!"
+
+Es war Fräulein Rottenmeier sehr genierlich, dass die alte Dame sie
+beständig nur bei ihrem Namen nannte, ohne weitere Titulatur; aber
+da war nichts zu machen; die Großmama hatte einmal ihre eigenen
+Wege, und diese ging sie, da half kein Mittel dagegen. Auch ihre
+fünf Sinne hatte die Großmama noch ganz scharf und gesund, und sie
+bemerkte, was im Hause vorging, sobald sie es betreten hatte.
+
+Als am Tage nach ihrer Ankunft Klara sich zur gewohnten Zeit nach
+Tisch niederlegte, setzte die Großmama sich neben sie auf einen
+Lehnstuhl und schloss ihre Augen für einige Minuten; dann stand sie
+schon wieder auf--denn sie war gleich wieder munter--und trat ins
+Esszimmer hinaus; da war niemand. "Die schläft", sagte sie vor
+sich hin, ging dann nach dem Zimmer der Dame Rottenmeier und
+klopfte kräftig an die Tür. Nach einiger Zeit erschien diese und
+fuhr erschrocken ein wenig zurück bei dem unerwarteten Besuch.
+
+"Wo hält sich das Kind auf um diese Zeit, und was tut es? Das
+wollte ich wissen", sagte Frau Sesemann.
+
+"In seinem Zimmer sitzt es, wo es sich nützlich beschäftigen könnte,
+wenn es den leisesten Tätigkeitstrieb hätte; aber Frau Sesemann
+sollte nur wissen, was für verkehrtes Zeug sich dieses Wesen oft
+ausdenkt und wirklich ausführt, Dinge, die ich in gebildeter
+Gesellschaft kaum erzählen könnte."
+
+"Das würde ich gerade auch tun, wenn ich so da drinnen säße wie
+dieses Kind, das kann ich Ihnen sagen, und Sie könnten zusehen, wie
+Sie mein Zeug in gebildeter Gesellschaft erzählen wollten! Jetzt
+holen Sie mir das Kind heraus und bringen Sie mir's in meine Stube,
+ich will ihm einige hübsche Bücher geben, die ich mitgebracht habe."
+
+"Das ist ja gerade das Unglück, das ist es ja eben!", rief Fräulein
+Rottenmeier aus und schlug die Hände zusammen. "Was sollte das
+Kind mit Büchern tun? In all dieser Zeit hat es noch nicht einmal
+das Abc erlernt; es ist völlig unmöglich, diesem Wesen auch nur
+(einen) Begriff beizubringen, davon kann der Herr Kandidat reden!
+Wenn dieser treffliche Mensch nicht die Geduld eines himmlischen
+Engels besäße, er hätte diesen Unterricht längst aufgegeben."
+
+"So, das ist merkwürdig, das Kind sieht nicht aus wie eines, das
+das Abc nicht erlernen kann", sagte Frau Sesemann. "Jetzt holen
+Sie mir's herüber, es kann vorläufig die Bilder in den Büchern
+ansehen."
+
+Fräulein Rottenmeier wollte noch einiges bemerken, aber Frau
+Sesemann hatte sich schon umgewandt und ging rasch ihrem Zimmer zu.
+Sie musste sich sehr verwundern über die Nachricht von Heidis
+Beschränktheit und gedachte, die Sache zu untersuchen, jedoch nicht
+mit dem Herrn Kandidaten, den sie zwar um seines guten Charakters
+willen sehr schätzte; sie grüßte ihn auch immer, wenn sie mit ihm
+zusammentraf, überaus freundlich, lief dann aber sehr schnell auf
+eine andere Seite, um nicht in ein Gespräch mit ihm verwickelt zu
+werden, denn seine Ausdrucksweise war ihr ein wenig beschwerlich.
+
+Heidi erschien im Zimmer der Großmama und machte die Augen weit auf,
+als es die prächtigen bunten Bilder in den großen Büchern sah,
+welche die Großmama mitgebracht hatte. Auf einmal schrie Heidi
+laut auf, als die Großmama wieder ein Blatt umgewandt hatte; mit
+glühendem Blick schaute es auf die Figuren, dann stürzten ihm
+plötzlich die hellen Tränen aus den Augen, und es fing gewaltig zu
+schluchzen an. Die Großmama schaute das Bild an. Es war eine
+schöne, grüne Weide, wo allerlei Tierlein herumweideten und an den
+grünen Gebüschen nagten. In der Mitte stand der Hirt, auf einen
+langen Stab gestützt, der schaute den fröhlichen Tierchen zu.
+Alles war wie in Goldschimmer gemalt, denn hinten am Horizont war
+eben die Sonne im Untergehen.
+
+Die Großmama nahm Heidi bei der Hand. "Komm, komm, Kind", sagte
+sie in freundlichster Weise, "nicht weinen, nicht weinen. Das hat
+dich wohl an etwas erinnert; aber sieh, da ist auch eine schöne
+Geschichte dazu, die erzähl ich heut Abend. Und da sind noch so
+viele schöne Geschichten in dem Buch, die kann man alle lesen und
+wieder erzählen. Komm, nun müssen wir etwas besprechen zusammen,
+trockne schön deine Tränen, so, und nun stell dich hier vor mich
+hin, dass ich dich recht ansehen kann; so ist's recht, nun sind wir
+wieder fröhlich."
+
+Aber noch verging einige Zeit, bevor Heidi zu schluchzen aufhören
+konnte. Die Großmama ließ ihm auch eine gute Weile zur Erholung,
+nur sagte sie von Zeit zu Zeit ermunternd: "So, nun ist's gut, nun
+sind wir wieder froh zusammen."
+
+Als sie endlich das Kind beruhigt sah, sagte sie: "Nun musst du mir
+was erzählen, Kind! Wie geht es denn beim Herrn Kandidaten in den
+Unterrichtsstunden, lernst du auch gut und kannst du was?"
+
+"O nein", antwortete Heidi seufzend; "aber ich wusste schon, dass
+man es nicht lernen kann."
+
+"Was kann man denn nicht lernen, Heidi, was meinst du?"
+
+"Lesen kann man nicht lernen, es ist zu schwer."
+
+"Das wäre! Und woher weißt du denn diese Neuigkeit?"
+
+"Der Peter hat es mir gesagt und er weiß es schon, der muss immer
+wieder probieren, aber er kann es nie lernen, es ist zu schwer."
+
+"So, das ist mir ein eigener Peter, der! Aber sieh, Heidi, man
+muss nicht alles nur so hinnehmen, was einem ein Peter sagt, man
+muss selbst probieren. Gewiss hast du nicht recht mit all deinen
+Gedanken dem Herrn Kandidaten zugehört und seine Buchstaben
+angesehen."
+
+"Es nützt nichts", versicherte Heidi mit dem Ton der vollen
+Ergebung in das Unabänderliche.
+
+"Heidi", sagte nun die Großmama, "jetzt will ich dir etwas sagen:
+Du hast noch nie lesen gelernt, weil du deinem Peter geglaubt hast;
+nun aber sollst du mir glauben, und ich sage dir fest und sicher,
+dass du in kurzer Zeit lesen lernen kannst, wie eine große Menge
+von Kindern, die geartet sind wie du und nicht wie der Peter. Und
+nun musst du wissen, was nachher kommt, wenn du dann lesen kannst--
+du hast den Hirten gesehen auf der schönen, grünen Weide--; sobald
+du nun lesen kannst, bekommst du das Buch, da kannst du seine ganze
+Geschichte vernehmen, ganz so, als ob sie dir jemand erzählte,
+alles, was er macht mit seinen Schafen und Ziegen und was ihm für
+merkwürdige Dinge begegnen. Das möchtest du schon wissen, Heidi,
+nicht?"
+
+Heidi hatte mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört, und mit
+leuchtenden Augen sagte es jetzt, tief Atem holend: "Oh, wenn ich
+nur schon lesen könnte!"
+
+"Jetzt wird's kommen, und gar nicht lange wird's währen, das kann
+ich schon sehen, Heidi, und nun müssen wir mal nach der Klara sehen;
+komm, die schönen Bücher nehmen wir mit." Damit nahm die Großmama
+Heidi bei der Hand und ging mit ihm nach dem Studierzimmer.
+
+Seit dem Tage, da Heidi hatte heimgehen wollen und Fräulein
+Rottenmeier es auf der Treppe ausgescholten und ihm gesagt hatte,
+wie schlecht und undankbar es sich erweise durch sein
+Fortlaufenwollen und wie gut es sei, dass Herr Sesemann nichts
+davon wisse, war mit dem Kinde eine Veränderung vorgegangen. Es
+hatte begriffen, dass es nicht heimgehen könne, wenn es wolle, wie
+ihm die Base gesagt hatte, sondern dass es in Frankfurt zu bleiben
+habe, lange, lange, vielleicht für immer. Es hatte auch verstanden,
+dass Herr Sesemann es sehr undankbar von ihm finden würde, wenn es
+heimgehen wollte, und es dachte sich aus, dass die Großmama und
+Klara auch so denken würden. So durfte es keinem Menschen sagen,
+dass es heimgehen möchte, denn dass die Großmama, die so freundlich
+mit ihm war, auch böse würde, wie Fräulein Rottenmeier geworden war,
+das wollte Heidi nicht verursachen. Aber in seinem Herzen wurde
+die Last, die darinnen lag, immer schwerer; es konnte nicht mehr
+essen, und jeden Tag wurde es ein wenig bleicher. Am Abend konnte
+es oft lange, lange nicht einschlafen, denn sobald es allein war
+und alles still ringsumher, kam ihm alles so lebendig vor die Augen,
+die Alm und der Sonnenschein darauf und die Blumen; und schlief es
+endlich doch ein, so sah es im Traum die roten Felsenspitzen am
+Falknis und das feurige Schneefeld an der Schesaplana, und erwachte
+dann Heidi am Morgen und wollte voller Freude hinausspringen aus
+der Hütte--da war es auf einmal in seinem großen Bett in Frankfurt,
+so weit, weit weg, und konnte nicht mehr heim. Dann drückte Heidi
+oft seinen Kopf in das Kissen und weinte lang, ganz leise, dass
+niemand es höre.
+
+Heidis freudloser Zustand entging der Großmama nicht. Sie ließ
+einige Tage vorübergehen und sah zu, ob die Sache sich ändere und
+das Kind sein niedergeschlagenes Wesen verlieren würde. Als es
+aber gleich blieb und die Großmama manchmal am frühen Morgen schon
+sehen konnte, dass Heidi geweint hatte, da nahm sie eines Tages das
+Kind wieder in ihre Stube, stellte es vor sich hin und sagte mit
+großer Freundlichkeit: "Jetzt sag mir, was dir fehlt, Heidi; hast
+du einen Kummer?"
+
+Aber gerade dieser freundlichen Großmama wollte Heidi nicht sich so
+undankbar zeigen, dass sie vielleicht nachher gar nicht mehr so
+freundlich wäre; so sagte Heidi traurig: "Man kann es nicht sagen."
+
+"Nicht? Kann man es etwa der Klara sagen?", fragte die Großmama.
+
+"O nein, keinem Menschen", versicherte Heidi und sah dabei so
+unglücklich aus, dass es die Großmama erbarmte.
+
+"Komm, Kind", sagte sie, "ich will dir was sagen: Wenn man einen
+Kummer hat, den man keinem Menschen sagen kann, so klagt man ihn
+dem lieben Gott im Himmel und bittet ihn, dass er helfe, denn er
+kann allem Leid abhelfen, das uns drückt. Das verstehst du, nicht
+wahr? Du betest doch jeden Abend zum lieben Gott im Himmel und
+dankst ihm für alles Gute und bittest ihn, dass er dich vor allem
+Bösen behüte?"
+
+"O nein, das tu ich nie", antwortete das Kind.
+
+"Hast du denn gar nie gebetet, Heidi, weißt du nicht, was das ist?"
+
+"Nur mit der ersten Großmutter habe ich gebetet, aber es ist schon
+lang, und jetzt habe ich es vergessen."
+
+"Siehst du, Heidi, darum musst du so traurig sein, weil du jetzt
+gar niemanden kennst, der dir helfen kann. Denk einmal nach, wie
+wohl das tun muss, wenn einen im Herzen etwas immerfort drückt und
+quält und man kann so jeden Augenblick zum lieben Gott hingehen und
+ihm alles sagen und ihn bitten, dass er helfe, wo uns sonst gar
+niemand helfen kann! Und er kann überall helfen und uns geben, was
+uns wieder froh macht."
+
+Durch Heidis Augen fuhr ein Freudenstrahl: "Darf man ihm alles,
+alles sagen?"
+
+"Alles, Heidi, alles."
+
+Das Kind zog seine Hand aus den Händen der Großmama und sagte eilig:
+"Kann ich gehen?"
+
+"Gewiss! Gewiss!", gab diese zur Antwort, und Heidi lief davon und
+hinüber in sein Zimmer, und hier setzte es sich auf seinen Schemel
+nieder und faltete seine Hände und sagte dem lieben Gott alles, was
+in seinem Herzen war und es so traurig machte, und bat ihn dringend
+und herzlich, dass er ihm helfe und es wieder heimkommen lasse zum
+Großvater.--
+
+Es mochte etwas mehr als eine Woche verflossen sein seit diesem
+Tage, als der Herr Kandidat begehrte, der Frau Sesemann seine
+Aufwartung zu machen, indem er eine Besprechung über einen
+merkwürdigen Gegenstand mit der Dame abzuhalten gedachte. Er wurde
+auf ihre Stube berufen, und hier, wie er eintrat, streckte ihm Frau
+Sesemann sogleich freundlich die Hand entgegen: "Mein lieber Herr
+Kandidat, seien Sie mir willkommen! Setzen Sie sich her zu mir,
+hier"--sie rückte ihm den Stuhl zurecht. "So, nun sagen Sie mir,
+was bringt Sie zu mir; doch nichts Schlimmes, keine Klagen?"
+
+"Im Gegenteil, gnädige Frau", begann der Herr Kandidat; "es ist
+etwas vorgefallen, das ich nicht mehr erwarten konnte und keiner,
+der einen Blick in alles Vorhergegangene hätte werfen können, denn
+nach allen Voraussetzungen musste angenommen werden, dass es eine
+völlige Unmöglichkeit sein müsse, was dennoch jetzt wirklich
+geschehen ist und in der wunderbarsten Weise stattgefunden hat,
+gleichsam im Gegensatz zu allem folgerichtig zu Erwartenden--"
+
+"Sollte das Kind Heidi etwa lesen gelernt haben, Herr Kandidat?",
+setzte hier Frau Sesemann ein.
+
+In sprachlosem Erstaunen schaute der überraschte Herr die Dame an.
+
+"Es ist ja wirklich völlig wunderbar", sagte er endlich, "nicht nur,
+dass das junge Mädchen nach all meinen gründlichen Erklärungen,
+und ungewöhnlichen Bemühungen das Abc nicht erlernt hat, sondern
+auch und besonders, dass es jetzt in kürzester Zeit, nachdem ich
+mich entschlossen hatte, das Unerreichbare aus den Augen zu lassen
+und ohne alle weiter greifenden Erläuterungen nur noch sozusagen
+die nackten Buchstaben vor die Augen des jungen Mädchens zu bringen,
+sozusagen über Nacht das Lesen erfasst hat, und dann sogleich mit
+einer Korrektheit die Worte liest, wie mir bei Anfängern noch
+selten vorgekommen ist. Fast ebenso wunderbar ist mir die
+Wahrnehmung, dass die gnädige Frau gerade diese fern liegende
+Tatsache als Möglichkeit vermutete."
+
+"Es geschehen viele wunderbare Dinge im Menschenleben", bestätigte
+Frau Sesemann und lächelte vergnüglich; "es können auch einmal zwei
+Dinge glücklich zusammentreffen, wie ein neuer Lerneifer und eine
+neue Lehrmethode, und beide können nichts schaden, Herr Kandidat.
+Jetzt wollen wir uns freuen, dass das Kind so weit ist, und auf
+guten Fortgang hoffen."
+
+Damit begleitete sie den Herrn Kandidaten zur Tür hinaus und ging
+rasch nach dem Studierzimmer, um sich selbst der erfreulichen
+Nachricht zu versichern. Richtig saß hier Heidi neben Klara und
+las dieser eine Geschichte vor, sichtlich selbst mit dem größten
+Erstaunen und mit einem wachsenden Eifer in die neue Welt
+eindringend, die ihm aufgegangen war, nun ihm mit einem Mal aus den
+schwarzen Buchstaben Menschen und Dinge entgegentraten und Leben
+gewannen und zu herzbewegenden Geschichten wurden. Noch am selben
+Abend, als man sich zu Tische setzte, fand Heidi auf seinem Teller
+das große Buch liegen mit den schönen Bildern, und als es fragend
+nach der Großmama blickte, sagte diese freundlich nickend: "Ja, ja,
+nun gehört es dir."
+
+"Für immer? Auch wenn ich heimgehe?", fragte Heidi ganz rot vor
+Freude.
+
+"Gewiss, für immer!", versicherte die Großmama; "morgen fangen wir
+an zu lesen."
+
+"Aber du gehst nicht heim, noch viele Jahre nicht, Heidi", warf
+Klara hier ein; "wenn nun die Großmama wieder fortgeht, dann musst
+du erst recht bei mir bleiben."
+
+Noch vor dem Schlafengehen musste Heidi in seinem Zimmer sein
+schönes Buch ansehen, und von dem Tage an war es sein Liebstes,
+über seinem Buch zu sitzen und immer wieder die Geschichten zu
+lesen, zu denen die schönen bunten Bilder gehörten. Sagte am Abend
+die Großmama: "Nun liest uns Heidi vor", so war das Kind sehr
+beglückt, denn das Lesen ging ihm nun ganz leicht, und wenn es die
+Geschichten laut vorlas, so kamen sie ihm noch viel schöner und
+verständlicher vor, und die Großmama erklärte dann noch so vieles
+und erzählte immer noch mehr dazu. Am liebsten beschaute Heidi
+immer wieder seine grüne Weide und den Hirten mitten unter der
+Herde, wie er so vergnüglich, auf seinen langen Stab gelehnt,
+dastand, denn da war er noch bei der schönen Herde des Vaters und
+ging nur den lustigen Schäfchen und Ziegen nach, weil es ihn freute.
+Aber dann kam das Bild, wo er, vom Vaterhaus weggelaufen, nun in
+der Fremde war und die Schweinchen hüten musste und ganz mager
+geworden war bei den Trebern, die er allein noch zu essen bekam.
+Und auf dem Bilde schien auch die Sonne nicht mehr so golden, da
+war das Land grau und nebelig. Aber dann kam noch ein Bild zu der
+Geschichte: Da kam der alte Vater mit ausgebreiteten Armen aus dem
+Hause heraus und lief dem heimkehrenden reuigen Sohn entgegen, um
+ihn zu empfangen, der ganz furchtsam und abgemagert in einem
+zerrissenen Wams daherkam. Das war Heidis Lieblingsgeschichte, die
+es immer wieder las, laut und leise, und es konnte nie genug der
+Erklärungen bekommen, welche die Großmama den Kindern dazu machte.
+Da waren aber noch so viele schöne Geschichten in dem Buch, und bei
+dem Lesen derselben und dem Bilderbesehen gingen die Tage sehr
+schnell dahin, und schon nahte die Zeit heran, welche die Großmama
+zu ihrer Abreise bestimmt hatte.
+
+
+
+
+Heidi nimmt auf einer Seite zu und auf der anderen ab
+
+Die Großmama hatte während der ganzen Zeit ihres Aufenthalts jeden
+Nachmittag, wenn Klara sich hinlegte und Fräulein Rottenmeier,
+wahrscheinlich der Ruhe bedürftig, geheimnisvoll verschwand, sich
+einen Augenblick neben Klara hingesetzt; aber schon nach fünf
+Minuten war sie wieder auf den Füßen und hatte dann immer Heidi auf
+ihre Stube berufen, sich mit ihm besprochen und es auf allerlei
+Weise beschäftigt und unterhalten. Die Großmama hatte hübsche
+kleine Puppen und zeigte dem Heidi, wie man ihnen Kleider und
+Schürzchen macht, und ganz unvermerkt hatte Heidi das Nähen erlernt
+und machte den kleinen Frauenzimmern die schönsten Röcke und
+Mäntelchen, denn die Großmama hatte immer Zeugstücke von den
+prächtigsten Farben. Nun Heidi lesen konnte, durfte es auch immer
+wieder der Großmama seine Geschichten vorlesen; das machte ihm die
+größte Freude, denn je mehr es seine Geschichten las, desto lieber
+wurden sie ihm, denn Heidi lebte alles ganz mit durch, was die
+Leute alle zu erleben hatten, und so hatte es zu ihnen allen ein
+sehr nahes Verhältnis und freute sich immer wieder, bei ihnen zu
+sein. Aber so recht froh sah Heidi nie aus, und seine lustigen
+Augen waren nie mehr zu sehen.
+
+Es war die letzte Woche, welche die Großmama in Frankfurt zubringen
+wollte. Sie hatte eben nach Heidi gerufen, dass es auf ihre Stube
+komme; es war die Zeit, da Klara schlief. Als Heidi eintrat mit
+seinem großen Buch unter dem Arm, winkte ihm die Großmama, dass es
+ganz nahe zu ihr herankomme, legte das Buch weg und sagte: "Nun
+komm, Kind, und sag mir, warum bist du nicht fröhlich? Hast du
+immer noch denselben Kummer im Herzen?"
+
+"Ja", nickte Heidi.
+
+"Hast du ihn dem lieben Gott geklagt?"
+
+"Ja."
+
+"Und betest du nun alle Tage, dass alles gut werde und er dich froh
+mache?"
+
+"O nein, ich bete jetzt gar nie mehr."
+
+"Was sagst du mir, Heidi? Was muss ich hören? Warum betest du
+denn nicht mehr?"
+
+"Es nützt nichts, der liebe Gott hat nicht zugehört, und ich glaube
+es auch wohl", fuhr Heidi in einiger Aufregung weiter, "wenn nun am
+Abend so viele, viele Leute in Frankfurt alle miteinander beten, so
+kann der liebe Gott ja nicht auf alle Acht geben, und mich hat er
+gewiss gar nicht gehört."
+
+"So, wie weißt du denn das so sicher, Heidi?"
+
+"Ich habe alle Tage das Gleiche gebetet, manche Woche lang, und der
+liebe Gott hat es nie getan."
+
+"Ja, so geht's nicht zu, Heidi! Das musst du nicht meinen! Siehst
+du, der liebe Gott ist für uns alle ein guter Vater, der immer weiß,
+was gut für uns ist, wenn wir es gar nicht wissen. Wenn wir aber
+nun etwas von ihm haben wollen, das nicht gut für uns ist, so gibt
+er uns das nicht, sondern etwas viel Besseres, wenn wir fortfahren,
+so recht herzlich zu ihm zu beten, aber nicht gleich weglaufen und
+alles Vertrauen zu ihm verlieren. Siehst du, was du nun von ihm
+erbitten wolltest, das war in diesem Augenblick nicht gut für dich;
+der liebe Gott hat dich schon gehört, er kann alle Menschen auf
+einmal anhören und übersehen, siehst du, dafür ist er der liebe
+Gott und nicht ein Mensch wie du und ich. Und weil er nun wohl
+wusste, was für dich gut ist, dachte er bei sich: 'Ja, das
+Heidi soll schon einmal haben, wofür es bittet, aber erst dann,
+wenn es ihm gut ist, und so wie es darüber recht froh werden kann.
+Denn wenn ich jetzt tue, was es will, und es merkt nachher, dass es
+doch besser gewesen wäre, ich hätte ihm seinen Willen nicht getan,
+dann weint es nachher und sagt: Hätte mir doch der liebe Gott nur
+nicht gegeben, wofür ich bat, es ist gar nicht so gut, wie ich
+gemeint habe.' Und während nun der liebe Gott auf dich
+niedersah, ob du ihm auch recht vertrautest und täglich zu ihm
+kommest und betest und immer zu ihm aufsehest, wenn dir etwas fehlt,
+da bist du weggelaufen ohne alles Vertrauen, hast nie mehr gebetet
+und hast den lieben Gott ganz vergessen. Aber siehst du, wenn
+einer es so macht und der liebe Gott hört seine Stimme gar nie mehr
+unter den Betenden, so vergisst er ihn auch und lässt ihn gehen,
+wohin er will. Wenn es ihm dabei aber schlecht geht und er jammert:
+'Mir hilft aber auch gar niemand!', dann hat keiner
+Mitleiden mit ihm, sondern jeder sagt zu ihm: 'Du bist ja
+selbst vom lieben Gott weggelaufen, der dir helfen konnte!'
+Willst du's so haben, Heidi, oder willst du gleich wieder zum
+lieben Gott gehen und ihn um Verzeihung bitten, dass du so von ihm
+weggelaufen bist, und dann alle Tage zu ihm beten und ihm vertrauen,
+dass er alles gut für dich machen werde, so dass du auch wieder
+ein frohes Herz bekommen kannst?"
+
+Heidi hatte sehr aufmerksam zugehört; jedes Wort der Großmama fiel
+in sein Herz, denn zu ihr hatte das Kind ein unbedingtes Vertrauen.
+
+"Ich will jetzt gleich auf der Stelle gehen und den lieben Gott um
+Verzeihung bitten, und ich will ihn nie mehr vergessen", sagte
+Heidi reumütig.
+
+"So ist's recht, Kind, er wird dir auch helfen zur rechten Zeit,
+sei nur getrost!", ermunterte die Großmama, und Heidi lief sofort
+in sein Zimmer hinüber und betete ernstlich und reuig zum lieben
+Gott und bat ihn, dass er es doch nicht vergessen und auch wieder
+zu ihm niederschauen möge.--
+
+Der Tag der Abreise war gekommen, es war für Klara und Heidi ein
+trauriger Tag; aber die Großmama wusste es so einzurichten, dass
+sie gar nicht zum Bewusstsein kamen, dass es eigentlich ein
+trauriger Tag sei, sondern es war eher wie ein Festtag, bis die
+gute Großmama im Wagen davonfuhr. Da trat eine Leere und Stille im
+Hause ein, als wäre alles vorüber, und solange noch der Tag währte,
+saßen Klara und Heidi wie verloren da und wussten gar nicht, wie es
+nun weiter kommen sollte.
+
+Am folgenden Tag, als die Unterrichtsstunden vorbei und die Zeit da
+war, da die Kinder gewöhnlich zusammensaßen, trat Heidi mit seinem
+Buch unter dem Arm herein und sagte: "Ich will dir nun immer, immer
+vorlesen; willst du, Klara?"
+
+Der Klara war der Vorschlag recht für einmal, und Heidi machte sich
+mit Eifer an seine Tätigkeit. Aber es ging nicht lange, so hörte
+schon wieder alles auf, denn kaum hatte Heidi eine Geschichte zu
+lesen begonnen, die von einer sterbenden Großmutter handelte, als
+es auf einmal laut aufschrie: "Oh, nun ist die Großmutter tot!",
+und in ein jammervolles Weinen ausbrach, denn alles, was es las,
+war dem Heidi volle Gegenwart, und es glaubte nicht anders, als nun
+sei die Großmutter auf der Alm gestorben, und es klagte in immer
+lauterem Weinen: "Nun ist die Großmutter tot, und ich kann nie mehr
+zu ihr gehen, und sie hat nicht ein einziges Brötchen mehr bekommen!
+"
+
+Klara suchte immerfort dem Heidi zu erklären, dass es ja nicht die
+Großmutter auf der Alm sei, sondern eine ganz andere, von der diese
+Geschichte handle; aber auch, als sie endlich dazu gekommen war,
+dem aufgeregten Heidi diese Verwechslung klar zu machen, konnte es
+sich doch nicht beruhigen und weinte immer noch untröstlich weiter,
+denn der Gedanke war ihm nun im Herzen erwacht, die Großmutter
+könne ja sterben, während es so weit weg sei, und der Großvater
+auch noch, und wenn es dann nach einiger Zeit wieder heimkomme, so
+sei alles still und tot auf der Alm und es stehe ganz allein da und
+könne niemals mehr die sehen, die ihm lieb waren.
+
+Währenddessen war Fräulein Rottenmeier ins Zimmer getreten und
+hatte noch Klaras Bemühungen, Heidi über seinen Irrtum aufzuklären,
+mit angehört. Als das Kind aber immer noch nicht aufhören konnte
+zu schluchzen, trat sie mit sichtlichen Zeichen der Ungeduld zu den
+Kindern heran und sagte mit bestimmtem Ton: "Adelheid, nun ist des
+grundlosen Geschreis genug! Ich will dir eines sagen: Wenn du noch
+ein einziges Mal beim Lesen deiner Geschichten solchen Ausbrüchen
+den Lauf lässt, so nehme ich das Buch aus deinen Händen und für
+immer!"
+
+Das machte Eindruck. Heidi wurde ganz weiß vor Schrecken, das Buch
+war sein höchster Schatz. Es trocknete in größter Eile seine
+Tränen und schluckte und würgte sein Schluchzen mit Gewalt hinunter,
+so dass kein Tönchen mehr laut wurde. Das Mittel hatte geholfen,
+Heidi weinte nie mehr, was es auch lesen mochte; aber manchmal
+hatte es solche Anstrengungen zu machen, um sich zu überwinden und
+nicht aufzuschreien, dass Klara öfter ganz erstaunt sagte: "Heidi,
+du machst so schreckliche Grimassen, wie ich noch nie gesehen habe.
+" Aber die Grimassen machten keinen Lärm und fielen der Dame
+Rottenmeier nicht auf, und wenn Heidi seinen Anfall von
+verzweiflungsvoller Traurigkeit niedergerungen hatte, kam alles
+wieder ins Geleise für einige Zeit und war tonlos vorübergegangen.
+Aber seinen Appetit verlor Heidi so sehr und sah so mager und
+bleich aus, dass der Sebastian fast nicht ertragen konnte, das so
+mit anzusehen und Zeuge sein zu müssen, wie Heidi bei Tisch die
+schönsten Gerichte an sich vorübergehen ließ und nichts essen
+wollte. Er flüsterte ihm auch öfter ermunternd zu, wenn er ihm
+eine Schüssel hinhielt: "Nehmen von dem, Mamsellchen, 's ist
+vortrefflich. Nicht so! Einen rechten Löffel voll, noch einen!",
+und dergleichen väterlicher Räte mehr; aber es half nichts: Heidi
+aß fast gar nicht mehr, und wenn es sich am Abend auf sein Kissen
+legte, so hatte es augenblicklich alles vor Augen, was daheim war,
+und nur ganz leise weinte es dann vor Sehnsucht in sein Kissen
+hinein, so dass es gar niemand hören konnte.
+
+So ging eine lange Zeit dahin. Heidi wusste gar nie, ob es Sommer
+oder Winter sei, denn die Mauern und Fenster, die es aus allen
+Fenstern des Hauses Sesemann erblickte, sahen immer gleich aus, und
+hinaus kam es nur, wenn es Klara besonders gut ging und eine
+Ausfahrt im Wagen mit ihr gemacht werden konnte, die aber immer
+sehr kurz war, denn Klara konnte nicht vertragen, lang zu fahren.
+So kam man kaum aus den Mauern und Steinstraßen heraus, sondern
+kehrte gewöhnlich vorher wieder um und fuhr immerfort durch große,
+schöne Straßen, wo Häuser und Menschen in Fülle zu sehen waren,
+aber nicht Gras und Blumen, keine Tannen und keine Berge, und
+Heidis Verlangen nach dem Anblick der schönen gewohnten Dinge
+steigerte sich mit jedem Tage mehr, so dass es jetzt nur den Namen
+eines dieser Erinnerung weckenden Worte zu lesen brauchte, so war
+schon ein Ausbruch des Schmerzes nahe, und Heidi hatte mit aller
+Gewalt dagegen zu ringen. So waren Herbst und Winter vergangen,
+und schon blendete die Sonne wieder so stark auf die weißen Mauern
+am Hause gegenüber, dass Heidi ahnte, nun sei die Zeit nahe, da der
+Peter wieder zur Alm führe mit den Geißen, da die goldenen
+Cystusröschen glitzerten droben im Sonnenschein und allabendlich
+ringsum alle Berge im Feuer ständen. Heidi setzte sich in seinem
+einsamen Zimmer in einen Winkel und hielt sich mit beiden Händen
+die Augen zu, dass es den Sonnenschein drüben an der Mauer nicht
+sehe; und so saß es regungslos, sein brennendes Heimweh lautlos
+niederkämpfend, bis Klara wieder nach ihm rief.
+
+
+
+
+Im Hause Sesemann spukt's
+
+Seit einigen Tagen wanderte Fräulein Rottenmeier meistens
+schweigend und in sich gekehrt im Haus herum. Wenn sie um die Zeit
+der Dämmerung von einem Zimmer ins andere oder über den langen
+Korridor ging, schaute sie öfters um sich, gegen die Ecken hin und
+auch schnell einmal hinter sich, so, als denke sie, es könnte
+jemand leise hinter ihr herkommen und sie unversehens am Rock
+zupfen. So allein ging sie aber nur noch in den bewohnten Räumen
+herum. Hatte sie auf dem oberen Boden, wo die feierlich
+aufgerüsteten Gastzimmer lagen, oder gar in den unteren Räumen
+etwas zu besorgen, wo der große geheimnisvolle Saal war, in dem
+jeder Tritt einen weithin schallenden Widerhall gab und die alten
+Ratsherren mit den großen, weißen Kragen so ernsthaft und
+unverwandt auf einen niederschauten, da rief sie nun regelmäßig die
+Tinette herbei und sagte ihr, sie habe mitzukommen, im Fall etwas
+von dort herauf- oder von oben herunterzutragen wäre. Tinette
+ihrerseits machte es pünktlich ebenso; hatte sie oben oder unten
+irgendein Geschäft abzutun, so rief sie den Sebastian herbei und
+sagte ihm, er habe sie zu begleiten, es möchte etwas
+herbeizubringen sein, das sie nicht allein tragen könnte.
+Wunderbarerweise tat auch Sebastian akkurat dasselbe; wurde er in
+die abgelegenen Räume geschickt, so holte er den Johann herauf und
+wies ihn an, ihn zu begleiten, im Fall er nicht herbeischaffen
+könnte, was erforderlich sei. Und jedes folgte immer ganz willig
+dem Ruf, obschon eigentlich nie etwas herbeizutragen war, so dass
+jedes gut hätte allein gehen können; aber es war so, als denke der
+Herbeigerufene immer bei sich, er könne den anderen auch bald für
+denselben Dienst nötig haben. Während sich solches oben zutrug,
+stand unten die langjährige Köchin tiefsinnig bei ihren Töpfen und
+schüttelte den Kopf und seufzte: "Dass ich das noch erleben musste!"
+
+Es ging im Hause Sesemann seit einiger Zeit etwas ganz Seltsames
+und Unheimliches vor. Jeden Morgen, wenn die Dienerschaft
+herunterkam, stand die Haustür weit offen; aber weit und breit war
+niemand zu sehen, der mit dieser Erscheinung im Zusammenhang stehen
+konnte. In den ersten Tagen, da dies geschehen war, wurden gleich
+mit Schrecken alle Zimmer und Räume des Hauses durchsucht, um zu
+sehen, was alles gestohlen sei, denn man dachte, ein Dieb habe sich
+im Hause verstecken können und sei in der Nacht mit dem Gestohlenen
+entflohen; aber da war gar nichts fortgekommen, es fehlte im ganzen
+Hause nicht ein einziges Ding. Abends wurde nicht nur die Tür
+doppelt zugeriegelt, sondern es wurde noch der hölzerne Balken
+vorgeschoben--es half nichts: Am Morgen stand die Tür weit offen;
+und so früh nun auch die ganze Dienerschaft in ihrer Aufregung am
+Morgen herunterkommen mochte--die Tür stand offen, wenn auch
+ringsum alles noch im tiefen Schlaf lag und Fenster und Türen an
+allen anderen Häusern noch fest verrammelt waren. Endlich fassten
+sich der Johann und der Sebastian ein Herz und machten sich auf die
+dringenden Zureden der Dame Rottenmeier bereit, die Nacht unten in
+dem Zimmer, das an den großen Saal stieß, zuzubringen und zu
+erwarten, was geschehe. Fräulein Rottenmeier suchte mehrere Waffen
+des Herrn Sesemann hervor und übergab dem Sebastian eine große
+Liqueurflasche, damit Stärkung vorausgehen und gute Wehr nachfolgen
+könne, wo sie nötig sei.
+
+Die beiden setzten sich an dem festgesetzten Abend hin und fingen
+gleich an, sich Stärkung zuzutrinken, was sie erst sehr gesprächig
+und dann ziemlich schläfrig machte, worauf sie beide sich an die
+Sesselrücken lehnten und verstummten. Als die alte Turmuhr drüben
+zwölf schlug, ermannte sich Sebastian und rief seinen Kameraden an;
+der war aber nicht leicht zu erwecken; sooft ihn Sebastian anrief,
+legte er seinen Kopf von einer Seite der Sessellehne auf die andere
+und schlief weiter. Sebastian lauschte nunmehr gespannt, er war
+nun wieder ganz munter geworden. Es war alles mäuschenstill, auch
+von der Straße war kein Laut mehr zu hören. Sebastian entschlief
+nicht wieder, denn jetzt wurde es ihm sehr unheimlich in der großen
+Stille, und er rief den Johann nur noch mit gedämpfter Stimme an
+und rüttelte ihn von Zeit zu Zeit ein wenig. Endlich, als es
+droben schon ein Uhr geschlagen hatte, war der Johann wach geworden
+und wieder zum klaren Bewusstsein gekommen, warum er auf dem Stuhl
+sitze und nicht in seinem Bett liege. Jetzt fuhr er auf einmal
+sehr tapfer empor und rief: "Nun, Sebastian, wir müssen doch einmal
+hinaus und sehen, wie's steht; du wirst dich ja nicht fürchten.
+Nur mir nach."
+
+Johann machte die leicht angelehnte Zimmertür weit auf und trat
+hinaus. Im gleichen Augenblick blies aus der offenen Haustür ein
+scharfer Luftzug her und löschte das Licht aus, das der Johann in
+der Hand hielt. Dieser stürzte zurück, warf den hinter ihm
+stehenden Sebastian beinah rücklings ins Zimmer hinein, riss ihn
+dann mit, schlug die Tür zu und drehte in fieberhafter Eile den
+Schlüssel um, solang er nur umging. Dann riss er seine
+Streichhölzer hervor und zündete sein Licht wieder an. Sebastian
+wusste gar nicht recht, was vorgefallen war, denn hinter dem
+breiten Johann stehend, hatte er den Luftzug nicht so deutlich
+empfunden. Wie er aber jenen nun bei Licht besah, tat er einen
+Schreckensruf, denn der Johann war kreideweiß und zitterte wie
+Espenlaub. "Was ist's denn? Was war denn draußen?", fragte der
+Sebastian teilnehmend.
+
+"Sperrangelweit offen die Tür", keuchte Johann, "und auf der Treppe
+eine weiße Gestalt, siehst du, Sebastian, nur so die Treppe hinauf--
+husch und verschwunden."
+
+Dem Sebastian gruselte es den ganzen Rücken hinauf. Jetzt setzten
+sich die beiden ganz nah zusammen und regten sich nicht mehr, bis
+dass der neue Morgen da war und es auf der Straße anfing, lebendig
+zu werden. Dann traten sie zusammen hinaus, machten die weit offen
+stehende Haustür zu und stiegen dann hinauf, um Fräulein
+Rottenmeier Bericht zu erstatten über das Erlebte. Die Dame war
+auch schon zu sprechen, denn die Erwartung der zu vernehmenden
+Dinge hatte sie nicht mehr schlafen lassen. Sobald sie nun
+vernommen hatte, was vorgefallen war, setzte sie sich hin und
+schrieb einen Brief an Herrn Sesemann, wie er noch keinen erhalten
+hatte; er möge sich nur sogleich, ohne Verzug, aufmachen und nach
+Hause zurückkehren, denn da geschähen unerhörte Dinge. Dann wurde
+ihm das Vorgefallene mitgeteilt sowie auch die Nachricht, dass
+fortgesetzt die Tür jeden Morgen offen stehe; dass also keiner im
+Hause seines Lebens mehr sicher sei bei dergestalt allnächtlich
+offen stehender Hauspforte und dass man überhaupt nicht absehen
+könne, was für dunkle Folgen dieser unheimliche Vorgang noch nach
+sich ziehen könne. Herr Sesemann antwortete umgehend, es sei ihm
+unmöglich, so plötzlich alles liegen zu lassen und nach Hause zu
+kommen. Die Gespenstergeschichte sei ihm sehr befremdend, er hoffe
+auch, sie sei vorübergehend; sollte es indessen keine Ruhe geben,
+so möge Fräulein Rottenmeier an Frau Sesemann schreiben und sie
+fragen, ob sie nicht nach Frankfurt zu Hilfe kommen wollte; gewiss
+würde seine Mutter in kürzester Zeit mit den Gespenstern fertig,
+und diese trauten sich nachher sicher so bald nicht wieder, sein
+Haus zu beunruhigen. Fräulein Rottenmeier war nicht zufrieden mit
+dem Ton dieses Briefes; die Sache war ihr zu wenig ernst aufgefasst.
+Sie schrieb unverzüglich an Frau Sesemann, aber von dieser Seite
+her tönte es nicht eben befriedigender, und die Antwort enthielt
+einige ganz anzügliche Bemerkungen. Frau Sesemann schrieb, sie
+gedenke nicht, extra von Holstein nach Frankfurt hinunterzureisen,
+weil die Rottenmeier Gespenster sehe. Übrigens sei niemals ein
+Gespenst gesehen worden im Hause Sesemann, und wenn jetzt eines
+darin herumfahre, so könne es nur ein lebendiges sein, mit dem die
+Rottenmeier sich sollte verständigen können; wo nicht, so solle sie
+die Nachtwächter zu Hilfe rufen.
+
+Aber Fräulein Rottenmeier war entschlossen, ihre Tage nicht mehr in
+Schrecken zuzubringen, und sie wusste sich zu helfen. Bis dahin
+hatte sie den beiden Kindern nichts von der Geistererscheinung
+gesagt, denn sie befürchtete, die Kinder würden vor Furcht Tag und
+Nacht keinen Augenblick mehr allein bleiben wollen, und das konnte
+sehr unbequeme Folgen für sie haben. Jetzt ging sie stracks ins
+Studierzimmer hinüber, wo die beiden zusammensaßen, und erzählte
+mit gedämpfter Stimme von den nächtlichen Erscheinungen eines
+Unbekannten. Sofort schrie Klara auf, sie bleibe keinen Augenblick
+mehr allein, der Papa müsse nach Hause kommen und Fräulein
+Rottenmeier müsse zum Schlafen in ihr Zimmer hinüberziehen, und
+Heidi dürfe auch nicht mehr allein sein, sonst könne das Gespenst
+einmal zu ihm kommen und ihm etwas tun; sie wollten alle in (einem)
+Zimmer schlafen und die ganze Nacht das Licht brennen lassen, und
+Tinette müsste nebenan schlafen und der Sebastian und der Johann
+müssten auch herunterkommen und auf dem Korridor schlafen, dass sie
+gleich schreien und das Gespenst erschrecken könnten, wenn es etwa
+die Treppe heraufkommen wollte. Klara war sehr aufgeregt und
+Fräulein Rottenmeier hatte nun die größte Mühe, sie etwas zu
+beschwichtigen. Sie versprach ihr, sogleich an den Papa zu
+schreiben und auch ihr Bett in Klaras Zimmer stellen und sie nie
+mehr allein lassen zu wollen. Alle konnten sie nicht in demselben
+Raume schlafen, aber wenn Adelheid sich auch fürchten sollte, so
+müsste Tinette ihr Nachtlager bei ihr aufschlagen. Aber Heidi
+fürchtete sich mehr vor der Tinette als vor Gespenstern, von denen
+das Kind noch gar nie etwas gehört hatte, und es erklärte gleich,
+es fürchte das Gespenst nicht und wolle schon allein in seinem
+Zimmer bleiben. Hierauf eilte Fräulein Rottenmeier an ihren
+Schreibtisch und schrieb an Herrn Sesemann, die unheimlichen
+Vorgänge im Hause, die allnächtlich sich wiederholten, hätten die
+zarte Konstitution seiner Tochter dergestalt erschüttert, dass die
+schlimmsten Folgen zu befürchten seien; man habe Beispiele von
+plötzlich eintretenden epileptischen Zufällen oder Veitstanz in
+solchen Verhältnissen, und seine Tochter sei allem ausgesetzt, wenn
+dieser Zustand des Schreckens im Hause nicht gehoben werde.
+
+Das half. Zwei Tage darauf stand Herr Sesemann vor seiner Tür und
+schellte dergestalt an seiner Hausglocke, dass alles zusammenlief
+und einer den anderen anstarrte, denn man glaubte nicht anders, als
+nun lasse der Geist frecherweise noch vor Nacht seine boshaften
+Stücke aus. Sebastian guckte ganz behutsam durch einen halb
+geöffneten Laden von oben herunter; in dem Augenblick schellte es
+noch einmal so nachdrücklich, dass jeder unwillkürlich eine
+Menschenhand hinter dem tüchtigen Ruck vermutete. Sebastian hatte
+die Hand erkannt, stürzte durchs Zimmer, kopfüber die Treppe
+hinunter, kam aber unten wieder auf die Füße und riss die Haustür
+auf. Herr Sesemann grüßte kurz und stieg ohne weiteres nach dem
+Zimmer seiner Tochter hinauf. Klara empfing den Papa mit einem
+lauten Freudenruf, und als er sie so munter und völlig unverändert
+sah, glättete sich seine Stirn, die er vorher sehr zusammengezogen
+hatte, und immer mehr, als er nun von ihr selbst hörte, sie sei so
+wohl wie immer und sie sei so froh, dass er gekommen sei, dass es
+ihr jetzt ganz recht sei, dass ein Geist im Haus herumfahre, weil
+er doch daran schuld sei, dass der Papa heimkommen musste.
+
+"Und wie führt sich das Gespenst weiter auf, Fräulein Rottenmeier?",
+fragte nun Herr Sesemann mit einem lustigen Ausdruck in den
+Mundwinkeln.
+
+"Nein, Herr Sesemann", entgegnete die Dame ernst, "es ist kein
+Scherz. Ich zweifle nicht daran, dass morgen Herr Sesemann nicht
+mehr lachen wird; denn was in dem Hause vorgeht, deutet auf
+Fürchterliches, das hier in vergangener Zeit muss vorgegangen und
+verheimlicht worden sein."
+
+"So, davon weiß ich nichts", bemerkte Herr Sesemann, "muss aber
+bitten, meine völlig ehrenwerten Ahnen nicht verdächtigen zu wollen.
+Und nun rufen Sie mir den Sebastian ins Esszimmer, ich will
+allein mit ihm reden."
+
+Herr Sesemann ging hinüber und Sebastian erschien. Es war Herrn
+Sesemann nicht entgangen, dass Sebastian und Fräulein Rottenmeier
+sich nicht eben mit Zuneigung betrachteten; so hatte er seine
+Gedanken.
+
+"Komm Er her, Bursche", winkte er dem Eintretenden entgegen, "und
+sag Er mir nun ganz ehrlich: Hat Er nicht etwa selbst ein wenig
+Gespenst gespielt, so um Fräulein Rottenmeier etwas Kurzweil zu
+machen, he?"
+
+"Nein, meiner Treu, das muss der gnädige Herr nicht glauben; es ist
+mir selbst nicht ganz gemütlich bei der Sache", entgegnete
+Sebastian mit unverkennbarer Ehrlichkeit.
+
+"Nun, wenn es so steht, so will ich morgen Ihm und dem tapferen
+Johann zeigen, wie Gespenster beim Licht aussehen. Schäme Er sich,
+Sebastian, ein junger, kräftiger Bursch, wie Er ist, vor
+Gespenstern davonzulaufen! Nun geh Er unverzüglich zu meinem alten
+Freund, Doktor Classen: meine Empfehlung und er möchte unfehlbar
+heut Abend neun Uhr bei mir erscheinen; ich sei extra von Paris
+hergereist, um ihn zu konsultieren. Er müsse die Nacht bei mir
+wachen, so schlimm sei's; er solle sich richten! Verstanden,
+Sebastian?"
+
+"Jawohl, jawohl! Der gnädige Herr kann sicher sein, dass ich's gut
+mache." Damit entfernte sich Sebastian, und Herr Sesemann kehrte zu
+seinem Töchterchen zurück, um ihr alle Furcht vor einer Erscheinung
+zu benehmen, die er noch heute ins nötige Licht stellen wollte.
+
+Punkt neun Uhr, als die Kinder zur Ruhe gegangen und auch Fräulein
+Rottenmeier sich zurückgezogen hatte, erschien der Doktor, der
+unter seinen grauen Haaren noch ein recht frisches Gesicht und zwei
+lebhaft und freundlich blickende Augen zeigte. Er sah etwas
+ängstlich aus, brach aber gleich nach seiner Begrüßung in ein
+helles Lachen aus und sagte, seinem Freunde auf die Schulter
+klopfend: "Nun, nun, für einen, bei dem man wachen soll, siehst du
+noch leidlich aus, Alter."
+
+"Nur Geduld, Alter", gab Herr Sesemann zurück; "derjenige, für den
+du wachen musst, wird schon schlimmer aussehen, wenn wir ihn erst
+abgefangen haben."
+
+"Also doch ein Kranker im Haus und dazu einer, der eingefangen
+werden muss?"
+
+"Weit schlimmer, Doktor, weit schlimmer. Ein Gespenst im Hause,
+bei mir spukt's!"
+
+Der Doktor lachte laut auf.
+
+"Schöne Teilnahme das, Doktor!", fuhr Herr Sesemann fort; "schade,
+dass meine Freundin Rottenmeier sie nicht genießen kann. Sie ist
+fest überzeugt, dass ein alter Sesemann hier herumrumort und
+Schauertaten abbüßt."
+
+"Wie hat sie ihn aber nur kennen gelernt?", fragte der Doktor noch
+immer sehr erheitert.
+
+Herr Sesemann erzählte nun seinem Freunde den ganzen Vorgang und
+wie noch jetzt allnächtlich die Haustür geöffnet werde, nach der
+Angabe der sämtlichen Hausbewohner, und fügte hinzu, um für alle
+Fälle vorbereitet zu sein, habe er zwei gut geladene Revolver in
+das Wachtlokal legen lassen; denn entweder sei die Sache ein sehr
+unerwünschter Scherz, den sich vielleicht irgendein Bekannter der
+Dienerschaft mache, um die Leute des Hauses in Abwesenheit des
+Hausherrn zu erschrecken--dann könnte ein kleiner Schrecken, wie
+ein guter Schuss ins Leere, ihm nicht unheilsam sein--; oder auch
+es handle sich um Diebe, die auf diese Weise erst den Gedanken an
+Gespenster aufkommen lassen wollten, um nachher umso sicherer zu
+sein, dass niemand sich herauswage--in diesem Falle könnte eine
+gute Waffe auch nicht schaden.
+
+Während dieser Erklärungen waren die Herren die Treppe
+hinuntergestiegen und traten in dasselbe Zimmer ein, wo Johann und
+Sebastian auch gewacht hatten. Auf dem Tische standen einige
+Flaschen schönen Weines, denn eine kleine Stärkung von Zeit zu Zeit
+konnte nicht unerwünscht sein, wenn die Nacht da zugebracht werden
+musste. Daneben lagen die beiden Revolver, und zwei, ein helles
+Licht verbreitende Armleuchter standen mitten auf dem Tisch, denn
+so im Halbdunkel wollte Herr Sesemann das Gespenst denn doch nicht
+erwarten.
+
+Nun wurde die Tür ans Schloss gelehnt, denn zu viel Licht durfte
+nicht in den Korridor hinausfließen, es konnte das Gespenst
+verscheuchen. Jetzt setzten sich die Herren gemütlich in ihre
+Lehnstühle und fingen an, sich allerlei zu erzählen, nahmen auch
+hier und da dazwischen einen guten Schluck, und so schlug es zwölf
+Uhr, eh sie sich's versahen.
+
+"Das Gespenst hat uns gewittert und kommt wohl heut gar nicht",
+sagte der Doktor jetzt.
+
+"Nur Geduld, es soll erst um ein Uhr kommen", entgegnete der Freund.
+
+Das Gespräch wurde wieder aufgenommen. Es schlug ein Uhr. Ringsum
+war es völlig still, auch auf den Straßen war aller Lärm verklungen.
+Auf einmal hob der Doktor den Finger empor.
+
+"Pst, Sesemann, hörst du nichts?"
+
+Sie lauschten beide. Leise, aber ganz deutlich hörten sie, wie der
+Balken zurückgeschoben, dann der Schlüssel zweimal im Schloss
+umgedreht, jetzt die Tür geöffnet wurde. Herr Sesemann fuhr mit
+der Hand nach seinem Revolver.
+
+"Du fürchtest dich doch nicht?", sagte der Doktor und stand auf.
+
+"Behutsam ist besser", flüsterte Herr Sesemann, erfasste mit der
+Linken den Armleuchter mit drei Kerzen, mit der Rechten den
+Revolver und folgte dem Doktor, der, gleichermaßen mit Leuchter und
+Schießgewehr bewaffnet, voranging. Sie traten auf den Korridor
+hinaus.
+
+Durch die weit geöffnete Tür floss ein bleicher Mondschein herein
+und beleuchtete eine weiße Gestalt, die regungslos auf der Schwelle
+stand.
+
+"Wer da?", donnerte jetzt der Doktor heraus, dass es durch den
+ganzen Korridor hallte, und beide Herren traten nun mit Lichtern
+und Waffen an die Gestalt heran. Sie kehrte sich um und tat einen
+leisen Schrei. Mit bloßen Füßen im weißen Nachtkleidchen stand
+Heidi da, schaute mit verwirrten Blicken in die hellen Flammen und
+auf die Waffen und zitterte und bebte wie ein Blättlein im Winde
+von oben bis unten. Die Herren schauten einander in großem
+Erstaunen an.
+
+"Ich glaube wahrhaftig, Sesemann, es ist deine kleine
+Wasserträgerin", sagte der Doktor.
+
+"Kind, was soll das heißen?", fragte nun Herr Sesemann. "Was
+wolltest du tun? Warum bist du hier heruntergekommen?"
+
+Schneeweiß vor Schrecken stand Heidi vor ihm und sagte fast tonlos:
+"Ich weiß nicht."
+
+Jetzt trat der Doktor vor: "Sesemann, der Fall gehört in mein
+Gebiet; geh, setz dich einstweilen in deinen Lehnstuhl drinnen, ich
+will vor allem das Kind hinbringen, wo es hingehört."
+
+Damit legte er seinen Revolver auf den Boden, nahm das zitternde
+Kind ganz väterlich bei der Hand und ging mit ihm der Treppe zu.
+
+"Nicht fürchten, nicht fürchten", sagte er freundlich im
+Hinaufsteigen, "nur ganz ruhig sein, da ist gar nichts Schlimmes
+dabei, nur getrost sein."
+
+In Heidis Zimmer eingetreten, stellte der Doktor seinen Leuchter
+auf den Tisch, nahm Heidi auf den Arm, legte es in sein Bett hinein
+und deckte es sorgfältig zu. Dann setzte er sich auf den Sessel am
+Bett und wartete, bis Heidi ein wenig beruhigt war und nicht mehr
+an allen Gliedern bebte. Dann nahm er das Kind bei der Hand und
+sagte begütigend: "So, nun ist alles in Ordnung, nun sag mir auch
+noch, wo wolltest du denn hin?"
+
+"Ich wollte gewiss nirgends hin", versicherte Heidi; "ich bin auch
+gar nicht selbst hinuntergegangen, ich war nur auf einmal da."
+
+"So, so, und hast du etwa geträumt in der Nacht, weißt du, so, dass
+du deutlich etwas sahst und hörtest?"
+
+"Ja, jede Nacht träumt es mir und immer gleich. Dann mein ich, ich
+sei beim Großvater, und draußen hör ich's in den Tannen sausen und
+denke: Jetzt glitzern so schön die Sterne am Himmel, und ich laufe
+geschwind und mache die Tür auf an der Hütte und da ist's so schön!
+Aber wenn ich erwache, bin ich immer noch in Frankfurt." Heidi
+fing schon an zu kämpfen und zu schlucken an dem Gewicht, das den
+Hals hinaufstieg.
+
+"Hm, und tut dir denn auch nichts weh, nirgends? Nicht im Kopf
+oder im Rücken?"
+
+"O nein, nur hier drückt es so wie ein großer Stein immerfort."
+
+"Hm, etwa so, wie wenn man etwas gegessen hat und wollte es nachher
+lieber wieder zurückgeben?"
+
+"Nein, so nicht, aber so schwer, wie wenn man stark weinen sollte."
+
+"So, so, und weinst du denn so recht heraus?"
+
+"O nein, das darf man nicht, Fräulein Rottenmeier hat es verboten."
+
+"Dann schluckst du's herunter zum andern, nicht wahr, so? Richtig!
+Nun, du bist doch recht gern in Frankfurt, nicht?"
+
+"O ja", war die leise Antwort; sie klang aber so, als bedeute sie
+eher das Gegenteil.
+
+"Hm, und wo hast du mit deinem Großvater gelebt?"
+
+"Immer auf der Alm."
+
+"So, da ist's doch nicht so besonders kurzweilig, eher ein wenig
+langweilig, nicht?"
+
+"O nein, da ist's so schön, so schön!" Heidi konnte nicht weiter;
+die Erinnerung, die eben durchgemachte Aufregung, das lang
+verhaltene Weinen überwältigten die Kräfte des Kindes; gewaltsam
+stürzten ihm die Tränen aus den Augen und es brach in ein lautes,
+heftiges Schluchzen aus.
+
+Der Doktor stand auf; er legte freundlich Heidis Kopf auf das
+Kissen nieder und sagte: "So, noch ein klein wenig weinen, das kann
+nichts schaden, und dann schlafen, ganz fröhlich einschlafen;
+morgen wird alles gut." Dann verließ er das Zimmer.
+
+Wieder unten in die Wachtstube eingetreten, ließ er sich dem
+harrenden Freunde gegenüber in den Lehnstuhl nieder und erklärte
+dem mit gespannter Erwartung Lauschenden: "Sesemann, dein kleiner
+Schützling ist erstens mondsüchtig; völlig unbewusst hat er dir
+allnächtlich als Gespenst die Haustür aufgemacht und deiner ganzen
+Mannschaft die Fieber des Schreckens ins Gebein gejagt. Zweitens
+wird das Kind vom Heimweh verzehrt, so dass es schon jetzt fast zum
+Geripplein abgemagert ist und es noch völlig werden würde; also
+schnelle Hilfe! Für das erste Übel und die in hohem Grade
+stattfindende Nervenaufregung gibt es nur ein Heilmittel, nämlich,
+dass du sofort das Kind in die heimatliche Bergluft
+zurückversetzest; für das zweite gibt's ebenfalls nur (eine)
+Medizin, nämlich ganz dieselbe. Demnach reist das Kind morgen ab,
+das ist mein Rezept."
+
+Herr Sesemann war aufgestanden. In größter Aufregung lief er das
+Zimmer auf und ab; jetzt brach er aus: "Mondsüchtig! Krank!
+Heimweh! Abgemagert in meinem Hause! Das alles in meinem Hause!
+Und niemand sieht zu und weiß etwas davon! Und du, Doktor, du
+meinst, das Kind, das frisch und gesund in mein Haus gekommen ist,
+schicke ich elend und abgemagert seinem Großvater zurück? Nein,
+Doktor, das kannst du nicht verlangen, das tu ich nicht, das werde
+ich nie tun. Jetzt nimm das Kind in die Hand, mach Kuren mit ihm,
+mach, was du willst, aber mach es mir heil und gesund, dann will
+ich es heimschicken, wenn es will; aber erst hilf du!"
+
+"Sesemann", entgegnete der Doktor ernsthaft, "bedenke, was du tust!
+Dieser Zustand ist keine Krankheit, die man mit Pulvern und Pillen
+heilt. Das Kind hat keine zähe Natur, indessen, wenn du es jetzt
+gleich wieder in die kräftige Bergluft hinaufschickst, an die es
+gewöhnt ist, so kann es wieder völlig gesunden; wenn nicht--du
+willst nicht, dass das Kind dem Großvater unheilbar oder gar nicht
+mehr zurückkomme?"
+
+Herr Sesemann war erschrocken stehen geblieben: "Ja, wenn du so
+redest, Doktor, dann ist nur (ein) Weg, dann muss sofort gehandelt
+werden." Mit diesen Worten nahm Herr Sesemann den Arm seines
+Freundes und wanderte mit ihm hin und her, um die Sache noch weiter
+zu besprechen. Dann brach der Doktor auf, um nach Hause zu gehen,
+denn es war unterdessen viel Zeit vergangen, und durch die Haustür,
+die diesmal vom Herrn des Hauses aufgeschlossen wurde, drang schon
+der helle Morgenschimmer herein.
+
+
+
+
+Am Sommerabend die Alm hinan
+
+Herr Sesemann stieg in großer Erregtheit die Treppe hinauf und
+wanderte mit festem Schritt zum Schlafgemach der Dame Rottenmeier.
+Hier klopfte er so ungewöhnlich kräftig an die Tür, dass die
+Bewohnerin mit einem Schreckensruf aus dem Schlaf auffuhr. Sie
+hörte die Stimme des Hausherrn draußen: "Bitte sich zu beeilen und
+im Esszimmer zu erscheinen, es muss sofort eine Abreise vorbereitet
+werden."
+
+Fräulein Rottenmeier schaute auf ihre Uhr, es war halb fünf des
+Morgens; zu solcher Stunde war sie in ihrem Leben noch nie
+aufgestanden. Was konnte nur vorgefallen sein? Vor Neugierde und
+angstvoller Erwartung nahm sie alles verkehrt in die Hand und kam
+durchaus nicht vorwärts, denn was sie einmal auf den Leib gebracht
+hatte, suchte sie nachher rastlos im Zimmer herum.
+
+Unterdessen ging Herr Sesemann den Korridor entlang und zog mit
+aller Kraft an jedem Glockenzug, der je für die verschiedenen
+Glieder der Dienerschaft angebracht war, so dass in jedem der
+betreffenden Zimmer eine Schreckensgestalt aus dem Bett sprang und
+verkehrt in die Kleider fuhr, denn einer wie der andere dachte
+sogleich, das Gespenst habe irgendwie den Hausherrn gepackt und
+dies sei sein Hilferuf. So kamen sie nach und nach, einer
+schauerlicher aussehend als der andere, herunter und stellten sich
+mit Erstaunen vor den Hausherrn hin, denn dieser ging frisch und
+munter im Esszimmer auf und ab und sah keineswegs aus, als habe ihn
+ein Gespenst erschreckt. Johann wurde sofort hingeschickt, Pferde
+und Wagen in Ordnung zu bringen und sie nachher vorzuführen.
+Tinette erhielt den Auftrag, sogleich Heidi aufzuwecken und es in
+den Stand zu stellen, eine Reise anzutreten. Sebastian erhielt den
+Auftrag, nach dem Hause zu eilen, wo Heidis Base im Dienst stand,
+und diese herbeizuholen. Fräulein Rottenmeier war unterdessen
+zurechtgekommen mit ihrem Anzug, und alles saß, wie es musste, nur
+die Haube saß verkehrt auf dem Kopf, so dass es von weitem aussah,
+als sitze ihr das Gesicht auf dem Rücken. Herr Sesemann schrieb
+den rätselhaften Anblick dem frühen Schlafbrechen zu und ging
+unverweilt an die Geschäftsverhandlungen. Er erklärte der Dame,
+sie habe ohne Zögern einen Koffer zur Stelle zu schaffen, die
+sämtliche Habe des Schweizerkindes hineinzupacken--so nannte Herr
+Sesemann gewöhnlich das Heidi, dessen Name ihm etwas ungewohnt war--
+, dazu noch einen guten Teil von Klaras Zeug, damit das Kind was
+Rechtes mitbringe; es müsse aber alles schnell und ohne langes
+Besinnen vor sich gehen.
+
+Fräulein Rottenmeier blieb vor Überraschung wie in den Boden
+eingewurzelt stehen und starrte Herrn Sesemann an. Sie hatte
+erwartet, er wolle ihr im Vertrauen die Mitteilung einer
+schauerlichen Geistergeschichte machen, die er in der Nacht erlebt
+und die sie eben jetzt bei dem hellen Morgenlicht nicht ungern
+gehört hätte; stattdessen diese völlig prosaischen und dazu noch
+sehr unbequemen Aufträge. So schnell konnte sie das Unerwartete
+nicht bewältigen. Sprachlos stand sie immer noch da und erwartete
+ein Weiteres.
+
+Aber Herr Sesemann hatte keine Erklärungen im Sinn; er ließ die
+Dame stehen, wo sie stand, und ging nach dem Zimmer seiner Tochter.
+Wie er vermutet hatte, war diese durch die ungewöhnliche Bewegung
+im Hause wach geworden und lauschte nach allen Seiten hin, was wohl
+vorgehe. Der Vater setzte sich nun an ihr Bett und erzählte ihr
+den ganzen Verlauf der Geistererscheinung und dass Heidi nach des
+Doktors Ausspruch sehr angegriffen sei und wohl nach und nach seine
+nächtlichen Wanderungen ausdehnen, vielleicht gar das Dach
+besteigen würde, was dann mit den höchsten Gefahren verbunden wäre.
+Er habe also beschlossen, das Kind sofort heimzuschicken, denn
+solche Verantwortung könne er nicht auf sich nehmen, und Klara
+müsse sich dareinfinden, sie sehe ja ein, dass es nicht anders sein
+könne.
+
+Klara war sehr schmerzlich überrascht von der Mitteilung und wollte
+erst allerlei Auswege finden, aber es half nichts, der Vater blieb
+fest bei seinem Entschluss, versprach aber, im nächsten Jahre mit
+Klara nach der Schweiz zu reisen, wenn sie nun recht vernünftig sei
+und keinen Jammer erhebe. So ergab sich Klara in das
+Unvermeidliche, begehrte aber zum Ersatz, dass der Koffer für Heidi
+in ihr Zimmer gebracht und da gepackt werde, damit sie
+hineinstecken könne, was ihr Freude mache, was der Papa sehr gern
+bewilligte, ja er ermunterte Klara noch, dem Kinde eine schöne
+Aussteuer zurechtzumachen. Unterdessen war die Base Dete angelangt
+und stand in großer Erwartung im Vorzimmer, denn dass sie um diese
+ungewöhnliche Zeit einberufen worden war, musste etwas
+Außerordentliches bedeuten. Herr Sesemann trat zu ihr heraus und
+erklärte ihr, wie es mit Heidi stehe und dass er wünsche, sie
+möchte das Kind sofort, gleich heute noch, nach Hause bringen. Die
+Base sah sehr enttäuscht aus; diese Nachricht hatte sie nicht
+erwartet. Sie erinnerte sich auch noch recht wohl der Worte, die
+ihr der Öhi mit auf den Weg gegeben hatte, dass sie ihm nie mehr
+vor die Augen kommen solle, und so das Kind dem Alten einmal
+bringen und dann nehmen und dann wiederbringen, das schien ihr
+nicht ganz geraten zu sein. Sie besann sich also nicht lange,
+sondern sagte mit großer Beredsamkeit, heute wäre es ihr leider
+völlig unmöglich, die Reise anzutreten, und morgen könnte sie noch
+weniger daran denken, und die Tage darauf wäre es am
+allerunmöglichsten, um der darauf folgenden Geschäfte willen, und
+nachher könnte sie dann gar nicht mehr. Herr Sesemann verstand die
+Sprache und entließ die Base ohne weiteres. Nun ließ er den
+Sebastian vortreten und erklärte ihm, er habe sich unverzüglich zur
+Reise zu rüsten; heute habe er mit dem Kinde bis nach Basel zu
+fahren, morgen bringe er es heim. Dann könne er sogleich wieder
+umkehren, zu berichten habe er nichts, ein Brief an den Großvater
+werde diesem alles erklären.
+
+"Nun aber noch eine Hauptsache, Sebastian", schloss Herr Sesemann,
+"und dass Er mir das pünktlich besorgt! Den Gasthof in Basel, den
+ich Ihm hier auf meine Karte geschrieben, kenne ich. Er weist
+meine Karte vor, dann wird Ihm ein gutes Zimmer angewiesen werden
+für das Kind; für sich selbst wird Er schon sorgen. Dann geht Er
+erst in des Kindes Zimmer hinein und verrammelt alle Fenster so
+vollständig, dass nur große Gewalt sie aufzubringen vermöchte. Ist
+das Kind zu Bett, so geht Er und schließt von außen die Tür ab,
+denn das Kind wandert herum in der Nacht und könnte Gefahr laufen
+in dem fremden Haus, wenn es etwa hinausginge und die Haustür
+aufmachen wollte; versteht Er das?"
+
+"Ah! Ah! Ah! Das war's? So war's?", stieß Sebastian jetzt in
+größter Verwunderung aus, denn es war ihm eben ein großes Licht
+aufgegangen über die Geistererscheinung.
+
+"Ja, so war's! Das war's! Und Er ist ein Hasenfuß, und dem Johann
+kann Er sagen, er sei desgleichen und alle miteinander eine
+lächerliche Mannschaft." Damit ging Herr Sesemann nach seiner Stube,
+setzte sich hin und schrieb einen Brief an den Alm-Öhi.
+
+Sebastian war verdutzt mitten im Zimmer stehen geblieben und
+wiederholte jetzt zu öfteren Malen in seinem Innern: "Hätt ich mich
+doch von dem Feigling von einem Johann nicht in die Wachtstube
+hineinreißen lassen, sondern wäre dem weißen Figürchen nachgegangen,
+was ich doch jetzt unzweifelhaft tun würde!", denn jetzt
+beleuchtete die helle Sonne jeden Winkel der hellgrauen Stube mit
+voller Klarheit.
+
+Unterdessen stand Heidi völlig ahnungslos in seinem
+Sonntagsröckchen und wartete ab, was geschehen sollte, denn die
+Tinette hatte es nur aus dem Schlafe aufgerüttelt, die Kleider aus
+dem Schrank genommen und das Anziehen gefördert, ohne ein Wort zu
+sagen. Sie sprach niemals mit dem ungebildeten Heidi, denn das war
+ihr zu gering.
+
+Herr Sesemann trat mit seinem Brief ins Esszimmer ein, wo das
+Frühstück bereitstand, und rief: "Wo ist das Kind?"
+
+Heidi wurde gerufen. Als es zu Herrn Sesemann herantrat, um ihm
+'guten Morgen' zu sagen, schaute er ihm fragend ins
+Gesicht: "Nun, was sagst du denn dazu, Kleine?"
+
+Heidi blickte verwundert zu ihm auf.
+
+"Du weißt am Ende noch gar nichts", lachte Herr Sesemann. "Nun,
+heut gehst du heim, jetzt gleich."
+
+"Heim?", wiederholte Heidi tonlos und wurde schneeweiß, und eine
+kleine Weile konnte es gar keinen Atem mehr holen, so stark wurde
+sein Herz von dem Eindruck gepackt.
+
+"Nun, willst du etwa nichts wissen davon?", fragte Herr Sesemann
+lächelnd.
+
+"O ja, ich will schon", kam jetzt heraus, und nun war Heidi
+dunkelrot geworden.
+
+"Gut, gut", sagte Herr Sesemann ermunternd, indem er sich setzte
+und Heidi winkte, dasselbe zu tun. "Und nun tüchtig frühstücken
+und hernach in den Wagen und fort."
+
+Aber Heidi konnte keinen Bissen herunterbringen, wie es sich auch
+zwingen wollte aus Gehorsam; es war in einem Zustand von Aufregung,
+dass es gar nicht wusste, ob es wache oder träume und ob es
+vielleicht wieder auf einmal erwachen und im Nachthemdchen an der
+Haustür stehen werde.
+
+"Sebastian soll reichlich Proviant mitnehmen", rief Herr Sesemann
+Fräulein Rottenmeier zu, die eben eintrat; "das Kind kann nicht
+essen, begreiflicherweise.--Geh hinüber zu Klara, bis der Wagen
+vorfährt", setzte er freundlich, zu Heidi gewandt, hinzu.
+
+Das war Heidis Wunsch: Es sprang hinüber. Mitten in Klaras Zimmer
+war ein ungeheurer Koffer zu sehen, noch stand dessen Deckel weit
+offen.
+
+"Komm, Heidi, komm", rief ihm Klara entgegen. "Sieh, was ich dir
+habe einpacken lassen, komm, freut's dich?"
+
+Und sie nannte ihm eine ganze Menge von Dingen, Kleider und
+Schürzen, Tücher und Nähgerät, "und sieh hier, Heidi", und Klara
+hob triumphierend einen Korb in die Höhe. Heidi guckte hinein und
+sprang hoch auf vor Freude, denn drinnen lagen wohl zwölf schöne,
+weiße, runde Brötchen, alle für die Großmutter. Die Kinder
+vergaßen in ihrem Jubel ganz, dass nun der Augenblick komme, da sie
+sich trennen mussten, und als mit einem Mal der Ruf erschallte:
+"Der Wagen ist bereit!"--da war keine Zeit mehr zum Traurigwerden.
+Heidi lief in sein Zimmer, da musste noch ein schönes Buch von der
+Großmama liegen, niemand konnte es eingepackt haben, denn es lag
+unter dem Kopfkissen, weil Heidi Tag und Nacht sich nicht davon
+trennen konnte. Das wurde in den Korb auf die Brötchen gelegt.
+Dann machte es seinen Schrank auf; noch suchte es nach einem Gute,
+das man vielleicht auch nicht eingepackt hatte. Richtig--auch das
+alte rote Tuch lag noch da, Fräulein Rottenmeier hatte es zu gering
+erachtet, um mit eingepackt zu werden. Heidi wickelte es um einen
+anderen Gegenstand und legte es zuoberst auf den Korb, so dass das
+rote Paket sehr sichtbar zur Erscheinung kam. Dann setzte es sein
+schönes Hütchen auf und verließ sein Zimmer.
+
+Die beiden Kinder mussten sich schnell Lebewohl sagen, denn Herr
+Sesemann stand schon da, um Heidi nach dem Wagen zu bringen.
+Fräulein Rottenmeier stand oben an der Treppe, um hier Heidi zu
+verabschieden. Als sie das seltsame rote Bündelchen erblickte,
+nahm sie es schnell aus dem Korb heraus und warf es auf den Boden.
+
+"Nein, Adelheid", sagte sie tadelnd, "so kannst du nicht reisen von
+diesem Hause aus; solches Zeug brauchst du überhaupt nicht
+mitzuschleppen. Nun lebe wohl."
+
+Auf dieses Verbot hin durfte Heidi sein Bündelchen nicht wieder
+aufnehmen, aber es schaute mit einem flehentlichen Blick zu dem
+Hausherrn auf, so, als wollte man ihm seinen größten Schatz nehmen.
+
+"Nein, nein", sagte Herr Sesemann in sehr bestimmtem Tone, "das
+Kind soll mit heimtragen, was ihm Freude macht, und sollte es auch
+junge Katzen oder Schildkröten mit fortschleppen, so wollen wir uns
+darüber nicht aufregen, Fräulein Rottenmeier."
+
+Heidi hob eilig sein Bündelchen wieder vom Boden auf, und Dank und
+Freude leuchteten ihm aus den Augen. Unten am Wagen reichte Herr
+Sesemann dem Kinde die Hand und sagte ihm mit freundlichen Worten,
+sie würden seiner gedenken, er und seine Tochter Klara; er wünschte
+ihm alles Gute auf den Weg, und Heidi dankte recht schön für alle
+Guttaten, die ihm zuteil geworden waren, und zum Schluss sagte es:
+"Und den Herrn Doktor lasse ich tausendmal grüßen und ihm auch
+vielmals danken." Denn es hatte sich wohl gemerkt, wie er gestern
+Abend gesagt hatte: "Und morgen wird alles gut." Nun war es so
+gekommen, und Heidi dachte, er habe dazu geholfen.
+
+Jetzt wurde das Kind in den Wagen gehoben und der Korb und die
+Provianttasche und der Sebastian kamen nach. Herr Sesemann rief
+noch einmal freundlich: "Glückliche Reise!", und der Wagen rollte
+davon.
+
+Bald nachher saß Heidi in der Eisenbahn und hielt unbeweglich
+seinen Korb auf dem Schoße fest, denn es wollte ihn nicht einen
+Augenblick aus den Händen lassen, seine kostbaren Brötchen für die
+Großmutter waren ja darin, die musste es sorgfältig hüten und von
+Zeit zu Zeit einmal wieder ansehen und sich freuen darüber. Heidi
+saß mäuschenstille während mehrerer Stunden, denn erst jetzt kam es
+recht zum Bewusstsein, dass es auf dem Wege sei heim zum Großvater,
+auf die Alm, zur Großmutter, zum Geißenpeter, und nun kam ihm alles
+vor Augen, eins nach dem anderen, was es wieder sehen werde und wie
+alles aussehen werde daheim, und dabei stiegen ihm wieder neue
+Gedanken auf, und auf einmal sagte es ängstlich: "Sebastian, ist
+auch sicher die Großmutter auf der Alm nicht gestorben?"
+
+"Nein, nein", beruhigte dieser, "wollen's nicht hoffen, wird schon
+noch am Leben sein."
+
+Dann fiel Heidi wieder in sein Sinnen zurück; nur hier und da
+guckte es einmal in seinen Korb hinein, denn alle die Brötchen der
+Großmutter auf den Tisch legen war sein Hauptgedanke. Nach
+längerer Zeit sagte es wieder: "Sebastian, wenn man nur auch ganz
+sicher wissen könnte, dass die Großmutter noch am Leben ist."
+
+"Jawohl! Jawohl!", entgegnete der Begleiter halb schlafend; "Wird
+schon noch leben, wüsste auch gar nicht, warum nicht."
+
+Nach einiger Zeit drückte der Schlaf auch Heidis Augen zu, und nach
+der vergangenen unruhigen Nacht und dem frühen Aufstehen war es so
+schlafbedürftig, dass es erst wieder erwachte, als Sebastian es
+tüchtig am Arm schüttelte und ihm zurief: "Erwachen! Erwachen!
+Gleich aussteigen, in Basel angekommen!"
+
+Am folgenden Morgen ging's weiter, viele Stunden lang. Heidi saß
+wieder mit seinem Korb auf dem Schoß, den es um keinen Preis dem
+Sebastian übergeben wollte; aber heute sagte es gar nichts mehr,
+denn nun wurde mit jeder Stunde die Erwartung gespannter. Dann auf
+einmal, als Heidi gar nicht daran dachte, ertönte laut der Ruf:
+"Maienfeld!" Es sprang von seinem Sitz auf, und dasselbe tat
+Sebastian, der auch überrascht worden war. Jetzt standen sie
+draußen, der Koffer mit ihnen, und der Bahnzug pfiff weiter ins Tal
+hinein. Sebastian sah ihm wehmütig nach, denn er wäre viel lieber
+so sicher und ohne Mühe weitergereist, als dass er nun eine
+Fußpartie unternehmen sollte, die dazu noch mit einer
+Bergbesteigung enden musste, die sehr beschwerlich und dazu
+gefahrvoll sein konnte in diesem Lande, wo doch alles noch halb
+wild war, wie Sebastian annahm. Er schaute daher sehr vorsichtig
+um sich, wen er etwa beraten könnte über den sichersten Weg nach
+dem 'Dörfli'. Unweit des kleinen Stationsgebäudes
+stand ein kleiner Leiterwagen mit einem mageren Rösslein davor; auf
+diesen wurden von einem breitschultrigen Manne ein paar große Säcke
+aufgeladen, die mit der Bahn hergebracht worden waren. Sebastian
+trat zu ihm heran und brachte seine Frage nach dem sichersten Weg
+zum Dörfli vor.
+
+"Hier sind alle Wege sicher", war die kurze Antwort.
+
+Jetzt fragte Sebastian nach dem besten Wege, auf dem man gehen
+könne, ohne in die Abgründe zu stürzen, und auch wie man einen
+Koffer nach dem betreffenden Dörfli befördern könnte. Der Mann
+schaute nach dem Koffer hin und maß ihn ein wenig mit den Augen;
+dann erklärte er, wenn das Ding nicht zu schwer sei, so wolle er es
+auf seinen Wagen nehmen, da er selbst nach dem Dörfli fahre, und so
+gab noch ein Wort das andere, und endlich kamen die beiden überein,
+der Mann solle Kind und Koffer mit auf seinen Wagen nehmen, und
+nachher vom Dörfli aus könne das Kind am Abend mit irgendjemand auf
+die Alm geschickt werden.
+
+"Ich kann allein gehen, ich weiß schon den Weg vom Dörfli auf die
+Alm", sagte hier Heidi, das mit Aufmerksamkeit der Verhandlung
+zugehört hatte. Dem Sebastian fiel eine schwere Last vom Herzen,
+als er sich so auf einmal seiner Aussicht auf das Bergklettern
+entledigt sah. Er winkte nun Heidi geheimnisvoll auf die Seite und
+überreichte ihm hier eine schwere Rolle und einen Brief an den
+Großvater und erklärte ihm, die Rolle sei ein Geschenk von Herrn
+Sesemann, die müsse aber zuunterst in den Korb gesteckt werden,
+noch unter die Brötchen, und darauf müsse genau Acht gegeben werden,
+dass sie nicht verloren gehe, denn darüber würde Herr Sesemann
+ganz fürchterlich böse und sein Leben lang nie mehr gut werden; das
+sollte das Mamsellchen nur ja bedenken.
+
+"Ich verliere sie schon nicht", sagte Heidi zuversichtlich und
+steckte die Rolle samt dem Brief zuallerunterst in den Korb hinein.
+Nun wurde der Koffer aufgeladen, und nachher hob Sebastian Heidi
+samt seinem Korb auf den hohen Sitz empor, reichte ihm seine Hand
+hinauf zum Abschied und ermahnte es noch einmal mit allerlei
+Zeichen, auf den Inhalt des Korbes ein Auge zu haben; denn der
+Führer war noch in der Nähe, und Sebastian war vorsichtig,
+besonders jetzt, da er wusste, er hätte eigentlich selbst das Kind
+an Ort und Stelle bringen sollen. Der Führer schwang sich jetzt
+neben Heidi auf den Sitz hinauf, und der Wagen rollte den Bergen zu,
+während Sebastian, froh über seine Befreiung von der gefürchteten
+Bergreise, sich am Stationshäuschen niedersetzte, um den
+zurückgehenden Bahnzug abzuwarten.
+
+Der Mann auf dem Wagen war der Bäcker vom Dörfli, welcher seine
+Mehlsäcke nach Hause fuhr. Er hatte Heidi nie gesehen, aber wie
+jedermann im Dörfli wusste er von dem Kinde, das man dem Alm-Öhi
+gebracht hatte; auch hatte er Heidis Eltern gekannt und sich gleich
+vorgestellt, er werde es mit dem viel besprochenen Kinde hier zu
+tun haben. Es wunderte ihn nun ein wenig, warum das Kind schon
+wieder heimkommen und während der Fahrt fing er nun mit Heidi ein
+Gespräch an: "Du wirst das Kind sein, das oben beim Alm-Öhi war,
+beim Großvater?"
+
+"Ja."
+
+"So ist es dir schlecht gegangen, dass du schon wieder von so weit
+her heimkommst?"
+
+"Nein, das ist es mir nicht; kein Mensch kann es so gut haben, wie
+man es in Frankfurt hat."
+
+"Warum läufst du denn heim?"
+
+"Nur weil es mir der Herr Sesemann erlaubt hat, sonst wär ich nicht
+heimgelaufen."
+
+"Pah, warum bist du denn aber nicht lieber dort geblieben, wenn man
+dir's erlaubt hat, heimzugehen?"
+
+"Weil ich tausendmal lieber heimwill zum Großvater auf die Alm als
+sonst alles auf der Welt."
+
+"Denkst vielleicht anders, wenn du hinaufkommst", brummte der
+Bäcker; "nimmt mich aber doch wunder", sagte er dann zu sich selbst,
+"es kann wissen, wie's ist."
+
+Nun fing er an zu pfeifen und sagte nichts mehr, und Heidi schaute
+um sich und fing an innerlich zu zittern vor Erregung, denn es
+erkannte die Bäume am Wege, und drüben standen die hohen Zacken des
+Falknis-Berges und schauten zu ihm herüber, so als grüßten sie es
+wie gute alte Freunde; und Heidi grüßte wieder, und mit jedem
+Schritt vorwärts wurde Heidis Erwartung gespannter, und es meinte,
+es müsse vom Wagen herunterspringen und aus allen Kräften laufen,
+bis es ganz oben wäre. Aber es blieb doch still sitzen und rührte
+sich nicht, aber alles zitterte an ihm. Jetzt fuhren sie im Dörfli
+ein, eben schlug die Glocke fünf Uhr. Augenblicklich sammelte sich
+eine Gesellschaft von Kindern und Frauen um den Wagen herum, und
+ein paar Nachbarn traten auch noch herzu, denn der Koffer und das
+Kind auf des Bäckers Wagen hatten die Aufmerksamkeit aller
+Umwohnenden auf sich gezogen, und jeder wollte wissen, woher und
+wohin und wem beide zugehörten. Als der Bäcker Heidi
+heruntergehoben hatte, sagte es eilig: "Danke, der Großvater holt
+dann schon den Koffer", und wollte davonrennen. Aber von allen
+Seiten wurde es festgehalten, und eine Menge von Stimmen fragten
+alle auf einmal, jede etwas Eigenes. Heidi drängte sich mit einer
+solchen Angst auf dem Gesichte durch die Leute, dass man ihm
+unwillkürlich Platz machte und es laufen ließ, und einer sagte zum
+anderen: "Du siehst ja, wie es sich fürchtet, es hat auch alle
+Ursache." Und dann fingen sie noch an, sich zu erzählen, wie der
+Alm-Öhi seit einem Jahr noch viel ärger geworden sei als vorher und
+mit keinem Menschen mehr ein Wort rede und ein Gesicht mache, als
+wolle er am liebsten jeden umbringen, der ihm in den Weg komme, und
+wenn das Kind auf der ganzen Welt noch wüsste wohin, so liefe es
+nicht in das alte Drachennest hinauf. Aber hier fiel der Bäcker in
+das Gespräch ein und sagte, er werde wohl mehr wissen als sie alle,
+und erzählte dann sehr geheimnisvoll, wie ein Herr das Kind bis
+nach Maienfeld gebracht und es ganz freundlich entlassen habe und
+auch gleich ohne Markten ihm den geforderten Fahrpreis und dazu
+noch ein Trinkgeld gegeben habe, und überhaupt könne er sicher
+sagen, dass es dem Kind wohl genug gewesen sei, wo es war, und es
+selbst begehrt habe, zum Großvater zurückzugehen. Diese Nachricht
+brachte eine große Verwunderung hervor und wurde nun gleich im
+ganzen Dörfli so verbreitet, dass noch am gleichen Abend kein Haus
+daselbst war, in dem man nicht davon redete, dass das Heidi aus
+allem Wohlleben zum Großvater zurückbegehrt habe.
+
+Heidi lief vom Dörfli bergan, so schnell es nur konnte; von Zeit zu
+Zeit musste es aber plötzlich stille stehen, denn es hatte ganz den
+Atem verloren; sein Korb am Arm war doch ziemlich schwer, und dazu
+ging es nun immer steiler, je höher hinauf es ging. Heidi hatte
+nur noch einen Gedanken: "Wird auch die Großmutter noch auf ihrem
+Plätzchen sitzen am Spinnrad in der Ecke, ist sie auch nicht
+gestorben unterdessen?" Jetzt erblickte Heidi die Hütte oben in der
+Vertiefung an der Alm, sein Herz fing an zu klopfen, Heidi rannte
+noch mehr, immer mehr und immer lauter schlug ihm das Herz. Jetzt
+war es oben--vor Zittern konnte es fast die Tür nicht aufmachen--
+doch jetzt--es sprang hinein bis mitten in die kleine Stube und
+stand da, völlig außer Atem, und brachte keinen Ton hervor.
+
+"Ach du mein Gott", tönte es aus der Ecke hervor, "so sprang unser
+Heidi herein, ach, wenn ich es noch ein Mal im Leben bei mir haben
+könnte! Wer ist hereingekommen?"
+
+"Da bin ich ja, Großmutter, da bin ich ja", rief Heidi jetzt und
+stürzte nach der Ecke und gleich auf seine Knie zu der Großmutter
+heran, fasste ihren Arm und ihre Hände und legte sich an sie und
+konnte vor Freude gar nichts mehr sagen. Erst war die Großmutter
+so überrascht, dass auch sie kein Wort hervorbringen konnte; dann
+fuhr sie mit der Hand streichelnd über Heidis Kraushaare hin, und
+nun sagte sie ein Mal über das andere: "Ja, ja, das sind seine
+Haare und es ist ja seine Stimme, ach du lieber Gott, dass du mich
+das noch erleben lässt!" Und aus den blinden Augen fielen ein paar
+große Freudentränen auf Heidis Hand nieder. "Bist du's auch, Heidi,
+bist du auch sicher wieder da?"
+
+"Ja, ja, sicher, Großmutter", rief Heidi nun mit aller Zuversicht,
+"weine nur nicht, ich bin ganz gewiss wieder da und komme alle Tage
+zu dir und gehe nie wieder fort, und du musst auch manchen Tag kein
+hartes Brot mehr essen, siehst du, Großmutter, siehst du?"
+
+Und Heidi packte nun aus seinem Korb ein Brötchen nach dem andern
+aus, bis es alle zwölf auf dem Schoß der Großmutter aufgehäuft
+hatte.
+
+"Ach Kind! Ach Kind! Was bringst du denn für einen Segen mit!",
+rief die Großmutter aus, als es nicht enden wollte mit den Brötchen
+und immer noch eines folgte. "Aber der größte Segen bist du mir
+doch selber, Kind!" Dann griff sie wieder in Heidis krause Haare
+und strich über seine heißen Wangen und sagte wieder: "Sag noch ein
+Wort, Kind, sag noch etwas, dass ich dich hören kann."
+
+Heidi erzählte nun der Großmutter, welche große Angst es habe
+ausstehen müssen, sie sei vielleicht gestorben unterdessen und habe
+nun gar nie die weißen Brötchen bekommen, und es könne nie, nie
+mehr zu ihr gehen.
+
+Jetzt trat Peters Mutter herein und blieb einen Augenblick
+unbeweglich stehen vor Erstaunen. Dann rief sie: "Sicher, es ist
+das Heidi, wie kann auch das sein!"
+
+Heidi stand auf und gab ihr die Hand, und die Brigitte konnte sich
+gar nicht genug verwundern darüber, wie Heidi aussehe, und ging um
+das Kind herum und sagte: "Großmutter, wenn du doch nur sehen
+könntest, was für ein schönes Röcklein das Heidi hat und wie es
+aussieht; man kennt es fast nicht mehr. Und das Federnhütlein auf
+dem Tisch gehört dir auch noch? Setz es doch einmal auf, so kann
+ich sehen, wie du drin aussiehst."
+
+"Nein, ich will nicht", erklärte Heidi, "du kannst es haben, ich
+brauche es nicht mehr, ich habe schon noch mein eigenes." Damit
+machte Heidi sein rotes Bündelchen auf und nahm sein altes Hütchen
+daraus hervor, das auf der Reise zu den Knicken, die es schon
+vorher gehabt, noch einige bekommen hatte. Aber das kümmerte das
+Heidi wenig; es hatte ja nicht vergessen, wie der Großvater beim
+Abschied nachgerufen hatte, in einem Federnhut wolle er es niemals
+sehen; darum hatte Heidi sein Hütchen so sorgfältig aufgehoben,
+denn es dachte ja immer ans Heimgehen zum Großvater. Aber die
+Brigitte sagte, so einfältig müsse es nicht sein, es sei ja ein
+prächtiges Hütchen, das nehme sie nicht; man könnte es ja etwa dem
+Töchterlein vom Lehrer im Dörfli verkaufen und noch viel Geld
+bekommen, wenn es das Hütlein nicht tragen wolle. Aber Heidi blieb
+bei seinem Vorhaben und legte das Hütchen leise hinter die
+Großmutter in den Winkel, wo es ganz verborgen war. Dann zog Heidi
+auf einmal sein schönes Röcklein aus, und über das Unterröckchen,
+in dem es nun mit bloßen Armen dastand, band es das rote Halstuch,
+und nun fasste es die Hand der Großmutter und sagte: "Jetzt muss
+ich heim zum Großvater, aber morgen komm ich wieder zu dir; gute
+Nacht, Großmutter."
+
+"Ja, komm auch wieder, Heidi, komm auch morgen wieder", bat die
+Großmutter und drückte seine Hand zwischen den ihrigen und konnte
+das Kind fast nicht loslassen.
+
+"Warum hast du denn dein schönes Röcklein ausgezogen?", fragte die
+Brigitte.
+
+"Weil ich lieber so zum Großvater will, sonst kennt er mich
+vielleicht nicht mehr, du hast mich ja auch fast nicht gekannt
+darin."
+
+Die Brigitte ging noch mit Heidi vor die Tür hinaus, und hier sagte
+sie ein wenig geheimnisvoll zu ihm: "Den Rock hättest du schon
+anbehalten können, er hätte dich doch gekannt; aber sonst musst du
+dich in Acht nehmen; der Peterli sagt, der Alm-Öhi sei jetzt immer
+bös und rede kein Wort mehr."
+
+Heidi sagte 'gute Nacht' und stieg die Alm hinan mit
+seinem Korb am Arm. Die Abendsonne leuchtete ringsum auf die grüne
+Alm, und jetzt war auch drüben das große Schneefeld an der
+Schesaplana sichtbar geworden und strahlte herüber. Heidi musste
+alle paar Schritte wieder stille stehen und sich umkehren, denn die
+hohen Berge hatte es im Rücken beim Hinaufsteigen. Jetzt fiel ein
+roter Schimmer vor seinen Füßen auf das Gras, es kehrte sich um, da
+--so hatte es die Herrlichkeit nicht mehr im Sinn gehabt und auch
+nie so im Traum gesehen--die Felshörner am Falknis flammten zum
+Himmel auf, das weite Schneefeld glühte und rosenrote Wolken zogen
+darüber hin; das Gras rings auf der Alm war golden, von allen
+Felsen flimmerte und leuchtete es nieder und unten schwamm weithin
+das ganze Tal in Duft und Gold. Heidi stand mitten in der
+Herrlichkeit, und vor Freude und Wonne liefen ihm die hellen Tränen
+die Wangen herunter, und es musste die Hände falten und in den
+Himmel hinaufschauen und ganz laut dem lieben Gott danken, dass er
+es wieder heimgebracht hatte und dass alles, alles noch so schön
+sei und noch viel schöner, als es gewusst hatte, und dass alles
+wieder ihm gehöre; und Heidi war so glücklich und so reich in all
+der großen Herrlichkeit, dass es gar nicht Worte fand, dem lieben
+Gott genug zu danken. Erst als das Licht ringsum verglühte, konnte
+Heidi wieder von der Stelle weg; nun rannte es aber so den Berg
+hinan, dass es gar nicht lange dauerte, so erblickte es oben die
+Tannenwipfel über dem Dache und jetzt das Dach und die ganze Hütte,
+und auf der Bank an der Hütte saß der Großvater und rauchte sein
+Pfeifchen, und über die Hütte her wogten die alten Tannenwipfel und
+raschelten im Abendwind. Jetzt rannte das Heidi noch mehr, und
+bevor der Alm-Öhi nur recht sehen konnte, was da herankam, stürzte
+das Kind schon auf ihn hin, warf seinen Korb auf den Boden und
+umklammerte den Alten, und vor Aufregung des Wiedersehens konnte es
+nichts sagen, als nur immer ausrufen: "Großvater! Großvater!
+Großvater!"
+
+Der Großvater sagte auch nichts. Seit vielen Jahren waren ihm zum
+erstenmal wieder die Augen nass geworden, und er musste mit der
+Hand darüber fahren. Dann löste er Heidis Arme von seinem Hals,
+setzte das Kind auf seine Knie und betrachtete es einen Augenblick.
+"So, bist du wieder heimgekommen, Heidi", sagte er dann; "wie ist
+das? Besonders hoffärtig siehst du nicht aus, haben sie dich
+fortgeschickt?"
+
+"O nein, Großvater", fing Heidi nun mit Eifer an, "das musst du
+nicht glauben, sie waren alle so gut, die Klara und die Großmama
+und der Herr Sesemann; aber siehst du, Großvater, ich konnte es
+fast gar nicht mehr aushalten, bis ich wieder bei dir daheim sein
+könnte, und ich habe manchmal gemeint, ich müsse ganz ersticken, so
+hat es mich gewürgt; aber ich habe gewiss nichts gesagt, weil es
+undankbar war. Aber dann auf einmal an einem Morgen rief mich der
+Herr Sesemann ganz früh--aber ich glaube, der Herr Doktor war
+schuld daran--aber es steht vielleicht alles in dem Brief"--damit
+sprang Heidi auf den Boden und holte seinen Brief und seine Rolle
+aus dem Korb herbei und legte beide in die Hand des Großvaters.
+
+"Das gehört dir", sagte dieser und legte die Rolle neben sich auf
+die Bank. Dann nahm er den Brief und las ihn durch: Ohne ein Wort
+zu sagen, steckte er dann das Blatt in die Tasche.
+
+"Meinst, du könntest auch noch Milch trinken mit mir, Heidi?",
+fragte er nun, indem er das Kind bei der Hand nahm, um in die Hütte
+einzutreten. "Aber nimm dort dein Geld mit dir, da kannst du ein
+ganzes Bett daraus kaufen und Kleider für ein paar Jahre."
+
+"Ich brauch es gewiss nicht, Großvater", versicherte Heidi; "ein
+Bett hab ich schon, und Kleider hat mir Klara so viele eingepackt,
+dass ich gewiss nie mehr andere brauche."
+
+"Nimm's, nimm's, und leg's in den Schrank, du wirst's schon einmal
+brauchen können."
+
+Heidi gehorchte und hüpfte nun dem Großvater nach in die Hütte
+hinein, wo es vor Freude über das Wiedersehen in alle Winkel sprang
+und die Leiter hinauf--aber da stand es plötzlich still und rief
+in Betroffenheit von oben herunter: "Oh, Großvater, ich habe kein
+Bett mehr!"
+
+"Kommt schon wieder", tönte es von unten herauf, "wusste ja nicht,
+dass du wieder heimkommst; jetzt komm zur Milch!"
+
+Heidi kam herunter und setzte sich auf seinen hohen Stuhl am alten
+Platze, und nun erfasste es sein Schüsselchen und trank mit einer
+Begierde, als wäre etwas so Köstliches noch nie in seinen Bereich
+gekommen, und als es mit einem tiefen Atemzug das Schüsselchen
+hinstellte, sagte es: "So gut wie unsere Milch ist doch gar nichts
+auf der Welt, Großvater."
+
+Jetzt ertönte draußen ein schriller Pfiff; wie der Blitz schoss
+Heidi zur Tür hinaus. Da kam die ganze Schar der Geißen hüpfend,
+springend, Sätze machend von der Höhe herunter, mittendrin der
+Peter. Als er Heidi ansichtig wurde, blieb er auf der Stelle
+völlig wie angewurzelt stehen und starrte es sprachlos an. Heidi
+rief: "Guten Abend, Peter!", und stürzte mitten in die Geißen
+hinein: "Schwänli! Bärli! Kennt ihr mich noch?", und die Geißlein
+mussten seine Stimme gleich erkannt haben, denn sie rieben ihre
+Köpfe an Heidi und fingen an leidenschaftlich zu meckern vor Freude,
+und Heidi rief alle nacheinander beim Namen, und alle rannten wie
+wild durcheinander und drängten sich zu ihm heran; der ungeduldige
+Distelfink sprang hoch auf und über zwei Geißen weg, um gleich in
+die Nähe zu kommen, und sogar das schüchterne Schneehöppli drängte
+mit einem ziemlich eigensinnigen Bohren den großen Türk auf die
+Seite, der nun ganz verwundert über die Frechheit dastand und
+seinen Bart in die Luft hob, um zu zeigen, dass er es sei.
+
+Heidi war außer sich vor Freude, alle die alten Gefährten wieder zu
+haben; es umarmte das kleine, zärtliche Schneehöppli wieder und
+wieder und streichelte den stürmischen Distelfink und wurde vor
+großer Liebe und Zutraulichkeit der Geißen hin und her gedrängt und
+geschoben, bis es nun ganz in Peters Nähe kam, der noch immer auf
+demselben Platze stand.
+
+"Komm herunter, Peter, und sag mir einmal guten Abend!", rief ihm
+Heidi jetzt zu.
+
+"Bist denn wieder da?", brachte er nun endlich in seinem Erstaunen
+heraus, und nun kam er herzu und nahm Heidis Hand, die dieses ihm
+schon lange hingehalten hatte, und nun fragte er, so wie er immer
+getan hatte bei der Heimkehr am Abend: "Kommst morgen wieder mit?"
+
+"Nein, morgen nicht, aber übermorgen vielleicht, denn morgen muss
+ich zur Großmutter."
+
+"Es ist recht, dass du wieder da bist", sagte der Peter und verzog
+sein Gesicht auf alle Seiten vor ungeheurem Vergnügen, dann
+schickte er sich zur Heimfahrt an; aber heute wurde es ihm so
+schwer wie noch nie mit seinen Geißen, denn als er sie endlich mit
+Locken und Drohen so weit gebracht hatte, dass sie sich um ihn
+sammelten, und Heidi, den einen Arm um Schwänlis und den andern um
+Bärlis Kopf gelegt, davonspazierte, da kehrten mit einem Male alle
+wieder um und liefen den dreien nach. Heidi musste mit seinen zwei
+Geißen in den Stall eintreten und die Tür zumachen, sonst wäre der
+Peter niemals mit seiner Herde fortgekommen. Als das Kind dann in
+die Hütte zurückkam, da sah es sein Bett schon wieder aufgerichtet,
+prächtig hoch und duftend, denn das Heu war noch nicht lange
+hereingeholt, und darüber hatte der Großvater ganz sorgfältig die
+sauberen Leintücher gebreitet. Heidi legte sich mit großer Lust
+hinein und schlief so herrlich, wie es ein ganzes Jahr lang nicht
+geschlafen hatte. Während der Nacht verließ der Großvater wohl
+zehnmal sein Lager und stieg die Leiter hinauf und lauschte sorgsam,
+ob Heidi auch schlafe und nicht unruhig werde, und suchte am Loch
+nach, wo sonst der Mond hereinkam auf Heidis Lager, ob auch das Heu
+noch fest drinnen sitze, das er hineingestopft hatte, denn von nun
+an durfte der Mondschein nicht mehr hereinkommen. Aber Heidi
+schlief in einem Zuge fort und wanderte keinen Schritt herum, denn
+sein großes, brennendes Verlangen war gestillt worden: Es hatte
+alle Berge und Felsen wieder im Abendglühen gesehen, es hatte die
+Tannen rauschen gehört, es war wieder daheim auf der Alm.
+
+
+
+
+Am Sonntag, wenn's läutet
+
+Heidi stand unter den wogenden Tannen und wartete auf den Großvater,
+der mitgehen und den Koffer vom Dörfli heraufholen wollte, während
+es bei der Großmutter wäre. Das Kind konnte es fast nicht erwarten,
+die Großmutter wieder zu sehen und zu hören, wie ihr die Brötchen
+geschmeckt hatten, und doch wurde ihm wieder die Zeit nicht lang,
+denn es konnte ja nicht genug die heimatlichen Töne von dem
+Tannenrauschen über ihm und das Duften und Leuchten der grünen
+Weiden und der goldenen Blumen darauf eintrinken.
+
+Jetzt trat der Großvater aus der Hütte, schaute noch einmal rings
+um sich und sagte dann mit zufriedenem Ton: "So, nun können wir
+gehen."
+
+Denn es war Sonnabend heut, und an dem Tage machte der Alm-Öhi
+alles sauber und in Ordnung in der Hütte, im Stall und ringsherum,
+das war seine Gewohnheit, und heut hatte er den Morgen dazu
+genommen, um gleich nachmittags mit Heidi ausziehen zu können, und
+so sah nun alles ringsherum gut und zu seiner Zufriedenheit aus.
+Bei der Geißenpeter-Hütte trennten sie sich, und Heidi sprang
+hinein. Schon hatte die Großmutter seinen Schritt gehört und rief
+ihm liebevoll entgegen: "Kommst du, Kind? Kommst du wieder?"
+
+Dann erfasste sie Heidis Hand und hielt sie ganz fest, denn immer
+noch fürchtete sie, das Kind könnte ihr wieder entrissen werden.
+Und nun musste die Großmutter erzählen, wie die Brötchen geschmeckt
+hätten, und sie sagte, sie habe sich so daran erlabt, dass sie
+meine, sie sei heute viel kräftiger als lang nicht mehr, und Peters
+Mutter fügte hinzu, die Großmutter habe vor lauter Sorge, sie werde
+zu bald fertig damit, nur ein einziges Brötchen essen wollen,
+gestern und heut zusammen, und sie käme gewiss noch ziemlich zu
+Kräften, wenn sie so acht Tage lang hintereinander jeden Tage eines
+essen wollte. Heidi hörte der Brigitte mit Aufmerksamkeit zu und
+blieb jetzt noch eine Zeit lang nachdenklich. Nun hatte es seinen
+Weg gefunden. "Ich weiß schon, was ich mache, Großmutter", sagte
+es in freudigem Eifer; "ich schreibe der Klara einen Brief und dann
+schickt sie mir gewiss noch einmal so viel Brötchen, wie da sind,
+oder zweimal, denn ich hatte schon einen großen Haufen ganz gleiche
+im Kasten, und als man mir sie weggenommen hatte, sagte Klara, sie
+gebe mir gerade so viele wieder, und das tut sie schon."
+
+"Ach Gott", sagte die Brigitte, "das ist eine gute Meinung; aber
+denk, sie werden auch hart. Wenn man nur hier und da einen übrigen
+Batzen hätte, der Bäcker unten im Dörfli macht auch solche, aber
+ich vermag kaum das schwarze Brot zu bezahlen."
+
+Jetzt schoss ein heller Freudenstrahl über Heidis Gesicht: "Oh, ich
+habe furchtbar viel Geld, Großmutter", rief es jubelnd aus und
+hüpfte vor Freuden in die Höhe, "jetzt weiß ich, was ich damit
+mache! Alle, alle Tage musst du ein neues Brötchen haben und am
+Sonntage zwei, und der Peter kann sie heraufbringen vom Dörfli."
+
+"Nein, nein, Kind!", wehrte die Großmutter; "das kann nicht sein,
+das Geld hast du nicht dazu bekommen, du musst es dem Großvater
+geben, er sagt dir dann schon, was du damit machen musst."
+
+Aber Heidi ließ sich nicht stören in seiner Freude, es jauchzte und
+hüpfte in der Stube herum und rief ein Mal übers andere: "Jetzt
+kann die Großmutter jeden Tag ein Brötchen essen und wird wieder
+ganz kräftig, und--oh, Großmutter", rief es mit neuem Jubel, "wenn
+du dann so gesund wirst, so wird es dir gewiss auch wieder hell, es
+ist vielleicht nur, weil du so schwach bist."
+
+Die Großmutter schwieg still, sie wollte des Kindes Freude nicht
+trüben. Bei seinem Herumhüpfen fiel dem Heidi auf einmal das alte
+Liederbuch der Großmutter in die Augen, und es kam ihm ein neuer
+freudiger Gedanke: "Großmutter, jetzt kann ich auch ganz gut lesen;
+soll ich dir einmal ein Lied lesen aus deinem alten Buch?"
+
+"O ja", bat die Großmutter freudig überrascht; "kannst du das auch
+wirklich, Kind, kannst du das?"
+
+Heidi war auf einen Stuhl geklettert und hatte das Buch mit einer
+dicken Staubwolke heruntergezogen, denn es hatte lange unberührt
+gelegen da oben; nun wischte es Heidi sauber ab, setzte sich damit
+auf seinen Schemel zur Großmutter hin und fragte, was es nun lesen
+solle.
+
+"Was du willst, Kind, was du willst", und mit gespannter Erwartung
+saß die Großmutter da und hatte ihr Spinnrad ein wenig von sich
+geschoben.
+
+Heidi blätterte und las leise hier und da eine Linie: "jetzt kommt
+etwas von der Sonne, das will ich dir lesen, Großmutter." Und Heidi
+begann und wurde selbst immer eifriger und immer wärmer, während es
+las:
+
+ "Die güldne Sonne Voll
+ Freud und Wonne
+ Bringt unsern Grenzen
+ Mit ihrem Glänzen
+ Ein herzerquickendes, liebliches Licht.
+
+ Mein Haupt und Glieder
+ Die lagen darnieder;
+ Aber nun steh ich,
+ Bin munter und fröhlich,
+ Schaue den Himmel mit meinem Gesicht.
+
+ Mein Auge schauet,
+ Was Gott gebauet
+ Zu seinen Ehren,
+ Und uns zu lehren,
+ Wie sein Vermögen sei mächtig und groß.
+
+ Und wo die Frommen
+ Dann sollen hinkommen,
+ Wenn sie mit Frieden
+ Von hinnen geschieden
+ Aus dieser Erde vergänglichem Schoß.
+
+ Alles vergehet,
+ Gott aber stehet
+ Ohn alles Wanken,
+ Seine Gedanken,
+ Sein Wort und Wille hat ewigen Grund.
+
+ Sein Heil und Gnaden
+ Die nehmen nicht Schaden,
+ Heilen im Herzen,
+ Die tödlichen Schmerzen,
+ Halten uns zeitlich und ewig gesund.
+
+ Kreuz und Elende--
+ Das nimmt ein Ende,
+ Nach Meeresbrausen
+ Und Windessausen
+ Leuchtet der Sonne erwünschtes Gesicht.
+
+ Freude die Fülle
+ Und selige Stille
+ Darf ich erwarten
+ Im himmlischen Garten,
+ Dahin sind meine Gedanken gericht'."
+
+
+Die Großmutter saß still da mit gefalteten Händen, und ein Ausdruck
+unbeschreiblicher Freude, so wie ihn Heidi nie an ihr gesehen hatte,
+lag auf ihrem Gesicht, obschon ihr die Tränen die Wangen
+herabliefen. Als Heidi schwieg, bat sie mit Verlangen: "Oh, noch
+einmal, Heidi, lass es mich noch einmal hören:
+
+ 'Kreuz und Elende
+ Das nimmt ein Ende'--"
+
+Und das Kind fing noch einmal an und las in eigener Freude und
+Verlangen:
+
+ "Kreuz und Elende--
+ Das nimmt ein Ende,
+ Nach Meeresbrausen
+ Und Windessausen
+ Leuchtet der Sonne erwünschtes Gesicht.
+
+ Freude die Fülle
+ Und selige Stille
+ Darf ich erwarten
+ Im himmlischen Garten,
+ Dahin sind meine Gedanken gericht'."
+
+
+"O Heidi, das macht hell! Das macht so hell im Herzen! Oh, wie
+hast du mir wohl gemacht, Heidi!"
+
+Ein Mal ums andere sagte die Großmutter die Worte der Freude, und
+Heidi strahlte vor Glück und musste sie nur immer ansehen, denn so
+hatte es die Großmutter nie gesehen. Sie hatte gar nicht mehr das
+alte trübselige Gesicht, sondern schaute so freudig und dankend auf,
+als sähe sie schon mit neuen, hellen Augen in den schönen
+himmlischen Garten hinein.
+
+Jetzt klopfte es am Fenster, und Heidi sah den Großvater draußen,
+der ihm winkte, mit heimzukommen. Es folgte schnell, aber nicht
+ohne die Großmutter zu versichern, morgen komme es wieder, und auch
+wenn es mit Peter auf die Weide gehe, so komme es doch im halben
+Tag zurück; denn dass es der Großmutter wieder hell machen konnte
+und sie wieder fröhlich wurde, das war nun für Heidi das
+allergrößte Glück, das es kannte, noch viel größer, als auf der
+sonnigen Weide und bei den Blumen und Geißen zu sein. Die Brigitte
+lief dem Heidi unter die Tür nach mit Rock und Hut, dass es seine
+Habe mitnehme. Den Rock nahm es auf den Arm, denn der Großvater
+kenne es jetzt schon, dachte es bei sich; aber den Hut wies es
+hartnäckig zurück, die Brigitte sollte ihn nur behalten, es setze
+ihn nie, nie mehr auf den Kopf. Heidi war so erfüllt von seinen
+Erlebnissen, dass es gleich dem Großvater alles erzählen musste,
+was ihm das Herz erfreute, dass man die weißen Brötchen auch unten
+im Dörfli für die Großmutter holen könne, wenn man nur Geld habe,
+und dass es der Großmutter auf einmal so hell und wohl geworden war,
+und wie Heidi das alles zu Ende geschildert hatte, kehrte es
+wieder zum Ersten zurück und sagte ganz zuversichtlich: "Gelt,
+Großvater, wenn die Großmuttter schon nicht will, so gibst du mir
+doch alles Geld in der Rolle, dass ich dem Peter jeden Tag ein
+Stück geben kann zu einem Brötchen und am Sonntag zwei?"
+
+"Aber das Bett, Heidi?", sagte der Großvater; "ein rechtes Bett für
+dich wäre gut, und nachher bleibt schon noch für manches Brötchen."
+
+Aber Heidi ließ dem Großvater keine Ruhe und bewies ihm, dass es
+auf seinem Heubett viel besser schlafe, als es jemals in seinem
+Kissenbett in Frankfurt geschlafen habe, und bat so eindringlich
+und unablässig, dass der Großvater zuletzt sagte: "Das Geld ist
+dein, mach, was dich freut; du kannst der Großmutter manches Jahr
+lang Brot holen dafür."
+
+Heidi jauchzte auf: "O juhe! Nun muss die Großmutter gar nie mehr
+hartes, schwarzes Brot essen, und, o Großvater! Nun ist doch alles
+so schön wie noch gar nie, seit wir leben!", und Heidi hüpfte hoch
+auf an der Hand des Großvaters und jauchzte in die Luft hinauf wie
+die fröhlichen Vögel des Himmels. Aber auf einmal wurde es ganz
+ernsthaft und sagte: "Oh, wenn nun der liebe Gott gleich auf der
+Stelle getan hätte, was ich so stark erbetete, dann wäre doch alles
+nicht so geworden, ich wäre nur gleich wieder heimgekommen und
+hätte der Großmutter nur wenige Brötchen gebracht und hätte ihr
+nicht lesen können, was ihr wohl macht; aber der liebe Gott hatte
+schon alles ausgedacht, so viel schöner, als ich es wusste; die
+Großmama hat es mir gesagt, und nun ist alles so gekommen. Oh, wie
+bin ich froh, dass der liebe Gott nicht nachgab, wie ich so bat und
+jammerte! Aber jetzt will ich immer so beten, wie die Großmama
+sagte, und dem lieben Gott immer danken, und wenn er etwas nicht
+tut, das ich erbeten will, dann will ich gleich denken: Es geht
+gewiss wieder wie in Frankfurt, der liebe Gott denkt gewiss etwas
+viel Besseres aus. Aber wir wollen auch alle Tage beten, gelt
+Großvater, und wir wollen es nie mehr vergessen, damit der liebe
+Gott uns auch nicht vergisst."
+
+"Und wenn's einer doch täte?", murmelte der Großvater.
+
+"Oh, dem geht's nicht gut, denn der liebe Gott vergisst ihn dann
+auch und lässt ihn ganz laufen, und wenn es ihm einmal schlecht
+geht und er jammert, so hat kein Mensch Mitleid mit ihm, sondern
+alle sagen nur: Er ist ja zuerst vom lieben Gott weggelaufen, nun
+lässt ihn der liebe Gott auch gehen, der ihm helfen könnte."
+
+"Das ist wahr, Heidi, woher weißt du das?"
+
+"Von der Großmama, sie hat mir alles erklärt."
+
+Der Großvater ging eine Weile schweigend weiter. Dann sagte er,
+seine Gedanken verfolgend, vor sich hin: "Und wenn's einmal so ist,
+dann ist es so; zurück kann keiner, und wen der Herrgott vergessen
+hat, den hat er vergessen."
+
+"O nein, Großvater, zurück kann einer, das weiß ich auch von der
+Großmama, und dann geht es so wie in der schönen Geschichte in
+meinem Buch, aber die weißt du nicht; jetzt sind wir aber gleich
+daheim, und dann wirst du schon erfahren, wie schön die Geschichte
+ist."
+
+Heidi strebte in seinem Eifer rascher und rascher die letzte
+Steigung hinan, und kaum waren sie oben angelangt, als es des
+Großvaters Hand losließ und in die Hütte hineinrannte. Der
+Großvater nahm den Korb von seinem Rücken, in den er die Hälfte der
+Sachen aus dem Koffer hineingestoßen hatte, denn den ganzen Koffer
+heraufzubringen wäre ihm zu schwer gewesen. Dann setzte er sich
+nachdenklich auf die Bank nieder. Heidi kam wieder herbeigerannt,
+sein großes Buch unter dem Arm: "Oh, das ist recht, Großvater, dass
+du schon dasitzt", und mit einem Satz war Heidi an seiner Seite und
+hatte schon seine Geschichte aufgeschlagen, denn die hatte es schon
+so oft und immer wieder gelesen, dass das Buch von selbst aufging
+an dieser Stelle. Jetzt las Heidi mit großer Teilnahme von dem
+Sohne, der es gut hatte daheim, wo draußen auf des Vaters Feldern
+die schönen Kühe und Schäflein weideten und er in einem schönen
+Mäntelchen, auf seinen Hirtenstab gestützt, bei ihnen auf der Weide
+stehen und dem Sonnenuntergang zusehen konnte, wie es alles auf dem
+Bilde zu sehen war. "Aber auf einmal wollte er sein Hab und Gut
+für sich haben und sein eigener Meister sein und forderte es dem
+Vater ab und lief fort damit und verprasste alles. Und als er gar
+nichts mehr hatte, musste er hingehen und Knecht sein bei einem
+Bauer, der hatte aber nicht so schöne Tiere, wie auf seines Vaters
+Feldern waren, sondern nur Schweinlein; diese musste er hüten, und
+er hatte nur noch Fetzen auf sich und bekam nur von den Trebern,
+welche die Schweinchen aßen, ein klein wenig. Da dachte er daran,
+wie er es daheim beim Vater gehabt und wie gut der Vater mit ihm
+gewesen war und wie undankbar er gegen den Vater gehandelt hatte,
+und er musste weinen vor Reue und Heimweh. Und er dachte: '
+Ich will zu meinem Vater gehen und ihn um Verzeihung bitten und ihm
+sagen, ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen, aber lass mich
+nur dein Tagelöhner bei dir sein.' Und wie er von ferne gegen
+das Haus seines Vaters kam, da sah ihn der Vater und kam
+herausgelaufen--was meinst du jetzt, Großvater?", unterbrach sich
+Heidi in seinem Vorlesen; "jetzt meinst du, der Vater sei noch böse
+und sage zu ihm: 'Ich habe dir's ja gesagt!'? Jetzt
+hör nur, was kommt: Und sein Vater sah ihn und es jammerte ihn und
+lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn, und der Sohn sprach
+zu ihm: 'Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor
+dir und bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen.' Aber der
+Vater sprach zu seinen Knechten: 'Bringt das beste Kleid her
+und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und
+Schuhe an die Füße, und bringt das gemästete Kalb her und
+schlachtet es und lasst uns essen und fröhlich sein, denn dieser
+mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, und er war
+verloren und ist wieder gefunden worden.' Und sie fingen an,
+fröhlich zu sein."
+
+"Ist denn das nicht eine schöne Geschichte, Großvater?", fragte
+Heidi, als dieser immer noch schweigend dasaß und es doch erwartet
+hatte, er werde sich freuen und verwundern.
+
+"Doch, Heidi, die Geschichte ist schön", sagte der Großvater; aber
+sein Gesicht war so ernsthaft, dass Heidi ganz stille wurde und
+seine Bilder ansah. Leise schob es noch einmal sein Buch vor den
+Großvater hin und sagte: "Sieh, wie es ihm wohl ist", und zeigte
+mit seinem Finger auf das Bild des Heimgekehrten, wie er im
+frischen Kleid neben dem Vater steht und wieder zu ihm gehört als
+sein Sohn.
+
+Ein paar Stunden später, als Heidi längst im tiefen Schlafe lag,
+stieg der Großvater die kleine Leiter hinauf; er stellte sein
+Lämpchen neben Heidis Lager hin, so dass das Licht auf das
+schlafende Kind fiel. Es lag da mit gefalteten Händen, denn zu
+beten hatte Heidi nicht vergessen. Auf seinem rosigen Gesichtchen
+lag ein Ausdruck des Friedens und seligen Vertrauens, der zu dem
+Großvater reden musste, denn lange, lange stand er da und rührte
+sich nicht und wandte kein Auge von dem schlafenden Kinde ab.
+Jetzt faltete auch er die Hände, und halblaut sagte er mit
+gesenktem Haupte: "Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und
+vor dir und bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen!" Und ein paar
+große Tränen rollten dem Alten die Wangen herab.--
+
+Wenige Stunden nachher in der ersten Frühe des Tages stand der Alm-
+Öhi vor seiner Hütte und schaute mit hellen Augen um sich. Der
+Sonntagmorgen flimmerte und leuchtete über Berg und Tal. Einzelne
+Frühglocken tönten aus den Tälern herauf, und oben in den Tannen
+sangen die Vögel ihre Morgenlieder.
+
+Jetzt trat der Großvater in die Hütte zurück. "Komm, Heidi!", rief
+er auf den Boden hinauf. "Die Sonne ist da! Zieh ein gutes
+Röcklein an, wir wollen in die Kirche miteinander!"
+
+Heidi machte nicht lange; das war ein ganz neuer Ruf vom Großvater,
+dem musste es schnell folgen. In kurzer Zeit kam es
+heruntergesprungen in seinem schmucken Frankfurter Röckchen. Aber
+voller Erstaunen blieb Heidi vor seinem Großvater stehen und
+schaute ihn an. "O Großvater, so hab ich dich nie gesehen", brach
+es endlich aus, "und den Rock mit den silbernen Knöpfen hast du
+noch gar nicht getragen, oh, du bist so schön in deinem schönen
+Sonntagsrock."
+
+Der Alte blickte vergnüglich lächelnd auf das Kind und sagte: "Und
+du in dem deinen; jetzt komm!" Er nahm Heidis Hand in die seine,
+und so wanderten sie miteinander den Berg hinunter. Von allen
+Seiten tönten jetzt die hellen Glocken ihnen entgegen, immer voller
+und reicher, je weiter sie kamen, und Heidi lauschte mit Entzücken
+und sagte: "Hörst du's, Großvater? Es ist wie ein großes, großes
+Fest."
+
+Unten im Dörfli waren schon alle Leute in der Kirche und fingen
+eben zu singen an, als der Großvater mit Heidi eintrat und ganz
+hinten auf der letzten Bank sich niedersetzte. Aber mitten im
+Singen stieß der zunächst Sitzende seinen Nachbar mit dem
+Ellenbogen an und sagte: "Hast du das gesehen? Der Alm-Öhi ist in
+der Kirche!"
+
+Und der Angestoßene stieß den Zweiten an und so fort, und in
+kürzester Zeit flüsterte es an allen Ecken: "Der Alm-Öhi! Der Alm-
+Öhi!", und die Frauen mussten fast alle einen Augenblick den Kopf
+umdrehen, und die meisten fielen ein wenig aus der Melodie, so dass
+der Vorsänger die größte Mühe hatte, den Gesang schön
+aufrechtzuerhalten. Aber als dann der Herr Pfarrer anfing zu
+predigen, ging die Zerstreutheit ganz vorüber, denn es war ein so
+warmes Loben und Danken in seinen Worten, dass alle Zuhörer davon
+ergriffen wurden, und es war, als sei ihnen allen eine große Freude
+widerfahren. Als der Gottesdienst zu Ende war, trat der Alm-Öhi
+mit dem Kinde an der Hand heraus und schritt dem Pfarrhaus zu, und
+alle, die mit ihm heraustraten und die schon draußen standen,
+schauten ihm nach, und die meisten gingen hinter ihm her, um zu
+sehen, ob er wirklich ins Pfarrhaus eintrete, was er tat. Dann
+sammelten sie sich in Gruppen zusammen und besprachen in großer
+Aufregung das Unerhörte, dass der Alm-Öhi in der Kirche erschienen
+war, und alle schauten mit Spannung nach der Pfarrhaustür, wie der
+Öhi wohl wieder herauskommen werde, ob in Zorn und Hader oder im
+Frieden mit dem Herrn Pfarrer, denn man wusste ja gar nicht, was
+den Alten heruntergebracht hatte und wie es eigentlich gemeint sei.
+Aber doch war schon bei vielen eine neue Stimmung eingetreten, und
+einer sagte zum andern: "Es wird wohl mit dem Alm-Öhi nicht so bös
+sein, wie man tut; man kann ja nur sehen, wie sorglich er das
+Kleine an der Hand hält." Und der andere sagte: "Das hab ich ja
+immer gesagt, und zum Pfarrer hinein ginge er auch nicht, wenn er
+so bodenschlecht wäre, sonst müsste er sich ja fürchten; man
+übertreibt auch viel." Und der Bäcker sagte: "Hab ich das nicht
+zuallererst gesagt? Seit wann läuft denn ein kleines Kind, das zu
+essen und zu trinken hat, was es will, und sonst alles Gute, aus
+alledem weg und heim zu einem Großvater, wenn der bös und wild ist
+und es sich zu fürchten hat vor ihm?" Und es kam eine ganz
+liebevolle Stimmung gegen den Alm-Öhi auf und nahm überhand, denn
+jetzt nahten sich auch die Frauen herzu, und diese hatten so
+manches von der Geißenpeterin und der Großmutter gehört, das den
+Alm-Öhi ganz anders darstellte, als die allgemeine Meinung war, und
+das ihnen jetzt auf einmal glaublich schien, dass es mehr und mehr
+so wurde, als warteten sie alle da, um einen alten Freund zu
+bewillkommnen, der ihnen lange gemangelt hatte.
+
+Der Alm-Öhi war unterdessen an die Tür der Studierstube getreten
+und hatte angeklopft. Der Herr Pfarrer machte auf und trat dem
+Eintretenden entgegen, nicht überrascht, wie er wohl hätte sein
+können, sondern so, als habe er ihn erwartet; die ungewohnte
+Erscheinung in der Kirche musste ihm nicht entgangen sein. Er
+ergriff die Hand des Alten und schüttelte sie wiederholt mit der
+größten Herzlichkeit, und der Alm-Öhi stand schweigend da und
+konnte erst kein Wort herausbringen, denn auf solchen herzlichen
+Empfang war er nicht vorbereitet. Jetzt fasste er sich und sagte:
+"Ich komme, um den Herrn Pfarrer zu bitten, dass er mir die Worte
+vergessen möchte, die ich zu ihm auf der Alm geredet habe, und dass
+er mir nicht nachtragen wolle, wenn ich widerspenstig war gegen
+seinen wohlmeinenden Rat. Der Herr Pfarrer hat ja in allem Recht
+gehabt und ich war im Unrecht, aber ich will jetzt seinem Rate
+folgen und auf den Winter wieder ein Quartier im Dörfli beziehen,
+denn die harte Jahreszeit ist nichts für das Kind dort oben, es ist
+zu zart, und wenn auch dann die Leute hier unten mich von der Seite
+ansehen, so wie einen, dem nicht zu trauen ist, so habe ich es
+nicht besser verdient, und der Herr Pfarrer wird es ja nicht tun."
+
+Die freundlichen Augen des Pfarrers glänzten vor Freude. Er nahm
+noch einmal des Alten Hand und drückte sie in der seinen und sagte
+mit Rührung: "Nachbar, Ihr seid in der rechten Kirche gewesen, noch
+eh Ihr in die meinige herunterkamt; des freu ich mich, und dass Ihr
+wieder zu uns kommen und mit uns leben wollt, soll Euch nicht
+gereuen, bei mir sollt Ihr als ein lieber Freund und Nachbar alle
+Zeit willkommen sein, und ich gedenke manches Winterabendstündchen
+fröhlich mit Euch zu verbringen, denn Eure Gesellschaft ist mir
+lieb und wert, und für das Kleine wollen wir auch gute Freunde
+finden." Und der Herr Pfarrer legte sehr freundlich seine Hand auf
+Heidis Krauskopf und nahm es bei der Hand und führte es hinaus,
+indem er den Großvater fortbegleitete, und erst draußen vor der
+Haustür nahm er Abschied, und nun konnten alle die herumstehenden
+Leute sehen, wie der Herr Pfarrer dem Alm-Öhi die Hand immer noch
+einmal schüttelte, gerade als wäre das sein bester Freund, von dem
+er sich fast nicht trennen könnte. Kaum hatte dann auch die Tür
+sich hinter dem Herrn Pfarrer geschlossen, so drängte die ganze
+Versammlung dem Alm-Öhi entgegen, und jeder wollte der Erste sein,
+und so viele Hände wurden miteinander dem Herankommenden
+entgegengestreckt, dass er gar nicht wusste, welche zuerst
+ergreifen, und einer rief ihm zu: "Das freut mich! Das freut mich,
+Öhi, dass Ihr auch wieder einmal zu uns kommt!", und ein anderer:
+"Ich hätte auch schon lang gern wieder einmal ein Wort mit Euch
+geredet, Öhi!" Und so tönte und drängte es von allen Seiten, und
+wie nun der Öhi auf alle die freundlichen Begrüßungen erwiderte, er
+gedenke, sein altes Quartier im Dörfli wieder zu beziehen und den
+Winter mit den alten Bekannten zu verleben, da gab es erst einen
+rechten Lärm, und es war gerade so, wie wenn der Alm-Öhi die
+beliebteste Persönlichkeit im ganzen Dörfli wäre, die jeder mit
+Nachteil entbehrt hatte. Noch weit an die Alm hinauf wurden
+Großvater und Kind von den meisten begleitet, und beim Abschied
+wollte jeder die Versicherung haben, dass der Alm-Öhi bald einmal
+bei ihm vorspreche, wenn er wieder herunterkomme; und wie nun die
+Leute den Berg hinab zurückkehrten, blieb der Alte stehen und
+schaute ihnen lange nach, und auf seinem Gesichte lag ein so warmes
+Licht, als schiene bei ihm die Sonne von innen heraus. Heidi
+schaute unverwandt zu ihm auf und sagte ganz erfreut: "Großvater,
+heut wirst du immer schöner, so warst du noch gar nie."
+
+"Meinst du?", lächelte der Großvater. "Ja, und siehst du, Heidi,
+mir geht's auch heut über Verstehen und Verdienen gut, und mit Gott
+und Menschen im Frieden stehen, das macht einem so wohl! Der liebe
+Gott hat's gut mit mir gemeint, dass er dich auf die Alm schickte."
+
+Bei der Geißenpeter-Hütte angekommen, machte der Großvater gleich
+die Tür auf und trat ein. "Grüß Gott, Großmutter", rief er hinein;
+"ich denke, wir müssen einmal wieder ans Flicken gehen, bevor der
+Herbstwind kommt."
+
+"Du mein Gott, das ist der Öhi!", rief die Großmutter voll
+freudiger Überraschung aus. "Dass ich das noch erlebe! Dass ich
+Euch noch einmal danken kann für alles, das Ihr für uns getan habt,
+Öhi! Vergelt's Gott! Vergelt's Gott!"
+
+Und mit zitternder Freude streckte die alte Großmutter ihre Hand
+aus, und als der Angeredete sie herzlich schüttelte, fuhr sie fort,
+indem sie die seinige fest hielt: "Und eine Bitte hab ich auch noch
+auf dem Herzen, Öhi: Wenn ich Euch je etwas zuleid getan habe, so
+straft mich nicht damit, dass Ihr noch einmal das Heidi fortlasst,
+bevor ich unten bei der Kirche liege. Oh, Ihr wisst nicht, was mir
+das Kind ist!", und sie hielt es fest an sich, denn Heidi hatte
+sich schon an sie geschmiegt.
+
+"Keine Sorge, Großmutter", beruhigte der Öhi; "damit will ich weder
+Euch noch mich strafen. Jetzt bleiben wir alle beieinander und,
+will's Gott, noch lange so."
+
+Jetzt zog die Brigitte den Öhi ein wenig geheimnisvoll in eine Ecke
+hinein und zeigte ihm das schöne Federnhütchen und erzählte ihm,
+wie es sich damit verhalte, und dass sie ja natürlich so etwas
+einem Kinde nicht abnehme.
+
+Aber der Großvater sah ganz wohlgefällig auf sein Heidi hin und
+sagte: "Der Hut ist sein, und wenn es ihn nicht mehr auf den Kopf
+tun will, so hat es Recht, und hat es ihn dir gegeben, so nimm ihn
+nur."
+
+Die Brigitte war höchlich erfreut über das unerwartete Urteil. "Er
+ist gewiss mehr als zehn Franken wert, seht nur!", und in ihrer
+Freude streckte sie das Hütchen hoch auf. "Was aber auch dieses
+Heidi für einen Segen von Frankfurt mit heimgebracht hat! Ich habe
+schon manchmal denken müssen, ob ich nicht den Peterli auch ein
+wenig nach Frankfurt schicken solle; was meint Ihr, Öhi?"
+
+Dem Öhi schoss es ganz lustig aus den Augen. Er meinte, es könnte
+dem Peterli nichts schaden; aber er würde doch eine gute
+Gelegenheit dazu abwarten.
+
+Jetzt fuhr der Besprochene eben zur Tür herein, nachdem er zuerst
+mit dem Kopf so fest dagegen gerannt war, dass alles erklirrte
+davon; er musste pressiert sein. Atemlos und keuchend stand er nun
+mitten in der Stube still und streckte einen Brief aus. Das war
+auch ein Ereignis, das noch nie vorgekommen war, ein Brief mit
+einer Aufschrift an das Heidi, den man ihm auf der Post im Dörfli
+übergeben hatte. Jetzt setzten sich alle voller Erwartung um den
+Tisch herum, und Heidi machte seinen Brief auf und las ihn laut und
+ohne Anstoß vor. Der Brief war von der Klara Sesemann geschrieben.
+Sie erzählte Heidi, dass es seit seiner Abreise so langweilig
+geworden sei in ihrem Hause, sie es nicht lang hintereinander so
+aushalten könne und so lange den Vater gebeten habe, bis er die
+Reise ins Bad Ragaz schon auf den kommenden Herbst festgestellt
+habe, und die Großmama wolle auch mitkommen, denn sie wolle auch
+das Heidi und den Großvater besuchen auf der Alm. Und weiter ließ
+die Großmama noch dem Heidi sagen, es habe Recht getan, dass es der
+alten Großmutter die Brötchen habe mitbringen wollen, und damit sie
+diese nicht trocken essen müsse, komme gleich der Kaffee noch dazu,
+er sei schon auf der Reise, und wenn sie selbst nach der Alm komme,
+so müsse das Heidi sie auch zur Großmutter führen.
+
+Da gab es nun eine solche Freude und Verwunderung über diese
+Nachrichten und so viel zu reden und zu fragen, da die große
+Erwartung alle gleich betraf, dass selbst der Großvater nicht
+bemerkte, wie spät es schon war, und so vergnügt und fröhlich waren
+sie alle in der Aussicht auf die kommenden Tage und fast noch mehr
+in der Freude über das Zusammensein an dem heutigen, dass die
+Großmutter zuletzt sagte: "Das Schönste ist doch, wenn so ein alter
+Freund kommt und uns wieder die Hand gibt, so wie vor langer Zeit;
+das gibt so ein tröstliches Gefühl ins Herz, dass wir einmal alles
+wieder finden, was uns lieb ist. Ihr kommt doch bald wieder, Öhi,
+und das Kind morgen schon?"
+
+Das wurde der Großmutter in die Hand hinein versprochen; nun aber
+war es Zeit zum Aufbruch, und der Großvater wanderte mit Heidi die
+Alm hinan, und wie am Morgen die hellen Glocken von nah und fern
+sie heruntergerufen hatten, so begleitete nun aus dem Tale herauf
+das friedliche Geläut der Abendglocken sie bis hinauf zur sonnigen
+Almhütte, die ganz sonntäglich im Abendschimmer ihnen
+entgegenglänzte.
+
+Wenn aber die Großmama kommt im Herbst, dann gibt es gewiss noch
+manche neue Freude und Überraschung für das Heidi wie für die
+Großmutter, und sicher kommt auch gleich ein richtiges Bett auf den
+Heuboden hinauf, denn wo die Großmama hintritt, da kommen alle
+Dinge bald in die erwünschte Ordnung und Richtigkeit, nach außen
+wie nach innen.
+
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+End of Project Gutenberg's Heidis Lehr- und Wanderjahre, by Johanna Spyri
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+*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK HEIDIS LEHR- UND WANDERJAHRE ***
+
+***** This file should be named 7500-8.txt or 7500-8.zip *****
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+Produced by Mike Pullen and Juliet Sunderland. HTML version
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+Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this
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+of Project Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual
+works in the collection are in the public domain in the United
+States. If an individual work is unprotected by copyright law in the
+United States and you are located in the United States, we do not
+claim a right to prevent you from copying, distributing, performing,
+displaying or creating derivative works based on the work as long as
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+that you will support the Project Gutenberg-tm mission of promoting
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+works in compliance with the terms of this agreement for keeping the
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+ License. You must require such a user to return or destroy all
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+1.F.
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+DAMAGE.
+
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+without further opportunities to fix the problem.
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+in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS', WITH NO
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+damages. If any disclaimer or limitation set forth in this agreement
+violates the law of the state applicable to this agreement, the
+agreement shall be interpreted to make the maximum disclaimer or
+limitation permitted by the applicable state law. The invalidity or
+unenforceability of any provision of this agreement shall not void the
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+1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
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+electronic works, harmless from all liability, costs and expenses,
+including legal fees, that arise directly or indirectly from any of
+the following which you do or cause to occur: (a) distribution of this
+or any Project Gutenberg-tm work, (b) alteration, modification, or
+additions or deletions to any Project Gutenberg-tm work, and (c) any
+Defect you cause.
+
+Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm
+
+Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
+electronic works in formats readable by the widest variety of
+computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
+exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
+from people in all walks of life.
+
+Volunteers and financial support to provide volunteers with the
+assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
+goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
+remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
+and permanent future for Project Gutenberg-tm and future
+generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
+Sections 3 and 4 and the Foundation information page at
+www.gutenberg.org Section 3. Information about the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
+501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
+state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
+Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
+number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
+U.S. federal laws and your state's laws.
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+The Foundation's principal office is in Fairbanks, Alaska, with the
+mailing address: PO Box 750175, Fairbanks, AK 99775, but its
+volunteers and employees are scattered throughout numerous
+locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt
+Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to
+date contact information can be found at the Foundation's web site and
+official page at www.gutenberg.org/contact
+
+For additional contact information:
+
+ Dr. Gregory B. Newby
+ Chief Executive and Director
+ gbnewby@pglaf.org
+
+Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation
+
+Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
+spread public support and donations to carry out its mission of
+increasing the number of public domain and licensed works that can be
+freely distributed in machine readable form accessible by the widest
+array of equipment including outdated equipment. Many small donations
+($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
+status with the IRS.
+
+The Foundation is committed to complying with the laws regulating
+charities and charitable donations in all 50 states of the United
+States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
+considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
+with these requirements. We do not solicit donations in locations
+where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
+DONATIONS or determine the status of compliance for any particular
+state visit www.gutenberg.org/donate
+
+While we cannot and do not solicit contributions from states where we
+have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
+against accepting unsolicited donations from donors in such states who
+approach us with offers to donate.
+
+International donations are gratefully accepted, but we cannot make
+any statements concerning tax treatment of donations received from
+outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
+
+Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
+methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
+ways including checks, online payments and credit card donations. To
+donate, please visit: www.gutenberg.org/donate
+
+Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic works.
+
+Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
+Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be
+freely shared with anyone. For forty years, he produced and
+distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of
+volunteer support.
+
+Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
+the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
+necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
+edition.
+
+Most people start at our Web site which has the main PG search
+facility: www.gutenberg.org
+
+This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
+including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
+subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
+
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@@ -0,0 +1,8329 @@
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+The Project Gutenberg EBook of Heidis Lehr- und Wanderjahre, by Johanna Spyri
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+This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
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+the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
+www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have
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+
+Title: Heidis Lehr- und Wanderjahre
+
+Author: Johanna Spyri
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+Posting Date: September 1, 2014 [EBook #7500]
+Release Date: February, 2005
+First Posted: May 11, 2003
+
+Language: German
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+Character set encoding: ISO-8859-1
+
+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK HEIDIS LEHR- UND WANDERJAHRE ***
+
+
+
+
+Produced by Mike Pullen and Juliet Sunderland. HTML version
+by Al Haines.
+
+
+
+
+
+
+</pre>
+
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<p class="letter">
+This book content was graciously contributed by the Gutenberg Projekt-DE.
+That project is reachable at the web site http://gutenberg2000.de.
+</p>
+
+<p class="letter">
+Dieses Buch wurde uns freundlicherweise vom "Gutenberg Projekt-DE"
+zur Verfügung gestellt. Das Projekt ist unter der Internet-Adresse
+http://gutenberg2000.de erreichbar.
+</p>
+
+<h1>
+<br /><br /><br />
+Heidis Lehr- und Wanderjahre
+</h1>
+
+<p class="t2">
+Johanna Spyri
+</p>
+
+<p><br /></p>
+
+<p class="t3b">
+ Inhalt<br />
+</p>
+
+<p class="noindent">
+ 1 <a href="#chap01">Zum Alm-Öhi hinauf</a><br />
+ 2 <a href="#chap02">Beim Großvater</a><br />
+ 3 <a href="#chap03">Auf der Weide</a><br />
+ 4 <a href="#chap04">Bei der Großmutter</a><br />
+ 5 <a href="#chap05">Es kommt ein Besuch und dann noch einer, der mehr Folgen hat</a><br />
+ 6 <a href="#chap06">Ein neues Kapitel und lauter neue Dinge</a><br />
+ 7 <a href="#chap07">Fräulein Rottenmeier hat einen unruhigen Tag</a><br />
+ 8 <a href="#chap08">Im Hause Sesemann geht's unruhig zu</a><br />
+ 9 <a href="#chap09">Der Hausherr hört allerlei in seinem Hause, das er noch nicht gehört hat</a><br />
+ 10 <a href="#chap10">Eine Großmama</a><br />
+ 11 <a href="#chap11">Heidi nimmt auf einer Seite zu und auf der anderen ab</a><br />
+ 12 <a href="#chap12">Im Hause Sesemann spukt's</a><br />
+ 13 <a href="#chap13">Am Sommerabend die Alm hinan</a><br />
+ 14 <a href="#chap14">Am Sonntag, wenn's läutet</a><br />
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap01"></a>
+Zum Alm-Öhi hinauf
+</h3>
+
+<p>
+Vom freundlichen Dorfe Maienfeld führt ein Fußweg durch grüne,
+baumreiche Fluren bis zum Fuße der Höhen, die von dieser Seite groß
+und ernst auf das Tal herniederschauen. Wo der Fußweg anfängt,
+beginnt bald Heideland mit dem kurzen Gras und den kräftigen
+Bergkräutern dem Kommenden entgegenzuduften, denn der Fußweg geht
+steil und direkt zu den Alpen hinauf.
+</p>
+
+<p>
+Auf diesem schmalen Bergpfade stieg am hellen, sonnigen Junimorgen
+ein großes, kräftig aussehendes Mädchen dieses Berglandes hinan,
+ein Kind an der Hand führend, dessen Wangen so glühend waren, dass
+sie selbst die sonnverbrannte, völlig braune Haut des Kindes
+flammend rot durchleuchteten. Es war auch kein Wunder: Das Kind
+war trotz der heißen Junisonne so verpackt, als hätte es sich eines
+bitteren Frostes zu erwehren. Das kleine Mädchen mochte kaum fünf
+Jahre zählen; was aber seine natürliche Gestalt war, konnte man
+nicht ersehen, denn es hatte sichtlich zwei, wenn nicht drei
+Kleider übereinander angezogen und drüberhin ein großes, rotes
+Baumwolltuch um und um gebunden, so dass die kleine Person eine
+völlig formlose Figur darstellte, die, in zwei schwere, mit Nägeln
+beschlagene Bergschuhe gesteckt, sich heiß und mühsam den Berg
+hinaufarbeitete. Eine Stunde vom Tal aufwärts mochten die beiden
+gestiegen sein, als sie zu dem Weiler kamen, der auf halber Höhe
+der Alm liegt und 'im Dörfli' heißt. Hier wurden die
+Wandernden fast von jedem Hause aus angerufen, einmal vom Fenster,
+einmal von einer Haustür und einmal vom Wege her, denn das Mädchen
+war in seinem Heimatort angelangt. Es machte aber nirgends Halt,
+sondern erwiderte alle zugerufenen Grüße und Fragen im Vorbeigehen,
+ohne still zu stehen, bis es am Ende des Weilers bei dem letzten
+der zerstreuten Häuschen angelangt war. Hier rief es aus einer Tür:
+"Wart einen Augenblick, Dete, ich komme mit, wenn du weiter
+hinaufgehst."
+</p>
+
+<p>
+Die Angeredete stand still; sofort machte sich das Kind von ihrer
+Hand los und setzte sich auf den Boden.
+</p>
+
+<p>
+"Bist du müde, Heidi?", fragte die Begleiterin.
+</p>
+
+<p>
+"Nein, es ist mir heiß", entgegnete das Kind.
+</p>
+
+<p>
+"Wir sind jetzt gleich oben, du musst dich nur noch ein wenig
+anstrengen und große Schritte nehmen, dann sind wir in einer Stunde
+oben", ermunterte die Gefährtin.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt trat eine breite gutmütig aussehende Frau aus der Tür und
+gesellte sich zu den beiden. Das Kind war aufgestanden und
+wanderte nun hinter den zwei alten Bekannten her, die sofort in ein
+lebhaftes Gespräch gerieten über allerlei Bewohner des 'Dörfli' und
+vieler umherliegender Behausungen.
+</p>
+
+<p>
+"Aber wohin willst du eigentlich mit dem Kinde, Dete?", fragte
+jetzt die neu Hinzugekommene. "Es wird wohl deiner Schwester Kind
+sein, das hinterlassene."
+</p>
+
+<p>
+"Das ist es", erwiderte Dete, "ich will mit ihm hinauf zum Öhi, es
+muss dort bleiben."
+</p>
+
+<p>
+"Was, beim Alm-Öhi soll das Kind bleiben? Du bist, denk ich, nicht
+recht bei Verstand, Dete! Wie kannst du so etwas tun! Der Alte
+wird dich aber schon heimschicken mit deinem Vorhaben!"
+</p>
+
+<p>
+"Das kann er nicht, er ist der Großvater, er muss etwas tun, ich
+habe das Kind bis jetzt gehabt, und das kann ich dir schon sagen,
+Barbel, dass ich einen Platz, wie ich ihn jetzt haben kann, nicht
+dahinten lasse um des Kindes willen; jetzt soll der Großvater das
+Seinige tun."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, wenn der wäre wie andere Leute, dann schon", bestätigte die
+kleine Barbel eifrig; "aber du kennst ja den. Was wird der mit
+einem Kinde anfangen und dann noch einem so kleinen! Das hält's
+nicht aus bei ihm! Aber wo willst du denn hin?"
+</p>
+
+<p>
+"Nach Frankfurt", erklärte Dete, "da bekomm ich einen extraguten
+Dienst. Die Herrschaft war schon im vorigen Sommer unten im Bad,
+ich habe ihre Zimmer auf meinem Gang gehabt und sie besorgt, und
+schon damals wollten sie mich mitnehmen, aber ich konnte nicht
+fortkommen, und jetzt sind sie wieder da und wollen mich mitnehmen,
+und ich will auch gehen, da kannst du sicher sein."
+</p>
+
+<p>
+"Ich möchte nicht das Kind sein!", rief die Barbel mit abwehrender
+Gebärde aus. "Es weiß ja kein Mensch, was mit dem Alten da oben
+ist! Mit keinem Menschen will er etwas zu tun haben, jahraus,
+jahrein setzt er keinen Fuß in eine Kirche, und wenn er mit seinem
+dicken Stock im Jahr einmal herunterkommt, so weicht ihm alles aus
+und muss sich vor ihm fürchten. Mit seinen dicken grauen
+Augenbrauen und dem furchtbaren Bart sieht er auch aus wie ein
+alter Heide und Indianer, dass man froh ist, wenn man ihm nicht
+allein begegnet."
+</p>
+
+<p>
+"Und wenn auch", sagte Dete trotzig, "er ist der Großvater und muss
+für das Kind sorgen, er wird ihm wohl nichts tun, sonst hat er's zu
+verantworten, nicht ich."
+</p>
+
+<p>
+"Ich möchte nur wissen", sagte die Barbel forschend, "was der Alte
+auf dem Gewissen hat, dass er solche Augen macht und so
+mutterseelenallein da droben auf der Alm bleibt und sich fast nie
+blicken lässt. Man sagt allerhand von ihm; du weißt doch gewiss
+auch etwas davon, von deiner Schwester, nicht, Dete?"
+</p>
+
+<p>
+"Freilich, aber ich rede nicht; wenn er's hörte, so käme ich schön
+an!"
+</p>
+
+<p>
+Aber die Barbel hätte schon lange gern gewusst, wie es sich mit dem
+Alm-Öhi verhalte, dass er so menschenfeindlich aussehe und da oben
+ganz allein wohne und die Leute immer so mit halben Worten von ihm
+redeten, als fürchteten sie sich, gegen ihn zu sein, und wollten
+doch nicht für ihn sein. Auch wusste die Barbel gar nicht, warum
+der Alte von allen Leuten im Dörfli der Alm-Öhi genannt wurde, er
+konnte doch nicht der wirkliche Oheim von den sämtlichen Bewohnern
+sein; da aber alle ihn so nannten, tat sie es auch und nannte den
+Alten nie anders als Öhi, was die Aussprache der Gegend für Oheim
+ist. Die Barbel hatte sich erst vor kurzer Zeit nach dem Dörfli
+hinauf verheiratet, vorher hatte sie unten im Prättigau gewohnt,
+und so war sie noch nicht so ganz bekannt mit allen Erlebnissen und
+besonderen Persönlichkeiten aller Zeiten vom Dörfli und der
+Umgegend. Die Dete, ihre gute Bekannte, war dagegen vom Dörfli
+gebürtig und hatte da gelebt mit ihrer Mutter bis vor einem Jahr;
+da war diese gestorben, und die Dete war nach dem Bade Ragaz
+hinübergezogen, wo sie im großen Hotel als Zimmermädchen einen
+guten Verdienst fand. Sie war auch an diesem Morgen mit dem Kinde
+von Ragaz hergekommen; bis Maienfeld hatte sie auf einem Heuwagen
+fahren können, auf dem ein Bekannter von ihr heimfuhr und sie und
+das Kind mitnahm. --Die Barbel wollte also diesmal die gute
+Gelegenheit, etwas zu vernehmen, nicht unbenutzt vorbeigehen lassen;
+sie fasste vertraulich die Dete am Arm und sagte: "Von dir kann
+man doch vernehmen, was wahr ist und was die Leute darüber hinaus
+sagen; du weißt, denk ich, die ganze Geschichte. Sag mir jetzt ein
+wenig, was mit dem Alten ist und ob der immer so gefürchtet und ein
+solcher Menschenhasser war."
+</p>
+
+<p>
+"Ob er immer so war, kann ich, denk ich, nicht präzis wissen, ich
+bin jetzt sechsundzwanzig und er sicher siebzig Jahr alt; so hab
+ich ihn nicht gesehen, wie er jung war, das wirst du nicht erwarten.
+Wenn ich aber wüsste, dass es nachher nicht im ganzen Prättigau
+herumkäme, so könnte ich dir schon allerhand erzählen von ihm;
+meine Mutter war aus dem Domleschg und er auch."
+</p>
+
+<p>
+"A bah, Dete, was meinst denn?", gab die Barbel ein wenig beleidigt
+zurück; "es geht nicht so streng mit dem Schwatzen im Prättigau,
+und dann kann ich schon etwas für mich behalten, wenn es sein muss.
+Erzähl mir's jetzt, es muss dich nicht gereuen."
+</p>
+
+<p>
+"Ja nu, so will ich, aber halt Wort!", mahnte die Dete. Erst sah
+sie sich aber um, ob das Kind nicht zu nah sei und alles anhöre,
+was sie sagen wollte; aber das Kind war gar nicht zu sehen, es
+musste schon seit einiger Zeit den beiden Begleiterinnen nicht mehr
+gefolgt sein, diese hatten es aber im Eifer der Unterhaltung nicht
+bemerkt. Dete stand still und schaute sich überall um. Der Fußweg
+machte einige Krümmungen, doch konnte man ihn fast bis zum Dörfli
+hinunter übersehen, es war aber niemand darauf sichtbar.
+</p>
+
+<p>
+"Jetzt seh ich's", erklärte die Barbel; "siehst du dort?", und sie
+wies mit dem Zeigefinger weitab vom Bergpfad. "Es klettert die
+Abhänge hinauf mit dem Geißenpeter und seinen Geißen. Warum der
+heut so spät hinauffährt mit seinen Tieren? Es ist aber gerad
+recht, er kann nun zu dem Kinde sehen, und du kannst mir umso
+besser erzählen."
+</p>
+
+<p>
+"Mit dem Nach-ihm-Sehen muss sich der Peter nicht anstrengen",
+bemerkte die Dete; "es ist nicht dumm für seine fünf Jahre, es tut
+seine Augen auf und sieht, was vorgeht, das hab ich schon bemerkt
+an ihm, und es wird ihm einmal zugut kommen, denn der Alte hat gar
+nichts mehr als seine zwei Geißen und die Almhütte."
+</p>
+
+<p>
+"Hat er denn einmal mehr gehabt?", fragte die Barbel.
+</p>
+
+<p>
+"Der? Ja, das denk ich, dass er einmal mehr gehabt hat",
+entgegnete eifrig die Dete; "eins der schönsten Bauerngüter im
+Domleschg hat er gehabt. Er war der ältere Sohn und hatte nur noch
+einen Bruder, der war still und ordentlich. Aber der Ältere wollte
+nichts tun, als den Herrn spielen und im Lande herumfahren und mit
+bösem Volk zu tun haben, das niemand kannte. Den ganzen Hof hat er
+verspielt und verzecht, und wie es herauskam, da sind sein Vater
+und seine Mutter hintereinander gestorben vor lauter Gram, und der
+Bruder, der nun auch am Bettelstab war, ist vor Verdruss in die
+Welt hinaus, es weiß kein Mensch wohin, und der Öhi selber, als er
+nichts mehr hatte als einen bösen Namen, ist auch verschwunden.
+Erst wusste niemand wohin, dann vernahm man, er sei unter das
+Militär gegangen nach Neapel, und dann hörte man nichts mehr von
+ihm zwölf oder fünfzehn Jahre lang. Dann auf einmal erschien er
+wieder im Domleschg mit einem halb erwachsenen Buben und wollte
+diesen in der Verwandtschaft unterzubringen suchen. Aber es
+schlossen sich alle Türen vor ihm, und keiner wollte mehr etwas von
+ihm wissen. Das erbitterte ihn sehr; er sagte, ins Domleschg setze
+er keinen Fuß mehr, und dann kam er hierher ins Dörfli und lebte da
+mit dem Buben. Die Frau muss eine Bündnerin gewesen sein, die er
+dort unten getroffen und dann bald wieder verloren hatte. Er
+musste noch etwas Geld haben, denn er ließ den Buben, den Tobias,
+ein Handwerk erlernen, Zimmermann, und der war ein ordentlicher
+Mensch und wohlgelitten bei allen Leuten im Dörfli. Aber dem Alten
+traute keiner, man sagte auch, er sei von Neapel desertiert, es
+wäre ihm sonst schlimm gegangen, denn er habe einen erschlagen,
+natürlich nicht im Krieg, verstehst du, sondern beim Raufhandel.
+Wir anerkannten aber die Verwandtschaft, da meiner Mutter
+Großmutter mit seiner Großmutter Geschwisterkind gewesen war. So
+nannten wir ihn Öhi, und da wir fast mit allen Leuten im Dörfli
+wieder verwandt sind vom Vater her, so nannten ihn diese alle auch
+Öhi, und seit er dann auf die Alm hinaufgezogen war, hieß er eben
+nur noch der 'Alm-Öhi'."
+</p>
+
+<p>
+"Aber wie ist es dann mit dem Tobias gegangen?", fragte gespannt
+die Barbel.
+</p>
+
+<p>
+"Wart nur, das kommt schon, ich kann nicht alles auf einmal sagen",
+erklärte Dete. "Also der Tobias war in der Lehre draußen in Mels,
+und sowie er fertig war, kam er heim ins Dörfli und nahm meine
+Schwester zur Frau, die Adelheid, denn sie hatten sich schon immer
+gern gehabt, und auch wie sie nun verheiratet waren, konnten sie's
+sehr gut zusammen. Aber es ging nicht lange. Schon zwei Jahre
+nachher, wie er an einem Hausbau mithalf, fiel ein Balken auf ihn
+herunter und schlug ihn tot. Und wie man den Mann so entstellt
+nach Hause brachte, da fiel die Adelheid vor Schrecken und Leid in
+ein heftiges Fieber und konnte sich nicht mehr erholen, sie war
+sonst nicht sehr kräftig und hatte manchmal so eigene Zustände
+gehabt, dass man nicht recht wusste, schlief sie oder war sie wach.
+Nur ein paar Wochen, nachdem der Tobias tot war, begrub man auch
+die Adelheid. Da sprachen alle Leute weit und breit von dem
+traurigen Schicksal der beiden, und leise und laut sagten sie, das
+sei die Strafe, die der Öhi verdient habe für sein gottloses Leben,
+und ihm selbst wurde es gesagt und auch der Herr Pfarrer redete ihm
+ins Gewissen, er sollte doch jetzt Buße tun, aber er wurde nur
+immer grimmiger und verstockter und redete mit niemandem mehr, es
+ging ihm auch jeder aus dem Wege. Auf einmal hieß es, der Öhi sei
+auf die Alm hinaufgezogen und komme gar nicht mehr herunter, und
+seither ist er dort und lebt mit Gott und Menschen im Unfrieden.
+Das kleine Kind der Adelheid nahmen wir zu uns, die Mutter und ich;
+es war ein Jahr alt. Wie nun im letzten Sommer die Mutter starb
+und ich im Bad drunten etwas verdienen wollte, nahm ich es mit und
+gab es der alten Ursel oben im Pfäfferserdorf in die Kost. Ich
+konnte auch im Winter im Bad bleiben, es gab allerhand Arbeit, weil
+ich zu nähen und flicken verstehe, und früh im Frühling kam die
+Herrschaft aus Frankfurt wieder, die ich voriges Jahr bedient hatte
+und die mich mitnehmen will; übermorgen reisen wir ab, und der
+Dienst ist gut, das kann ich dir sagen."
+</p>
+
+<p>
+"Und dem Alten da droben willst du nun das Kind übergeben? Es
+nimmt mich nur wunder, was du denkst, Dete", sagte die Barbel
+vorwurfsvoll.
+</p>
+
+<p>
+"Was meinst du denn?", gab Dete zurück. "Ich habe das Meinige an
+dem Kinde getan, und was sollte ich denn mit ihm machen? Ich denke,
+ich kann eines, das erst fünf Jahre alt wird, nicht mit nach
+Frankfurt nehmen. Aber wohin gehst du eigentlich, Barbel, wir sind
+ja schon halbwegs auf der Alm?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich bin auch gleich da, wo ich hinmuss", entgegnete die Barbel;
+"ich habe mit der Geißenpeterin zu reden, sie spinnt mir im Winter.
+So leb wohl, Dete, mit Glück!"
+</p>
+
+<p>
+Dete reichte der Begleiterin die Hand und blieb stehen, während
+diese der kleinen, dunkelbraunen Almhütte zuging, die einige
+Schritte seitwärts vom Pfad in einer Mulde stand, wo sie vor dem
+Bergwind ziemlich geschützt war. Die Hütte stand auf der halben
+Höhe der Alm, vom Dörfli aus gerechnet, und dass sie in einer
+kleinen Vertiefung des Berges stand, war gut, denn sie sah so
+baufällig und verfallen aus, dass es auch so noch ein gefährliches
+Darinwohnen sein musste, wenn der Föhnwind so mächtig über die
+Berge strich, dass alles an der Hütte klapperte, Türen und Fenster,
+und alle die morschen Balken zitterten und krachten. Hätte die
+Hütte an solchen Tagen oben auf der Alm gestanden, sie wäre
+unverzüglich ins Tal hinabgeweht worden.
+</p>
+
+<p>
+Hier wohnte der Geißenpeter, der elfjährige Bube, der jeden Morgen
+unten im Dörfli die Geißen holte, um sie hoch auf die Alm
+hinaufzutreiben, um sie da die kurzen kräftigen Kräuter fressen zu
+lassen bis zum Abend; dann sprang der Peter mit den leichtfüßigen
+Tierchen wieder herunter, tat, im Dörfli angekommen, einen
+schrillen Pfiff durch die Finger, und jeder Besitzer holte seine
+Geiß auf dem Platz. Meistens kamen kleine Buben und Mädchen, denn
+die friedlichen Geißen waren nicht zu fürchten, und das war denn
+den ganzen Sommer durch die einzige Zeit am Tage, da der Peter mit
+seinesgleichen verkehrte; sonst lebte er nur mit den Geißen. Er
+hatte zwar daheim seine Mutter und die blinde Großmutter; aber da
+er immer am Morgen sehr früh fortmusste und am Abend vom Dörfli
+spät heimkam, weil er sich da noch so lange als möglich mit den
+Kindern unterhalten musste, so verbrachte er daheim nur gerade so
+viel Zeit, um am Morgen seine Milch und Brot und am Abend
+ebendasselbe hinunterzuschlucken und dann sich aufs Ohr zu legen
+und zu schlafen. Sein Vater, der auch schon der Geißenpeter
+genannt worden war, weil er in früheren Jahren in demselben Berufe
+gestanden hatte, war vor einigen Jahren beim Holzfällen verunglückt.
+Seine Mutter, die zwar Brigitte hieß, wurde von jedermann um des
+Zusammenhangs willen die Geißenpeterin genannt, und die blinde
+Großmutter kannten weit und breit Alt und Jung nur unter dem Namen
+Großmutter.
+</p>
+
+<p>
+Die Dete hatte wohl zehn Minuten gewartet und sich nach allen
+Seiten umgesehen, ob die Kinder mit den Geißen noch nirgends zu
+sehen seien; als dies aber nicht der Fall war, so stieg sie noch
+ein wenig höher, wo sie besser die ganze Alm bis hinunter übersehen
+konnte, und guckte nun von hier aus bald dahin, bald dorthin mit
+Zeichen großer Ungeduld auf dem Gesicht und in den Bewegungen.
+Unterdessen rückten die Kinder auf einem großen Umwege heran, denn
+der Peter wusste viele Stellen, wo allerhand Gutes an Sträuchern
+und Gebüschen für seine Geißen zu nagen war; darum machte er mit
+seiner Herde vielerlei Wendungen auf dem Wege. Erst war das Kind
+mühsam nachgeklettert, in seiner schweren Rüstung vor Hitze und
+Unbequemlichkeit keuchend und alle Kräfte anstrengend. Es sagte
+kein Wort, blickte aber unverwandt bald auf den Peter, der mit
+seinen nackten Füßen und leichten Höschen ohne alle Mühe hin und
+her sprang, bald auf die Geißen, die mit den dünnen, schlanken
+Beinchen noch leichter über Busch und Stein und steile Abhänge
+hinaufkletterten. Auf einmal setzte das Kind sich auf den Boden
+nieder, zog mit großer Schnelligkeit Schuhe und Strümpfe aus, stand
+wieder auf, zog sein rotes, dickes Halstuch weg, machte sein
+Röckchen auf, zog es schnell aus und hatte gleich noch eins
+auszuhäkeln, denn die Base Dete hatte ihm das Sonntagskleidchen
+über das Alltagszeug angezogen, um der Kürze willen, damit niemand
+es tragen müsse. Blitzschnell war auch das Alltagsröcklein weg,
+und nun stand das Kind im leichten Unterröckchen, die bloßen Arme
+aus den kurzen Hemdärmelchen vergnüglich in die Luft
+hinausstreckend. Dann legte es schön alles auf ein Häufchen, und
+nun sprang und kletterte es hinter den Geißen und neben dem Peter
+her, so leicht als nur eines aus der ganzen Gesellschaft. Der
+Peter hatte nicht Acht gegeben, was das Kind mache, als es
+zurückgeblieben war. Wie es nun in der neuen Bekleidung
+nachgesprungen kam, zog er lustig grinsend das ganze Gesicht
+auseinander und schaute zurück, und wie er unten das Häuflein
+Kleider liegen sah, ging sein Gesicht noch ein wenig mehr
+auseinander, und sein Mund kam fast von einem Ohr bis zum anderen;
+er sagte aber nichts. Wie nun das Kind sich so frei und leicht
+fühlte, fing es ein Gespräch mit dem Peter an, und er fing auch an
+zu reden und musste auf vielerlei antworten, denn das Kind wollte
+wissen, wie viele Geißen er habe und wohin er mit ihnen gehe und
+was er dort tue, wo er hinkomme. So langten endlich die Kinder
+samt den Geißen oben bei der Hütte an und kamen der Base Dete zu
+Gesicht. Kaum aber hatte diese die herankletternde Gesellschaft
+erblickt, als sie laut aufschrie: "Heidi, was machst du? Wie
+siehst du aus? Wo hast du deinen Rock und den zweiten und das
+Halstuch? Und ganz neue Schuhe habe ich dir gekauft auf den Berg
+und dir neue Strümpfe gemacht, und alles fort! Alles fort! Heidi,
+was machst du, wo hast du alles?"
+</p>
+
+<p>
+Das Kind zeigte ruhig den Berg hinunter und sagte: "Dort!" Die Base
+folgte seinem Finger. Richtig, dort lag etwas und obenauf war ein
+roter Punkt, das musste das Halstuch sein.
+</p>
+
+<p>
+"Du Unglückstropf!", rief die Base in großer Aufregung. "Was kommt
+dir denn in den Sinn, warum hast du alles ausgezogen? Was soll das
+sein?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich brauch es nicht", sagte das Kind und sah gar nicht reuevoll
+aus über seine Tat.
+</p>
+
+<p>
+"Ach du unglückseliges, vernunftloses Heidi, hast du denn auch noch
+gar keine Begriffe?", jammerte und schalt die Base weiter. "Wer
+sollte nun wieder da hinunter, es ist ja eine halbe Stunde! Komm,
+Peter, lauf du mir schnell zurück und hol das Zeug, komm schnell
+und steh nicht dort und glotze mich an, als wärst du am Boden
+festgenagelt."
+</p>
+
+<p>
+"Ich bin schon zu spät", sagte Peter langsam und blieb, ohne sich
+zu rühren, auf demselben Fleck stehen, von dem aus er, beide Hände
+in die Taschen gesteckt, dem Schreckensausbruch der Base zugehört
+hatte.
+</p>
+
+<p>
+"Du stehst ja doch nur und reißest deine Augen auf und kommst, denk
+ich, nicht weit auf die Art!", rief ihm die Base Dete zu. "Komm
+her, du musst etwas Schönes haben, siehst du?" Sie hielt ihm ein
+neues Fünferchen hin, das glänzte ihm in die Augen. Plötzlich
+sprang er auf und davon auf dem geradesten Weg die Alm hinunter und
+kam in ungeheuren Sätzen in kurzer Zeit bei dem Häuflein Kleider an,
+packte sie auf und erschien damit so schnell, dass ihn die Base
+rühmen musste und ihm sogleich sein Fünfrappenstück überreichte.
+Peter steckte es schnell tief in seine Tasche, und sein Gesicht
+glänzte und lachte in voller Breite, denn ein solcher Schatz wurde
+ihm nicht oft zuteil.
+</p>
+
+<p>
+"Du kannst mir das Zeug noch tragen bis zum Öhi hinauf, du gehst ja
+auch den Weg", sagte die Base Dete jetzt, indem sie sich anschickte,
+den steilen Abhang zu erklimmen, der gleich hinter der Hütte des
+Geißenpeter emporragte. Willig übernahm dieser den Auftrag und
+folgte der Voranschreitenden auf dem Fuße nach, den linken Arm um
+sein Bündel geschlungen, in der Rechten die Geißenrute schwingend.
+Das Heidi und die Geißen hüpften und sprangen fröhlich neben ihm
+her. So gelangte der Zug nach drei Viertelstunden auf die Almhöhe,
+wo frei auf dem Vorsprung des Berges die Hütte des alten Öhi stand,
+allen Winden ausgesetzt, aber auch jedem Sonnenblick zugänglich und
+mit der vollen Aussicht weit ins Tal hinab. Hinter der Hütte
+standen drei alte Tannen mit dichten, langen, unbeschnittenen Ästen.
+Weiter hinten ging es nochmals bergan bis hoch hinauf in die
+alten, grauen Felsen, erst noch über schöne, kräuterreiche Höhen,
+dann in steiniges Gestrüpp und endlich zu den kahlen, steilen
+Felsen hinan.
+</p>
+
+<p>
+An die Hütte festgemacht, der Talseite zu, hatte sich der Öhi eine
+Bank gezimmert. Hier saß er, eine Pfeife im Mund, beide Hände auf
+seine Knie gelegt, und schaute ruhig zu, wie die Kinder, die Geißen
+und die Base Dete herankletterten, denn die Letztere war nach und
+nach von den anderen überholt worden. Heidi war zuerst oben; es
+ging geradeaus auf den Alten zu, streckte ihm die Hand entgegen und
+sagte: "Guten Abend, Großvater!"
+</p>
+
+<p>
+"So, so, wie ist das gemeint?", fragte der Alte barsch, gab dem
+Kinde kurz die Hand und schaute es mit einem langen,
+durchdringenden Blick an, unter seinen buschigen Augenbrauen hervor.
+Heidi gab den langen Blick ausdauernd zurück, ohne nur einmal mit
+den Augen zu zwinkern, denn der Großvater mit dem langen Bart und
+den dichten, grauen Augenbrauen, die in der Mitte zusammengewachsen
+waren und aussahen wie eine Art Gesträuch, war so verwunderlich
+anzusehen, dass Heidi ihn recht betrachten musste. Unterdessen war
+auch die Base herangekommen samt dem Peter, der eine Welle stille
+stand und zusah, was sich da ereigne.
+</p>
+
+<p>
+"Ich wünsche Euch guten Tag, Öhi", sagte die Dete hinzutretend,
+"und hier bring ich Euch das Kind vom Tobias und der Adelheid. Ihr
+werdet es wohl nicht mehr kennen, denn seit es jährig war, habt Ihr
+es nie mehr gesehen."
+</p>
+
+<p>
+"So, was muss das Kind bei mir?", fragte der Alte kurz; "und du
+dort", rief er dem Peter zu, "du kannst gehen mit deinen Geißen, du
+bist nicht zu früh; nimm meine mit!"
+</p>
+
+<p>
+Der Peter gehorchte sofort und verschwand, denn der Öhi hatte ihn
+angeschaut, dass er schon genug davon hatte.
+</p>
+
+<p>
+"Es muss eben bei Euch bleiben, Öhi", gab die Dete auf seine Frage
+zurück. "Ich habe, denk ich, das Meinige an ihm getan die vier
+Jahre durch, es wird jetzt wohl an Euch sein, das Eurige auch
+einmal zu tun."
+</p>
+
+<p>
+"So", sagte der Alte und warf einen blitzenden Blick auf die Dete.
+"Und wenn nun das Kind anfängt, dir nachzuflennen und zu winseln,
+wie kleine Unvernünftige tun, was muss ich dann mit ihm anfangen?"
+</p>
+
+<p>
+"Das ist dann Eure Sache", warf die Dete zurück, "ich meine fast,
+es habe mir auch kein Mensch gesagt, wie ich es mit dem Kleinen
+anzufangen habe, als es mir auf den Händen lag, ein einziges
+Jährchen alt, und ich schon für mich und die Mutter genug zu tun
+hatte. Jetzt muss ich meinem Verdienst nach, und Ihr seid der
+Nächste am Kind; wenn Ihr's nicht haben könnt, so macht mit ihm,
+was Ihr wollt, dann habt Ihr's zu verantworten, wenn's verdirbt,
+und Ihr werdet wohl nicht nötig haben, noch etwas aufzuladen."
+</p>
+
+<p>
+Die Dete hatte kein recht gutes Gewissen bei der Sache, darum war
+sie so hitzig geworden und hatte mehr gesagt, als sie im Sinn
+gehabt hatte. Bei ihren letzten Worten war der Öhi aufgestanden;
+er schaute sie so an, dass sie einige Schritte zurückwich; dann
+streckte er den Arm aus und sagte befehlend: "Mach, dass du
+hinunterkommst, wo du heraufgekommen bist, und zeig dich nicht so
+bald wieder!" Das ließ sich die Dete nicht zweimal sagen. "So lebt
+wohl, und du auch, Heidi", sagte sie schnell und lief den Berg
+hinunter in einem Trab bis ins Dörfli hinab, denn die innere
+Aufregung trieb sie vorwärts wie eine wirksame Dampfkraft. Im
+Dörfli wurde sie diesmal noch viel mehr angerufen, denn es wunderte
+die Leute, wo das Kind sei; sie kannten ja alle die Dete genau und
+wussten, wem das Kind gehörte und alles, was mit ihm vorgegangen
+war. Als es nun aus allen Türen und Fenstern tönte: "Wo ist das
+Kind? Dete, wo hast du das Kind gelassen?", rief sie immer
+unwilliger zurück: "Droben beim Alm-Öhi! Nun, beim Alm-Öhi, ihr
+hört's ja!"
+</p>
+
+<p>
+Sie wurde aber so maßleidig, weil die Frauen von allen Seiten ihr
+zuriefen: "Wie kannst du so etwas tun!", und: "Das arme Tröpfli!",
+und: "So ein kleines Hilfloses da droben lassen!", und dann wieder
+und wieder: "Das arme Tröpfli!" Die Dete lief, so schnell sie
+konnte, weiter und war froh, als sie nichts mehr hörte, denn es war
+ihr nicht wohl bei der Sache; ihre Mutter hatte ihr beim Sterben
+das Kind noch übergeben. Aber sie sagte sich zur Beruhigung, sie
+könne dann ja eher wieder etwas für das Kind tun, wenn sie nun viel
+Geld verdiene, und so war sie sehr froh, dass sie bald weit von
+allen Leuten, die ihr dreinredeten, weg- und zu einem schönen
+Verdienst kommen konnte.
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap02"></a>
+Beim Großvater
+</h3>
+
+<p>
+Nachdem die Dete verschwunden war, hatte der Öhi sich wieder auf
+die Bank hingesetzt und blies nun große Wolken aus seiner Pfeife;
+dabei starrte er auf den Boden und sagte kein Wort. Derweilen
+schaute das Heidi vergnüglich um sich, entdeckte den Geißenstall,
+der an die Hütte angebaut war, und guckte hinein. Es war nichts
+drin. Das Kind setzte seine Untersuchungen fort und kam hinter die
+Hütte zu den alten Tannen. Da blies der Wind durch die Äste so
+stark, dass es sauste und brauste oben in den Wipfeln. Heidi blieb
+stehen und hörte zu. Als es ein wenig stiller wurde, ging das Kind
+um die kommende Ecke der Hütte herum und kam vorn wieder zum
+Großvater zurück. Als es diesen noch in derselben Stellung
+erblickte, wie es ihn verlassen hatte, stellte es sich vor ihn hin,
+legte die Hände auf den Rücken und betrachtete ihn. Der Großvater
+schaute auf. "Was willst du jetzt tun?", fragte er, als das Kind
+immer noch unbeweglich vor ihm stand.
+</p>
+
+<p>
+"Ich will sehen, was du drinnen hast, in der Hütte", sagte Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"So komm!", und der Großvater stand auf und ging voran in die Hütte
+hinein.
+</p>
+
+<p>
+"Nimm dort dein Bündel Kleider noch mit", befahl er im Hereintreten.
+</p>
+
+<p>
+"Das brauch ich nicht mehr", erklärte Heidi.
+</p>
+
+<p>
+Der Alte kehrte sich um und schaute durchdringend auf das Kind,
+dessen schwarze Augen glühten in Erwartung der Dinge, die da
+drinnen sein konnten. "Es kann ihm nicht an Verstand fehlen",
+sagte er halblaut. "Warum brauchst du's nicht mehr?", setzte er
+laut hinzu.
+</p>
+
+<p>
+"Ich will am liebsten gehen wie die Geißen, die haben ganz leichte
+Beinchen."
+</p>
+
+<p>
+"So, das kannst du, aber hol das Zeug", befahl der Großvater, "es
+kommt in den Kasten." Heidi gehorchte. Jetzt machte der Alte die
+Tür auf und Heidi trat hinter ihm her in einen ziemlich großen Raum
+ein, es war der Umfang der ganzen Hütte. Da stand ein Tisch und
+ein Stuhl daran; in einer Ecke war des Großvaters Schlaflager, in
+einer anderen hing der große Kessel über dem Herd; auf der anderen
+Seite war eine große Tür in der Wand, die machte der Großvater auf,
+es war der Schrank. Da hingen seine Kleider drin und auf einem
+Gestell lagen ein paar Hemden, Strümpfe und Tücher und auf einem
+anderen einige Teller und Tassen und Gläser und auf dem obersten
+ein rundes Brot und geräuchertes Fleisch und Käse, denn in dem
+Kasten war alles enthalten, was der Alm-Öhi besaß und zu seinem
+Lebensunterhalt gebrauchte. Wie er nun den Schrank aufgemacht
+hatte, kam das Heidi schnell heran und stieß sein Zeug hinein, so
+weit hinter des Großvaters Kleider als möglich, damit es nicht so
+leicht wieder zu finden sei. Nun sah es sich aufmerksam um in dem
+Raum und sagte dann: "Wo muss ich schlafen, Großvater?"
+</p>
+
+<p>
+"Wo du willst", gab dieser zur Antwort.
+</p>
+
+<p>
+Das war dem Heidi eben recht. Nun fuhr es in alle Winkel hinein
+und schaute jedes Plätzchen aus, wo am schönsten zu schlafen wäre.
+In der Ecke vorüber des Großvaters Lagerstätte war eine kleine
+Leiter aufgerichtet; Heidi kletterte hinauf und langte auf dem
+Heuboden an. Da lag ein frischer, duftender Heuhaufen oben, und
+durch eine runde Luke sah man weit ins Tal hinab.
+</p>
+
+<p>
+"Hier will ich schlafen", rief Heidi hinunter, "hier ist's schön!
+Komm und sieh einmal, wie schön es hier ist, Großvater!"
+</p>
+
+<p>
+"Weiß schon", tönte es von unten herauf.
+</p>
+
+<p>
+"Ich mache jetzt das Bett!", rief das Kind wieder, indem es oben
+geschäftig hin und her fuhr; "aber du musst heraufkommen und mir
+ein Leintuch mitbringen, denn auf ein Bett kommt auch ein Leintuch,
+und darauf liegt man."
+</p>
+
+<p>
+"So, so", sagte unten der Großvater, und nach einer Weile ging er
+an den Schrank und kramte ein wenig darin herum; dann zog er unter
+seinen Hemden ein langes, grobes Tuch hervor, das musste so etwas
+sein wie ein Leintuch. Er kam damit die Leiter herauf. Da war auf
+dem Heuboden ein ganz artiges Bettlein zugerichtet; oben, wo der
+Kopf liegen musste, war das Heu hoch aufgeschichtet, und das
+Gesicht kam so zu liegen, dass es gerade auf das offene, runde Loch
+traf.
+</p>
+
+<p>
+"Das ist recht gemacht", sagte der Großvater, "jetzt wird das Tuch
+kommen, aber wart noch"--damit nahm er einen guten Wisch Heu von
+dem Haufen und machte das Lager doppelt so dick, damit der harte
+Boden nicht durchgefühlt werden konnte--; "so, jetzt komm her
+damit." Heidi hatte das Leintuch schnell zuhanden genommen, konnte
+es aber fast nicht tragen, so schwer war's; aber das war sehr gut,
+denn durch das feste Zeug konnten die spitzen Heuhalme nicht
+durchstechen. Jetzt breiteten die beiden miteinander das Tuch über
+das Heu, und wo es zu breit und zu lang war, stopfte Heidi die
+Enden eilfertig unter das Lager. Nun sah es recht gut und reinlich
+aus, und Heidi stellte sich davor und betrachtete es nachdenklich.
+</p>
+
+<p>
+"Wir haben noch etwas vergessen, Großvater", sagte es dann.
+</p>
+
+<p>
+"Was denn?", fragte er.
+</p>
+
+<p>
+"Eine Decke; denn wenn man ins Bett geht, kriecht man zwischen das
+Leintuch und die Decke hinein."
+</p>
+
+<p>
+"So, meinst du? Wenn ich aber keine habe?", sagte der Alte.
+</p>
+
+<p>
+"Oh, dann ist's gleich, Großvater", beruhigte Heidi, "dann nimmt
+man wieder Heu zur Decke", und eilfertig wollte es gleich wieder an
+den Heustock gehen, aber der Großvater wehrte es ihm.
+</p>
+
+<p>
+"Wart einen Augenblick", sagte er, stieg die Leiter hinab und ging
+an sein Lager hin. Dann kam er wieder und legte einen großen,
+schweren, leinenen Sack auf den Boden.
+</p>
+
+<p>
+"Ist das nicht besser als Heu?", fragte er. Heidi zog aus
+Leibeskräften an dem Sacke hin und her, um ihn auseinander zu legen,
+aber die kleinen Hände konnten das schwere Zeug nicht bewältigen.
+Der Großvater half, und wie es nun ausgebreitet auf dem Bette lag,
+da sah alles sehr gut und haltbar aus, und Heidi stand staunend vor
+seinem neuen Lager und sagte: "Das ist eine prächtige Decke und das
+ganze Bett! Jetzt wollt ich, es wäre schon Nacht, so könnte ich
+hineinliegen."
+</p>
+
+<p>
+"Ich meine, wir könnten erst einmal etwas essen", sagte der
+Großvater, "oder was meinst du?" Heidi hatte über dem Eifer des
+Bettens alles andere vergessen; nun ihm aber der Gedanke ans Essen
+kam, stieg ein großer Hunger in ihm auf, denn es hatte auch heute
+noch gar nichts bekommen als früh am Morgen sein Stück Brot und ein
+paar Schlucke dünnen Kaffees, und nachher hatte es die lange Reise
+gemacht. So sagte Heidi ganz zustimmend: "Ja, ich mein es auch."
+</p>
+
+<p>
+"So geh hinunter, wenn wir denn einig sind", sagte der Alte und
+folgte dem Kind auf dem Fuß nach. Dann ging er zum Kessel hin,
+schob den großen weg und drehte den kleinen heran, der an der Kette
+hing, setzte sich auf den hölzernen Dreifuß mit dem runden Sitz
+davor hin und blies ein helles Feuer an. Im Kessel fing es an zu
+sieden, und unten hielt der Alte an einer langen Eisengabel ein
+großes Stück Käse über das Feuer und drehte es hin und her, bis es
+auf allen Seiten goldgelb war. Heidi hatte mit gespannter
+Aufmerksamkeit zugesehen; jetzt musste ihm etwas Neues in den Sinn
+gekommen sein; auf einmal sprang es weg und an den Schrank und von
+da hin und her. Jetzt kam der Großvater mit einem Topf und dem
+Käsebraten an der Gabel zum Tisch heran; da lag schon das runde
+Brot darauf und zwei Teller und zwei Messer, alles schön geordnet,
+denn das Heidi hatte alles im Schrank gut wahrgenommen und wusste,
+dass man das alles nun gleich zum Essen brauchen werde.
+</p>
+
+<p>
+"So, das ist recht, dass du selbst etwas ausdenkst", sagte der
+Großvater und legte den Braten auf das Brot als Unterlage; "aber es
+fehlt noch etwas auf dem Tisch."
+</p>
+
+<p>
+Heidi sah, wie einladend es aus dem Topf hervordampfte, und sprang
+schnell wieder an den Schrank. Da stand aber nur ein einziges
+Schüsselchen. Heidi war nicht lang in Verlegenheit, dort hinten
+standen zwei Gläser; augenblicklich kam das Kind zurück und stellte
+Schüsselchen und Glas auf den Tisch.
+</p>
+
+<p>
+"Recht so; du weißt dir zu helfen; aber wo willst du sitzen?" Auf
+dem einzigen Stuhl saß der Großvater selbst. Heidi schoss
+pfeilschnell zum Herd hin, brachte den kleinen Dreifuß zurück und
+setzte sich drauf.
+</p>
+
+<p>
+"Einen Sitz hast du wenigstens, das ist wahr, nur ein wenig weit
+unten", sagte der Großvater; "aber von meinem Stuhl wärst auch zu
+kurz, auf den Tisch zu langen; jetzt musst aber einmal etwas haben,
+so komm!" Damit stand er auf, füllte das Schüsselchen mit Milch,
+stellte es auf den Stuhl und rückte den ganz nah an den Dreifuß hin,
+so dass das Heidi nun einen Tisch vor sich hatte. Der Großvater
+legte ein großes Stück Brot und ein Stück von dem goldenen Käse
+darauf und sagte: "Jetzt iss!" Er selbst setzte sich nun auf die
+Ecke des Tisches und begann sein Mittagsmahl. Heidi ergriff sein
+Schüsselchen und trank und trank ohne Aufenthalt, denn der ganze
+Durst seiner langen Reise war ihm wieder aufgestiegen. Jetzt tat
+es einen langen Atemzug--denn im Eifer des Trinkens hatte es lange
+den Atem nicht holen können--und stellte sein Schüsselchen hin.
+</p>
+
+<p>
+"Gefällt dir die Milch?", fragte der Großvater.
+</p>
+
+<p>
+"Ich habe noch gar nie so gute Milch getrunken", antwortete Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"So musst du mehr haben", und der Großvater füllte das Schüsselchen
+noch einmal bis oben hin und stellte es vor das Kind, das
+vergnüglich in sein Brot biss, nachdem es von dem weichen Käse
+darauf gestrichen, denn der war, so gebraten, weich wie Butter, und
+das schmeckte ganz kräftig zusammen, und zwischendurch trank es
+seine Milch und sah sehr vergnüglich aus. Als nun das Essen zu
+Ende war, ging der Großvater in den Geißenstall hinaus und hatte da
+allerhand in Ordnung zu bringen, und Heidi sah ihm aufmerksam zu,
+wie er erst mit dem Besen säuberte, dann frische Streu legte, dass
+die Tierchen darauf schlafen konnten; wie er dann nach dem
+Schöpfchen ging nebenan und hier runde Stöcke zurechtschnitt und an
+einem Brett herumhackte und Löcher hineinbohrte und dann die runden
+Stöcke hineinsteckte und aufstellte; da war es auf einmal ein Stuhl,
+wie der vom Großvater, nur viel höher, und Heidi staunte das Werk
+an, sprachlos vor Verwunderung.
+</p>
+
+<p>
+"Was ist das, Heidi?", fragte der Großvater.
+</p>
+
+<p>
+"Das ist mein Stuhl, weil er so hoch ist; auf einmal war er fertig",
+sagte das Kind, noch in tiefem Erstaunen und Bewunderung.
+</p>
+
+<p>
+"Es weiß, was es sieht, es hat die Augen am rechten Ort", bemerkte
+der Großvater vor sich hin, als er nun um die Hütte herumging und
+hier einen Nagel einschlug und dort einen und dann an der Tür etwas
+zu befestigen hatte und so mit Hammer und Nägeln und Holzstücken
+von einem Ort zum anderen wanderte und immer etwas ausbesserte oder
+wegschlug, je nach dem Bedürfnis. Heidi ging Schritt für Schritt
+hinter ihm her und schaute ihm unverwandt mit der größten
+Aufmerksamkeit zu, und alles, was da vorging, war ihm sehr
+kurzweilig anzusehen.
+</p>
+
+<p>
+So kam der Abend heran. Es fing stärker an zu rauschen in den
+alten Tannen, ein mächtiger Wind fuhr daher und sauste und brauste
+durch die dichten Wipfel. Das tönte dem Heidi so schön in die
+Ohren und ins Herz hinein, dass es ganz fröhlich darüber wurde und
+hüpfte und sprang unter den Tannen umher, als hätte es eine
+unerhörte Freude erlebt. Der Großvater stand unter der Schopftür
+und schaute dem Kind zu. Jetzt ertönte ein schriller Pfiff. Heidi
+hielt an in seinen Sprüngen, der Großvater trat heraus. Von oben
+herunter kam es gesprungen, Geiß um Geiß, wie eine Jagd, und
+mittendrin der Peter. Mit einem Freudenruf schoss Heidi mitten in
+das Rudel hinein und begrüßte die alten Freunde von heute Morgen
+einen um den anderen. Bei der Hütte angekommen, stand alles still,
+und aus der Herde heraus kamen zwei schöne, schlanke Geißen, eine
+weiße und eine braune, auf den Großvater zu und leckten seine Hände,
+denn er hielt ein wenig Salz darin, wie er jeden Abend zum Empfang
+seiner zwei Tierlein tat. Der Peter verschwand mit seiner Schar.
+Heidi streichelte zärtlich die eine und dann die andere von den
+Geißen und sprang um sie herum, um sie von der anderen Seite auch
+zu streicheln, und war ganz Glück und Freude über die Tierchen.
+"Sind sie unser, Großvater? Sind sie beide unser? Kommen sie in
+den Stall? Bleiben sie immer bei uns?", so fragte Heidi
+hintereinander in seinem Vergnügen, und der Großvater konnte kaum
+sein stetiges "Ja, ja!" zwischen die eine und die andere Frage
+hineinbringen. Als die Geißen ihr Salz aufgeleckt hatten, sagte
+der Alte: "Geh und hol dein Schüsselchen heraus und das Brot."
+</p>
+
+<p>
+Heidi gehorchte und kam gleich wieder. Nun melkte der Großvater
+gleich von der Weißen das Schüsselchen voll und schnitt ein Stück
+Brot ab und sagte: "Nun iss und dann geh hinauf und schlaf! Die
+Base Dete hat noch ein Bündelchen abgelegt für dich, da seien
+Hemdlein und so etwas darin, das liegt unten im Kasten, wenn du's
+brauchst; ich muss nun mit den Geißen hinein, so schlaf wohl!"
+</p>
+
+<p>
+"Gut Nacht, Großvater! Gut Nacht--wie heißen sie, Großvater, wie
+heißen sie?", rief das Kind und lief dem verschwindenden Alten und
+den Geißen nach.
+</p>
+
+<p>
+"Die Weiße heißt Schwänli und die Braune Bärli", gab der Großvater
+zurück.
+</p>
+
+<p>
+"Gut Nacht, Schwänli, gut Nacht, Bärli!", rief nun Heidi noch mit
+Macht, denn eben verschwanden beide in den Stall hinein. Nun
+setzte sich Heidi noch auf die Bank und aß sein Brot und trank
+seine Milch; aber der starke Wind wehte es fast von seinem Sitz
+herunter; so machte es schnell fertig, ging dann hinein und stieg
+zu seinem Bett hinauf, in dem es auch gleich nachher so fest und
+herrlich schlief, als nur einer im schönsten Fürstenbett schlafen
+konnte. Nicht lange nachher, noch eh es völlig dunkel war, legte
+auch der Großvater sich auf sein Lager, denn am Morgen war er immer
+schon mit der Sonne wieder draußen, und die kam sehr früh über die
+Berge hereingestiegen in dieser Sommerszeit. In der Nacht kam der
+Wind so gewaltig, dass bei seinen Stößen die ganze Hütte erzitterte
+und es in allen Balken krachte; durch den Schornstein heulte und
+ächzte es wie Jammerstimmen, und in den alten Tannen draußen tobte
+es mit solcher Wut, dass hier und da ein Ast niederkrachte. Mitten
+in der Nacht stand der Großvater auf und sagte halblaut vor sich
+hin: "Es wird sich wohl fürchten." Er stieg die Leiter hinauf und
+trat an Heidis Lager heran. Der Mond draußen stand einmal hell
+leuchtend am Himmel, dann fuhren wieder die jagenden Wolken darüber
+hin und alles wurde dunkel. Jetzt kam der Mondschein eben
+leuchtend durch die runde Öffnung herein und fiel gerade auf Heidis
+Lager. Es hatte sich feuerrote Backen erschlafen unter seiner
+schweren Decke, und ruhig und friedlich lag es auf seinem runden
+Ärmchen und träumte von etwas Erfreulichem, denn sein Gesichtchen
+sah ganz wohlgemut aus. Der Großvater schaute so lange auf das
+friedlich schlafende Kind, bis der Mond wieder hinter die Wolken
+trat und es dunkel wurde, dann kehrte er auf sein Lager zurück.
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap03"></a>
+Auf der Weide
+</h3>
+
+<p>
+Heidi erwachte am frühen Morgen an einem lauten Pfiff, und als es
+die Augen aufschlug, kam ein goldener Schein durch das runde Loch
+hereingeflossen auf sein Lager und auf das Heu daneben, dass alles
+golden leuchtete ringsherum. Heidi schaute erstaunt um sich und
+wusste durchaus nicht, wo es war. Aber nun hörte es draußen des
+Großvaters tiefe Stimme, und jetzt kam ihm alles in den Sinn: Woher
+es gekommen war und dass es nun auf der Alm beim Großvater sei,
+nicht mehr bei der alten Ursel, die fast nichts mehr hörte und
+meistens fror, so dass sie immer am Küchenfenster oder am
+Stubenofen gesessen hatte, wo dann auch Heidi hatte verweilen
+müssen oder doch ganz in der Nähe, damit die Alte sehen konnte, wo
+es war, weil sie es nicht hören konnte. Da war es dem Heidi
+manchmal zu eng drinnen, und es wäre lieber hinausgelaufen. So war
+es sehr froh, als es in der neuen Behausung erwachte und sich
+erinnerte, wie viel Neues es gestern gesehen hatte und was es heute
+wieder alles sehen könnte, vor allem das Schwänli und das Bärli.
+Heidi sprang eilig aus seinem Bett und hatte in wenig Minuten alles
+wieder angelegt, was es gestern getragen hatte, denn es war sehr
+wenig. Nun stieg es die Leiter hinunter und sprang vor die Hütte
+hinaus. Da stand schon der Geißenpeter mit seiner Schar, und der
+Großvater brachte eben Schwänli und Bärli aus dem Stall herbei,
+dass sie sich der Gesellschaft anschlossen. Heidi lief ihm
+entgegen, um ihm und den Geißen guten Tag zu sagen.
+</p>
+
+<p>
+"Willst mit auf die Weide?", fragte der Großvater. Das war dem
+Heidi eben recht, es hüpfte hoch auf vor Freude.
+</p>
+
+<p>
+"Aber erst waschen und sauber sein, sonst lacht einen die Sonne aus,
+wenn sie so schön glänzt da droben und sieht, dass du schwarz bist;
+sieh, dort ist's für dich gerichtet." Der Großvater zeigte auf
+einen großen Zuber voll Wasser, der vor der Tür in der Sonne stand.
+Heidi sprang hin und patschte und rieb, bis es ganz glänzend war.
+Unterdessen ging der Großvater in die Hütte hinein und rief dem
+Peter zu: "Komm hierher, Geißengeneral, und bring deinen Habersack
+mit." Verwundert folgte Peter dem Ruf und streckte sein Säcklein
+hin, in dem er sein mageres Mittagessen bei sich trug.
+</p>
+
+<p>
+"Mach auf", befahl der Alte und steckte nun ein großes Stück Brot
+und ein ebenso großes Stück Käse hinein. Der Peter machte vor
+Erstaunen seine runden Augen so weit auf als nur möglich, denn die
+beiden Stücke waren wohl doppelt so groß wie die zwei, die er als
+eignes Mittagsmahl drinnen hatte.
+</p>
+
+<p>
+"So, nun kommt noch das Schüsselchen hinein", fuhr der Öhi fort,
+"denn das Kind kann nicht trinken wie du, nur so von der Geiß weg,
+es kennt das nicht. Du melkst ihm zwei Schüsselchen voll zu Mittag,
+denn das Kind geht mit dir und bleibt bei dir, bis du wieder
+herunterkommst; gib Acht, dass es nicht über die Felsen
+hinunterfällt, hörst du?"--
+</p>
+
+<p>
+Nun kam Heidi hereingelaufen. "Kann mich die Sonne jetzt nicht
+auslachen, Großvater?", fragte es angelegentlich. Es hatte sich
+mit dem groben Tuch, das der Großvater neben dem Wasserzuber
+aufgehängt hatte, Gesicht, Hals und Arme in seinem Schrecken vor
+der Sonne so erstaunlich gerieben, dass es krebsrot vor dem
+Großvater stand. Er lachte ein wenig.
+</p>
+
+<p>
+"Nein, nun hat sie nichts zu lachen", bestätigte er. "Aber weißt
+was? Am Abend, wenn du heimkommst, da gehst du noch ganz hinein in
+den Zuber, wie ein Fisch; denn wenn man geht wie die Geißen, da
+bekommt man schwarze Füße. Jetzt könnt ihr ausziehen."
+</p>
+
+<p>
+Nun ging es lustig die Alm hinan. Der Wind hatte in der Nacht das
+letzte Wölkchen weggeblasen; dunkelblau schaute der Himmel von
+allen Seiten hernieder, und mittendrauf stand die leuchtende Sonne
+und schimmerte auf die grüne Alp, und alle die blauen und gelben
+Blümchen darauf machten ihre Kelche auf und schauten ihr fröhlich
+entgegen. Heidi sprang hierhin und dorthin und jauchzte vor Freude,
+denn da waren ganze Trüppchen feiner, roter Himmelsschlüsselchen
+beieinander, und dort schimmerte es ganz blau von den schönen
+Enzianen, und überall lachten und nickten die zartblätterigen,
+goldenen Cystusröschen in der Sonne. Vor Entzücken über all die
+flimmernden winkenden Blümchen vergaß Heidi sogar die Geißen und
+auch den Peter. Es sprang ganze Strecken voran und dann auf die
+Seite, denn dort funkelte es rot und da gelb und lockte Heidi auf
+alle Seiten. Und überall brach Heidi ganze Scharen von den Blumen
+und packte sie in sein Schürzchen ein, denn es wollte sie alle mit
+heimnehmen und ins Heu stecken in seiner Schlafkammer, dass es dort
+werde wie hier draußen. --So hatte der Peter heut nach allen
+Seiten zu gucken, und seine kugelrunden Augen, die nicht besonders
+schnell hin und her gingen, hatten mehr Arbeit, als der Peter gut
+bewältigen konnte, denn die Geißen machten es wie das Heidi: Sie
+liefen auch dahin und dorthin, und er musste überallhin pfeifen und
+rufen und seine Rute schwingen, um wieder alle die Verlaufenen
+zusammenzutreiben.
+</p>
+
+<p>
+"Wo bist du schon wieder, Heidi?", rief er jetzt mit ziemlich
+grimmiger Stimme.
+</p>
+
+<p>
+"Da", tönte es von irgendwoher zurück. Sehen konnte Peter niemand,
+denn Heidi saß am Boden hinter einem Hügelchen, das dicht mit
+duftenden Prünellen besät war; da war die ganze Luft umher so mit
+Wohlgeruch erfüllt, dass Heidi noch nie so Liebliches eingeatmet
+hatte. Es setzte sich in die Blumen hinein und zog den Duft in
+vollen Zügen ein.
+</p>
+
+<p>
+"Komm nach!", rief der Peter wieder. "Du musst nicht über die
+Felsen hinunterfallen, der Öhi hat's verboten."
+</p>
+
+<p>
+"Wo sind die Felsen?", fragte Heidi zurück, bewegte sich aber nicht
+von der Stelle, denn der süße Duft strömte mit jedem Windhauch dem
+Kinde lieblicher entgegen.
+</p>
+
+<p>
+"Dort oben, ganz oben, wir haben noch weit, drum komm jetzt! Und
+oben am höchsten sitzt der alte Raubvogel und krächzt."
+</p>
+
+<p>
+Das half. Augenblicklich sprang Heidi in die Höhe und rannte mit
+seiner Schürze voller Blumen dem Peter zu.
+</p>
+
+<p>
+"Jetzt hast genug", sagte dieser, als sie wieder zusammen
+weiterkletterten; "sonst bleibst du immer stecken, und wenn du alle
+nimmst, hat's morgen keine mehr." Der letzte Grund leuchtete Heidi
+ein, und dann hatte es die Schürze schon so angefüllt, dass da
+wenig Platz mehr gewesen wäre, und morgen mussten auch noch da sein.
+So zog es nun mit dem Peter weiter, und die Geißen gingen nun
+alle geregelter, denn sie rochen die guten Kräuter von dem hohen
+Weideplatz schon von fern und strebten nun ohne Aufenthalt dahin.
+Der Weideplatz, wo Peter gewöhnlich Halt machte mit seinen Geißen
+und sein Quartier für den Tag aufschlug, lag am Fuße der hohen
+Felsen, die, erst noch von Gebüsch und Tannen bedeckt, zuletzt ganz
+kahl und schroff zum Himmel hinaufragen. An der einen Seite der
+Alp ziehen sich Felsenklüfte weit hinunter und der Großvater hatte
+Recht, davor zu warnen. Als nun dieser Punkt der Höhe erreicht war,
+nahm Peter seinen Sack ab und legte ihn sorgfältig in eine kleine
+Vertiefung des Bodens hinein, denn der Wind kam manchmal in starken
+Stößen dahergefahren, und den kannte Peter und wollte seine
+kostbare Habe nicht den Berg hinunterrollen sehen; dann streckte er
+sich lang und breit auf den sonnigen Weideboden hin, denn er musste
+sich nun von der Anstrengung des Steigens erholen.
+</p>
+
+<p>
+Heidi hatte unterdessen sein Schürzchen losgemacht und schön fest
+zusammengerollt mit den Blumen darin zum Proviantsack in die
+Vertiefung hineingelegt, und nun setzte es sich neben den
+ausgestreckten Peter hin und schaute um sich. Das Tal lag weit
+unten im vollen Morgenglanz; vor sich sah Heidi ein großes, weites
+Schneefeld sich erheben, hoch in den dunkelblauen Himmel hinauf,
+und links davon stand eine ungeheure Felsenmasse, und zu jeder
+Seite derselben ragte ein hoher Felsenturm kahl und zackig in die
+Bläue hinauf und schaute von dort oben ganz ernsthaft auf das Heidi
+nieder. Das Kind saß mäuschenstill da und schaute ringsum, und
+weit umher war eine große, tiefe Stille; nur ganz sanft und leise
+ging der Wind über die zarten, blauen Glockenblümchen und die
+goldnen, strahlenden Cystusröschen, die überall herumstanden auf
+ihren dünnen Stängelchen und leise und fröhlich hin und her nickten.
+Der Peter war entschlafen nach seiner Anstrengung, und die Geißen
+kletterten oben an den Büschen umher. Dem Heidi war es so schön
+zumute, wie in seinem Leben noch nie. Es trank das goldene
+Sonnenlicht, die frischen Lüfte, den zarten Blumenduft in sich ein
+und begehrte gar nichts mehr, als so dazubleiben immerzu. So
+verging eine gute Zeit und Heidi hatte so oft und so lange zu den
+hohen Bergstöcken drüben aufgeschaut, dass es nun war, als hätten
+sie alle auch Gesichter bekommen und schauten ganz bekannt zu ihm
+hernieder, so wie gute Freunde.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt hörte Heidi über sich ein lautes, scharfes Geschrei und
+Krächzen ertönen, und wie es aufschaute, kreiste über ihm ein so
+großer Vogel, wie es nie in seinem Leben gesehen hatte, mit weit
+ausgebreiteten Schwingen in der Luft umher, und in großen Bogen
+kehrte er immer wieder zurück und krächzte laut und durchdringend
+über Heidis Kopf.
+</p>
+
+<p>
+"Peter! Peter! Erwache!", rief Heidi laut. "Sich, der Raubvogel
+ist da, sieh! Sieh!"
+</p>
+
+<p>
+Peter erhob sich auf den Ruf und schaute mit Heidi dem Vogel nach,
+der sich nun höher und höher hinaufschwang ins Himmelsblau und
+endlich über grauen Felsen verschwand.
+</p>
+
+<p>
+"Wo ist er jetzt hin?", fragte Heidi, das mit gespannter
+Aufmerksamkeit den Vogel verfolgt hatte.
+</p>
+
+<p>
+"Heim ins Nest", war Peters Antwort.
+</p>
+
+<p>
+"Ist er dort oben daheim? Oh, wie schön so hoch oben! Warum
+schreit er so?", fragte Heidi weiter.
+</p>
+
+<p>
+"Weil er muss", erklärte Peter.
+</p>
+
+<p>
+"Wir wollen doch dort hinaufklettern und sehen, wo er daheim ist",
+schlug Heidi vor.
+</p>
+
+<p>
+"Oh! oh! oh!", brach der Peter aus, jeden Ausruf mit verstärkter
+Missbilligung hervorstoßend; "wenn keine Geiß mehr dorthin kann und
+der Öhi gesagt hat, du dürfest nicht über die Felsen hinunterfallen."
+</p>
+
+<p>
+Jetzt begann der Peter mit einem Mal ein so gewaltiges Pfeifen und
+Rufen anzustimmen, dass Heidi gar nicht wusste, was begegnen sollte;
+aber die Geißen mussten die Töne verstehen, denn eine nach der
+anderen kam heruntergesprungen, und nun war die ganze Schar auf der
+grünen Halde versammelt, die einen fortnagend an den würzigen
+Halmen, die anderen hin und her rennend und die Dritten ein wenig
+gegeneinander stoßend mit ihren Hörnern zum Zeitvertreib. Heidi
+war aufgesprungen und rannte mitten unter den Geißen umher, denn
+das war ihm ein neuer, unbeschreiblich vergnüglicher Anblick, wie
+die Tierlein durcheinander sprangen und sich lustig machten, und
+Heidi sprang von einem zum anderen und machte mit jedem ganz
+persönliche Bekanntschaft, denn jedes war eine ganz besondere
+Erscheinung für sich und hatte seine eigenen Manieren. Unterdessen
+hatte Peter den Sack herbeigeholt und alle vier Stücke, die drin
+waren, schön auf den Boden hingelegt in ein Viereck, die großen
+Stücke auf Heidis Seite und die kleinen auf die seinige hin, denn
+er wusste genau, wie er sie erhalten hatte. Dann nahm er das
+Schüsselchen und melkte schöne, frische Milch hinein vom Schwänli
+und stellte das Schüsselchen mitten ins Viereck. Dann rief er
+Heidi herbei, musste aber länger rufen als nach den Geißen, denn
+das Kind war so in Eifer und Freude über die mannigfaltigen Sprünge
+und Erlustigungen seiner neuen Spielkameraden, dass es nichts sah
+und nichts hörte außer diesen. Aber Peter wusste sich verständlich
+zu machen, er rief, dass es bis in die Felsen hinaufdröhnte, und
+nun erschien Heidi und die gedeckte Tafel sah so einladend aus,
+dass es um sie herumhüpfte vor Wohlgefallen.
+</p>
+
+<p>
+"Hör auf zu hopsen, es ist Zeit zum Essen", sagte Peter, "jetzt
+sitz und fang an."
+</p>
+
+<p>
+Heidi setzte sich hin. "Ist die Milch mein?", fragte es, nochmals
+das schöne Viereck und den Hauptpunkt in der Mitte mit Wohlgefallen
+betrachtend.
+</p>
+
+<p>
+"Ja", erwiderte Peter, "und die zwei großen Stücke zum Essen sind
+auch dein, und wenn du ausgetrunken hast, bekommst du noch ein
+Schüsselchen vom Schwänli und dann komm ich."
+</p>
+
+<p>
+"Und von wem bekommst du die Milch?", wollte Heidi wissen.
+</p>
+
+<p>
+"Von meiner Geiß, von der Schnecke. Fang einmal zu essen an",
+mahnte Peter wieder. Heidi fing bei seiner Milch an, und sowie es
+sein leeres Schüsselchen hinstellte, stand Peter auf und holte ein
+zweites herbei. Dazu brach Heidi ein Stück von seinem Brot ab, und
+das ganze übrige Stück, das immer noch größer war, als Peters
+eigenes Stück gewesen, das nun schon samt Zubehör fast zu Ende war,
+reichte es diesem hinüber mit dem ganzen großen Brocken Käse und
+sagte: "Das kannst du haben, ich habe nun genug."
+</p>
+
+<p>
+Peter schaute das Heidi mit sprachloser Verwunderung an, denn noch
+nie in seinem Leben hätte er so sagen und etwas weggeben können.
+Er zögerte noch ein wenig, denn er konnte nicht recht glauben, dass
+es dem Heidi ernst sei; aber dieses hielt erst fest seine Stücke
+hin, und da Peter nicht zugriff, legte sie es ihm aufs Knie. Nun
+sah er, dass es ernst gemeint sei; er erfasste sein Geschenk,
+nickte in Dank und Zustimmung und hielt nun ein so reichliches
+Mittagsmahl wie noch nie in seinem Leben als Geißbub. Heidi
+schaute derweilen nach den Geißen aus. "Wie heißen sie alle,
+Peter?", fragte es.
+</p>
+
+<p>
+Das wusste dieser nun ganz genau und konnte es umso besser in
+seinem Kopf behalten, da er daneben wenig darin aufzubewahren hatte.
+Er fing also an und nannte ohne Anstoß eine nach der anderen,
+immer je mit dem Finger die betreffende bezeichnend. Heidi hörte
+mit gespannter Aufmerksamkeit der Unterweisung zu, und es währte
+gar nicht lange, so konnte es sie alle voneinander unterscheiden
+und jede bei ihrem Namen nennen, denn es hatte eine jede ihre
+Besonderheiten, die einem gleich im Sinne bleiben mussten; man
+musste nur allen genau zusehen, und das tat Heidi. Da war der
+große Türk mit den starken Hörnern, der wollte mit diesen immer
+gegen alle anderen stoßen, und die meisten liefen davon, wenn er
+kam, und wollten nichts von dem groben Kameraden wissen. Nur der
+kecke Distelfink, das schlanke, behände Geißchen, wich ihm nicht
+aus, sondern rannte von sich aus manchmal drei-, viermal
+hintereinander so rasch und tüchtig gegen ihn an, dass der große
+Türk öfters ganz erstaunt dastand und nicht mehr angriff, denn der
+Distelfink stand ganz kriegslustig vor ihm und hatte scharfe
+Hörnchen. Da war das kleine, weiße Schneehöppli, das immer so
+eindringlich und flehentlich meckerte, dass Heidi schon mehrmals zu
+ihm hingelaufen war und es tröstend beim Kopf genommen hatte. Auch
+jetzt sprang das Kind wieder hin, denn die junge, jammernde Stimme
+hatte eben wieder flehentlich gerufen. Heidi legte seinen Arm um
+den Hals des Geißleins und fragte ganz teilnehmend: "Was hast du,
+Schneehöppli? Warum rufst du so um Hilfe?" Das Geißlein schmiegte
+sich nahe und vertrauensvoll an Heidi an und war jetzt ganz still.
+Peter rief von seinem Sitz aus, mit einigen Unterbrechungen, denn
+er hatte immer noch zu beißen und zu schlucken: "Es tut so, weil
+die Alte nicht mehr mitkommt, sie haben sie verkauft nach Maienfeld
+vorgestern, nun kommt sie nicht mehr auf die Alm."
+</p>
+
+<p>
+"Wer ist die Alte?", fragte Heidi zurück.
+</p>
+
+<p>
+"Pah, seine Mutter", war die Antwort.
+</p>
+
+<p>
+"Wo ist die Großmutter?", rief Heidi wieder.
+</p>
+
+<p>
+"Hat keine."
+</p>
+
+<p>
+"Und der Großvater?"
+</p>
+
+<p>
+"Hat keinen."
+</p>
+
+<p>
+"Du armes Schneehöppli du", sagte Heidi und drückte das Tierlein
+zärtlich an sich. "Aber jammere jetzt nur nicht mehr so; siehst du,
+ich komme nun jeden Tag mit dir, dann bist du nicht mehr so
+verlassen, und wenn dir etwas fehlt, kannst du nur zu mir kommen."
+</p>
+
+<p>
+Das Schneehöppli rieb ganz vergnügt seinen Kopf an Heidis Schulter
+und meckerte nicht mehr kläglich. Unterdessen hatte Peter sein
+Mittagsmahl beendet und kam nun auch wieder zu seiner Herde und zu
+Heidi heran, das schon wieder allerlei Betrachtungen angestellt
+hatte.
+</p>
+
+<p>
+Weitaus die zwei schönsten und saubersten Geißen der ganzen Schar
+waren Schwänli und Bärli, die sich auch mit einer gewissen
+Vornehmheit betrugen, meistens ihre eigenen Wege gingen und
+besonders dem zudringlichen Türk abweisend und verächtlich
+begegneten.--
+</p>
+
+<p>
+Die Tierchen hatten nun wieder begonnen, nach den Büschen
+hinaufzuklettern, und jedes hatte seine eigene Weise dabei, die
+einen leichtfertig über alles weg hüpfend, die anderen bedächtlich
+die guten Kräutlein suchend unterwegs, der Türk hier und da seine
+Angriffe probierend. Schwänli und Bärli kletterten hübsch und
+leicht hinan und fanden oben sogleich die schönsten Büsche,
+stellten sich geschickt daran auf und nagten sie zierlich ab.
+Heidi stand mit den Händen auf dem Rücken und schaute dem allen mit
+der größten Aufmerksamkeit zu.
+</p>
+
+<p>
+"Peter", bemerkte es jetzt zu dem wieder auf dem Boden Liegenden,
+"die schönsten von allen sind das Schwänli und das Bärli."
+</p>
+
+<p>
+"Weiß schon", war die Antwort. "Der Alm-Öhi putzt und wäscht sie
+und gibt ihnen Salz und hat den schönsten Stall."
+</p>
+
+<p>
+Aber auf einmal sprang Peter auf und setzte in großen Sprüngen den
+Geißen nach, und das Heidi lief hintendrein; da musste etwas
+begegnet sein, es konnte da nicht zurückbleiben. Der Peter sprang
+durch den Geißenrudel durch der Seite der Alm zu, wo die Felsen
+schroff und kahl weit hinabstiegen und ein unbesonnenes Geißlein,
+wenn es dorthin ging, leicht hinunterstürzen und alle Beine brechen
+konnte. Er hatte gesehen, wie der vorwitzige Distelfink nach jener
+Seite hin gehüpft war, und kam noch gerade recht, denn eben sprang
+das Geißlein dem Rande des Abgrundes zu. Peter wollte es eben
+packen, da stürzte er auf den Boden und konnte nur noch im Sturze
+ein Bein des Tierleins erwischen und es daran festhalten. Der
+Distelfink meckerte voller Zorn und Überraschung, dass er so am
+Bein festgehalten und am Fortsetzen seines fröhlichen Streifzuges
+gehindert war, und strebte eigensinnig vorwärts. Der Peter schrie
+nach Heidi, dass es ihm beistehe, denn er konnte nicht aufstehen
+und riss dem Distelfink fast das Bein aus. Heidi war schon da und
+erkannte gleich die schlimme Lage der beiden. Es riss schnell
+einige wohlduftende Kräuter aus dem Boden und hielt sie dem
+Distelfink unter die Nase und sagte begütigend:
+</p>
+
+<p>
+"Komm, komm, Distelfink, du musst auch vernünftig sein! Sieh, da
+kannst du hinabfallen und ein Bein brechen, das tut dir furchtbar
+weh."
+</p>
+
+<p>
+Das Geißlein hatte sich schnell umgewandt und dem Heidi vergnüglich
+die Kräuter aus der Hand gefressen. Derweilen war der Peter auf
+seine Füße gekommen und hatte den Distelfink an der Schnur erfasst,
+an welcher sein Glöckchen um den Hals gebunden war, und Heidi
+erfasste diese von der anderen Seite, und so führten die beiden den
+Ausreißer zu der friedlich weidenden Herde zurück. Als ihn aber
+Peter hier in Sicherheit hatte, erhob er seine Rute und wollte ihn
+zur Strafe tüchtig durchprügeln, und der Distelfink wich scheu
+zurück, denn er merkte, was begegnen sollte. Aber Heidi schrie
+laut auf: "Nein, Peter, nein, du musst ihn nicht schlagen, sieh,
+wie er sich fürchtet!"
+</p>
+
+<p>
+"Er verdient's", schnurrte Peter und wollte zuschlagen. Aber Heidi
+fiel ihm in den Arm und rief ganz entrüstet: "Du darfst ihm nichts
+tun, es tut ihm weh, lass ihn los!"
+</p>
+
+<p>
+Peter schaute erstaunt auf das gebietende Heidi, dessen schwarze
+Augen ihn so anfunkelten, dass er unwillkürlich seine Rute
+niederhielt. "So kann er gehen, wenn du mir morgen wieder von
+deinem Käse gibst", sagte dann der Peter nachgebend, denn eine
+Entschädigung wollte er haben für den Schrecken.
+</p>
+
+<p>
+"Allen kannst du haben, das ganze Stück morgen und alle Tage, ich
+brauche ihn gar nicht", sagte Heidi zustimmend, "und Brot gebe ich
+dir auch ganz viel, wie heute; aber dann darfst du den Distelfink
+nie, gar nie schlagen und auch das Schneehöppli nie und gar keine
+Geiß."
+</p>
+
+<p>
+"Es ist mir gleich", bemerkte Peter, und das war bei ihm soviel als
+eine Zusage. Jetzt ließ er den Schuldigen los, und der fröhliche
+Distelfink sprang in hohen Sprüngen auf und davon in die Herde
+hinein.--
+</p>
+
+<p>
+So war unvermerkt der Tag vergangen, und schon war die Sonne im
+Begriff, weit drüben hinter den Bergen hinabzugehen. Heidi saß
+wieder am Boden und schaute ganz still auf die Blauglöckchen und
+die Cystusröschen, die im goldenen Abendschein leuchteten, und
+alles Gras wurde wie golden angehaucht und die Felsen droben fingen
+an zu schimmern und zu funkeln, und auf einmal sprang Heidi auf und
+schrie: "Peter! Peter! Es brennt! Es brennt! Alle Berge brennen
+und der große Schnee drüben brennt und der Himmel. O sieh! Sieh!
+Der hohe Felsenberg ist ganz glühend! Oh, der schöne, feurige
+Schnee! Peter, sieh auf, sieh, das Feuer ist auch beim Raubvogel!
+Sieh doch die Felsen! Sieh die Tannen! Alles, alles ist im Feuer!"
+</p>
+
+<p>
+"Es war immer so", sagte jetzt der Peter gemütlich und schälte an
+seiner Rute fort, "aber es ist kein Feuer."
+</p>
+
+<p>
+"Was ist es denn?", rief Heidi und sprang hierhin und dorthin, dass
+es überallhin sehe, denn es konnte gar nicht genug bekommen, so
+schön war's auf allen Seiten. "Was ist es, Peter, was ist es?",
+rief Heidi wieder.
+</p>
+
+<p>
+"Es kommt von selbst so", erklärte Peter.
+</p>
+
+<p>
+"O sieh, sieh", rief Heidi in großer Aufregung, "auf einmal werden
+sie rosenrot! Sieh den mit dem Schnee und den mit den hohen,
+spitzigen Felsen! Wie heißen sie, Peter?"
+</p>
+
+<p>
+"Berge heißen nicht", erwiderte dieser.
+</p>
+
+<p>
+"O wie schön, sieh den rosenroten Schnee! Oh, und an den Felsen
+oben sind viele, viele Rosen! Oh, nun werden sie grau! Oh! Oh!
+Nun ist alles ausgelöscht! Nun ist alles aus, Peter!" Und Heidi
+setzte sich auf den Boden und sah so verstört aus, als ginge
+wirklich alles zu Ende.
+</p>
+
+<p>
+"Es ist morgen wieder so", erklärte Peter. "Steh auf, nun müssen
+wir heim."
+</p>
+
+<p>
+Die Geißen wurden herbeigepfiffen und--gerufen und die Heimfahrt
+angetreten.
+</p>
+
+<p>
+"Ist's alle Tage wieder so, alle Tage, wenn wir auf der Weide
+sind?", fragte Heidi, begierig nach einer bejahenden Versicherung
+horchend, als es nun neben dem Peter die Alm hinunterstieg.
+</p>
+
+<p>
+"Meistens", gab dieser zur Antwort.
+</p>
+
+<p>
+"Aber gewiss morgen wieder?", wollte es noch wissen.
+</p>
+
+<p>
+"Ja, ja, morgen schon!", versicherte Peter.
+</p>
+
+<p>
+Nun war Heidi wieder froh und es hatte so viele Eindrücke in sich
+aufgenommen und so viele Dinge gingen ihm im Sinn herum, dass es
+nun ganz stillschwieg, bis es bei der Almhütte ankam und den
+Großvater unter den Tannen sitzen sah, wo er auch eine Bank
+angebracht hatte und am Abend seine Geißen erwartete, die von
+dieser Seite herunterkämen. Heidi sprang gleich auf ihn zu und
+Schwänli und Bärli hinter ihm drein, denn die Geißen kannten ihren
+Herrn und ihren Stall. Der Peter rief dem Heidi nach: "Komm dann
+morgen wieder! Gute Nacht!" Denn es war ihm sehr daran gelegen,
+dass das Heidi wiederkomme.
+</p>
+
+<p>
+Da rannte das Heidi schnell wieder zurück und gab dem Peter die
+Hand und versicherte ihm, dass es wieder mitkomme, und dann sprang
+es mitten in die davonziehende Herde hinein und fasste noch einmal
+das Schneehöppli um den Hals und sagte vertraulich: "Schlaf wohl,
+Schneehöppli, und denk dran, dass ich morgen wiederkomme und dass
+du nie mehr so jämmerlich meckern musst."
+</p>
+
+<p>
+Das Schneehöppli schaute ganz freundlich und dankbar zu Heidi auf
+und sprang dann fröhlich der Herde nach.
+</p>
+
+<p>
+Heidi kam unter die Tannen zurück.
+</p>
+
+<p>
+"O Großvater, das war so schön!", rief es, noch bevor es bei ihm
+war. "Das Feuer und die Rosen am Felsen und die blauen und gelben
+Blumen, und sieh, was ich hier bringe!" Und damit schüttete Heidi
+seinen ganzen Blumenreichtum aus dem gefalteten Schürzchen vor den
+Großvater hin. Aber wie sahen die armen Blümchen aus! Heidi
+erkannte sie nicht mehr. Es war alles wie Heu, und kein einziges
+Kelchlein stand mehr offen.
+</p>
+
+<p>
+"O Großvater, was haben sie?", rief Heidi ganz erschrocken aus.
+"So waren sie nicht, warum sehen sie so aus?"
+</p>
+
+<p>
+"Die wollen draußen stehen in der Sonne und nicht ins Schürzchen
+hinein", sagte der Großvater.
+</p>
+
+<p>
+"Dann will ich gar keine mehr mitnehmen. Aber, Großvater, warum
+hat der Raubvogel so gekrächzt?", fragte Heidi nun angelegentlich.
+</p>
+
+<p>
+"Jetzt gehst du ins Wasser und ich in den Stall und hole Milch, und
+nachher kommen wir hinein zusammen in die Hütte und essen zu Nacht,
+dann sag ich dir's."
+</p>
+
+<p>
+So wurde getan, und wie nun später Heidi auf seinem hohen Stuhl saß
+vor seinem Milchschüsselchen und der Großvater neben ihm, da kam
+das Kind gleich wieder mit seiner Frage: "Warum krächzt der
+Raubvogel so und schreit immer so herunter, Großvater?"
+</p>
+
+<p>
+"Der höhnt die Leute aus dort unten, dass sie so viele
+zusammensitzen in den Dörfern und einander bös machen. Da höhnt er
+hinunter: 'Würdet ihr auseinander gehen und jedes seinen Weg
+und auf eine Höhe steigen wie ich, so wär's euch wohler!'"
+Der Großvater sagte diese Worte fast wild, so dass dem Heidi das
+Gekrächz des Raubvogels dadurch noch eindrücklicher wurde in der
+Erinnerung.
+</p>
+
+<p>
+"Warum haben die Berge keinen Namen, Großvater?", fragte Heidi
+wieder.
+</p>
+
+<p>
+"Die haben Namen", erwiderte dieser, "und wenn du mir einen so
+beschreiben kannst, dass ich ihn kenne, so sage ich dir, wie er
+heißt."
+</p>
+
+<p>
+Nun beschrieb Heidi den Felsenberg mit den zwei hohen Türmen genau
+so, wie es ihn gesehen hatte, und der Großvater sagte wohlgefällig:
+"Recht so, den kenn ich, der heißt Falknis. Hast du noch einen
+gesehen?"
+</p>
+
+<p>
+Nun beschrieb Heidi den Berg mit dem großen Schneefeld, auf dem der
+ganze Schnee im Feuer gestanden hatte und dann rosenrot geworden
+war und dann auf einmal ganz bleich und erloschen dastand.
+</p>
+
+<p>
+"Den erkenn ich auch", sagte der Großvater, "das ist die
+Schesaplana; so hat es dir gefallen auf der Weide?"
+</p>
+
+<p>
+Nun erzählte Heidi alles vom ganzen Tage, wie schön es gewesen, und
+besonders von dem Feuer am Abend, und nun sollte der Großvater auch
+sagen, woher es gekommen war, denn der Peter hätte nichts davon
+gewusst.
+</p>
+
+<p>
+"Siehst du", erklärte der Großvater, "das macht die Sonne, wenn sie
+den Bergen gute Nacht sagt, dann wirft sie ihnen noch ihre
+schönsten Strahlen zu, dass sie sie nicht vergessen, bis sie am
+Morgen wiederkommt."
+</p>
+
+<p>
+Das gefiel dem Heidi und es konnte fast nicht erwarten, dass wieder
+ein Tag komme, da es hinaufkonnte auf die Weide und wieder sehen,
+wie die Sonne den Bergen gute Nacht sagte. Aber erst musste es nun
+schlafen gehen, und es schlief auch die ganze Nacht herrlich auf
+seinem Heulager, und träumte von lauter schimmernden Bergen und
+roten Rosen darauf und mittendrin das Schneehöppli in fröhlichen
+Sprüngen.
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap04"></a>
+Bei der Großmutter
+</h3>
+
+<p>
+Am andern Morgen kam wieder die helle Sonne, und dann kam der Peter
+und die Geißen, und wieder zogen sie alle miteinander nach der
+Weide hinauf, und so ging es Tag für Tag, und Heidi wurde bei
+diesem Weideleben ganz gebräunt und so kräftig und gesund, dass ihm
+gar nie etwas fehlte, und so froh und glücklich lebte Heidi von
+einem Tag zum anderen, wie nur die lustigen Vögelein leben auf
+allen Bäumen im grünen Wald. Wie es nun Herbst wurde und der Wind
+lauter zu sausen anfing über die Berge hin, dann sagte etwa der
+Großvater: "Heut bleibst du da, Heidi; ein Kleines, wie du bist,
+kann der Wind mit einem Ruck über alle Felsen ins Tal hinabwehen."
+</p>
+
+<p>
+Wenn aber das am Morgen der Peter vernahm, sah er sehr unglücklich
+aus, denn er sah lauter Missgeschick vor sich: Einmal wusste er vor
+Langeweile nun gar nicht mehr, was anfangen, wenn Heidi nicht bei
+ihm war; dann kam er um sein reichliches Mittagsmahl, und dann
+waren die Geißen so störrig an diesen Tagen, dass er die doppelte
+Mühe mit ihnen hatte; denn die waren nun auch so an Heidis
+Gesellschaft gewöhnt, dass sie nicht vorwärts wollten, wenn es
+nicht dabei war, und auf alle Seiten rannten. Heidi wurde niemals
+unglücklich, denn es sah immer irgendetwas Erfreuliches vor sich.
+Am liebsten ging es schon mit Hirt und Geißen auf die Weide zu den
+Blumen und zum Raubvogel hinauf, wo so mannigfaltige Dinge zu
+erleben waren mit all den verschieden gearteten Geißen; aber auch
+das Hämmern und Sägen und Zimmern des Großvaters war sehr
+unterhaltend für Heidi; und traf es sich, dass er gerade die
+schönen runden Geißkäschen zubereitete, wenn es daheim bleiben
+musste, so war das ein ganz besonderes Vergnügen, dieser
+merkwürdigen Tätigkeit zuzuschauen, wobei der Großvater beide Arme
+bloß machte und damit in dem großen Kessel herumrührte. Aber vor
+allem anziehend war für das Heidi an solchen Windtagen das Wogen
+und Rauschen in den drei alten Tannen hinter der Hütte. Da musste
+es immer von Zeit zu Zeit hinlaufen von allem anderen weg, was es
+auch sein mochte, denn so schön und wunderbar war gar nichts wie
+dieses tiefe, geheimnisvolle Tosen in den Wipfeln da droben; da
+stand Heidi unten und lauschte hinauf und konnte niemals genug
+bekommen, zu sehen und zu hören, wie das wehte und wogte und
+rauschte in den Bäumen mit großer Macht. Jetzt gab die Sonne nicht
+mehr heiß wie im Sommer, und Heidi suchte seine Strümpfe und Schuhe
+hervor und auch den Rock, denn nun wurde es immer frischer, und
+wenn das Heidi unter den Tannen stand, wurde es durchblasen wie ein
+dünnes Blättlein, aber es lief doch immer wieder hin und konnte
+nicht in der Hütte bleiben, wenn es das Windeswehen vernahm.
+</p>
+
+<p>
+Dann wurde es kalt, und der Peter hauchte in die Hände, wenn er
+früh am Morgen heraufkam, aber nicht lange; denn auf einmal fiel
+über Nacht ein tiefer Schnee, und am Morgen war die ganze Alm
+schneeweiß und kein einziges grünes Blättlein mehr zu sehen ringsum
+und um. Da kam der Geißenpeter nicht mehr mit seiner Herde, und
+Heidi schaute ganz verwundert durch das kleine Fenster, denn nun
+fing es wieder zu schneien an, und die dicken Flocken fielen fort
+und fort, bis der Schnee so hoch wurde, dass er bis ans Fenster
+hinaufreichte, und dann noch höher, dass man das Fenster gar nicht
+mehr aufmachen konnte und man ganz verpackt war in dem Häuschen.
+Das kam dem Heidi so lustig vor, dass es immer von einem Fenster
+zum anderen rannte, um zu sehen, wie es denn noch werden wollte und
+ob der Schnee noch die ganze Hütte zudecken wollte, dass man müsste
+ein Licht anzünden am hellen Tag. Es kam aber nicht so weit, und
+am anderen Tag ging der Großvater hinaus--denn nun schneite es
+nicht mehr--und schaufelte ums ganze Haus herum und warf große,
+große Schneehaufen aufeinander, dass es war wie hier ein Berg und
+dort ein Berg und dort ein Berg um die Hütte herum; aber nun waren
+die Fenster wieder frei und auch die Tür, und das war gut, denn als
+am Nachmittag Heidi und der Großvater am Feuer saßen, jedes auf
+seinem Dreifuß--denn der Großvater hatte längst auch einen für das
+Kind gezimmert--, da polterte auf einmal etwas heran und schlug
+immerzu gegen die Holzschwelle und machte endlich die Tür auf. Es
+war der Geißenpeter; er hatte aber nicht aus Unart so gegen die Tür
+gepoltert, sondern um seinen Schnee von den Schuhen abzuschlagen,
+die hoch hinauf davon bedeckt waren; eigentlich der ganze Peter war
+von Schnee bedeckt, denn er hatte sich durch die hohen Schichten so
+durchkämpfen müssen, dass ganze Massen an ihm hängen geblieben und
+auf ihm festgefroren waren, denn es war sehr kalt. Aber er hatte
+nicht nachgegeben, denn er wollte zu Heidi hinauf, er hatte es
+jetzt acht Tage lang nicht gesehen.
+</p>
+
+<p>
+"Guten Abend", sagte er im Eintreten, stellte sich gleich so nah
+als möglich ans Feuer heran und sagte weiter nichts mehr; aber sein
+ganzes Gesicht lachte vor Vergnügen, dass er da war. Heidi schaute
+ihn sehr verwundert an, denn nun er so nah am Feuer war, fing es
+überall an ihm zu tauen an, so dass der ganze Peter anzusehen war
+wie ein gelinder Wasserfall.
+</p>
+
+<p>
+"Nun, General, wie steht's?", sagte jetzt der Großvater. "Nun bist
+du ohne Armee und musst am Griffel nagen."
+</p>
+
+<p>
+"Warum muss er am Griffel nagen, Großvater?", fragte Heidi sogleich
+mit Wissbegierde.
+</p>
+
+<p>
+"Im Winter muss er in die Schule gehen", erklärte der Großvater;
+"da lernt man lesen und schreiben, und das geht manchmal schwer, da
+hilft's ein wenig nach, wenn man am Griffel nagt; ist's nicht wahr,
+General?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja, 's ist wahr", bestätigte Peter.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt war Heidis Teilnahme an der Sache wach geworden und es hatte
+sehr viele Fragen über die Schule und alles, was da begegnete und
+zu hören und zu sehen war, an den Peter zu richten, und da immer
+viel Zeit verfloss über einer Unterhaltung, an der Peter teilnehmen
+musste, so konnte er derweilen schön trocknen von oben bis unten.
+Es war immer eine große Anstrengung für ihn, seine Vorstellungen in
+die Worte zu bringen, die bedeuteten, was er meinte; aber diesmal
+hatte er's besonders streng, denn kaum hatte er eine Antwort
+zustande gebracht, so hatte ihm Heidi schon wieder zwei oder drei
+unerwartete Fragen zugeworfen und meistens solche, die einen ganzen
+Satz als Antwort erforderten.
+</p>
+
+<p>
+Der Großvater hatte sich ganz still verhalten während dieser
+Unterhaltung, aber es hatte ihm öfter ganz lustig um die Mundwinkel
+gezuckt, was ein Zeichen war, dass er zuhörte.
+</p>
+
+<p>
+"So, General, nun warst du im Feuer und brauchst Stärkung, komm,
+halt mit!" Damit stand der Großvater auf und holte das Abendessen
+aus dem Schrank hervor, und Heidi rückte die Stühle zum Tisch.
+Unterdessen war auch eine Bank an die Wand gezimmert worden vom
+Großvater; nun er nicht mehr allein war, hatte er da und dort
+allerlei Sitze zu zweien eingerichtet, denn Heidi hatte die Art,
+dass es sich überall nah zum Großvater hielt, wo er ging und stand
+und saß. So hatten sie alle drei gut Platz zum Sitzen und der
+Peter tat seine runden Augen ganz weit auf, als er sah, welch ein
+mächtiges Stück von dem schönen getrockneten Fleisch der Alm-Öhi
+ihm auf seine dicke Brotschnitte legte. So gut hatte es der Peter
+lange nicht gehabt. Als nun das vergnügte Mahl zu Ende war, fing
+es an zu dunkeln, und Peter schickte sich zur Heimkehr an. Als er
+nun "Gute Nacht" und "Dank Euch Gott" gesagt hatte und schon unter
+der Tür war, kehrte er sich noch einmal um und sagte: "Am Sonntag
+komm ich wieder, heut über acht Tag, und du solltest auch einmal
+zur Großmutter kommen, hat sie gesagt."
+</p>
+
+<p>
+Das war ein ganz neuer Gedanke für Heidi, dass es zu jemandem gehen
+sollte, aber er fasste auf der Stelle Boden bei ihm, und gleich am
+folgenden Morgen war sein Erstes, dass es erklärte: "Großvater,
+jetzt muss ich gewiss zu der Großmutter hinunter, sie erwartet mich.
+"
+</p>
+
+<p>
+"Es hat zu viel Schnee", erwiderte der Großvater abwehrend.
+</p>
+
+<p>
+Aber das Vorhaben saß fest in Heidis Sinn, denn die Großmutter
+hatte es ja sagen lassen; so musste es sein. So verging kein Tag
+mehr, an dem das Kind nicht fünf- und sechsmal sagte: "Großvater,
+jetzt muss ich gewiss gehen, die Großmutter wartet ja immer auf
+mich."
+</p>
+
+<p>
+Am vierten Tag, als es draußen knisterte und knarrte vor Kälte bei
+jedem Schritt und die ganze große Schneedecke ringsum hart gefroren
+war, aber eine schöne Sonne ins Fenster guckte, gerade auf Heidis
+hohen Stuhl hin, wo es am Mittagsmahl saß, da begann es wieder sein
+Sprüchlein: "Heut muss ich aber gewiss zur Großmutter gehen, es
+währt ihr sonst zu lange." Da stand der Großvater auf vom
+Mittagstisch, stieg auf den Heuboden hinauf, brachte den dicken
+Sack herunter, der Heidis Bettdecke war, und sagte: "So komm!" In
+großer Freude hüpfte das Kind ihm nach in die glitzernde Schneewelt
+hinaus. In den alten Tannen war es nun ganz still und auf allen
+Ästen lag der weiße Schnee und in dem Sonnenschein schimmerte und
+funkelte es überall von den Bäumen in solcher Pracht, dass Heidi
+hoch aufsprang vor Entzücken und ein Mal übers andere ausrief:
+"Komm heraus, Großvater, komm heraus! Es ist lauter Silber und
+Gold an den Tannen!" Denn der Großvater war in den Schopf
+hineingegangen und kam nun heraus mit einem breiten Stoßschlitten:
+Da war vorn eine Stange angebracht, und von dem flachen Sitz konnte
+man die Füße nach vorn hinunterhalten und gegen den Schneeboden
+stemmen und der Fahrt die Weisung geben. Hier setzte sich der
+Großvater hin, nachdem er erst die Tannen ringsum mit Heidi hatte
+beschauen müssen, nahm das Kind auf seinen Schoß, wickelte es um
+und um in den Sack ein, damit es hübsch warm bleibe, und drückte es
+fest mit dem linken Arm an sich, denn das war nötig bei der
+kommenden Fahrt. Dann umfasste er mit der rechten Hand die Stange
+und gab einen Ruck mit beiden Füßen. Da schoss der Schlitten davon
+die Alm hinab mit einer solchen Schnelligkeit, dass das Heidi
+meinte, es fliege in der Luft wie ein Vogel, und laut aufjauchzte.
+Auf einmal stand der Schlitten still, gerade bei der Hütte vom
+Geißenpeter. Der Großvater stellte das Kind auf den Boden,
+wickelte es aus seiner Decke heraus und sagte:
+</p>
+
+<p>
+"So, nun geh hinein, und wenn es anfängt dunkel zu werden, dann
+komm wieder heraus und mach dich auf den Weg." Dann kehrte er um
+mit seinem Schlitten und zog ihn den Berg hinauf.
+</p>
+
+<p>
+Heidi machte die Tür auf und kam in einen kleinen Raum hinein, da
+sah es schwarz aus, und ein Herd war da und einige Schüsselchen auf
+einem Gestell, das war die kleine Küche; dann kam gleich wieder
+eine Tür, die machte Heidi wieder auf und kam in eine enge Stube
+hinein, denn das Ganze war nicht eine Sennhütte, wie beim Großvater,
+wo ein einziger, großer Raum war und oben ein Heuboden, sondern es
+war ein kleines, uraltes Häuschen, wo alles eng war und schmal und
+dürftig. Als Heidi in das Stübchen trat, stand es gleich vor dem
+Tisch, daran saß eine Frau und flickte an Peters Wams, denn dieses
+erkannte Heidi sogleich. In der Ecke saß ein altes, gekrümmtes
+Mütterchen und spann. Heidi wusste gleich, woran es war; es ging
+geradaus auf das Spinnrad zu und sagte: "Guten Tag, Großmutter,
+jetzt komme ich zu dir; hast du gedacht, es währe lang, bis ich
+komme?"
+</p>
+
+<p>
+Die Großmutter erhob den Kopf und suchte die Hand, die gegen sie
+ausgestreckt war, und als sie diese erfasst hatte, befühlte sie
+dieselbe erst eine Weile nachdenklich in der ihrigen, dann sagte
+sie: "Bist du das Kind droben beim Alm-Öhi, bist du das Heidi?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja, ja", bestätigte das Kind, "jetzt gerade bin ich mit dem
+Großvater im Schlitten heruntergefahren."
+</p>
+
+<p>
+"Wie ist das möglich! Du hast ja eine so warme Hand! Sag,
+Brigitte, ist der Alm-Öhi selber mit dem Kind heruntergekommen?"
+</p>
+
+<p>
+Peters Mutter, die Brigitte, die am Tisch geflickt hatte, war
+aufgestanden und betrachtete nun mit Neugierde das Kind von oben
+bis unten; dann sagte sie: "Ich weiß nicht, Mutter, ob der Öhi
+selber heruntergekommen ist mit ihm; es ist nicht glaublich, das
+Kind wird's nicht recht wissen."
+</p>
+
+<p>
+Aber das Heidi sah die Frau sehr bestimmt an und gar nicht, als sei
+es im Ungewissen, und sagte: "Ich weiß ganz gut, wer mich in die
+Bettdecke gewickelt hat und mit mir heruntergeschlittelt ist; das
+ist der Großvater."
+</p>
+
+<p>
+"Es muss doch etwas daran sein, was der Peter so gesagt hat den
+Sommer durch vom Alm-Öhi, wenn wir dachten, er wisse es nicht
+recht", sagte die Großmutter; "wer hätte freilich auch glauben
+können, dass so etwas möglich sei; ich dachte, das Kind lebte keine
+drei Wochen da oben. Wie sieht es auch aus, Brigitte!" Diese hatte
+das Kind unterdessen so von allen Seiten angesehen, dass sie nun
+wohl berichten konnte, wie es aussah.
+</p>
+
+<p>
+"Es ist so fein gegliedert, wie die Adelheid war", gab sie zur
+Antwort; "aber es hat die schwarzen Augen und das krause Haar, wie
+es der Tobias hatte und auch der Alte droben; ich glaube, es sieht
+den zweien gleich."
+</p>
+
+<p>
+Unterdessen war Heidi müßig geblieben; es hatte ringsum geguckt und
+alles genau betrachtet, was da zu sehen war. Jetzt sagte es: "Sieh,
+Großmutter, dort schlägt es einen Laden immer hin und her, und der
+Großvater würde auf der Stelle einen Nagel einschlagen, dass er
+wieder fest hält, sonst schlägt er auch einmal eine Scheibe ein;
+sieh, sieh, wie er tut!"
+</p>
+
+<p>
+"Ach, du gutes Kind", sagte die Großmutter, "sehen kann ich es
+nicht, aber hören kann ich es wohl und noch viel mehr, nicht nur
+den Laden; da kracht und klappert es überall, wenn der Wind kommt,
+und er kann überall hereinblasen; es hält nichts mehr zusammen, und
+in der Nacht, wenn sie beide schlafen, ist es mir manchmal so angst
+und bang, es falle alles über uns zusammen und schlage uns alle
+drei tot; ach, und da ist kein Mensch, der etwas ausbessern könnte
+an der Hütte, der Peter versteht's nicht."
+</p>
+
+<p>
+"Aber warum kannst du denn nicht sehen, wie der Laden tut,
+Großmutter? Sieh jetzt wieder, dort, gerade dort." Und Heidi
+zeigte die Stelle deutlich mit dem Finger.
+</p>
+
+<p>
+"Ach Kind, ich kann ja gar nichts sehen, gar nichts, nicht nur den
+Laden nicht", klagte die Großmutter.
+</p>
+
+<p>
+"Aber wenn ich hinausgehe und den Laden ganz aufmache, dass es
+recht hell wird, kannst du dann sehen, Großmutter?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, nein, auch dann nicht, es kann mir niemand mehr hell machen."
+</p>
+
+<p>
+"Aber wenn du hinausgehst in den ganz weißen Schnee, dann wird es
+dir gewiss hell; komm nur mit mir, Großmutter, ich will dir's
+zeigen." Heidi nahm die Großmutter bei der Hand und wollte sie
+fortziehen, denn es fing an, ihm ganz ängstlich zumute zu werden,
+dass es ihr nirgends hell wurde.
+</p>
+
+<p>
+"Lass mich nur sitzen, du gutes Kind; es bleibt doch dunkel bei mir,
+auch im Schnee und in der Helle, sie dringt nicht mehr in meine
+Augen."
+</p>
+
+<p>
+"Aber dann doch im Sommer, Großmutter", sagte Heidi, immer
+ängstlicher nach einem guten Ausweg suchend; "weißt, wenn dann
+wieder die Sonne ganz heiß herunterbrennt und dann 'gute
+Nacht' sagt und die Berge alle feuerrot schimmern und alle
+gelben Blümlein glitzern, dann wird es dir wieder schön hell?"
+</p>
+
+<p>
+"Ach, Kind, ich kann sie nie mehr sehen, die feurigen Berge und die
+goldenen Blümlein droben, es wird mir nie mehr hell auf Erden, nie
+mehr."
+</p>
+
+<p>
+Jetzt brach Heidi in lautes Weinen aus. Voller Jammer schluchzte
+es fortwährend: "Wer kann dir denn wieder hell machen? Kann es
+niemand? Kann es gar niemand?"
+</p>
+
+<p>
+Die Großmutter suchte nun das Kind zu trösten, aber es gelang ihr
+nicht so bald. Heidi weinte fast nie; wenn es aber einmal anfing,
+dann konnte es auch fast nicht mehr aus der Betrübnis herauskommen.
+Die Großmutter hatte schon allerhand probiert, um das Kind zu
+beschwichtigen, denn es ging ihr zu Herzen, dass es so jämmerlich
+schluchzen musste. Jetzt sagte sie: "Komm, du gutes Heidi, komm
+hier heran, ich will dir etwas sagen. Siehst du, wenn man nichts
+sehen kann, dann hört man so gern ein freundliches Wort, und ich
+höre es gern, wenn du redest; komm, setz dich da nahe zu mir und
+erzähl mir etwas, was du machst da droben und was der Großvater
+macht, ich habe ihn früher gut gekannt; aber jetzt hab ich seit
+manchem Jahr nichts mehr gehört von ihm als durch den Peter, aber
+der sagt nicht viel."
+</p>
+
+<p>
+Jetzt kam dem Heidi ein neuer Gedanke; es wischte rasch seine
+Tränen weg und sagte tröstlich: "Wart nur, Großmutter, ich will
+alles dem Großvater sagen, er macht dir schon wieder hell und macht,
+dass die Hütte nicht zusammenfällt, er kann alles wieder in
+Ordnung machen."
+</p>
+
+<p>
+Die Großmutter schwieg stille, und nun fing Heidi an, ihr mit
+großer Lebendigkeit zu erzählen von seinem Leben mit dem Großvater
+und von den Tagen auf der Weide und von dem jetzigen Winterleben
+mit dem Großvater, was er alles aus Holz machen könne, Bänke und
+Stühle und schöne Krippen, wo man für das Schwänli und Bärli das
+Heu hineinlegen könnte, und einen neuen großen Wassertrog zum Baden
+im Sommer, und ein neues Milchschüsselchen und Löffel, und Heidi
+wurde immer eifriger im Beschreiben all der schönen Sachen, die so
+auf einmal aus einem Stück Holz herauskommen, und wie es dann neben
+dem Großvater stehe und ihm zuschaue und wie es das alles auch
+einmal machen wolle. Die Großmutter hörte mit großer
+Aufmerksamkeit zu, und von Zeit zu Zeit sagte sie dazwischen:
+"Hörst du's auch, Brigitte? Hörst du, was es vom Öhi sagt?"
+</p>
+
+<p>
+Mit einem Mal wurde die Erzählung unterbrochen durch ein großes
+Gepolter an der Tür, und herein stampfte der Peter, blieb aber
+sogleich stille stehen und sperrte seine runden Augen ganz
+erstaunlich weit auf, als er das Heidi erblickte, und schnitt die
+allerfreundlichste Grimasse, als es ihm sogleich zurief: "Guten
+Abend, Peter!"
+</p>
+
+<p>
+"Ist denn das möglich, dass der schon aus der Schule kommt", rief
+die Großmutter ganz verwundert aus. "So geschwind ist mir seit
+manchem Jahr kein Nachmittag vergangen! Guten Abend, Peterli, wie
+geht es mit dem Lesen?"
+</p>
+
+<p>
+"Gleich", gab der Peter zur Antwort.
+</p>
+
+<p>
+"So, so", sagte die Großmutter ein wenig seufzend, "ich habe
+gedacht, es gäbe vielleicht eine Änderung auf die Zeit, wenn du
+dann zwölf Jahre alt wirst gegen den Hornung hin."
+</p>
+
+<p>
+"Warum muss es eine Änderung geben, Großmutter?", fragte Heidi
+gleich mit Interesse.
+</p>
+
+<p>
+"Ich meine nur, dass er es etwa noch hätte lernen können", sagte
+die Großmutter, "das Lesen mein ich. Ich habe dort oben auf dem
+Gestell ein altes Gebetbuch, da sind schöne Lieder drin, die habe
+ich so lange nicht mehr gehört, und im Gedächtnis habe ich sie auch
+nicht mehr; da habe ich gehofft, wenn der Peterli nun lesen lerne,
+so könne er mir etwa ein gutes Lied lesen; aber er kann es nicht
+lernen, es ist ihm zu schwer."
+</p>
+
+<p>
+"Ich denke, ich muss Licht machen, es wird ja schon ganz dunkel",
+sagte jetzt Peters Mutter, die immer emsig am Wams fortgeflickt
+hatte; "der Nachmittag ist mir auch vergangen, ohne dass ich's
+merkte."
+</p>
+
+<p>
+Nun sprang Heidi von seinem Stühlchen auf, streckte eilig seine
+Hand aus und sagte: "Gut Nacht, Großmutter, ich muss auf der Stelle
+heim, wenn es dunkel wird", und hintereinander bot es dem Peter und
+seiner Mutter die Hand und ging der Tür zu. Aber die Großmutter
+rief besorgt: "Wart, wart, Heidi; so allein musst du nicht fort,
+der Peter muss mit dir, hörst du? Und gib Acht auf das Kind,
+Peterli, dass es nicht umfällt, und steh nicht still mit ihm, dass
+es nicht friert, hörst du? Hat es auch ein dickes Halstuch an?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich habe gar kein Halstuch an", rief Heidi zurück, "aber ich will
+schon nicht frieren"; damit war es zur Tür hinaus und huschte so
+behend weiter, dass der Peter kaum nachkam. Aber die Großmutter
+rief jammernd: "Lauf ihm nach, Brigitte, lauf, das Kind muss ja
+erfrieren, so bei der Nacht, nimm mein Halstuch mit, lauf schnell!"
+Die Brigitte gehorchte. Die Kinder hatten aber kaum ein paar
+Schritte den Berg hinan getan, so sahen sie von oben herunter den
+Großvater kommen, und mit wenigen rüstigen Schritten stand er vor
+ihnen.
+</p>
+
+<p>
+"Recht so, Heidi, Wort gehalten!", sagte er, packte das Kind wieder
+fest in seine Decke ein, nahm es auf seinen Arm und stieg den Berg
+hinauf. Eben hatte die Brigitte noch gesehen, wie der Alte das
+Kind wohl verpackt auf seinen Arm genommen und den Rückweg
+angetreten hatte. Sie trat mit dem Peter wieder in die Hütte ein
+und erzählte der Großmutter mit Verwunderung, was sie gesehen hatte.
+Auch diese musste sich sehr verwundern und ein Mal über das
+andere sagen: "Gott Lob und Dank, dass er so ist mit dem Kind, Gott
+Lob und Dank! Wenn er es nur auch wieder zu mir lässt, das Kind
+hat mir so wohl gemacht! Was hat es für ein gutes Herz und wie
+kann es so kurzweilig erzählen!" Und immer wieder freute sich die
+Großmutter, und bis sie ins Bett ging, sagte sie immer wieder:
+"Wenn es nur auch wiederkommt! Jetzt habe ich doch noch etwas auf
+der Welt, auf das ich mich freuen kann!" Und die Brigitte stimmte
+jedes Mal ein, wenn die Großmutter wieder dasselbe sagte, und auch
+der Peter nickte jedes Mal zustimmend mit dem Kopf und zog seinen
+Mund weit auseinander vor Vergnüglichkeit und sagte: "Hab's schon
+gewusst."
+</p>
+
+<p>
+Unterdessen redete das Heidi in seinem Sack drinnen immerzu an den
+Großvater heran; da die Stimme aber nicht durch den achtfachen
+Umschlag dringen konnte und er daher kein Wort verstand, sagte er:
+"Wart ein wenig, bis wir daheim sind, dann sag's."
+</p>
+
+<p>
+Sobald er nun, oben angekommen, in seine Hütte eingetreten war und
+Heidi aus seiner Hülle herausgeschält hatte, sagte es: "Großvater,
+morgen müssen wir den Hammer und die großen Nägel mitnehmen und den
+Laden festschlagen bei der Großmutter und sonst noch viele Nägel
+einschlagen, denn es kracht und klappert alles bei ihr."
+</p>
+
+<p>
+"Müssen wir? So, das müssen wir? Wer hat dir das gesagt?", fragte
+der Großvater.
+</p>
+
+<p>
+"Das hat mir kein Mensch gesagt, ich weiß es sonst", entgegnete
+Heidi, "denn es hält alles nicht mehr fest und es ist der
+Großmutter angst und bang, wenn sie nicht schlafen kann und es so
+tut, und sie denkt: 'Jetzt fällt alles ein und gerade auf
+unsere Köpfe'; und der Großmutter kann man gar nicht mehr
+hell machen, sie weiß gar nicht, wie man es könnte, aber du kannst
+es schon, Großvater; denk nur, wie traurig es ist, wenn sie immer
+im Dunkeln ist und es ihr dann noch angst und bang ist und es kann
+ihr kein Mensch helfen als du! Morgen wollen wir gehen und ihr
+helfen; gelt, Großvater, wir wollen?"
+</p>
+
+<p>
+Heidi hatte sich an den Großvater angeklammert und schaute mit
+zweifellosem Vertrauen zu ihm auf. Der Alte schaute eine kleine
+Welle auf das Kind nieder, dann sagte er: "Ja, Heidi, wir wollen
+machen, dass es nicht mehr so klappert bei der Großmutter, das
+können wir; morgen tun wir's."
+</p>
+
+<p>
+Nun hüpfte das Kind vor Freude im ganzen Hüttenraum herum und rief
+ein Mal ums andere: "Morgen tun wir's! Morgen tun wir's!"
+</p>
+
+<p>
+Der Großvater hielt Wort. Am folgenden Nachmittag wurde dieselbe
+Schlittenfahrt ausgeführt. Wie am vorhergehenden Tag stellte der
+Alte das Kind vor der Tür der Geißenpeter-Hütte nieder und sagte:
+"Nun geh hinein, und wenn's Nacht wird, komm wieder." Dann legte er
+den Sack auf den Schlitten und ging um das Häuschen herum.
+</p>
+
+<p>
+Kaum hatte Heidi die Tür aufgemacht und war in die Stube
+hineingesprungen, so rief schon die Großmutter aus der Ecke: "Da
+kommt das Kind! Das ist das Kind!", und ließ vor Freude den Faden
+los und das Rädchen stehen und streckte beide Hände nach dem Kinde
+aus. Heidi lief zu ihr, rückte gleich das niedere Stühlchen ganz
+nahe an sie heran, setzte sich darauf und hatte der Großmutter
+schon wieder eine große Menge von Dingen zu erzählen und von ihr zu
+erfragen. Aber auf einmal ertönten so gewaltige Schläge an das
+Haus, dass die Großmutter vor Schrecken so zusammenfuhr, dass sie
+fast das Spinnrad umwarf, und zitternd ausrief: "Ach du mein Gott,
+jetzt kommt's, es fällt alles zusammen!" Aber Heidi hielt sie fest
+um den Arm und sagte tröstend: "Nein, nein, Großmutter, erschrick
+du nur nicht, das ist der Großvater mit dem Hammer, jetzt macht er
+alles fest, dass es dir nicht mehr angst und bang wird."
+</p>
+
+<p>
+"Ach, ist auch das möglich! Ist auch so etwas möglich! So hat uns
+doch der liebe Gott nicht ganz vergessen!", rief die Großmutter aus.
+"Hast du's gehört, Brigitte, was es ist, hörst du's? Wahrhaftig,
+es ist ein Hammer! Geh hinaus, Brigitte, und wenn es der Alm-Öhi
+ist, so sag ihm, er soll doch dann auch einen Augenblick
+hereinkommen, dass ich ihm auch danken kann."
+</p>
+
+<p>
+Die Brigitte ging hinaus. Eben schlug der Alm-Öhi mit großer
+Gewalt neue Kloben in die Mauer; Brigitte trat an ihn heran und
+sagte: "Ich wünsche Euch guten Abend, Öhi, und die Mutter auch, und
+wir haben Euch zu danken, dass Ihr uns einen solchen Dienst tut,
+und die Mutter möchte Euch noch gern eigens danken drinnen; sicher,
+es hätte uns das nicht gerad einer getan, wir wollen Euch auch dran
+denken, denn sicher--"
+</p>
+
+<p>
+"Macht's kurz", unterbrach sie der Alte hier; "was Ihr vom Alm-Öhi
+haltet, weiß ich schon. Geht nur wieder hinein; wo's fehlt, find
+ich selber."
+</p>
+
+<p>
+Brigitte gehorchte sogleich, denn der Öhi hatte eine Art, der man
+sich nicht leicht widersetzte. Er klopfte und hämmerte um das
+ganze Häuschen herum, stieg dann das schmale Treppchen hinauf bis
+unter das Dach, hämmerte weiter und weiter, bis er auch den letzten
+Nagel eingeschlagen, den er mitgebracht hatte. Unterdessen war
+auch schon die Dunkelheit hereingebrochen, und kaum war er
+heruntergestiegen und hatte seinen Schlitten hinter dem Geißenstall
+hervorgezogen, als auch schon Heidi aus der Tür trat und vom
+Großvater wie gestern verpackt auf den Arm genommen und der
+Schlitten nachgezogen wurde, denn allein da drauf sitzend, wäre die
+ganze Umhüllung vom Heidi abgefallen, und es wäre fast oder ganz
+erfroren. Das wusste der Großvater wohl und hielt das Kind ganz
+warm in seinem Arm.
+</p>
+
+<p>
+So ging der Winter dahin. In das freudlose Leben der blinden
+Großmutter war nach langen Jahren eine Freude gefallen und ihre
+Tage waren nicht mehr lang und dunkel, einer wie der andere, denn
+nun hatte sie immer etwas in Aussicht, nach dem sie verlangen
+konnte. Vom frühen Morgen an lauschte sie auch schon auf den
+trippelnden Schritt, und ging dann die Tür auf und das Kind kam
+wirklich dahergesprungen, dann rief sie jedes Mal in lauter Freude:
+"Gottlob! Da kommt's wieder!" Und Heidi setzte sich zu ihr und
+plauderte und erzählte so lustig von allem, was es wusste, dass es
+der Großmutter ganz wohl machte und ihr die Stunden dahingingen,
+sie merkte es nicht, und kein einziges Mal fragte sie mehr so wie
+früher: "Brigitte, ist der Tag noch nicht um?", sondern jedes Mal,
+wenn Heidi die Tür hinter sich schloss, sagte sie: "Wie war doch
+der Nachmittag so kurz; ist es nicht wahr, Brigitte?" Und diese
+sagte: "Doch sicher, es ist mir, wir haben erst die Teller vom
+Essen weggestellt." Und die Großmutter sagte wieder: "Wenn mir nur
+der Herrgott das Kind erhält und dem Alm-Öhi den guten Willen!
+Sieht es auch gesund aus, Brigitte?" Und jedes Mal erwiderte diese:
+"Es sieht aus wie ein Erdbeerapfel."
+</p>
+
+<p>
+Heidi hatte auch eine große Anhänglichkeit an die alte Großmutter,
+und wenn es ihm wieder in den Sinn kam, dass ihr gar niemand, auch
+der Großvater nicht mehr hell machen konnte, überkam es immer
+wieder eine große Betrübnis; aber die Großmutter sagte ihm immer
+wieder, dass sie am wenigsten davon leide, wenn es bei ihr sei, und
+Heidi kam auch an jedem schönen Wintertag heruntergefahren auf
+seinem Schlitten. Der Großvater hatte, ohne weitere Worte, so
+fortgefahren, hatte jedes Mal den Hammer und allerlei andere Sachen
+mit aufgeladen und manchen Nachmittag durch an dem Geißenpeter-
+Häuschen herumgeklopft. Das hatte aber auch seine gute Wirkung; es
+krachte und klapperte nicht mehr die ganzen Nächte durch, und die
+Großmutter sagte, so habe sie manchen Winter lang nicht mehr
+schlafen können, das wolle sie auch dem Öhi nie vergessen.
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap05"></a>
+Es kommt ein Besuch und dann noch einer,<br/>
+der mehr Folgen hat
+</h3>
+
+<p>
+Schnell war der Winter und noch schneller der fröhliche Sommer
+darauf vergangen, und ein neuer Winter neigte sich schon wieder dem
+Ende zu. Heidi war glücklich und froh wie die Vöglein des Himmels
+und freute sich jeden Tag mehr auf die herannahenden Frühlingstage,
+da der warme Föhn durch die Tannen brausen und den Schnee wegfegen
+würde und dann die helle Sonne die blauen und gelben Blümlein
+hervorlocken und die Tage der Weide kommen würden, die für Heidi
+das Schönste mit sich brachten, was es auf Erden geben konnte.
+Heidi stand nun in seinem achten Jahre; es hatte vom Großvater
+allerlei Kunstgriffe erlernt: Mit den Geißen wusste es so gut
+umzugehen als nur einer, und Schwänli und Bärli liefen ihm nach wie
+treue Hündlein und meckerten gleich laut vor Freude, wenn sie nur
+seine Stimme hörten. In diesem Winter hatte Peter schon zweimal
+vom Schullehrer im Dörfli den Bericht gebracht, der Alm-Öhi solle
+das Kind, das bei ihm sei, nun in die Schule schicken, es habe
+schon mehr als das Alter und hätte schon im letzten Winter kommen
+sollen. Der Öhi hatte beide Male dem Schullehrer sagen lassen,
+wenn er etwas mit ihm wolle, so sei er daheim, das Kind schicke er
+nicht in die Schule. Diesen Bericht hatte der Peter richtig
+überbracht.
+</p>
+
+<p>
+Als die Märzsonne den Schnee an den Abhängen geschmolzen hatte und
+überall die weißen Schneeglöckchen hervorguckten im Tal und auf der
+Alm die Tannen ihre Schneelast abgeschüttelt hatten und die Äste
+wieder lustig wehten, da rannte Heidi vor Wonne immer hin und her
+von der Haustür zum Geißenstall und von da unter die Tannen und
+dann wieder hinein zum Großvater, um ihm zu berichten, wie viel
+größer das Stück grüner Boden unter den Bäumen wieder geworden sei,
+und gleich nachher kam es wieder nachzusehen, denn es konnte nicht
+erwarten, dass alles wieder grün wurde und der ganze schöne Sommer
+mit Grün und Blumen wieder auf die Alm gezogen kam.
+</p>
+
+<p>
+Als Heidi so am sonnigen Märzmorgen hin und her rannte und jetzt
+wohl zum zehnten Mal über die Türschwelle sprang, wäre es vor
+Schrecken fast rückwärts wieder hineingefallen, denn auf einmal
+stand es vor einem schwarzen alten Herrn, der es ganz ernsthaft
+anblickte. Als er aber seinen Schrecken sah, sagte er freundlich:
+"Du musst nicht erschrecken vor mir, die Kinder sind mir lieb. Gib
+mir die Hand! Du wirst das Heidi sein; wo ist der Großvater?"
+</p>
+
+<p>
+"Er sitzt am Tisch und schnitzt runde Löffel von Holz", erklärte
+Heidi und machte nun die Tür wieder auf.
+</p>
+
+<p>
+Es war der alte Herr Pfarrer aus dem Dörfli, der den Öhi vor Jahren
+gut gekannt hatte, als er noch unten wohnte und sein Nachbar war.
+Er trat in die Hütte ein, ging auf den Alten zu, der sich über sein
+Schnitzwerk hinbeugte, und sagte: "Guten Morgen, Nachbar."
+</p>
+
+<p>
+Verwundert schaute dieser in die Höhe, stand dann auf und
+entgegnete: "Guten Morgen dem Herrn Pfarrer." Dann stellte er
+seinen Stuhl vor den Herrn hin und fuhr fort: "Wenn der Herr
+Pfarrer einen Holzsitz nicht scheut, hier ist einer."
+</p>
+
+<p>
+Der Herr Pfarrer setzte sich. "Ich habe Euch lange nicht gesehen,
+Nachbar", sagte er dann.
+</p>
+
+<p>
+"Ich den Herrn Pfarrer auch nicht", war die Antwort.
+</p>
+
+<p>
+"Ich komme heut, um etwas mit Euch zu besprechen", fing der Herr
+Pfarrer wieder an; "ich denke, Ihr könnt schon wissen, was meine
+Angelegenheit ist, worüber ich mich mit Euch verständigen und hören
+will, was Ihr im Sinne habt."
+</p>
+
+<p>
+Der Herr Pfarrer schwieg und schaute auf Heidi, das an der Tür
+stand und die neue Erscheinung aufmerksam betrachtete.
+</p>
+
+<p>
+"Heidi, geh zu den Geißen", sagte der Großvater. "Kannst ein wenig
+Salz mitnehmen und bei ihnen bleiben, bis ich auch komme."
+</p>
+
+<p>
+Heidi verschwand sofort.
+</p>
+
+<p>
+"Das Kind hätte schon vor dem Jahr und noch sicherer diesen Winter
+die Schule besuchen sollen", sagte nun der Herr Pfarrer; "der
+Lehrer hat Euch mahnen lassen, Ihr habt keine Antwort darauf
+gegeben; was habt Ihr mit dem Kind im Sinn, Nachbar?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich habe im Sinn, es nicht in die Schule zu schicken", war die
+Antwort.
+</p>
+
+<p>
+Verwundert schaute der Herr Pfarrer auf den Alten, der mit
+gekreuzten Armen auf seiner Bank saß und gar nicht nachgiebig
+aussah.
+</p>
+
+<p>
+"Was wollt Ihr aus dem Kinde machen?", fragte jetzt der Herr
+Pfarrer.
+</p>
+
+<p>
+"Nichts, es wächst und gedeiht mit den Geißen und den Vögeln; bei
+denen ist es ihm wohl und es lernt nichts Böses von ihnen."
+</p>
+
+<p>
+"Aber das Kind ist keine Geiß und kein Vogel, es ist ein
+Menschenkind. Wenn es nichts Böses lernt von diesen seinen
+Kameraden, so lernt es auch sonst nichts von ihnen; es soll aber
+etwas lernen, und die Zeit dazu ist da. Ich bin gekommen, es Euch
+zeitig zu sagen, Nachbar, damit Ihr Euch besinnen und einrichten
+könnt den Sommer durch. Dies war der letzte Winter, den das Kind
+so ohne allen Unterricht zugebracht hat; nächsten Winter kommt es
+zur Schule, und zwar jeden Tag."
+</p>
+
+<p>
+"Ich tu's nicht, Herr Pfarrer", sagte der Alte unentwegt.
+</p>
+
+<p>
+"Meint Ihr denn wirklich, es gebe kein Mittel, Euch zur Vernunft zu
+bringen, wenn Ihr so eigensinnig bei Eurem unvernünftigen Tun
+beharren wollt?", sagte der Herr Pfarrer jetzt ein wenig eifrig.
+"Ihr seid weit in der Welt herumgekommen und habt viel gesehen und
+vieles lernen können, ich hätte Euch mehr Einsicht zugetraut,
+Nachbar."
+</p>
+
+<p>
+"So", sagte jetzt der Alte und seine Stimme verriet, dass es auch
+in seinem Innern nicht mehr so ganz ruhig war; "und meint denn der
+Herr Pfarrer, ich werde wirklich im nächsten Winter am eisigen
+Morgen durch Sturm und Schnee ein zartgliedriges Kind den Berg
+hinunterschicken, zwei Stunden weit, und zur Nacht wieder
+heraufkommen lassen, wenn's manchmal tobt und tut, dass unsereiner
+fast in Wind und Schnee ersticken müsste, und dann ein Kind wie
+dieses? Und vielleicht kann sich der Herr Pfarrer auch noch der
+Mutter erinnern, der Adelheid; sie war mondsüchtig und hatte
+Zufälle, soll das Kind auch so etwas holen mit der Anstrengung? Es
+soll mir einer kommen und mich zwingen wollen! Ich gehe vor alle
+Gerichte mit ihm, und dann wollen wir sehen, wer mich zwingt!"
+</p>
+
+<p>
+"Ihr habt ganz Recht, Nachbar", sagte der Herr Pfarrer mit
+Freundlichkeit; "es wäre nicht möglich, das Kind von hier aus zur
+Schule zu schicken. Aber ich kann sehen, das Kind ist Euch lieb;
+tut um seinetwillen etwas, das Ihr schon lange hättet tun sollen,
+kommt wieder ins Dörfli herunter und lebt wieder mit den Menschen.
+Was ist das für ein Leben hier oben, allein und verbittert gegen
+Gott und Menschen! Wenn Euch einmal etwas zustoßen würde hier oben,
+wer würde Euch beistehen? Ich kann auch gar nicht begreifen, dass
+Ihr den Winter durch nicht halb erfriert in Eurer Hütte, und wie
+das zarte Kind es nur aushalten kann!"
+</p>
+
+<p>
+"Das Kind hat junges Blut und eine gute Decke, das möchte ich dem
+Herrn Pfarrer sagen, und dann noch eins: Ich weiß, wo es Holz gibt,
+und auch, wann die gute Zeit ist, es zu holen; der Herr Pfarrer
+darf in meinen Schopf hineingehen, es ist etwas drin, in meiner
+Hütte geht das Feuer nie aus den Winter durch. Was der Herr
+Pfarrer mit dem Herunterkommen meint, ist nicht für mich; die
+Menschen da unten verachten mich und ich sie auch, wir bleiben
+voneinander, so ist's beiden wohl."
+</p>
+
+<p>
+"Nein, nein, es ist Euch nicht wohl; ich weiß, was Euch fehlt",
+sagte der Herr Pfarrer mit herzlichem Ton. "Mit der Verachtung der
+Menschen dort unten ist es so schlimm nicht. Glaubt mir, Nachbar:
+Sucht Frieden mit Eurem Gott zu machen, bittet um seine Verzeihung,
+wo Ihr sie nötig habt, und dann kommt und seht, wie anders Euch die
+Menschen ansehen und wie wohl es Euch noch werden kann."
+</p>
+
+<p>
+Der Herr Pfarrer war aufgestanden, er hielt dem Alten die Hand hin
+und sagte nochmals mit Herzlichkeit: "Ich zähle darauf, Nachbar, im
+nächsten Winter seid Ihr wieder unten bei uns und wir sind die
+alten, guten Nachbarn. Es würde mir großen Kummer machen, wenn ein
+Zwang gegen Euch müsste angewandt werden; gebt mir jetzt die Hand
+darauf, dass ihr herunterkommt und wieder unter uns leben wollt,
+ausgesöhnt mit Gott und den Menschen."
+</p>
+
+<p>
+Der Alm-Öhi gab dem Herrn Pfarrer die Hand und sagte fest und
+bestimmt: "Der Herr Pfarrer meint es recht mit mir; aber was er
+erwartet, das tu ich nicht, ich sag es sicher und ohne Wandel: Das
+Kind schick ich nicht, und herunter komm ich nicht."
+</p>
+
+<p>
+"So helf Euch Gott!", sagte der Herr Pfarrer und ging traurig zur
+Tür hinaus und den Berg hinunter.
+</p>
+
+<p>
+Der Alm-Öhi war verstimmt. Als Heidi am Nachmittag sagte: "Jetzt
+wollen wir zur Großmutter", erwiderte er kurz: "Heut nicht." Den
+ganzen Tag sprach er nicht mehr, und am folgenden Morgen, als Heidi
+fragte: "Gehen wir heut zur Großmutter?", war er noch gleich kurz
+von Worten wie im Ton und sagte nur: "Wollen sehen." Aber noch
+bevor die Schüsselchen vom Mittagessen weggestellt waren, trat
+schon wieder ein Besuch zur Tür herein, es war die Base Dete. Sie
+hatte einen schönen Hut auf dem Kopf mit einer Feder darauf und ein
+Kleid, das alles mitfegte, was am Boden lag, und in der Sennhütte
+lag da allerlei, das nicht an ein Kleid gehörte. Der Öhi schaute
+sie an von oben bis unten und sagte kein Wort. Aber die Base Dete
+hatte im Sinn, ein sehr freundliches Gespräch zu führen, denn sie
+fing an zu rühmen und sagte, das Heidi sehe so gut aus, sie habe es
+fast nicht mehr gekannt und man könne schon sehen, dass es ihm
+nicht schlecht gegangen sei beim Großvater. Sie habe aber gewiss
+auch immer darauf gedacht, es ihm wieder abzunehmen, denn sie habe
+ja schon begreifen können, dass ihm das Kleine im Weg sein müsse,
+aber in jenem Augenblick habe sie es ja nirgends sonst hintun
+können; seitdem aber habe sie Tag und Nacht nachgesonnen, wo sie
+das Kind etwa unterbringen könnte, und deswegen komme sie auch
+heute, denn auf einmal habe sie etwas vernommen, da könne das Heidi
+zu einem solchen Glück kommen, dass sie es gar nicht habe glauben
+wollen. Dann sei sie aber auf der Stelle der Sache nachgegangen,
+und nun könne sie sagen, es sei alles so gut wie in Richtigkeit,
+das Heidi komme zu einem Glück wie unter Hunderttausenden nicht
+eines. Furchtbar reiche Verwandte von ihrer Herrschaft, die fast
+im schönsten Haus in ganz Frankfurt wohnen, die haben ein einziges
+Töchterlein, das müsse immer im Rollstuhl sitzen, denn es sei auf
+einer Seite lahm und sonst nicht gesund, und so sei es fast immer
+allein und müsse auch allen Unterricht allein nehmen bei einem
+Lehrer, und das sei ihm so langweilig, und auch sonst hätte es gern
+eine Gespielin im Haus, und da haben sie so davon geredet bei ihrer
+Herrschaft, und wenn man nur so ein Kind finden könnte, wie die
+Dame beschrieb, die in dem Haus die Wirtschaft führte, denn ihre
+Herrschaft habe viel Mitgefühl und möchte dem kranken Töchterlein
+eine gute Gespielin gönnen. Die Wirtschaftsdame hatte nun gesagt,
+sie wolle so ein recht unverdorbenes, so ein eigenartiges, das
+nicht sei wie alle, die man so alle Tage sehe. Da habe sie selbst
+denn auf der Stelle an das Heidi gedacht und sei gleich hingelaufen
+und habe der Dame alles so beschrieben vom Heidi und so von seinem
+Charakter, und die Dame habe sogleich zugesagt. Nun könne gar kein
+Mensch wissen, was dem Heidi alles an Glück und Wohlfahrt
+bevorstehe, denn wenn es dann einmal dort sei und die Leute es gern
+mögen und es etwa mit dem eigenen Töchterchen etwas geben sollte--
+man könne ja nie wissen, es sei doch so schwächlich--, und wenn
+eben die Leute doch nicht ohne ein Kind bleiben wollten, so könnte
+ja das unerhörteste Glück--
+</p>
+
+<p>
+"Bist du bald fertig?", unterbrach hier der Öhi, der bis dahin kein
+Wort dazwischengeredet hatte.
+</p>
+
+<p>
+"Pah", gab die Dete zurück und warf den Kopf auf, "Ihr tut gerade,
+wie wenn ich Euch das ordinärste Zeug gesagt hätte, und ist doch
+durchs ganze Prättigau auf und ab nicht einer, der nicht Gott im
+Himmel dankte, wenn ich ihm die Nachricht brächte, die ich Euch
+gebracht habe."
+</p>
+
+<p>
+"Bring sie, wem du willst, ich will nichts davon", sagte der Öhi
+trocken.
+</p>
+
+<p>
+Aber jetzt fuhr die Dete auf wie eine Rakete und rief: "Ja, wenn
+Ihr es so meint, dann will ich Euch denn schon auch sagen, wie ich
+es meine: Das Kind ist jetzt acht Jahre alt und kann nichts und
+weiß nichts, und Ihr wollt es nichts lernen lassen; Ihr wollt es in
+keine Schule und in keine Kirche schicken, das haben sie mir gesagt
+unten im Dörfli, und es ist meiner einzigen Schwester Kind; ich hab
+es zu verantworten, wie's mit ihm geht, und wenn ein Kind ein Glück
+erlangen kann wie jetzt das Heidi, so kann ihm nur einer davor sein,
+dem es um alle Leute gleich ist und der keinem etwas Gutes wünscht.
+Aber ich gebe nicht nach, das sag ich Euch, und die Leute habe
+ich alle für mich, es ist kein Einziger unten im Dörfli, der nicht
+mir hilft und gegen Euch ist, und wenn Ihr's etwa wollt vor Gericht
+kommen lassen, so besinnt Euch wohl, Öhi; es gibt noch Sachen, die
+Euch dann könnten aufgewärmt werden, die Ihr nicht gern hörtet,
+denn wenn man's einmal mit dem Gericht zu tun hat, so wird noch
+manches aufgespürt, an das keiner mehr denkt."
+</p>
+
+<p>
+"Schweig!", donnerte der Öhi heraus, und seine Augen flammten wie
+Feuer. "Nimm's und verdirb's! Komm mir nie mehr vor Augen mit ihm,
+ich will's nie sehen mit dem Federhut auf dem Kopf und Worten im
+Mund wie dich heut!"
+</p>
+
+<p>
+Der Öhi ging mit großen Schritten zur Tür hinaus.
+</p>
+
+<p>
+"Du hast den Großvater bös gemacht", sagte Heidi und blitzte mit
+seinen schwarzen Augen die Base wenig freundlich an.
+</p>
+
+<p>
+"Er wird schon wieder gut, komm jetzt", drängte die Base; "wo sind
+deine Kleider?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich komme nicht", sagte Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"Was sagst du?", fuhr die Base auf; dann änderte sie den Ton ein
+wenig und fuhr halb freundlich, halb ärgerlich weiter: "Komm, komm,
+du verstehst's nicht besser, du wirst es so gut haben, wie du gar
+nicht weißt." Dann ging sie an den Schrank, nahm Heidis Sachen
+hervor und packte sie zusammen: "So, komm jetzt, nimm dort dein
+Hütchen, es sieht nicht schön aus, aber es ist gleich für einmal,
+setz es auf und mach, dass wir fortkommen."
+</p>
+
+<p>
+"Ich komme nicht", wiederholte Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"Sei doch nicht so dumm und störrig wie eine Geiß; denen hast du's
+abgesehen. Begreif doch nur, jetzt ist der Großvater bös, du
+hast's ja gehört, dass er gesagt hat, wir sollen ihm nicht mehr vor
+Augen kommen, er will es nun haben, dass du mit mir gehst, und
+jetzt musst du ihn nicht noch böser machen. Du weißt gar nicht,
+wie schön es ist in Frankfurt und was du alles sehen wirst, und
+gefällt es dir dann nicht, so kannst du wieder heimgehen; bis dahin
+ist der Großvater dann wieder gut."
+</p>
+
+<p>
+"Kann ich gerad wieder umkehren und heimkommen heut Abend?", fragte
+Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"Ach was, komm jetzt! Ich sag dir's ja, du kannst wieder heim,
+wann du willst. Heut gehen wir bis nach Maienfeld hinunter und
+morgen früh sitzen wir in der Eisenbahn, mit der bist du nachher im
+Augenblick wieder daheim, das geht wie geflogen."
+</p>
+
+<p>
+Die Base Dete hatte das Bündelchen Kleider auf den Arm und Heidi an
+die Hand genommen; so gingen sie den Berg hinunter.
+</p>
+
+<p>
+Da es noch nicht Weidezeit war, ging der Peter noch zur Schule ins
+Dörfli hinunter, oder sollte doch dahin gehen; aber er machte hier
+und da einen Tag Ferien, denn er dachte, es nütze nichts, dahin zu
+gehen, das Lesen brauche man auch nicht, und ein wenig herumfahren
+und große Ruten suchen nütze etwas, denn diese könne man brauchen.
+So kam er eben in der Nähe seiner Hütte von der Seite her mit
+sichtlichem Erfolg seiner heutigen Bestrebungen, denn er trug ein
+ungeheures Bündel langer, dicker Haselruten auf der Achsel. Er
+stand still und starrte die zwei Entgegenkommenden an, bis sie bei
+ihm ankamen; dann sagte er: "Wo willst du hin?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich muss nur geschwind nach Frankfurt mit der Base", antwortete
+Heidi, "aber ich will zuerst noch zur Großmutter hinein, sie wartet
+auf mich."
+</p>
+
+<p>
+"Nein, nein, keine Rede, es ist schon viel zu spät", sagte die Base
+eilig und hielt das fortstrebende Heidi fest bei der Hand; "du
+kannst dann gehen, wenn du wieder heimkommst, komm jetzt!" Damit
+zog die Base das Heidi fest weiter und ließ es nicht mehr los, denn
+sie fürchtete, es könne drinnen dem Kinde wieder in den Sinn kommen,
+es wolle nicht fort, und die Großmutter könne ihm helfen wollen.
+Der Peter sprang in die Hütte hinein und schlug mit seinem ganzen
+Bündel Ruten so furchtbar auf den Tisch los, dass alles erzitterte
+und die Großmutter vor Schrecken vom Spinnrad aufsprang und laut
+aufjammerte. Der Peter hatte sich Luft machen müssen.
+</p>
+
+<p>
+"Was ist's denn? Was ist's denn?", rief angstvoll die Großmutter,
+und die Mutter, die am Tisch gesessen hatte und fast aufgeflogen
+war bei dem Knall, sagte in angeborener Langmut: "Was hast, Peterli;
+warum tust so wüst?"
+</p>
+
+<p>
+"Weil sie das Heidi mitgenommen hat", erklärte Peter.
+</p>
+
+<p>
+"Wer? Wer? Wohin, Peterli, wohin?", fragte die Großmutter jetzt
+mit neuer Angst; sie musste aber schnell erraten haben, was vorging,
+die Tochter hatte ihr ja vor kurzem berichtet, sie habe die Dete
+gesehen zum Alm-Öhi hinaufgehen. Ganz zitternd vor Eile machte die
+Großmutter das Fenster auf und rief flehentlich hinaus: "Dete, Dete,
+nimm uns das Kind nicht weg! Nimm uns das Heidi nicht!"
+</p>
+
+<p>
+Die beiden Laufenden hörten die Stimme, und die Dete mochte wohl
+ahnen, was sie rief, denn sie fasste das Kind noch fester und lief,
+was sie konnte. Heidi widerstrebte und sagte: "Die Großmutter hat
+gerufen, ich will zu ihr."
+</p>
+
+<p>
+Aber das wollte die Base gerade nicht und beschwichtigte das Kind,
+es solle nur schnell kommen jetzt, dass sie nicht noch zu spät
+kämen, sondern dass sie morgen weiterreisen könnten, es könnte ja
+dann sehen, wie es ihm gefallen werde in Frankfurt, dass es gar nie
+mehr fortwolle dort; und wenn es doch heim wolle, so könne es ja
+gleich gehen und dann erst noch der Großmutter etwas mit
+heimbringen, was sie freue. Das war eine Aussicht für Heidi, die
+ihm gefiel. Es fing an zu laufen ohne Widerstreben.
+</p>
+
+<p>
+"Was kann ich der Großmutter heimbringen?", fragte es nach einer
+Welle.
+</p>
+
+<p>
+"Etwas Gutes", sagte die Base, "so schöne, weiche Weißbrötchen, da
+wird sie Freud haben daran, sie kann ja doch das harte, schwarze
+Brot fast nicht mehr essen."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, sie gibt es immer wieder dem Peter und sagt: 'Es ist mir
+zu hart'; das habe ich selbst gesehen", bestätigte das Heidi.
+"So wollen wir geschwind gehen, Base Dete; dann kommen wir
+vielleicht heut noch nach Frankfurt, dass ich bald wieder da bin
+mit den Brötchen."
+</p>
+
+<p>
+Heidi fing nun so zu rennen an, dass die Base mit ihrem Bündel auf
+dem Arm fast nicht mehr nachkam. Aber sie war sehr froh, dass es
+so rasch ging, denn nun kamen sie gleich zu den ersten Häusern vom
+Dörfli, und da konnte es wieder allerhand Reden und Fragen geben,
+die das Heidi wieder auf andere Gedanken bringen konnten. So lief
+sie stracks durch, und das Kind zog dabei noch so stark an ihrer
+Hand, dass alle Leute es sehen konnten, wie sie um des Kindes
+willen so pressieren musste. So rief sie auf alle die Fragen und
+Anrufungen, die ihr aus allen Fenstern und Türen entgegentönten,
+nur immer zurück: "Ihr seht's ja, ich kann jetzt nicht still stehen,
+das Kind pressiert und wir haben noch weit."
+</p>
+
+<p>
+"Nimmst's mit?"--"Läuft's dem Alm-Öhi fort?"--"Es ist nur ein
+Wunder, dass es noch am Leben ist!"--"Und dazu noch so rotbackig!"
+So tönte es von allen Seiten, und die Dete war froh, dass sie ohne
+Verzug durchkam und keinen Bescheid geben musste und auch Heidi
+kein Wort sagte, sondern nur immer vorwärts strebte in großem Eifer.
+--
+</p>
+
+<p>
+Von dem Tage an machte der Alm-Öhi, wenn er herunterkam und durchs
+Dörfli ging, ein böseres Gesicht als je zuvor. Er grüßte keinen
+Menschen und sah mit seinem Käsereff auf dem Rücken, mit dem
+ungeheuren Stock in der Hand und den zusammengezogenen dicken
+Brauen so drohend aus, dass die Frauen zu den kleinen Kindern
+sagten: "Gib Acht! Geh dem Alm-Öhi aus dem Weg, er könnte dir noch
+etwas tun!"
+</p>
+
+<p>
+Der Alte verkehrte mit keinem Menschen im Dörfli, er ging nur durch
+und weit ins Tal hinab, wo er seinen Käse verhandelte und seine
+Vorräte an Brot und Fleisch einnahm. Wenn er so vorbeigegangen war
+im Dörfli, dann standen hinter ihm die Leute alle in Trüppchen
+zusammen, und jeder wusste etwas Besonderes, was er am Alm-Öhi
+gesehen hatte, wie er immer wilder aussehe und dass er jetzt keinem
+Menschen mehr auch nur einen Gruß abnehme, und alle kamen darin
+überein, dass es ein großes Glück sei, dass das Kind habe
+entweichen können, und man habe auch wohl gesehen, wie es
+fortgedrängt habe, so, als fürchte es, der Alte sei schon hinter
+ihm drein, um es zurückzuholen. Nur die blinde Großmutter hielt
+unverrückt zum Alm-Öhi, und wer zu ihr heraufkam, um bei ihr
+spinnen zu lassen oder das Gesponnene zu holen, dem erzählte sie es
+immer wieder, wie gut und sorgfältig der Alm-Öhi mit dem Kind
+gewesen sei und was er an ihr und der Tochter getan habe, wie
+manchen Nachmittag er an ihrem Häuschen herumgeflickt, das ohne
+seine Hilfe gewiss schon zusammengefallen wäre. So kamen denn auch
+diese Berichte ins Dörfli herunter; aber die meisten, die sie
+vernahmen, sagten dann, die Großmutter sei vielleicht zu alt zum
+Begreifen, sie werde es wohl nicht recht verstanden haben, sie
+werde wohl auch nicht mehr gut hören, weil sie nichts mehr sehe.
+</p>
+
+<p>
+Der Alm-Öhi zeigte sich jetzt nicht mehr bei den Geißenpeters; es
+war gut, dass er die Hütte so fest zusammengenagelt hatte, denn sie
+blieb für lange Zeit ganz unberührt. Jetzt begann die blinde
+Großmutter ihre Tage wieder mit Seufzen, und nicht einer verstrich,
+an dem sie nicht klagend sagte: "Ach, mit dem Kind ist alles Gute
+und alle Freude von uns genommen, und die Tage sind so leer! Wenn
+ich nur noch einmal das Heidi hören könnte, eh ich sterben muss!"
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap06"></a>
+Ein neues Kapitel und lauter neue Dinge
+</h3>
+
+<p>
+Im Hause des Herrn Sesemann in Frankfurt lag das kranke Töchterlein,
+Klara, in dem bequemen Rollstuhl, in welchem es den ganzen Tag
+sich aufhielt und von einem Zimmer ins andere gestoßen wurde.
+Jetzt saß es im so genannten Studierzimmer, das neben der großen
+Essstube lag und wo vielerlei Gerätschaften herumstanden und--lagen,
+die das Zimmer wohnlich machten und zeigten, dass man hier
+gewöhnlich sich aufhielt. An dem großen, schönen Bücherschrank mit
+den Glastüren konnte man sehen, woher das Zimmer seinen Namen hatte
+und dass es wohl der Raum war, wo dem lahmen Töchterchen der
+tägliche Unterricht erteilt wurde.
+</p>
+
+<p>
+Klara hatte ein blasses, schmales Gesichtchen, aus dem zwei milde,
+blaue Augen herausschauten, die in diesem Augenblick auf die große
+Wanduhr gerichtet waren, die heute besonders langsam zu gehen
+schien, denn Klara, die sonst kaum ungeduldig wurde, sagte jetzt
+mit ziemlicher Ungeduld in der Stimme: "Ist es denn immer noch
+nicht Zeit, Fräulein Rottenmeier?"
+</p>
+
+<p>
+Die Letztere saß sehr aufrecht an einem kleinen Arbeitstisch und
+stickte. Sie hatte eine geheimnisvolle Hülle um sich, einen großen
+Kragen oder Halbmantel, welcher der Persönlichkeit einen
+feierlichen Anstrich verlieh, der noch erhöht wurde durch eine Art
+von hoch gebauter Kuppel, die sie auf dem Kopf trug. Fräulein
+Rottenmeier war schon seit mehreren Jahren, seitdem die Dame des
+Hauses gestorben war, im Hause Sesemann, führte die Wirtschaft und
+hatte die Oberaufsicht über das ganze Dienstpersonal.
+</p>
+
+<p>
+Herr Sesemann war meistens auf Reisen, überließ daher dem Fräulein
+Rottenmeier das ganze Haus, nur mit der Bedingung, dass sein
+Töchterlein in allem eine Stimme haben solle und nichts gegen
+dessen Wunsch geschehen dürfe.
+</p>
+
+<p>
+Während oben Klara zum zweiten Mal mit Zeichen der Ungeduld
+Fräulein Rottenmeier befragte, ob die Zeit noch nicht da sei, da
+die Erwarteten erscheinen konnten, stand unten vor der Haustür die
+Dete mit Heidi an der Hand und fragte den Kutscher Johann, der eben
+vom Wagen gestiegen war, ob sie wohl Fräulein Rottenmeier so spät
+noch stören dürfe.
+</p>
+
+<p>
+"Das ist nicht meine Sache", brummte der Kutscher; "klingeln Sie
+den Sebastian herunter, drinnen im Korridor."
+</p>
+
+<p>
+Dete tat, wie ihr geheißen war, und der Bediente des Hauses kam die
+Treppe herunter mit großen, runden Knöpfen auf seinem Aufwärterrock
+und fast ebenso großen runden Augen im Kopfe.
+</p>
+
+<p>
+"Ich wollte fragen, ob ich um diese Zeit Fräulein Rottenmeier noch
+stören dürfe", brachte die Dete wieder an.
+</p>
+
+<p>
+"Das ist nicht meine Sache", gab der Bediente zurück; "klingeln Sie
+die Jungfer Tinette herunter an der anderen Klingel", und ohne
+weitere Auskunft verschwand der Sebastian.
+</p>
+
+<p>
+Dete klingelte wieder. Jetzt erschien auf der Treppe die Jungfer
+Tinette mit einem blendend weißen Deckelchen auf der Mitte des
+Kopfes und einer spöttischen Miene auf dem Gesicht.
+</p>
+
+<p>
+"Was ist?", fragte sie auf der Treppe, ohne herunterzukommen. Dete
+wiederholte ihr Gesuch. Jungfer Tinette verschwand, kam aber bald
+wieder und rief von der Treppe herunter: "Sie sind erwartet!"
+</p>
+
+<p>
+Jetzt stieg Dete mit Heidi die Treppe hinauf und trat, der Jungfer
+Tinette folgend, in das Studierzimmer ein. Hier blieb Dete höflich
+an der Tür stehen, Heidi immer fest an der Hand haltend, denn sie
+war gar nicht sicher, was dem Kinde etwa begegnen konnte auf diesem
+so fremden Boden.
+</p>
+
+<p>
+Fräulein Rottenmeier erhob sich langsam von ihrem Sitz und kam
+näher, um die angekommene Gespielin der Tochter des Hauses zu
+betrachten. Der Anblick schien sie nicht zu befriedigen. Heidi
+hatte sein einfaches Baumwollröckchen an und sein altes,
+zerdrücktes Strohhütchen auf dem Kopf. Das Kind guckte sehr
+harmlos darunter hervor und betrachtete mit unverhehlter
+Verwunderung den Turmbau auf dem Kopf der Dame.
+</p>
+
+<p>
+"Wie heißest du?", fragte Fräulein Rottenmeier, nachdem auch sie
+einige Minuten lang forschend das Kind angesehen hatte, das kein
+Auge von ihr verwandte.
+</p>
+
+<p>
+"Heidi", antwortete es deutlich und mit klangvoller Stimme.
+</p>
+
+<p>
+"Wie? Wie? Das soll doch wohl kein christlicher Name sein? So
+bist du doch nicht getauft worden. Welchen Namen hast du in der
+Taufe erhalten?", fragte Fräulein Rottenmeier weiter.
+</p>
+
+<p>
+"Das weiß ich jetzt nicht mehr", entgegnete Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"Ist das eine Antwort!", bemerkte die Dame mit Kopfschütteln.
+"Jungfer Dete, ist das Kind einfältig oder schnippisch?"
+</p>
+
+<p>
+"Mit Erlaubnis und wenn es die Dame gestattet, so will ich gern
+reden für das Kind, denn es ist sehr unerfahren", sagte die Dete,
+nachdem sie dem Heidi heimlich einen kleinen Stoß gegeben hatte für
+die unpassende Antwort. "Es ist aber nicht einfältig und auch
+nicht schnippisch, davon weiß es gar nichts; es meint alles so, wie
+es redet. Aber es ist heut zum ersten Mal in einem Herrenhaus und
+kennt die gute Manier nicht; aber es ist willig und nicht
+ungelehrig, wenn die Dame wollte gütige Nachsicht haben. Es ist
+Adelheid getauft worden, wie seine Mutter, meine Schwester selig."
+</p>
+
+<p>
+"Nun wohl, dies ist doch ein Name, den man sagen kann", bemerkte
+Fräulein Rottenmeier. "Aber, Jungfer Dete, ich muss Ihnen doch
+sagen, dass mir das Kind für sein Alter sonderbar vorkommt. Ich
+habe Ihnen mitgeteilt, die Gespielin für Fräulein Klara müsste in
+ihrem Alter sein, um denselben Unterricht mit ihr zu verfolgen und
+überhaupt ihre Beschäftigungen zu teilen. Fräulein Klara hat das
+zwölfte Jahr zurückgelegt; wie alt ist das Kind?"
+</p>
+
+<p>
+"Mit Erlaubnis der Dame", fing die Dete wieder beredt an, "es war
+mir eben selber nicht mehr so ganz gegenwärtig, wie alt es sei; es
+ist wirklich ein wenig jünger, viel trifft es nicht an, ich kann's
+so ganz genau nicht sagen, es wird so um das zehnte Jahr, oder so
+noch etwas dazu sein, nehm ich an."
+</p>
+
+<p>
+"Jetzt bin ich acht, der Großvater hat's gesagt", erklärte Heidi.
+Die Base stieß es wieder an, aber Heidi hatte keine Ahnung, warum,
+und wurde keineswegs verlegen.
+</p>
+
+<p>
+"Was, erst acht Jahre alt?", rief Fräulein Rottenmeier mit einiger
+Entrüstung aus. "Vier Jahre zu wenig! Was soll das geben! Und
+was hast du denn gelernt? Was hast du für Bücher gehabt bei deinem
+Unterricht?"
+</p>
+
+<p>
+"Keine", sagte Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"Wie? Was? Wie hast du denn lesen gelernt?", fragte die Dame
+weiter.
+</p>
+
+<p>
+"Das hab ich nicht gelernt und der Peter auch nicht", berichtete
+Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"Barmherzigkeit! Du kannst nicht lesen? Du kannst wirklich nicht
+lesen!", rief Fräulein Rottenmeier im höchsten Schrecken aus. "Ist
+es die Möglichkeit, nicht lesen! Was hast du denn aber gelernt?"
+</p>
+
+<p>
+"Nichts", sagte Heidi der Wahrheit gemäß.
+</p>
+
+<p>
+"Jungfer Dete", sagte Fräulein Rottenmeier nach einigen Minuten, in
+denen sie nach Fassung rang, "es ist alles nicht nach Abrede, wie
+konnten Sie mir dieses Wesen zuführen?" Aber die Dete ließ sich
+nicht so bald einschüchtern; sie antwortete herzhaft: "Mit
+Erlaubnis der Dame, das Kind ist gerade, was ich dachte, dass sie
+haben wolle; die Dame hat mir beschrieben, wie es sein müsse, so
+ganz apart und nicht wie die anderen, und so musste ich das Kleine
+nehmen, denn die Größeren sind bei uns dann nicht mehr so apart,
+und ich dachte, dieses passe wie gemacht auf die Beschreibung.
+Jetzt muss ich aber gehen, denn meine Herrschaft erwartet mich; ich
+will, wenn's meine Herrschaft erlaubt, bald wieder kommen und
+nachsehen, wie es geht mit ihm." Mit einem Knicks war die Dete zur
+Tür hinaus und die Treppe hinunter mit schnellen Schritten.
+Fräulein Rottenmeier stand einen Augenblick noch da, dann lief sie
+der Dete nach; es war ihr wohl in den Sinn gekommen, dass sie noch
+eine Menge von Dingen mit der Base besprechen wollte, wenn das Kind
+wirklich dableiben sollte, und da war es doch nun einmal und, wie
+sie bemerkte, hatte die Base fest im Sinn, es dazulassen.
+</p>
+
+<p>
+Heidi stand noch auf demselben Platz an der Tür, wo es von Anfang
+an gestanden hatte. Bis dahin hatte Klara von ihrem Sessel aus
+schweigend allem zugesehen. Jetzt winkte sie Heidi: "Komm hierher!"
+</p>
+
+<p>
+Heidi trat an den Rollstuhl heran.
+</p>
+
+<p>
+"Willst du lieber Heidi heißen oder Adelheid?", fragte Klara.
+</p>
+
+<p>
+"Ich heiße nur Heidi und sonst nichts", war Heidis Antwort.
+</p>
+
+<p>
+"So will ich dich immer so nennen", sagte Klara; "der Name gefällt
+mir für dich, ich habe ihn aber nie gehört, ich habe aber auch nie
+ein Kind gesehen, das so aussieht wie du. Hast du immer nur so
+kurzes, krauses Haar gehabt?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja, ich denk's", gab Heidi zur Antwort.
+</p>
+
+<p>
+"Bist du gern nach Frankfurt gekommen?", fragte Klara weiter.
+</p>
+
+<p>
+"Nein, aber morgen geh ich dann wieder heim und bringe der
+Großmutter weiße Brötchen!", erklärte Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"Du bist aber ein kurioses Kind!", fuhr jetzt Klara auf. "Man hat
+dich ja express nach Frankfurt kommen lassen, dass du bei mir
+bleibest und die Stunden mit mir nehmest, und siehst du, es wird
+nun ganz lustig, weil du gar nicht lesen kannst, nun kommt etwas
+ganz Neues in den Stunden vor. Sonst ist es manchmal so
+schrecklich langweilig und der Morgen will gar nicht zu Ende kommen.
+Denn siehst du, alle Morgen um zehn Uhr kommt der Herr Kandidat,
+und dann fangen die Stunden an und dauern bis um zwei Uhr, das ist
+so lange. Der Herr Kandidat nimmt auch manchmal das Buch ganz nahe
+ans Gesicht heran, so, als wäre er auf einmal ganz kurzsichtig
+geworden, aber er gähnt nur furchtbar hinter dem Buch, und Fräulein
+Rottenmeier nimmt auch von Zeit zu Zeit ihr großes Taschentuch
+hervor und hält es vor das ganze Gesicht hin, so, als sei sie ganz
+ergriffen von etwas, das wir lesen; aber ich weiß recht gut, dass
+sie nur ganz schrecklich gähnt dahinter, und dann sollte ich auch
+so stark gähnen und muss es immer hinunterschlucken, denn wenn ich
+nur ein einziges Mal herausgähne, so holt Fräulein Rottenmeier
+gleich den Fischtran und sagt, ich sei wieder schwach, und
+Fischtran nehmen ist das Allerschrecklichste, da will ich doch
+lieber Gähnen schlucken. Aber nun wird's viel kurzweiliger, da
+kann ich dann zuhören, wie du lesen lernst."
+</p>
+
+<p>
+Heidi schüttelte ganz bedenklich mit dem Kopf, als es vom
+Lesenlernen hörte.
+</p>
+
+<p>
+"Doch, doch, Heidi, natürlich musst du lesen lernen, alle Menschen
+müssen, und der Herr Kandidat ist sehr gut, er wird niemals böse,
+und er erklärt dir dann schon alles. Aber siehst du, wenn er etwas
+erklärt, dann verstehst du nichts davon; dann musst du nur warten
+und gar nichts sagen, sonst erklärt er dir noch viel mehr und du
+verstehst es noch weniger. Aber dann nachher, wenn du etwas
+gelernt hast und es weißt, dann verstehst du schon, was er gemeint
+hat."
+</p>
+
+<p>
+Jetzt kam Fräulein Rottenmeier wieder ins Zimmer zurück; sie hatte
+Dete nicht mehr zurückrufen können und war sichtlich aufgeregt
+davon, denn sie hatte dieser eigentlich gar nicht einlässlich sagen
+können, was alles nicht nach Abrede sei bei dem Kinde, und da sie
+nicht wusste, was nun zu tun sei, um ihren Schritt rückgängig zu
+machen, war sie umso aufgeregter, denn sie selbst hatte die ganze
+Sache angestiftet. Sie lief nun vom Studierzimmer ins Esszimmer
+hinüber, und von da wieder zurück, und kehrte dann unmittelbar
+wieder um und fuhr hier den Sebastian an, der seine runden Augen
+eben nachdenklich über den gedeckten Tisch gleiten ließ, um zu
+sehen, ob sein Werk keinen Mangel habe.
+</p>
+
+<p>
+"Denk Er morgen Seine großen Gedanken fertig und mach Er, dass man
+heut noch zu Tische komme."
+</p>
+
+<p>
+Mit diesen Worten fuhr Fräulein Rottenmeier an Sebastian vorbei und
+rief nach der Tinette mit so wenig einladendem Ton, dass die
+Jungfer Tinette mit noch viel kleineren Schritten herantrippelte
+als sonst gewöhnlich--und sich mit so spöttischem Gesicht
+hinstellte, dass selbst Fräulein Rottenmeier nicht wagte, sie
+anzufahren; umso mehr schlug ihr die Aufregung nach innen.
+</p>
+
+<p>
+"Das Zimmer der Angekommenen ist in Ordnung zu bringen, Tinette",
+sagte die Dame mit schwer errungener Ruhe; "es liegt alles bereit,
+nehmen Sie noch den Staub von den Möbeln weg."
+</p>
+
+<p>
+"Es ist der Mühe wert", spöttelte Tinette und ging.
+</p>
+
+<p>
+Unterdessen hatte Sebastian die Doppeltüren zum Studierzimmer mit
+ziemlichem Knall aufgeschlagen, denn er war sehr ergrimmt, aber
+sich in Antworten Luft zu machen durfte er nicht wagen Fräulein
+Rottenmeier gegenüber; dann trat er ganz gelassen ins Studierzimmer,
+um den Rollstuhl hinüberzustoßen. Während er den Griff hinten am
+Stuhl, der sich verschoben hatte, zurechtdrehte, stellte sich Heidi
+vor ihn hin und schaute ihn unverwandt an, was er bemerkte. Auf
+einmal fuhr er auf. "Na, was ist denn da Besonderes dran?",
+schnurrte er Heidi an in einer Weise, wie er es wohl nicht getan,
+hätte er Fräulein Rottenmeier gesehen, die eben wieder auf der
+Schwelle stand und gerade hereintrat, als Heidi entgegnete: "Du
+siehst dem Geißenpeter gleich."
+</p>
+
+<p>
+Entsetzt schlug die Dame ihre Hände zusammen. "Ist es die
+Möglichkeit!", stöhnte sie halblaut. "Nun duzt sie mir den
+Bedienten! Dem Wesen fehlen alle Urbegriffe!"
+</p>
+
+<p>
+Der Stuhl kam herangerollt und Klara wurde von Sebastian
+hinausgeschoben und auf ihren Sessel an den Tisch gesetzt.
+</p>
+
+<p>
+Fräulein Rottenmeier setzte sich neben sie und winkte Heidi, es
+sollte den Platz ihr gegenüber einnehmen. Sonst kam niemand zu
+Tische, und es war viel Platz da; die drei saßen auch weit
+auseinander, so dass Sebastian mit seiner Schüssel zum Anbieten
+guten Raum fand. Neben Heidis Teller lag ein schönes, weißes
+Brötchen; das Kind schaute mit erfreuten Blicken darauf. Die
+Ähnlichkeit, die Heidi entdeckt hatte, musste sein ganzes Vertrauen
+für den Sebastian erweckt haben, denn es saß mäuschenstill und
+rührte sich nicht, bis er mit der großen Schüssel zu ihm herantrat
+und ihm die gebratenen Fischchen hinhielt, dann zeigte es auf das
+Brötchen und fragte: "Kann ich das haben?" Sebastian nickte und
+warf dabei einen Seitenblick auf Fräulein Rottenmeier, denn es
+wunderte ihn, was die Frage für einen Eindruck auf sie mache.
+Augenblicklich ergriff Heidi sein Brötchen und steckte es in die
+Tasche. Sebastian machte eine Grimasse, denn das Lachen kam ihn an;
+er wusste aber wohl, dass ihm das nicht erlaubt war. Stumm und
+unbeweglich blieb er immer noch vor Heidi stehen, denn reden durfte
+er nicht, und weggehen durfte er wieder nicht, bis man sich bedient
+hatte. Heidi schaute ihm eine Zeit lang verwundert zu, dann fragte
+es: "Soll ich auch von dem essen?" Sebastian nickte wieder. "So
+gib mir", sagte es und schaute ruhig auf seinen Teller. Sebastians
+Grimasse wurde sehr bedenklich, und die Schüssel in seinen Händen
+fing an gefährlich zu zittern.
+</p>
+
+<p>
+"Er kann die Schüssel auf den Tisch setzen und nachher
+wiederkommen", sagte jetzt Fräulein Rottenmeier mit strengem
+Gesicht. Sebastian verschwand sogleich. "Dir, Adelheid, muss ich
+überall die ersten Begriffe beibringen, das sehe ich", fuhr
+Fräulein Rottenmeier mit tiefem Seufzer fort. "Vor allem will ich
+dir zeigen, wie man sich am Tische bedient", und nun machte die
+Dame deutlich und eingehend alles vor, was Heidi zu tun hatte.
+"Dann", fuhr sie weiter, "muss ich dir hauptsächlich bemerken, dass
+du am Tisch nicht mit Sebastian zu sprechen hast, auch sonst nur
+dann, wenn du einen Auftrag oder eine notwendige Frage an ihn zu
+richten hast; dann aber nennst du ihn nie mehr anders als (Sie)
+oder (Er), hörst du? Dass ich dich niemals mehr ihn anders nennen
+höre. Auch Tinette nennst du (Sie), Jungfer Tinette. Mich nennst
+du so, wie du mich von allen nennen hörst; wie du Klara nennen
+sollst, wird sie selbst bestimmen."
+</p>
+
+<p>
+"Natürlich Klara", sagte diese. Nun folgte aber noch eine Menge
+von Verhaltungsmaßregeln, über Aufstehen und Zubettegehen, über
+Hereintreten und Hinausgehen, über Ordnunghalten, Türenschließen,
+und über alledem fielen dem Heidi die Augen zu, denn es war heute
+vor fünf Uhr aufgestanden und hatte eine lange Reise gemacht. Es
+lehnte sich an den Sesselrücken und schlief ein. Als dann nach
+längerer Zeit Fräulein Rottenmeier zu Ende gekommen war mit ihrer
+Unterweisung, sagte sie: "Nun denke daran, Adelheid! Hast du alles
+recht begriffen?"
+</p>
+
+<p>
+"Heidi schläft schon lange", sagte Klara mit ganz belustigtem
+Gesicht, denn das Abendessen war für sie seit langer Zeit nie so
+kurzweilig verflossen.
+</p>
+
+<p>
+"Es ist doch völlig unerhört, was man mit diesem Kind erlebt!",
+rief Fräulein Rottenmeier in großem Ärger und klingelte so heftig,
+dass Tinette und Sebastian miteinander herbeigestürzt kamen; aber
+trotz allen Lärms erwachte Heidi nicht, und man hatte die größte
+Mühe, es so weit zu erwecken, dass es nach seinem Schlafgemach
+gebracht werden konnte; erst durch das Studierzimmer, dann durch
+Klaras Schlafstube, dann durch die Stube von Fräulein Rottenmeier
+zu dem Eckzimmer, das nun für Heidi eingerichtet war.
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap07"></a>
+Fräulein Rottenmeier hat einen unruhigen Tag
+</h3>
+
+<p>
+Als Heidi am ersten Morgen in Frankfurt seine Augen aufschlug,
+konnte es durchaus nicht begreifen, was es erblickte. Es rieb ganz
+gewaltig seine Augen, guckte dann wieder auf und sah dasselbe. Es
+saß auf einem hohen, weißen Bett und vor sich sah es einen großen,
+weiten Raum, und wo die Helle herkam, hingen lange, lange weiße
+Vorhänge, und dabei standen zwei Sessel mit großen Blumen darauf,
+und dann kam ein Sofa an der Wand mit denselben Blumen und ein
+runder Tisch davor, und in der Ecke stand ein Waschtisch mit Sachen
+darauf, wie Heidi sie noch gar nie gesehen hatte. Aber nun kam ihm
+auf einmal in den Sinn, dass es in Frankfurt sei, und der ganze
+gestrige Tag kam ihm in Erinnerung und zuletzt noch ganz klar die
+Unterweisungen der Dame, soweit es sie gehört hatte. Heidi sprang
+nun von seinem Bett herunter und machte sich fertig. Dann ging es
+an ein Fenster und dann an das andere; es musste den Himmel sehen
+und die Erde draußen, es fühlte sich wie im Käfig hinter den großen
+Vorhängen. Es konnte diese nicht wegschieben; so kroch es dahinter,
+um an ein Fenster zu kommen. Aber dieses war so hoch, dass Heidi
+nur gerade mit dem Kopf so weit hinaufreichte, dass es durchsehen
+konnte. Aber Heidi fand nicht, was es suchte. Es lief von einem
+Fenster zum anderen und dann wieder zum ersten zurück; aber immer
+war dasselbe vor seinen Augen, Mauern und Fenster und wieder Mauern
+und dann wieder Fenster. Es wurde Heidi ganz bange. Noch war es
+früh am Morgen, denn Heidi war gewöhnt, früh aufzustehen auf der
+Alm und dann sogleich hinauszulaufen vor die Tür und zu sehen,
+wie's draußen sei, ob der Himmel blau und die Sonne schon droben
+sei, ob die Tannen rauschen und die kleinen Blumen schon die Augen
+offen haben. Wie das Vögelein, das zum ersten Mal in seinem schön
+glänzenden Gefängnis sitzt, hin und her schießt und bei allen
+Stäben probiert, ob es nicht dazwischen durchschlüpfen und in die
+Freiheit hinausfliegen könne, so lief Heidi immer von dem einen
+Fenster zum anderen, um zu probieren, ob es nicht aufgemacht werden
+könne, denn dann musste man doch etwas anderes sehen als Mauern und
+Fenster, da musste doch unten der Erdboden, das grüne Gras und der
+letzte schmelzende Schnee an den Abhängen zum Vorschein kommen, und
+Heidi sehnte sich, das zu sehen. Aber die Fenster blieben fest
+verschlossen, wie sehr auch das Kind drehte und zog und von unten
+suchte, die kleinen Finger unter die Rahmen einzutreiben, damit es
+Kraft hätte, sie aufzudrücken; es blieb alles eisenfest aufeinander
+sitzen. Nach langer Zeit, als Heidi einsah, dass alle
+Anstrengungen nichts halfen, gab es seinen Plan auf und überdachte
+nun, wie es wäre, wenn es vor das Haus hinausginge und hintenherum,
+bis es auf den Grasboden käme, denn es erinnerte sich, dass es
+gestern Abend vorn am Haus nur über Steine gekommen war. Jetzt
+klopfte es an seiner Tür und unmittelbar darauf steckte Tinette den
+Kopf herein und sagte kurz: "Frühstück bereit!"
+</p>
+
+<p>
+Heidi verstand keineswegs eine Einladung unter diesen Worten; auf
+dem spöttischen Gesicht der Tinette stand viel mehr eine Warnung,
+ihr nicht zu nah zu kommen, als eine freundliche Einladung
+geschrieben, und das las Heidi deutlich von dem Gesicht und
+richtete sich danach. Es nahm den kleinen Schemel unter dem Tisch
+empor, stellte ihn in eine Ecke, setzte sich darauf und wartete so
+ganz still ab, was nun kommen würde. Nach einiger Zeit kam etwas
+mit ziemlichem Geräusch, es war Fräulein Rottenmeier, die schon
+wieder in Aufregung geraten war und in Heidis Stube hineinrief:
+"Was ist mit dir, Adelheid? Begreifst du nicht, was ein Frühstück
+ist? Komm herüber!"
+</p>
+
+<p>
+Das verstand nun Heidi und folgte sogleich nach. Im Esszimmer saß
+Klara schon lang an ihrem Platz und begrüßte Heidi freundlich,
+machte auch ein viel vergnügteres Gesicht als sonst gewöhnlich,
+denn sie sah voraus, dass heute wieder allerlei Neues geschehen
+würde. Das Frühstück ging nun ohne Störung vor sich; Heidi aß ganz
+anständig sein Butterbrot, und wie alles zu Ende war, wurde Klara
+wieder ins Studierzimmer hinübergerollt und Heidi wurde von
+Fräulein Rottenmeier angewiesen, nachzufolgen und bei Klara zu
+bleiben, bis der Herr Kandidat kommen würde, um die
+Unterrichtsstunden zu beginnen. Als die beiden Kinder allein waren,
+sagte Heidi sogleich: "Wie kann man hinaussehen hier und ganz
+hinunter auf den Boden?"
+</p>
+
+<p>
+"Man macht ein Fenster auf und guckt hinaus", antwortete Klara
+belustigt.
+</p>
+
+<p>
+"Man kann diese Fenster nicht aufmachen", versetzte Heidi traurig.
+</p>
+
+<p>
+"Doch, doch", versicherte Klara, "nur du noch nicht, und ich kann
+dir auch nicht helfen; aber wenn du einmal den Sebastian siehst, so
+macht er dir schon eines auf."
+</p>
+
+<p>
+Das war eine große Erleichterung für Heidi zu wissen, dass man doch
+die Fenster öffnen und hinausschauen könne, denn noch war es ganz
+unter dem Druck des Gefangenseins von seinem Zimmer her. Klara
+fing nun an, Heidi zu fragen, wie es bei ihm zu Hause sei, und
+Heidi erzählte mit Freuden von der Alm und den Geißen und der Weide
+und allem, was ihm lieb war.
+</p>
+
+<p>
+Unterdessen war der Herr Kandidat angekommen; aber Fräulein
+Rottenmeier führte ihn nicht, wie gewöhnlich, ins Studierzimmer,
+denn sie musste sich erst aussprechen und geleitete ihn zu diesem
+Zweck ins Esszimmer, wo sie sich vor ihn hinsetzte und ihm in
+großer Aufregung ihre bedrängte Lage schilderte und wie sie in
+diese hineingekommen war.
+</p>
+
+<p>
+Sie hatte nämlich vor einiger Zeit Herrn Sesemann nach Paris
+geschrieben, wo er eben verweilte, seine Tochter habe längst
+gewünscht, es möchte eine Gespielin für sie ins Haus aufgenommen
+werden, und auch sie selbst glaube, dass eine solche in den
+Unterrichtsstunden ein Sporn, in der übrigen Zeit eine anregende
+Gesellschaft für Klara sein würde. Eigentlich war die Sache für
+Fräulein Rottenmeier selbst sehr wünschbar, denn sie wollte gern,
+dass jemand da sei, der ihr die Unterhaltung der kranken Klara
+abnehme, wenn es ihr zu viel war, was öfters geschah. Herr
+Sesemann hatte geantwortet, er erfülle gern den Wunsch seiner
+Tochter, doch mit der Bedingung, dass eine solche Gespielin in
+allem ganz gehalten werde wie jene, er wolle keine Kinderquälerei
+in seinem Hause--"was freilich eine sehr unnütze Bemerkung von dem
+Herrn war", setzte Fräulein Rottenmeier hinzu, "denn wer wollte
+Kinder quälen!" Nun aber erzählte sie weiter, wie ganz
+erschrecklich sie hineingefallen sei mit dem Kinde, und führte alle
+Beispiele von seinem völlig begriffslosen Dasein an, die es bis
+jetzt geliefert hatte, dass nicht nur der Unterricht des Herrn
+Kandidaten buchstäblich beim Abc anfangen müsse, sondern dass auch
+sie auf jedem Punkte der menschlichen Erziehung mit dem Uranfang zu
+beginnen hätte. Aus dieser unheilvollen Lage sehe sie nur ein
+Rettungsmittel: Wenn der Herr Kandidat erklären werde, zwei so
+verschiedene Wesen könnten nicht miteinander unterrichtet werden
+ohne großen Schaden des vorgerückteren Teiles; das wäre für Herrn
+Sesemann ein triftiger Grund, die Sache rückgängig zu machen, und
+so würde er zugeben, dass das Kind gleich wieder dahin
+zurückgeschickt würde, woher es gekommen war; ohne seine Zustimmung
+aber dürfte sie das nicht unternehmen, nun der Hausherr wisse, dass
+das Kind angekommen sei. Aber der Herr Kandidat war behutsam und
+niemals einseitig im Urteilen. Er tröstete Fräulein Rottenmeier
+mit vielen Worten und der Ansicht, wenn die junge Tochter auf der
+einen Seite so zurück sei, so möchte sie auf der anderen umso
+geförderter sein, was bei einem geregelten Unterricht bald ins
+Gleichgewicht kommen werde. Als Fräulein Rottenmeier sah, dass der
+Herr Kandidat sie nicht unterstützen, sondern seinen Abc-Unterricht
+übernehmen wollte, machte sie ihm die Tür zum Studierzimmer auf,
+und nachdem er hereingetreten war, schloss sie schnell hinter ihm
+zu und blieb auf der anderen Seite, denn vor dem Abc hatte sie
+einen Schrecken. Sie ging jetzt mit großen Schritten im Zimmer auf
+und nieder, denn sie hatte zu überlegen, wie die Dienstboten
+Adelheid zu benennen hätten. Herr Sesemann hatte ja geschrieben,
+sie müsste wie seine Tochter gehalten werden, und dieses Wort
+musste sich hauptsächlich auf das Verhältnis zu den Dienstboten
+beziehen, dachte Fräulein Rottenmeier. Sie konnte aber nicht lange
+ungestört überlegen, denn auf einmal ertönte drinnen im
+Studierzimmer ein erschreckliches Gekrache fallender Gegenstände
+und dann ein Hilferuf nach Sebastian. Sie stürzte hinein. Da lag
+auf dem Boden alles übereinander, die sämtlichen Studien-
+Hilfsmittel, Bücher, Hefte, Tintenfass und obendrauf der
+Tischteppich, unter dem ein schwarzes Tintenbächlein hervorfloss,
+die ganze Stube entlang. Heidi war verschwunden.
+</p>
+
+<p>
+"Da haben wir's", rief Fräulein Rottenmeier händeringend aus.
+"Teppich, Bücher, Arbeitskorb, alles in der Tinte! Das ist noch
+nie geschehen! Das ist das Unglückswesen, da ist kein Zweifel!"
+</p>
+
+<p>
+Der Herr Kandidat stand sehr erschrocken da und schaute auf die
+Verwüstung, die allerdings nur (eine) Seite hatte und eine recht
+bestürzende. Klara dagegen verfolgte mit vergnügtem Gesicht die
+ungewöhnlichen Ereignisse und deren Wirkungen und sagte nun
+erklärend: "Ja, Heidi hat's gemacht, aber nicht mit Absicht, es
+muss gewiss nicht gestraft werden, es war nur so schrecklich eilig,
+fortzukommen, und riss den Teppich mit, und so fiel alles
+hintereinander auf den Boden. Es fuhren viele Wagen hintereinander
+vorbei, darum ist es so fortgeschossen; es hat vielleicht noch nie
+eine Kutsche gesehen."
+</p>
+
+<p>
+"Da, ist's nicht, wie ich sagte, Herr Kandidat? Nicht (einen)
+Urbegriff hat das Wesen! Keine Ahnung davon, was eine
+Unterrichtsstunde ist, dass man dabei zuzuhören und still zu sitzen
+hat. Aber wo ist das Unheil bringende Ding hin? Wenn es
+fortgelaufen wäre! Was würde mir Herr Sesemann--"
+</p>
+
+<p>
+Fräulein Rottenmeier lief hinaus und die Treppe hinunter. Hier,
+unter der geöffneten Haustür, stand Heidi und guckte ganz verblüfft
+die Straße auf und ab.
+</p>
+
+<p>
+"Was ist denn? Was fällt dir denn ein? Wie kannst du so
+davonlaufen!", fuhr Fräulein Rottenmeier das Kind an.
+</p>
+
+<p>
+"Ich habe die Tannen rauschen gehört, aber ich weiß nicht, wo sie
+stehen, und höre sie nicht mehr", antwortete Heidi und schaute
+enttäuscht nach der Seite hin, wo das Rollen der Wagen verhallt war,
+das in Heidis Ohren dem Tosen des Föhns in den Tannen ähnlich
+geklungen hatte, so dass es in höchster Freude dem Ton nachgerannt
+war.
+</p>
+
+<p>
+"Tannen! Sind wir im Wald? Was sind das für Einfälle! Komm
+herauf und sieh, was du angerichtet hast!" Damit stieg Fräulein
+Rottenmeier wieder die Treppe hinan; Heidi folgte ihr und stand nun
+sehr verwundert vor der großen Verheerung, denn es hatte nicht
+gemerkt, was es alles mitriss vor Freude und Eile, die Tannen zu
+hören.
+</p>
+
+<p>
+"Das hast du einmal getan, ein zweites Mal tust du's nicht wieder",
+sagte Fräulein Rottenmeier, auf den Boden zeigend; "zum Lernen
+sitzt man still auf seinem Sessel und gibt Acht. Kannst du das
+nicht selbst fertig bringen, so muss ich dich an deinen Stuhl
+festbinden. Kannst du das verstehen?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja", entgegnete Heidi, "aber ich will schon festsitzen." Denn
+jetzt hatte es begriffen, dass es eine Regel ist, in einer
+Unterrichtsstunde still zu sitzen.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt mussten Sebastian und Tinette hereinkommen, um die Ordnung
+wiederherzustellen. Der Herr Kandidat entfernte sich, denn der
+weitere Unterricht musste nun aufgegeben werden. Zum Gähnen war
+heute gar keine Zeit gewesen.
+</p>
+
+<p>
+Am Nachmittag musste Klara immer eine Zeit lang ruhen und Heidi
+hatte alsdann seine Beschäftigung selbst zu wählen; so hatte
+Fräulein Rottenmeier ihm am Morgen erklärt. Als nun nach Tisch
+Klara sich in ihrem Sessel zur Ruhe gelegt hatte, ging Fräulein
+Rottenmeier nach ihrem Zimmer, und Heidi sah, dass nun die Zeit da
+war, da es seine Beschäftigung selbst wählen konnte. Das war dem
+Heidi sehr erwünscht, denn es hatte schon immer im Sinn, etwas zu
+unternehmen; es musste aber Hilfe dazu haben und stellte sich darum
+vor das Esszimmer mitten auf den Korridor, damit die Persönlichkeit,
+die es zu beraten gedachte, ihm nicht entgehen könne. Richtig,
+nach kurzer Zeit kam Sebastian die Treppe herauf mit dem großen
+Teebrett auf den Armen, denn er brachte das Silberzeug aus der
+Küche herauf, um es im Schrank des Esszimmers zu verwahren. Als er
+auf der letzten Stufe der Treppe angekommen war, trat Heidi vor ihn
+hin und sagte mit großer Deutlichkeit: "Sie oder Er!"
+</p>
+
+<p>
+Sebastian riss die Augen so weit auf, als es nur möglich war, und
+sagte ziemlich barsch: "Was soll das heißen, Mamsell?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich möchte nur gern etwas fragen, aber es ist gewiss nichts Böses
+wie heute Morgen", fügte Heidi beschwichtigend hinzu, denn es
+merkte, dass Sebastian ein wenig erbittert war, und dachte, es
+komme noch von der Tinte am Boden her.
+</p>
+
+<p>
+"So, und warum muss es denn heißen Sie oder Er, das möcht ich
+zuerst wissen", gab Sebastian im gleichen barschen Ton zurück.
+</p>
+
+<p>
+"Ja, so muss ich jetzt immer sagen", versicherte Heidi; "Fräulein
+Rottenmeier hat es befohlen."
+</p>
+
+<p>
+Jetzt lachte Sebastian so laut auf, dass Heidi ihn ganz verwundert
+ansehen musste, denn es hatte nichts Lustiges bemerkt; aber
+Sebastian hatte auf einmal begriffen, was Fräulein Rottenmeier
+befohlen hatte, und sagte nun sehr erlustigt: "Schon recht, so
+fahre die Mamsell nur zu."
+</p>
+
+<p>
+"Ich heiße gar nicht Mamsell", sagte nun Heidi seinerseits ein
+wenig geärgert; "ich heiße Heidi."
+</p>
+
+<p>
+"Ist schon recht; die gleiche Dame hat aber befohlen, dass ich
+Mamsell sage", erklärte Sebastian.
+</p>
+
+<p>
+"Hat sie? Ja, dann muss ich schon so heißen", sagte Heidi mit
+Ergebung, denn es hatte wohl gemerkt, dass alles so geschehen
+musste, wie Fräulein Rottenmeier befahl.
+</p>
+
+<p>
+"Jetzt habe ich schon drei Namen", setzte es mit einem Seufzer
+hinzu.
+</p>
+
+<p>
+"Was wollte die kleine Mamsell denn fragen?", fragte Sebastian
+jetzt, indem er, ins Esszimmer eingetreten, sein Silberzeug im
+Schrank zurechtlegte.
+</p>
+
+<p>
+"Wie kann man ein Fenster aufmachen, Sebastian?"
+</p>
+
+<p>
+"So, gerade so", und er machte den großen Fensterflügel auf.
+</p>
+
+<p>
+Heidi trat heran, aber es war zu klein, um etwas sehen zu können;
+es langte nur bis zum Gesims hinauf.
+</p>
+
+<p>
+"Da, so kann das Mamsellchen einmal hinausgucken und sehen, was
+unten ist", sagte Sebastian, indem er einen hohen hölzernen Schemel
+herbeigeholt hatte und hinstellte. Hoch erfreut stieg Heidi hinauf
+und konnte endlich den ersehnten Blick durch das Fenster tun. Aber
+mit dem Ausdruck der größten Enttäuschung zog es sogleich den Kopf
+wieder zurück.
+</p>
+
+<p>
+"Man sieht nur die steinerne Straße hier, sonst gar nichts", sagte
+das Kind bedauerlich; "aber wenn man um das ganze Haus herumgeht,
+was sieht man dann auf der anderen Seite, Sebastian?"
+</p>
+
+<p>
+"Gerade dasselbe", gab dieser zur Antwort.
+</p>
+
+<p>
+"Aber wohin kann man denn gehen, dass man weit, weit hinuntersehen
+kann über das ganze Tal hinab?"
+</p>
+
+<p>
+"Da muss man auf einen hohen Turm hinaufsteigen, einen Kirchturm,
+so einen, wie der dort ist mit der goldenen Kugel oben drauf. Da
+guckt man von oben herunter und sieht weit über alles weg."
+</p>
+
+<p>
+Jetzt stieg Heidi eilig von seinem Schemel herunter, rannte zur Tür
+hinaus, die Treppe hinunter und trat auf die Straße hinaus. Aber
+die Sache ging nicht, wie Heidi sich vorgestellt hatte. Als es aus
+dem Fenster den Turm gesehen hatte, kam es ihm vor, es könne nur
+über die Straße gehen, so müsste er gleich vor ihm stehen. Nun
+ging Heidi die ganze Straße hinunter, aber es kam nicht an den Turm,
+konnte ihn auch nirgends mehr entdecken und kam nun in eine andere
+Straße hinein und weiter und weiter, aber immer noch sah es den
+Turm nicht. Es gingen viele Leute an ihm vorbei, aber die waren
+alle so eilig, dass Heidi dachte, sie hätten nicht Zeit, ihm
+Bescheid zu geben. Jetzt sah es an der nächsten Straßenecke einen
+Jungen stehen, der eine kleine Drehorgel auf dem Rücken und ein
+ganz kurioses Tier auf dem Arme trug. Heidi lief zu ihm hin und
+fragte: "Wo ist der Turm mit der goldenen Kugel zuoberst?"
+</p>
+
+<p>
+"Weiß nicht", war die Antwort.
+</p>
+
+<p>
+"Wen kann ich denn fragen, wo er sei?", fragte Heidi weiter.
+</p>
+
+<p>
+"Weiß nicht."
+</p>
+
+<p>
+"Weißt du keine andere Kirche mit einem hohen Turm?"
+</p>
+
+<p>
+"Freilich weiß ich eine."
+</p>
+
+<p>
+"So komm und zeige mir sie."
+</p>
+
+<p>
+"Zeig du zuerst, was du mir dafür gibst." Der Junge hielt seine
+Hand hin. Heidi suchte in seiner Tasche herum. Jetzt zog es ein
+Bildchen hervor, darauf ein schönes Kränzchen von roten Rosen
+gemalt war; erst sah es noch eine kleine Weile darauf hin, denn es
+reute Heidi ein wenig. Erst heute Morgen hatte Klara es ihm
+geschenkt; aber hinuntersehen ins Tal, über die grünen Abhänge!
+"Da", sagte Heidi und hielt das Bildchen hin, "willst du das?"
+</p>
+
+<p>
+Der Junge zog die Hand zurück und schüttelte den Kopf.
+</p>
+
+<p>
+"Was willst du denn?", fragte Heidi und steckte vergnügt sein
+Bildchen wieder ein.
+</p>
+
+<p>
+"Geld."
+</p>
+
+<p>
+"Ich habe keins, aber Klara hat, sie gibt mir dann schon; wie viel
+willst du?"
+</p>
+
+<p>
+"Zwanzig Pfennige."
+</p>
+
+<p>
+"So komm jetzt."
+</p>
+
+<p>
+Nun wanderten die beiden eine lange Straße hin, und auf dem Wege
+fragte Heidi den Begleiter, was er auf dem Rücken trage, und er
+erklärte ihm, es sei eine schöne Orgel unter dem Tuch, die mache
+eine prachtvolle Musik, wenn er daran drehe.
+</p>
+
+<p>
+Auf einmal standen sie vor einer alten Kirche mit hohem Turm; der
+Junge stand still und sagte: "Da."
+</p>
+
+<p>
+"Aber wie komm ich da hinein?", fragte Heidi, als es die fest
+verschlossenen Türen sah.
+</p>
+
+<p>
+"Weiß nicht", war wieder die Antwort.
+</p>
+
+<p>
+"Glaubst du, man könne hier klingeln, so wie man dem Sebastian tut?"
+</p>
+
+<p>
+"Weiß nicht."
+</p>
+
+<p>
+Heidi hatte eine Klingel entdeckt an der Mauer und zog jetzt aus
+allen Kräften daran.
+</p>
+
+<p>
+"Wenn ich dann hinaufgehe, so musst du warten hier unten, ich weiß
+jetzt den Weg nicht mehr zurück, du musst mir ihn dann zeigen."
+</p>
+
+<p>
+"Was gibst du mir dann?"
+</p>
+
+<p>
+"Was muss ich dir dann wieder geben?"
+</p>
+
+<p>
+"Wieder zwanzig Pfennige."
+</p>
+
+<p>
+Jetzt wurde das alte Schloss inwendig umgedreht und die knarrende
+Tür geöffnet; ein alter Mann trat heraus und schaute erst
+verwundert, dann ziemlich erzürnt auf die Kinder und fuhr sie an:
+"Was untersteht ihr euch, mich da herunterzuklingeln? Könnt ihr
+nicht lesen, was über der Klingel steht: 'Für solche, die den
+Turm besteigen wollen'?"
+</p>
+
+<p>
+Der Junge wies mit dem Zeigefinger auf Heidi und sagte kein Wort.
+Heidi antwortete: "Eben auf den Turm wollt ich."
+</p>
+
+<p>
+"Was hast du droben zu tun?", fragte der Türmer; "hat dich jemand
+geschickt?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein", entgegnete Heidi, "ich möchte nur hinaufgehen, dass ich
+hinuntersehen kann."
+</p>
+
+<p>
+"Macht, dass ihr heimkommt, und probiert den Spaß nicht wieder,
+oder ihr kommt nicht gut weg zum zweiten Mal!" Damit kehrte sich
+der Türmer um und wollte die Tür zumachen.
+</p>
+
+<p>
+Aber Heidi hielt ihn ein wenig am Rockschoß und sagte bittend: "Nur
+ein einziges Mal!"
+</p>
+
+<p>
+Er sah sich um, und Heidis Augen schauten so flehentlich zu ihm auf,
+dass es ihn ganz umstimmte; er nahm das Kind bei der Hand und
+sagte freundlich: "Wenn dir so viel daran gelegen ist, so komm mit
+mir!"
+</p>
+
+<p>
+Der Junge setzte sich auf die steinernen Stufen vor der Tür nieder
+und zeigte, dass er nicht mitwollte.
+</p>
+
+<p>
+Heidi stieg an der Hand des Türmers viele, viele Treppen hinauf;
+dann wurden diese immer schmäler, und endlich ging es noch ein ganz
+enges Treppchen hinauf, und nun waren sie oben. Der Türmer hob
+Heidi vom Boden auf und hielt es an das offene Fenster.
+</p>
+
+<p>
+"Da, jetzt guck hinunter", sagte er.
+</p>
+
+<p>
+Heidi sah auf ein Meer von Dächern, Türmen und Schornsteinen nieder;
+es zog bald seinen Kopf zurück und sagte niedergeschlagen: "Es ist
+gar nicht, wie ich gemeint habe."
+</p>
+
+<p>
+"Siehst du wohl? Was versteht so ein Kleines von Aussicht! So,
+komm nun wieder herunter und läute nie mehr an einem Turm!"
+</p>
+
+<p>
+Der Türmer stellte Heidi wieder auf den Boden und stieg ihm voran
+die schmalen Stufen hinab. Wo diese breiter wurden, kam links die
+Tür, die in des Türmers Stübchen führte, und nebenan ging der Boden
+bis unter das schräge Dach hin. Dort hinten stand ein großer Korb
+und davor saß eine dicke graue Katze und knurrte, denn in dem Korb
+wohnte ihre Familie und sie wollte jeden Vorübergehenden davor
+warnen, sich in ihre Familienangelegenheiten zu mischen. Heidi
+stand still und schaute verwundert hinüber, eine so mächtige Katze
+hatte es noch nie gesehen; in dem alten Turm wohnten aber ganze
+Herden von Mäusen, so holte sich die Katze ohne Mühe jeden Tag ein
+halbes Dutzend Mäusebraten. Der Türmer sah Heidis Bewunderung und
+sagte: "Komm, sie tut dir nichts, wenn ich dabei bin; du kannst die
+Jungen ansehen."
+</p>
+
+<p>
+Heidi trat an den Korb heran und brach in ein großes Entzücken aus.
+</p>
+
+<p>
+"Oh, die netten Tierlein! Die schönen Kätzchen!", rief es ein Mal
+ums andere und sprang hin und her um den Korb herum, um auch recht
+alle komischen Gebärden und Sprünge zu sehen, welche die sieben
+oder acht jungen Kätzchen vollführten, die in dem Korb rastlos
+übereinanderhin krabbelten, sprangen, fielen.
+</p>
+
+<p>
+"Willst du eins haben?", fragte der Türmer, der Heidis
+Freudensprüngen vergnügt zuschaute.
+</p>
+
+<p>
+"Selbst für mich? Für immer?", fragte Heidi gespannt und konnte
+das große Glück fast nicht glauben.
+</p>
+
+<p>
+"Ja, gewiss, du kannst auch noch mehr haben, du kannst sie alle
+zusammen haben, wenn du Platz hast", sagte der Mann, dem es gerade
+recht war, seine kleinen Katzen loszuwerden, ohne dass er ihnen ein
+Leid antun musste.
+</p>
+
+<p>
+Heidi war im höchsten Glück. In dem großen Hause hatten ja die
+Kätzchen so viel Platz, und wie musste Klara erstaunt und erfreut
+sein, wenn die niedlichen Tierchen ankamen!
+</p>
+
+<p>
+"Aber wie kann ich sie mitnehmen?", fragte nun Heidi und wollte
+schnell einige fangen mit seinen Händen, aber die dicke Katze
+sprang ihm auf den Arm und fauchte es so grimmig an, dass es sehr
+erschrocken zurückfuhr.
+</p>
+
+<p>
+"Ich will sie dir bringen, sag nur, wohin", sagte der Türmer, der
+die alte Katze nun streichelte, um sie wieder gut zu machen, denn
+sie war seine Freundin und hatte schon viele Jahre mit ihm auf dem
+Turm gelebt.
+</p>
+
+<p>
+"Zum Herrn Sesemann in dem großen Haus, wo an der Haustür ein
+goldener Hundskopf ist mit einem dicken Ring im Maul", erklärte
+Heidi.
+</p>
+
+<p>
+Es hätte nicht einmal so viel gebraucht für den Türmer, der schon
+seit langen Jahren auf dem Turm saß und jedes Haus weithin kannte,
+und dazu war der Sebastian noch ein alter Bekannter von ihm.
+</p>
+
+<p>
+"Ich weiß schon", bemerkte er; "aber wem muss ich die Dinger
+bringen, bei wem muss ich nachfragen, du gehörst doch nicht Herrn
+Sesemann?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, aber die Klara, sie hat eine so große Freude, wenn die
+Kätzchen kommen!"
+</p>
+
+<p>
+Der Türmer wollte nun weitergehen, aber Heidi konnte sich von dem
+unterhaltenden Schauspiel fast nicht trennen.
+</p>
+
+<p>
+"Wenn ich nur schon eins oder zwei mitnehmen könnte! Eins für mich
+und eins für Klara, kann ich nicht?"
+</p>
+
+<p>
+"So wart ein wenig", sagte der Türmer, trug dann die alte Katze
+behutsam in sein Stübchen hinein und stellte sie an das
+Essschüsselchen hin, schloss die Tür vor ihr zu und kam zurück: "So,
+nun nimm zwei!"
+</p>
+
+<p>
+Heidis Augen leuchteten vor Wonne. Es las ein weißes und dann ein
+gelb und weiß gestreiftes aus und steckte eins in die rechte und
+eins in die linke Tasche. Nun ging's die Treppe hinunter.
+</p>
+
+<p>
+Der Junge saß noch auf den Stufen draußen, und als nun der Türmer
+hinter Heidi die Tür zugeschlossen hatte, sagte das Kind: "Welchen
+Weg müssen wir nun zu Herrn Sesemanns Haus?"
+</p>
+
+<p>
+"Weiß nicht", war die Antwort.
+</p>
+
+<p>
+Heidi fing nun an zu beschreiben, was es wusste, die Haustür und
+die Fenster und die Treppen, aber der Junge schüttelte zu allem den
+Kopf, es war ihm alles unbekannt.
+</p>
+
+<p>
+"Siehst du", fuhr dann Heidi im Beschreiben fort, "aus einem
+Fenster sieht man ein großes, großes, graues Haus und das Dach geht
+so"--Heidi zeichnete hier mit dem Zeigefinger große Zacken in die
+Luft hinaus.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt sprang der Junge auf, er mochte ähnliche Merkmale haben,
+seine Wege zu finden. Er lief nun in einem Zug drauflos und Heidi
+hinter ihm drein, und in kurzer Zeit standen sie richtig vor der
+Haustür mit dem großen Messing-Tierkopf. Heidi zog die Glocke.
+Bald erschien Sebastian, und wie er Heidi erblickte, rief er
+drängend: "Schnell! Schnell!"
+</p>
+
+<p>
+Heidi sprang eilig herein, und Sebastian schlug die Tür zu; den
+Jungen, der verblüfft draußen stand, hatte er gar nicht bemerkt.
+</p>
+
+<p>
+"Schnell, Mamsellchen", drängte Sebastian weiter, "gleich ins
+Esszimmer hinein, sie sitzen schon am Tisch. Fräulein Rottenmeier
+sieht aus wie eine geladene Kanone; was stellt aber auch die kleine
+Mamsell an, so fortzulaufen?"
+</p>
+
+<p>
+Heidi war ins Zimmer getreten. Fräulein Rottenmeier blickte nicht
+auf; Klara sagte auch nichts, es war eine etwas unheimliche Stille.
+Sebastian rückte Heidi den Sessel zurecht. Jetzt, wie es auf
+seinem Stuhl saß, begann Fräulein Rottenmeier mit strengem Gesicht
+und einem ganz feierlich-ernsten Ton: "Adelheid, ich werde nachher
+mit dir sprechen, jetzt nur so viel: Du hast dich sehr ungezogen,
+wirklich strafbar benommen, dass du das Haus verlässt, ohne zu
+fragen, ohne dass jemand ein Wort davon wusste, und herumstreichst
+bis zum späten Abend; es ist eine völlig beispiellose Aufführung."
+</p>
+
+<p>
+"Miau", tönte es wie als Antwort zurück.
+</p>
+
+<p>
+Aber jetzt stieg der Zorn der Dame. "Wie, Adelheid", rief sie in
+immer höheren Tönen, "du unterstehst dich noch, nach aller
+Ungezogenheit einen schlechten Spaß zu machen? Hüte dich wohl, sag
+ich dir!"
+</p>
+
+<p>
+"Ich mache", fing Heidi an--"Miau! Miau!"
+</p>
+
+<p>
+Sebastian warf fast seine Schüssel auf den Tisch und stürzte hinaus.
+</p>
+
+<p>
+"Es ist genug", wollte Fräulein Rottenmeier rufen; aber vor
+Aufregung tönte ihre Stimme gar nicht mehr. "Steh auf und verlass
+das Zimmer."
+</p>
+
+<p>
+Heidi stand erschrocken von seinem Sessel auf und wollte noch
+einmal erklären: "Ich mache gewiss"--"Miau! Miau! Miau!"
+</p>
+
+<p>
+"Aber Heidi", sagte jetzt Klara, "wenn du doch siehst, dass du
+Fräulein Rottenmeier so böse machst, warum machst du immer wieder
+'miau'?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich mache nicht, die Kätzlein machen", konnte Heidi endlich
+ungestört hervorbringen.
+</p>
+
+<p>
+"Wie? Was? Katzen? junge Katzen?", schrie Fräulein Rottenmeier
+auf. "Sebastian! Tinette! Sucht die greulichen Tiere! Schafft
+sie fort!" Damit stürzte die Dame ins Studierzimmer hinein und
+riegelte die Türen zu, um sicherer zu sein, denn junge Katzen waren
+für Fräulein Rottenmeier das Schrecklichste in der Schöpfung.
+Sebastian stand draußen vor der Tür und musste erst fertig lachen,
+eh er wieder eintreten konnte. Er hatte, als er Heidi bediente,
+einen kleinen Katzenkopf aus dessen Tasche herausgucken gesehen und
+sah dem Spektakel entgegen, und wie er nun ausbrach, konnte er sich
+nicht mehr halten, kaum noch seine Schüssel auf den Tisch setzen.
+Endlich trat er denn wieder gefasst ins Zimmer herein, nachdem die
+Hilferufe der geängsteten Dame schon längere Zeit verklungen waren.
+Jetzt sah es ganz still und friedlich aus drinnen; Klara hielt die
+Kätzchen auf ihrem Schoß, Heidi kniete neben ihr und beide spielten
+mit großer Wonne mit den zwei winzigen, graziösen Tierchen.
+</p>
+
+<p>
+"Sebastian", sagte Klara zu dem Eintretenden, "Sie müssen uns
+helfen; Sie müssen ein Nest finden für die Kätzchen, wo Fräulein
+Rottenmeier sie nicht sieht, denn sie fürchtet sich vor ihnen und
+will sie forthaben; aber wir wollen die niedlichen Tierchen
+behalten und sie immer hervorholen, sobald wir allein sind. Wo
+kann man sie hintun?"
+</p>
+
+<p>
+"Das will ich schon besorgen, Fräulein Klara", entgegnete Sebastian
+bereitwillig; "ich mache ein schönes Bettchen in einem Korb und
+stelle den an einen Ort, wo mir die furchtsame Dame nicht dahinter
+kommt, verlassen Sie sich auf mich." Sebastian ging gleich an die
+Arbeit und kicherte beständig vor sich hin, denn er dachte: "Das
+wird noch was absetzen!", und der Sebastian sah es nicht ungern,
+wenn Fräulein Rottenmeier ein wenig in Aufregung geriet.
+</p>
+
+<p>
+Nach längerer Zeit erst, als der Augenblick des Schlafengehens
+nahte, machte Fräulein Rottenmeier ein ganz klein wenig die Tür auf
+und rief durch das Spältchen heraus: "Sind die abscheulichen Tiere
+fortgeschafft?"
+</p>
+
+<p>
+"Jawohl! Jawohl!", gab Sebastian zurück, der sich im Zimmer zu
+schaffen gemacht hatte in Erwartung dieser Frage. Schnell und
+leise fasste er die beiden Kätzchen auf Klaras Schoß und verschwand
+damit.
+</p>
+
+<p>
+Die besondere Strafrede, die Fräulein Rottenmeier Heidi noch zu
+halten gedachte, verschob sie auf den folgenden Tag, denn heute
+fühlte sie sich zu erschöpft nach all den vorhergegangenen
+Gemütsbewegungen von Ärger, Zorn und Schrecken, die ihr Heidi ganz
+unwissentlich nacheinander verursacht hatte. Sie zog sich
+schweigend zurück, und Klara und Heidi folgten vergnügt nach, denn
+sie wussten ihre Kätzchen in einem guten Bett.
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap08"></a>
+Im Hause Sesemann geht's unruhig zu
+</h3>
+
+<p>
+Als Sebastian am folgenden Morgen dem Herrn Kandidaten die Haustür
+geöffnet und ihn zum Studierzimmer geführt hatte, zog schon wieder
+jemand die Hausglocke an, aber mit solcher Gewalt, dass Sebastian
+die Treppe völlig hinunterschoss, denn er dachte: "So schellt nur
+der Herr Sesemann selbst, er muss unerwartet nach Hause gekommen
+sein." Er riss die Tür auf--ein zerlumpter Junge mit einer
+Drehorgel auf dem Rücken stand vor ihm.
+</p>
+
+<p>
+"Was soll das heißen?", fuhr ihn Sebastian an. "Ich will dich
+lehren, Glocken herunterzureißen! Was hast du hier zu tun?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich muss zur Klara", war die Antwort.
+</p>
+
+<p>
+"Du ungewaschener Straßenkäfer du; kannst du nicht sagen '
+Fräulein Klara', wie unsereins tut? Was hast du bei Fräulein
+Klara zu tun?", fragte Sebastian barsch.
+</p>
+
+<p>
+"Sie ist mir vierzig Pfennige schuldig", erklärte der Junge.
+</p>
+
+<p>
+"Du bist, denk ich, nicht recht im Kopf! Wie weißt du überhaupt,
+dass ein Fräulein Klara hier ist?"
+</p>
+
+<p>
+"Gestern habe ich ihr den Weg gezeigt, macht zwanzig, und dann
+wieder zurück den Weg gezeigt, macht vierzig."
+</p>
+
+<p>
+"Da siehst du, was für Zeug du zusammenflunkerst; Fräulein Klara
+geht niemals aus, kann gar nicht gehen, mach, dass du dahin kommst,
+wo du hingehörst, bevor ich dir dazu verhelfe!"
+</p>
+
+<p>
+Aber der Junge ließ sich nicht einschüchtern; er blieb unbeweglich
+stehen und sagte trocken: "Ich habe sie doch gesehen auf der Straße,
+ich kann sie beschreiben: Sie hat kurzes, krauses Haar, das ist
+schwarz, und die Augen sind schwarz und der Rock ist braun, und sie
+kann nicht reden wie wir."
+</p>
+
+<p>
+"Oho", dachte jetzt Sebastian und kicherte in sich hinein, "das ist
+die kleine Mamsell, die hat wieder etwas angestellt." Dann sagte er,
+den Jungen hereinziehend: "'s ist schon recht, komm mir nur nach
+und warte vor der Tür, bis ich wieder herauskomme. Wenn ich dich
+dann einlasse, kannst du gleich etwas spielen; das Fräulein hört es
+gern."
+</p>
+
+<p>
+Oben klopfte er am Studierzimmer und wurde hereingerufen.
+</p>
+
+<p>
+"Es ist ein Junge da, der durchaus an Fräulein Klara selbst etwas
+zu bestellen hat", berichtete Sebastian.
+</p>
+
+<p>
+Klara war sehr erfreut über das außergewöhnliche Ereignis.
+</p>
+
+<p>
+"Er soll nur gleich hereinkommen", sagte sie, "nicht wahr, Herr
+Kandidat, wenn er doch mit mir selbst sprechen muss."
+</p>
+
+<p>
+Der Junge war schon eingetreten, und nach Anweisung fing er sofort
+seine Orgel zu drehen an. Fräulein Rottenmeier hatte, um dem Abc
+auszuweichen, sich im Esszimmer allerlei zu schaffen gemacht. Auf
+einmal horchte sie auf.--Kamen die Töne von der Straße her? Aber
+so nahe? Wie konnte vom Studierzimmer her eine Drehorgel ertönen?
+Und dennoch--wahrhaftig--sie stürzte durch das lange Esszimmer
+und riss die Tür auf. Da--unglaublich--da stand mitten im
+Studierzimmer ein zerlumpter Orgelspieler und drehte sein
+Instrument mit größter Emsigkeit. Der Herr Kandidat schien
+immerfort etwas sagen zu wollen, aber es wurde nichts vernommen.
+Klara und Heidi hörten mit ganz erfreuten Gesichtern der Musik zu.
+</p>
+
+<p>
+"Aufhören! Sofort aufhören!", rief Fräulein Rottenmeier ins Zimmer
+hinein. Ihre Stimme wurde übertönt von der Musik. Jetzt lief sie
+auf den Jungen zu--aber auf einmal hatte sie etwas zwischen den
+Füßen, sie sah auf den Boden: ein grausiges, schwarzes Tier kroch
+ihr zwischen den Füßen durch--eine Schildkröte. Jetzt tat
+Fräulein Rottenmeier einen Sprung in die Höhe, wie sie seit vielen
+Jahren keinen getan hatte, dann schrie sie aus Leibeskräften:
+"Sebastian! Sebastian!"
+</p>
+
+<p>
+Plötzlich hielt der Orgelspieler inne, denn diesmal hatte die
+Stimme die Musik übertönt. Sebastian stand draußen vor der halb
+offenen Tür und krümmte sich vor Lachen, denn er hatte zugesehen,
+wie der Sprung vor sich ging. Endlich kam er herein. Fräulein
+Rottenmeier war auf einen Stuhl niedergesunken.
+</p>
+
+<p>
+"Fort mit allem, Mensch und Tier! Schaffen Sie sie weg, Sebastian,
+sofort!", rief sie ihm entgegen. Sebastian gehorchte bereitwillig,
+zog den Jungen hinaus, der schnell seine Schildkröte erfasst hatte,
+drückte ihm draußen etwas in die Hand und sagte: "Vierzig für
+Fräulein Klara, und vierzig fürs Spielen, das hast du gut gemacht";
+damit schloss er hinter ihm die Haustür. Im Studierzimmer war es
+wieder ruhig geworden; die Studien wurden wieder fortgesetzt, und
+Fräulein Rottenmeier hatte sich nun auch festgesetzt in dem Zimmer,
+um durch ihre Gegenwart ähnliche Gräuel zu verhüten. Den Vorfall
+wollte sie nach den Unterrichtsstunden untersuchen und den
+Schuldigen so bestrafen, dass er daran denken würde.
+</p>
+
+<p>
+Schon wieder klopfte es an die Tür, und herein trat abermals
+Sebastian mit der Nachricht, es sei ein großer Korb gebracht worden,
+der sogleich an Fräulein Klara selbst abzugeben sei.
+</p>
+
+<p>
+"An mich?", fragte Klara erstaunt und äußerst neugierig, was das
+sein möchte; "zeigen Sie doch gleich einmal her, wie er aussieht."
+</p>
+
+<p>
+Sebastian brachte einen bedeckten Korb herein und entfernte sich
+dann eilig wieder.
+</p>
+
+<p>
+"Ich denke, erst wird der Unterricht beendet, dann der Korb
+ausgepackt", bemerkte Fräulein Rottenmeier.
+</p>
+
+<p>
+Klara konnte sich nicht vorstellen, was man ihr gebracht hatte; sie
+schaute sehr verlangend nach dem Korb.
+</p>
+
+<p>
+"Herr Kandidat", sagte sie, sich selbst in ihrem Deklinieren
+unterbrechend, "könnte ich nicht nur einmal schnell hineinsehen, um
+zu wissen, was drin ist, und dann gleich wieder fortfahren?"
+</p>
+
+<p>
+"In einer Hinsicht könnte man dafür, in einer anderen dawider sein",
+entgegnete der Herr Kandidat; "(dafür) spräche der Grund, dass,
+wenn nun Ihre ganze Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand gerichtet
+ist--"; die Rede konnte nicht beendigt werden. Der Deckel des
+Korbes saß nur lose darauf, und nun sprangen mit einem Mal ein,
+zwei drei und wieder zwei und immer noch mehr junge Kätzchen
+darunter hervor und ins Zimmer hinaus, und mit einer so
+unbegreiflichen Schnelligkeit fuhren sie überall herum, dass es war,
+als wäre das ganze Zimmer voll solcher Tierchen. Sie sprangen
+über die Stiefel des Herrn Kandidaten, bissen an seinen
+Beinkleidern, kletterten am Kleid von Fräulein Rottenmeier empor,
+krabbelten um ihre Füße herum, sprangen an Klaras Sessel hinauf,
+kratzten, krabbelten, miauten; es war ein arges Gewirre. Klara
+rief immerfort voller Entzücken: "Oh, die niedlichen Tierchen! Die
+lustigen Sprünge! Sieh! Sieh! Heidi, hier, dort, sieh dieses!"
+Heidi schoss ihnen vor Freude in alle Winkel nach. Der Herr
+Kandidat stand sehr verlegen am Tisch und zog bald den einen, bald
+den andern Fuß in die Höhe, um ihn dem unheimlichen Gekrabbel zu
+entziehen. Fräulein Rottenmeier saß erst sprachlos vor Entsetzen
+in ihrem Sessel, dann fing sie an aus Leibeskräften zu schreien:
+"Tinette! Tinette! Sebastian! Sebastian!", denn vom Sessel
+aufzustehen konnte sie unmöglich wagen, da konnten ja mit einem Mal
+alle die kleinen Scheusale an ihr emporspringen.
+</p>
+
+<p>
+Endlich kamen Sebastian und Tinette auf die wiederholten Hilferufe
+herbei, und jener packte gleich eins nach dem andern der kleinen
+Geschöpfe in den Korb hinein und trug sie auf den Estrich zu dem
+Katzenlager, das er für die zwei von gestern bereitet hatte.
+</p>
+
+<p>
+Auch am heutigen Tage hatte kein Gähnen während der
+Unterrichtsstunden stattgefunden. Am späten Abend, als Fräulein
+Rottenmeier sich von den Aufregungen des Morgens wieder hinlänglich
+erholt hatte, berief sie Sebastian und Tinette ins Studierzimmer
+herauf, um hier eine gründliche Untersuchung über die strafwürdigen
+Vorgänge anzustellen. Nun kam es denn heraus, dass Heidi auf
+seinem gestrigen Ausflug die sämtlichen Ereignisse vorbereitet und
+herbeigeführt hatte. Fräulein Rottenmeier saß weiß vor Entrüstung
+da und konnte erst keine Worte für ihre Empfindungen finden. Sie
+winkte mit der Hand, dass Sebastian und Tinette sich entfernen
+sollten. Jetzt wandte sie sich an Heidi, das neben Klaras Sessel
+stand und nicht recht begriff, was es verbrochen hatte.
+</p>
+
+<p>
+"Adelheid", begann sie mit strengem Ton, "ich weiß nur (eine)
+Strafe, die dir empfindlich sein könnte, denn du bist eine Barbarin;
+aber wir wollen sehen, ob du unten im dunklen Keller bei Molchen
+und Ratten nicht zahm wirst, dass du dir keine solchen Dinge mehr
+einfallen lässt."
+</p>
+
+<p>
+Heidi hörte still und verwundert sein Urteil an, denn in einem
+schreckhaften Keller war es noch nie gewesen, der anstoßende Raum
+in der Almhütte, den der Großvater Keller nannte, wo immer die
+fertigen Käse lagen und die frische Milch stand, war eher ein
+anmutiger und einladender Ort, und Ratten und Molche hatte es noch
+keine gesehen.
+</p>
+
+<p>
+Aber Klara erhob einen lauten Jammer: "Nein, nein, Fräulein
+Rottenmeier, man muss warten, bis der Papa da ist; er hat ja
+geschrieben, er komme nun bald, und dann will ich ihm alles
+erzählen, und er sagt dann schon, was mit Heidi geschehen soll."
+</p>
+
+<p>
+Gegen diesen Oberrichter durfte Fräulein Rottenmeier nichts
+einwenden, umso weniger, da er wirklich in Bälde zu erwarten war.
+Sie stand auf und sagte etwas grimmig: "Gut, Klara, aber auch ich
+werde ein Wort mit Herrn Sesemann sprechen." Damit verließ sie das
+Zimmer.
+</p>
+
+<p>
+Es verflossen nun ein paar ungestörte Tage, aber Fräulein
+Rottenmeier kam nicht mehr aus der Aufregung heraus, stündlich trat
+ihr die Täuschung vor Augen, die sie in Heidis Persönlichkeit
+erlebt hatte, und es war ihr, als sei seit seiner Erscheinung im
+Hause Sesemann alles aus den Fugen gekommen und komme nicht wieder
+hinein. Klara war sehr vergnügt; sie langweilte sich nie mehr,
+denn in den Unterrichtsstunden machte Heidi die kurzweiligsten
+Sachen; die Buchstaben machte es immer alle durcheinander und
+konnte sie nie kennen lernen, und wenn der Herr Kandidat mitten im
+Erklären und Beschreiben ihrer Formen war, um sie ihm anschaulicher
+zu machen und als Vergleichung etwa von einem Hörnchen oder einem
+Schnabel sprach dabei, rief es auf einmal in aller Freude aus: "Es
+ist eine Geiß!", oder: "Es ist ein Raubvogel!" Denn die
+Beschreibungen weckten in seinem Gehirn allerlei Vorstellungen, nur
+keine Buchstaben. In den späteren Nachmittagsstunden saß Heidi
+wieder bei Klara und erzählte ihr immer wieder von der Alm und dem
+Leben dort, so viel und so lange, bis das Verlangen darnach in ihm
+so brennend wurde, dass es immer zum Schluss versicherte: "Nun muss
+ich gewiss wieder heim! Morgen muss ich gewiss gehen!" Aber Klara
+beschwichtigte immer wieder diese Anfälle und bewies Heidi, dass es
+doch sicher dableiben müsse, bis der Papa komme; dann werde man
+schon sehen, wie es weitergehe. Wenn Heidi alsdann immer wieder
+nachgab und gleich wieder zufrieden war, so half ihm eine fröhliche
+Aussicht dazu, die es im Stillen hatte, dass mit jedem Tage, den es
+noch dablieb, sein Häuflein Brötchen für die Großmutter wieder um
+zwei größer würde, denn mittags und abends lag immer ein schönes
+Weißbrötchen bei seinem Teller; das steckte es gleich ein, denn es
+hätte das Brötchen nie essen können beim Gedanken, dass die
+Großmutter nie eines habe und das harte, schwarze Brot fast nicht
+mehr essen konnte. Nach Tisch saß Heidi jeden Tag ein paar Stunden
+lang ganz allein in seinem Zimmer und regte sich nicht, denn dass
+es in Frankfurt verboten war, nur so hinauszulaufen, wie es auf der
+Alm getan, das hatte es nun begriffen und tat es nie mehr. Mit
+Sebastian drüben im Esszimmer ein Gespräch führen durfte es auch
+nicht, das hatte Fräulein Rottenmeier auch verboten, und mit
+Tinette eine Unterhaltung zu probieren, daran kam ihm kein Sinn; es
+ging ihr immer scheu aus dem Wege, denn sie redete nur in
+höhnischem Ton mit ihm und spöttelte es fortwährend an, und Heidi
+verstand ihre Art ganz gut, und dass sie es nur immer ausspottete.
+So saß Heidi täglich da und hatte alle Zeit, sich auszudenken, wie
+nun die Alm wieder grün war und wie die gelben Blümchen im
+Sonnenschein glitzerten und wie alles leuchtete rings um die Sonne,
+der Schnee und die Berge und das ganze weite Tal, und Heidi konnte
+es manchmal fast nicht mehr aushalten vor Verlangen, wieder dort zu
+sein. Die Base hatte ja auch gesagt, es könne wieder heimgehen,
+wann es wolle. So kam es, dass Heidi eines Tages es nicht mehr
+aushielt; es packte in aller Eile seine Brötchen in das große rote
+Halstuch zusammen, setzte sein Strohhütchen auf und zog aus. Aber
+schon unter der Haustür traf es auf ein großes Reisehindernis, auf
+Fräulein Rottenmeier selbst, die eben von einem Ausgang
+zurückkehrte. Sie stand still und schaute in starrem Erstaunen
+Heidi von oben bis unten an, und ihr Blick blieb vorzüglich auf dem
+gefüllten roten Halstuch haften. Jetzt brach sie los.
+</p>
+
+<p>
+"Was ist das für ein Aufzug? Was heißt das überhaupt? Habe ich
+dir nicht streng verboten, je wieder herumzustreichen? Nun
+probierst du's doch wieder und dazu noch völlig aussehend wie eine
+Landstreicherin."
+</p>
+
+<p>
+"Ich wollte nicht herumstreichen, ich wollte nur heimgehen",
+entgegnete Heidi erschrocken.
+</p>
+
+<p>
+"Wie? Was? Heimgehen? Heimgehen wolltest du?" Fräulein
+Rottenmeier schlug die Hände zusammen vor Aufregung. "Fortlaufen!
+Wenn das Herr Sesemann wüsste! Fortlaufen aus seinem Hause! Mach
+nicht, dass er das je erfährt! Und was ist dir denn nicht recht in
+seinem Hause? Wirst du nicht viel besser behandelt, als du
+verdienst? Fehlt es dir an irgendetwas? Hast du je in deinem
+ganzen Leben eine Wohnung oder einen Tisch oder eine Bedienung
+gehabt, wie du hier hast? Sag!"
+</p>
+
+<p>
+"Nein", entgegnete Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"Das weiß ich wohl!", fuhr die Dame eifrig fort. "Nichts fehlt dir,
+gar nichts, du bist ein ganz unglaublich undankbares Kind, und vor
+lauter Wohlsein weißt du nicht, was du noch alles anstellen willst!"
+</p>
+
+<p>
+Aber jetzt kam dem Heidi alles obenauf, was in ihm war, und brach
+hervor: "Ich will ja nur heim, und wenn ich so lang nicht komme, so
+muss das Schneehöppli immer klagen, und die Großmutter erwartet
+mich, und der Distelfink bekommt die Rute, wenn der Geißenpeter
+keinen Käse bekommt, und hier kann man gar nie sehen, wie die Sonne
+gute Nacht sagt zu den Bergen; und wenn der Raubvogel in Frankfurt
+obenüber fliegen würde, so würde er noch viel lauter krächzen, dass
+so viele Menschen beieinander sitzen und einander bös machen und
+nicht auf den Felsen gehen, wo es einem wohl ist."
+</p>
+
+<p>
+"Barmherzigkeit, das Kind ist übergeschnappt!", rief Fräulein
+Rottenmeier aus und stürzte mit Schrecken die Treppe hinauf, wo sie
+sehr unsanft gegen den Sebastian rannte, der eben hinunter wollte.
+"Holen Sie auf der Stelle das unglückliche Wesen herauf!", rief sie
+ihm zu, indem sie sich den Kopf rieb, denn sie war hart angestoßen.
+</p>
+
+<p>
+"Ja, ja, schon recht, danke schön", gab Sebastian zurück und rieb
+sich den seinen, denn er war noch härter angefahren.
+</p>
+
+<p>
+Heidi stand mit flammenden Augen noch auf derselben Stelle fest und
+zitterte vor innerer Erregung am ganzen Körper.
+</p>
+
+<p>
+"Na, schon wieder was angestellt?", fragte Sebastian lustig; als er
+aber Heidi, das sich nicht rührte, recht ansah, klopfte er ihm
+freundlich auf die Schulter und sagte tröstend: "Pah! Pah! Das
+muss sich das Mamsellchen nicht so zu Herzen nehmen, nur lustig,
+das ist die Hauptsache! Sie hat mir eben jetzt auch fast ein Loch
+in den Kopf gerannt; aber nur nicht einschüchtern lassen! Na?
+Immer noch auf demselben Fleck? Wir müssen hinauf, sie hat's
+befohlen."
+</p>
+
+<p>
+Heidi ging nun die Treppe hinauf, aber langsam und leise und gar
+nicht, wie sonst seine Art war. Das tat dem Sebastian Leid zu
+sehen; er ging hinter dem Heidi her und sprach ermutigende Worte zu
+ihm: "Nur nicht abgeben! Nur nicht traurig werden! Nur immer
+tapfer darauf zu! Wir haben ja ein ganz vernünftiges Mamsellchen,
+hat noch gar nie geweint, seit es bei uns ist; sonst weinen sie ja
+zwölfmal im Tag in dem Alter, das kennt man. Die Kätzchen sind
+auch lustig droben, die springen auf dem ganzen Estrich herum und
+tun wie närrisch. Nachher gehen wir mal zusammen hinauf und
+schauen ihnen zu, wenn die Dame drinnen weg ist, ja?"
+</p>
+
+<p>
+Heidi nickte ein wenig mit dem Kopf, aber so freudlos, dass es dem
+Sebastian recht zu Herzen ging und er ganz teilnehmend dem Heidi
+nachschaute, wie es nach seinem Zimmer hin schlich.
+</p>
+
+<p>
+Am Abendessen heute sagte Fräulein Rottenmeier kein Wort, aber
+fortwährend warf sie sonderbar wachsame Blicke zu Heidi hinüber, so
+als erwartete sie, es könnte plötzlich etwas Unerhörtes unternehmen;
+aber Heidi saß mäuschenstill am Tisch und rührte sich nicht, es aß
+nicht und trank nicht; nur sein Brötchen hatte es schnell in die
+Tasche gesteckt.
+</p>
+
+<p>
+Am folgenden Morgen, als der Herr Kandidat die Treppe heraufkam,
+winkte ihn Fräulein Rottenmeier geheimnisvoll ins Esszimmer herein,
+und hier teilte sie ihm in großer Aufregung ihre Besorgnis mit, die
+Luftveränderung, die neue Lebensart und die ungewohnten Eindrücke
+hätten das Kind um den Verstand gebracht, und sie erzählte ihm von
+Heidis Fluchtversuch und wiederholte ihm von seinen sonderbaren
+Reden, was sie noch wusste. Aber der Herr Kandidat besänftigte und
+beruhigte Fräulein Rottenmeier, indem er sie versicherte, dass er
+die Wahrnehmung gemacht habe, die Adelheid sei zwar einerseits
+allerdings eher exzentrisch, aber anderseits doch wieder bei
+richtigem Verstand, so dass sich nach und nach bei einer allseitig
+erwogenen Behandlung das nötige Gleichgewicht einstellen könne, was
+er im Auge habe; er finde den Umstand wichtiger, dass er durchaus
+nicht über das Abc hinauskomme mit ihr, indem sie die Buchstaben
+nicht zu fassen imstande sei.
+</p>
+
+<p>
+Fräulein Rottenmeier fühlte sich beruhigter und entließ den Herrn
+Kandidaten zu seiner Arbeit. Am späteren Nachmittag stieg ihr die
+Erinnerung an Heidis Aufzug bei seiner vorgehabten Abreise auf, und
+sie beschloss, die Gewandung des Kindes durch verschiedene
+Kleidungsstücke der Klara in den nötigen Stand zu setzen, bevor
+Herr Sesemann erscheinen würde. Sie teilte ihre Gedanken darüber
+an Klara mit, und da diese mit allem einverstanden war und dem
+Heidi eine Menge Kleider und Tücher und Hüte schenken wollte,
+verfügte sich die Dame in Heidis Zimmer, um seinen Kleiderschrank
+zu besehen und zu untersuchen, was da von dem Vorhandenen bleiben
+und was entfernt werden solle. Aber in wenig Minuten kam sie
+wieder zurück mit Gebärden des Abscheus. "Was muss ich entdecken,
+Adelheid!", rief sie aus. "Es ist nie dagewesen! In deinem
+Kleiderschrank, einem Schrank für Kleider, Adelheid, im Fuß dieses
+Schrankes, was finde ich? Einen Haufen kleiner Brote! Brot, sage
+ich, Klara, im Kleiderschrank! Und einen solchen Haufen
+aufspeichern!"--"Tinette", rief sie jetzt ins Esszimmer hinaus,
+"schaffen Sie mir das alte Brot fort aus dem Schrank der Adelheid
+und den zerdrückten Strohhut auf dem Tisch!"
+</p>
+
+<p>
+"Nein! Nein!", schrie Heidi auf; "ich muss den Hut haben, und die
+Brötchen sind für die Großmutter", und Heidi wollte der Tinette
+nachstürzen, aber es wurde von Fräulein Rottenmeier festgehalten.
+</p>
+
+<p>
+"Du bleibst hier und der Kram wird hingebracht, wo er hingehört",
+sagte sie bestimmt und hielt das Kind zurück. Aber nun warf sich
+Heidi an Klaras Sessel nieder und fing ganz verzweiflungsvoll zu
+weinen an, immer lauter und schmerzlicher, und schluchzte ein Mal
+ums andere in seinem Jammer auf: "Nun hat die Großmutter keine
+Brötchen mehr. Sie waren für die Großmutter, nun sind sie alle
+fort und die Großmutter bekommt keine!", und Heidi weinte auf, als
+wollte ihm das Herz zerspringen. Fräulein Rottenmeier lief hinaus.
+Klara wurde es angst und bange bei dem Jammer. "Heidi, Heidi,
+weine nur nicht so", sagte sie bittend, "hör mich nur! Jammere nur
+nicht so, sieh, ich verspreche dir, ich gebe dir gerade so viel
+Brötchen für die Großmutter, oder noch mehr, wenn du einmal
+heimgehst, und dann sind diese frisch und weich, und die deinen
+wären ja ganz hart geworden und waren es schon. Komm, Heidi, weine
+nur nicht mehr so!"
+</p>
+
+<p>
+Heidi konnte noch lange nicht aus seinem Schluchzen herauskommen;
+aber es verstand Klaras Trost und hielt sich daran, sonst hätte es
+gar nicht mehr zu weinen aufhören können. Es musste auch noch
+mehrere Male seiner Hoffnung gewiss werden und Klara, durch die
+letzten Anfälle von Schluchzen unterbrochen, fragen: "Gibst du mir
+so viele, viele, wie ich hatte, für die Großmutter?"
+</p>
+
+<p>
+Und Klara versicherte immer wieder: "Gewiss, ganz gewiss, noch mehr,
+sei nur wieder froh!"
+</p>
+
+<p>
+Noch zum Abendtisch kam Heidi mit den rot verweinten Augen, und als
+es sein Brötchen erblickte, musste es gleich noch einmal
+aufschluchzen. Aber es bezwang sich jetzt mit Gewalt, denn es
+verstand, dass es sich am Tisch ruhig verhalten musste. Sebastian
+machte heute jedes Mal die merkwürdigsten Gebärden, wenn er in
+Heidis Nähe kam; er deutete bald auf seinen, bald auf Heidis Kopf,
+dann nickte er wieder und kniff die Augen zu, so als wollte er
+sagen: "Nur getrost! Ich hab's schon gemerkt und besorgt."
+</p>
+
+<p>
+Als Heidi später in sein Zimmer kam und in sein Bett steigen wollte,
+lag sein zerdrücktes Strohhütchen unter der Decke versteckt. Mit
+Entzücken zog es den alten Hut hervor, zerdrückte ihn vor lauter
+Freude noch ein wenig mehr und versteckte ihn dann, in ein
+Taschentüchlein eingewickelt, in die allerhinterste Ecke seines
+Schrankes. Das Hütchen hatte der Sebastian unter die Decke
+gesteckt; er war zu gleicher Zeit mit Tinette im Esszimmer gewesen,
+als diese gerufen wurde, und hatte Heidis Jammerruf vernommen.
+Dann war er Tinette nachgegangen, und als sie aus Heidis Zimmer
+heraustrat mit ihrer Brotlast und dem Hütchen oben darauf, hatte er
+schnell dieses weggenommen und ihr zugerufen: "Das will ich schon
+forttun." Darauf hatte er es in aller Freude für Heidi gerettet,
+was er ihm beim Abendessen zur Erheiterung andeuten wollte.
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap09"></a>
+Der Hausherr hört allerlei in seinem Hause,<br />
+das er noch nicht gehört hat
+</h3>
+
+<p>
+Einige Tage nach diesen Ereignissen war im Hause Sesemann große
+Lebendigkeit und ein eifriges Treppauf- und Treppabrennen, denn
+eben war der Hausherr von seiner Reise zurückgekehrt, und aus dem
+bepackten Wagen wurde von Sebastian und Tinette eine Last nach der
+anderen hinaufgetragen, denn Herr Sesemann brachte immer eine Menge
+schöner Sachen mit nach Hause.
+</p>
+
+<p>
+Er selbst war vor allem in das Zimmer seiner Tochter eingetreten,
+um sie zu begrüßen. Heidi saß bei ihr, denn es war die Zeit des
+späten Nachmittags, da die beiden immer zusammen waren. Klara
+begrüßte ihren Vater mit großer Zärtlichkeit, denn sie liebte ihn
+sehr, und der gute Papa grüßte sein Klärchen nicht weniger
+liebevoll. Dann streckte er seine Hand dem Heidi entgegen, das
+sich leise in eine Ecke zurückgezogen hatte, und sagte freundlich:
+"Und das ist unsre kleine Schweizerin; komm her, gib mir mal eine
+Hand! So ist's recht! Nun sag mir mal, seid ihr auch gute Freunde
+zusammen, Klara und du? Nicht zanken und böse werden, und dann
+weinen und dann versöhnen, und dann wieder von vorn anfangen, nun?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, Klara ist immer gut mit mir", entgegnete Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"Und Heidi hat auch noch gar nie versucht zu zanken, Papa", warf
+Klara schnell ein.
+</p>
+
+<p>
+"So ist's gut, das hör ich gern", sagte der Papa, indem er aufstand.
+"Nun musst du aber erlauben, Klärchen, dass ich etwas genieße;
+heute habe ich noch nichts bekommen. Nachher komm ich wieder zu
+dir und du sollst sehen, was ich mitgebracht habe!"
+</p>
+
+<p>
+Herr Sesemann trat ins Esszimmer ein, wo Fräulein Rottenmeier den
+Tisch überschaute, der für sein Mittagsmahl gerüstet war. Nachdem
+Herr Sesemann sich niedergelassen und die Dame ihm gegenüber Platz
+genommen hatte und aussah wie ein lebendiges Missgeschick, wandte
+sich der Hausherr zu ihr: "Aber Fräulein Rottenmeier, was muss ich
+denken? Sie haben zu meinem Empfang ein wahrhaft erschreckendes
+Gesicht aufgesetzt. Wo fehlt es denn? Klärchen ist ganz munter."
+</p>
+
+<p>
+"Herr Sesemann", begann die Dame mit gewichtigem Ernst, "Klara ist
+mit betroffen, wir sind fürchterlich getäuscht worden."
+</p>
+
+<p>
+"Wieso?", fragte Herr Sesemann und trank in aller Ruhe einen
+Schluck Wein.
+</p>
+
+<p>
+"Wir hatten ja beschlossen, wie Sie wissen, Herr Sesemann, eine
+Gespielin für Klara ins Haus zu nehmen, und da ich ja weiß, wie
+sehr Sie darauf halten, dass nur Gutes und Edles Ihre Tochter
+umgebe, hatte ich meinen Sinn auf ein junges Schweizermädchen
+gerichtet, indem ich hoffte, eines jener Wesen bei uns eintreten zu
+sehen, von denen ich schon so oft gelesen, welche, der reinen
+Bergluft entsprossen, sozusagen, ohne die Erde zu berühren, durch
+das Leben gehen."
+</p>
+
+<p>
+"Ich glaube zwar", bemerkte hier Herr Sesemann, "dass auch die
+Schweizerkinder den Erdboden berühren, wenn sie vorwärts kommen
+wollen; sonst wären ihnen wohl Flügel gewachsen statt der Füße."
+</p>
+
+<p>
+"Ach, Herr Sesemann, Sie verstehen mich wohl", fuhr das Fräulein
+fort; "Ich meinte eine jener so bekannten, in den hohen, reinen
+Bergregionen lebenden Gestalten, die nur wie ein idealer Hauch an
+uns vorüberziehen."
+</p>
+
+<p>
+"Was sollte aber meine Klara mit einem idealen Hauch anfangen,
+Fräulein Rottenmeier?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, Herr Sesemann, ich scherze nicht, die Sache ist mir ernster,
+als Sie denken; ich bin schrecklich, wirklich ganz schrecklich
+getäuscht worden."
+</p>
+
+<p>
+"Aber worin liegt denn das Schreckliche? So gar erschrecklich
+sieht mir das Kind nicht aus", bemerkte ruhig Herr Sesemann.
+</p>
+
+<p>
+"Sie sollten nur (eines) wissen, Herr Sesemann, nur das (eine), mit
+was für Menschen und Tieren dieses Wesen Ihr Haus in Ihrer
+Abwesenheit bevölkert hat; davon könnte der Herr Kandidat erzählen."
+</p>
+
+<p>
+"Mit Tieren? Wie muss ich das verstehen, Fräulein Rottenmeier?"
+</p>
+
+<p>
+"Es ist eben nicht zu verstehen; die ganze Aufführung dieses Wesens
+wäre nicht zu verstehen, wenn nicht aus dem (einen) Punkte, dass es
+Anfälle von völliger Verstandesgestörtheit hat."
+</p>
+
+<p>
+Bis hierher hatte Herr Sesemann die Sache nicht für wichtig
+gehalten; aber Gestörtheit des Verstandes? Eine solche konnte ja
+für seine Tochter die bedenklichsten Folgen haben. Herr Sesemann
+schaute Fräulein Rottenmeier sehr genau an, so, als wollte er sich
+erst versichern, ob nicht etwa bei ihr eine derartige Störung zu
+bemerken sei. In diesem Augenblick wurde die Tür aufgetan und der
+Herr Kandidat angemeldet.
+</p>
+
+<p>
+"Ah, da kommt unser Herr Kandidat, der wird uns Aufschluss geben!",
+rief ihm Herr Sesemann entgegen. "Kommen Sie, kommen Sie, setzen
+Sie sich zu mir!" Herr Sesemann streckte dem Eintretenden die Hand
+entgegen. "Der Herr Kandidat trinkt eine Tasse schwarzen Kaffee
+mit mir, Fräulein Rottenmeier! Setzen Sie sich, setzen Sie sich--
+keine Komplimente! Und nun sagen Sie mir, Herr Kandidat, was ist
+mit dem Kinde, das als Gespielin meiner Tochter ins Haus gekommen
+ist und das Sie unterrichten. Was hat es für eine Bewandtnis mit
+den Tieren, die es ins Haus gebracht, und wie steht es mit seinem
+Verstand?"
+</p>
+
+<p>
+Der Herr Kandidat musste erst seine Freude über Herrn Sesemanns
+glückliche Rückkehr aussprechen und ihn willkommen heißen, weswegen
+er ja gekommen war; aber Herr Sesemann drängte ihn, dass er ihm
+Aufschluss gebe über die fraglichen Punkte. So begann denn der
+Herr Kandidat: "Wenn ich mich über das Wesen dieses jungen Mädchens
+aussprechen soll, Herr Sesemann, so möchte ich vor allem darauf
+aufmerksam machen, dass, wenn auch auf der einen Seite sich ein
+Mangel der Entwicklung, welcher durch eine mehr oder weniger
+vernachlässigte Erziehung, oder besser gesagt, etwas verspäteten
+Unterricht verursacht und durch die mehr oder weniger, jedoch
+durchaus nicht in jeder Beziehung zu verurteilende, im Gegenteil
+ihre guten Seiten unstreitig dartuende Abgeschiedenheit eines
+längeren Alpenaufenthalts, welcher, wenn er nicht eine gewisse
+Dauer überschreitet, ja ohne Zweifel seine gute Seite--"
+</p>
+
+<p>
+"Mein lieber Herr Kandidat", unterbrach hier Herr Sesemann, "Sie
+geben sich wirklich zu viel Mühe; sagen Sie mir, hat auch Ihnen das
+Kind einen Schrecken beigebracht durch eingeschleppte Tiere, und
+was halten Sie überhaupt von diesem Umgang für mein Töchterchen?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich möchte dem jungen Mädchen in keiner Art zu nahe treten",
+begann der Herr Kandidat wieder, "denn wenn es auch auf der einen
+Seite in einer Art von gesellschaftlicher Unerfahrenheit, welche
+mit dem mehr oder weniger unkultivierten Leben, in welchem das
+junge Mädchen bis zu dem Augenblick seiner Versetzung nach
+Frankfurt sich bewegte, welche Versetzung allerdings in die
+Entwicklung dieses, ich möchte sagen noch völlig, wenigstens
+teilweise unentwickelten, aber anderseits mit nicht zu verachtenden
+Anlagen begabten und wenn allseitig umsichtig geleitet--"
+</p>
+
+<p>
+"Entschuldigen Sie, Herr Kandidat, bitte, lassen Sie sich nicht
+stören, ich werde--ich muss schnell einmal nach meiner Tochter
+sehen." Damit lief Herr Sesemann zur Tür hinaus und kam nicht
+wieder. Drüben im Studierzimmer setzte er sich zu seinem
+Töchterchen hin; Heidi war aufgestanden. Herr Sesemann wandte sich
+nach dem Kinde um: "Hör mal, Kleine, hol mir doch schnell--wart
+einmal--hol mir mal"--(Herr Sesemann wusste nicht recht, was er
+bedurfte, Heidi sollte aber ein wenig ausgeschickt werden)--"hol
+mir doch mal ein Glas Wasser."
+</p>
+
+<p>
+"Frisches?", fragte Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"Jawohl! Jawohl! Recht frisches!", gab Herr Sesemann zurück.
+Heidi verschwand.
+</p>
+
+<p>
+"Nun, mein liebes Klärchen", sagte der Papa, indem er ganz nah an
+sein Töchterchen heranrückte und dessen Hand in die seinige legte,
+"sag du mir klar und fasslich: Was für Tiere hat diese deine
+Gespielin ins Haus gebracht und warum muss Fräulein Rottenmeier
+denken, sie sei zeitweise nicht ganz recht im Kopf; kannst du mir
+das sagen?"
+</p>
+
+<p>
+Das konnte Klara, denn die erschrockene Dame hatte auch ihr von
+Heidis sich verwirrenden Reden gesprochen, die aber für Klara alle
+einen Sinn hatten. Sie erzählte erst dem Vater die Geschichten von
+der Schildkröte und den jungen Katzen und erklärte ihm dann Heidis
+Reden, welche die Dame so erschreckt hatten. Jetzt lachte Herr
+Sesemann herzlich. "So willst du nicht, dass ich das Kind nach
+Haus schicke, Klärchen, du bist seiner nicht müde?", fragte der
+Vater.
+</p>
+
+<p>
+"Nein, nein, Papa, tu nur das nicht!", rief Klara abwehrend aus.
+"Seit Heidi da ist, begegnet immer etwas, jeden Tag, und es ist so
+kurzweilig, ganz anders als vorher, da begegnete nie etwas, und
+Heidi erzählt mir auch so viel."
+</p>
+
+<p>
+"Schon gut, schon gut, Klärchen, da kommt ja auch deine Freundin
+schon wieder. Na, schönes, frisches Wasser geholt?", fragte Herr
+Sesemann, da ihm Heidi nun ein Glas Wasser hinstreckte.
+</p>
+
+<p>
+"Ja, frisch vom Brunnen", antwortete Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"Du bist doch nicht selbst zum Brunnen gelaufen, Heidi?", sagte
+Klara.
+</p>
+
+<p>
+"Doch gewiss, es ist ganz frisch, aber ich musste weit gehen, denn
+am ersten Brunnen waren so viele Leute. Da ging ich die Straße
+ganz hinab, aber beim zweiten waren wieder so viele Leute; da ging
+ich in die andere Straße hinein und dort nahm ich Wasser, und der
+Herr mit den weißen Haaren lässt Herrn Sesemann freundlich grüßen."
+</p>
+
+<p>
+"Na, die Expedition ist gut", lachte Herr Sesemann, "und wer ist
+denn der Herr?"
+</p>
+
+<p>
+"Er kam beim Brunnen vorbei und dann stand er still und sagte:
+'Weil du doch ein Glas hast, so gib mir auch einmal zu
+trinken; wem bringst du dein Glas Wasser?' Und ich sagte:
+'Herrn Sesemann.' Da lachte er sehr stark, und dann
+sagte er den Gruß und auch noch, Herr Sesemann solle sich's
+schmecken lassen."
+</p>
+
+<p>
+"So, und wer lässt mir denn wohl den guten Wunsch sagen? Wie sah
+der Herr denn weiter aus?", fragte Herr Sesemann.
+</p>
+
+<p>
+"Er lacht freundlich und hat eine dicke goldene Kette und ein
+goldenes Ding hängt daran mit einem großen roten Stein und auf
+seinem Stock ist ein Rosskopf."
+</p>
+
+<p>
+"Das ist der Herr Doktor"--"Das ist mein alter Doktor", sagten
+Klara und ihr Vater wie aus einem Munde, und Herr Sesemann lachte
+noch ein wenig in sich hinein im Gedanken an seinen Freund und
+dessen Betrachtungen über diese neue Weise, seinen Wasserbedarf
+sich zuführen zu lassen.
+</p>
+
+<p>
+Noch an demselben Abend erklärte Herr Sesemann, als er allein mit
+Fräulein Rottenmeier im Esszimmer saß, um allerlei häusliche
+Angelegenheiten mit ihr zu besprechen, die Gespielin seiner Tochter
+werde im Hause bleiben; er finde, das Kind sei in einem normalen
+Zustand, und seine Gesellschaft sei seiner Tochter sehr lieb und
+angenehmer als jede andere. "Ich wünsche daher", setzte Herr
+Sesemann sehr bestimmt hinzu, "dass dieses Kind jederzeit durchaus
+freundlich behandelt und seine Eigentümlichkeiten nicht als
+Vergehen betrachtet werden. Sollten Sie übrigens mit dem Kinde
+nicht allein fertig werden, Fräulein Rottenmeier, so ist ja eine
+gute Hilfe für Sie in Aussicht, da in nächster Zeit meine Mutter zu
+ihrem längeren Aufenthalt in mein Haus kommt, und meine Mutter wird
+mit jedem Menschen fertig, wie er sich auch anstelle, das wissen
+Sie ja wohl, Fräulein Rottenmeier?"
+</p>
+
+<p>
+"Jawohl, das weiß ich, Herr Sesemann", entgegnete die Dame, aber
+nicht mit dem Ausdruck der Erleichterung im Hinblick auf die
+angezeigte Hilfe.--
+</p>
+
+<p>
+Herr Sesemann hatte diesmal nur eine kurze Zeit Ruhe zu Hause,
+schon nach vierzehn Tagen riefen ihn seine Geschäfte wieder nach
+Paris, und er tröstete sein Töchterchen, das mit der nahen Abreise
+nicht einverstanden war, mit der Aussicht auf die baldige Ankunft
+der Großmama, die schon nach einigen Tagen erwartet werden konnte.
+</p>
+
+<p>
+Kaum war auch Herr Sesemann abgereist, als schon der Brief anlangte,
+der die Abreise der Frau Sesemann aus Holstein, wo sie auf einem
+alten Gute wohnte, anzeigte und die bestimmte Zeit ihrer Ankunft
+auf den folgenden Tag meldete, damit der Wagen nach dem Bahnhof
+geschickt würde, um sie abzuholen.
+</p>
+
+<p>
+Klara war voller Freude über die Nachricht und erzählte noch an
+demselben Abend dem Heidi so viel und so lange von der Großmama,
+dass Heidi auch anfing, von der 'Großmama' zu reden,
+worauf Fräulein Rottenmeier Heidi mit Missbilligung anblickte, was
+aber das Kind auf nichts Besonderes bezog, denn es fühlte sich
+unter fortdauernder Missbilligung der Dame. Als es sich dann
+später entfernte, um in sein Schlafzimmer zu gehen, berief Fräulein
+Rottenmeier es erst in das ihrige herein und erklärte ihm hier, es
+habe niemals den Namen 'Großmama' anzuwenden, sondern
+wenn Frau Sesemann nun da sei, habe es sie stets 'gnädige
+Frau' anzureden. "Verstehst du das?", fragte die Dame, als
+Heidi sie etwas zweifelhaft ansah; sie gab ihm aber einen so
+abschließenden Blick zurück, dass Heidi sich keine Erklärung mehr
+erbat, obschon es den Titel nicht verstanden hatte.
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap10"></a>
+Eine Großmama
+</h3>
+
+<p>
+Am folgenden Abend waren große Erwartungen und lebhafte
+Vorbereitungen im Hause Sesemann sichtbar, man konnte deutlich
+bemerken, dass die erwartete Dame ein bedeutendes Wort im Hause
+mitzusprechen hatte und dass jedermann großen Respekt vor ihr
+empfand. Tinette hatte ein ganz neues, weißes Deckelchen auf den
+Kopf gesetzt, und Sebastian raffte eine Menge von Schemeln zusammen
+und stellte sie an alle passenden Stellen hin, damit die Dame
+gleich einen Schemel unter den Füßen finde, wohin sie sich auch
+setzen möge. Fräulein Rottenmeier ging zur Musterung der Dinge
+sehr aufrecht durch die Zimmer, so wie um anzudeuten, dass, wenn
+auch eine zweite Herrschermacht herannahe, die ihrige dennoch nicht
+am Erlöschen sei.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt rollte der Wagen vor das Haus, und Sebastian und Tinette
+stürzten die Treppe hinunter; langsam und würdevoll folgte Fräulein
+Rottenmeier nach, denn sie wusste, dass auch sie zum Empfang der
+Frau Sesemann zu erscheinen hatte. Heidi war beordert worden, sich
+in sein Zimmer zurückzuziehen und da zu warten, bis es gerufen
+würde, denn die Großmutter würde zuerst bei Klara eintreten und
+diese wohl allein sehen wollen. Heidi setzte sich in einen Winkel
+und repetierte seine Anrede. Es währte gar nicht lange, so steckte
+die Tinette den Kopf ein klein wenig unter Heidis Zimmertür und
+sagte kurz angebunden wie immer: "Hinübergehen ins Studierzimmer!"
+</p>
+
+<p>
+Heidi hatte Fräulein Rottenmeier nicht fragen dürfen, wie es mit
+der Anrede sei, aber es dachte, die Dame habe sich nur versprochen,
+denn es hatte bis jetzt immer erst den Titel nennen gehört und
+nachher den Namen; so hatte es sich nun die Sache zurechtgelegt.
+Wie es die Tür zum Studierzimmer aufmachte, rief ihm die Großmutter
+mit freundlicher Stimme entgegen: "Ah, da kommt ja das Kind! Komm
+mal her zu mir und lass dich recht ansehen."
+</p>
+
+<p>
+Heidi trat heran, und mit seiner klaren Stimme sagte es sehr
+deutlich: "Guten Tag, Frau Gnädige."
+</p>
+
+<p>
+"Warum nicht gar!", lachte die Großmama. "Sagt man so bei euch?
+Hast du das daheim auf der Alp gehört?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, bei uns heißt niemand so", erklärte Heidi ernsthaft.
+</p>
+
+<p>
+"So, bei uns auch nicht", lachte die Großmama wieder und klopfte
+Heidi freundlich auf die Wange. "Das ist nichts! In der
+Kinderstube bin ich die Großmama; so sollst du mich nennen, das
+kannst du wohl behalten, wie?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja, das kann ich gut", versicherte Heidi, "vorher hab ich schon
+immer so gesagt."
+</p>
+
+<p>
+"So, so, verstehe schon!", sagte die Großmama und nickte ganz
+lustig mit dem Kopfe. Dann schaute sie Heidi genau an und nickte
+von Zeit zu Zeit wieder mit dem Kopf, und Heidi guckte ihr auch
+ganz ernsthaft in die Augen, denn da kam etwas so Herzliches heraus,
+dass es dem Heidi ganz wohl machte, und die ganze Großmama gefiel
+dem Heidi so, dass es sie unverwandt anschauen musste. Sie hatte
+so schöne weiße Haare, und um den Kopf ging eine schöne
+Spitzenkrause, und zwei breite Bänder flatterten von der Haube weg
+und bewegten sich immer irgendwie, so als ob stets ein leichter
+Wind um die Großmama wehe, was das Heidi ganz besonders anmutete.
+</p>
+
+<p>
+"Und wie heißt du, Kind?", fragte jetzt die Großmama.
+</p>
+
+<p>
+"Ich heiße nur Heidi; aber weil ich soll Adelheid heißen, so will
+ich schon Acht geben--"; Heidi stockte, denn es fühlte sich ein
+wenig schuldig, da es noch immer keine Antwort gab, wenn Fräulein
+Rottenmeier unversehens rief: "Adelheid!", indem es ihm noch immer
+nicht recht gegenwärtig war, dass dies sein Name sei, und Fräulein
+Rottenmeier war eben ins Zimmer getreten.
+</p>
+
+<p>
+"Frau Sesemann wird unstreitig billigen", fiel hier die eben
+Eingetretene ein, "dass ich einen Namen wählen musste, den man doch
+aussprechen kann, ohne sich selbst genieren zu müssen, schon um der
+Dienstboten willen."
+</p>
+
+<p>
+"Werteste Rottenmeier", entgegnete Frau Sesemann, "wenn ein Mensch
+einmal 'Heidi' heißt und an den Namen gewöhnt ist, so
+nenn ich ihn so, und dabei bleibt's!"
+</p>
+
+<p>
+Es war Fräulein Rottenmeier sehr genierlich, dass die alte Dame sie
+beständig nur bei ihrem Namen nannte, ohne weitere Titulatur; aber
+da war nichts zu machen; die Großmama hatte einmal ihre eigenen
+Wege, und diese ging sie, da half kein Mittel dagegen. Auch ihre
+fünf Sinne hatte die Großmama noch ganz scharf und gesund, und sie
+bemerkte, was im Hause vorging, sobald sie es betreten hatte.
+</p>
+
+<p>
+Als am Tage nach ihrer Ankunft Klara sich zur gewohnten Zeit nach
+Tisch niederlegte, setzte die Großmama sich neben sie auf einen
+Lehnstuhl und schloss ihre Augen für einige Minuten; dann stand sie
+schon wieder auf--denn sie war gleich wieder munter--und trat ins
+Esszimmer hinaus; da war niemand. "Die schläft", sagte sie vor
+sich hin, ging dann nach dem Zimmer der Dame Rottenmeier und
+klopfte kräftig an die Tür. Nach einiger Zeit erschien diese und
+fuhr erschrocken ein wenig zurück bei dem unerwarteten Besuch.
+</p>
+
+<p>
+"Wo hält sich das Kind auf um diese Zeit, und was tut es? Das
+wollte ich wissen", sagte Frau Sesemann.
+</p>
+
+<p>
+"In seinem Zimmer sitzt es, wo es sich nützlich beschäftigen könnte,
+wenn es den leisesten Tätigkeitstrieb hätte; aber Frau Sesemann
+sollte nur wissen, was für verkehrtes Zeug sich dieses Wesen oft
+ausdenkt und wirklich ausführt, Dinge, die ich in gebildeter
+Gesellschaft kaum erzählen könnte."
+</p>
+
+<p>
+"Das würde ich gerade auch tun, wenn ich so da drinnen säße wie
+dieses Kind, das kann ich Ihnen sagen, und Sie könnten zusehen, wie
+Sie mein Zeug in gebildeter Gesellschaft erzählen wollten! Jetzt
+holen Sie mir das Kind heraus und bringen Sie mir's in meine Stube,
+ich will ihm einige hübsche Bücher geben, die ich mitgebracht habe."
+</p>
+
+<p>
+"Das ist ja gerade das Unglück, das ist es ja eben!", rief Fräulein
+Rottenmeier aus und schlug die Hände zusammen. "Was sollte das
+Kind mit Büchern tun? In all dieser Zeit hat es noch nicht einmal
+das Abc erlernt; es ist völlig unmöglich, diesem Wesen auch nur
+(einen) Begriff beizubringen, davon kann der Herr Kandidat reden!
+Wenn dieser treffliche Mensch nicht die Geduld eines himmlischen
+Engels besäße, er hätte diesen Unterricht längst aufgegeben."
+</p>
+
+<p>
+"So, das ist merkwürdig, das Kind sieht nicht aus wie eines, das
+das Abc nicht erlernen kann", sagte Frau Sesemann. "Jetzt holen
+Sie mir's herüber, es kann vorläufig die Bilder in den Büchern
+ansehen."
+</p>
+
+<p>
+Fräulein Rottenmeier wollte noch einiges bemerken, aber Frau
+Sesemann hatte sich schon umgewandt und ging rasch ihrem Zimmer zu.
+Sie musste sich sehr verwundern über die Nachricht von Heidis
+Beschränktheit und gedachte, die Sache zu untersuchen, jedoch nicht
+mit dem Herrn Kandidaten, den sie zwar um seines guten Charakters
+willen sehr schätzte; sie grüßte ihn auch immer, wenn sie mit ihm
+zusammentraf, überaus freundlich, lief dann aber sehr schnell auf
+eine andere Seite, um nicht in ein Gespräch mit ihm verwickelt zu
+werden, denn seine Ausdrucksweise war ihr ein wenig beschwerlich.
+</p>
+
+<p>
+Heidi erschien im Zimmer der Großmama und machte die Augen weit auf,
+als es die prächtigen bunten Bilder in den großen Büchern sah,
+welche die Großmama mitgebracht hatte. Auf einmal schrie Heidi
+laut auf, als die Großmama wieder ein Blatt umgewandt hatte; mit
+glühendem Blick schaute es auf die Figuren, dann stürzten ihm
+plötzlich die hellen Tränen aus den Augen, und es fing gewaltig zu
+schluchzen an. Die Großmama schaute das Bild an. Es war eine
+schöne, grüne Weide, wo allerlei Tierlein herumweideten und an den
+grünen Gebüschen nagten. In der Mitte stand der Hirt, auf einen
+langen Stab gestützt, der schaute den fröhlichen Tierchen zu.
+Alles war wie in Goldschimmer gemalt, denn hinten am Horizont war
+eben die Sonne im Untergehen.
+</p>
+
+<p>
+Die Großmama nahm Heidi bei der Hand. "Komm, komm, Kind", sagte
+sie in freundlichster Weise, "nicht weinen, nicht weinen. Das hat
+dich wohl an etwas erinnert; aber sieh, da ist auch eine schöne
+Geschichte dazu, die erzähl ich heut Abend. Und da sind noch so
+viele schöne Geschichten in dem Buch, die kann man alle lesen und
+wieder erzählen. Komm, nun müssen wir etwas besprechen zusammen,
+trockne schön deine Tränen, so, und nun stell dich hier vor mich
+hin, dass ich dich recht ansehen kann; so ist's recht, nun sind wir
+wieder fröhlich."
+</p>
+
+<p>
+Aber noch verging einige Zeit, bevor Heidi zu schluchzen aufhören
+konnte. Die Großmama ließ ihm auch eine gute Weile zur Erholung,
+nur sagte sie von Zeit zu Zeit ermunternd: "So, nun ist's gut, nun
+sind wir wieder froh zusammen."
+</p>
+
+<p>
+Als sie endlich das Kind beruhigt sah, sagte sie: "Nun musst du mir
+was erzählen, Kind! Wie geht es denn beim Herrn Kandidaten in den
+Unterrichtsstunden, lernst du auch gut und kannst du was?"
+</p>
+
+<p>
+"O nein", antwortete Heidi seufzend; "aber ich wusste schon, dass
+man es nicht lernen kann."
+</p>
+
+<p>
+"Was kann man denn nicht lernen, Heidi, was meinst du?"
+</p>
+
+<p>
+"Lesen kann man nicht lernen, es ist zu schwer."
+</p>
+
+<p>
+"Das wäre! Und woher weißt du denn diese Neuigkeit?"
+</p>
+
+<p>
+"Der Peter hat es mir gesagt und er weiß es schon, der muss immer
+wieder probieren, aber er kann es nie lernen, es ist zu schwer."
+</p>
+
+<p>
+"So, das ist mir ein eigener Peter, der! Aber sieh, Heidi, man
+muss nicht alles nur so hinnehmen, was einem ein Peter sagt, man
+muss selbst probieren. Gewiss hast du nicht recht mit all deinen
+Gedanken dem Herrn Kandidaten zugehört und seine Buchstaben
+angesehen."
+</p>
+
+<p>
+"Es nützt nichts", versicherte Heidi mit dem Ton der vollen
+Ergebung in das Unabänderliche.
+</p>
+
+<p>
+"Heidi", sagte nun die Großmama, "jetzt will ich dir etwas sagen:
+Du hast noch nie lesen gelernt, weil du deinem Peter geglaubt hast;
+nun aber sollst du mir glauben, und ich sage dir fest und sicher,
+dass du in kurzer Zeit lesen lernen kannst, wie eine große Menge
+von Kindern, die geartet sind wie du und nicht wie der Peter. Und
+nun musst du wissen, was nachher kommt, wenn du dann lesen kannst--
+du hast den Hirten gesehen auf der schönen, grünen Weide--; sobald
+du nun lesen kannst, bekommst du das Buch, da kannst du seine ganze
+Geschichte vernehmen, ganz so, als ob sie dir jemand erzählte,
+alles, was er macht mit seinen Schafen und Ziegen und was ihm für
+merkwürdige Dinge begegnen. Das möchtest du schon wissen, Heidi,
+nicht?"
+</p>
+
+<p>
+Heidi hatte mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört, und mit
+leuchtenden Augen sagte es jetzt, tief Atem holend: "Oh, wenn ich
+nur schon lesen könnte!"
+</p>
+
+<p>
+"Jetzt wird's kommen, und gar nicht lange wird's währen, das kann
+ich schon sehen, Heidi, und nun müssen wir mal nach der Klara sehen;
+komm, die schönen Bücher nehmen wir mit." Damit nahm die Großmama
+Heidi bei der Hand und ging mit ihm nach dem Studierzimmer.
+</p>
+
+<p>
+Seit dem Tage, da Heidi hatte heimgehen wollen und Fräulein
+Rottenmeier es auf der Treppe ausgescholten und ihm gesagt hatte,
+wie schlecht und undankbar es sich erweise durch sein
+Fortlaufenwollen und wie gut es sei, dass Herr Sesemann nichts
+davon wisse, war mit dem Kinde eine Veränderung vorgegangen. Es
+hatte begriffen, dass es nicht heimgehen könne, wenn es wolle, wie
+ihm die Base gesagt hatte, sondern dass es in Frankfurt zu bleiben
+habe, lange, lange, vielleicht für immer. Es hatte auch verstanden,
+dass Herr Sesemann es sehr undankbar von ihm finden würde, wenn es
+heimgehen wollte, und es dachte sich aus, dass die Großmama und
+Klara auch so denken würden. So durfte es keinem Menschen sagen,
+dass es heimgehen möchte, denn dass die Großmama, die so freundlich
+mit ihm war, auch böse würde, wie Fräulein Rottenmeier geworden war,
+das wollte Heidi nicht verursachen. Aber in seinem Herzen wurde
+die Last, die darinnen lag, immer schwerer; es konnte nicht mehr
+essen, und jeden Tag wurde es ein wenig bleicher. Am Abend konnte
+es oft lange, lange nicht einschlafen, denn sobald es allein war
+und alles still ringsumher, kam ihm alles so lebendig vor die Augen,
+die Alm und der Sonnenschein darauf und die Blumen; und schlief es
+endlich doch ein, so sah es im Traum die roten Felsenspitzen am
+Falknis und das feurige Schneefeld an der Schesaplana, und erwachte
+dann Heidi am Morgen und wollte voller Freude hinausspringen aus
+der Hütte--da war es auf einmal in seinem großen Bett in Frankfurt,
+so weit, weit weg, und konnte nicht mehr heim. Dann drückte Heidi
+oft seinen Kopf in das Kissen und weinte lang, ganz leise, dass
+niemand es höre.
+</p>
+
+<p>
+Heidis freudloser Zustand entging der Großmama nicht. Sie ließ
+einige Tage vorübergehen und sah zu, ob die Sache sich ändere und
+das Kind sein niedergeschlagenes Wesen verlieren würde. Als es
+aber gleich blieb und die Großmama manchmal am frühen Morgen schon
+sehen konnte, dass Heidi geweint hatte, da nahm sie eines Tages das
+Kind wieder in ihre Stube, stellte es vor sich hin und sagte mit
+großer Freundlichkeit: "Jetzt sag mir, was dir fehlt, Heidi; hast
+du einen Kummer?"
+</p>
+
+<p>
+Aber gerade dieser freundlichen Großmama wollte Heidi nicht sich so
+undankbar zeigen, dass sie vielleicht nachher gar nicht mehr so
+freundlich wäre; so sagte Heidi traurig: "Man kann es nicht sagen."
+</p>
+
+<p>
+"Nicht? Kann man es etwa der Klara sagen?", fragte die Großmama.
+</p>
+
+<p>
+"O nein, keinem Menschen", versicherte Heidi und sah dabei so
+unglücklich aus, dass es die Großmama erbarmte.
+</p>
+
+<p>
+"Komm, Kind", sagte sie, "ich will dir was sagen: Wenn man einen
+Kummer hat, den man keinem Menschen sagen kann, so klagt man ihn
+dem lieben Gott im Himmel und bittet ihn, dass er helfe, denn er
+kann allem Leid abhelfen, das uns drückt. Das verstehst du, nicht
+wahr? Du betest doch jeden Abend zum lieben Gott im Himmel und
+dankst ihm für alles Gute und bittest ihn, dass er dich vor allem
+Bösen behüte?"
+</p>
+
+<p>
+"O nein, das tu ich nie", antwortete das Kind.
+</p>
+
+<p>
+"Hast du denn gar nie gebetet, Heidi, weißt du nicht, was das ist?"
+</p>
+
+<p>
+"Nur mit der ersten Großmutter habe ich gebetet, aber es ist schon
+lang, und jetzt habe ich es vergessen."
+</p>
+
+<p>
+"Siehst du, Heidi, darum musst du so traurig sein, weil du jetzt
+gar niemanden kennst, der dir helfen kann. Denk einmal nach, wie
+wohl das tun muss, wenn einen im Herzen etwas immerfort drückt und
+quält und man kann so jeden Augenblick zum lieben Gott hingehen und
+ihm alles sagen und ihn bitten, dass er helfe, wo uns sonst gar
+niemand helfen kann! Und er kann überall helfen und uns geben, was
+uns wieder froh macht."
+</p>
+
+<p>
+Durch Heidis Augen fuhr ein Freudenstrahl: "Darf man ihm alles,
+alles sagen?"
+</p>
+
+<p>
+"Alles, Heidi, alles."
+</p>
+
+<p>
+Das Kind zog seine Hand aus den Händen der Großmama und sagte eilig:
+"Kann ich gehen?"
+</p>
+
+<p>
+"Gewiss! Gewiss!", gab diese zur Antwort, und Heidi lief davon und
+hinüber in sein Zimmer, und hier setzte es sich auf seinen Schemel
+nieder und faltete seine Hände und sagte dem lieben Gott alles, was
+in seinem Herzen war und es so traurig machte, und bat ihn dringend
+und herzlich, dass er ihm helfe und es wieder heimkommen lasse zum
+Großvater.--
+</p>
+
+<p>
+Es mochte etwas mehr als eine Woche verflossen sein seit diesem
+Tage, als der Herr Kandidat begehrte, der Frau Sesemann seine
+Aufwartung zu machen, indem er eine Besprechung über einen
+merkwürdigen Gegenstand mit der Dame abzuhalten gedachte. Er wurde
+auf ihre Stube berufen, und hier, wie er eintrat, streckte ihm Frau
+Sesemann sogleich freundlich die Hand entgegen: "Mein lieber Herr
+Kandidat, seien Sie mir willkommen! Setzen Sie sich her zu mir,
+hier"--sie rückte ihm den Stuhl zurecht. "So, nun sagen Sie mir,
+was bringt Sie zu mir; doch nichts Schlimmes, keine Klagen?"
+</p>
+
+<p>
+"Im Gegenteil, gnädige Frau", begann der Herr Kandidat; "es ist
+etwas vorgefallen, das ich nicht mehr erwarten konnte und keiner,
+der einen Blick in alles Vorhergegangene hätte werfen können, denn
+nach allen Voraussetzungen musste angenommen werden, dass es eine
+völlige Unmöglichkeit sein müsse, was dennoch jetzt wirklich
+geschehen ist und in der wunderbarsten Weise stattgefunden hat,
+gleichsam im Gegensatz zu allem folgerichtig zu Erwartenden--"
+</p>
+
+<p>
+"Sollte das Kind Heidi etwa lesen gelernt haben, Herr Kandidat?",
+setzte hier Frau Sesemann ein.
+</p>
+
+<p>
+In sprachlosem Erstaunen schaute der überraschte Herr die Dame an.
+</p>
+
+<p>
+"Es ist ja wirklich völlig wunderbar", sagte er endlich, "nicht nur,
+dass das junge Mädchen nach all meinen gründlichen Erklärungen,
+und ungewöhnlichen Bemühungen das Abc nicht erlernt hat, sondern
+auch und besonders, dass es jetzt in kürzester Zeit, nachdem ich
+mich entschlossen hatte, das Unerreichbare aus den Augen zu lassen
+und ohne alle weiter greifenden Erläuterungen nur noch sozusagen
+die nackten Buchstaben vor die Augen des jungen Mädchens zu bringen,
+sozusagen über Nacht das Lesen erfasst hat, und dann sogleich mit
+einer Korrektheit die Worte liest, wie mir bei Anfängern noch
+selten vorgekommen ist. Fast ebenso wunderbar ist mir die
+Wahrnehmung, dass die gnädige Frau gerade diese fern liegende
+Tatsache als Möglichkeit vermutete."
+</p>
+
+<p>
+"Es geschehen viele wunderbare Dinge im Menschenleben", bestätigte
+Frau Sesemann und lächelte vergnüglich; "es können auch einmal zwei
+Dinge glücklich zusammentreffen, wie ein neuer Lerneifer und eine
+neue Lehrmethode, und beide können nichts schaden, Herr Kandidat.
+Jetzt wollen wir uns freuen, dass das Kind so weit ist, und auf
+guten Fortgang hoffen."
+</p>
+
+<p>
+Damit begleitete sie den Herrn Kandidaten zur Tür hinaus und ging
+rasch nach dem Studierzimmer, um sich selbst der erfreulichen
+Nachricht zu versichern. Richtig saß hier Heidi neben Klara und
+las dieser eine Geschichte vor, sichtlich selbst mit dem größten
+Erstaunen und mit einem wachsenden Eifer in die neue Welt
+eindringend, die ihm aufgegangen war, nun ihm mit einem Mal aus den
+schwarzen Buchstaben Menschen und Dinge entgegentraten und Leben
+gewannen und zu herzbewegenden Geschichten wurden. Noch am selben
+Abend, als man sich zu Tische setzte, fand Heidi auf seinem Teller
+das große Buch liegen mit den schönen Bildern, und als es fragend
+nach der Großmama blickte, sagte diese freundlich nickend: "Ja, ja,
+nun gehört es dir."
+</p>
+
+<p>
+"Für immer? Auch wenn ich heimgehe?", fragte Heidi ganz rot vor
+Freude.
+</p>
+
+<p>
+"Gewiss, für immer!", versicherte die Großmama; "morgen fangen wir
+an zu lesen."
+</p>
+
+<p>
+"Aber du gehst nicht heim, noch viele Jahre nicht, Heidi", warf
+Klara hier ein; "wenn nun die Großmama wieder fortgeht, dann musst
+du erst recht bei mir bleiben."
+</p>
+
+<p>
+Noch vor dem Schlafengehen musste Heidi in seinem Zimmer sein
+schönes Buch ansehen, und von dem Tage an war es sein Liebstes,
+über seinem Buch zu sitzen und immer wieder die Geschichten zu
+lesen, zu denen die schönen bunten Bilder gehörten. Sagte am Abend
+die Großmama: "Nun liest uns Heidi vor", so war das Kind sehr
+beglückt, denn das Lesen ging ihm nun ganz leicht, und wenn es die
+Geschichten laut vorlas, so kamen sie ihm noch viel schöner und
+verständlicher vor, und die Großmama erklärte dann noch so vieles
+und erzählte immer noch mehr dazu. Am liebsten beschaute Heidi
+immer wieder seine grüne Weide und den Hirten mitten unter der
+Herde, wie er so vergnüglich, auf seinen langen Stab gelehnt,
+dastand, denn da war er noch bei der schönen Herde des Vaters und
+ging nur den lustigen Schäfchen und Ziegen nach, weil es ihn freute.
+Aber dann kam das Bild, wo er, vom Vaterhaus weggelaufen, nun in
+der Fremde war und die Schweinchen hüten musste und ganz mager
+geworden war bei den Trebern, die er allein noch zu essen bekam.
+Und auf dem Bilde schien auch die Sonne nicht mehr so golden, da
+war das Land grau und nebelig. Aber dann kam noch ein Bild zu der
+Geschichte: Da kam der alte Vater mit ausgebreiteten Armen aus dem
+Hause heraus und lief dem heimkehrenden reuigen Sohn entgegen, um
+ihn zu empfangen, der ganz furchtsam und abgemagert in einem
+zerrissenen Wams daherkam. Das war Heidis Lieblingsgeschichte, die
+es immer wieder las, laut und leise, und es konnte nie genug der
+Erklärungen bekommen, welche die Großmama den Kindern dazu machte.
+Da waren aber noch so viele schöne Geschichten in dem Buch, und bei
+dem Lesen derselben und dem Bilderbesehen gingen die Tage sehr
+schnell dahin, und schon nahte die Zeit heran, welche die Großmama
+zu ihrer Abreise bestimmt hatte.
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap11"></a>
+Heidi nimmt auf einer Seite zu und auf der anderen ab
+</h3>
+
+<p>
+Die Großmama hatte während der ganzen Zeit ihres Aufenthalts jeden
+Nachmittag, wenn Klara sich hinlegte und Fräulein Rottenmeier,
+wahrscheinlich der Ruhe bedürftig, geheimnisvoll verschwand, sich
+einen Augenblick neben Klara hingesetzt; aber schon nach fünf
+Minuten war sie wieder auf den Füßen und hatte dann immer Heidi auf
+ihre Stube berufen, sich mit ihm besprochen und es auf allerlei
+Weise beschäftigt und unterhalten. Die Großmama hatte hübsche
+kleine Puppen und zeigte dem Heidi, wie man ihnen Kleider und
+Schürzchen macht, und ganz unvermerkt hatte Heidi das Nähen erlernt
+und machte den kleinen Frauenzimmern die schönsten Röcke und
+Mäntelchen, denn die Großmama hatte immer Zeugstücke von den
+prächtigsten Farben. Nun Heidi lesen konnte, durfte es auch immer
+wieder der Großmama seine Geschichten vorlesen; das machte ihm die
+größte Freude, denn je mehr es seine Geschichten las, desto lieber
+wurden sie ihm, denn Heidi lebte alles ganz mit durch, was die
+Leute alle zu erleben hatten, und so hatte es zu ihnen allen ein
+sehr nahes Verhältnis und freute sich immer wieder, bei ihnen zu
+sein. Aber so recht froh sah Heidi nie aus, und seine lustigen
+Augen waren nie mehr zu sehen.
+</p>
+
+<p>
+Es war die letzte Woche, welche die Großmama in Frankfurt zubringen
+wollte. Sie hatte eben nach Heidi gerufen, dass es auf ihre Stube
+komme; es war die Zeit, da Klara schlief. Als Heidi eintrat mit
+seinem großen Buch unter dem Arm, winkte ihm die Großmama, dass es
+ganz nahe zu ihr herankomme, legte das Buch weg und sagte: "Nun
+komm, Kind, und sag mir, warum bist du nicht fröhlich? Hast du
+immer noch denselben Kummer im Herzen?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja", nickte Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"Hast du ihn dem lieben Gott geklagt?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja."
+</p>
+
+<p>
+"Und betest du nun alle Tage, dass alles gut werde und er dich froh
+mache?"
+</p>
+
+<p>
+"O nein, ich bete jetzt gar nie mehr."
+</p>
+
+<p>
+"Was sagst du mir, Heidi? Was muss ich hören? Warum betest du
+denn nicht mehr?"
+</p>
+
+<p>
+"Es nützt nichts, der liebe Gott hat nicht zugehört, und ich glaube
+es auch wohl", fuhr Heidi in einiger Aufregung weiter, "wenn nun am
+Abend so viele, viele Leute in Frankfurt alle miteinander beten, so
+kann der liebe Gott ja nicht auf alle Acht geben, und mich hat er
+gewiss gar nicht gehört."
+</p>
+
+<p>
+"So, wie weißt du denn das so sicher, Heidi?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich habe alle Tage das Gleiche gebetet, manche Woche lang, und der
+liebe Gott hat es nie getan."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, so geht's nicht zu, Heidi! Das musst du nicht meinen! Siehst
+du, der liebe Gott ist für uns alle ein guter Vater, der immer weiß,
+was gut für uns ist, wenn wir es gar nicht wissen. Wenn wir aber
+nun etwas von ihm haben wollen, das nicht gut für uns ist, so gibt
+er uns das nicht, sondern etwas viel Besseres, wenn wir fortfahren,
+so recht herzlich zu ihm zu beten, aber nicht gleich weglaufen und
+alles Vertrauen zu ihm verlieren. Siehst du, was du nun von ihm
+erbitten wolltest, das war in diesem Augenblick nicht gut für dich;
+der liebe Gott hat dich schon gehört, er kann alle Menschen auf
+einmal anhören und übersehen, siehst du, dafür ist er der liebe
+Gott und nicht ein Mensch wie du und ich. Und weil er nun wohl
+wusste, was für dich gut ist, dachte er bei sich: 'Ja, das
+Heidi soll schon einmal haben, wofür es bittet, aber erst dann,
+wenn es ihm gut ist, und so wie es darüber recht froh werden kann.
+Denn wenn ich jetzt tue, was es will, und es merkt nachher, dass es
+doch besser gewesen wäre, ich hätte ihm seinen Willen nicht getan,
+dann weint es nachher und sagt: Hätte mir doch der liebe Gott nur
+nicht gegeben, wofür ich bat, es ist gar nicht so gut, wie ich
+gemeint habe.' Und während nun der liebe Gott auf dich
+niedersah, ob du ihm auch recht vertrautest und täglich zu ihm
+kommest und betest und immer zu ihm aufsehest, wenn dir etwas fehlt,
+da bist du weggelaufen ohne alles Vertrauen, hast nie mehr gebetet
+und hast den lieben Gott ganz vergessen. Aber siehst du, wenn
+einer es so macht und der liebe Gott hört seine Stimme gar nie mehr
+unter den Betenden, so vergisst er ihn auch und lässt ihn gehen,
+wohin er will. Wenn es ihm dabei aber schlecht geht und er jammert:
+'Mir hilft aber auch gar niemand!', dann hat keiner
+Mitleiden mit ihm, sondern jeder sagt zu ihm: 'Du bist ja
+selbst vom lieben Gott weggelaufen, der dir helfen konnte!'
+Willst du's so haben, Heidi, oder willst du gleich wieder zum
+lieben Gott gehen und ihn um Verzeihung bitten, dass du so von ihm
+weggelaufen bist, und dann alle Tage zu ihm beten und ihm vertrauen,
+dass er alles gut für dich machen werde, so dass du auch wieder
+ein frohes Herz bekommen kannst?"
+</p>
+
+<p>
+Heidi hatte sehr aufmerksam zugehört; jedes Wort der Großmama fiel
+in sein Herz, denn zu ihr hatte das Kind ein unbedingtes Vertrauen.
+</p>
+
+<p>
+"Ich will jetzt gleich auf der Stelle gehen und den lieben Gott um
+Verzeihung bitten, und ich will ihn nie mehr vergessen", sagte
+Heidi reumütig.
+</p>
+
+<p>
+"So ist's recht, Kind, er wird dir auch helfen zur rechten Zeit,
+sei nur getrost!", ermunterte die Großmama, und Heidi lief sofort
+in sein Zimmer hinüber und betete ernstlich und reuig zum lieben
+Gott und bat ihn, dass er es doch nicht vergessen und auch wieder
+zu ihm niederschauen möge.--
+</p>
+
+<p>
+Der Tag der Abreise war gekommen, es war für Klara und Heidi ein
+trauriger Tag; aber die Großmama wusste es so einzurichten, dass
+sie gar nicht zum Bewusstsein kamen, dass es eigentlich ein
+trauriger Tag sei, sondern es war eher wie ein Festtag, bis die
+gute Großmama im Wagen davonfuhr. Da trat eine Leere und Stille im
+Hause ein, als wäre alles vorüber, und solange noch der Tag währte,
+saßen Klara und Heidi wie verloren da und wussten gar nicht, wie es
+nun weiter kommen sollte.
+</p>
+
+<p>
+Am folgenden Tag, als die Unterrichtsstunden vorbei und die Zeit da
+war, da die Kinder gewöhnlich zusammensaßen, trat Heidi mit seinem
+Buch unter dem Arm herein und sagte: "Ich will dir nun immer, immer
+vorlesen; willst du, Klara?"
+</p>
+
+<p>
+Der Klara war der Vorschlag recht für einmal, und Heidi machte sich
+mit Eifer an seine Tätigkeit. Aber es ging nicht lange, so hörte
+schon wieder alles auf, denn kaum hatte Heidi eine Geschichte zu
+lesen begonnen, die von einer sterbenden Großmutter handelte, als
+es auf einmal laut aufschrie: "Oh, nun ist die Großmutter tot!",
+und in ein jammervolles Weinen ausbrach, denn alles, was es las,
+war dem Heidi volle Gegenwart, und es glaubte nicht anders, als nun
+sei die Großmutter auf der Alm gestorben, und es klagte in immer
+lauterem Weinen: "Nun ist die Großmutter tot, und ich kann nie mehr
+zu ihr gehen, und sie hat nicht ein einziges Brötchen mehr bekommen!
+"
+</p>
+
+<p>
+Klara suchte immerfort dem Heidi zu erklären, dass es ja nicht die
+Großmutter auf der Alm sei, sondern eine ganz andere, von der diese
+Geschichte handle; aber auch, als sie endlich dazu gekommen war,
+dem aufgeregten Heidi diese Verwechslung klar zu machen, konnte es
+sich doch nicht beruhigen und weinte immer noch untröstlich weiter,
+denn der Gedanke war ihm nun im Herzen erwacht, die Großmutter
+könne ja sterben, während es so weit weg sei, und der Großvater
+auch noch, und wenn es dann nach einiger Zeit wieder heimkomme, so
+sei alles still und tot auf der Alm und es stehe ganz allein da und
+könne niemals mehr die sehen, die ihm lieb waren.
+</p>
+
+<p>
+Währenddessen war Fräulein Rottenmeier ins Zimmer getreten und
+hatte noch Klaras Bemühungen, Heidi über seinen Irrtum aufzuklären,
+mit angehört. Als das Kind aber immer noch nicht aufhören konnte
+zu schluchzen, trat sie mit sichtlichen Zeichen der Ungeduld zu den
+Kindern heran und sagte mit bestimmtem Ton: "Adelheid, nun ist des
+grundlosen Geschreis genug! Ich will dir eines sagen: Wenn du noch
+ein einziges Mal beim Lesen deiner Geschichten solchen Ausbrüchen
+den Lauf lässt, so nehme ich das Buch aus deinen Händen und für
+immer!"
+</p>
+
+<p>
+Das machte Eindruck. Heidi wurde ganz weiß vor Schrecken, das Buch
+war sein höchster Schatz. Es trocknete in größter Eile seine
+Tränen und schluckte und würgte sein Schluchzen mit Gewalt hinunter,
+so dass kein Tönchen mehr laut wurde. Das Mittel hatte geholfen,
+Heidi weinte nie mehr, was es auch lesen mochte; aber manchmal
+hatte es solche Anstrengungen zu machen, um sich zu überwinden und
+nicht aufzuschreien, dass Klara öfter ganz erstaunt sagte: "Heidi,
+du machst so schreckliche Grimassen, wie ich noch nie gesehen habe.
+" Aber die Grimassen machten keinen Lärm und fielen der Dame
+Rottenmeier nicht auf, und wenn Heidi seinen Anfall von
+verzweiflungsvoller Traurigkeit niedergerungen hatte, kam alles
+wieder ins Geleise für einige Zeit und war tonlos vorübergegangen.
+Aber seinen Appetit verlor Heidi so sehr und sah so mager und
+bleich aus, dass der Sebastian fast nicht ertragen konnte, das so
+mit anzusehen und Zeuge sein zu müssen, wie Heidi bei Tisch die
+schönsten Gerichte an sich vorübergehen ließ und nichts essen
+wollte. Er flüsterte ihm auch öfter ermunternd zu, wenn er ihm
+eine Schüssel hinhielt: "Nehmen von dem, Mamsellchen, 's ist
+vortrefflich. Nicht so! Einen rechten Löffel voll, noch einen!",
+und dergleichen väterlicher Räte mehr; aber es half nichts: Heidi
+aß fast gar nicht mehr, und wenn es sich am Abend auf sein Kissen
+legte, so hatte es augenblicklich alles vor Augen, was daheim war,
+und nur ganz leise weinte es dann vor Sehnsucht in sein Kissen
+hinein, so dass es gar niemand hören konnte.
+</p>
+
+<p>
+So ging eine lange Zeit dahin. Heidi wusste gar nie, ob es Sommer
+oder Winter sei, denn die Mauern und Fenster, die es aus allen
+Fenstern des Hauses Sesemann erblickte, sahen immer gleich aus, und
+hinaus kam es nur, wenn es Klara besonders gut ging und eine
+Ausfahrt im Wagen mit ihr gemacht werden konnte, die aber immer
+sehr kurz war, denn Klara konnte nicht vertragen, lang zu fahren.
+So kam man kaum aus den Mauern und Steinstraßen heraus, sondern
+kehrte gewöhnlich vorher wieder um und fuhr immerfort durch große,
+schöne Straßen, wo Häuser und Menschen in Fülle zu sehen waren,
+aber nicht Gras und Blumen, keine Tannen und keine Berge, und
+Heidis Verlangen nach dem Anblick der schönen gewohnten Dinge
+steigerte sich mit jedem Tage mehr, so dass es jetzt nur den Namen
+eines dieser Erinnerung weckenden Worte zu lesen brauchte, so war
+schon ein Ausbruch des Schmerzes nahe, und Heidi hatte mit aller
+Gewalt dagegen zu ringen. So waren Herbst und Winter vergangen,
+und schon blendete die Sonne wieder so stark auf die weißen Mauern
+am Hause gegenüber, dass Heidi ahnte, nun sei die Zeit nahe, da der
+Peter wieder zur Alm führe mit den Geißen, da die goldenen
+Cystusröschen glitzerten droben im Sonnenschein und allabendlich
+ringsum alle Berge im Feuer ständen. Heidi setzte sich in seinem
+einsamen Zimmer in einen Winkel und hielt sich mit beiden Händen
+die Augen zu, dass es den Sonnenschein drüben an der Mauer nicht
+sehe; und so saß es regungslos, sein brennendes Heimweh lautlos
+niederkämpfend, bis Klara wieder nach ihm rief.
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap12"></a>
+Im Hause Sesemann spukt's
+</h3>
+
+<p>
+Seit einigen Tagen wanderte Fräulein Rottenmeier meistens
+schweigend und in sich gekehrt im Haus herum. Wenn sie um die Zeit
+der Dämmerung von einem Zimmer ins andere oder über den langen
+Korridor ging, schaute sie öfters um sich, gegen die Ecken hin und
+auch schnell einmal hinter sich, so, als denke sie, es könnte
+jemand leise hinter ihr herkommen und sie unversehens am Rock
+zupfen. So allein ging sie aber nur noch in den bewohnten Räumen
+herum. Hatte sie auf dem oberen Boden, wo die feierlich
+aufgerüsteten Gastzimmer lagen, oder gar in den unteren Räumen
+etwas zu besorgen, wo der große geheimnisvolle Saal war, in dem
+jeder Tritt einen weithin schallenden Widerhall gab und die alten
+Ratsherren mit den großen, weißen Kragen so ernsthaft und
+unverwandt auf einen niederschauten, da rief sie nun regelmäßig die
+Tinette herbei und sagte ihr, sie habe mitzukommen, im Fall etwas
+von dort herauf- oder von oben herunterzutragen wäre. Tinette
+ihrerseits machte es pünktlich ebenso; hatte sie oben oder unten
+irgendein Geschäft abzutun, so rief sie den Sebastian herbei und
+sagte ihm, er habe sie zu begleiten, es möchte etwas
+herbeizubringen sein, das sie nicht allein tragen könnte.
+Wunderbarerweise tat auch Sebastian akkurat dasselbe; wurde er in
+die abgelegenen Räume geschickt, so holte er den Johann herauf und
+wies ihn an, ihn zu begleiten, im Fall er nicht herbeischaffen
+könnte, was erforderlich sei. Und jedes folgte immer ganz willig
+dem Ruf, obschon eigentlich nie etwas herbeizutragen war, so dass
+jedes gut hätte allein gehen können; aber es war so, als denke der
+Herbeigerufene immer bei sich, er könne den anderen auch bald für
+denselben Dienst nötig haben. Während sich solches oben zutrug,
+stand unten die langjährige Köchin tiefsinnig bei ihren Töpfen und
+schüttelte den Kopf und seufzte: "Dass ich das noch erleben musste!"
+</p>
+
+<p>
+Es ging im Hause Sesemann seit einiger Zeit etwas ganz Seltsames
+und Unheimliches vor. Jeden Morgen, wenn die Dienerschaft
+herunterkam, stand die Haustür weit offen; aber weit und breit war
+niemand zu sehen, der mit dieser Erscheinung im Zusammenhang stehen
+konnte. In den ersten Tagen, da dies geschehen war, wurden gleich
+mit Schrecken alle Zimmer und Räume des Hauses durchsucht, um zu
+sehen, was alles gestohlen sei, denn man dachte, ein Dieb habe sich
+im Hause verstecken können und sei in der Nacht mit dem Gestohlenen
+entflohen; aber da war gar nichts fortgekommen, es fehlte im ganzen
+Hause nicht ein einziges Ding. Abends wurde nicht nur die Tür
+doppelt zugeriegelt, sondern es wurde noch der hölzerne Balken
+vorgeschoben--es half nichts: Am Morgen stand die Tür weit offen;
+und so früh nun auch die ganze Dienerschaft in ihrer Aufregung am
+Morgen herunterkommen mochte--die Tür stand offen, wenn auch
+ringsum alles noch im tiefen Schlaf lag und Fenster und Türen an
+allen anderen Häusern noch fest verrammelt waren. Endlich fassten
+sich der Johann und der Sebastian ein Herz und machten sich auf die
+dringenden Zureden der Dame Rottenmeier bereit, die Nacht unten in
+dem Zimmer, das an den großen Saal stieß, zuzubringen und zu
+erwarten, was geschehe. Fräulein Rottenmeier suchte mehrere Waffen
+des Herrn Sesemann hervor und übergab dem Sebastian eine große
+Liqueurflasche, damit Stärkung vorausgehen und gute Wehr nachfolgen
+könne, wo sie nötig sei.
+</p>
+
+<p>
+Die beiden setzten sich an dem festgesetzten Abend hin und fingen
+gleich an, sich Stärkung zuzutrinken, was sie erst sehr gesprächig
+und dann ziemlich schläfrig machte, worauf sie beide sich an die
+Sesselrücken lehnten und verstummten. Als die alte Turmuhr drüben
+zwölf schlug, ermannte sich Sebastian und rief seinen Kameraden an;
+der war aber nicht leicht zu erwecken; sooft ihn Sebastian anrief,
+legte er seinen Kopf von einer Seite der Sessellehne auf die andere
+und schlief weiter. Sebastian lauschte nunmehr gespannt, er war
+nun wieder ganz munter geworden. Es war alles mäuschenstill, auch
+von der Straße war kein Laut mehr zu hören. Sebastian entschlief
+nicht wieder, denn jetzt wurde es ihm sehr unheimlich in der großen
+Stille, und er rief den Johann nur noch mit gedämpfter Stimme an
+und rüttelte ihn von Zeit zu Zeit ein wenig. Endlich, als es
+droben schon ein Uhr geschlagen hatte, war der Johann wach geworden
+und wieder zum klaren Bewusstsein gekommen, warum er auf dem Stuhl
+sitze und nicht in seinem Bett liege. Jetzt fuhr er auf einmal
+sehr tapfer empor und rief: "Nun, Sebastian, wir müssen doch einmal
+hinaus und sehen, wie's steht; du wirst dich ja nicht fürchten.
+Nur mir nach."
+</p>
+
+<p>
+Johann machte die leicht angelehnte Zimmertür weit auf und trat
+hinaus. Im gleichen Augenblick blies aus der offenen Haustür ein
+scharfer Luftzug her und löschte das Licht aus, das der Johann in
+der Hand hielt. Dieser stürzte zurück, warf den hinter ihm
+stehenden Sebastian beinah rücklings ins Zimmer hinein, riss ihn
+dann mit, schlug die Tür zu und drehte in fieberhafter Eile den
+Schlüssel um, solang er nur umging. Dann riss er seine
+Streichhölzer hervor und zündete sein Licht wieder an. Sebastian
+wusste gar nicht recht, was vorgefallen war, denn hinter dem
+breiten Johann stehend, hatte er den Luftzug nicht so deutlich
+empfunden. Wie er aber jenen nun bei Licht besah, tat er einen
+Schreckensruf, denn der Johann war kreideweiß und zitterte wie
+Espenlaub. "Was ist's denn? Was war denn draußen?", fragte der
+Sebastian teilnehmend.
+</p>
+
+<p>
+"Sperrangelweit offen die Tür", keuchte Johann, "und auf der Treppe
+eine weiße Gestalt, siehst du, Sebastian, nur so die Treppe hinauf--
+husch und verschwunden."
+</p>
+
+<p>
+Dem Sebastian gruselte es den ganzen Rücken hinauf. Jetzt setzten
+sich die beiden ganz nah zusammen und regten sich nicht mehr, bis
+dass der neue Morgen da war und es auf der Straße anfing, lebendig
+zu werden. Dann traten sie zusammen hinaus, machten die weit offen
+stehende Haustür zu und stiegen dann hinauf, um Fräulein
+Rottenmeier Bericht zu erstatten über das Erlebte. Die Dame war
+auch schon zu sprechen, denn die Erwartung der zu vernehmenden
+Dinge hatte sie nicht mehr schlafen lassen. Sobald sie nun
+vernommen hatte, was vorgefallen war, setzte sie sich hin und
+schrieb einen Brief an Herrn Sesemann, wie er noch keinen erhalten
+hatte; er möge sich nur sogleich, ohne Verzug, aufmachen und nach
+Hause zurückkehren, denn da geschähen unerhörte Dinge. Dann wurde
+ihm das Vorgefallene mitgeteilt sowie auch die Nachricht, dass
+fortgesetzt die Tür jeden Morgen offen stehe; dass also keiner im
+Hause seines Lebens mehr sicher sei bei dergestalt allnächtlich
+offen stehender Hauspforte und dass man überhaupt nicht absehen
+könne, was für dunkle Folgen dieser unheimliche Vorgang noch nach
+sich ziehen könne. Herr Sesemann antwortete umgehend, es sei ihm
+unmöglich, so plötzlich alles liegen zu lassen und nach Hause zu
+kommen. Die Gespenstergeschichte sei ihm sehr befremdend, er hoffe
+auch, sie sei vorübergehend; sollte es indessen keine Ruhe geben,
+so möge Fräulein Rottenmeier an Frau Sesemann schreiben und sie
+fragen, ob sie nicht nach Frankfurt zu Hilfe kommen wollte; gewiss
+würde seine Mutter in kürzester Zeit mit den Gespenstern fertig,
+und diese trauten sich nachher sicher so bald nicht wieder, sein
+Haus zu beunruhigen. Fräulein Rottenmeier war nicht zufrieden mit
+dem Ton dieses Briefes; die Sache war ihr zu wenig ernst aufgefasst.
+Sie schrieb unverzüglich an Frau Sesemann, aber von dieser Seite
+her tönte es nicht eben befriedigender, und die Antwort enthielt
+einige ganz anzügliche Bemerkungen. Frau Sesemann schrieb, sie
+gedenke nicht, extra von Holstein nach Frankfurt hinunterzureisen,
+weil die Rottenmeier Gespenster sehe. Übrigens sei niemals ein
+Gespenst gesehen worden im Hause Sesemann, und wenn jetzt eines
+darin herumfahre, so könne es nur ein lebendiges sein, mit dem die
+Rottenmeier sich sollte verständigen können; wo nicht, so solle sie
+die Nachtwächter zu Hilfe rufen.
+</p>
+
+<p>
+Aber Fräulein Rottenmeier war entschlossen, ihre Tage nicht mehr in
+Schrecken zuzubringen, und sie wusste sich zu helfen. Bis dahin
+hatte sie den beiden Kindern nichts von der Geistererscheinung
+gesagt, denn sie befürchtete, die Kinder würden vor Furcht Tag und
+Nacht keinen Augenblick mehr allein bleiben wollen, und das konnte
+sehr unbequeme Folgen für sie haben. Jetzt ging sie stracks ins
+Studierzimmer hinüber, wo die beiden zusammensaßen, und erzählte
+mit gedämpfter Stimme von den nächtlichen Erscheinungen eines
+Unbekannten. Sofort schrie Klara auf, sie bleibe keinen Augenblick
+mehr allein, der Papa müsse nach Hause kommen und Fräulein
+Rottenmeier müsse zum Schlafen in ihr Zimmer hinüberziehen, und
+Heidi dürfe auch nicht mehr allein sein, sonst könne das Gespenst
+einmal zu ihm kommen und ihm etwas tun; sie wollten alle in (einem)
+Zimmer schlafen und die ganze Nacht das Licht brennen lassen, und
+Tinette müsste nebenan schlafen und der Sebastian und der Johann
+müssten auch herunterkommen und auf dem Korridor schlafen, dass sie
+gleich schreien und das Gespenst erschrecken könnten, wenn es etwa
+die Treppe heraufkommen wollte. Klara war sehr aufgeregt und
+Fräulein Rottenmeier hatte nun die größte Mühe, sie etwas zu
+beschwichtigen. Sie versprach ihr, sogleich an den Papa zu
+schreiben und auch ihr Bett in Klaras Zimmer stellen und sie nie
+mehr allein lassen zu wollen. Alle konnten sie nicht in demselben
+Raume schlafen, aber wenn Adelheid sich auch fürchten sollte, so
+müsste Tinette ihr Nachtlager bei ihr aufschlagen. Aber Heidi
+fürchtete sich mehr vor der Tinette als vor Gespenstern, von denen
+das Kind noch gar nie etwas gehört hatte, und es erklärte gleich,
+es fürchte das Gespenst nicht und wolle schon allein in seinem
+Zimmer bleiben. Hierauf eilte Fräulein Rottenmeier an ihren
+Schreibtisch und schrieb an Herrn Sesemann, die unheimlichen
+Vorgänge im Hause, die allnächtlich sich wiederholten, hätten die
+zarte Konstitution seiner Tochter dergestalt erschüttert, dass die
+schlimmsten Folgen zu befürchten seien; man habe Beispiele von
+plötzlich eintretenden epileptischen Zufällen oder Veitstanz in
+solchen Verhältnissen, und seine Tochter sei allem ausgesetzt, wenn
+dieser Zustand des Schreckens im Hause nicht gehoben werde.
+</p>
+
+<p>
+Das half. Zwei Tage darauf stand Herr Sesemann vor seiner Tür und
+schellte dergestalt an seiner Hausglocke, dass alles zusammenlief
+und einer den anderen anstarrte, denn man glaubte nicht anders, als
+nun lasse der Geist frecherweise noch vor Nacht seine boshaften
+Stücke aus. Sebastian guckte ganz behutsam durch einen halb
+geöffneten Laden von oben herunter; in dem Augenblick schellte es
+noch einmal so nachdrücklich, dass jeder unwillkürlich eine
+Menschenhand hinter dem tüchtigen Ruck vermutete. Sebastian hatte
+die Hand erkannt, stürzte durchs Zimmer, kopfüber die Treppe
+hinunter, kam aber unten wieder auf die Füße und riss die Haustür
+auf. Herr Sesemann grüßte kurz und stieg ohne weiteres nach dem
+Zimmer seiner Tochter hinauf. Klara empfing den Papa mit einem
+lauten Freudenruf, und als er sie so munter und völlig unverändert
+sah, glättete sich seine Stirn, die er vorher sehr zusammengezogen
+hatte, und immer mehr, als er nun von ihr selbst hörte, sie sei so
+wohl wie immer und sie sei so froh, dass er gekommen sei, dass es
+ihr jetzt ganz recht sei, dass ein Geist im Haus herumfahre, weil
+er doch daran schuld sei, dass der Papa heimkommen musste.
+</p>
+
+<p>
+"Und wie führt sich das Gespenst weiter auf, Fräulein Rottenmeier?",
+fragte nun Herr Sesemann mit einem lustigen Ausdruck in den
+Mundwinkeln.
+</p>
+
+<p>
+"Nein, Herr Sesemann", entgegnete die Dame ernst, "es ist kein
+Scherz. Ich zweifle nicht daran, dass morgen Herr Sesemann nicht
+mehr lachen wird; denn was in dem Hause vorgeht, deutet auf
+Fürchterliches, das hier in vergangener Zeit muss vorgegangen und
+verheimlicht worden sein."
+</p>
+
+<p>
+"So, davon weiß ich nichts", bemerkte Herr Sesemann, "muss aber
+bitten, meine völlig ehrenwerten Ahnen nicht verdächtigen zu wollen.
+Und nun rufen Sie mir den Sebastian ins Esszimmer, ich will
+allein mit ihm reden."
+</p>
+
+<p>
+Herr Sesemann ging hinüber und Sebastian erschien. Es war Herrn
+Sesemann nicht entgangen, dass Sebastian und Fräulein Rottenmeier
+sich nicht eben mit Zuneigung betrachteten; so hatte er seine
+Gedanken.
+</p>
+
+<p>
+"Komm Er her, Bursche", winkte er dem Eintretenden entgegen, "und
+sag Er mir nun ganz ehrlich: Hat Er nicht etwa selbst ein wenig
+Gespenst gespielt, so um Fräulein Rottenmeier etwas Kurzweil zu
+machen, he?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, meiner Treu, das muss der gnädige Herr nicht glauben; es ist
+mir selbst nicht ganz gemütlich bei der Sache", entgegnete
+Sebastian mit unverkennbarer Ehrlichkeit.
+</p>
+
+<p>
+"Nun, wenn es so steht, so will ich morgen Ihm und dem tapferen
+Johann zeigen, wie Gespenster beim Licht aussehen. Schäme Er sich,
+Sebastian, ein junger, kräftiger Bursch, wie Er ist, vor
+Gespenstern davonzulaufen! Nun geh Er unverzüglich zu meinem alten
+Freund, Doktor Classen: meine Empfehlung und er möchte unfehlbar
+heut Abend neun Uhr bei mir erscheinen; ich sei extra von Paris
+hergereist, um ihn zu konsultieren. Er müsse die Nacht bei mir
+wachen, so schlimm sei's; er solle sich richten! Verstanden,
+Sebastian?"
+</p>
+
+<p>
+"Jawohl, jawohl! Der gnädige Herr kann sicher sein, dass ich's gut
+mache." Damit entfernte sich Sebastian, und Herr Sesemann kehrte zu
+seinem Töchterchen zurück, um ihr alle Furcht vor einer Erscheinung
+zu benehmen, die er noch heute ins nötige Licht stellen wollte.
+</p>
+
+<p>
+Punkt neun Uhr, als die Kinder zur Ruhe gegangen und auch Fräulein
+Rottenmeier sich zurückgezogen hatte, erschien der Doktor, der
+unter seinen grauen Haaren noch ein recht frisches Gesicht und zwei
+lebhaft und freundlich blickende Augen zeigte. Er sah etwas
+ängstlich aus, brach aber gleich nach seiner Begrüßung in ein
+helles Lachen aus und sagte, seinem Freunde auf die Schulter
+klopfend: "Nun, nun, für einen, bei dem man wachen soll, siehst du
+noch leidlich aus, Alter."
+</p>
+
+<p>
+"Nur Geduld, Alter", gab Herr Sesemann zurück; "derjenige, für den
+du wachen musst, wird schon schlimmer aussehen, wenn wir ihn erst
+abgefangen haben."
+</p>
+
+<p>
+"Also doch ein Kranker im Haus und dazu einer, der eingefangen
+werden muss?"
+</p>
+
+<p>
+"Weit schlimmer, Doktor, weit schlimmer. Ein Gespenst im Hause,
+bei mir spukt's!"
+</p>
+
+<p>
+Der Doktor lachte laut auf.
+</p>
+
+<p>
+"Schöne Teilnahme das, Doktor!", fuhr Herr Sesemann fort; "schade,
+dass meine Freundin Rottenmeier sie nicht genießen kann. Sie ist
+fest überzeugt, dass ein alter Sesemann hier herumrumort und
+Schauertaten abbüßt."
+</p>
+
+<p>
+"Wie hat sie ihn aber nur kennen gelernt?", fragte der Doktor noch
+immer sehr erheitert.
+</p>
+
+<p>
+Herr Sesemann erzählte nun seinem Freunde den ganzen Vorgang und
+wie noch jetzt allnächtlich die Haustür geöffnet werde, nach der
+Angabe der sämtlichen Hausbewohner, und fügte hinzu, um für alle
+Fälle vorbereitet zu sein, habe er zwei gut geladene Revolver in
+das Wachtlokal legen lassen; denn entweder sei die Sache ein sehr
+unerwünschter Scherz, den sich vielleicht irgendein Bekannter der
+Dienerschaft mache, um die Leute des Hauses in Abwesenheit des
+Hausherrn zu erschrecken--dann könnte ein kleiner Schrecken, wie
+ein guter Schuss ins Leere, ihm nicht unheilsam sein--; oder auch
+es handle sich um Diebe, die auf diese Weise erst den Gedanken an
+Gespenster aufkommen lassen wollten, um nachher umso sicherer zu
+sein, dass niemand sich herauswage--in diesem Falle könnte eine
+gute Waffe auch nicht schaden.
+</p>
+
+<p>
+Während dieser Erklärungen waren die Herren die Treppe
+hinuntergestiegen und traten in dasselbe Zimmer ein, wo Johann und
+Sebastian auch gewacht hatten. Auf dem Tische standen einige
+Flaschen schönen Weines, denn eine kleine Stärkung von Zeit zu Zeit
+konnte nicht unerwünscht sein, wenn die Nacht da zugebracht werden
+musste. Daneben lagen die beiden Revolver, und zwei, ein helles
+Licht verbreitende Armleuchter standen mitten auf dem Tisch, denn
+so im Halbdunkel wollte Herr Sesemann das Gespenst denn doch nicht
+erwarten.
+</p>
+
+<p>
+Nun wurde die Tür ans Schloss gelehnt, denn zu viel Licht durfte
+nicht in den Korridor hinausfließen, es konnte das Gespenst
+verscheuchen. Jetzt setzten sich die Herren gemütlich in ihre
+Lehnstühle und fingen an, sich allerlei zu erzählen, nahmen auch
+hier und da dazwischen einen guten Schluck, und so schlug es zwölf
+Uhr, eh sie sich's versahen.
+</p>
+
+<p>
+"Das Gespenst hat uns gewittert und kommt wohl heut gar nicht",
+sagte der Doktor jetzt.
+</p>
+
+<p>
+"Nur Geduld, es soll erst um ein Uhr kommen", entgegnete der Freund.
+</p>
+
+<p>
+Das Gespräch wurde wieder aufgenommen. Es schlug ein Uhr. Ringsum
+war es völlig still, auch auf den Straßen war aller Lärm verklungen.
+Auf einmal hob der Doktor den Finger empor.
+</p>
+
+<p>
+"Pst, Sesemann, hörst du nichts?"
+</p>
+
+<p>
+Sie lauschten beide. Leise, aber ganz deutlich hörten sie, wie der
+Balken zurückgeschoben, dann der Schlüssel zweimal im Schloss
+umgedreht, jetzt die Tür geöffnet wurde. Herr Sesemann fuhr mit
+der Hand nach seinem Revolver.
+</p>
+
+<p>
+"Du fürchtest dich doch nicht?", sagte der Doktor und stand auf.
+</p>
+
+<p>
+"Behutsam ist besser", flüsterte Herr Sesemann, erfasste mit der
+Linken den Armleuchter mit drei Kerzen, mit der Rechten den
+Revolver und folgte dem Doktor, der, gleichermaßen mit Leuchter und
+Schießgewehr bewaffnet, voranging. Sie traten auf den Korridor
+hinaus.
+</p>
+
+<p>
+Durch die weit geöffnete Tür floss ein bleicher Mondschein herein
+und beleuchtete eine weiße Gestalt, die regungslos auf der Schwelle
+stand.
+</p>
+
+<p>
+"Wer da?", donnerte jetzt der Doktor heraus, dass es durch den
+ganzen Korridor hallte, und beide Herren traten nun mit Lichtern
+und Waffen an die Gestalt heran. Sie kehrte sich um und tat einen
+leisen Schrei. Mit bloßen Füßen im weißen Nachtkleidchen stand
+Heidi da, schaute mit verwirrten Blicken in die hellen Flammen und
+auf die Waffen und zitterte und bebte wie ein Blättlein im Winde
+von oben bis unten. Die Herren schauten einander in großem
+Erstaunen an.
+</p>
+
+<p>
+"Ich glaube wahrhaftig, Sesemann, es ist deine kleine
+Wasserträgerin", sagte der Doktor.
+</p>
+
+<p>
+"Kind, was soll das heißen?", fragte nun Herr Sesemann. "Was
+wolltest du tun? Warum bist du hier heruntergekommen?"
+</p>
+
+<p>
+Schneeweiß vor Schrecken stand Heidi vor ihm und sagte fast tonlos:
+"Ich weiß nicht."
+</p>
+
+<p>
+Jetzt trat der Doktor vor: "Sesemann, der Fall gehört in mein
+Gebiet; geh, setz dich einstweilen in deinen Lehnstuhl drinnen, ich
+will vor allem das Kind hinbringen, wo es hingehört."
+</p>
+
+<p>
+Damit legte er seinen Revolver auf den Boden, nahm das zitternde
+Kind ganz väterlich bei der Hand und ging mit ihm der Treppe zu.
+</p>
+
+<p>
+"Nicht fürchten, nicht fürchten", sagte er freundlich im
+Hinaufsteigen, "nur ganz ruhig sein, da ist gar nichts Schlimmes
+dabei, nur getrost sein."
+</p>
+
+<p>
+In Heidis Zimmer eingetreten, stellte der Doktor seinen Leuchter
+auf den Tisch, nahm Heidi auf den Arm, legte es in sein Bett hinein
+und deckte es sorgfältig zu. Dann setzte er sich auf den Sessel am
+Bett und wartete, bis Heidi ein wenig beruhigt war und nicht mehr
+an allen Gliedern bebte. Dann nahm er das Kind bei der Hand und
+sagte begütigend: "So, nun ist alles in Ordnung, nun sag mir auch
+noch, wo wolltest du denn hin?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich wollte gewiss nirgends hin", versicherte Heidi; "ich bin auch
+gar nicht selbst hinuntergegangen, ich war nur auf einmal da."
+</p>
+
+<p>
+"So, so, und hast du etwa geträumt in der Nacht, weißt du, so, dass
+du deutlich etwas sahst und hörtest?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja, jede Nacht träumt es mir und immer gleich. Dann mein ich, ich
+sei beim Großvater, und draußen hör ich's in den Tannen sausen und
+denke: Jetzt glitzern so schön die Sterne am Himmel, und ich laufe
+geschwind und mache die Tür auf an der Hütte und da ist's so schön!
+Aber wenn ich erwache, bin ich immer noch in Frankfurt." Heidi
+fing schon an zu kämpfen und zu schlucken an dem Gewicht, das den
+Hals hinaufstieg.
+</p>
+
+<p>
+"Hm, und tut dir denn auch nichts weh, nirgends? Nicht im Kopf
+oder im Rücken?"
+</p>
+
+<p>
+"O nein, nur hier drückt es so wie ein großer Stein immerfort."
+</p>
+
+<p>
+"Hm, etwa so, wie wenn man etwas gegessen hat und wollte es nachher
+lieber wieder zurückgeben?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, so nicht, aber so schwer, wie wenn man stark weinen sollte."
+</p>
+
+<p>
+"So, so, und weinst du denn so recht heraus?"
+</p>
+
+<p>
+"O nein, das darf man nicht, Fräulein Rottenmeier hat es verboten."
+</p>
+
+<p>
+"Dann schluckst du's herunter zum andern, nicht wahr, so? Richtig!
+Nun, du bist doch recht gern in Frankfurt, nicht?"
+</p>
+
+<p>
+"O ja", war die leise Antwort; sie klang aber so, als bedeute sie
+eher das Gegenteil.
+</p>
+
+<p>
+"Hm, und wo hast du mit deinem Großvater gelebt?"
+</p>
+
+<p>
+"Immer auf der Alm."
+</p>
+
+<p>
+"So, da ist's doch nicht so besonders kurzweilig, eher ein wenig
+langweilig, nicht?"
+</p>
+
+<p>
+"O nein, da ist's so schön, so schön!" Heidi konnte nicht weiter;
+die Erinnerung, die eben durchgemachte Aufregung, das lang
+verhaltene Weinen überwältigten die Kräfte des Kindes; gewaltsam
+stürzten ihm die Tränen aus den Augen und es brach in ein lautes,
+heftiges Schluchzen aus.
+</p>
+
+<p>
+Der Doktor stand auf; er legte freundlich Heidis Kopf auf das
+Kissen nieder und sagte: "So, noch ein klein wenig weinen, das kann
+nichts schaden, und dann schlafen, ganz fröhlich einschlafen;
+morgen wird alles gut." Dann verließ er das Zimmer.
+</p>
+
+<p>
+Wieder unten in die Wachtstube eingetreten, ließ er sich dem
+harrenden Freunde gegenüber in den Lehnstuhl nieder und erklärte
+dem mit gespannter Erwartung Lauschenden: "Sesemann, dein kleiner
+Schützling ist erstens mondsüchtig; völlig unbewusst hat er dir
+allnächtlich als Gespenst die Haustür aufgemacht und deiner ganzen
+Mannschaft die Fieber des Schreckens ins Gebein gejagt. Zweitens
+wird das Kind vom Heimweh verzehrt, so dass es schon jetzt fast zum
+Geripplein abgemagert ist und es noch völlig werden würde; also
+schnelle Hilfe! Für das erste Übel und die in hohem Grade
+stattfindende Nervenaufregung gibt es nur ein Heilmittel, nämlich,
+dass du sofort das Kind in die heimatliche Bergluft
+zurückversetzest; für das zweite gibt's ebenfalls nur (eine)
+Medizin, nämlich ganz dieselbe. Demnach reist das Kind morgen ab,
+das ist mein Rezept."
+</p>
+
+<p>
+Herr Sesemann war aufgestanden. In größter Aufregung lief er das
+Zimmer auf und ab; jetzt brach er aus: "Mondsüchtig! Krank!
+Heimweh! Abgemagert in meinem Hause! Das alles in meinem Hause!
+Und niemand sieht zu und weiß etwas davon! Und du, Doktor, du
+meinst, das Kind, das frisch und gesund in mein Haus gekommen ist,
+schicke ich elend und abgemagert seinem Großvater zurück? Nein,
+Doktor, das kannst du nicht verlangen, das tu ich nicht, das werde
+ich nie tun. Jetzt nimm das Kind in die Hand, mach Kuren mit ihm,
+mach, was du willst, aber mach es mir heil und gesund, dann will
+ich es heimschicken, wenn es will; aber erst hilf du!"
+</p>
+
+<p>
+"Sesemann", entgegnete der Doktor ernsthaft, "bedenke, was du tust!
+Dieser Zustand ist keine Krankheit, die man mit Pulvern und Pillen
+heilt. Das Kind hat keine zähe Natur, indessen, wenn du es jetzt
+gleich wieder in die kräftige Bergluft hinaufschickst, an die es
+gewöhnt ist, so kann es wieder völlig gesunden; wenn nicht--du
+willst nicht, dass das Kind dem Großvater unheilbar oder gar nicht
+mehr zurückkomme?"
+</p>
+
+<p>
+Herr Sesemann war erschrocken stehen geblieben: "Ja, wenn du so
+redest, Doktor, dann ist nur (ein) Weg, dann muss sofort gehandelt
+werden." Mit diesen Worten nahm Herr Sesemann den Arm seines
+Freundes und wanderte mit ihm hin und her, um die Sache noch weiter
+zu besprechen. Dann brach der Doktor auf, um nach Hause zu gehen,
+denn es war unterdessen viel Zeit vergangen, und durch die Haustür,
+die diesmal vom Herrn des Hauses aufgeschlossen wurde, drang schon
+der helle Morgenschimmer herein.
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap13"></a>
+Am Sommerabend die Alm hinan
+</h3>
+
+<p>
+Herr Sesemann stieg in großer Erregtheit die Treppe hinauf und
+wanderte mit festem Schritt zum Schlafgemach der Dame Rottenmeier.
+Hier klopfte er so ungewöhnlich kräftig an die Tür, dass die
+Bewohnerin mit einem Schreckensruf aus dem Schlaf auffuhr. Sie
+hörte die Stimme des Hausherrn draußen: "Bitte sich zu beeilen und
+im Esszimmer zu erscheinen, es muss sofort eine Abreise vorbereitet
+werden."
+</p>
+
+<p>
+Fräulein Rottenmeier schaute auf ihre Uhr, es war halb fünf des
+Morgens; zu solcher Stunde war sie in ihrem Leben noch nie
+aufgestanden. Was konnte nur vorgefallen sein? Vor Neugierde und
+angstvoller Erwartung nahm sie alles verkehrt in die Hand und kam
+durchaus nicht vorwärts, denn was sie einmal auf den Leib gebracht
+hatte, suchte sie nachher rastlos im Zimmer herum.
+</p>
+
+<p>
+Unterdessen ging Herr Sesemann den Korridor entlang und zog mit
+aller Kraft an jedem Glockenzug, der je für die verschiedenen
+Glieder der Dienerschaft angebracht war, so dass in jedem der
+betreffenden Zimmer eine Schreckensgestalt aus dem Bett sprang und
+verkehrt in die Kleider fuhr, denn einer wie der andere dachte
+sogleich, das Gespenst habe irgendwie den Hausherrn gepackt und
+dies sei sein Hilferuf. So kamen sie nach und nach, einer
+schauerlicher aussehend als der andere, herunter und stellten sich
+mit Erstaunen vor den Hausherrn hin, denn dieser ging frisch und
+munter im Esszimmer auf und ab und sah keineswegs aus, als habe ihn
+ein Gespenst erschreckt. Johann wurde sofort hingeschickt, Pferde
+und Wagen in Ordnung zu bringen und sie nachher vorzuführen.
+Tinette erhielt den Auftrag, sogleich Heidi aufzuwecken und es in
+den Stand zu stellen, eine Reise anzutreten. Sebastian erhielt den
+Auftrag, nach dem Hause zu eilen, wo Heidis Base im Dienst stand,
+und diese herbeizuholen. Fräulein Rottenmeier war unterdessen
+zurechtgekommen mit ihrem Anzug, und alles saß, wie es musste, nur
+die Haube saß verkehrt auf dem Kopf, so dass es von weitem aussah,
+als sitze ihr das Gesicht auf dem Rücken. Herr Sesemann schrieb
+den rätselhaften Anblick dem frühen Schlafbrechen zu und ging
+unverweilt an die Geschäftsverhandlungen. Er erklärte der Dame,
+sie habe ohne Zögern einen Koffer zur Stelle zu schaffen, die
+sämtliche Habe des Schweizerkindes hineinzupacken--so nannte Herr
+Sesemann gewöhnlich das Heidi, dessen Name ihm etwas ungewohnt war--
+, dazu noch einen guten Teil von Klaras Zeug, damit das Kind was
+Rechtes mitbringe; es müsse aber alles schnell und ohne langes
+Besinnen vor sich gehen.
+</p>
+
+<p>
+Fräulein Rottenmeier blieb vor Überraschung wie in den Boden
+eingewurzelt stehen und starrte Herrn Sesemann an. Sie hatte
+erwartet, er wolle ihr im Vertrauen die Mitteilung einer
+schauerlichen Geistergeschichte machen, die er in der Nacht erlebt
+und die sie eben jetzt bei dem hellen Morgenlicht nicht ungern
+gehört hätte; stattdessen diese völlig prosaischen und dazu noch
+sehr unbequemen Aufträge. So schnell konnte sie das Unerwartete
+nicht bewältigen. Sprachlos stand sie immer noch da und erwartete
+ein Weiteres.
+</p>
+
+<p>
+Aber Herr Sesemann hatte keine Erklärungen im Sinn; er ließ die
+Dame stehen, wo sie stand, und ging nach dem Zimmer seiner Tochter.
+Wie er vermutet hatte, war diese durch die ungewöhnliche Bewegung
+im Hause wach geworden und lauschte nach allen Seiten hin, was wohl
+vorgehe. Der Vater setzte sich nun an ihr Bett und erzählte ihr
+den ganzen Verlauf der Geistererscheinung und dass Heidi nach des
+Doktors Ausspruch sehr angegriffen sei und wohl nach und nach seine
+nächtlichen Wanderungen ausdehnen, vielleicht gar das Dach
+besteigen würde, was dann mit den höchsten Gefahren verbunden wäre.
+Er habe also beschlossen, das Kind sofort heimzuschicken, denn
+solche Verantwortung könne er nicht auf sich nehmen, und Klara
+müsse sich dareinfinden, sie sehe ja ein, dass es nicht anders sein
+könne.
+</p>
+
+<p>
+Klara war sehr schmerzlich überrascht von der Mitteilung und wollte
+erst allerlei Auswege finden, aber es half nichts, der Vater blieb
+fest bei seinem Entschluss, versprach aber, im nächsten Jahre mit
+Klara nach der Schweiz zu reisen, wenn sie nun recht vernünftig sei
+und keinen Jammer erhebe. So ergab sich Klara in das
+Unvermeidliche, begehrte aber zum Ersatz, dass der Koffer für Heidi
+in ihr Zimmer gebracht und da gepackt werde, damit sie
+hineinstecken könne, was ihr Freude mache, was der Papa sehr gern
+bewilligte, ja er ermunterte Klara noch, dem Kinde eine schöne
+Aussteuer zurechtzumachen. Unterdessen war die Base Dete angelangt
+und stand in großer Erwartung im Vorzimmer, denn dass sie um diese
+ungewöhnliche Zeit einberufen worden war, musste etwas
+Außerordentliches bedeuten. Herr Sesemann trat zu ihr heraus und
+erklärte ihr, wie es mit Heidi stehe und dass er wünsche, sie
+möchte das Kind sofort, gleich heute noch, nach Hause bringen. Die
+Base sah sehr enttäuscht aus; diese Nachricht hatte sie nicht
+erwartet. Sie erinnerte sich auch noch recht wohl der Worte, die
+ihr der Öhi mit auf den Weg gegeben hatte, dass sie ihm nie mehr
+vor die Augen kommen solle, und so das Kind dem Alten einmal
+bringen und dann nehmen und dann wiederbringen, das schien ihr
+nicht ganz geraten zu sein. Sie besann sich also nicht lange,
+sondern sagte mit großer Beredsamkeit, heute wäre es ihr leider
+völlig unmöglich, die Reise anzutreten, und morgen könnte sie noch
+weniger daran denken, und die Tage darauf wäre es am
+allerunmöglichsten, um der darauf folgenden Geschäfte willen, und
+nachher könnte sie dann gar nicht mehr. Herr Sesemann verstand die
+Sprache und entließ die Base ohne weiteres. Nun ließ er den
+Sebastian vortreten und erklärte ihm, er habe sich unverzüglich zur
+Reise zu rüsten; heute habe er mit dem Kinde bis nach Basel zu
+fahren, morgen bringe er es heim. Dann könne er sogleich wieder
+umkehren, zu berichten habe er nichts, ein Brief an den Großvater
+werde diesem alles erklären.
+</p>
+
+<p>
+"Nun aber noch eine Hauptsache, Sebastian", schloss Herr Sesemann,
+"und dass Er mir das pünktlich besorgt! Den Gasthof in Basel, den
+ich Ihm hier auf meine Karte geschrieben, kenne ich. Er weist
+meine Karte vor, dann wird Ihm ein gutes Zimmer angewiesen werden
+für das Kind; für sich selbst wird Er schon sorgen. Dann geht Er
+erst in des Kindes Zimmer hinein und verrammelt alle Fenster so
+vollständig, dass nur große Gewalt sie aufzubringen vermöchte. Ist
+das Kind zu Bett, so geht Er und schließt von außen die Tür ab,
+denn das Kind wandert herum in der Nacht und könnte Gefahr laufen
+in dem fremden Haus, wenn es etwa hinausginge und die Haustür
+aufmachen wollte; versteht Er das?"
+</p>
+
+<p>
+"Ah! Ah! Ah! Das war's? So war's?", stieß Sebastian jetzt in
+größter Verwunderung aus, denn es war ihm eben ein großes Licht
+aufgegangen über die Geistererscheinung.
+</p>
+
+<p>
+"Ja, so war's! Das war's! Und Er ist ein Hasenfuß, und dem Johann
+kann Er sagen, er sei desgleichen und alle miteinander eine
+lächerliche Mannschaft." Damit ging Herr Sesemann nach seiner Stube,
+setzte sich hin und schrieb einen Brief an den Alm-Öhi.
+</p>
+
+<p>
+Sebastian war verdutzt mitten im Zimmer stehen geblieben und
+wiederholte jetzt zu öfteren Malen in seinem Innern: "Hätt ich mich
+doch von dem Feigling von einem Johann nicht in die Wachtstube
+hineinreißen lassen, sondern wäre dem weißen Figürchen nachgegangen,
+was ich doch jetzt unzweifelhaft tun würde!", denn jetzt
+beleuchtete die helle Sonne jeden Winkel der hellgrauen Stube mit
+voller Klarheit.
+</p>
+
+<p>
+Unterdessen stand Heidi völlig ahnungslos in seinem
+Sonntagsröckchen und wartete ab, was geschehen sollte, denn die
+Tinette hatte es nur aus dem Schlafe aufgerüttelt, die Kleider aus
+dem Schrank genommen und das Anziehen gefördert, ohne ein Wort zu
+sagen. Sie sprach niemals mit dem ungebildeten Heidi, denn das war
+ihr zu gering.
+</p>
+
+<p>
+Herr Sesemann trat mit seinem Brief ins Esszimmer ein, wo das
+Frühstück bereitstand, und rief: "Wo ist das Kind?"
+</p>
+
+<p>
+Heidi wurde gerufen. Als es zu Herrn Sesemann herantrat, um ihm
+'guten Morgen' zu sagen, schaute er ihm fragend ins
+Gesicht: "Nun, was sagst du denn dazu, Kleine?"
+</p>
+
+<p>
+Heidi blickte verwundert zu ihm auf.
+</p>
+
+<p>
+"Du weißt am Ende noch gar nichts", lachte Herr Sesemann. "Nun,
+heut gehst du heim, jetzt gleich."
+</p>
+
+<p>
+"Heim?", wiederholte Heidi tonlos und wurde schneeweiß, und eine
+kleine Weile konnte es gar keinen Atem mehr holen, so stark wurde
+sein Herz von dem Eindruck gepackt.
+</p>
+
+<p>
+"Nun, willst du etwa nichts wissen davon?", fragte Herr Sesemann
+lächelnd.
+</p>
+
+<p>
+"O ja, ich will schon", kam jetzt heraus, und nun war Heidi
+dunkelrot geworden.
+</p>
+
+<p>
+"Gut, gut", sagte Herr Sesemann ermunternd, indem er sich setzte
+und Heidi winkte, dasselbe zu tun. "Und nun tüchtig frühstücken
+und hernach in den Wagen und fort."
+</p>
+
+<p>
+Aber Heidi konnte keinen Bissen herunterbringen, wie es sich auch
+zwingen wollte aus Gehorsam; es war in einem Zustand von Aufregung,
+dass es gar nicht wusste, ob es wache oder träume und ob es
+vielleicht wieder auf einmal erwachen und im Nachthemdchen an der
+Haustür stehen werde.
+</p>
+
+<p>
+"Sebastian soll reichlich Proviant mitnehmen", rief Herr Sesemann
+Fräulein Rottenmeier zu, die eben eintrat; "das Kind kann nicht
+essen, begreiflicherweise.--Geh hinüber zu Klara, bis der Wagen
+vorfährt", setzte er freundlich, zu Heidi gewandt, hinzu.
+</p>
+
+<p>
+Das war Heidis Wunsch: Es sprang hinüber. Mitten in Klaras Zimmer
+war ein ungeheurer Koffer zu sehen, noch stand dessen Deckel weit
+offen.
+</p>
+
+<p>
+"Komm, Heidi, komm", rief ihm Klara entgegen. "Sieh, was ich dir
+habe einpacken lassen, komm, freut's dich?"
+</p>
+
+<p>
+Und sie nannte ihm eine ganze Menge von Dingen, Kleider und
+Schürzen, Tücher und Nähgerät, "und sieh hier, Heidi", und Klara
+hob triumphierend einen Korb in die Höhe. Heidi guckte hinein und
+sprang hoch auf vor Freude, denn drinnen lagen wohl zwölf schöne,
+weiße, runde Brötchen, alle für die Großmutter. Die Kinder
+vergaßen in ihrem Jubel ganz, dass nun der Augenblick komme, da sie
+sich trennen mussten, und als mit einem Mal der Ruf erschallte:
+"Der Wagen ist bereit!"--da war keine Zeit mehr zum Traurigwerden.
+Heidi lief in sein Zimmer, da musste noch ein schönes Buch von der
+Großmama liegen, niemand konnte es eingepackt haben, denn es lag
+unter dem Kopfkissen, weil Heidi Tag und Nacht sich nicht davon
+trennen konnte. Das wurde in den Korb auf die Brötchen gelegt.
+Dann machte es seinen Schrank auf; noch suchte es nach einem Gute,
+das man vielleicht auch nicht eingepackt hatte. Richtig--auch das
+alte rote Tuch lag noch da, Fräulein Rottenmeier hatte es zu gering
+erachtet, um mit eingepackt zu werden. Heidi wickelte es um einen
+anderen Gegenstand und legte es zuoberst auf den Korb, so dass das
+rote Paket sehr sichtbar zur Erscheinung kam. Dann setzte es sein
+schönes Hütchen auf und verließ sein Zimmer.
+</p>
+
+<p>
+Die beiden Kinder mussten sich schnell Lebewohl sagen, denn Herr
+Sesemann stand schon da, um Heidi nach dem Wagen zu bringen.
+Fräulein Rottenmeier stand oben an der Treppe, um hier Heidi zu
+verabschieden. Als sie das seltsame rote Bündelchen erblickte,
+nahm sie es schnell aus dem Korb heraus und warf es auf den Boden.
+</p>
+
+<p>
+"Nein, Adelheid", sagte sie tadelnd, "so kannst du nicht reisen von
+diesem Hause aus; solches Zeug brauchst du überhaupt nicht
+mitzuschleppen. Nun lebe wohl."
+</p>
+
+<p>
+Auf dieses Verbot hin durfte Heidi sein Bündelchen nicht wieder
+aufnehmen, aber es schaute mit einem flehentlichen Blick zu dem
+Hausherrn auf, so, als wollte man ihm seinen größten Schatz nehmen.
+</p>
+
+<p>
+"Nein, nein", sagte Herr Sesemann in sehr bestimmtem Tone, "das
+Kind soll mit heimtragen, was ihm Freude macht, und sollte es auch
+junge Katzen oder Schildkröten mit fortschleppen, so wollen wir uns
+darüber nicht aufregen, Fräulein Rottenmeier."
+</p>
+
+<p>
+Heidi hob eilig sein Bündelchen wieder vom Boden auf, und Dank und
+Freude leuchteten ihm aus den Augen. Unten am Wagen reichte Herr
+Sesemann dem Kinde die Hand und sagte ihm mit freundlichen Worten,
+sie würden seiner gedenken, er und seine Tochter Klara; er wünschte
+ihm alles Gute auf den Weg, und Heidi dankte recht schön für alle
+Guttaten, die ihm zuteil geworden waren, und zum Schluss sagte es:
+"Und den Herrn Doktor lasse ich tausendmal grüßen und ihm auch
+vielmals danken." Denn es hatte sich wohl gemerkt, wie er gestern
+Abend gesagt hatte: "Und morgen wird alles gut." Nun war es so
+gekommen, und Heidi dachte, er habe dazu geholfen.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt wurde das Kind in den Wagen gehoben und der Korb und die
+Provianttasche und der Sebastian kamen nach. Herr Sesemann rief
+noch einmal freundlich: "Glückliche Reise!", und der Wagen rollte
+davon.
+</p>
+
+<p>
+Bald nachher saß Heidi in der Eisenbahn und hielt unbeweglich
+seinen Korb auf dem Schoße fest, denn es wollte ihn nicht einen
+Augenblick aus den Händen lassen, seine kostbaren Brötchen für die
+Großmutter waren ja darin, die musste es sorgfältig hüten und von
+Zeit zu Zeit einmal wieder ansehen und sich freuen darüber. Heidi
+saß mäuschenstille während mehrerer Stunden, denn erst jetzt kam es
+recht zum Bewusstsein, dass es auf dem Wege sei heim zum Großvater,
+auf die Alm, zur Großmutter, zum Geißenpeter, und nun kam ihm alles
+vor Augen, eins nach dem anderen, was es wieder sehen werde und wie
+alles aussehen werde daheim, und dabei stiegen ihm wieder neue
+Gedanken auf, und auf einmal sagte es ängstlich: "Sebastian, ist
+auch sicher die Großmutter auf der Alm nicht gestorben?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, nein", beruhigte dieser, "wollen's nicht hoffen, wird schon
+noch am Leben sein."
+</p>
+
+<p>
+Dann fiel Heidi wieder in sein Sinnen zurück; nur hier und da
+guckte es einmal in seinen Korb hinein, denn alle die Brötchen der
+Großmutter auf den Tisch legen war sein Hauptgedanke. Nach
+längerer Zeit sagte es wieder: "Sebastian, wenn man nur auch ganz
+sicher wissen könnte, dass die Großmutter noch am Leben ist."
+</p>
+
+<p>
+"Jawohl! Jawohl!", entgegnete der Begleiter halb schlafend; "Wird
+schon noch leben, wüsste auch gar nicht, warum nicht."
+</p>
+
+<p>
+Nach einiger Zeit drückte der Schlaf auch Heidis Augen zu, und nach
+der vergangenen unruhigen Nacht und dem frühen Aufstehen war es so
+schlafbedürftig, dass es erst wieder erwachte, als Sebastian es
+tüchtig am Arm schüttelte und ihm zurief: "Erwachen! Erwachen!
+Gleich aussteigen, in Basel angekommen!"
+</p>
+
+<p>
+Am folgenden Morgen ging's weiter, viele Stunden lang. Heidi saß
+wieder mit seinem Korb auf dem Schoß, den es um keinen Preis dem
+Sebastian übergeben wollte; aber heute sagte es gar nichts mehr,
+denn nun wurde mit jeder Stunde die Erwartung gespannter. Dann auf
+einmal, als Heidi gar nicht daran dachte, ertönte laut der Ruf:
+"Maienfeld!" Es sprang von seinem Sitz auf, und dasselbe tat
+Sebastian, der auch überrascht worden war. Jetzt standen sie
+draußen, der Koffer mit ihnen, und der Bahnzug pfiff weiter ins Tal
+hinein. Sebastian sah ihm wehmütig nach, denn er wäre viel lieber
+so sicher und ohne Mühe weitergereist, als dass er nun eine
+Fußpartie unternehmen sollte, die dazu noch mit einer
+Bergbesteigung enden musste, die sehr beschwerlich und dazu
+gefahrvoll sein konnte in diesem Lande, wo doch alles noch halb
+wild war, wie Sebastian annahm. Er schaute daher sehr vorsichtig
+um sich, wen er etwa beraten könnte über den sichersten Weg nach
+dem 'Dörfli'. Unweit des kleinen Stationsgebäudes
+stand ein kleiner Leiterwagen mit einem mageren Rösslein davor; auf
+diesen wurden von einem breitschultrigen Manne ein paar große Säcke
+aufgeladen, die mit der Bahn hergebracht worden waren. Sebastian
+trat zu ihm heran und brachte seine Frage nach dem sichersten Weg
+zum Dörfli vor.
+</p>
+
+<p>
+"Hier sind alle Wege sicher", war die kurze Antwort.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt fragte Sebastian nach dem besten Wege, auf dem man gehen
+könne, ohne in die Abgründe zu stürzen, und auch wie man einen
+Koffer nach dem betreffenden Dörfli befördern könnte. Der Mann
+schaute nach dem Koffer hin und maß ihn ein wenig mit den Augen;
+dann erklärte er, wenn das Ding nicht zu schwer sei, so wolle er es
+auf seinen Wagen nehmen, da er selbst nach dem Dörfli fahre, und so
+gab noch ein Wort das andere, und endlich kamen die beiden überein,
+der Mann solle Kind und Koffer mit auf seinen Wagen nehmen, und
+nachher vom Dörfli aus könne das Kind am Abend mit irgendjemand auf
+die Alm geschickt werden.
+</p>
+
+<p>
+"Ich kann allein gehen, ich weiß schon den Weg vom Dörfli auf die
+Alm", sagte hier Heidi, das mit Aufmerksamkeit der Verhandlung
+zugehört hatte. Dem Sebastian fiel eine schwere Last vom Herzen,
+als er sich so auf einmal seiner Aussicht auf das Bergklettern
+entledigt sah. Er winkte nun Heidi geheimnisvoll auf die Seite und
+überreichte ihm hier eine schwere Rolle und einen Brief an den
+Großvater und erklärte ihm, die Rolle sei ein Geschenk von Herrn
+Sesemann, die müsse aber zuunterst in den Korb gesteckt werden,
+noch unter die Brötchen, und darauf müsse genau Acht gegeben werden,
+dass sie nicht verloren gehe, denn darüber würde Herr Sesemann
+ganz fürchterlich böse und sein Leben lang nie mehr gut werden; das
+sollte das Mamsellchen nur ja bedenken.
+</p>
+
+<p>
+"Ich verliere sie schon nicht", sagte Heidi zuversichtlich und
+steckte die Rolle samt dem Brief zuallerunterst in den Korb hinein.
+Nun wurde der Koffer aufgeladen, und nachher hob Sebastian Heidi
+samt seinem Korb auf den hohen Sitz empor, reichte ihm seine Hand
+hinauf zum Abschied und ermahnte es noch einmal mit allerlei
+Zeichen, auf den Inhalt des Korbes ein Auge zu haben; denn der
+Führer war noch in der Nähe, und Sebastian war vorsichtig,
+besonders jetzt, da er wusste, er hätte eigentlich selbst das Kind
+an Ort und Stelle bringen sollen. Der Führer schwang sich jetzt
+neben Heidi auf den Sitz hinauf, und der Wagen rollte den Bergen zu,
+während Sebastian, froh über seine Befreiung von der gefürchteten
+Bergreise, sich am Stationshäuschen niedersetzte, um den
+zurückgehenden Bahnzug abzuwarten.
+</p>
+
+<p>
+Der Mann auf dem Wagen war der Bäcker vom Dörfli, welcher seine
+Mehlsäcke nach Hause fuhr. Er hatte Heidi nie gesehen, aber wie
+jedermann im Dörfli wusste er von dem Kinde, das man dem Alm-Öhi
+gebracht hatte; auch hatte er Heidis Eltern gekannt und sich gleich
+vorgestellt, er werde es mit dem viel besprochenen Kinde hier zu
+tun haben. Es wunderte ihn nun ein wenig, warum das Kind schon
+wieder heimkommen und während der Fahrt fing er nun mit Heidi ein
+Gespräch an: "Du wirst das Kind sein, das oben beim Alm-Öhi war,
+beim Großvater?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja."
+</p>
+
+<p>
+"So ist es dir schlecht gegangen, dass du schon wieder von so weit
+her heimkommst?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, das ist es mir nicht; kein Mensch kann es so gut haben, wie
+man es in Frankfurt hat."
+</p>
+
+<p>
+"Warum läufst du denn heim?"
+</p>
+
+<p>
+"Nur weil es mir der Herr Sesemann erlaubt hat, sonst wär ich nicht
+heimgelaufen."
+</p>
+
+<p>
+"Pah, warum bist du denn aber nicht lieber dort geblieben, wenn man
+dir's erlaubt hat, heimzugehen?"
+</p>
+
+<p>
+"Weil ich tausendmal lieber heimwill zum Großvater auf die Alm als
+sonst alles auf der Welt."
+</p>
+
+<p>
+"Denkst vielleicht anders, wenn du hinaufkommst", brummte der
+Bäcker; "nimmt mich aber doch wunder", sagte er dann zu sich selbst,
+"es kann wissen, wie's ist."
+</p>
+
+<p>
+Nun fing er an zu pfeifen und sagte nichts mehr, und Heidi schaute
+um sich und fing an innerlich zu zittern vor Erregung, denn es
+erkannte die Bäume am Wege, und drüben standen die hohen Zacken des
+Falknis-Berges und schauten zu ihm herüber, so als grüßten sie es
+wie gute alte Freunde; und Heidi grüßte wieder, und mit jedem
+Schritt vorwärts wurde Heidis Erwartung gespannter, und es meinte,
+es müsse vom Wagen herunterspringen und aus allen Kräften laufen,
+bis es ganz oben wäre. Aber es blieb doch still sitzen und rührte
+sich nicht, aber alles zitterte an ihm. Jetzt fuhren sie im Dörfli
+ein, eben schlug die Glocke fünf Uhr. Augenblicklich sammelte sich
+eine Gesellschaft von Kindern und Frauen um den Wagen herum, und
+ein paar Nachbarn traten auch noch herzu, denn der Koffer und das
+Kind auf des Bäckers Wagen hatten die Aufmerksamkeit aller
+Umwohnenden auf sich gezogen, und jeder wollte wissen, woher und
+wohin und wem beide zugehörten. Als der Bäcker Heidi
+heruntergehoben hatte, sagte es eilig: "Danke, der Großvater holt
+dann schon den Koffer", und wollte davonrennen. Aber von allen
+Seiten wurde es festgehalten, und eine Menge von Stimmen fragten
+alle auf einmal, jede etwas Eigenes. Heidi drängte sich mit einer
+solchen Angst auf dem Gesichte durch die Leute, dass man ihm
+unwillkürlich Platz machte und es laufen ließ, und einer sagte zum
+anderen: "Du siehst ja, wie es sich fürchtet, es hat auch alle
+Ursache." Und dann fingen sie noch an, sich zu erzählen, wie der
+Alm-Öhi seit einem Jahr noch viel ärger geworden sei als vorher und
+mit keinem Menschen mehr ein Wort rede und ein Gesicht mache, als
+wolle er am liebsten jeden umbringen, der ihm in den Weg komme, und
+wenn das Kind auf der ganzen Welt noch wüsste wohin, so liefe es
+nicht in das alte Drachennest hinauf. Aber hier fiel der Bäcker in
+das Gespräch ein und sagte, er werde wohl mehr wissen als sie alle,
+und erzählte dann sehr geheimnisvoll, wie ein Herr das Kind bis
+nach Maienfeld gebracht und es ganz freundlich entlassen habe und
+auch gleich ohne Markten ihm den geforderten Fahrpreis und dazu
+noch ein Trinkgeld gegeben habe, und überhaupt könne er sicher
+sagen, dass es dem Kind wohl genug gewesen sei, wo es war, und es
+selbst begehrt habe, zum Großvater zurückzugehen. Diese Nachricht
+brachte eine große Verwunderung hervor und wurde nun gleich im
+ganzen Dörfli so verbreitet, dass noch am gleichen Abend kein Haus
+daselbst war, in dem man nicht davon redete, dass das Heidi aus
+allem Wohlleben zum Großvater zurückbegehrt habe.
+</p>
+
+<p>
+Heidi lief vom Dörfli bergan, so schnell es nur konnte; von Zeit zu
+Zeit musste es aber plötzlich stille stehen, denn es hatte ganz den
+Atem verloren; sein Korb am Arm war doch ziemlich schwer, und dazu
+ging es nun immer steiler, je höher hinauf es ging. Heidi hatte
+nur noch einen Gedanken: "Wird auch die Großmutter noch auf ihrem
+Plätzchen sitzen am Spinnrad in der Ecke, ist sie auch nicht
+gestorben unterdessen?" Jetzt erblickte Heidi die Hütte oben in der
+Vertiefung an der Alm, sein Herz fing an zu klopfen, Heidi rannte
+noch mehr, immer mehr und immer lauter schlug ihm das Herz. Jetzt
+war es oben--vor Zittern konnte es fast die Tür nicht aufmachen--
+doch jetzt--es sprang hinein bis mitten in die kleine Stube und
+stand da, völlig außer Atem, und brachte keinen Ton hervor.
+</p>
+
+<p>
+"Ach du mein Gott", tönte es aus der Ecke hervor, "so sprang unser
+Heidi herein, ach, wenn ich es noch ein Mal im Leben bei mir haben
+könnte! Wer ist hereingekommen?"
+</p>
+
+<p>
+"Da bin ich ja, Großmutter, da bin ich ja", rief Heidi jetzt und
+stürzte nach der Ecke und gleich auf seine Knie zu der Großmutter
+heran, fasste ihren Arm und ihre Hände und legte sich an sie und
+konnte vor Freude gar nichts mehr sagen. Erst war die Großmutter
+so überrascht, dass auch sie kein Wort hervorbringen konnte; dann
+fuhr sie mit der Hand streichelnd über Heidis Kraushaare hin, und
+nun sagte sie ein Mal über das andere: "Ja, ja, das sind seine
+Haare und es ist ja seine Stimme, ach du lieber Gott, dass du mich
+das noch erleben lässt!" Und aus den blinden Augen fielen ein paar
+große Freudentränen auf Heidis Hand nieder. "Bist du's auch, Heidi,
+bist du auch sicher wieder da?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja, ja, sicher, Großmutter", rief Heidi nun mit aller Zuversicht,
+"weine nur nicht, ich bin ganz gewiss wieder da und komme alle Tage
+zu dir und gehe nie wieder fort, und du musst auch manchen Tag kein
+hartes Brot mehr essen, siehst du, Großmutter, siehst du?"
+</p>
+
+<p>
+Und Heidi packte nun aus seinem Korb ein Brötchen nach dem andern
+aus, bis es alle zwölf auf dem Schoß der Großmutter aufgehäuft
+hatte.
+</p>
+
+<p>
+"Ach Kind! Ach Kind! Was bringst du denn für einen Segen mit!",
+rief die Großmutter aus, als es nicht enden wollte mit den Brötchen
+und immer noch eines folgte. "Aber der größte Segen bist du mir
+doch selber, Kind!" Dann griff sie wieder in Heidis krause Haare
+und strich über seine heißen Wangen und sagte wieder: "Sag noch ein
+Wort, Kind, sag noch etwas, dass ich dich hören kann."
+</p>
+
+<p>
+Heidi erzählte nun der Großmutter, welche große Angst es habe
+ausstehen müssen, sie sei vielleicht gestorben unterdessen und habe
+nun gar nie die weißen Brötchen bekommen, und es könne nie, nie
+mehr zu ihr gehen.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt trat Peters Mutter herein und blieb einen Augenblick
+unbeweglich stehen vor Erstaunen. Dann rief sie: "Sicher, es ist
+das Heidi, wie kann auch das sein!"
+</p>
+
+<p>
+Heidi stand auf und gab ihr die Hand, und die Brigitte konnte sich
+gar nicht genug verwundern darüber, wie Heidi aussehe, und ging um
+das Kind herum und sagte: "Großmutter, wenn du doch nur sehen
+könntest, was für ein schönes Röcklein das Heidi hat und wie es
+aussieht; man kennt es fast nicht mehr. Und das Federnhütlein auf
+dem Tisch gehört dir auch noch? Setz es doch einmal auf, so kann
+ich sehen, wie du drin aussiehst."
+</p>
+
+<p>
+"Nein, ich will nicht", erklärte Heidi, "du kannst es haben, ich
+brauche es nicht mehr, ich habe schon noch mein eigenes." Damit
+machte Heidi sein rotes Bündelchen auf und nahm sein altes Hütchen
+daraus hervor, das auf der Reise zu den Knicken, die es schon
+vorher gehabt, noch einige bekommen hatte. Aber das kümmerte das
+Heidi wenig; es hatte ja nicht vergessen, wie der Großvater beim
+Abschied nachgerufen hatte, in einem Federnhut wolle er es niemals
+sehen; darum hatte Heidi sein Hütchen so sorgfältig aufgehoben,
+denn es dachte ja immer ans Heimgehen zum Großvater. Aber die
+Brigitte sagte, so einfältig müsse es nicht sein, es sei ja ein
+prächtiges Hütchen, das nehme sie nicht; man könnte es ja etwa dem
+Töchterlein vom Lehrer im Dörfli verkaufen und noch viel Geld
+bekommen, wenn es das Hütlein nicht tragen wolle. Aber Heidi blieb
+bei seinem Vorhaben und legte das Hütchen leise hinter die
+Großmutter in den Winkel, wo es ganz verborgen war. Dann zog Heidi
+auf einmal sein schönes Röcklein aus, und über das Unterröckchen,
+in dem es nun mit bloßen Armen dastand, band es das rote Halstuch,
+und nun fasste es die Hand der Großmutter und sagte: "Jetzt muss
+ich heim zum Großvater, aber morgen komm ich wieder zu dir; gute
+Nacht, Großmutter."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, komm auch wieder, Heidi, komm auch morgen wieder", bat die
+Großmutter und drückte seine Hand zwischen den ihrigen und konnte
+das Kind fast nicht loslassen.
+</p>
+
+<p>
+"Warum hast du denn dein schönes Röcklein ausgezogen?", fragte die
+Brigitte.
+</p>
+
+<p>
+"Weil ich lieber so zum Großvater will, sonst kennt er mich
+vielleicht nicht mehr, du hast mich ja auch fast nicht gekannt
+darin."
+</p>
+
+<p>
+Die Brigitte ging noch mit Heidi vor die Tür hinaus, und hier sagte
+sie ein wenig geheimnisvoll zu ihm: "Den Rock hättest du schon
+anbehalten können, er hätte dich doch gekannt; aber sonst musst du
+dich in Acht nehmen; der Peterli sagt, der Alm-Öhi sei jetzt immer
+bös und rede kein Wort mehr."
+</p>
+
+<p>
+Heidi sagte 'gute Nacht' und stieg die Alm hinan mit
+seinem Korb am Arm. Die Abendsonne leuchtete ringsum auf die grüne
+Alm, und jetzt war auch drüben das große Schneefeld an der
+Schesaplana sichtbar geworden und strahlte herüber. Heidi musste
+alle paar Schritte wieder stille stehen und sich umkehren, denn die
+hohen Berge hatte es im Rücken beim Hinaufsteigen. Jetzt fiel ein
+roter Schimmer vor seinen Füßen auf das Gras, es kehrte sich um, da
+--so hatte es die Herrlichkeit nicht mehr im Sinn gehabt und auch
+nie so im Traum gesehen--die Felshörner am Falknis flammten zum
+Himmel auf, das weite Schneefeld glühte und rosenrote Wolken zogen
+darüber hin; das Gras rings auf der Alm war golden, von allen
+Felsen flimmerte und leuchtete es nieder und unten schwamm weithin
+das ganze Tal in Duft und Gold. Heidi stand mitten in der
+Herrlichkeit, und vor Freude und Wonne liefen ihm die hellen Tränen
+die Wangen herunter, und es musste die Hände falten und in den
+Himmel hinaufschauen und ganz laut dem lieben Gott danken, dass er
+es wieder heimgebracht hatte und dass alles, alles noch so schön
+sei und noch viel schöner, als es gewusst hatte, und dass alles
+wieder ihm gehöre; und Heidi war so glücklich und so reich in all
+der großen Herrlichkeit, dass es gar nicht Worte fand, dem lieben
+Gott genug zu danken. Erst als das Licht ringsum verglühte, konnte
+Heidi wieder von der Stelle weg; nun rannte es aber so den Berg
+hinan, dass es gar nicht lange dauerte, so erblickte es oben die
+Tannenwipfel über dem Dache und jetzt das Dach und die ganze Hütte,
+und auf der Bank an der Hütte saß der Großvater und rauchte sein
+Pfeifchen, und über die Hütte her wogten die alten Tannenwipfel und
+raschelten im Abendwind. Jetzt rannte das Heidi noch mehr, und
+bevor der Alm-Öhi nur recht sehen konnte, was da herankam, stürzte
+das Kind schon auf ihn hin, warf seinen Korb auf den Boden und
+umklammerte den Alten, und vor Aufregung des Wiedersehens konnte es
+nichts sagen, als nur immer ausrufen: "Großvater! Großvater!
+Großvater!"
+</p>
+
+<p>
+Der Großvater sagte auch nichts. Seit vielen Jahren waren ihm zum
+erstenmal wieder die Augen nass geworden, und er musste mit der
+Hand darüber fahren. Dann löste er Heidis Arme von seinem Hals,
+setzte das Kind auf seine Knie und betrachtete es einen Augenblick.
+"So, bist du wieder heimgekommen, Heidi", sagte er dann; "wie ist
+das? Besonders hoffärtig siehst du nicht aus, haben sie dich
+fortgeschickt?"
+</p>
+
+<p>
+"O nein, Großvater", fing Heidi nun mit Eifer an, "das musst du
+nicht glauben, sie waren alle so gut, die Klara und die Großmama
+und der Herr Sesemann; aber siehst du, Großvater, ich konnte es
+fast gar nicht mehr aushalten, bis ich wieder bei dir daheim sein
+könnte, und ich habe manchmal gemeint, ich müsse ganz ersticken, so
+hat es mich gewürgt; aber ich habe gewiss nichts gesagt, weil es
+undankbar war. Aber dann auf einmal an einem Morgen rief mich der
+Herr Sesemann ganz früh--aber ich glaube, der Herr Doktor war
+schuld daran--aber es steht vielleicht alles in dem Brief"--damit
+sprang Heidi auf den Boden und holte seinen Brief und seine Rolle
+aus dem Korb herbei und legte beide in die Hand des Großvaters.
+</p>
+
+<p>
+"Das gehört dir", sagte dieser und legte die Rolle neben sich auf
+die Bank. Dann nahm er den Brief und las ihn durch: Ohne ein Wort
+zu sagen, steckte er dann das Blatt in die Tasche.
+</p>
+
+<p>
+"Meinst, du könntest auch noch Milch trinken mit mir, Heidi?",
+fragte er nun, indem er das Kind bei der Hand nahm, um in die Hütte
+einzutreten. "Aber nimm dort dein Geld mit dir, da kannst du ein
+ganzes Bett daraus kaufen und Kleider für ein paar Jahre."
+</p>
+
+<p>
+"Ich brauch es gewiss nicht, Großvater", versicherte Heidi; "ein
+Bett hab ich schon, und Kleider hat mir Klara so viele eingepackt,
+dass ich gewiss nie mehr andere brauche."
+</p>
+
+<p>
+"Nimm's, nimm's, und leg's in den Schrank, du wirst's schon einmal
+brauchen können."
+</p>
+
+<p>
+Heidi gehorchte und hüpfte nun dem Großvater nach in die Hütte
+hinein, wo es vor Freude über das Wiedersehen in alle Winkel sprang
+und die Leiter hinauf--aber da stand es plötzlich still und rief
+in Betroffenheit von oben herunter: "Oh, Großvater, ich habe kein
+Bett mehr!"
+</p>
+
+<p>
+"Kommt schon wieder", tönte es von unten herauf, "wusste ja nicht,
+dass du wieder heimkommst; jetzt komm zur Milch!"
+</p>
+
+<p>
+Heidi kam herunter und setzte sich auf seinen hohen Stuhl am alten
+Platze, und nun erfasste es sein Schüsselchen und trank mit einer
+Begierde, als wäre etwas so Köstliches noch nie in seinen Bereich
+gekommen, und als es mit einem tiefen Atemzug das Schüsselchen
+hinstellte, sagte es: "So gut wie unsere Milch ist doch gar nichts
+auf der Welt, Großvater."
+</p>
+
+<p>
+Jetzt ertönte draußen ein schriller Pfiff; wie der Blitz schoss
+Heidi zur Tür hinaus. Da kam die ganze Schar der Geißen hüpfend,
+springend, Sätze machend von der Höhe herunter, mittendrin der
+Peter. Als er Heidi ansichtig wurde, blieb er auf der Stelle
+völlig wie angewurzelt stehen und starrte es sprachlos an. Heidi
+rief: "Guten Abend, Peter!", und stürzte mitten in die Geißen
+hinein: "Schwänli! Bärli! Kennt ihr mich noch?", und die Geißlein
+mussten seine Stimme gleich erkannt haben, denn sie rieben ihre
+Köpfe an Heidi und fingen an leidenschaftlich zu meckern vor Freude,
+und Heidi rief alle nacheinander beim Namen, und alle rannten wie
+wild durcheinander und drängten sich zu ihm heran; der ungeduldige
+Distelfink sprang hoch auf und über zwei Geißen weg, um gleich in
+die Nähe zu kommen, und sogar das schüchterne Schneehöppli drängte
+mit einem ziemlich eigensinnigen Bohren den großen Türk auf die
+Seite, der nun ganz verwundert über die Frechheit dastand und
+seinen Bart in die Luft hob, um zu zeigen, dass er es sei.
+</p>
+
+<p>
+Heidi war außer sich vor Freude, alle die alten Gefährten wieder zu
+haben; es umarmte das kleine, zärtliche Schneehöppli wieder und
+wieder und streichelte den stürmischen Distelfink und wurde vor
+großer Liebe und Zutraulichkeit der Geißen hin und her gedrängt und
+geschoben, bis es nun ganz in Peters Nähe kam, der noch immer auf
+demselben Platze stand.
+</p>
+
+<p>
+"Komm herunter, Peter, und sag mir einmal guten Abend!", rief ihm
+Heidi jetzt zu.
+</p>
+
+<p>
+"Bist denn wieder da?", brachte er nun endlich in seinem Erstaunen
+heraus, und nun kam er herzu und nahm Heidis Hand, die dieses ihm
+schon lange hingehalten hatte, und nun fragte er, so wie er immer
+getan hatte bei der Heimkehr am Abend: "Kommst morgen wieder mit?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, morgen nicht, aber übermorgen vielleicht, denn morgen muss
+ich zur Großmutter."
+</p>
+
+<p>
+"Es ist recht, dass du wieder da bist", sagte der Peter und verzog
+sein Gesicht auf alle Seiten vor ungeheurem Vergnügen, dann
+schickte er sich zur Heimfahrt an; aber heute wurde es ihm so
+schwer wie noch nie mit seinen Geißen, denn als er sie endlich mit
+Locken und Drohen so weit gebracht hatte, dass sie sich um ihn
+sammelten, und Heidi, den einen Arm um Schwänlis und den andern um
+Bärlis Kopf gelegt, davonspazierte, da kehrten mit einem Male alle
+wieder um und liefen den dreien nach. Heidi musste mit seinen zwei
+Geißen in den Stall eintreten und die Tür zumachen, sonst wäre der
+Peter niemals mit seiner Herde fortgekommen. Als das Kind dann in
+die Hütte zurückkam, da sah es sein Bett schon wieder aufgerichtet,
+prächtig hoch und duftend, denn das Heu war noch nicht lange
+hereingeholt, und darüber hatte der Großvater ganz sorgfältig die
+sauberen Leintücher gebreitet. Heidi legte sich mit großer Lust
+hinein und schlief so herrlich, wie es ein ganzes Jahr lang nicht
+geschlafen hatte. Während der Nacht verließ der Großvater wohl
+zehnmal sein Lager und stieg die Leiter hinauf und lauschte sorgsam,
+ob Heidi auch schlafe und nicht unruhig werde, und suchte am Loch
+nach, wo sonst der Mond hereinkam auf Heidis Lager, ob auch das Heu
+noch fest drinnen sitze, das er hineingestopft hatte, denn von nun
+an durfte der Mondschein nicht mehr hereinkommen. Aber Heidi
+schlief in einem Zuge fort und wanderte keinen Schritt herum, denn
+sein großes, brennendes Verlangen war gestillt worden: Es hatte
+alle Berge und Felsen wieder im Abendglühen gesehen, es hatte die
+Tannen rauschen gehört, es war wieder daheim auf der Alm.
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap14"></a>
+Am Sonntag, wenn's läutet
+</h3>
+
+<p>
+Heidi stand unter den wogenden Tannen und wartete auf den Großvater,
+der mitgehen und den Koffer vom Dörfli heraufholen wollte, während
+es bei der Großmutter wäre. Das Kind konnte es fast nicht erwarten,
+die Großmutter wieder zu sehen und zu hören, wie ihr die Brötchen
+geschmeckt hatten, und doch wurde ihm wieder die Zeit nicht lang,
+denn es konnte ja nicht genug die heimatlichen Töne von dem
+Tannenrauschen über ihm und das Duften und Leuchten der grünen
+Weiden und der goldenen Blumen darauf eintrinken.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt trat der Großvater aus der Hütte, schaute noch einmal rings
+um sich und sagte dann mit zufriedenem Ton: "So, nun können wir
+gehen."
+</p>
+
+<p>
+Denn es war Sonnabend heut, und an dem Tage machte der Alm-Öhi
+alles sauber und in Ordnung in der Hütte, im Stall und ringsherum,
+das war seine Gewohnheit, und heut hatte er den Morgen dazu
+genommen, um gleich nachmittags mit Heidi ausziehen zu können, und
+so sah nun alles ringsherum gut und zu seiner Zufriedenheit aus.
+Bei der Geißenpeter-Hütte trennten sie sich, und Heidi sprang
+hinein. Schon hatte die Großmutter seinen Schritt gehört und rief
+ihm liebevoll entgegen: "Kommst du, Kind? Kommst du wieder?"
+</p>
+
+<p>
+Dann erfasste sie Heidis Hand und hielt sie ganz fest, denn immer
+noch fürchtete sie, das Kind könnte ihr wieder entrissen werden.
+Und nun musste die Großmutter erzählen, wie die Brötchen geschmeckt
+hätten, und sie sagte, sie habe sich so daran erlabt, dass sie
+meine, sie sei heute viel kräftiger als lang nicht mehr, und Peters
+Mutter fügte hinzu, die Großmutter habe vor lauter Sorge, sie werde
+zu bald fertig damit, nur ein einziges Brötchen essen wollen,
+gestern und heut zusammen, und sie käme gewiss noch ziemlich zu
+Kräften, wenn sie so acht Tage lang hintereinander jeden Tage eines
+essen wollte. Heidi hörte der Brigitte mit Aufmerksamkeit zu und
+blieb jetzt noch eine Zeit lang nachdenklich. Nun hatte es seinen
+Weg gefunden. "Ich weiß schon, was ich mache, Großmutter", sagte
+es in freudigem Eifer; "ich schreibe der Klara einen Brief und dann
+schickt sie mir gewiss noch einmal so viel Brötchen, wie da sind,
+oder zweimal, denn ich hatte schon einen großen Haufen ganz gleiche
+im Kasten, und als man mir sie weggenommen hatte, sagte Klara, sie
+gebe mir gerade so viele wieder, und das tut sie schon."
+</p>
+
+<p>
+"Ach Gott", sagte die Brigitte, "das ist eine gute Meinung; aber
+denk, sie werden auch hart. Wenn man nur hier und da einen übrigen
+Batzen hätte, der Bäcker unten im Dörfli macht auch solche, aber
+ich vermag kaum das schwarze Brot zu bezahlen."
+</p>
+
+<p>
+Jetzt schoss ein heller Freudenstrahl über Heidis Gesicht: "Oh, ich
+habe furchtbar viel Geld, Großmutter", rief es jubelnd aus und
+hüpfte vor Freuden in die Höhe, "jetzt weiß ich, was ich damit
+mache! Alle, alle Tage musst du ein neues Brötchen haben und am
+Sonntage zwei, und der Peter kann sie heraufbringen vom Dörfli."
+</p>
+
+<p>
+"Nein, nein, Kind!", wehrte die Großmutter; "das kann nicht sein,
+das Geld hast du nicht dazu bekommen, du musst es dem Großvater
+geben, er sagt dir dann schon, was du damit machen musst."
+</p>
+
+<p>
+Aber Heidi ließ sich nicht stören in seiner Freude, es jauchzte und
+hüpfte in der Stube herum und rief ein Mal übers andere: "Jetzt
+kann die Großmutter jeden Tag ein Brötchen essen und wird wieder
+ganz kräftig, und--oh, Großmutter", rief es mit neuem Jubel, "wenn
+du dann so gesund wirst, so wird es dir gewiss auch wieder hell, es
+ist vielleicht nur, weil du so schwach bist."
+</p>
+
+<p>
+Die Großmutter schwieg still, sie wollte des Kindes Freude nicht
+trüben. Bei seinem Herumhüpfen fiel dem Heidi auf einmal das alte
+Liederbuch der Großmutter in die Augen, und es kam ihm ein neuer
+freudiger Gedanke: "Großmutter, jetzt kann ich auch ganz gut lesen;
+soll ich dir einmal ein Lied lesen aus deinem alten Buch?"
+</p>
+
+<p>
+"O ja", bat die Großmutter freudig überrascht; "kannst du das auch
+wirklich, Kind, kannst du das?"
+</p>
+
+<p>
+Heidi war auf einen Stuhl geklettert und hatte das Buch mit einer
+dicken Staubwolke heruntergezogen, denn es hatte lange unberührt
+gelegen da oben; nun wischte es Heidi sauber ab, setzte sich damit
+auf seinen Schemel zur Großmutter hin und fragte, was es nun lesen
+solle.
+</p>
+
+<p>
+"Was du willst, Kind, was du willst", und mit gespannter Erwartung
+saß die Großmutter da und hatte ihr Spinnrad ein wenig von sich
+geschoben.
+</p>
+
+<p>
+Heidi blätterte und las leise hier und da eine Linie: "jetzt kommt
+etwas von der Sonne, das will ich dir lesen, Großmutter." Und Heidi
+begann und wurde selbst immer eifriger und immer wärmer, während es
+las:
+</p>
+
+<p class="poem">
+ "Die güldne Sonne Voll<br />
+ Freud und Wonne<br />
+ Bringt unsern Grenzen<br />
+ Mit ihrem Glänzen<br />
+ Ein herzerquickendes, liebliches Licht.<br />
+</p>
+
+<p class="poem">
+ Mein Haupt und Glieder<br />
+ Die lagen darnieder;<br />
+ Aber nun steh ich,<br />
+ Bin munter und fröhlich,<br />
+ Schaue den Himmel mit meinem Gesicht.<br />
+</p>
+
+<p class="poem">
+ Mein Auge schauet,<br />
+ Was Gott gebauet<br />
+ Zu seinen Ehren,<br />
+ Und uns zu lehren,<br />
+ Wie sein Vermögen sei mächtig und groß.<br />
+</p>
+
+<p class="poem">
+ Und wo die Frommen<br />
+ Dann sollen hinkommen,<br />
+ Wenn sie mit Frieden<br />
+ Von hinnen geschieden<br />
+ Aus dieser Erde vergänglichem Schoß.<br />
+</p>
+
+<p class="poem">
+ Alles vergehet,<br />
+ Gott aber stehet<br />
+ Ohn alles Wanken,<br />
+ Seine Gedanken,<br />
+ Sein Wort und Wille hat ewigen Grund.<br />
+</p>
+
+<p class="poem">
+ Sein Heil und Gnaden<br />
+ Die nehmen nicht Schaden,<br />
+ Heilen im Herzen,<br />
+ Die tödlichen Schmerzen,<br />
+ Halten uns zeitlich und ewig gesund.<br />
+</p>
+
+<p class="poem">
+ Kreuz und Elende--<br />
+ Das nimmt ein Ende,<br />
+ Nach Meeresbrausen<br />
+ Und Windessausen<br />
+ Leuchtet der Sonne erwünschtes Gesicht.<br />
+</p>
+
+<p class="poem">
+ Freude die Fülle<br />
+ Und selige Stille<br />
+ Darf ich erwarten<br />
+ Im himmlischen Garten,<br />
+ Dahin sind meine Gedanken gericht'."<br />
+</p>
+
+<p><br /></p>
+
+<p>
+Die Großmutter saß still da mit gefalteten Händen, und ein Ausdruck
+unbeschreiblicher Freude, so wie ihn Heidi nie an ihr gesehen hatte,
+lag auf ihrem Gesicht, obschon ihr die Tränen die Wangen
+herabliefen. Als Heidi schwieg, bat sie mit Verlangen: "Oh, noch
+einmal, Heidi, lass es mich noch einmal hören:
+</p>
+
+<p class="poem">
+ 'Kreuz und Elende<br />
+ Das nimmt ein Ende'--"<br />
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Und das Kind fing noch einmal an und las in eigener Freude und
+Verlangen:
+</p>
+
+<p class="poem">
+ "Kreuz und Elende--<br />
+ Das nimmt ein Ende,<br />
+ Nach Meeresbrausen<br />
+ Und Windessausen<br />
+ Leuchtet der Sonne erwünschtes Gesicht.<br />
+</p>
+
+<p class="poem">
+ Freude die Fülle<br />
+ Und selige Stille<br />
+ Darf ich erwarten<br />
+ Im himmlischen Garten,<br />
+ Dahin sind meine Gedanken gericht'."<br />
+</p>
+
+<p><br /></p>
+
+<p>
+"O Heidi, das macht hell! Das macht so hell im Herzen! Oh, wie
+hast du mir wohl gemacht, Heidi!"
+</p>
+
+<p>
+Ein Mal ums andere sagte die Großmutter die Worte der Freude, und
+Heidi strahlte vor Glück und musste sie nur immer ansehen, denn so
+hatte es die Großmutter nie gesehen. Sie hatte gar nicht mehr das
+alte trübselige Gesicht, sondern schaute so freudig und dankend auf,
+als sähe sie schon mit neuen, hellen Augen in den schönen
+himmlischen Garten hinein.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt klopfte es am Fenster, und Heidi sah den Großvater draußen,
+der ihm winkte, mit heimzukommen. Es folgte schnell, aber nicht
+ohne die Großmutter zu versichern, morgen komme es wieder, und auch
+wenn es mit Peter auf die Weide gehe, so komme es doch im halben
+Tag zurück; denn dass es der Großmutter wieder hell machen konnte
+und sie wieder fröhlich wurde, das war nun für Heidi das
+allergrößte Glück, das es kannte, noch viel größer, als auf der
+sonnigen Weide und bei den Blumen und Geißen zu sein. Die Brigitte
+lief dem Heidi unter die Tür nach mit Rock und Hut, dass es seine
+Habe mitnehme. Den Rock nahm es auf den Arm, denn der Großvater
+kenne es jetzt schon, dachte es bei sich; aber den Hut wies es
+hartnäckig zurück, die Brigitte sollte ihn nur behalten, es setze
+ihn nie, nie mehr auf den Kopf. Heidi war so erfüllt von seinen
+Erlebnissen, dass es gleich dem Großvater alles erzählen musste,
+was ihm das Herz erfreute, dass man die weißen Brötchen auch unten
+im Dörfli für die Großmutter holen könne, wenn man nur Geld habe,
+und dass es der Großmutter auf einmal so hell und wohl geworden war,
+und wie Heidi das alles zu Ende geschildert hatte, kehrte es
+wieder zum Ersten zurück und sagte ganz zuversichtlich: "Gelt,
+Großvater, wenn die Großmuttter schon nicht will, so gibst du mir
+doch alles Geld in der Rolle, dass ich dem Peter jeden Tag ein
+Stück geben kann zu einem Brötchen und am Sonntag zwei?"
+</p>
+
+<p>
+"Aber das Bett, Heidi?", sagte der Großvater; "ein rechtes Bett für
+dich wäre gut, und nachher bleibt schon noch für manches Brötchen."
+</p>
+
+<p>
+Aber Heidi ließ dem Großvater keine Ruhe und bewies ihm, dass es
+auf seinem Heubett viel besser schlafe, als es jemals in seinem
+Kissenbett in Frankfurt geschlafen habe, und bat so eindringlich
+und unablässig, dass der Großvater zuletzt sagte: "Das Geld ist
+dein, mach, was dich freut; du kannst der Großmutter manches Jahr
+lang Brot holen dafür."
+</p>
+
+<p>
+Heidi jauchzte auf: "O juhe! Nun muss die Großmutter gar nie mehr
+hartes, schwarzes Brot essen, und, o Großvater! Nun ist doch alles
+so schön wie noch gar nie, seit wir leben!", und Heidi hüpfte hoch
+auf an der Hand des Großvaters und jauchzte in die Luft hinauf wie
+die fröhlichen Vögel des Himmels. Aber auf einmal wurde es ganz
+ernsthaft und sagte: "Oh, wenn nun der liebe Gott gleich auf der
+Stelle getan hätte, was ich so stark erbetete, dann wäre doch alles
+nicht so geworden, ich wäre nur gleich wieder heimgekommen und
+hätte der Großmutter nur wenige Brötchen gebracht und hätte ihr
+nicht lesen können, was ihr wohl macht; aber der liebe Gott hatte
+schon alles ausgedacht, so viel schöner, als ich es wusste; die
+Großmama hat es mir gesagt, und nun ist alles so gekommen. Oh, wie
+bin ich froh, dass der liebe Gott nicht nachgab, wie ich so bat und
+jammerte! Aber jetzt will ich immer so beten, wie die Großmama
+sagte, und dem lieben Gott immer danken, und wenn er etwas nicht
+tut, das ich erbeten will, dann will ich gleich denken: Es geht
+gewiss wieder wie in Frankfurt, der liebe Gott denkt gewiss etwas
+viel Besseres aus. Aber wir wollen auch alle Tage beten, gelt
+Großvater, und wir wollen es nie mehr vergessen, damit der liebe
+Gott uns auch nicht vergisst."
+</p>
+
+<p>
+"Und wenn's einer doch täte?", murmelte der Großvater.
+</p>
+
+<p>
+"Oh, dem geht's nicht gut, denn der liebe Gott vergisst ihn dann
+auch und lässt ihn ganz laufen, und wenn es ihm einmal schlecht
+geht und er jammert, so hat kein Mensch Mitleid mit ihm, sondern
+alle sagen nur: Er ist ja zuerst vom lieben Gott weggelaufen, nun
+lässt ihn der liebe Gott auch gehen, der ihm helfen könnte."
+</p>
+
+<p>
+"Das ist wahr, Heidi, woher weißt du das?"
+</p>
+
+<p>
+"Von der Großmama, sie hat mir alles erklärt."
+</p>
+
+<p>
+Der Großvater ging eine Weile schweigend weiter. Dann sagte er,
+seine Gedanken verfolgend, vor sich hin: "Und wenn's einmal so ist,
+dann ist es so; zurück kann keiner, und wen der Herrgott vergessen
+hat, den hat er vergessen."
+</p>
+
+<p>
+"O nein, Großvater, zurück kann einer, das weiß ich auch von der
+Großmama, und dann geht es so wie in der schönen Geschichte in
+meinem Buch, aber die weißt du nicht; jetzt sind wir aber gleich
+daheim, und dann wirst du schon erfahren, wie schön die Geschichte
+ist."
+</p>
+
+<p>
+Heidi strebte in seinem Eifer rascher und rascher die letzte
+Steigung hinan, und kaum waren sie oben angelangt, als es des
+Großvaters Hand losließ und in die Hütte hineinrannte. Der
+Großvater nahm den Korb von seinem Rücken, in den er die Hälfte der
+Sachen aus dem Koffer hineingestoßen hatte, denn den ganzen Koffer
+heraufzubringen wäre ihm zu schwer gewesen. Dann setzte er sich
+nachdenklich auf die Bank nieder. Heidi kam wieder herbeigerannt,
+sein großes Buch unter dem Arm: "Oh, das ist recht, Großvater, dass
+du schon dasitzt", und mit einem Satz war Heidi an seiner Seite und
+hatte schon seine Geschichte aufgeschlagen, denn die hatte es schon
+so oft und immer wieder gelesen, dass das Buch von selbst aufging
+an dieser Stelle. Jetzt las Heidi mit großer Teilnahme von dem
+Sohne, der es gut hatte daheim, wo draußen auf des Vaters Feldern
+die schönen Kühe und Schäflein weideten und er in einem schönen
+Mäntelchen, auf seinen Hirtenstab gestützt, bei ihnen auf der Weide
+stehen und dem Sonnenuntergang zusehen konnte, wie es alles auf dem
+Bilde zu sehen war. "Aber auf einmal wollte er sein Hab und Gut
+für sich haben und sein eigener Meister sein und forderte es dem
+Vater ab und lief fort damit und verprasste alles. Und als er gar
+nichts mehr hatte, musste er hingehen und Knecht sein bei einem
+Bauer, der hatte aber nicht so schöne Tiere, wie auf seines Vaters
+Feldern waren, sondern nur Schweinlein; diese musste er hüten, und
+er hatte nur noch Fetzen auf sich und bekam nur von den Trebern,
+welche die Schweinchen aßen, ein klein wenig. Da dachte er daran,
+wie er es daheim beim Vater gehabt und wie gut der Vater mit ihm
+gewesen war und wie undankbar er gegen den Vater gehandelt hatte,
+und er musste weinen vor Reue und Heimweh. Und er dachte: '
+Ich will zu meinem Vater gehen und ihn um Verzeihung bitten und ihm
+sagen, ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen, aber lass mich
+nur dein Tagelöhner bei dir sein.' Und wie er von ferne gegen
+das Haus seines Vaters kam, da sah ihn der Vater und kam
+herausgelaufen--was meinst du jetzt, Großvater?", unterbrach sich
+Heidi in seinem Vorlesen; "jetzt meinst du, der Vater sei noch böse
+und sage zu ihm: 'Ich habe dir's ja gesagt!'? Jetzt
+hör nur, was kommt: Und sein Vater sah ihn und es jammerte ihn und
+lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn, und der Sohn sprach
+zu ihm: 'Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor
+dir und bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen.' Aber der
+Vater sprach zu seinen Knechten: 'Bringt das beste Kleid her
+und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und
+Schuhe an die Füße, und bringt das gemästete Kalb her und
+schlachtet es und lasst uns essen und fröhlich sein, denn dieser
+mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, und er war
+verloren und ist wieder gefunden worden.' Und sie fingen an,
+fröhlich zu sein."
+</p>
+
+<p>
+"Ist denn das nicht eine schöne Geschichte, Großvater?", fragte
+Heidi, als dieser immer noch schweigend dasaß und es doch erwartet
+hatte, er werde sich freuen und verwundern.
+</p>
+
+<p>
+"Doch, Heidi, die Geschichte ist schön", sagte der Großvater; aber
+sein Gesicht war so ernsthaft, dass Heidi ganz stille wurde und
+seine Bilder ansah. Leise schob es noch einmal sein Buch vor den
+Großvater hin und sagte: "Sieh, wie es ihm wohl ist", und zeigte
+mit seinem Finger auf das Bild des Heimgekehrten, wie er im
+frischen Kleid neben dem Vater steht und wieder zu ihm gehört als
+sein Sohn.
+</p>
+
+<p>
+Ein paar Stunden später, als Heidi längst im tiefen Schlafe lag,
+stieg der Großvater die kleine Leiter hinauf; er stellte sein
+Lämpchen neben Heidis Lager hin, so dass das Licht auf das
+schlafende Kind fiel. Es lag da mit gefalteten Händen, denn zu
+beten hatte Heidi nicht vergessen. Auf seinem rosigen Gesichtchen
+lag ein Ausdruck des Friedens und seligen Vertrauens, der zu dem
+Großvater reden musste, denn lange, lange stand er da und rührte
+sich nicht und wandte kein Auge von dem schlafenden Kinde ab.
+Jetzt faltete auch er die Hände, und halblaut sagte er mit
+gesenktem Haupte: "Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und
+vor dir und bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen!" Und ein paar
+große Tränen rollten dem Alten die Wangen herab.--
+</p>
+
+<p>
+Wenige Stunden nachher in der ersten Frühe des Tages stand der Alm-
+Öhi vor seiner Hütte und schaute mit hellen Augen um sich. Der
+Sonntagmorgen flimmerte und leuchtete über Berg und Tal. Einzelne
+Frühglocken tönten aus den Tälern herauf, und oben in den Tannen
+sangen die Vögel ihre Morgenlieder.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt trat der Großvater in die Hütte zurück. "Komm, Heidi!", rief
+er auf den Boden hinauf. "Die Sonne ist da! Zieh ein gutes
+Röcklein an, wir wollen in die Kirche miteinander!"
+</p>
+
+<p>
+Heidi machte nicht lange; das war ein ganz neuer Ruf vom Großvater,
+dem musste es schnell folgen. In kurzer Zeit kam es
+heruntergesprungen in seinem schmucken Frankfurter Röckchen. Aber
+voller Erstaunen blieb Heidi vor seinem Großvater stehen und
+schaute ihn an. "O Großvater, so hab ich dich nie gesehen", brach
+es endlich aus, "und den Rock mit den silbernen Knöpfen hast du
+noch gar nicht getragen, oh, du bist so schön in deinem schönen
+Sonntagsrock."
+</p>
+
+<p>
+Der Alte blickte vergnüglich lächelnd auf das Kind und sagte: "Und
+du in dem deinen; jetzt komm!" Er nahm Heidis Hand in die seine,
+und so wanderten sie miteinander den Berg hinunter. Von allen
+Seiten tönten jetzt die hellen Glocken ihnen entgegen, immer voller
+und reicher, je weiter sie kamen, und Heidi lauschte mit Entzücken
+und sagte: "Hörst du's, Großvater? Es ist wie ein großes, großes
+Fest."
+</p>
+
+<p>
+Unten im Dörfli waren schon alle Leute in der Kirche und fingen
+eben zu singen an, als der Großvater mit Heidi eintrat und ganz
+hinten auf der letzten Bank sich niedersetzte. Aber mitten im
+Singen stieß der zunächst Sitzende seinen Nachbar mit dem
+Ellenbogen an und sagte: "Hast du das gesehen? Der Alm-Öhi ist in
+der Kirche!"
+</p>
+
+<p>
+Und der Angestoßene stieß den Zweiten an und so fort, und in
+kürzester Zeit flüsterte es an allen Ecken: "Der Alm-Öhi! Der Alm-
+Öhi!", und die Frauen mussten fast alle einen Augenblick den Kopf
+umdrehen, und die meisten fielen ein wenig aus der Melodie, so dass
+der Vorsänger die größte Mühe hatte, den Gesang schön
+aufrechtzuerhalten. Aber als dann der Herr Pfarrer anfing zu
+predigen, ging die Zerstreutheit ganz vorüber, denn es war ein so
+warmes Loben und Danken in seinen Worten, dass alle Zuhörer davon
+ergriffen wurden, und es war, als sei ihnen allen eine große Freude
+widerfahren. Als der Gottesdienst zu Ende war, trat der Alm-Öhi
+mit dem Kinde an der Hand heraus und schritt dem Pfarrhaus zu, und
+alle, die mit ihm heraustraten und die schon draußen standen,
+schauten ihm nach, und die meisten gingen hinter ihm her, um zu
+sehen, ob er wirklich ins Pfarrhaus eintrete, was er tat. Dann
+sammelten sie sich in Gruppen zusammen und besprachen in großer
+Aufregung das Unerhörte, dass der Alm-Öhi in der Kirche erschienen
+war, und alle schauten mit Spannung nach der Pfarrhaustür, wie der
+Öhi wohl wieder herauskommen werde, ob in Zorn und Hader oder im
+Frieden mit dem Herrn Pfarrer, denn man wusste ja gar nicht, was
+den Alten heruntergebracht hatte und wie es eigentlich gemeint sei.
+Aber doch war schon bei vielen eine neue Stimmung eingetreten, und
+einer sagte zum andern: "Es wird wohl mit dem Alm-Öhi nicht so bös
+sein, wie man tut; man kann ja nur sehen, wie sorglich er das
+Kleine an der Hand hält." Und der andere sagte: "Das hab ich ja
+immer gesagt, und zum Pfarrer hinein ginge er auch nicht, wenn er
+so bodenschlecht wäre, sonst müsste er sich ja fürchten; man
+übertreibt auch viel." Und der Bäcker sagte: "Hab ich das nicht
+zuallererst gesagt? Seit wann läuft denn ein kleines Kind, das zu
+essen und zu trinken hat, was es will, und sonst alles Gute, aus
+alledem weg und heim zu einem Großvater, wenn der bös und wild ist
+und es sich zu fürchten hat vor ihm?" Und es kam eine ganz
+liebevolle Stimmung gegen den Alm-Öhi auf und nahm überhand, denn
+jetzt nahten sich auch die Frauen herzu, und diese hatten so
+manches von der Geißenpeterin und der Großmutter gehört, das den
+Alm-Öhi ganz anders darstellte, als die allgemeine Meinung war, und
+das ihnen jetzt auf einmal glaublich schien, dass es mehr und mehr
+so wurde, als warteten sie alle da, um einen alten Freund zu
+bewillkommnen, der ihnen lange gemangelt hatte.
+</p>
+
+<p>
+Der Alm-Öhi war unterdessen an die Tür der Studierstube getreten
+und hatte angeklopft. Der Herr Pfarrer machte auf und trat dem
+Eintretenden entgegen, nicht überrascht, wie er wohl hätte sein
+können, sondern so, als habe er ihn erwartet; die ungewohnte
+Erscheinung in der Kirche musste ihm nicht entgangen sein. Er
+ergriff die Hand des Alten und schüttelte sie wiederholt mit der
+größten Herzlichkeit, und der Alm-Öhi stand schweigend da und
+konnte erst kein Wort herausbringen, denn auf solchen herzlichen
+Empfang war er nicht vorbereitet. Jetzt fasste er sich und sagte:
+"Ich komme, um den Herrn Pfarrer zu bitten, dass er mir die Worte
+vergessen möchte, die ich zu ihm auf der Alm geredet habe, und dass
+er mir nicht nachtragen wolle, wenn ich widerspenstig war gegen
+seinen wohlmeinenden Rat. Der Herr Pfarrer hat ja in allem Recht
+gehabt und ich war im Unrecht, aber ich will jetzt seinem Rate
+folgen und auf den Winter wieder ein Quartier im Dörfli beziehen,
+denn die harte Jahreszeit ist nichts für das Kind dort oben, es ist
+zu zart, und wenn auch dann die Leute hier unten mich von der Seite
+ansehen, so wie einen, dem nicht zu trauen ist, so habe ich es
+nicht besser verdient, und der Herr Pfarrer wird es ja nicht tun."
+</p>
+
+<p>
+Die freundlichen Augen des Pfarrers glänzten vor Freude. Er nahm
+noch einmal des Alten Hand und drückte sie in der seinen und sagte
+mit Rührung: "Nachbar, Ihr seid in der rechten Kirche gewesen, noch
+eh Ihr in die meinige herunterkamt; des freu ich mich, und dass Ihr
+wieder zu uns kommen und mit uns leben wollt, soll Euch nicht
+gereuen, bei mir sollt Ihr als ein lieber Freund und Nachbar alle
+Zeit willkommen sein, und ich gedenke manches Winterabendstündchen
+fröhlich mit Euch zu verbringen, denn Eure Gesellschaft ist mir
+lieb und wert, und für das Kleine wollen wir auch gute Freunde
+finden." Und der Herr Pfarrer legte sehr freundlich seine Hand auf
+Heidis Krauskopf und nahm es bei der Hand und führte es hinaus,
+indem er den Großvater fortbegleitete, und erst draußen vor der
+Haustür nahm er Abschied, und nun konnten alle die herumstehenden
+Leute sehen, wie der Herr Pfarrer dem Alm-Öhi die Hand immer noch
+einmal schüttelte, gerade als wäre das sein bester Freund, von dem
+er sich fast nicht trennen könnte. Kaum hatte dann auch die Tür
+sich hinter dem Herrn Pfarrer geschlossen, so drängte die ganze
+Versammlung dem Alm-Öhi entgegen, und jeder wollte der Erste sein,
+und so viele Hände wurden miteinander dem Herankommenden
+entgegengestreckt, dass er gar nicht wusste, welche zuerst
+ergreifen, und einer rief ihm zu: "Das freut mich! Das freut mich,
+Öhi, dass Ihr auch wieder einmal zu uns kommt!", und ein anderer:
+"Ich hätte auch schon lang gern wieder einmal ein Wort mit Euch
+geredet, Öhi!" Und so tönte und drängte es von allen Seiten, und
+wie nun der Öhi auf alle die freundlichen Begrüßungen erwiderte, er
+gedenke, sein altes Quartier im Dörfli wieder zu beziehen und den
+Winter mit den alten Bekannten zu verleben, da gab es erst einen
+rechten Lärm, und es war gerade so, wie wenn der Alm-Öhi die
+beliebteste Persönlichkeit im ganzen Dörfli wäre, die jeder mit
+Nachteil entbehrt hatte. Noch weit an die Alm hinauf wurden
+Großvater und Kind von den meisten begleitet, und beim Abschied
+wollte jeder die Versicherung haben, dass der Alm-Öhi bald einmal
+bei ihm vorspreche, wenn er wieder herunterkomme; und wie nun die
+Leute den Berg hinab zurückkehrten, blieb der Alte stehen und
+schaute ihnen lange nach, und auf seinem Gesichte lag ein so warmes
+Licht, als schiene bei ihm die Sonne von innen heraus. Heidi
+schaute unverwandt zu ihm auf und sagte ganz erfreut: "Großvater,
+heut wirst du immer schöner, so warst du noch gar nie."
+</p>
+
+<p>
+"Meinst du?", lächelte der Großvater. "Ja, und siehst du, Heidi,
+mir geht's auch heut über Verstehen und Verdienen gut, und mit Gott
+und Menschen im Frieden stehen, das macht einem so wohl! Der liebe
+Gott hat's gut mit mir gemeint, dass er dich auf die Alm schickte."
+</p>
+
+<p>
+Bei der Geißenpeter-Hütte angekommen, machte der Großvater gleich
+die Tür auf und trat ein. "Grüß Gott, Großmutter", rief er hinein;
+"ich denke, wir müssen einmal wieder ans Flicken gehen, bevor der
+Herbstwind kommt."
+</p>
+
+<p>
+"Du mein Gott, das ist der Öhi!", rief die Großmutter voll
+freudiger Überraschung aus. "Dass ich das noch erlebe! Dass ich
+Euch noch einmal danken kann für alles, das Ihr für uns getan habt,
+Öhi! Vergelt's Gott! Vergelt's Gott!"
+</p>
+
+<p>
+Und mit zitternder Freude streckte die alte Großmutter ihre Hand
+aus, und als der Angeredete sie herzlich schüttelte, fuhr sie fort,
+indem sie die seinige fest hielt: "Und eine Bitte hab ich auch noch
+auf dem Herzen, Öhi: Wenn ich Euch je etwas zuleid getan habe, so
+straft mich nicht damit, dass Ihr noch einmal das Heidi fortlasst,
+bevor ich unten bei der Kirche liege. Oh, Ihr wisst nicht, was mir
+das Kind ist!", und sie hielt es fest an sich, denn Heidi hatte
+sich schon an sie geschmiegt.
+</p>
+
+<p>
+"Keine Sorge, Großmutter", beruhigte der Öhi; "damit will ich weder
+Euch noch mich strafen. Jetzt bleiben wir alle beieinander und,
+will's Gott, noch lange so."
+</p>
+
+<p>
+Jetzt zog die Brigitte den Öhi ein wenig geheimnisvoll in eine Ecke
+hinein und zeigte ihm das schöne Federnhütchen und erzählte ihm,
+wie es sich damit verhalte, und dass sie ja natürlich so etwas
+einem Kinde nicht abnehme.
+</p>
+
+<p>
+Aber der Großvater sah ganz wohlgefällig auf sein Heidi hin und
+sagte: "Der Hut ist sein, und wenn es ihn nicht mehr auf den Kopf
+tun will, so hat es Recht, und hat es ihn dir gegeben, so nimm ihn
+nur."
+</p>
+
+<p>
+Die Brigitte war höchlich erfreut über das unerwartete Urteil. "Er
+ist gewiss mehr als zehn Franken wert, seht nur!", und in ihrer
+Freude streckte sie das Hütchen hoch auf. "Was aber auch dieses
+Heidi für einen Segen von Frankfurt mit heimgebracht hat! Ich habe
+schon manchmal denken müssen, ob ich nicht den Peterli auch ein
+wenig nach Frankfurt schicken solle; was meint Ihr, Öhi?"
+</p>
+
+<p>
+Dem Öhi schoss es ganz lustig aus den Augen. Er meinte, es könnte
+dem Peterli nichts schaden; aber er würde doch eine gute
+Gelegenheit dazu abwarten.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt fuhr der Besprochene eben zur Tür herein, nachdem er zuerst
+mit dem Kopf so fest dagegen gerannt war, dass alles erklirrte
+davon; er musste pressiert sein. Atemlos und keuchend stand er nun
+mitten in der Stube still und streckte einen Brief aus. Das war
+auch ein Ereignis, das noch nie vorgekommen war, ein Brief mit
+einer Aufschrift an das Heidi, den man ihm auf der Post im Dörfli
+übergeben hatte. Jetzt setzten sich alle voller Erwartung um den
+Tisch herum, und Heidi machte seinen Brief auf und las ihn laut und
+ohne Anstoß vor. Der Brief war von der Klara Sesemann geschrieben.
+Sie erzählte Heidi, dass es seit seiner Abreise so langweilig
+geworden sei in ihrem Hause, sie es nicht lang hintereinander so
+aushalten könne und so lange den Vater gebeten habe, bis er die
+Reise ins Bad Ragaz schon auf den kommenden Herbst festgestellt
+habe, und die Großmama wolle auch mitkommen, denn sie wolle auch
+das Heidi und den Großvater besuchen auf der Alm. Und weiter ließ
+die Großmama noch dem Heidi sagen, es habe Recht getan, dass es der
+alten Großmutter die Brötchen habe mitbringen wollen, und damit sie
+diese nicht trocken essen müsse, komme gleich der Kaffee noch dazu,
+er sei schon auf der Reise, und wenn sie selbst nach der Alm komme,
+so müsse das Heidi sie auch zur Großmutter führen.
+</p>
+
+<p>
+Da gab es nun eine solche Freude und Verwunderung über diese
+Nachrichten und so viel zu reden und zu fragen, da die große
+Erwartung alle gleich betraf, dass selbst der Großvater nicht
+bemerkte, wie spät es schon war, und so vergnügt und fröhlich waren
+sie alle in der Aussicht auf die kommenden Tage und fast noch mehr
+in der Freude über das Zusammensein an dem heutigen, dass die
+Großmutter zuletzt sagte: "Das Schönste ist doch, wenn so ein alter
+Freund kommt und uns wieder die Hand gibt, so wie vor langer Zeit;
+das gibt so ein tröstliches Gefühl ins Herz, dass wir einmal alles
+wieder finden, was uns lieb ist. Ihr kommt doch bald wieder, Öhi,
+und das Kind morgen schon?"
+</p>
+
+<p>
+Das wurde der Großmutter in die Hand hinein versprochen; nun aber
+war es Zeit zum Aufbruch, und der Großvater wanderte mit Heidi die
+Alm hinan, und wie am Morgen die hellen Glocken von nah und fern
+sie heruntergerufen hatten, so begleitete nun aus dem Tale herauf
+das friedliche Geläut der Abendglocken sie bis hinauf zur sonnigen
+Almhütte, die ganz sonntäglich im Abendschimmer ihnen
+entgegenglänzte.
+</p>
+
+<p>
+Wenn aber die Großmama kommt im Herbst, dann gibt es gewiss noch
+manche neue Freude und Überraschung für das Heidi wie für die
+Großmutter, und sicher kommt auch gleich ein richtiges Bett auf den
+Heuboden hinauf, denn wo die Großmama hintritt, da kommen alle
+Dinge bald in die erwünschte Ordnung und Richtigkeit, nach außen
+wie nach innen.
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /><br /></p>
+
+
+
+
+
+
+
+
+<pre>
+
+
+
+
+
+End of Project Gutenberg's Heidis Lehr- und Wanderjahre, by Johanna Spyri
+
+*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK HEIDIS LEHR- UND WANDERJAHRE ***
+
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+The Project Gutenberg EBook of Heidis Lehr- und Wanderjahre, by Johanna Spyri
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
+other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
+whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of
+the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
+www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have
+to check the laws of the country where you are located before using this ebook.
+
+Title: Heidis Lehr- und Wanderjahre
+
+Author: Johanna Spyri
+
+Posting Date: September 1, 2014 [EBook #7500]
+Release Date: February, 2005
+First Posted: May 11, 2003
+Last Revised: August 21, 2016
+
+Language: German
+
+Character set encoding: ISO-8859-1
+
+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK HEIDIS LEHR- UND WANDERJAHRE ***
+
+
+
+
+Produced by Mike Pullen and Juliet Sunderland. HTML version
+by Al Haines.
+
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+This book content was graciously contributed by the Gutenberg Projekt-DE.
+That project is reachable at the web site http://gutenberg2000.de.
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+Dieses Buch wurde uns freundlicherweise vom "Gutenberg Projekt-DE"
+zur Verfügung gestellt. Das Projekt ist unter der Internet-Adresse
+http://gutenberg2000.de erreichbar.
+
+
+
+
+Heidis Lehr- und Wanderjahre
+
+Johanna Spyri
+
+
+ Inhalt
+
+ 1 Zum Alm-Öhi hinauf
+ 2 Beim Großvater
+ 3 Auf der Weide
+ 4 Bei der Großmutter
+ 5 Es kommt ein Besuch und dann noch einer, der mehr Folgen hat
+ 6 Ein neues Kapitel und lauter neue Dinge
+ 7 Fräulein Rottenmeier hat einen unruhigen Tag
+ 8 Im Hause Sesemann geht's unruhig zu
+ 9 Der Hausherr hört allerlei in seinem Hause, das er noch nicht gehört hat
+ 10 Eine Großmama
+ 11 Heidi nimmt auf einer Seite zu und auf der anderen ab
+ 12 Im Hause Sesemann spukt's
+ 13 Am Sommerabend die Alm hinan
+ 14 Am Sonntag, wenn's läutet
+
+
+
+
+Zum Alm-Öhi hinauf
+
+Vom freundlichen Dorfe Maienfeld führt ein Fußweg durch grüne,
+baumreiche Fluren bis zum Fuße der Höhen, die von dieser Seite groß
+und ernst auf das Tal herniederschauen. Wo der Fußweg anfängt,
+beginnt bald Heideland mit dem kurzen Gras und den kräftigen
+Bergkräutern dem Kommenden entgegenzuduften, denn der Fußweg geht
+steil und direkt zu den Alpen hinauf.
+
+Auf diesem schmalen Bergpfade stieg am hellen, sonnigen Junimorgen
+ein großes, kräftig aussehendes Mädchen dieses Berglandes hinan,
+ein Kind an der Hand führend, dessen Wangen so glühend waren, dass
+sie selbst die sonnverbrannte, völlig braune Haut des Kindes
+flammend rot durchleuchteten. Es war auch kein Wunder: Das Kind
+war trotz der heißen Junisonne so verpackt, als hätte es sich eines
+bitteren Frostes zu erwehren. Das kleine Mädchen mochte kaum fünf
+Jahre zählen; was aber seine natürliche Gestalt war, konnte man
+nicht ersehen, denn es hatte sichtlich zwei, wenn nicht drei
+Kleider übereinander angezogen und drüberhin ein großes, rotes
+Baumwolltuch um und um gebunden, so dass die kleine Person eine
+völlig formlose Figur darstellte, die, in zwei schwere, mit Nägeln
+beschlagene Bergschuhe gesteckt, sich heiß und mühsam den Berg
+hinaufarbeitete. Eine Stunde vom Tal aufwärts mochten die beiden
+gestiegen sein, als sie zu dem Weiler kamen, der auf halber Höhe
+der Alm liegt und 'im Dörfli' heißt. Hier wurden die
+Wandernden fast von jedem Hause aus angerufen, einmal vom Fenster,
+einmal von einer Haustür und einmal vom Wege her, denn das Mädchen
+war in seinem Heimatort angelangt. Es machte aber nirgends Halt,
+sondern erwiderte alle zugerufenen Grüße und Fragen im Vorbeigehen,
+ohne still zu stehen, bis es am Ende des Weilers bei dem letzten
+der zerstreuten Häuschen angelangt war. Hier rief es aus einer Tür:
+"Wart einen Augenblick, Dete, ich komme mit, wenn du weiter
+hinaufgehst."
+
+Die Angeredete stand still; sofort machte sich das Kind von ihrer
+Hand los und setzte sich auf den Boden.
+
+"Bist du müde, Heidi?", fragte die Begleiterin.
+
+"Nein, es ist mir heiß", entgegnete das Kind.
+
+"Wir sind jetzt gleich oben, du musst dich nur noch ein wenig
+anstrengen und große Schritte nehmen, dann sind wir in einer Stunde
+oben", ermunterte die Gefährtin.
+
+Jetzt trat eine breite gutmütig aussehende Frau aus der Tür und
+gesellte sich zu den beiden. Das Kind war aufgestanden und
+wanderte nun hinter den zwei alten Bekannten her, die sofort in ein
+lebhaftes Gespräch gerieten über allerlei Bewohner des 'Dörfli' und
+vieler umherliegender Behausungen.
+
+"Aber wohin willst du eigentlich mit dem Kinde, Dete?", fragte
+jetzt die neu Hinzugekommene. "Es wird wohl deiner Schwester Kind
+sein, das hinterlassene."
+
+"Das ist es", erwiderte Dete, "ich will mit ihm hinauf zum Öhi, es
+muss dort bleiben."
+
+"Was, beim Alm-Öhi soll das Kind bleiben? Du bist, denk ich, nicht
+recht bei Verstand, Dete! Wie kannst du so etwas tun! Der Alte
+wird dich aber schon heimschicken mit deinem Vorhaben!"
+
+"Das kann er nicht, er ist der Großvater, er muss etwas tun, ich
+habe das Kind bis jetzt gehabt, und das kann ich dir schon sagen,
+Barbel, dass ich einen Platz, wie ich ihn jetzt haben kann, nicht
+dahinten lasse um des Kindes willen; jetzt soll der Großvater das
+Seinige tun."
+
+"Ja, wenn der wäre wie andere Leute, dann schon", bestätigte die
+kleine Barbel eifrig; "aber du kennst ja den. Was wird der mit
+einem Kinde anfangen und dann noch einem so kleinen! Das hält's
+nicht aus bei ihm! Aber wo willst du denn hin?"
+
+"Nach Frankfurt", erklärte Dete, "da bekomm ich einen extraguten
+Dienst. Die Herrschaft war schon im vorigen Sommer unten im Bad,
+ich habe ihre Zimmer auf meinem Gang gehabt und sie besorgt, und
+schon damals wollten sie mich mitnehmen, aber ich konnte nicht
+fortkommen, und jetzt sind sie wieder da und wollen mich mitnehmen,
+und ich will auch gehen, da kannst du sicher sein."
+
+"Ich möchte nicht das Kind sein!", rief die Barbel mit abwehrender
+Gebärde aus. "Es weiß ja kein Mensch, was mit dem Alten da oben
+ist! Mit keinem Menschen will er etwas zu tun haben, jahraus,
+jahrein setzt er keinen Fuß in eine Kirche, und wenn er mit seinem
+dicken Stock im Jahr einmal herunterkommt, so weicht ihm alles aus
+und muss sich vor ihm fürchten. Mit seinen dicken grauen
+Augenbrauen und dem furchtbaren Bart sieht er auch aus wie ein
+alter Heide und Indianer, dass man froh ist, wenn man ihm nicht
+allein begegnet."
+
+"Und wenn auch", sagte Dete trotzig, "er ist der Großvater und muss
+für das Kind sorgen, er wird ihm wohl nichts tun, sonst hat er's zu
+verantworten, nicht ich."
+
+"Ich möchte nur wissen", sagte die Barbel forschend, "was der Alte
+auf dem Gewissen hat, dass er solche Augen macht und so
+mutterseelenallein da droben auf der Alm bleibt und sich fast nie
+blicken lässt. Man sagt allerhand von ihm; du weißt doch gewiss
+auch etwas davon, von deiner Schwester, nicht, Dete?"
+
+"Freilich, aber ich rede nicht; wenn er's hörte, so käme ich schön
+an!"
+
+Aber die Barbel hätte schon lange gern gewusst, wie es sich mit dem
+Alm-Öhi verhalte, dass er so menschenfeindlich aussehe und da oben
+ganz allein wohne und die Leute immer so mit halben Worten von ihm
+redeten, als fürchteten sie sich, gegen ihn zu sein, und wollten
+doch nicht für ihn sein. Auch wusste die Barbel gar nicht, warum
+der Alte von allen Leuten im Dörfli der Alm-Öhi genannt wurde, er
+konnte doch nicht der wirkliche Oheim von den sämtlichen Bewohnern
+sein; da aber alle ihn so nannten, tat sie es auch und nannte den
+Alten nie anders als Öhi, was die Aussprache der Gegend für Oheim
+ist. Die Barbel hatte sich erst vor kurzer Zeit nach dem Dörfli
+hinauf verheiratet, vorher hatte sie unten im Prättigau gewohnt,
+und so war sie noch nicht so ganz bekannt mit allen Erlebnissen und
+besonderen Persönlichkeiten aller Zeiten vom Dörfli und der
+Umgegend. Die Dete, ihre gute Bekannte, war dagegen vom Dörfli
+gebürtig und hatte da gelebt mit ihrer Mutter bis vor einem Jahr;
+da war diese gestorben, und die Dete war nach dem Bade Ragaz
+hinübergezogen, wo sie im großen Hotel als Zimmermädchen einen
+guten Verdienst fand. Sie war auch an diesem Morgen mit dem Kinde
+von Ragaz hergekommen; bis Maienfeld hatte sie auf einem Heuwagen
+fahren können, auf dem ein Bekannter von ihr heimfuhr und sie und
+das Kind mitnahm. --Die Barbel wollte also diesmal die gute
+Gelegenheit, etwas zu vernehmen, nicht unbenutzt vorbeigehen lassen;
+sie fasste vertraulich die Dete am Arm und sagte: "Von dir kann
+man doch vernehmen, was wahr ist und was die Leute darüber hinaus
+sagen; du weißt, denk ich, die ganze Geschichte. Sag mir jetzt ein
+wenig, was mit dem Alten ist und ob der immer so gefürchtet und ein
+solcher Menschenhasser war."
+
+"Ob er immer so war, kann ich, denk ich, nicht präzis wissen, ich
+bin jetzt sechsundzwanzig und er sicher siebzig Jahr alt; so hab
+ich ihn nicht gesehen, wie er jung war, das wirst du nicht erwarten.
+Wenn ich aber wüsste, dass es nachher nicht im ganzen Prättigau
+herumkäme, so könnte ich dir schon allerhand erzählen von ihm;
+meine Mutter war aus dem Domleschg und er auch."
+
+"A bah, Dete, was meinst denn?", gab die Barbel ein wenig beleidigt
+zurück; "es geht nicht so streng mit dem Schwatzen im Prättigau,
+und dann kann ich schon etwas für mich behalten, wenn es sein muss.
+Erzähl mir's jetzt, es muss dich nicht gereuen."
+
+"Ja nu, so will ich, aber halt Wort!", mahnte die Dete. Erst sah
+sie sich aber um, ob das Kind nicht zu nah sei und alles anhöre,
+was sie sagen wollte; aber das Kind war gar nicht zu sehen, es
+musste schon seit einiger Zeit den beiden Begleiterinnen nicht mehr
+gefolgt sein, diese hatten es aber im Eifer der Unterhaltung nicht
+bemerkt. Dete stand still und schaute sich überall um. Der Fußweg
+machte einige Krümmungen, doch konnte man ihn fast bis zum Dörfli
+hinunter übersehen, es war aber niemand darauf sichtbar.
+
+"Jetzt seh ich's", erklärte die Barbel; "siehst du dort?", und sie
+wies mit dem Zeigefinger weitab vom Bergpfad. "Es klettert die
+Abhänge hinauf mit dem Geißenpeter und seinen Geißen. Warum der
+heut so spät hinauffährt mit seinen Tieren? Es ist aber gerad
+recht, er kann nun zu dem Kinde sehen, und du kannst mir umso
+besser erzählen."
+
+"Mit dem Nach-ihm-Sehen muss sich der Peter nicht anstrengen",
+bemerkte die Dete; "es ist nicht dumm für seine fünf Jahre, es tut
+seine Augen auf und sieht, was vorgeht, das hab ich schon bemerkt
+an ihm, und es wird ihm einmal zugut kommen, denn der Alte hat gar
+nichts mehr als seine zwei Geißen und die Almhütte."
+
+"Hat er denn einmal mehr gehabt?", fragte die Barbel.
+
+"Der? Ja, das denk ich, dass er einmal mehr gehabt hat",
+entgegnete eifrig die Dete; "eins der schönsten Bauerngüter im
+Domleschg hat er gehabt. Er war der ältere Sohn und hatte nur noch
+einen Bruder, der war still und ordentlich. Aber der Ältere wollte
+nichts tun, als den Herrn spielen und im Lande herumfahren und mit
+bösem Volk zu tun haben, das niemand kannte. Den ganzen Hof hat er
+verspielt und verzecht, und wie es herauskam, da sind sein Vater
+und seine Mutter hintereinander gestorben vor lauter Gram, und der
+Bruder, der nun auch am Bettelstab war, ist vor Verdruss in die
+Welt hinaus, es weiß kein Mensch wohin, und der Öhi selber, als er
+nichts mehr hatte als einen bösen Namen, ist auch verschwunden.
+Erst wusste niemand wohin, dann vernahm man, er sei unter das
+Militär gegangen nach Neapel, und dann hörte man nichts mehr von
+ihm zwölf oder fünfzehn Jahre lang. Dann auf einmal erschien er
+wieder im Domleschg mit einem halb erwachsenen Buben und wollte
+diesen in der Verwandtschaft unterzubringen suchen. Aber es
+schlossen sich alle Türen vor ihm, und keiner wollte mehr etwas von
+ihm wissen. Das erbitterte ihn sehr; er sagte, ins Domleschg setze
+er keinen Fuß mehr, und dann kam er hierher ins Dörfli und lebte da
+mit dem Buben. Die Frau muss eine Bündnerin gewesen sein, die er
+dort unten getroffen und dann bald wieder verloren hatte. Er
+musste noch etwas Geld haben, denn er ließ den Buben, den Tobias,
+ein Handwerk erlernen, Zimmermann, und der war ein ordentlicher
+Mensch und wohlgelitten bei allen Leuten im Dörfli. Aber dem Alten
+traute keiner, man sagte auch, er sei von Neapel desertiert, es
+wäre ihm sonst schlimm gegangen, denn er habe einen erschlagen,
+natürlich nicht im Krieg, verstehst du, sondern beim Raufhandel.
+Wir anerkannten aber die Verwandtschaft, da meiner Mutter
+Großmutter mit seiner Großmutter Geschwisterkind gewesen war. So
+nannten wir ihn Öhi, und da wir fast mit allen Leuten im Dörfli
+wieder verwandt sind vom Vater her, so nannten ihn diese alle auch
+Öhi, und seit er dann auf die Alm hinaufgezogen war, hieß er eben
+nur noch der 'Alm-Öhi'."
+
+"Aber wie ist es dann mit dem Tobias gegangen?", fragte gespannt
+die Barbel.
+
+"Wart nur, das kommt schon, ich kann nicht alles auf einmal sagen",
+erklärte Dete. "Also der Tobias war in der Lehre draußen in Mels,
+und sowie er fertig war, kam er heim ins Dörfli und nahm meine
+Schwester zur Frau, die Adelheid, denn sie hatten sich schon immer
+gern gehabt, und auch wie sie nun verheiratet waren, konnten sie's
+sehr gut zusammen. Aber es ging nicht lange. Schon zwei Jahre
+nachher, wie er an einem Hausbau mithalf, fiel ein Balken auf ihn
+herunter und schlug ihn tot. Und wie man den Mann so entstellt
+nach Hause brachte, da fiel die Adelheid vor Schrecken und Leid in
+ein heftiges Fieber und konnte sich nicht mehr erholen, sie war
+sonst nicht sehr kräftig und hatte manchmal so eigene Zustände
+gehabt, dass man nicht recht wusste, schlief sie oder war sie wach.
+Nur ein paar Wochen, nachdem der Tobias tot war, begrub man auch
+die Adelheid. Da sprachen alle Leute weit und breit von dem
+traurigen Schicksal der beiden, und leise und laut sagten sie, das
+sei die Strafe, die der Öhi verdient habe für sein gottloses Leben,
+und ihm selbst wurde es gesagt und auch der Herr Pfarrer redete ihm
+ins Gewissen, er sollte doch jetzt Buße tun, aber er wurde nur
+immer grimmiger und verstockter und redete mit niemandem mehr, es
+ging ihm auch jeder aus dem Wege. Auf einmal hieß es, der Öhi sei
+auf die Alm hinaufgezogen und komme gar nicht mehr herunter, und
+seither ist er dort und lebt mit Gott und Menschen im Unfrieden.
+Das kleine Kind der Adelheid nahmen wir zu uns, die Mutter und ich;
+es war ein Jahr alt. Wie nun im letzten Sommer die Mutter starb
+und ich im Bad drunten etwas verdienen wollte, nahm ich es mit und
+gab es der alten Ursel oben im Pfäfferserdorf in die Kost. Ich
+konnte auch im Winter im Bad bleiben, es gab allerhand Arbeit, weil
+ich zu nähen und flicken verstehe, und früh im Frühling kam die
+Herrschaft aus Frankfurt wieder, die ich voriges Jahr bedient hatte
+und die mich mitnehmen will; übermorgen reisen wir ab, und der
+Dienst ist gut, das kann ich dir sagen."
+
+"Und dem Alten da droben willst du nun das Kind übergeben? Es
+nimmt mich nur wunder, was du denkst, Dete", sagte die Barbel
+vorwurfsvoll.
+
+"Was meinst du denn?", gab Dete zurück. "Ich habe das Meinige an
+dem Kinde getan, und was sollte ich denn mit ihm machen? Ich denke,
+ich kann eines, das erst fünf Jahre alt wird, nicht mit nach
+Frankfurt nehmen. Aber wohin gehst du eigentlich, Barbel, wir sind
+ja schon halbwegs auf der Alm?"
+
+"Ich bin auch gleich da, wo ich hinmuss", entgegnete die Barbel;
+"ich habe mit der Geißenpeterin zu reden, sie spinnt mir im Winter.
+So leb wohl, Dete, mit Glück!"
+
+Dete reichte der Begleiterin die Hand und blieb stehen, während
+diese der kleinen, dunkelbraunen Almhütte zuging, die einige
+Schritte seitwärts vom Pfad in einer Mulde stand, wo sie vor dem
+Bergwind ziemlich geschützt war. Die Hütte stand auf der halben
+Höhe der Alm, vom Dörfli aus gerechnet, und dass sie in einer
+kleinen Vertiefung des Berges stand, war gut, denn sie sah so
+baufällig und verfallen aus, dass es auch so noch ein gefährliches
+Darinwohnen sein musste, wenn der Föhnwind so mächtig über die
+Berge strich, dass alles an der Hütte klapperte, Türen und Fenster,
+und alle die morschen Balken zitterten und krachten. Hätte die
+Hütte an solchen Tagen oben auf der Alm gestanden, sie wäre
+unverzüglich ins Tal hinabgeweht worden.
+
+Hier wohnte der Geißenpeter, der elfjährige Bube, der jeden Morgen
+unten im Dörfli die Geißen holte, um sie hoch auf die Alm
+hinaufzutreiben, um sie da die kurzen kräftigen Kräuter fressen zu
+lassen bis zum Abend; dann sprang der Peter mit den leichtfüßigen
+Tierchen wieder herunter, tat, im Dörfli angekommen, einen
+schrillen Pfiff durch die Finger, und jeder Besitzer holte seine
+Geiß auf dem Platz. Meistens kamen kleine Buben und Mädchen, denn
+die friedlichen Geißen waren nicht zu fürchten, und das war denn
+den ganzen Sommer durch die einzige Zeit am Tage, da der Peter mit
+seinesgleichen verkehrte; sonst lebte er nur mit den Geißen. Er
+hatte zwar daheim seine Mutter und die blinde Großmutter; aber da
+er immer am Morgen sehr früh fortmusste und am Abend vom Dörfli
+spät heimkam, weil er sich da noch so lange als möglich mit den
+Kindern unterhalten musste, so verbrachte er daheim nur gerade so
+viel Zeit, um am Morgen seine Milch und Brot und am Abend
+ebendasselbe hinunterzuschlucken und dann sich aufs Ohr zu legen
+und zu schlafen. Sein Vater, der auch schon der Geißenpeter
+genannt worden war, weil er in früheren Jahren in demselben Berufe
+gestanden hatte, war vor einigen Jahren beim Holzfällen verunglückt.
+Seine Mutter, die zwar Brigitte hieß, wurde von jedermann um des
+Zusammenhangs willen die Geißenpeterin genannt, und die blinde
+Großmutter kannten weit und breit Alt und Jung nur unter dem Namen
+Großmutter.
+
+Die Dete hatte wohl zehn Minuten gewartet und sich nach allen
+Seiten umgesehen, ob die Kinder mit den Geißen noch nirgends zu
+sehen seien; als dies aber nicht der Fall war, so stieg sie noch
+ein wenig höher, wo sie besser die ganze Alm bis hinunter übersehen
+konnte, und guckte nun von hier aus bald dahin, bald dorthin mit
+Zeichen großer Ungeduld auf dem Gesicht und in den Bewegungen.
+Unterdessen rückten die Kinder auf einem großen Umwege heran, denn
+der Peter wusste viele Stellen, wo allerhand Gutes an Sträuchern
+und Gebüschen für seine Geißen zu nagen war; darum machte er mit
+seiner Herde vielerlei Wendungen auf dem Wege. Erst war das Kind
+mühsam nachgeklettert, in seiner schweren Rüstung vor Hitze und
+Unbequemlichkeit keuchend und alle Kräfte anstrengend. Es sagte
+kein Wort, blickte aber unverwandt bald auf den Peter, der mit
+seinen nackten Füßen und leichten Höschen ohne alle Mühe hin und
+her sprang, bald auf die Geißen, die mit den dünnen, schlanken
+Beinchen noch leichter über Busch und Stein und steile Abhänge
+hinaufkletterten. Auf einmal setzte das Kind sich auf den Boden
+nieder, zog mit großer Schnelligkeit Schuhe und Strümpfe aus, stand
+wieder auf, zog sein rotes, dickes Halstuch weg, machte sein
+Röckchen auf, zog es schnell aus und hatte gleich noch eins
+auszuhäkeln, denn die Base Dete hatte ihm das Sonntagskleidchen
+über das Alltagszeug angezogen, um der Kürze willen, damit niemand
+es tragen müsse. Blitzschnell war auch das Alltagsröcklein weg,
+und nun stand das Kind im leichten Unterröckchen, die bloßen Arme
+aus den kurzen Hemdärmelchen vergnüglich in die Luft
+hinausstreckend. Dann legte es schön alles auf ein Häufchen, und
+nun sprang und kletterte es hinter den Geißen und neben dem Peter
+her, so leicht als nur eines aus der ganzen Gesellschaft. Der
+Peter hatte nicht Acht gegeben, was das Kind mache, als es
+zurückgeblieben war. Wie es nun in der neuen Bekleidung
+nachgesprungen kam, zog er lustig grinsend das ganze Gesicht
+auseinander und schaute zurück, und wie er unten das Häuflein
+Kleider liegen sah, ging sein Gesicht noch ein wenig mehr
+auseinander, und sein Mund kam fast von einem Ohr bis zum anderen;
+er sagte aber nichts. Wie nun das Kind sich so frei und leicht
+fühlte, fing es ein Gespräch mit dem Peter an, und er fing auch an
+zu reden und musste auf vielerlei antworten, denn das Kind wollte
+wissen, wie viele Geißen er habe und wohin er mit ihnen gehe und
+was er dort tue, wo er hinkomme. So langten endlich die Kinder
+samt den Geißen oben bei der Hütte an und kamen der Base Dete zu
+Gesicht. Kaum aber hatte diese die herankletternde Gesellschaft
+erblickt, als sie laut aufschrie: "Heidi, was machst du? Wie
+siehst du aus? Wo hast du deinen Rock und den zweiten und das
+Halstuch? Und ganz neue Schuhe habe ich dir gekauft auf den Berg
+und dir neue Strümpfe gemacht, und alles fort! Alles fort! Heidi,
+was machst du, wo hast du alles?"
+
+Das Kind zeigte ruhig den Berg hinunter und sagte: "Dort!" Die Base
+folgte seinem Finger. Richtig, dort lag etwas und obenauf war ein
+roter Punkt, das musste das Halstuch sein.
+
+"Du Unglückstropf!", rief die Base in großer Aufregung. "Was kommt
+dir denn in den Sinn, warum hast du alles ausgezogen? Was soll das
+sein?"
+
+"Ich brauch es nicht", sagte das Kind und sah gar nicht reuevoll
+aus über seine Tat.
+
+"Ach du unglückseliges, vernunftloses Heidi, hast du denn auch noch
+gar keine Begriffe?", jammerte und schalt die Base weiter. "Wer
+sollte nun wieder da hinunter, es ist ja eine halbe Stunde! Komm,
+Peter, lauf du mir schnell zurück und hol das Zeug, komm schnell
+und steh nicht dort und glotze mich an, als wärst du am Boden
+festgenagelt."
+
+"Ich bin schon zu spät", sagte Peter langsam und blieb, ohne sich
+zu rühren, auf demselben Fleck stehen, von dem aus er, beide Hände
+in die Taschen gesteckt, dem Schreckensausbruch der Base zugehört
+hatte.
+
+"Du stehst ja doch nur und reißest deine Augen auf und kommst, denk
+ich, nicht weit auf die Art!", rief ihm die Base Dete zu. "Komm
+her, du musst etwas Schönes haben, siehst du?" Sie hielt ihm ein
+neues Fünferchen hin, das glänzte ihm in die Augen. Plötzlich
+sprang er auf und davon auf dem geradesten Weg die Alm hinunter und
+kam in ungeheuren Sätzen in kurzer Zeit bei dem Häuflein Kleider an,
+packte sie auf und erschien damit so schnell, dass ihn die Base
+rühmen musste und ihm sogleich sein Fünfrappenstück überreichte.
+Peter steckte es schnell tief in seine Tasche, und sein Gesicht
+glänzte und lachte in voller Breite, denn ein solcher Schatz wurde
+ihm nicht oft zuteil.
+
+"Du kannst mir das Zeug noch tragen bis zum Öhi hinauf, du gehst ja
+auch den Weg", sagte die Base Dete jetzt, indem sie sich anschickte,
+den steilen Abhang zu erklimmen, der gleich hinter der Hütte des
+Geißenpeter emporragte. Willig übernahm dieser den Auftrag und
+folgte der Voranschreitenden auf dem Fuße nach, den linken Arm um
+sein Bündel geschlungen, in der Rechten die Geißenrute schwingend.
+Das Heidi und die Geißen hüpften und sprangen fröhlich neben ihm
+her. So gelangte der Zug nach drei Viertelstunden auf die Almhöhe,
+wo frei auf dem Vorsprung des Berges die Hütte des alten Öhi stand,
+allen Winden ausgesetzt, aber auch jedem Sonnenblick zugänglich und
+mit der vollen Aussicht weit ins Tal hinab. Hinter der Hütte
+standen drei alte Tannen mit dichten, langen, unbeschnittenen Ästen.
+Weiter hinten ging es nochmals bergan bis hoch hinauf in die
+alten, grauen Felsen, erst noch über schöne, kräuterreiche Höhen,
+dann in steiniges Gestrüpp und endlich zu den kahlen, steilen
+Felsen hinan.
+
+An die Hütte festgemacht, der Talseite zu, hatte sich der Öhi eine
+Bank gezimmert. Hier saß er, eine Pfeife im Mund, beide Hände auf
+seine Knie gelegt, und schaute ruhig zu, wie die Kinder, die Geißen
+und die Base Dete herankletterten, denn die Letztere war nach und
+nach von den anderen überholt worden. Heidi war zuerst oben; es
+ging geradeaus auf den Alten zu, streckte ihm die Hand entgegen und
+sagte: "Guten Abend, Großvater!"
+
+"So, so, wie ist das gemeint?", fragte der Alte barsch, gab dem
+Kinde kurz die Hand und schaute es mit einem langen,
+durchdringenden Blick an, unter seinen buschigen Augenbrauen hervor.
+Heidi gab den langen Blick ausdauernd zurück, ohne nur einmal mit
+den Augen zu zwinkern, denn der Großvater mit dem langen Bart und
+den dichten, grauen Augenbrauen, die in der Mitte zusammengewachsen
+waren und aussahen wie eine Art Gesträuch, war so verwunderlich
+anzusehen, dass Heidi ihn recht betrachten musste. Unterdessen war
+auch die Base herangekommen samt dem Peter, der eine Weile stille
+stand und zusah, was sich da ereigne.
+
+"Ich wünsche Euch guten Tag, Öhi", sagte die Dete hinzutretend,
+"und hier bring ich Euch das Kind vom Tobias und der Adelheid. Ihr
+werdet es wohl nicht mehr kennen, denn seit es jährig war, habt Ihr
+es nie mehr gesehen."
+
+"So, was muss das Kind bei mir?", fragte der Alte kurz; "und du
+dort", rief er dem Peter zu, "du kannst gehen mit deinen Geißen, du
+bist nicht zu früh; nimm meine mit!"
+
+Der Peter gehorchte sofort und verschwand, denn der Öhi hatte ihn
+angeschaut, dass er schon genug davon hatte.
+
+"Es muss eben bei Euch bleiben, Öhi", gab die Dete auf seine Frage
+zurück. "Ich habe, denk ich, das Meinige an ihm getan die vier
+Jahre durch, es wird jetzt wohl an Euch sein, das Eurige auch
+einmal zu tun."
+
+"So", sagte der Alte und warf einen blitzenden Blick auf die Dete.
+"Und wenn nun das Kind anfängt, dir nachzuflennen und zu winseln,
+wie kleine Unvernünftige tun, was muss ich dann mit ihm anfangen?"
+
+"Das ist dann Eure Sache", warf die Dete zurück, "ich meine fast,
+es habe mir auch kein Mensch gesagt, wie ich es mit dem Kleinen
+anzufangen habe, als es mir auf den Händen lag, ein einziges
+Jährchen alt, und ich schon für mich und die Mutter genug zu tun
+hatte. Jetzt muss ich meinem Verdienst nach, und Ihr seid der
+Nächste am Kind; wenn Ihr's nicht haben könnt, so macht mit ihm,
+was Ihr wollt, dann habt Ihr's zu verantworten, wenn's verdirbt,
+und Ihr werdet wohl nicht nötig haben, noch etwas aufzuladen."
+
+Die Dete hatte kein recht gutes Gewissen bei der Sache, darum war
+sie so hitzig geworden und hatte mehr gesagt, als sie im Sinn
+gehabt hatte. Bei ihren letzten Worten war der Öhi aufgestanden;
+er schaute sie so an, dass sie einige Schritte zurückwich; dann
+streckte er den Arm aus und sagte befehlend: "Mach, dass du
+hinunterkommst, wo du heraufgekommen bist, und zeig dich nicht so
+bald wieder!" Das ließ sich die Dete nicht zweimal sagen. "So lebt
+wohl, und du auch, Heidi", sagte sie schnell und lief den Berg
+hinunter in einem Trab bis ins Dörfli hinab, denn die innere
+Aufregung trieb sie vorwärts wie eine wirksame Dampfkraft. Im
+Dörfli wurde sie diesmal noch viel mehr angerufen, denn es wunderte
+die Leute, wo das Kind sei; sie kannten ja alle die Dete genau und
+wussten, wem das Kind gehörte und alles, was mit ihm vorgegangen
+war. Als es nun aus allen Türen und Fenstern tönte: "Wo ist das
+Kind? Dete, wo hast du das Kind gelassen?", rief sie immer
+unwilliger zurück: "Droben beim Alm-Öhi! Nun, beim Alm-Öhi, ihr
+hört's ja!"
+
+Sie wurde aber so maßleidig, weil die Frauen von allen Seiten ihr
+zuriefen: "Wie kannst du so etwas tun!", und: "Das arme Tröpfli!",
+und: "So ein kleines Hilfloses da droben lassen!", und dann wieder
+und wieder: "Das arme Tröpfli!" Die Dete lief, so schnell sie
+konnte, weiter und war froh, als sie nichts mehr hörte, denn es war
+ihr nicht wohl bei der Sache; ihre Mutter hatte ihr beim Sterben
+das Kind noch übergeben. Aber sie sagte sich zur Beruhigung, sie
+könne dann ja eher wieder etwas für das Kind tun, wenn sie nun viel
+Geld verdiene, und so war sie sehr froh, dass sie bald weit von
+allen Leuten, die ihr dreinredeten, weg- und zu einem schönen
+Verdienst kommen konnte.
+
+
+
+
+Beim Großvater
+
+Nachdem die Dete verschwunden war, hatte der Öhi sich wieder auf
+die Bank hingesetzt und blies nun große Wolken aus seiner Pfeife;
+dabei starrte er auf den Boden und sagte kein Wort. Derweilen
+schaute das Heidi vergnüglich um sich, entdeckte den Geißenstall,
+der an die Hütte angebaut war, und guckte hinein. Es war nichts
+drin. Das Kind setzte seine Untersuchungen fort und kam hinter die
+Hütte zu den alten Tannen. Da blies der Wind durch die Äste so
+stark, dass es sauste und brauste oben in den Wipfeln. Heidi blieb
+stehen und hörte zu. Als es ein wenig stiller wurde, ging das Kind
+um die kommende Ecke der Hütte herum und kam vorn wieder zum
+Großvater zurück. Als es diesen noch in derselben Stellung
+erblickte, wie es ihn verlassen hatte, stellte es sich vor ihn hin,
+legte die Hände auf den Rücken und betrachtete ihn. Der Großvater
+schaute auf. "Was willst du jetzt tun?", fragte er, als das Kind
+immer noch unbeweglich vor ihm stand.
+
+"Ich will sehen, was du drinnen hast, in der Hütte", sagte Heidi.
+
+"So komm!", und der Großvater stand auf und ging voran in die Hütte
+hinein.
+
+"Nimm dort dein Bündel Kleider noch mit", befahl er im Hereintreten.
+
+"Das brauch ich nicht mehr", erklärte Heidi.
+
+Der Alte kehrte sich um und schaute durchdringend auf das Kind,
+dessen schwarze Augen glühten in Erwartung der Dinge, die da
+drinnen sein konnten. "Es kann ihm nicht an Verstand fehlen",
+sagte er halblaut. "Warum brauchst du's nicht mehr?", setzte er
+laut hinzu.
+
+"Ich will am liebsten gehen wie die Geißen, die haben ganz leichte
+Beinchen."
+
+"So, das kannst du, aber hol das Zeug", befahl der Großvater, "es
+kommt in den Kasten." Heidi gehorchte. Jetzt machte der Alte die
+Tür auf und Heidi trat hinter ihm her in einen ziemlich großen Raum
+ein, es war der Umfang der ganzen Hütte. Da stand ein Tisch und
+ein Stuhl daran; in einer Ecke war des Großvaters Schlaflager, in
+einer anderen hing der große Kessel über dem Herd; auf der anderen
+Seite war eine große Tür in der Wand, die machte der Großvater auf,
+es war der Schrank. Da hingen seine Kleider drin und auf einem
+Gestell lagen ein paar Hemden, Strümpfe und Tücher und auf einem
+anderen einige Teller und Tassen und Gläser und auf dem obersten
+ein rundes Brot und geräuchertes Fleisch und Käse, denn in dem
+Kasten war alles enthalten, was der Alm-Öhi besaß und zu seinem
+Lebensunterhalt gebrauchte. Wie er nun den Schrank aufgemacht
+hatte, kam das Heidi schnell heran und stieß sein Zeug hinein, so
+weit hinter des Großvaters Kleider als möglich, damit es nicht so
+leicht wieder zu finden sei. Nun sah es sich aufmerksam um in dem
+Raum und sagte dann: "Wo muss ich schlafen, Großvater?"
+
+"Wo du willst", gab dieser zur Antwort.
+
+Das war dem Heidi eben recht. Nun fuhr es in alle Winkel hinein
+und schaute jedes Plätzchen aus, wo am schönsten zu schlafen wäre.
+In der Ecke vorüber des Großvaters Lagerstätte war eine kleine
+Leiter aufgerichtet; Heidi kletterte hinauf und langte auf dem
+Heuboden an. Da lag ein frischer, duftender Heuhaufen oben, und
+durch eine runde Luke sah man weit ins Tal hinab.
+
+"Hier will ich schlafen", rief Heidi hinunter, "hier ist's schön!
+Komm und sieh einmal, wie schön es hier ist, Großvater!"
+
+"Weiß schon", tönte es von unten herauf.
+
+"Ich mache jetzt das Bett!", rief das Kind wieder, indem es oben
+geschäftig hin und her fuhr; "aber du musst heraufkommen und mir
+ein Leintuch mitbringen, denn auf ein Bett kommt auch ein Leintuch,
+und darauf liegt man."
+
+"So, so", sagte unten der Großvater, und nach einer Weile ging er
+an den Schrank und kramte ein wenig darin herum; dann zog er unter
+seinen Hemden ein langes, grobes Tuch hervor, das musste so etwas
+sein wie ein Leintuch. Er kam damit die Leiter herauf. Da war auf
+dem Heuboden ein ganz artiges Bettlein zugerichtet; oben, wo der
+Kopf liegen musste, war das Heu hoch aufgeschichtet, und das
+Gesicht kam so zu liegen, dass es gerade auf das offene, runde Loch
+traf.
+
+"Das ist recht gemacht", sagte der Großvater, "jetzt wird das Tuch
+kommen, aber wart noch"--damit nahm er einen guten Wisch Heu von
+dem Haufen und machte das Lager doppelt so dick, damit der harte
+Boden nicht durchgefühlt werden konnte--; "so, jetzt komm her
+damit." Heidi hatte das Leintuch schnell zuhanden genommen, konnte
+es aber fast nicht tragen, so schwer war's; aber das war sehr gut,
+denn durch das feste Zeug konnten die spitzen Heuhalme nicht
+durchstechen. Jetzt breiteten die beiden miteinander das Tuch über
+das Heu, und wo es zu breit und zu lang war, stopfte Heidi die
+Enden eilfertig unter das Lager. Nun sah es recht gut und reinlich
+aus, und Heidi stellte sich davor und betrachtete es nachdenklich.
+
+"Wir haben noch etwas vergessen, Großvater", sagte es dann.
+
+"Was denn?", fragte er.
+
+"Eine Decke; denn wenn man ins Bett geht, kriecht man zwischen das
+Leintuch und die Decke hinein."
+
+"So, meinst du? Wenn ich aber keine habe?", sagte der Alte.
+
+"Oh, dann ist's gleich, Großvater", beruhigte Heidi, "dann nimmt
+man wieder Heu zur Decke", und eilfertig wollte es gleich wieder an
+den Heustock gehen, aber der Großvater wehrte es ihm.
+
+"Wart einen Augenblick", sagte er, stieg die Leiter hinab und ging
+an sein Lager hin. Dann kam er wieder und legte einen großen,
+schweren, leinenen Sack auf den Boden.
+
+"Ist das nicht besser als Heu?", fragte er. Heidi zog aus
+Leibeskräften an dem Sacke hin und her, um ihn auseinander zu legen,
+aber die kleinen Hände konnten das schwere Zeug nicht bewältigen.
+Der Großvater half, und wie es nun ausgebreitet auf dem Bette lag,
+da sah alles sehr gut und haltbar aus, und Heidi stand staunend vor
+seinem neuen Lager und sagte: "Das ist eine prächtige Decke und das
+ganze Bett! Jetzt wollt ich, es wäre schon Nacht, so könnte ich
+hineinliegen."
+
+"Ich meine, wir könnten erst einmal etwas essen", sagte der
+Großvater, "oder was meinst du?" Heidi hatte über dem Eifer des
+Bettens alles andere vergessen; nun ihm aber der Gedanke ans Essen
+kam, stieg ein großer Hunger in ihm auf, denn es hatte auch heute
+noch gar nichts bekommen als früh am Morgen sein Stück Brot und ein
+paar Schlucke dünnen Kaffees, und nachher hatte es die lange Reise
+gemacht. So sagte Heidi ganz zustimmend: "Ja, ich mein es auch."
+
+"So geh hinunter, wenn wir denn einig sind", sagte der Alte und
+folgte dem Kind auf dem Fuß nach. Dann ging er zum Kessel hin,
+schob den großen weg und drehte den kleinen heran, der an der Kette
+hing, setzte sich auf den hölzernen Dreifuß mit dem runden Sitz
+davor hin und blies ein helles Feuer an. Im Kessel fing es an zu
+sieden, und unten hielt der Alte an einer langen Eisengabel ein
+großes Stück Käse über das Feuer und drehte es hin und her, bis es
+auf allen Seiten goldgelb war. Heidi hatte mit gespannter
+Aufmerksamkeit zugesehen; jetzt musste ihm etwas Neues in den Sinn
+gekommen sein; auf einmal sprang es weg und an den Schrank und von
+da hin und her. Jetzt kam der Großvater mit einem Topf und dem
+Käsebraten an der Gabel zum Tisch heran; da lag schon das runde
+Brot darauf und zwei Teller und zwei Messer, alles schön geordnet,
+denn das Heidi hatte alles im Schrank gut wahrgenommen und wusste,
+dass man das alles nun gleich zum Essen brauchen werde.
+
+"So, das ist recht, dass du selbst etwas ausdenkst", sagte der
+Großvater und legte den Braten auf das Brot als Unterlage; "aber es
+fehlt noch etwas auf dem Tisch."
+
+Heidi sah, wie einladend es aus dem Topf hervordampfte, und sprang
+schnell wieder an den Schrank. Da stand aber nur ein einziges
+Schüsselchen. Heidi war nicht lang in Verlegenheit, dort hinten
+standen zwei Gläser; augenblicklich kam das Kind zurück und stellte
+Schüsselchen und Glas auf den Tisch.
+
+"Recht so; du weißt dir zu helfen; aber wo willst du sitzen?" Auf
+dem einzigen Stuhl saß der Großvater selbst. Heidi schoss
+pfeilschnell zum Herd hin, brachte den kleinen Dreifuß zurück und
+setzte sich drauf.
+
+"Einen Sitz hast du wenigstens, das ist wahr, nur ein wenig weit
+unten", sagte der Großvater; "aber von meinem Stuhl wärst auch zu
+kurz, auf den Tisch zu langen; jetzt musst aber einmal etwas haben,
+so komm!" Damit stand er auf, füllte das Schüsselchen mit Milch,
+stellte es auf den Stuhl und rückte den ganz nah an den Dreifuß hin,
+so dass das Heidi nun einen Tisch vor sich hatte. Der Großvater
+legte ein großes Stück Brot und ein Stück von dem goldenen Käse
+darauf und sagte: "Jetzt iss!" Er selbst setzte sich nun auf die
+Ecke des Tisches und begann sein Mittagsmahl. Heidi ergriff sein
+Schüsselchen und trank und trank ohne Aufenthalt, denn der ganze
+Durst seiner langen Reise war ihm wieder aufgestiegen. Jetzt tat
+es einen langen Atemzug--denn im Eifer des Trinkens hatte es lange
+den Atem nicht holen können--und stellte sein Schüsselchen hin.
+
+"Gefällt dir die Milch?", fragte der Großvater.
+
+"Ich habe noch gar nie so gute Milch getrunken", antwortete Heidi.
+
+"So musst du mehr haben", und der Großvater füllte das Schüsselchen
+noch einmal bis oben hin und stellte es vor das Kind, das
+vergnüglich in sein Brot biss, nachdem es von dem weichen Käse
+darauf gestrichen, denn der war, so gebraten, weich wie Butter, und
+das schmeckte ganz kräftig zusammen, und zwischendurch trank es
+seine Milch und sah sehr vergnüglich aus. Als nun das Essen zu
+Ende war, ging der Großvater in den Geißenstall hinaus und hatte da
+allerhand in Ordnung zu bringen, und Heidi sah ihm aufmerksam zu,
+wie er erst mit dem Besen säuberte, dann frische Streu legte, dass
+die Tierchen darauf schlafen konnten; wie er dann nach dem
+Schöpfchen ging nebenan und hier runde Stöcke zurechtschnitt und an
+einem Brett herumhackte und Löcher hineinbohrte und dann die runden
+Stöcke hineinsteckte und aufstellte; da war es auf einmal ein Stuhl,
+wie der vom Großvater, nur viel höher, und Heidi staunte das Werk
+an, sprachlos vor Verwunderung.
+
+"Was ist das, Heidi?", fragte der Großvater.
+
+"Das ist mein Stuhl, weil er so hoch ist; auf einmal war er fertig",
+sagte das Kind, noch in tiefem Erstaunen und Bewunderung.
+
+"Es weiß, was es sieht, es hat die Augen am rechten Ort", bemerkte
+der Großvater vor sich hin, als er nun um die Hütte herumging und
+hier einen Nagel einschlug und dort einen und dann an der Tür etwas
+zu befestigen hatte und so mit Hammer und Nägeln und Holzstücken
+von einem Ort zum anderen wanderte und immer etwas ausbesserte oder
+wegschlug, je nach dem Bedürfnis. Heidi ging Schritt für Schritt
+hinter ihm her und schaute ihm unverwandt mit der größten
+Aufmerksamkeit zu, und alles, was da vorging, war ihm sehr
+kurzweilig anzusehen.
+
+So kam der Abend heran. Es fing stärker an zu rauschen in den
+alten Tannen, ein mächtiger Wind fuhr daher und sauste und brauste
+durch die dichten Wipfel. Das tönte dem Heidi so schön in die
+Ohren und ins Herz hinein, dass es ganz fröhlich darüber wurde und
+hüpfte und sprang unter den Tannen umher, als hätte es eine
+unerhörte Freude erlebt. Der Großvater stand unter der Schopftür
+und schaute dem Kind zu. Jetzt ertönte ein schriller Pfiff. Heidi
+hielt an in seinen Sprüngen, der Großvater trat heraus. Von oben
+herunter kam es gesprungen, Geiß um Geiß, wie eine Jagd, und
+mittendrin der Peter. Mit einem Freudenruf schoss Heidi mitten in
+das Rudel hinein und begrüßte die alten Freunde von heute Morgen
+einen um den anderen. Bei der Hütte angekommen, stand alles still,
+und aus der Herde heraus kamen zwei schöne, schlanke Geißen, eine
+weiße und eine braune, auf den Großvater zu und leckten seine Hände,
+denn er hielt ein wenig Salz darin, wie er jeden Abend zum Empfang
+seiner zwei Tierlein tat. Der Peter verschwand mit seiner Schar.
+Heidi streichelte zärtlich die eine und dann die andere von den
+Geißen und sprang um sie herum, um sie von der anderen Seite auch
+zu streicheln, und war ganz Glück und Freude über die Tierchen.
+"Sind sie unser, Großvater? Sind sie beide unser? Kommen sie in
+den Stall? Bleiben sie immer bei uns?", so fragte Heidi
+hintereinander in seinem Vergnügen, und der Großvater konnte kaum
+sein stetiges "Ja, ja!" zwischen die eine und die andere Frage
+hineinbringen. Als die Geißen ihr Salz aufgeleckt hatten, sagte
+der Alte: "Geh und hol dein Schüsselchen heraus und das Brot."
+
+Heidi gehorchte und kam gleich wieder. Nun melkte der Großvater
+gleich von der Weißen das Schüsselchen voll und schnitt ein Stück
+Brot ab und sagte: "Nun iss und dann geh hinauf und schlaf! Die
+Base Dete hat noch ein Bündelchen abgelegt für dich, da seien
+Hemdlein und so etwas darin, das liegt unten im Kasten, wenn du's
+brauchst; ich muss nun mit den Geißen hinein, so schlaf wohl!"
+
+"Gut Nacht, Großvater! Gut Nacht--wie heißen sie, Großvater, wie
+heißen sie?", rief das Kind und lief dem verschwindenden Alten und
+den Geißen nach.
+
+"Die Weiße heißt Schwänli und die Braune Bärli", gab der Großvater
+zurück.
+
+"Gut Nacht, Schwänli, gut Nacht, Bärli!", rief nun Heidi noch mit
+Macht, denn eben verschwanden beide in den Stall hinein. Nun
+setzte sich Heidi noch auf die Bank und aß sein Brot und trank
+seine Milch; aber der starke Wind wehte es fast von seinem Sitz
+herunter; so machte es schnell fertig, ging dann hinein und stieg
+zu seinem Bett hinauf, in dem es auch gleich nachher so fest und
+herrlich schlief, als nur einer im schönsten Fürstenbett schlafen
+konnte. Nicht lange nachher, noch eh es völlig dunkel war, legte
+auch der Großvater sich auf sein Lager, denn am Morgen war er immer
+schon mit der Sonne wieder draußen, und die kam sehr früh über die
+Berge hereingestiegen in dieser Sommerszeit. In der Nacht kam der
+Wind so gewaltig, dass bei seinen Stößen die ganze Hütte erzitterte
+und es in allen Balken krachte; durch den Schornstein heulte und
+ächzte es wie Jammerstimmen, und in den alten Tannen draußen tobte
+es mit solcher Wut, dass hier und da ein Ast niederkrachte. Mitten
+in der Nacht stand der Großvater auf und sagte halblaut vor sich
+hin: "Es wird sich wohl fürchten." Er stieg die Leiter hinauf und
+trat an Heidis Lager heran. Der Mond draußen stand einmal hell
+leuchtend am Himmel, dann fuhren wieder die jagenden Wolken darüber
+hin und alles wurde dunkel. Jetzt kam der Mondschein eben
+leuchtend durch die runde Öffnung herein und fiel gerade auf Heidis
+Lager. Es hatte sich feuerrote Backen erschlafen unter seiner
+schweren Decke, und ruhig und friedlich lag es auf seinem runden
+Ärmchen und träumte von etwas Erfreulichem, denn sein Gesichtchen
+sah ganz wohlgemut aus. Der Großvater schaute so lange auf das
+friedlich schlafende Kind, bis der Mond wieder hinter die Wolken
+trat und es dunkel wurde, dann kehrte er auf sein Lager zurück.
+
+
+
+
+Auf der Weide
+
+Heidi erwachte am frühen Morgen an einem lauten Pfiff, und als es
+die Augen aufschlug, kam ein goldener Schein durch das runde Loch
+hereingeflossen auf sein Lager und auf das Heu daneben, dass alles
+golden leuchtete ringsherum. Heidi schaute erstaunt um sich und
+wusste durchaus nicht, wo es war. Aber nun hörte es draußen des
+Großvaters tiefe Stimme, und jetzt kam ihm alles in den Sinn: Woher
+es gekommen war und dass es nun auf der Alm beim Großvater sei,
+nicht mehr bei der alten Ursel, die fast nichts mehr hörte und
+meistens fror, so dass sie immer am Küchenfenster oder am
+Stubenofen gesessen hatte, wo dann auch Heidi hatte verweilen
+müssen oder doch ganz in der Nähe, damit die Alte sehen konnte, wo
+es war, weil sie es nicht hören konnte. Da war es dem Heidi
+manchmal zu eng drinnen, und es wäre lieber hinausgelaufen. So war
+es sehr froh, als es in der neuen Behausung erwachte und sich
+erinnerte, wie viel Neues es gestern gesehen hatte und was es heute
+wieder alles sehen könnte, vor allem das Schwänli und das Bärli.
+Heidi sprang eilig aus seinem Bett und hatte in wenig Minuten alles
+wieder angelegt, was es gestern getragen hatte, denn es war sehr
+wenig. Nun stieg es die Leiter hinunter und sprang vor die Hütte
+hinaus. Da stand schon der Geißenpeter mit seiner Schar, und der
+Großvater brachte eben Schwänli und Bärli aus dem Stall herbei,
+dass sie sich der Gesellschaft anschlossen. Heidi lief ihm
+entgegen, um ihm und den Geißen guten Tag zu sagen.
+
+"Willst mit auf die Weide?", fragte der Großvater. Das war dem
+Heidi eben recht, es hüpfte hoch auf vor Freude.
+
+"Aber erst waschen und sauber sein, sonst lacht einen die Sonne aus,
+wenn sie so schön glänzt da droben und sieht, dass du schwarz bist;
+sieh, dort ist's für dich gerichtet." Der Großvater zeigte auf
+einen großen Zuber voll Wasser, der vor der Tür in der Sonne stand.
+Heidi sprang hin und patschte und rieb, bis es ganz glänzend war.
+Unterdessen ging der Großvater in die Hütte hinein und rief dem
+Peter zu: "Komm hierher, Geißengeneral, und bring deinen Habersack
+mit." Verwundert folgte Peter dem Ruf und streckte sein Säcklein
+hin, in dem er sein mageres Mittagessen bei sich trug.
+
+"Mach auf", befahl der Alte und steckte nun ein großes Stück Brot
+und ein ebenso großes Stück Käse hinein. Der Peter machte vor
+Erstaunen seine runden Augen so weit auf als nur möglich, denn die
+beiden Stücke waren wohl doppelt so groß wie die zwei, die er als
+eignes Mittagsmahl drinnen hatte.
+
+"So, nun kommt noch das Schüsselchen hinein", fuhr der Öhi fort,
+"denn das Kind kann nicht trinken wie du, nur so von der Geiß weg,
+es kennt das nicht. Du melkst ihm zwei Schüsselchen voll zu Mittag,
+denn das Kind geht mit dir und bleibt bei dir, bis du wieder
+herunterkommst; gib Acht, dass es nicht über die Felsen
+hinunterfällt, hörst du?"--
+
+Nun kam Heidi hereingelaufen. "Kann mich die Sonne jetzt nicht
+auslachen, Großvater?", fragte es angelegentlich. Es hatte sich
+mit dem groben Tuch, das der Großvater neben dem Wasserzuber
+aufgehängt hatte, Gesicht, Hals und Arme in seinem Schrecken vor
+der Sonne so erstaunlich gerieben, dass es krebsrot vor dem
+Großvater stand. Er lachte ein wenig.
+
+"Nein, nun hat sie nichts zu lachen", bestätigte er. "Aber weißt
+was? Am Abend, wenn du heimkommst, da gehst du noch ganz hinein in
+den Zuber, wie ein Fisch; denn wenn man geht wie die Geißen, da
+bekommt man schwarze Füße. Jetzt könnt ihr ausziehen."
+
+Nun ging es lustig die Alm hinan. Der Wind hatte in der Nacht das
+letzte Wölkchen weggeblasen; dunkelblau schaute der Himmel von
+allen Seiten hernieder, und mittendrauf stand die leuchtende Sonne
+und schimmerte auf die grüne Alp, und alle die blauen und gelben
+Blümchen darauf machten ihre Kelche auf und schauten ihr fröhlich
+entgegen. Heidi sprang hierhin und dorthin und jauchzte vor Freude,
+denn da waren ganze Trüppchen feiner, roter Himmelsschlüsselchen
+beieinander, und dort schimmerte es ganz blau von den schönen
+Enzianen, und überall lachten und nickten die zartblätterigen,
+goldenen Cystusröschen in der Sonne. Vor Entzücken über all die
+flimmernden winkenden Blümchen vergaß Heidi sogar die Geißen und
+auch den Peter. Es sprang ganze Strecken voran und dann auf die
+Seite, denn dort funkelte es rot und da gelb und lockte Heidi auf
+alle Seiten. Und überall brach Heidi ganze Scharen von den Blumen
+und packte sie in sein Schürzchen ein, denn es wollte sie alle mit
+heimnehmen und ins Heu stecken in seiner Schlafkammer, dass es dort
+werde wie hier draußen. --So hatte der Peter heut nach allen
+Seiten zu gucken, und seine kugelrunden Augen, die nicht besonders
+schnell hin und her gingen, hatten mehr Arbeit, als der Peter gut
+bewältigen konnte, denn die Geißen machten es wie das Heidi: Sie
+liefen auch dahin und dorthin, und er musste überallhin pfeifen und
+rufen und seine Rute schwingen, um wieder alle die Verlaufenen
+zusammenzutreiben.
+
+"Wo bist du schon wieder, Heidi?", rief er jetzt mit ziemlich
+grimmiger Stimme.
+
+"Da", tönte es von irgendwoher zurück. Sehen konnte Peter niemand,
+denn Heidi saß am Boden hinter einem Hügelchen, das dicht mit
+duftenden Prünellen besät war; da war die ganze Luft umher so mit
+Wohlgeruch erfüllt, dass Heidi noch nie so Liebliches eingeatmet
+hatte. Es setzte sich in die Blumen hinein und zog den Duft in
+vollen Zügen ein.
+
+"Komm nach!", rief der Peter wieder. "Du musst nicht über die
+Felsen hinunterfallen, der Öhi hat's verboten."
+
+"Wo sind die Felsen?", fragte Heidi zurück, bewegte sich aber nicht
+von der Stelle, denn der süße Duft strömte mit jedem Windhauch dem
+Kinde lieblicher entgegen.
+
+"Dort oben, ganz oben, wir haben noch weit, drum komm jetzt! Und
+oben am höchsten sitzt der alte Raubvogel und krächzt."
+
+Das half. Augenblicklich sprang Heidi in die Höhe und rannte mit
+seiner Schürze voller Blumen dem Peter zu.
+
+"Jetzt hast genug", sagte dieser, als sie wieder zusammen
+weiterkletterten; "sonst bleibst du immer stecken, und wenn du alle
+nimmst, hat's morgen keine mehr." Der letzte Grund leuchtete Heidi
+ein, und dann hatte es die Schürze schon so angefüllt, dass da
+wenig Platz mehr gewesen wäre, und morgen mussten auch noch da sein.
+So zog es nun mit dem Peter weiter, und die Geißen gingen nun
+alle geregelter, denn sie rochen die guten Kräuter von dem hohen
+Weideplatz schon von fern und strebten nun ohne Aufenthalt dahin.
+Der Weideplatz, wo Peter gewöhnlich Halt machte mit seinen Geißen
+und sein Quartier für den Tag aufschlug, lag am Fuße der hohen
+Felsen, die, erst noch von Gebüsch und Tannen bedeckt, zuletzt ganz
+kahl und schroff zum Himmel hinaufragen. An der einen Seite der
+Alp ziehen sich Felsenklüfte weit hinunter und der Großvater hatte
+Recht, davor zu warnen. Als nun dieser Punkt der Höhe erreicht war,
+nahm Peter seinen Sack ab und legte ihn sorgfältig in eine kleine
+Vertiefung des Bodens hinein, denn der Wind kam manchmal in starken
+Stößen dahergefahren, und den kannte Peter und wollte seine
+kostbare Habe nicht den Berg hinunterrollen sehen; dann streckte er
+sich lang und breit auf den sonnigen Weideboden hin, denn er musste
+sich nun von der Anstrengung des Steigens erholen.
+
+Heidi hatte unterdessen sein Schürzchen losgemacht und schön fest
+zusammengerollt mit den Blumen darin zum Proviantsack in die
+Vertiefung hineingelegt, und nun setzte es sich neben den
+ausgestreckten Peter hin und schaute um sich. Das Tal lag weit
+unten im vollen Morgenglanz; vor sich sah Heidi ein großes, weites
+Schneefeld sich erheben, hoch in den dunkelblauen Himmel hinauf,
+und links davon stand eine ungeheure Felsenmasse, und zu jeder
+Seite derselben ragte ein hoher Felsenturm kahl und zackig in die
+Bläue hinauf und schaute von dort oben ganz ernsthaft auf das Heidi
+nieder. Das Kind saß mäuschenstill da und schaute ringsum, und
+weit umher war eine große, tiefe Stille; nur ganz sanft und leise
+ging der Wind über die zarten, blauen Glockenblümchen und die
+goldnen, strahlenden Cystusröschen, die überall herumstanden auf
+ihren dünnen Stängelchen und leise und fröhlich hin und her nickten.
+Der Peter war entschlafen nach seiner Anstrengung, und die Geißen
+kletterten oben an den Büschen umher. Dem Heidi war es so schön
+zumute, wie in seinem Leben noch nie. Es trank das goldene
+Sonnenlicht, die frischen Lüfte, den zarten Blumenduft in sich ein
+und begehrte gar nichts mehr, als so dazubleiben immerzu. So
+verging eine gute Zeit und Heidi hatte so oft und so lange zu den
+hohen Bergstöcken drüben aufgeschaut, dass es nun war, als hätten
+sie alle auch Gesichter bekommen und schauten ganz bekannt zu ihm
+hernieder, so wie gute Freunde.
+
+Jetzt hörte Heidi über sich ein lautes, scharfes Geschrei und
+Krächzen ertönen, und wie es aufschaute, kreiste über ihm ein so
+großer Vogel, wie es nie in seinem Leben gesehen hatte, mit weit
+ausgebreiteten Schwingen in der Luft umher, und in großen Bogen
+kehrte er immer wieder zurück und krächzte laut und durchdringend
+über Heidis Kopf.
+
+"Peter! Peter! Erwache!", rief Heidi laut. "Sich, der Raubvogel
+ist da, sieh! Sieh!"
+
+Peter erhob sich auf den Ruf und schaute mit Heidi dem Vogel nach,
+der sich nun höher und höher hinaufschwang ins Himmelsblau und
+endlich über grauen Felsen verschwand.
+
+"Wo ist er jetzt hin?", fragte Heidi, das mit gespannter
+Aufmerksamkeit den Vogel verfolgt hatte.
+
+"Heim ins Nest", war Peters Antwort.
+
+"Ist er dort oben daheim? Oh, wie schön so hoch oben! Warum
+schreit er so?", fragte Heidi weiter.
+
+"Weil er muss", erklärte Peter.
+
+"Wir wollen doch dort hinaufklettern und sehen, wo er daheim ist",
+schlug Heidi vor.
+
+"Oh! oh! oh!", brach der Peter aus, jeden Ausruf mit verstärkter
+Missbilligung hervorstoßend; "wenn keine Geiß mehr dorthin kann und
+der Öhi gesagt hat, du dürfest nicht über die Felsen hinunterfallen."
+
+Jetzt begann der Peter mit einem Mal ein so gewaltiges Pfeifen und
+Rufen anzustimmen, dass Heidi gar nicht wusste, was begegnen sollte;
+aber die Geißen mussten die Töne verstehen, denn eine nach der
+anderen kam heruntergesprungen, und nun war die ganze Schar auf der
+grünen Halde versammelt, die einen fortnagend an den würzigen
+Halmen, die anderen hin und her rennend und die Dritten ein wenig
+gegeneinander stoßend mit ihren Hörnern zum Zeitvertreib. Heidi
+war aufgesprungen und rannte mitten unter den Geißen umher, denn
+das war ihm ein neuer, unbeschreiblich vergnüglicher Anblick, wie
+die Tierlein durcheinander sprangen und sich lustig machten, und
+Heidi sprang von einem zum anderen und machte mit jedem ganz
+persönliche Bekanntschaft, denn jedes war eine ganz besondere
+Erscheinung für sich und hatte seine eigenen Manieren. Unterdessen
+hatte Peter den Sack herbeigeholt und alle vier Stücke, die drin
+waren, schön auf den Boden hingelegt in ein Viereck, die großen
+Stücke auf Heidis Seite und die kleinen auf die seinige hin, denn
+er wusste genau, wie er sie erhalten hatte. Dann nahm er das
+Schüsselchen und melkte schöne, frische Milch hinein vom Schwänli
+und stellte das Schüsselchen mitten ins Viereck. Dann rief er
+Heidi herbei, musste aber länger rufen als nach den Geißen, denn
+das Kind war so in Eifer und Freude über die mannigfaltigen Sprünge
+und Erlustigungen seiner neuen Spielkameraden, dass es nichts sah
+und nichts hörte außer diesen. Aber Peter wusste sich verständlich
+zu machen, er rief, dass es bis in die Felsen hinaufdröhnte, und
+nun erschien Heidi und die gedeckte Tafel sah so einladend aus,
+dass es um sie herumhüpfte vor Wohlgefallen.
+
+"Hör auf zu hopsen, es ist Zeit zum Essen", sagte Peter, "jetzt
+sitz und fang an."
+
+Heidi setzte sich hin. "Ist die Milch mein?", fragte es, nochmals
+das schöne Viereck und den Hauptpunkt in der Mitte mit Wohlgefallen
+betrachtend.
+
+"Ja", erwiderte Peter, "und die zwei großen Stücke zum Essen sind
+auch dein, und wenn du ausgetrunken hast, bekommst du noch ein
+Schüsselchen vom Schwänli und dann komm ich."
+
+"Und von wem bekommst du die Milch?", wollte Heidi wissen.
+
+"Von meiner Geiß, von der Schnecke. Fang einmal zu essen an",
+mahnte Peter wieder. Heidi fing bei seiner Milch an, und sowie es
+sein leeres Schüsselchen hinstellte, stand Peter auf und holte ein
+zweites herbei. Dazu brach Heidi ein Stück von seinem Brot ab, und
+das ganze übrige Stück, das immer noch größer war, als Peters
+eigenes Stück gewesen, das nun schon samt Zubehör fast zu Ende war,
+reichte es diesem hinüber mit dem ganzen großen Brocken Käse und
+sagte: "Das kannst du haben, ich habe nun genug."
+
+Peter schaute das Heidi mit sprachloser Verwunderung an, denn noch
+nie in seinem Leben hätte er so sagen und etwas weggeben können.
+Er zögerte noch ein wenig, denn er konnte nicht recht glauben, dass
+es dem Heidi ernst sei; aber dieses hielt erst fest seine Stücke
+hin, und da Peter nicht zugriff, legte sie es ihm aufs Knie. Nun
+sah er, dass es ernst gemeint sei; er erfasste sein Geschenk,
+nickte in Dank und Zustimmung und hielt nun ein so reichliches
+Mittagsmahl wie noch nie in seinem Leben als Geißbub. Heidi
+schaute derweilen nach den Geißen aus. "Wie heißen sie alle,
+Peter?", fragte es.
+
+Das wusste dieser nun ganz genau und konnte es umso besser in
+seinem Kopf behalten, da er daneben wenig darin aufzubewahren hatte.
+Er fing also an und nannte ohne Anstoß eine nach der anderen,
+immer je mit dem Finger die betreffende bezeichnend. Heidi hörte
+mit gespannter Aufmerksamkeit der Unterweisung zu, und es währte
+gar nicht lange, so konnte es sie alle voneinander unterscheiden
+und jede bei ihrem Namen nennen, denn es hatte eine jede ihre
+Besonderheiten, die einem gleich im Sinne bleiben mussten; man
+musste nur allen genau zusehen, und das tat Heidi. Da war der
+große Türk mit den starken Hörnern, der wollte mit diesen immer
+gegen alle anderen stoßen, und die meisten liefen davon, wenn er
+kam, und wollten nichts von dem groben Kameraden wissen. Nur der
+kecke Distelfink, das schlanke, behände Geißchen, wich ihm nicht
+aus, sondern rannte von sich aus manchmal drei-, viermal
+hintereinander so rasch und tüchtig gegen ihn an, dass der große
+Türk öfters ganz erstaunt dastand und nicht mehr angriff, denn der
+Distelfink stand ganz kriegslustig vor ihm und hatte scharfe
+Hörnchen. Da war das kleine, weiße Schneehöppli, das immer so
+eindringlich und flehentlich meckerte, dass Heidi schon mehrmals zu
+ihm hingelaufen war und es tröstend beim Kopf genommen hatte. Auch
+jetzt sprang das Kind wieder hin, denn die junge, jammernde Stimme
+hatte eben wieder flehentlich gerufen. Heidi legte seinen Arm um
+den Hals des Geißleins und fragte ganz teilnehmend: "Was hast du,
+Schneehöppli? Warum rufst du so um Hilfe?" Das Geißlein schmiegte
+sich nahe und vertrauensvoll an Heidi an und war jetzt ganz still.
+Peter rief von seinem Sitz aus, mit einigen Unterbrechungen, denn
+er hatte immer noch zu beißen und zu schlucken: "Es tut so, weil
+die Alte nicht mehr mitkommt, sie haben sie verkauft nach Maienfeld
+vorgestern, nun kommt sie nicht mehr auf die Alm."
+
+"Wer ist die Alte?", fragte Heidi zurück.
+
+"Pah, seine Mutter", war die Antwort.
+
+"Wo ist die Großmutter?", rief Heidi wieder.
+
+"Hat keine."
+
+"Und der Großvater?"
+
+"Hat keinen."
+
+"Du armes Schneehöppli du", sagte Heidi und drückte das Tierlein
+zärtlich an sich. "Aber jammere jetzt nur nicht mehr so; siehst du,
+ich komme nun jeden Tag mit dir, dann bist du nicht mehr so
+verlassen, und wenn dir etwas fehlt, kannst du nur zu mir kommen."
+
+Das Schneehöppli rieb ganz vergnügt seinen Kopf an Heidis Schulter
+und meckerte nicht mehr kläglich. Unterdessen hatte Peter sein
+Mittagsmahl beendet und kam nun auch wieder zu seiner Herde und zu
+Heidi heran, das schon wieder allerlei Betrachtungen angestellt
+hatte.
+
+Weitaus die zwei schönsten und saubersten Geißen der ganzen Schar
+waren Schwänli und Bärli, die sich auch mit einer gewissen
+Vornehmheit betrugen, meistens ihre eigenen Wege gingen und
+besonders dem zudringlichen Türk abweisend und verächtlich
+begegneten.--
+
+Die Tierchen hatten nun wieder begonnen, nach den Büschen
+hinaufzuklettern, und jedes hatte seine eigene Weise dabei, die
+einen leichtfertig über alles weg hüpfend, die anderen bedächtlich
+die guten Kräutlein suchend unterwegs, der Türk hier und da seine
+Angriffe probierend. Schwänli und Bärli kletterten hübsch und
+leicht hinan und fanden oben sogleich die schönsten Büsche,
+stellten sich geschickt daran auf und nagten sie zierlich ab.
+Heidi stand mit den Händen auf dem Rücken und schaute dem allen mit
+der größten Aufmerksamkeit zu.
+
+"Peter", bemerkte es jetzt zu dem wieder auf dem Boden Liegenden,
+"die schönsten von allen sind das Schwänli und das Bärli."
+
+"Weiß schon", war die Antwort. "Der Alm-Öhi putzt und wäscht sie
+und gibt ihnen Salz und hat den schönsten Stall."
+
+Aber auf einmal sprang Peter auf und setzte in großen Sprüngen den
+Geißen nach, und das Heidi lief hintendrein; da musste etwas
+begegnet sein, es konnte da nicht zurückbleiben. Der Peter sprang
+durch den Geißenrudel durch der Seite der Alm zu, wo die Felsen
+schroff und kahl weit hinabstiegen und ein unbesonnenes Geißlein,
+wenn es dorthin ging, leicht hinunterstürzen und alle Beine brechen
+konnte. Er hatte gesehen, wie der vorwitzige Distelfink nach jener
+Seite hin gehüpft war, und kam noch gerade recht, denn eben sprang
+das Geißlein dem Rande des Abgrundes zu. Peter wollte es eben
+packen, da stürzte er auf den Boden und konnte nur noch im Sturze
+ein Bein des Tierleins erwischen und es daran festhalten. Der
+Distelfink meckerte voller Zorn und Überraschung, dass er so am
+Bein festgehalten und am Fortsetzen seines fröhlichen Streifzuges
+gehindert war, und strebte eigensinnig vorwärts. Der Peter schrie
+nach Heidi, dass es ihm beistehe, denn er konnte nicht aufstehen
+und riss dem Distelfink fast das Bein aus. Heidi war schon da und
+erkannte gleich die schlimme Lage der beiden. Es riss schnell
+einige wohlduftende Kräuter aus dem Boden und hielt sie dem
+Distelfink unter die Nase und sagte begütigend:
+
+"Komm, komm, Distelfink, du musst auch vernünftig sein! Sieh, da
+kannst du hinabfallen und ein Bein brechen, das tut dir furchtbar
+weh."
+
+Das Geißlein hatte sich schnell umgewandt und dem Heidi vergnüglich
+die Kräuter aus der Hand gefressen. Derweilen war der Peter auf
+seine Füße gekommen und hatte den Distelfink an der Schnur erfasst,
+an welcher sein Glöckchen um den Hals gebunden war, und Heidi
+erfasste diese von der anderen Seite, und so führten die beiden den
+Ausreißer zu der friedlich weidenden Herde zurück. Als ihn aber
+Peter hier in Sicherheit hatte, erhob er seine Rute und wollte ihn
+zur Strafe tüchtig durchprügeln, und der Distelfink wich scheu
+zurück, denn er merkte, was begegnen sollte. Aber Heidi schrie
+laut auf: "Nein, Peter, nein, du musst ihn nicht schlagen, sieh,
+wie er sich fürchtet!"
+
+"Er verdient's", schnurrte Peter und wollte zuschlagen. Aber Heidi
+fiel ihm in den Arm und rief ganz entrüstet: "Du darfst ihm nichts
+tun, es tut ihm weh, lass ihn los!"
+
+Peter schaute erstaunt auf das gebietende Heidi, dessen schwarze
+Augen ihn so anfunkelten, dass er unwillkürlich seine Rute
+niederhielt. "So kann er gehen, wenn du mir morgen wieder von
+deinem Käse gibst", sagte dann der Peter nachgebend, denn eine
+Entschädigung wollte er haben für den Schrecken.
+
+"Allen kannst du haben, das ganze Stück morgen und alle Tage, ich
+brauche ihn gar nicht", sagte Heidi zustimmend, "und Brot gebe ich
+dir auch ganz viel, wie heute; aber dann darfst du den Distelfink
+nie, gar nie schlagen und auch das Schneehöppli nie und gar keine
+Geiß."
+
+"Es ist mir gleich", bemerkte Peter, und das war bei ihm soviel als
+eine Zusage. Jetzt ließ er den Schuldigen los, und der fröhliche
+Distelfink sprang in hohen Sprüngen auf und davon in die Herde
+hinein.--
+
+So war unvermerkt der Tag vergangen, und schon war die Sonne im
+Begriff, weit drüben hinter den Bergen hinabzugehen. Heidi saß
+wieder am Boden und schaute ganz still auf die Blauglöckchen und
+die Cystusröschen, die im goldenen Abendschein leuchteten, und
+alles Gras wurde wie golden angehaucht und die Felsen droben fingen
+an zu schimmern und zu funkeln, und auf einmal sprang Heidi auf und
+schrie: "Peter! Peter! Es brennt! Es brennt! Alle Berge brennen
+und der große Schnee drüben brennt und der Himmel. O sieh! Sieh!
+Der hohe Felsenberg ist ganz glühend! Oh, der schöne, feurige
+Schnee! Peter, sieh auf, sieh, das Feuer ist auch beim Raubvogel!
+Sieh doch die Felsen! Sieh die Tannen! Alles, alles ist im Feuer!"
+
+"Es war immer so", sagte jetzt der Peter gemütlich und schälte an
+seiner Rute fort, "aber es ist kein Feuer."
+
+"Was ist es denn?", rief Heidi und sprang hierhin und dorthin, dass
+es überallhin sehe, denn es konnte gar nicht genug bekommen, so
+schön war's auf allen Seiten. "Was ist es, Peter, was ist es?",
+rief Heidi wieder.
+
+"Es kommt von selbst so", erklärte Peter.
+
+"O sieh, sieh", rief Heidi in großer Aufregung, "auf einmal werden
+sie rosenrot! Sieh den mit dem Schnee und den mit den hohen,
+spitzigen Felsen! Wie heißen sie, Peter?"
+
+"Berge heißen nicht", erwiderte dieser.
+
+"O wie schön, sieh den rosenroten Schnee! Oh, und an den Felsen
+oben sind viele, viele Rosen! Oh, nun werden sie grau! Oh! Oh!
+Nun ist alles ausgelöscht! Nun ist alles aus, Peter!" Und Heidi
+setzte sich auf den Boden und sah so verstört aus, als ginge
+wirklich alles zu Ende.
+
+"Es ist morgen wieder so", erklärte Peter. "Steh auf, nun müssen
+wir heim."
+
+Die Geißen wurden herbeigepfiffen und -gerufen und die Heimfahrt
+angetreten.
+
+"Ist's alle Tage wieder so, alle Tage, wenn wir auf der Weide
+sind?", fragte Heidi, begierig nach einer bejahenden Versicherung
+horchend, als es nun neben dem Peter die Alm hinunterstieg.
+
+"Meistens", gab dieser zur Antwort.
+
+"Aber gewiss morgen wieder?", wollte es noch wissen.
+
+"Ja, ja, morgen schon!", versicherte Peter.
+
+Nun war Heidi wieder froh und es hatte so viele Eindrücke in sich
+aufgenommen und so viele Dinge gingen ihm im Sinn herum, dass es
+nun ganz stillschwieg, bis es bei der Almhütte ankam und den
+Großvater unter den Tannen sitzen sah, wo er auch eine Bank
+angebracht hatte und am Abend seine Geißen erwartete, die von
+dieser Seite herunterkämen. Heidi sprang gleich auf ihn zu und
+Schwänli und Bärli hinter ihm drein, denn die Geißen kannten ihren
+Herrn und ihren Stall. Der Peter rief dem Heidi nach: "Komm dann
+morgen wieder! Gute Nacht!" Denn es war ihm sehr daran gelegen,
+dass das Heidi wiederkomme.
+
+Da rannte das Heidi schnell wieder zurück und gab dem Peter die
+Hand und versicherte ihm, dass es wieder mitkomme, und dann sprang
+es mitten in die davonziehende Herde hinein und fasste noch einmal
+das Schneehöppli um den Hals und sagte vertraulich: "Schlaf wohl,
+Schneehöppli, und denk dran, dass ich morgen wiederkomme und dass
+du nie mehr so jämmerlich meckern musst."
+
+Das Schneehöppli schaute ganz freundlich und dankbar zu Heidi auf
+und sprang dann fröhlich der Herde nach.
+
+Heidi kam unter die Tannen zurück.
+
+"O Großvater, das war so schön!", rief es, noch bevor es bei ihm
+war. "Das Feuer und die Rosen am Felsen und die blauen und gelben
+Blumen, und sieh, was ich hier bringe!" Und damit schüttete Heidi
+seinen ganzen Blumenreichtum aus dem gefalteten Schürzchen vor den
+Großvater hin. Aber wie sahen die armen Blümchen aus! Heidi
+erkannte sie nicht mehr. Es war alles wie Heu, und kein einziges
+Kelchlein stand mehr offen.
+
+"O Großvater, was haben sie?", rief Heidi ganz erschrocken aus.
+"So waren sie nicht, warum sehen sie so aus?"
+
+"Die wollen draußen stehen in der Sonne und nicht ins Schürzchen
+hinein", sagte der Großvater.
+
+"Dann will ich gar keine mehr mitnehmen. Aber, Großvater, warum
+hat der Raubvogel so gekrächzt?", fragte Heidi nun angelegentlich.
+
+"Jetzt gehst du ins Wasser und ich in den Stall und hole Milch, und
+nachher kommen wir hinein zusammen in die Hütte und essen zu Nacht,
+dann sag ich dir's."
+
+So wurde getan, und wie nun später Heidi auf seinem hohen Stuhl saß
+vor seinem Milchschüsselchen und der Großvater neben ihm, da kam
+das Kind gleich wieder mit seiner Frage: "Warum krächzt der
+Raubvogel so und schreit immer so herunter, Großvater?"
+
+"Der höhnt die Leute aus dort unten, dass sie so viele
+zusammensitzen in den Dörfern und einander bös machen. Da höhnt er
+hinunter: 'Würdet ihr auseinander gehen und jedes seinen Weg
+und auf eine Höhe steigen wie ich, so wär's euch wohler!'"
+Der Großvater sagte diese Worte fast wild, so dass dem Heidi das
+Gekrächz des Raubvogels dadurch noch eindrücklicher wurde in der
+Erinnerung.
+
+"Warum haben die Berge keinen Namen, Großvater?", fragte Heidi
+wieder.
+
+"Die haben Namen", erwiderte dieser, "und wenn du mir einen so
+beschreiben kannst, dass ich ihn kenne, so sage ich dir, wie er
+heißt."
+
+Nun beschrieb Heidi den Felsenberg mit den zwei hohen Türmen genau
+so, wie es ihn gesehen hatte, und der Großvater sagte wohlgefällig:
+"Recht so, den kenn ich, der heißt Falknis. Hast du noch einen
+gesehen?"
+
+Nun beschrieb Heidi den Berg mit dem großen Schneefeld, auf dem der
+ganze Schnee im Feuer gestanden hatte und dann rosenrot geworden
+war und dann auf einmal ganz bleich und erloschen dastand.
+
+"Den erkenn ich auch", sagte der Großvater, "das ist die
+Schesaplana; so hat es dir gefallen auf der Weide?"
+
+Nun erzählte Heidi alles vom ganzen Tage, wie schön es gewesen, und
+besonders von dem Feuer am Abend, und nun sollte der Großvater auch
+sagen, woher es gekommen war, denn der Peter hätte nichts davon
+gewusst.
+
+"Siehst du", erklärte der Großvater, "das macht die Sonne, wenn sie
+den Bergen gute Nacht sagt, dann wirft sie ihnen noch ihre
+schönsten Strahlen zu, dass sie sie nicht vergessen, bis sie am
+Morgen wiederkommt."
+
+Das gefiel dem Heidi und es konnte fast nicht erwarten, dass wieder
+ein Tag komme, da es hinaufkonnte auf die Weide und wieder sehen,
+wie die Sonne den Bergen gute Nacht sagte. Aber erst musste es nun
+schlafen gehen, und es schlief auch die ganze Nacht herrlich auf
+seinem Heulager, und träumte von lauter schimmernden Bergen und
+roten Rosen darauf und mittendrin das Schneehöppli in fröhlichen
+Sprüngen.
+
+
+
+
+Bei der Großmutter
+
+Am andern Morgen kam wieder die helle Sonne, und dann kam der Peter
+und die Geißen, und wieder zogen sie alle miteinander nach der
+Weide hinauf, und so ging es Tag für Tag, und Heidi wurde bei
+diesem Weideleben ganz gebräunt und so kräftig und gesund, dass ihm
+gar nie etwas fehlte, und so froh und glücklich lebte Heidi von
+einem Tag zum anderen, wie nur die lustigen Vögelein leben auf
+allen Bäumen im grünen Wald. Wie es nun Herbst wurde und der Wind
+lauter zu sausen anfing über die Berge hin, dann sagte etwa der
+Großvater: "Heut bleibst du da, Heidi; ein Kleines, wie du bist,
+kann der Wind mit einem Ruck über alle Felsen ins Tal hinabwehen."
+
+Wenn aber das am Morgen der Peter vernahm, sah er sehr unglücklich
+aus, denn er sah lauter Missgeschick vor sich: Einmal wusste er vor
+Langeweile nun gar nicht mehr, was anfangen, wenn Heidi nicht bei
+ihm war; dann kam er um sein reichliches Mittagsmahl, und dann
+waren die Geißen so störrig an diesen Tagen, dass er die doppelte
+Mühe mit ihnen hatte; denn die waren nun auch so an Heidis
+Gesellschaft gewöhnt, dass sie nicht vorwärts wollten, wenn es
+nicht dabei war, und auf alle Seiten rannten. Heidi wurde niemals
+unglücklich, denn es sah immer irgendetwas Erfreuliches vor sich.
+Am liebsten ging es schon mit Hirt und Geißen auf die Weide zu den
+Blumen und zum Raubvogel hinauf, wo so mannigfaltige Dinge zu
+erleben waren mit all den verschieden gearteten Geißen; aber auch
+das Hämmern und Sägen und Zimmern des Großvaters war sehr
+unterhaltend für Heidi; und traf es sich, dass er gerade die
+schönen runden Geißkäschen zubereitete, wenn es daheim bleiben
+musste, so war das ein ganz besonderes Vergnügen, dieser
+merkwürdigen Tätigkeit zuzuschauen, wobei der Großvater beide Arme
+bloß machte und damit in dem großen Kessel herumrührte. Aber vor
+allem anziehend war für das Heidi an solchen Windtagen das Wogen
+und Rauschen in den drei alten Tannen hinter der Hütte. Da musste
+es immer von Zeit zu Zeit hinlaufen von allem anderen weg, was es
+auch sein mochte, denn so schön und wunderbar war gar nichts wie
+dieses tiefe, geheimnisvolle Tosen in den Wipfeln da droben; da
+stand Heidi unten und lauschte hinauf und konnte niemals genug
+bekommen, zu sehen und zu hören, wie das wehte und wogte und
+rauschte in den Bäumen mit großer Macht. Jetzt gab die Sonne nicht
+mehr heiß wie im Sommer, und Heidi suchte seine Strümpfe und Schuhe
+hervor und auch den Rock, denn nun wurde es immer frischer, und
+wenn das Heidi unter den Tannen stand, wurde es durchblasen wie ein
+dünnes Blättlein, aber es lief doch immer wieder hin und konnte
+nicht in der Hütte bleiben, wenn es das Windeswehen vernahm.
+
+Dann wurde es kalt, und der Peter hauchte in die Hände, wenn er
+früh am Morgen heraufkam, aber nicht lange; denn auf einmal fiel
+über Nacht ein tiefer Schnee, und am Morgen war die ganze Alm
+schneeweiß und kein einziges grünes Blättlein mehr zu sehen ringsum
+und um. Da kam der Geißenpeter nicht mehr mit seiner Herde, und
+Heidi schaute ganz verwundert durch das kleine Fenster, denn nun
+fing es wieder zu schneien an, und die dicken Flocken fielen fort
+und fort, bis der Schnee so hoch wurde, dass er bis ans Fenster
+hinaufreichte, und dann noch höher, dass man das Fenster gar nicht
+mehr aufmachen konnte und man ganz verpackt war in dem Häuschen.
+Das kam dem Heidi so lustig vor, dass es immer von einem Fenster
+zum anderen rannte, um zu sehen, wie es denn noch werden wollte und
+ob der Schnee noch die ganze Hütte zudecken wollte, dass man müsste
+ein Licht anzünden am hellen Tag. Es kam aber nicht so weit, und
+am anderen Tag ging der Großvater hinaus--denn nun schneite es
+nicht mehr--und schaufelte ums ganze Haus herum und warf große,
+große Schneehaufen aufeinander, dass es war wie hier ein Berg und
+dort ein Berg und dort ein Berg um die Hütte herum; aber nun waren
+die Fenster wieder frei und auch die Tür, und das war gut, denn als
+am Nachmittag Heidi und der Großvater am Feuer saßen, jedes auf
+seinem Dreifuß--denn der Großvater hatte längst auch einen für das
+Kind gezimmert--, da polterte auf einmal etwas heran und schlug
+immerzu gegen die Holzschwelle und machte endlich die Tür auf. Es
+war der Geißenpeter; er hatte aber nicht aus Unart so gegen die Tür
+gepoltert, sondern um seinen Schnee von den Schuhen abzuschlagen,
+die hoch hinauf davon bedeckt waren; eigentlich der ganze Peter war
+von Schnee bedeckt, denn er hatte sich durch die hohen Schichten so
+durchkämpfen müssen, dass ganze Massen an ihm hängen geblieben und
+auf ihm festgefroren waren, denn es war sehr kalt. Aber er hatte
+nicht nachgegeben, denn er wollte zu Heidi hinauf, er hatte es
+jetzt acht Tage lang nicht gesehen.
+
+"Guten Abend", sagte er im Eintreten, stellte sich gleich so nah
+als möglich ans Feuer heran und sagte weiter nichts mehr; aber sein
+ganzes Gesicht lachte vor Vergnügen, dass er da war. Heidi schaute
+ihn sehr verwundert an, denn nun er so nah am Feuer war, fing es
+überall an ihm zu tauen an, so dass der ganze Peter anzusehen war
+wie ein gelinder Wasserfall.
+
+"Nun, General, wie steht's?", sagte jetzt der Großvater. "Nun bist
+du ohne Armee und musst am Griffel nagen."
+
+"Warum muss er am Griffel nagen, Großvater?", fragte Heidi sogleich
+mit Wissbegierde.
+
+"Im Winter muss er in die Schule gehen", erklärte der Großvater;
+"da lernt man lesen und schreiben, und das geht manchmal schwer, da
+hilft's ein wenig nach, wenn man am Griffel nagt; ist's nicht wahr,
+General?"
+
+"Ja, 's ist wahr", bestätigte Peter.
+
+Jetzt war Heidis Teilnahme an der Sache wach geworden und es hatte
+sehr viele Fragen über die Schule und alles, was da begegnete und
+zu hören und zu sehen war, an den Peter zu richten, und da immer
+viel Zeit verfloss über einer Unterhaltung, an der Peter teilnehmen
+musste, so konnte er derweilen schön trocknen von oben bis unten.
+Es war immer eine große Anstrengung für ihn, seine Vorstellungen in
+die Worte zu bringen, die bedeuteten, was er meinte; aber diesmal
+hatte er's besonders streng, denn kaum hatte er eine Antwort
+zustande gebracht, so hatte ihm Heidi schon wieder zwei oder drei
+unerwartete Fragen zugeworfen und meistens solche, die einen ganzen
+Satz als Antwort erforderten.
+
+Der Großvater hatte sich ganz still verhalten während dieser
+Unterhaltung, aber es hatte ihm öfter ganz lustig um die Mundwinkel
+gezuckt, was ein Zeichen war, dass er zuhörte.
+
+"So, General, nun warst du im Feuer und brauchst Stärkung, komm,
+halt mit!" Damit stand der Großvater auf und holte das Abendessen
+aus dem Schrank hervor, und Heidi rückte die Stühle zum Tisch.
+Unterdessen war auch eine Bank an die Wand gezimmert worden vom
+Großvater; nun er nicht mehr allein war, hatte er da und dort
+allerlei Sitze zu zweien eingerichtet, denn Heidi hatte die Art,
+dass es sich überall nah zum Großvater hielt, wo er ging und stand
+und saß. So hatten sie alle drei gut Platz zum Sitzen und der
+Peter tat seine runden Augen ganz weit auf, als er sah, welch ein
+mächtiges Stück von dem schönen getrockneten Fleisch der Alm-Öhi
+ihm auf seine dicke Brotschnitte legte. So gut hatte es der Peter
+lange nicht gehabt. Als nun das vergnügte Mahl zu Ende war, fing
+es an zu dunkeln, und Peter schickte sich zur Heimkehr an. Als er
+nun "Gute Nacht" und "Dank Euch Gott" gesagt hatte und schon unter
+der Tür war, kehrte er sich noch einmal um und sagte: "Am Sonntag
+komm ich wieder, heut über acht Tag, und du solltest auch einmal
+zur Großmutter kommen, hat sie gesagt."
+
+Das war ein ganz neuer Gedanke für Heidi, dass es zu jemandem gehen
+sollte, aber er fasste auf der Stelle Boden bei ihm, und gleich am
+folgenden Morgen war sein Erstes, dass es erklärte: "Großvater,
+jetzt muss ich gewiss zu der Großmutter hinunter, sie erwartet mich."
+
+"Es hat zu viel Schnee", erwiderte der Großvater abwehrend.
+
+Aber das Vorhaben saß fest in Heidis Sinn, denn die Großmutter
+hatte es ja sagen lassen; so musste es sein. So verging kein Tag
+mehr, an dem das Kind nicht fünf- und sechsmal sagte: "Großvater,
+jetzt muss ich gewiss gehen, die Großmutter wartet ja immer auf
+mich."
+
+Am vierten Tag, als es draußen knisterte und knarrte vor Kälte bei
+jedem Schritt und die ganze große Schneedecke ringsum hart gefroren
+war, aber eine schöne Sonne ins Fenster guckte, gerade auf Heidis
+hohen Stuhl hin, wo es am Mittagsmahl saß, da begann es wieder sein
+Sprüchlein: "Heut muss ich aber gewiss zur Großmutter gehen, es
+währt ihr sonst zu lange." Da stand der Großvater auf vom
+Mittagstisch, stieg auf den Heuboden hinauf, brachte den dicken
+Sack herunter, der Heidis Bettdecke war, und sagte: "So komm!" In
+großer Freude hüpfte das Kind ihm nach in die glitzernde Schneewelt
+hinaus. In den alten Tannen war es nun ganz still und auf allen
+Ästen lag der weiße Schnee und in dem Sonnenschein schimmerte und
+funkelte es überall von den Bäumen in solcher Pracht, dass Heidi
+hoch aufsprang vor Entzücken und ein Mal übers andere ausrief:
+"Komm heraus, Großvater, komm heraus! Es ist lauter Silber und
+Gold an den Tannen!" Denn der Großvater war in den Schopf
+hineingegangen und kam nun heraus mit einem breiten Stoßschlitten:
+Da war vorn eine Stange angebracht, und von dem flachen Sitz konnte
+man die Füße nach vorn hinunterhalten und gegen den Schneeboden
+stemmen und der Fahrt die Weisung geben. Hier setzte sich der
+Großvater hin, nachdem er erst die Tannen ringsum mit Heidi hatte
+beschauen müssen, nahm das Kind auf seinen Schoß, wickelte es um
+und um in den Sack ein, damit es hübsch warm bleibe, und drückte es
+fest mit dem linken Arm an sich, denn das war nötig bei der
+kommenden Fahrt. Dann umfasste er mit der rechten Hand die Stange
+und gab einen Ruck mit beiden Füßen. Da schoss der Schlitten davon
+die Alm hinab mit einer solchen Schnelligkeit, dass das Heidi
+meinte, es fliege in der Luft wie ein Vogel, und laut aufjauchzte.
+Auf einmal stand der Schlitten still, gerade bei der Hütte vom
+Geißenpeter. Der Großvater stellte das Kind auf den Boden,
+wickelte es aus seiner Decke heraus und sagte:
+
+"So, nun geh hinein, und wenn es anfängt dunkel zu werden, dann
+komm wieder heraus und mach dich auf den Weg." Dann kehrte er um
+mit seinem Schlitten und zog ihn den Berg hinauf.
+
+Heidi machte die Tür auf und kam in einen kleinen Raum hinein, da
+sah es schwarz aus, und ein Herd war da und einige Schüsselchen auf
+einem Gestell, das war die kleine Küche; dann kam gleich wieder
+eine Tür, die machte Heidi wieder auf und kam in eine enge Stube
+hinein, denn das Ganze war nicht eine Sennhütte, wie beim Großvater,
+wo ein einziger, großer Raum war und oben ein Heuboden, sondern es
+war ein kleines, uraltes Häuschen, wo alles eng war und schmal und
+dürftig. Als Heidi in das Stübchen trat, stand es gleich vor dem
+Tisch, daran saß eine Frau und flickte an Peters Wams, denn dieses
+erkannte Heidi sogleich. In der Ecke saß ein altes, gekrümmtes
+Mütterchen und spann. Heidi wusste gleich, woran es war; es ging
+geradaus auf das Spinnrad zu und sagte: "Guten Tag, Großmutter,
+jetzt komme ich zu dir; hast du gedacht, es währe lang, bis ich
+komme?"
+
+Die Großmutter erhob den Kopf und suchte die Hand, die gegen sie
+ausgestreckt war, und als sie diese erfasst hatte, befühlte sie
+dieselbe erst eine Weile nachdenklich in der ihrigen, dann sagte
+sie: "Bist du das Kind droben beim Alm-Öhi, bist du das Heidi?"
+
+"Ja, ja", bestätigte das Kind, "jetzt gerade bin ich mit dem
+Großvater im Schlitten heruntergefahren."
+
+"Wie ist das möglich! Du hast ja eine so warme Hand! Sag,
+Brigitte, ist der Alm-Öhi selber mit dem Kind heruntergekommen?"
+
+Peters Mutter, die Brigitte, die am Tisch geflickt hatte, war
+aufgestanden und betrachtete nun mit Neugierde das Kind von oben
+bis unten; dann sagte sie: "Ich weiß nicht, Mutter, ob der Öhi
+selber heruntergekommen ist mit ihm; es ist nicht glaublich, das
+Kind wird's nicht recht wissen."
+
+Aber das Heidi sah die Frau sehr bestimmt an und gar nicht, als sei
+es im Ungewissen, und sagte: "Ich weiß ganz gut, wer mich in die
+Bettdecke gewickelt hat und mit mir heruntergeschlittelt ist; das
+ist der Großvater."
+
+"Es muss doch etwas daran sein, was der Peter so gesagt hat den
+Sommer durch vom Alm-Öhi, wenn wir dachten, er wisse es nicht
+recht", sagte die Großmutter; "wer hätte freilich auch glauben
+können, dass so etwas möglich sei; ich dachte, das Kind lebte keine
+drei Wochen da oben. Wie sieht es auch aus, Brigitte!" Diese hatte
+das Kind unterdessen so von allen Seiten angesehen, dass sie nun
+wohl berichten konnte, wie es aussah.
+
+"Es ist so fein gegliedert, wie die Adelheid war", gab sie zur
+Antwort; "aber es hat die schwarzen Augen und das krause Haar, wie
+es der Tobias hatte und auch der Alte droben; ich glaube, es sieht
+den zweien gleich."
+
+Unterdessen war Heidi müßig geblieben; es hatte ringsum geguckt und
+alles genau betrachtet, was da zu sehen war. Jetzt sagte es: "Sieh,
+Großmutter, dort schlägt es einen Laden immer hin und her, und der
+Großvater würde auf der Stelle einen Nagel einschlagen, dass er
+wieder fest hält, sonst schlägt er auch einmal eine Scheibe ein;
+sieh, sieh, wie er tut!"
+
+"Ach, du gutes Kind", sagte die Großmutter, "sehen kann ich es
+nicht, aber hören kann ich es wohl und noch viel mehr, nicht nur
+den Laden; da kracht und klappert es überall, wenn der Wind kommt,
+und er kann überall hereinblasen; es hält nichts mehr zusammen, und
+in der Nacht, wenn sie beide schlafen, ist es mir manchmal so angst
+und bang, es falle alles über uns zusammen und schlage uns alle
+drei tot; ach, und da ist kein Mensch, der etwas ausbessern könnte
+an der Hütte, der Peter versteht's nicht."
+
+"Aber warum kannst du denn nicht sehen, wie der Laden tut,
+Großmutter? Sieh jetzt wieder, dort, gerade dort." Und Heidi
+zeigte die Stelle deutlich mit dem Finger.
+
+"Ach Kind, ich kann ja gar nichts sehen, gar nichts, nicht nur den
+Laden nicht", klagte die Großmutter.
+
+"Aber wenn ich hinausgehe und den Laden ganz aufmache, dass es
+recht hell wird, kannst du dann sehen, Großmutter?"
+
+"Nein, nein, auch dann nicht, es kann mir niemand mehr hell machen."
+
+"Aber wenn du hinausgehst in den ganz weißen Schnee, dann wird es
+dir gewiss hell; komm nur mit mir, Großmutter, ich will dir's
+zeigen." Heidi nahm die Großmutter bei der Hand und wollte sie
+fortziehen, denn es fing an, ihm ganz ängstlich zumute zu werden,
+dass es ihr nirgends hell wurde.
+
+"Lass mich nur sitzen, du gutes Kind; es bleibt doch dunkel bei mir,
+auch im Schnee und in der Helle, sie dringt nicht mehr in meine
+Augen."
+
+"Aber dann doch im Sommer, Großmutter", sagte Heidi, immer
+ängstlicher nach einem guten Ausweg suchend; "weißt, wenn dann
+wieder die Sonne ganz heiß herunterbrennt und dann 'gute
+Nacht' sagt und die Berge alle feuerrot schimmern und alle
+gelben Blümlein glitzern, dann wird es dir wieder schön hell?"
+
+"Ach, Kind, ich kann sie nie mehr sehen, die feurigen Berge und die
+goldenen Blümlein droben, es wird mir nie mehr hell auf Erden, nie
+mehr."
+
+Jetzt brach Heidi in lautes Weinen aus. Voller Jammer schluchzte
+es fortwährend: "Wer kann dir denn wieder hell machen? Kann es
+niemand? Kann es gar niemand?"
+
+Die Großmutter suchte nun das Kind zu trösten, aber es gelang ihr
+nicht so bald. Heidi weinte fast nie; wenn es aber einmal anfing,
+dann konnte es auch fast nicht mehr aus der Betrübnis herauskommen.
+Die Großmutter hatte schon allerhand probiert, um das Kind zu
+beschwichtigen, denn es ging ihr zu Herzen, dass es so jämmerlich
+schluchzen musste. Jetzt sagte sie: "Komm, du gutes Heidi, komm
+hier heran, ich will dir etwas sagen. Siehst du, wenn man nichts
+sehen kann, dann hört man so gern ein freundliches Wort, und ich
+höre es gern, wenn du redest; komm, setz dich da nahe zu mir und
+erzähl mir etwas, was du machst da droben und was der Großvater
+macht, ich habe ihn früher gut gekannt; aber jetzt hab ich seit
+manchem Jahr nichts mehr gehört von ihm als durch den Peter, aber
+der sagt nicht viel."
+
+Jetzt kam dem Heidi ein neuer Gedanke; es wischte rasch seine
+Tränen weg und sagte tröstlich: "Wart nur, Großmutter, ich will
+alles dem Großvater sagen, er macht dir schon wieder hell und macht,
+dass die Hütte nicht zusammenfällt, er kann alles wieder in
+Ordnung machen."
+
+Die Großmutter schwieg stille, und nun fing Heidi an, ihr mit
+großer Lebendigkeit zu erzählen von seinem Leben mit dem Großvater
+und von den Tagen auf der Weide und von dem jetzigen Winterleben
+mit dem Großvater, was er alles aus Holz machen könne, Bänke und
+Stühle und schöne Krippen, wo man für das Schwänli und Bärli das
+Heu hineinlegen könnte, und einen neuen großen Wassertrog zum Baden
+im Sommer, und ein neues Milchschüsselchen und Löffel, und Heidi
+wurde immer eifriger im Beschreiben all der schönen Sachen, die so
+auf einmal aus einem Stück Holz herauskommen, und wie es dann neben
+dem Großvater stehe und ihm zuschaue und wie es das alles auch
+einmal machen wolle. Die Großmutter hörte mit großer
+Aufmerksamkeit zu, und von Zeit zu Zeit sagte sie dazwischen:
+"Hörst du's auch, Brigitte? Hörst du, was es vom Öhi sagt?"
+
+Mit einem Mal wurde die Erzählung unterbrochen durch ein großes
+Gepolter an der Tür, und herein stampfte der Peter, blieb aber
+sogleich stille stehen und sperrte seine runden Augen ganz
+erstaunlich weit auf, als er das Heidi erblickte, und schnitt die
+allerfreundlichste Grimasse, als es ihm sogleich zurief: "Guten
+Abend, Peter!"
+
+"Ist denn das möglich, dass der schon aus der Schule kommt", rief
+die Großmutter ganz verwundert aus. "So geschwind ist mir seit
+manchem Jahr kein Nachmittag vergangen! Guten Abend, Peterli, wie
+geht es mit dem Lesen?"
+
+"Gleich", gab der Peter zur Antwort.
+
+"So, so", sagte die Großmutter ein wenig seufzend, "ich habe
+gedacht, es gäbe vielleicht eine Änderung auf die Zeit, wenn du
+dann zwölf Jahre alt wirst gegen den Hornung hin."
+
+"Warum muss es eine Änderung geben, Großmutter?", fragte Heidi
+gleich mit Interesse.
+
+"Ich meine nur, dass er es etwa noch hätte lernen können", sagte
+die Großmutter, "das Lesen mein ich. Ich habe dort oben auf dem
+Gestell ein altes Gebetbuch, da sind schöne Lieder drin, die habe
+ich so lange nicht mehr gehört, und im Gedächtnis habe ich sie auch
+nicht mehr; da habe ich gehofft, wenn der Peterli nun lesen lerne,
+so könne er mir etwa ein gutes Lied lesen; aber er kann es nicht
+lernen, es ist ihm zu schwer."
+
+"Ich denke, ich muss Licht machen, es wird ja schon ganz dunkel",
+sagte jetzt Peters Mutter, die immer emsig am Wams fortgeflickt
+hatte; "der Nachmittag ist mir auch vergangen, ohne dass ich's
+merkte."
+
+Nun sprang Heidi von seinem Stühlchen auf, streckte eilig seine
+Hand aus und sagte: "Gut Nacht, Großmutter, ich muss auf der Stelle
+heim, wenn es dunkel wird", und hintereinander bot es dem Peter und
+seiner Mutter die Hand und ging der Tür zu. Aber die Großmutter
+rief besorgt: "Wart, wart, Heidi; so allein musst du nicht fort,
+der Peter muss mit dir, hörst du? Und gib Acht auf das Kind,
+Peterli, dass es nicht umfällt, und steh nicht still mit ihm, dass
+es nicht friert, hörst du? Hat es auch ein dickes Halstuch an?"
+
+"Ich habe gar kein Halstuch an", rief Heidi zurück, "aber ich will
+schon nicht frieren"; damit war es zur Tür hinaus und huschte so
+behend weiter, dass der Peter kaum nachkam. Aber die Großmutter
+rief jammernd: "Lauf ihm nach, Brigitte, lauf, das Kind muss ja
+erfrieren, so bei der Nacht, nimm mein Halstuch mit, lauf schnell!"
+Die Brigitte gehorchte. Die Kinder hatten aber kaum ein paar
+Schritte den Berg hinan getan, so sahen sie von oben herunter den
+Großvater kommen, und mit wenigen rüstigen Schritten stand er vor
+ihnen.
+
+"Recht so, Heidi, Wort gehalten!", sagte er, packte das Kind wieder
+fest in seine Decke ein, nahm es auf seinen Arm und stieg den Berg
+hinauf. Eben hatte die Brigitte noch gesehen, wie der Alte das
+Kind wohl verpackt auf seinen Arm genommen und den Rückweg
+angetreten hatte. Sie trat mit dem Peter wieder in die Hütte ein
+und erzählte der Großmutter mit Verwunderung, was sie gesehen hatte.
+Auch diese musste sich sehr verwundern und ein Mal über das
+andere sagen: "Gott Lob und Dank, dass er so ist mit dem Kind, Gott
+Lob und Dank! Wenn er es nur auch wieder zu mir lässt, das Kind
+hat mir so wohl gemacht! Was hat es für ein gutes Herz und wie
+kann es so kurzweilig erzählen!" Und immer wieder freute sich die
+Großmutter, und bis sie ins Bett ging, sagte sie immer wieder:
+"Wenn es nur auch wiederkommt! Jetzt habe ich doch noch etwas auf
+der Welt, auf das ich mich freuen kann!" Und die Brigitte stimmte
+jedes Mal ein, wenn die Großmutter wieder dasselbe sagte, und auch
+der Peter nickte jedes Mal zustimmend mit dem Kopf und zog seinen
+Mund weit auseinander vor Vergnüglichkeit und sagte: "Hab's schon
+gewusst."
+
+Unterdessen redete das Heidi in seinem Sack drinnen immerzu an den
+Großvater heran; da die Stimme aber nicht durch den achtfachen
+Umschlag dringen konnte und er daher kein Wort verstand, sagte er:
+"Wart ein wenig, bis wir daheim sind, dann sag's."
+
+Sobald er nun, oben angekommen, in seine Hütte eingetreten war und
+Heidi aus seiner Hülle herausgeschält hatte, sagte es: "Großvater,
+morgen müssen wir den Hammer und die großen Nägel mitnehmen und den
+Laden festschlagen bei der Großmutter und sonst noch viele Nägel
+einschlagen, denn es kracht und klappert alles bei ihr."
+
+"Müssen wir? So, das müssen wir? Wer hat dir das gesagt?", fragte
+der Großvater.
+
+"Das hat mir kein Mensch gesagt, ich weiß es sonst", entgegnete
+Heidi, "denn es hält alles nicht mehr fest und es ist der
+Großmutter angst und bang, wenn sie nicht schlafen kann und es so
+tut, und sie denkt: 'Jetzt fällt alles ein und gerade auf
+unsere Köpfe'; und der Großmutter kann man gar nicht mehr
+hell machen, sie weiß gar nicht, wie man es könnte, aber du kannst
+es schon, Großvater; denk nur, wie traurig es ist, wenn sie immer
+im Dunkeln ist und es ihr dann noch angst und bang ist und es kann
+ihr kein Mensch helfen als du! Morgen wollen wir gehen und ihr
+helfen; gelt, Großvater, wir wollen?"
+
+Heidi hatte sich an den Großvater angeklammert und schaute mit
+zweifellosem Vertrauen zu ihm auf. Der Alte schaute eine kleine
+Welle auf das Kind nieder, dann sagte er: "Ja, Heidi, wir wollen
+machen, dass es nicht mehr so klappert bei der Großmutter, das
+können wir; morgen tun wir's."
+
+Nun hüpfte das Kind vor Freude im ganzen Hüttenraum herum und rief
+ein Mal ums andere: "Morgen tun wir's! Morgen tun wir's!"
+
+Der Großvater hielt Wort. Am folgenden Nachmittag wurde dieselbe
+Schlittenfahrt ausgeführt. Wie am vorhergehenden Tag stellte der
+Alte das Kind vor der Tür der Geißenpeter-Hütte nieder und sagte:
+"Nun geh hinein, und wenn's Nacht wird, komm wieder." Dann legte er
+den Sack auf den Schlitten und ging um das Häuschen herum.
+
+Kaum hatte Heidi die Tür aufgemacht und war in die Stube
+hineingesprungen, so rief schon die Großmutter aus der Ecke: "Da
+kommt das Kind! Das ist das Kind!", und ließ vor Freude den Faden
+los und das Rädchen stehen und streckte beide Hände nach dem Kinde
+aus. Heidi lief zu ihr, rückte gleich das niedere Stühlchen ganz
+nahe an sie heran, setzte sich darauf und hatte der Großmutter
+schon wieder eine große Menge von Dingen zu erzählen und von ihr zu
+erfragen. Aber auf einmal ertönten so gewaltige Schläge an das
+Haus, dass die Großmutter vor Schrecken so zusammenfuhr, dass sie
+fast das Spinnrad umwarf, und zitternd ausrief: "Ach du mein Gott,
+jetzt kommt's, es fällt alles zusammen!" Aber Heidi hielt sie fest
+um den Arm und sagte tröstend: "Nein, nein, Großmutter, erschrick
+du nur nicht, das ist der Großvater mit dem Hammer, jetzt macht er
+alles fest, dass es dir nicht mehr angst und bang wird."
+
+"Ach, ist auch das möglich! Ist auch so etwas möglich! So hat uns
+doch der liebe Gott nicht ganz vergessen!", rief die Großmutter aus.
+"Hast du's gehört, Brigitte, was es ist, hörst du's? Wahrhaftig,
+es ist ein Hammer! Geh hinaus, Brigitte, und wenn es der Alm-Öhi
+ist, so sag ihm, er soll doch dann auch einen Augenblick
+hereinkommen, dass ich ihm auch danken kann."
+
+Die Brigitte ging hinaus. Eben schlug der Alm-Öhi mit großer
+Gewalt neue Kloben in die Mauer; Brigitte trat an ihn heran und
+sagte: "Ich wünsche Euch guten Abend, Öhi, und die Mutter auch, und
+wir haben Euch zu danken, dass Ihr uns einen solchen Dienst tut,
+und die Mutter möchte Euch noch gern eigens danken drinnen; sicher,
+es hätte uns das nicht gerad einer getan, wir wollen Euch auch dran
+denken, denn sicher--"
+
+"Macht's kurz", unterbrach sie der Alte hier; "was Ihr vom Alm-Öhi
+haltet, weiß ich schon. Geht nur wieder hinein; wo's fehlt, find
+ich selber."
+
+Brigitte gehorchte sogleich, denn der Öhi hatte eine Art, der man
+sich nicht leicht widersetzte. Er klopfte und hämmerte um das
+ganze Häuschen herum, stieg dann das schmale Treppchen hinauf bis
+unter das Dach, hämmerte weiter und weiter, bis er auch den letzten
+Nagel eingeschlagen, den er mitgebracht hatte. Unterdessen war
+auch schon die Dunkelheit hereingebrochen, und kaum war er
+heruntergestiegen und hatte seinen Schlitten hinter dem Geißenstall
+hervorgezogen, als auch schon Heidi aus der Tür trat und vom
+Großvater wie gestern verpackt auf den Arm genommen und der
+Schlitten nachgezogen wurde, denn allein da drauf sitzend, wäre die
+ganze Umhüllung vom Heidi abgefallen, und es wäre fast oder ganz
+erfroren. Das wusste der Großvater wohl und hielt das Kind ganz
+warm in seinem Arm.
+
+So ging der Winter dahin. In das freudlose Leben der blinden
+Großmutter war nach langen Jahren eine Freude gefallen und ihre
+Tage waren nicht mehr lang und dunkel, einer wie der andere, denn
+nun hatte sie immer etwas in Aussicht, nach dem sie verlangen
+konnte. Vom frühen Morgen an lauschte sie auch schon auf den
+trippelnden Schritt, und ging dann die Tür auf und das Kind kam
+wirklich dahergesprungen, dann rief sie jedes Mal in lauter Freude:
+"Gottlob! Da kommt's wieder!" Und Heidi setzte sich zu ihr und
+plauderte und erzählte so lustig von allem, was es wusste, dass es
+der Großmutter ganz wohl machte und ihr die Stunden dahingingen,
+sie merkte es nicht, und kein einziges Mal fragte sie mehr so wie
+früher: "Brigitte, ist der Tag noch nicht um?", sondern jedes Mal,
+wenn Heidi die Tür hinter sich schloss, sagte sie: "Wie war doch
+der Nachmittag so kurz; ist es nicht wahr, Brigitte?" Und diese
+sagte: "Doch sicher, es ist mir, wir haben erst die Teller vom
+Essen weggestellt." Und die Großmutter sagte wieder: "Wenn mir nur
+der Herrgott das Kind erhält und dem Alm-Öhi den guten Willen!
+Sieht es auch gesund aus, Brigitte?" Und jedes Mal erwiderte diese:
+"Es sieht aus wie ein Erdbeerapfel."
+
+Heidi hatte auch eine große Anhänglichkeit an die alte Großmutter,
+und wenn es ihm wieder in den Sinn kam, dass ihr gar niemand, auch
+der Großvater nicht mehr hell machen konnte, überkam es immer
+wieder eine große Betrübnis; aber die Großmutter sagte ihm immer
+wieder, dass sie am wenigsten davon leide, wenn es bei ihr sei, und
+Heidi kam auch an jedem schönen Wintertag heruntergefahren auf
+seinem Schlitten. Der Großvater hatte, ohne weitere Worte, so
+fortgefahren, hatte jedes Mal den Hammer und allerlei andere Sachen
+mit aufgeladen und manchen Nachmittag durch an dem Geißenpeter-Häuschen
+herumgeklopft. Das hatte aber auch seine gute Wirkung; es
+krachte und klapperte nicht mehr die ganzen Nächte durch, und die
+Großmutter sagte, so habe sie manchen Winter lang nicht mehr
+schlafen können, das wolle sie auch dem Öhi nie vergessen.
+
+
+
+
+Es kommt ein Besuch und dann noch einer, der mehr Folgen hat
+
+Schnell war der Winter und noch schneller der fröhliche Sommer
+darauf vergangen, und ein neuer Winter neigte sich schon wieder dem
+Ende zu. Heidi war glücklich und froh wie die Vöglein des Himmels
+und freute sich jeden Tag mehr auf die herannahenden Frühlingstage,
+da der warme Föhn durch die Tannen brausen und den Schnee wegfegen
+würde und dann die helle Sonne die blauen und gelben Blümlein
+hervorlocken und die Tage der Weide kommen würden, die für Heidi
+das Schönste mit sich brachten, was es auf Erden geben konnte.
+Heidi stand nun in seinem achten Jahre; es hatte vom Großvater
+allerlei Kunstgriffe erlernt: Mit den Geißen wusste es so gut
+umzugehen als nur einer, und Schwänli und Bärli liefen ihm nach wie
+treue Hündlein und meckerten gleich laut vor Freude, wenn sie nur
+seine Stimme hörten. In diesem Winter hatte Peter schon zweimal
+vom Schullehrer im Dörfli den Bericht gebracht, der Alm-Öhi solle
+das Kind, das bei ihm sei, nun in die Schule schicken, es habe
+schon mehr als das Alter und hätte schon im letzten Winter kommen
+sollen. Der Öhi hatte beide Male dem Schullehrer sagen lassen,
+wenn er etwas mit ihm wolle, so sei er daheim, das Kind schicke er
+nicht in die Schule. Diesen Bericht hatte der Peter richtig
+überbracht.
+
+Als die Märzsonne den Schnee an den Abhängen geschmolzen hatte und
+überall die weißen Schneeglöckchen hervorguckten im Tal und auf der
+Alm die Tannen ihre Schneelast abgeschüttelt hatten und die Äste
+wieder lustig wehten, da rannte Heidi vor Wonne immer hin und her
+von der Haustür zum Geißenstall und von da unter die Tannen und
+dann wieder hinein zum Großvater, um ihm zu berichten, wie viel
+größer das Stück grüner Boden unter den Bäumen wieder geworden sei,
+und gleich nachher kam es wieder nachzusehen, denn es konnte nicht
+erwarten, dass alles wieder grün wurde und der ganze schöne Sommer
+mit Grün und Blumen wieder auf die Alm gezogen kam.
+
+Als Heidi so am sonnigen Märzmorgen hin und her rannte und jetzt
+wohl zum zehnten Mal über die Türschwelle sprang, wäre es vor
+Schrecken fast rückwärts wieder hineingefallen, denn auf einmal
+stand es vor einem schwarzen alten Herrn, der es ganz ernsthaft
+anblickte. Als er aber seinen Schrecken sah, sagte er freundlich:
+"Du musst nicht erschrecken vor mir, die Kinder sind mir lieb. Gib
+mir die Hand! Du wirst das Heidi sein; wo ist der Großvater?"
+
+"Er sitzt am Tisch und schnitzt runde Löffel von Holz", erklärte
+Heidi und machte nun die Tür wieder auf.
+
+Es war der alte Herr Pfarrer aus dem Dörfli, der den Öhi vor Jahren
+gut gekannt hatte, als er noch unten wohnte und sein Nachbar war.
+Er trat in die Hütte ein, ging auf den Alten zu, der sich über sein
+Schnitzwerk hinbeugte, und sagte: "Guten Morgen, Nachbar."
+
+Verwundert schaute dieser in die Höhe, stand dann auf und
+entgegnete: "Guten Morgen dem Herrn Pfarrer." Dann stellte er
+seinen Stuhl vor den Herrn hin und fuhr fort: "Wenn der Herr
+Pfarrer einen Holzsitz nicht scheut, hier ist einer."
+
+Der Herr Pfarrer setzte sich. "Ich habe Euch lange nicht gesehen,
+Nachbar", sagte er dann.
+
+"Ich den Herrn Pfarrer auch nicht", war die Antwort.
+
+"Ich komme heut, um etwas mit Euch zu besprechen", fing der Herr
+Pfarrer wieder an; "ich denke, Ihr könnt schon wissen, was meine
+Angelegenheit ist, worüber ich mich mit Euch verständigen und hören
+will, was Ihr im Sinne habt."
+
+Der Herr Pfarrer schwieg und schaute auf Heidi, das an der Tür
+stand und die neue Erscheinung aufmerksam betrachtete.
+
+"Heidi, geh zu den Geißen", sagte der Großvater. "Kannst ein wenig
+Salz mitnehmen und bei ihnen bleiben, bis ich auch komme."
+
+Heidi verschwand sofort.
+
+"Das Kind hätte schon vor dem Jahr und noch sicherer diesen Winter
+die Schule besuchen sollen", sagte nun der Herr Pfarrer; "der
+Lehrer hat Euch mahnen lassen, Ihr habt keine Antwort darauf
+gegeben; was habt Ihr mit dem Kind im Sinn, Nachbar?"
+
+"Ich habe im Sinn, es nicht in die Schule zu schicken", war die
+Antwort.
+
+Verwundert schaute der Herr Pfarrer auf den Alten, der mit
+gekreuzten Armen auf seiner Bank saß und gar nicht nachgiebig
+aussah.
+
+"Was wollt Ihr aus dem Kinde machen?", fragte jetzt der Herr
+Pfarrer.
+
+"Nichts, es wächst und gedeiht mit den Geißen und den Vögeln; bei
+denen ist es ihm wohl und es lernt nichts Böses von ihnen."
+
+"Aber das Kind ist keine Geiß und kein Vogel, es ist ein
+Menschenkind. Wenn es nichts Böses lernt von diesen seinen
+Kameraden, so lernt es auch sonst nichts von ihnen; es soll aber
+etwas lernen, und die Zeit dazu ist da. Ich bin gekommen, es Euch
+zeitig zu sagen, Nachbar, damit Ihr Euch besinnen und einrichten
+könnt den Sommer durch. Dies war der letzte Winter, den das Kind
+so ohne allen Unterricht zugebracht hat; nächsten Winter kommt es
+zur Schule, und zwar jeden Tag."
+
+"Ich tu's nicht, Herr Pfarrer", sagte der Alte unentwegt.
+
+"Meint Ihr denn wirklich, es gebe kein Mittel, Euch zur Vernunft zu
+bringen, wenn Ihr so eigensinnig bei Eurem unvernünftigen Tun
+beharren wollt?", sagte der Herr Pfarrer jetzt ein wenig eifrig.
+"Ihr seid weit in der Welt herumgekommen und habt viel gesehen und
+vieles lernen können, ich hätte Euch mehr Einsicht zugetraut,
+Nachbar."
+
+"So", sagte jetzt der Alte und seine Stimme verriet, dass es auch
+in seinem Innern nicht mehr so ganz ruhig war; "und meint denn der
+Herr Pfarrer, ich werde wirklich im nächsten Winter am eisigen
+Morgen durch Sturm und Schnee ein zartgliedriges Kind den Berg
+hinunterschicken, zwei Stunden weit, und zur Nacht wieder
+heraufkommen lassen, wenn's manchmal tobt und tut, dass unsereiner
+fast in Wind und Schnee ersticken müsste, und dann ein Kind wie
+dieses? Und vielleicht kann sich der Herr Pfarrer auch noch der
+Mutter erinnern, der Adelheid; sie war mondsüchtig und hatte
+Zufälle, soll das Kind auch so etwas holen mit der Anstrengung? Es
+soll mir einer kommen und mich zwingen wollen! Ich gehe vor alle
+Gerichte mit ihm, und dann wollen wir sehen, wer mich zwingt!"
+
+"Ihr habt ganz Recht, Nachbar", sagte der Herr Pfarrer mit
+Freundlichkeit; "es wäre nicht möglich, das Kind von hier aus zur
+Schule zu schicken. Aber ich kann sehen, das Kind ist Euch lieb;
+tut um seinetwillen etwas, das Ihr schon lange hättet tun sollen,
+kommt wieder ins Dörfli herunter und lebt wieder mit den Menschen.
+Was ist das für ein Leben hier oben, allein und verbittert gegen
+Gott und Menschen! Wenn Euch einmal etwas zustoßen würde hier oben,
+wer würde Euch beistehen? Ich kann auch gar nicht begreifen, dass
+Ihr den Winter durch nicht halb erfriert in Eurer Hütte, und wie
+das zarte Kind es nur aushalten kann!"
+
+"Das Kind hat junges Blut und eine gute Decke, das möchte ich dem
+Herrn Pfarrer sagen, und dann noch eins: Ich weiß, wo es Holz gibt,
+und auch, wann die gute Zeit ist, es zu holen; der Herr Pfarrer
+darf in meinen Schopf hineingehen, es ist etwas drin, in meiner
+Hütte geht das Feuer nie aus den Winter durch. Was der Herr
+Pfarrer mit dem Herunterkommen meint, ist nicht für mich; die
+Menschen da unten verachten mich und ich sie auch, wir bleiben
+voneinander, so ist's beiden wohl."
+
+"Nein, nein, es ist Euch nicht wohl; ich weiß, was Euch fehlt",
+sagte der Herr Pfarrer mit herzlichem Ton. "Mit der Verachtung der
+Menschen dort unten ist es so schlimm nicht. Glaubt mir, Nachbar:
+Sucht Frieden mit Eurem Gott zu machen, bittet um seine Verzeihung,
+wo Ihr sie nötig habt, und dann kommt und seht, wie anders Euch die
+Menschen ansehen und wie wohl es Euch noch werden kann."
+
+Der Herr Pfarrer war aufgestanden, er hielt dem Alten die Hand hin
+und sagte nochmals mit Herzlichkeit: "Ich zähle darauf, Nachbar, im
+nächsten Winter seid Ihr wieder unten bei uns und wir sind die
+alten, guten Nachbarn. Es würde mir großen Kummer machen, wenn ein
+Zwang gegen Euch müsste angewandt werden; gebt mir jetzt die Hand
+darauf, dass ihr herunterkommt und wieder unter uns leben wollt,
+ausgesöhnt mit Gott und den Menschen."
+
+Der Alm-Öhi gab dem Herrn Pfarrer die Hand und sagte fest und
+bestimmt: "Der Herr Pfarrer meint es recht mit mir; aber was er
+erwartet, das tu ich nicht, ich sag es sicher und ohne Wandel: Das
+Kind schick ich nicht, und herunter komm ich nicht."
+
+"So helf Euch Gott!", sagte der Herr Pfarrer und ging traurig zur
+Tür hinaus und den Berg hinunter.
+
+Der Alm-Öhi war verstimmt. Als Heidi am Nachmittag sagte: "Jetzt
+wollen wir zur Großmutter", erwiderte er kurz: "Heut nicht." Den
+ganzen Tag sprach er nicht mehr, und am folgenden Morgen, als Heidi
+fragte: "Gehen wir heut zur Großmutter?", war er noch gleich kurz
+von Worten wie im Ton und sagte nur: "Wollen sehen." Aber noch
+bevor die Schüsselchen vom Mittagessen weggestellt waren, trat
+schon wieder ein Besuch zur Tür herein, es war die Base Dete. Sie
+hatte einen schönen Hut auf dem Kopf mit einer Feder darauf und ein
+Kleid, das alles mitfegte, was am Boden lag, und in der Sennhütte
+lag da allerlei, das nicht an ein Kleid gehörte. Der Öhi schaute
+sie an von oben bis unten und sagte kein Wort. Aber die Base Dete
+hatte im Sinn, ein sehr freundliches Gespräch zu führen, denn sie
+fing an zu rühmen und sagte, das Heidi sehe so gut aus, sie habe es
+fast nicht mehr gekannt und man könne schon sehen, dass es ihm
+nicht schlecht gegangen sei beim Großvater. Sie habe aber gewiss
+auch immer darauf gedacht, es ihm wieder abzunehmen, denn sie habe
+ja schon begreifen können, dass ihm das Kleine im Weg sein müsse,
+aber in jenem Augenblick habe sie es ja nirgends sonst hintun
+können; seitdem aber habe sie Tag und Nacht nachgesonnen, wo sie
+das Kind etwa unterbringen könnte, und deswegen komme sie auch
+heute, denn auf einmal habe sie etwas vernommen, da könne das Heidi
+zu einem solchen Glück kommen, dass sie es gar nicht habe glauben
+wollen. Dann sei sie aber auf der Stelle der Sache nachgegangen,
+und nun könne sie sagen, es sei alles so gut wie in Richtigkeit,
+das Heidi komme zu einem Glück wie unter Hunderttausenden nicht
+eines. Furchtbar reiche Verwandte von ihrer Herrschaft, die fast
+im schönsten Haus in ganz Frankfurt wohnen, die haben ein einziges
+Töchterlein, das müsse immer im Rollstuhl sitzen, denn es sei auf
+einer Seite lahm und sonst nicht gesund, und so sei es fast immer
+allein und müsse auch allen Unterricht allein nehmen bei einem
+Lehrer, und das sei ihm so langweilig, und auch sonst hätte es gern
+eine Gespielin im Haus, und da haben sie so davon geredet bei ihrer
+Herrschaft, und wenn man nur so ein Kind finden könnte, wie die
+Dame beschrieb, die in dem Haus die Wirtschaft führte, denn ihre
+Herrschaft habe viel Mitgefühl und möchte dem kranken Töchterlein
+eine gute Gespielin gönnen. Die Wirtschaftsdame hatte nun gesagt,
+sie wolle so ein recht unverdorbenes, so ein eigenartiges, das
+nicht sei wie alle, die man so alle Tage sehe. Da habe sie selbst
+denn auf der Stelle an das Heidi gedacht und sei gleich hingelaufen
+und habe der Dame alles so beschrieben vom Heidi und so von seinem
+Charakter, und die Dame habe sogleich zugesagt. Nun könne gar kein
+Mensch wissen, was dem Heidi alles an Glück und Wohlfahrt
+bevorstehe, denn wenn es dann einmal dort sei und die Leute es gern
+mögen und es etwa mit dem eigenen Töchterchen etwas geben sollte--
+man könne ja nie wissen, es sei doch so schwächlich--, und wenn
+eben die Leute doch nicht ohne ein Kind bleiben wollten, so könnte
+ja das unerhörteste Glück--
+
+"Bist du bald fertig?", unterbrach hier der Öhi, der bis dahin kein
+Wort dazwischengeredet hatte.
+
+"Pah", gab die Dete zurück und warf den Kopf auf, "Ihr tut gerade,
+wie wenn ich Euch das ordinärste Zeug gesagt hätte, und ist doch
+durchs ganze Prättigau auf und ab nicht einer, der nicht Gott im
+Himmel dankte, wenn ich ihm die Nachricht brächte, die ich Euch
+gebracht habe."
+
+"Bring sie, wem du willst, ich will nichts davon", sagte der Öhi
+trocken.
+
+Aber jetzt fuhr die Dete auf wie eine Rakete und rief: "Ja, wenn
+Ihr es so meint, dann will ich Euch denn schon auch sagen, wie ich
+es meine: Das Kind ist jetzt acht Jahre alt und kann nichts und
+weiß nichts, und Ihr wollt es nichts lernen lassen; Ihr wollt es in
+keine Schule und in keine Kirche schicken, das haben sie mir gesagt
+unten im Dörfli, und es ist meiner einzigen Schwester Kind; ich hab
+es zu verantworten, wie's mit ihm geht, und wenn ein Kind ein Glück
+erlangen kann wie jetzt das Heidi, so kann ihm nur einer davor sein,
+dem es um alle Leute gleich ist und der keinem etwas Gutes wünscht.
+Aber ich gebe nicht nach, das sag ich Euch, und die Leute habe
+ich alle für mich, es ist kein Einziger unten im Dörfli, der nicht
+mir hilft und gegen Euch ist, und wenn Ihr's etwa wollt vor Gericht
+kommen lassen, so besinnt Euch wohl, Öhi; es gibt noch Sachen, die
+Euch dann könnten aufgewärmt werden, die Ihr nicht gern hörtet,
+denn wenn man's einmal mit dem Gericht zu tun hat, so wird noch
+manches aufgespürt, an das keiner mehr denkt."
+
+"Schweig!", donnerte der Öhi heraus, und seine Augen flammten wie
+Feuer. "Nimm's und verdirb's! Komm mir nie mehr vor Augen mit ihm,
+ich will's nie sehen mit dem Federhut auf dem Kopf und Worten im
+Mund wie dich heut!"
+
+Der Öhi ging mit großen Schritten zur Tür hinaus.
+
+"Du hast den Großvater bös gemacht", sagte Heidi und blitzte mit
+seinen schwarzen Augen die Base wenig freundlich an.
+
+"Er wird schon wieder gut, komm jetzt", drängte die Base; "wo sind
+deine Kleider?"
+
+"Ich komme nicht", sagte Heidi.
+
+"Was sagst du?", fuhr die Base auf; dann änderte sie den Ton ein
+wenig und fuhr halb freundlich, halb ärgerlich weiter: "Komm, komm,
+du verstehst's nicht besser, du wirst es so gut haben, wie du gar
+nicht weißt." Dann ging sie an den Schrank, nahm Heidis Sachen
+hervor und packte sie zusammen: "So, komm jetzt, nimm dort dein
+Hütchen, es sieht nicht schön aus, aber es ist gleich für einmal,
+setz es auf und mach, dass wir fortkommen."
+
+"Ich komme nicht", wiederholte Heidi.
+
+"Sei doch nicht so dumm und störrig wie eine Geiß; denen hast du's
+abgesehen. Begreif doch nur, jetzt ist der Großvater bös, du
+hast's ja gehört, dass er gesagt hat, wir sollen ihm nicht mehr vor
+Augen kommen, er will es nun haben, dass du mit mir gehst, und
+jetzt musst du ihn nicht noch böser machen. Du weißt gar nicht,
+wie schön es ist in Frankfurt und was du alles sehen wirst, und
+gefällt es dir dann nicht, so kannst du wieder heimgehen; bis dahin
+ist der Großvater dann wieder gut."
+
+"Kann ich gerad wieder umkehren und heimkommen heut Abend?", fragte
+Heidi.
+
+"Ach was, komm jetzt! Ich sag dir's ja, du kannst wieder heim,
+wann du willst. Heut gehen wir bis nach Maienfeld hinunter und
+morgen früh sitzen wir in der Eisenbahn, mit der bist du nachher im
+Augenblick wieder daheim, das geht wie geflogen."
+
+Die Base Dete hatte das Bündelchen Kleider auf den Arm und Heidi an
+die Hand genommen; so gingen sie den Berg hinunter.
+
+Da es noch nicht Weidezeit war, ging der Peter noch zur Schule ins
+Dörfli hinunter, oder sollte doch dahin gehen; aber er machte hier
+und da einen Tag Ferien, denn er dachte, es nütze nichts, dahin zu
+gehen, das Lesen brauche man auch nicht, und ein wenig herumfahren
+und große Ruten suchen nütze etwas, denn diese könne man brauchen.
+So kam er eben in der Nähe seiner Hütte von der Seite her mit
+sichtlichem Erfolg seiner heutigen Bestrebungen, denn er trug ein
+ungeheures Bündel langer, dicker Haselruten auf der Achsel. Er
+stand still und starrte die zwei Entgegenkommenden an, bis sie bei
+ihm ankamen; dann sagte er: "Wo willst du hin?"
+
+"Ich muss nur geschwind nach Frankfurt mit der Base", antwortete
+Heidi, "aber ich will zuerst noch zur Großmutter hinein, sie wartet
+auf mich."
+
+"Nein, nein, keine Rede, es ist schon viel zu spät", sagte die Base
+eilig und hielt das fortstrebende Heidi fest bei der Hand; "du
+kannst dann gehen, wenn du wieder heimkommst, komm jetzt!" Damit
+zog die Base das Heidi fest weiter und ließ es nicht mehr los, denn
+sie fürchtete, es könne drinnen dem Kinde wieder in den Sinn kommen,
+es wolle nicht fort, und die Großmutter könne ihm helfen wollen.
+Der Peter sprang in die Hütte hinein und schlug mit seinem ganzen
+Bündel Ruten so furchtbar auf den Tisch los, dass alles erzitterte
+und die Großmutter vor Schrecken vom Spinnrad aufsprang und laut
+aufjammerte. Der Peter hatte sich Luft machen müssen.
+
+"Was ist's denn? Was ist's denn?", rief angstvoll die Großmutter,
+und die Mutter, die am Tisch gesessen hatte und fast aufgeflogen
+war bei dem Knall, sagte in angeborener Langmut: "Was hast, Peterli;
+warum tust so wüst?"
+
+"Weil sie das Heidi mitgenommen hat", erklärte Peter.
+
+"Wer? Wer? Wohin, Peterli, wohin?", fragte die Großmutter jetzt
+mit neuer Angst; sie musste aber schnell erraten haben, was vorging,
+die Tochter hatte ihr ja vor kurzem berichtet, sie habe die Dete
+gesehen zum Alm-Öhi hinaufgehen. Ganz zitternd vor Eile machte die
+Großmutter das Fenster auf und rief flehentlich hinaus: "Dete, Dete,
+nimm uns das Kind nicht weg! Nimm uns das Heidi nicht!"
+
+Die beiden Laufenden hörten die Stimme, und die Dete mochte wohl
+ahnen, was sie rief, denn sie fasste das Kind noch fester und lief,
+was sie konnte. Heidi widerstrebte und sagte: "Die Großmutter hat
+gerufen, ich will zu ihr."
+
+Aber das wollte die Base gerade nicht und beschwichtigte das Kind,
+es solle nur schnell kommen jetzt, dass sie nicht noch zu spät
+kämen, sondern dass sie morgen weiterreisen könnten, es könnte ja
+dann sehen, wie es ihm gefallen werde in Frankfurt, dass es gar nie
+mehr fortwolle dort; und wenn es doch heim wolle, so könne es ja
+gleich gehen und dann erst noch der Großmutter etwas mit
+heimbringen, was sie freue. Das war eine Aussicht für Heidi, die
+ihm gefiel. Es fing an zu laufen ohne Widerstreben.
+
+"Was kann ich der Großmutter heimbringen?", fragte es nach einer
+Welle.
+
+"Etwas Gutes", sagte die Base, "so schöne, weiche Weißbrötchen, da
+wird sie Freud haben daran, sie kann ja doch das harte, schwarze
+Brot fast nicht mehr essen."
+
+"Ja, sie gibt es immer wieder dem Peter und sagt: 'Es ist mir
+zu hart'; das habe ich selbst gesehen", bestätigte das Heidi.
+"So wollen wir geschwind gehen, Base Dete; dann kommen wir
+vielleicht heut noch nach Frankfurt, dass ich bald wieder da bin
+mit den Brötchen."
+
+Heidi fing nun so zu rennen an, dass die Base mit ihrem Bündel auf
+dem Arm fast nicht mehr nachkam. Aber sie war sehr froh, dass es
+so rasch ging, denn nun kamen sie gleich zu den ersten Häusern vom
+Dörfli, und da konnte es wieder allerhand Reden und Fragen geben,
+die das Heidi wieder auf andere Gedanken bringen konnten. So lief
+sie stracks durch, und das Kind zog dabei noch so stark an ihrer
+Hand, dass alle Leute es sehen konnten, wie sie um des Kindes
+willen so pressieren musste. So rief sie auf alle die Fragen und
+Anrufungen, die ihr aus allen Fenstern und Türen entgegentönten,
+nur immer zurück: "Ihr seht's ja, ich kann jetzt nicht still stehen,
+das Kind pressiert und wir haben noch weit."
+
+"Nimmst's mit?"--"Läuft's dem Alm-Öhi fort?"--"Es ist nur ein
+Wunder, dass es noch am Leben ist!"--"Und dazu noch so rotbackig!"
+So tönte es von allen Seiten, und die Dete war froh, dass sie ohne
+Verzug durchkam und keinen Bescheid geben musste und auch Heidi
+kein Wort sagte, sondern nur immer vorwärts strebte in großem Eifer.
+--
+
+Von dem Tage an machte der Alm-Öhi, wenn er herunterkam und durchs
+Dörfli ging, ein böseres Gesicht als je zuvor. Er grüßte keinen
+Menschen und sah mit seinem Käsereff auf dem Rücken, mit dem
+ungeheuren Stock in der Hand und den zusammengezogenen dicken
+Brauen so drohend aus, dass die Frauen zu den kleinen Kindern
+sagten: "Gib Acht! Geh dem Alm-Öhi aus dem Weg, er könnte dir noch
+etwas tun!"
+
+Der Alte verkehrte mit keinem Menschen im Dörfli, er ging nur durch
+und weit ins Tal hinab, wo er seinen Käse verhandelte und seine
+Vorräte an Brot und Fleisch einnahm. Wenn er so vorbeigegangen war
+im Dörfli, dann standen hinter ihm die Leute alle in Trüppchen
+zusammen, und jeder wusste etwas Besonderes, was er am Alm-Öhi
+gesehen hatte, wie er immer wilder aussehe und dass er jetzt keinem
+Menschen mehr auch nur einen Gruß abnehme, und alle kamen darin
+überein, dass es ein großes Glück sei, dass das Kind habe
+entweichen können, und man habe auch wohl gesehen, wie es
+fortgedrängt habe, so, als fürchte es, der Alte sei schon hinter
+ihm drein, um es zurückzuholen. Nur die blinde Großmutter hielt
+unverrückt zum Alm-Öhi, und wer zu ihr heraufkam, um bei ihr
+spinnen zu lassen oder das Gesponnene zu holen, dem erzählte sie es
+immer wieder, wie gut und sorgfältig der Alm-Öhi mit dem Kind
+gewesen sei und was er an ihr und der Tochter getan habe, wie
+manchen Nachmittag er an ihrem Häuschen herumgeflickt, das ohne
+seine Hilfe gewiss schon zusammengefallen wäre. So kamen denn auch
+diese Berichte ins Dörfli herunter; aber die meisten, die sie
+vernahmen, sagten dann, die Großmutter sei vielleicht zu alt zum
+Begreifen, sie werde es wohl nicht recht verstanden haben, sie
+werde wohl auch nicht mehr gut hören, weil sie nichts mehr sehe.
+
+Der Alm-Öhi zeigte sich jetzt nicht mehr bei den Geißenpeters; es
+war gut, dass er die Hütte so fest zusammengenagelt hatte, denn sie
+blieb für lange Zeit ganz unberührt. Jetzt begann die blinde
+Großmutter ihre Tage wieder mit Seufzen, und nicht einer verstrich,
+an dem sie nicht klagend sagte: "Ach, mit dem Kind ist alles Gute
+und alle Freude von uns genommen, und die Tage sind so leer! Wenn
+ich nur noch einmal das Heidi hören könnte, eh ich sterben muss!"
+
+
+
+
+Ein neues Kapitel und lauter neue Dinge
+
+Im Hause des Herrn Sesemann in Frankfurt lag das kranke Töchterlein,
+Klara, in dem bequemen Rollstuhl, in welchem es den ganzen Tag
+sich aufhielt und von einem Zimmer ins andere gestoßen wurde.
+Jetzt saß es im so genannten Studierzimmer, das neben der großen
+Essstube lag und wo vielerlei Gerätschaften herumstanden und -lagen,
+die das Zimmer wohnlich machten und zeigten, dass man hier
+gewöhnlich sich aufhielt. An dem großen, schönen Bücherschrank mit
+den Glastüren konnte man sehen, woher das Zimmer seinen Namen hatte
+und dass es wohl der Raum war, wo dem lahmen Töchterchen der
+tägliche Unterricht erteilt wurde.
+
+Klara hatte ein blasses, schmales Gesichtchen, aus dem zwei milde,
+blaue Augen herausschauten, die in diesem Augenblick auf die große
+Wanduhr gerichtet waren, die heute besonders langsam zu gehen
+schien, denn Klara, die sonst kaum ungeduldig wurde, sagte jetzt
+mit ziemlicher Ungeduld in der Stimme: "Ist es denn immer noch
+nicht Zeit, Fräulein Rottenmeier?"
+
+Die Letztere saß sehr aufrecht an einem kleinen Arbeitstisch und
+stickte. Sie hatte eine geheimnisvolle Hülle um sich, einen großen
+Kragen oder Halbmantel, welcher der Persönlichkeit einen
+feierlichen Anstrich verlieh, der noch erhöht wurde durch eine Art
+von hoch gebauter Kuppel, die sie auf dem Kopf trug. Fräulein
+Rottenmeier war schon seit mehreren Jahren, seitdem die Dame des
+Hauses gestorben war, im Hause Sesemann, führte die Wirtschaft und
+hatte die Oberaufsicht über das ganze Dienstpersonal.
+
+Herr Sesemann war meistens auf Reisen, überließ daher dem Fräulein
+Rottenmeier das ganze Haus, nur mit der Bedingung, dass sein
+Töchterlein in allem eine Stimme haben solle und nichts gegen
+dessen Wunsch geschehen dürfe.
+
+Während oben Klara zum zweiten Mal mit Zeichen der Ungeduld
+Fräulein Rottenmeier befragte, ob die Zeit noch nicht da sei, da
+die Erwarteten erscheinen konnten, stand unten vor der Haustür die
+Dete mit Heidi an der Hand und fragte den Kutscher Johann, der eben
+vom Wagen gestiegen war, ob sie wohl Fräulein Rottenmeier so spät
+noch stören dürfe.
+
+"Das ist nicht meine Sache", brummte der Kutscher; "klingeln Sie
+den Sebastian herunter, drinnen im Korridor."
+
+Dete tat, wie ihr geheißen war, und der Bediente des Hauses kam die
+Treppe herunter mit großen, runden Knöpfen auf seinem Aufwärterrock
+und fast ebenso großen runden Augen im Kopfe.
+
+"Ich wollte fragen, ob ich um diese Zeit Fräulein Rottenmeier noch
+stören dürfe", brachte die Dete wieder an.
+
+"Das ist nicht meine Sache", gab der Bediente zurück; "klingeln Sie
+die Jungfer Tinette herunter an der anderen Klingel", und ohne
+weitere Auskunft verschwand der Sebastian.
+
+Dete klingelte wieder. Jetzt erschien auf der Treppe die Jungfer
+Tinette mit einem blendend weißen Deckelchen auf der Mitte des
+Kopfes und einer spöttischen Miene auf dem Gesicht.
+
+"Was ist?", fragte sie auf der Treppe, ohne herunterzukommen. Dete
+wiederholte ihr Gesuch. Jungfer Tinette verschwand, kam aber bald
+wieder und rief von der Treppe herunter: "Sie sind erwartet!"
+
+Jetzt stieg Dete mit Heidi die Treppe hinauf und trat, der Jungfer
+Tinette folgend, in das Studierzimmer ein. Hier blieb Dete höflich
+an der Tür stehen, Heidi immer fest an der Hand haltend, denn sie
+war gar nicht sicher, was dem Kinde etwa begegnen konnte auf diesem
+so fremden Boden.
+
+Fräulein Rottenmeier erhob sich langsam von ihrem Sitz und kam
+näher, um die angekommene Gespielin der Tochter des Hauses zu
+betrachten. Der Anblick schien sie nicht zu befriedigen. Heidi
+hatte sein einfaches Baumwollröckchen an und sein altes,
+zerdrücktes Strohhütchen auf dem Kopf. Das Kind guckte sehr
+harmlos darunter hervor und betrachtete mit unverhehlter
+Verwunderung den Turmbau auf dem Kopf der Dame.
+
+"Wie heißest du?", fragte Fräulein Rottenmeier, nachdem auch sie
+einige Minuten lang forschend das Kind angesehen hatte, das kein
+Auge von ihr verwandte.
+
+"Heidi", antwortete es deutlich und mit klangvoller Stimme.
+
+"Wie? Wie? Das soll doch wohl kein christlicher Name sein? So
+bist du doch nicht getauft worden. Welchen Namen hast du in der
+Taufe erhalten?", fragte Fräulein Rottenmeier weiter.
+
+"Das weiß ich jetzt nicht mehr", entgegnete Heidi.
+
+"Ist das eine Antwort!", bemerkte die Dame mit Kopfschütteln.
+"Jungfer Dete, ist das Kind einfältig oder schnippisch?"
+
+"Mit Erlaubnis und wenn es die Dame gestattet, so will ich gern
+reden für das Kind, denn es ist sehr unerfahren", sagte die Dete,
+nachdem sie dem Heidi heimlich einen kleinen Stoß gegeben hatte für
+die unpassende Antwort. "Es ist aber nicht einfältig und auch
+nicht schnippisch, davon weiß es gar nichts; es meint alles so, wie
+es redet. Aber es ist heut zum ersten Mal in einem Herrenhaus und
+kennt die gute Manier nicht; aber es ist willig und nicht
+ungelehrig, wenn die Dame wollte gütige Nachsicht haben. Es ist
+Adelheid getauft worden, wie seine Mutter, meine Schwester selig."
+
+"Nun wohl, dies ist doch ein Name, den man sagen kann", bemerkte
+Fräulein Rottenmeier. "Aber, Jungfer Dete, ich muss Ihnen doch
+sagen, dass mir das Kind für sein Alter sonderbar vorkommt. Ich
+habe Ihnen mitgeteilt, die Gespielin für Fräulein Klara müsste in
+ihrem Alter sein, um denselben Unterricht mit ihr zu verfolgen und
+überhaupt ihre Beschäftigungen zu teilen. Fräulein Klara hat das
+zwölfte Jahr zurückgelegt; wie alt ist das Kind?"
+
+"Mit Erlaubnis der Dame", fing die Dete wieder beredt an, "es war
+mir eben selber nicht mehr so ganz gegenwärtig, wie alt es sei; es
+ist wirklich ein wenig jünger, viel trifft es nicht an, ich kann's
+so ganz genau nicht sagen, es wird so um das zehnte Jahr, oder so
+noch etwas dazu sein, nehm ich an."
+
+"Jetzt bin ich acht, der Großvater hat's gesagt", erklärte Heidi.
+Die Base stieß es wieder an, aber Heidi hatte keine Ahnung, warum,
+und wurde keineswegs verlegen.
+
+"Was, erst acht Jahre alt?", rief Fräulein Rottenmeier mit einiger
+Entrüstung aus. "Vier Jahre zu wenig! Was soll das geben! Und
+was hast du denn gelernt? Was hast du für Bücher gehabt bei deinem
+Unterricht?"
+
+"Keine", sagte Heidi.
+
+"Wie? Was? Wie hast du denn lesen gelernt?", fragte die Dame
+weiter.
+
+"Das hab ich nicht gelernt und der Peter auch nicht", berichtete
+Heidi.
+
+"Barmherzigkeit! Du kannst nicht lesen? Du kannst wirklich nicht
+lesen!", rief Fräulein Rottenmeier im höchsten Schrecken aus. "Ist
+es die Möglichkeit, nicht lesen! Was hast du denn aber gelernt?"
+
+"Nichts", sagte Heidi der Wahrheit gemäß.
+
+"Jungfer Dete", sagte Fräulein Rottenmeier nach einigen Minuten, in
+denen sie nach Fassung rang, "es ist alles nicht nach Abrede, wie
+konnten Sie mir dieses Wesen zuführen?" Aber die Dete ließ sich
+nicht so bald einschüchtern; sie antwortete herzhaft: "Mit
+Erlaubnis der Dame, das Kind ist gerade, was ich dachte, dass sie
+haben wolle; die Dame hat mir beschrieben, wie es sein müsse, so
+ganz apart und nicht wie die anderen, und so musste ich das Kleine
+nehmen, denn die Größeren sind bei uns dann nicht mehr so apart,
+und ich dachte, dieses passe wie gemacht auf die Beschreibung.
+Jetzt muss ich aber gehen, denn meine Herrschaft erwartet mich; ich
+will, wenn's meine Herrschaft erlaubt, bald wieder kommen und
+nachsehen, wie es geht mit ihm." Mit einem Knicks war die Dete zur
+Tür hinaus und die Treppe hinunter mit schnellen Schritten.
+Fräulein Rottenmeier stand einen Augenblick noch da, dann lief sie
+der Dete nach; es war ihr wohl in den Sinn gekommen, dass sie noch
+eine Menge von Dingen mit der Base besprechen wollte, wenn das Kind
+wirklich dableiben sollte, und da war es doch nun einmal und, wie
+sie bemerkte, hatte die Base fest im Sinn, es dazulassen.
+
+Heidi stand noch auf demselben Platz an der Tür, wo es von Anfang
+an gestanden hatte. Bis dahin hatte Klara von ihrem Sessel aus
+schweigend allem zugesehen. Jetzt winkte sie Heidi: "Komm hierher!"
+
+Heidi trat an den Rollstuhl heran.
+
+"Willst du lieber Heidi heißen oder Adelheid?", fragte Klara.
+
+"Ich heiße nur Heidi und sonst nichts", war Heidis Antwort.
+
+"So will ich dich immer so nennen", sagte Klara; "der Name gefällt
+mir für dich, ich habe ihn aber nie gehört, ich habe aber auch nie
+ein Kind gesehen, das so aussieht wie du. Hast du immer nur so
+kurzes, krauses Haar gehabt?"
+
+"Ja, ich denk's", gab Heidi zur Antwort.
+
+"Bist du gern nach Frankfurt gekommen?", fragte Klara weiter.
+
+"Nein, aber morgen geh ich dann wieder heim und bringe der
+Großmutter weiße Brötchen!", erklärte Heidi.
+
+"Du bist aber ein kurioses Kind!", fuhr jetzt Klara auf. "Man hat
+dich ja express nach Frankfurt kommen lassen, dass du bei mir
+bleibest und die Stunden mit mir nehmest, und siehst du, es wird
+nun ganz lustig, weil du gar nicht lesen kannst, nun kommt etwas
+ganz Neues in den Stunden vor. Sonst ist es manchmal so
+schrecklich langweilig und der Morgen will gar nicht zu Ende kommen.
+Denn siehst du, alle Morgen um zehn Uhr kommt der Herr Kandidat,
+und dann fangen die Stunden an und dauern bis um zwei Uhr, das ist
+so lange. Der Herr Kandidat nimmt auch manchmal das Buch ganz nahe
+ans Gesicht heran, so, als wäre er auf einmal ganz kurzsichtig
+geworden, aber er gähnt nur furchtbar hinter dem Buch, und Fräulein
+Rottenmeier nimmt auch von Zeit zu Zeit ihr großes Taschentuch
+hervor und hält es vor das ganze Gesicht hin, so, als sei sie ganz
+ergriffen von etwas, das wir lesen; aber ich weiß recht gut, dass
+sie nur ganz schrecklich gähnt dahinter, und dann sollte ich auch
+so stark gähnen und muss es immer hinunterschlucken, denn wenn ich
+nur ein einziges Mal herausgähne, so holt Fräulein Rottenmeier
+gleich den Fischtran und sagt, ich sei wieder schwach, und
+Fischtran nehmen ist das Allerschrecklichste, da will ich doch
+lieber Gähnen schlucken. Aber nun wird's viel kurzweiliger, da
+kann ich dann zuhören, wie du lesen lernst."
+
+Heidi schüttelte ganz bedenklich mit dem Kopf, als es vom
+Lesenlernen hörte.
+
+"Doch, doch, Heidi, natürlich musst du lesen lernen, alle Menschen
+müssen, und der Herr Kandidat ist sehr gut, er wird niemals böse,
+und er erklärt dir dann schon alles. Aber siehst du, wenn er etwas
+erklärt, dann verstehst du nichts davon; dann musst du nur warten
+und gar nichts sagen, sonst erklärt er dir noch viel mehr und du
+verstehst es noch weniger. Aber dann nachher, wenn du etwas
+gelernt hast und es weißt, dann verstehst du schon, was er gemeint
+hat."
+
+Jetzt kam Fräulein Rottenmeier wieder ins Zimmer zurück; sie hatte
+Dete nicht mehr zurückrufen können und war sichtlich aufgeregt
+davon, denn sie hatte dieser eigentlich gar nicht einlässlich sagen
+können, was alles nicht nach Abrede sei bei dem Kinde, und da sie
+nicht wusste, was nun zu tun sei, um ihren Schritt rückgängig zu
+machen, war sie umso aufgeregter, denn sie selbst hatte die ganze
+Sache angestiftet. Sie lief nun vom Studierzimmer ins Esszimmer
+hinüber, und von da wieder zurück, und kehrte dann unmittelbar
+wieder um und fuhr hier den Sebastian an, der seine runden Augen
+eben nachdenklich über den gedeckten Tisch gleiten ließ, um zu
+sehen, ob sein Werk keinen Mangel habe.
+
+"Denk Er morgen Seine großen Gedanken fertig und mach Er, dass man
+heut noch zu Tische komme."
+
+Mit diesen Worten fuhr Fräulein Rottenmeier an Sebastian vorbei und
+rief nach der Tinette mit so wenig einladendem Ton, dass die
+Jungfer Tinette mit noch viel kleineren Schritten herantrippelte
+als sonst gewöhnlich--und sich mit so spöttischem Gesicht
+hinstellte, dass selbst Fräulein Rottenmeier nicht wagte, sie
+anzufahren; umso mehr schlug ihr die Aufregung nach innen.
+
+"Das Zimmer der Angekommenen ist in Ordnung zu bringen, Tinette",
+sagte die Dame mit schwer errungener Ruhe; "es liegt alles bereit,
+nehmen Sie noch den Staub von den Möbeln weg."
+
+"Es ist der Mühe wert", spöttelte Tinette und ging.
+
+Unterdessen hatte Sebastian die Doppeltüren zum Studierzimmer mit
+ziemlichem Knall aufgeschlagen, denn er war sehr ergrimmt, aber
+sich in Antworten Luft zu machen durfte er nicht wagen Fräulein
+Rottenmeier gegenüber; dann trat er ganz gelassen ins Studierzimmer,
+um den Rollstuhl hinüberzustoßen. Während er den Griff hinten am
+Stuhl, der sich verschoben hatte, zurechtdrehte, stellte sich Heidi
+vor ihn hin und schaute ihn unverwandt an, was er bemerkte. Auf
+einmal fuhr er auf. "Na, was ist denn da Besonderes dran?",
+schnurrte er Heidi an in einer Weise, wie er es wohl nicht getan,
+hätte er Fräulein Rottenmeier gesehen, die eben wieder auf der
+Schwelle stand und gerade hereintrat, als Heidi entgegnete: "Du
+siehst dem Geißenpeter gleich."
+
+Entsetzt schlug die Dame ihre Hände zusammen. "Ist es die
+Möglichkeit!", stöhnte sie halblaut. "Nun duzt sie mir den
+Bedienten! Dem Wesen fehlen alle Urbegriffe!"
+
+Der Stuhl kam herangerollt und Klara wurde von Sebastian
+hinausgeschoben und auf ihren Sessel an den Tisch gesetzt.
+
+Fräulein Rottenmeier setzte sich neben sie und winkte Heidi, es
+sollte den Platz ihr gegenüber einnehmen. Sonst kam niemand zu
+Tische, und es war viel Platz da; die drei saßen auch weit
+auseinander, so dass Sebastian mit seiner Schüssel zum Anbieten
+guten Raum fand. Neben Heidis Teller lag ein schönes, weißes
+Brötchen; das Kind schaute mit erfreuten Blicken darauf. Die
+Ähnlichkeit, die Heidi entdeckt hatte, musste sein ganzes Vertrauen
+für den Sebastian erweckt haben, denn es saß mäuschenstill und
+rührte sich nicht, bis er mit der großen Schüssel zu ihm herantrat
+und ihm die gebratenen Fischchen hinhielt, dann zeigte es auf das
+Brötchen und fragte: "Kann ich das haben?" Sebastian nickte und
+warf dabei einen Seitenblick auf Fräulein Rottenmeier, denn es
+wunderte ihn, was die Frage für einen Eindruck auf sie mache.
+Augenblicklich ergriff Heidi sein Brötchen und steckte es in die
+Tasche. Sebastian machte eine Grimasse, denn das Lachen kam ihn an;
+er wusste aber wohl, dass ihm das nicht erlaubt war. Stumm und
+unbeweglich blieb er immer noch vor Heidi stehen, denn reden durfte
+er nicht, und weggehen durfte er wieder nicht, bis man sich bedient
+hatte. Heidi schaute ihm eine Zeit lang verwundert zu, dann fragte
+es: "Soll ich auch von dem essen?" Sebastian nickte wieder. "So
+gib mir", sagte es und schaute ruhig auf seinen Teller. Sebastians
+Grimasse wurde sehr bedenklich, und die Schüssel in seinen Händen
+fing an gefährlich zu zittern.
+
+"Er kann die Schüssel auf den Tisch setzen und nachher
+wiederkommen", sagte jetzt Fräulein Rottenmeier mit strengem
+Gesicht. Sebastian verschwand sogleich. "Dir, Adelheid, muss ich
+überall die ersten Begriffe beibringen, das sehe ich", fuhr
+Fräulein Rottenmeier mit tiefem Seufzer fort. "Vor allem will ich
+dir zeigen, wie man sich am Tische bedient", und nun machte die
+Dame deutlich und eingehend alles vor, was Heidi zu tun hatte.
+"Dann", fuhr sie weiter, "muss ich dir hauptsächlich bemerken, dass
+du am Tisch nicht mit Sebastian zu sprechen hast, auch sonst nur
+dann, wenn du einen Auftrag oder eine notwendige Frage an ihn zu
+richten hast; dann aber nennst du ihn nie mehr anders als _Sie_
+oder _Er_, hörst du? Dass ich dich niemals mehr ihn anders nennen
+höre. Auch Tinette nennst du _Sie_, Jungfer Tinette. Mich nennst
+du so, wie du mich von allen nennen hörst; wie du Klara nennen
+sollst, wird sie selbst bestimmen."
+
+"Natürlich Klara", sagte diese. Nun folgte aber noch eine Menge
+von Verhaltungsmaßregeln, über Aufstehen und Zubettegehen, über
+Hereintreten und Hinausgehen, über Ordnunghalten, Türenschließen,
+und über alledem fielen dem Heidi die Augen zu, denn es war heute
+vor fünf Uhr aufgestanden und hatte eine lange Reise gemacht. Es
+lehnte sich an den Sesselrücken und schlief ein. Als dann nach
+längerer Zeit Fräulein Rottenmeier zu Ende gekommen war mit ihrer
+Unterweisung, sagte sie: "Nun denke daran, Adelheid! Hast du alles
+recht begriffen?"
+
+"Heidi schläft schon lange", sagte Klara mit ganz belustigtem
+Gesicht, denn das Abendessen war für sie seit langer Zeit nie so
+kurzweilig verflossen.
+
+"Es ist doch völlig unerhört, was man mit diesem Kind erlebt!",
+rief Fräulein Rottenmeier in großem Ärger und klingelte so heftig,
+dass Tinette und Sebastian miteinander herbeigestürzt kamen; aber
+trotz allen Lärms erwachte Heidi nicht, und man hatte die größte
+Mühe, es so weit zu erwecken, dass es nach seinem Schlafgemach
+gebracht werden konnte; erst durch das Studierzimmer, dann durch
+Klaras Schlafstube, dann durch die Stube von Fräulein Rottenmeier
+zu dem Eckzimmer, das nun für Heidi eingerichtet war.
+
+
+
+
+Fräulein Rottenmeier hat einen unruhigen Tag
+
+Als Heidi am ersten Morgen in Frankfurt seine Augen aufschlug,
+konnte es durchaus nicht begreifen, was es erblickte. Es rieb ganz
+gewaltig seine Augen, guckte dann wieder auf und sah dasselbe. Es
+saß auf einem hohen, weißen Bett und vor sich sah es einen großen,
+weiten Raum, und wo die Helle herkam, hingen lange, lange weiße
+Vorhänge, und dabei standen zwei Sessel mit großen Blumen darauf,
+und dann kam ein Sofa an der Wand mit denselben Blumen und ein
+runder Tisch davor, und in der Ecke stand ein Waschtisch mit Sachen
+darauf, wie Heidi sie noch gar nie gesehen hatte. Aber nun kam ihm
+auf einmal in den Sinn, dass es in Frankfurt sei, und der ganze
+gestrige Tag kam ihm in Erinnerung und zuletzt noch ganz klar die
+Unterweisungen der Dame, soweit es sie gehört hatte. Heidi sprang
+nun von seinem Bett herunter und machte sich fertig. Dann ging es
+an ein Fenster und dann an das andere; es musste den Himmel sehen
+und die Erde draußen, es fühlte sich wie im Käfig hinter den großen
+Vorhängen. Es konnte diese nicht wegschieben; so kroch es dahinter,
+um an ein Fenster zu kommen. Aber dieses war so hoch, dass Heidi
+nur gerade mit dem Kopf so weit hinaufreichte, dass es durchsehen
+konnte. Aber Heidi fand nicht, was es suchte. Es lief von einem
+Fenster zum anderen und dann wieder zum ersten zurück; aber immer
+war dasselbe vor seinen Augen, Mauern und Fenster und wieder Mauern
+und dann wieder Fenster. Es wurde Heidi ganz bange. Noch war es
+früh am Morgen, denn Heidi war gewöhnt, früh aufzustehen auf der
+Alm und dann sogleich hinauszulaufen vor die Tür und zu sehen,
+wie's draußen sei, ob der Himmel blau und die Sonne schon droben
+sei, ob die Tannen rauschen und die kleinen Blumen schon die Augen
+offen haben. Wie das Vögelein, das zum ersten Mal in seinem schön
+glänzenden Gefängnis sitzt, hin und her schießt und bei allen
+Stäben probiert, ob es nicht dazwischen durchschlüpfen und in die
+Freiheit hinausfliegen könne, so lief Heidi immer von dem einen
+Fenster zum anderen, um zu probieren, ob es nicht aufgemacht werden
+könne, denn dann musste man doch etwas anderes sehen als Mauern und
+Fenster, da musste doch unten der Erdboden, das grüne Gras und der
+letzte schmelzende Schnee an den Abhängen zum Vorschein kommen, und
+Heidi sehnte sich, das zu sehen. Aber die Fenster blieben fest
+verschlossen, wie sehr auch das Kind drehte und zog und von unten
+suchte, die kleinen Finger unter die Rahmen einzutreiben, damit es
+Kraft hätte, sie aufzudrücken; es blieb alles eisenfest aufeinander
+sitzen. Nach langer Zeit, als Heidi einsah, dass alle
+Anstrengungen nichts halfen, gab es seinen Plan auf und überdachte
+nun, wie es wäre, wenn es vor das Haus hinausginge und hintenherum,
+bis es auf den Grasboden käme, denn es erinnerte sich, dass es
+gestern Abend vorn am Haus nur über Steine gekommen war. Jetzt
+klopfte es an seiner Tür und unmittelbar darauf steckte Tinette den
+Kopf herein und sagte kurz: "Frühstück bereit!"
+
+Heidi verstand keineswegs eine Einladung unter diesen Worten; auf
+dem spöttischen Gesicht der Tinette stand viel mehr eine Warnung,
+ihr nicht zu nah zu kommen, als eine freundliche Einladung
+geschrieben, und das las Heidi deutlich von dem Gesicht und
+richtete sich danach. Es nahm den kleinen Schemel unter dem Tisch
+empor, stellte ihn in eine Ecke, setzte sich darauf und wartete so
+ganz still ab, was nun kommen würde. Nach einiger Zeit kam etwas
+mit ziemlichem Geräusch, es war Fräulein Rottenmeier, die schon
+wieder in Aufregung geraten war und in Heidis Stube hineinrief:
+"Was ist mit dir, Adelheid? Begreifst du nicht, was ein Frühstück
+ist? Komm herüber!"
+
+Das verstand nun Heidi und folgte sogleich nach. Im Esszimmer saß
+Klara schon lang an ihrem Platz und begrüßte Heidi freundlich,
+machte auch ein viel vergnügteres Gesicht als sonst gewöhnlich,
+denn sie sah voraus, dass heute wieder allerlei Neues geschehen
+würde. Das Frühstück ging nun ohne Störung vor sich; Heidi aß ganz
+anständig sein Butterbrot, und wie alles zu Ende war, wurde Klara
+wieder ins Studierzimmer hinübergerollt und Heidi wurde von
+Fräulein Rottenmeier angewiesen, nachzufolgen und bei Klara zu
+bleiben, bis der Herr Kandidat kommen würde, um die
+Unterrichtsstunden zu beginnen. Als die beiden Kinder allein waren,
+sagte Heidi sogleich: "Wie kann man hinaussehen hier und ganz
+hinunter auf den Boden?"
+
+"Man macht ein Fenster auf und guckt hinaus", antwortete Klara
+belustigt.
+
+"Man kann diese Fenster nicht aufmachen", versetzte Heidi traurig.
+
+"Doch, doch", versicherte Klara, "nur du noch nicht, und ich kann
+dir auch nicht helfen; aber wenn du einmal den Sebastian siehst, so
+macht er dir schon eines auf."
+
+Das war eine große Erleichterung für Heidi zu wissen, dass man doch
+die Fenster öffnen und hinausschauen könne, denn noch war es ganz
+unter dem Druck des Gefangenseins von seinem Zimmer her. Klara
+fing nun an, Heidi zu fragen, wie es bei ihm zu Hause sei, und
+Heidi erzählte mit Freuden von der Alm und den Geißen und der Weide
+und allem, was ihm lieb war.
+
+Unterdessen war der Herr Kandidat angekommen; aber Fräulein
+Rottenmeier führte ihn nicht, wie gewöhnlich, ins Studierzimmer,
+denn sie musste sich erst aussprechen und geleitete ihn zu diesem
+Zweck ins Esszimmer, wo sie sich vor ihn hinsetzte und ihm in
+großer Aufregung ihre bedrängte Lage schilderte und wie sie in
+diese hineingekommen war.
+
+Sie hatte nämlich vor einiger Zeit Herrn Sesemann nach Paris
+geschrieben, wo er eben verweilte, seine Tochter habe längst
+gewünscht, es möchte eine Gespielin für sie ins Haus aufgenommen
+werden, und auch sie selbst glaube, dass eine solche in den
+Unterrichtsstunden ein Sporn, in der übrigen Zeit eine anregende
+Gesellschaft für Klara sein würde. Eigentlich war die Sache für
+Fräulein Rottenmeier selbst sehr wünschbar, denn sie wollte gern,
+dass jemand da sei, der ihr die Unterhaltung der kranken Klara
+abnehme, wenn es ihr zu viel war, was öfters geschah. Herr
+Sesemann hatte geantwortet, er erfülle gern den Wunsch seiner
+Tochter, doch mit der Bedingung, dass eine solche Gespielin in
+allem ganz gehalten werde wie jene, er wolle keine Kinderquälerei
+in seinem Hause--"was freilich eine sehr unnütze Bemerkung von dem
+Herrn war", setzte Fräulein Rottenmeier hinzu, "denn wer wollte
+Kinder quälen!" Nun aber erzählte sie weiter, wie ganz
+erschrecklich sie hineingefallen sei mit dem Kinde, und führte alle
+Beispiele von seinem völlig begriffslosen Dasein an, die es bis
+jetzt geliefert hatte, dass nicht nur der Unterricht des Herrn
+Kandidaten buchstäblich beim Abc anfangen müsse, sondern dass auch
+sie auf jedem Punkte der menschlichen Erziehung mit dem Uranfang zu
+beginnen hätte. Aus dieser unheilvollen Lage sehe sie nur ein
+Rettungsmittel: Wenn der Herr Kandidat erklären werde, zwei so
+verschiedene Wesen könnten nicht miteinander unterrichtet werden
+ohne großen Schaden des vorgerückteren Teiles; das wäre für Herrn
+Sesemann ein triftiger Grund, die Sache rückgängig zu machen, und
+so würde er zugeben, dass das Kind gleich wieder dahin
+zurückgeschickt würde, woher es gekommen war; ohne seine Zustimmung
+aber dürfte sie das nicht unternehmen, nun der Hausherr wisse, dass
+das Kind angekommen sei. Aber der Herr Kandidat war behutsam und
+niemals einseitig im Urteilen. Er tröstete Fräulein Rottenmeier
+mit vielen Worten und der Ansicht, wenn die junge Tochter auf der
+einen Seite so zurück sei, so möchte sie auf der anderen umso
+geförderter sein, was bei einem geregelten Unterricht bald ins
+Gleichgewicht kommen werde. Als Fräulein Rottenmeier sah, dass der
+Herr Kandidat sie nicht unterstützen, sondern seinen Abc-Unterricht
+übernehmen wollte, machte sie ihm die Tür zum Studierzimmer auf,
+und nachdem er hereingetreten war, schloss sie schnell hinter ihm
+zu und blieb auf der anderen Seite, denn vor dem Abc hatte sie
+einen Schrecken. Sie ging jetzt mit großen Schritten im Zimmer auf
+und nieder, denn sie hatte zu überlegen, wie die Dienstboten
+Adelheid zu benennen hätten. Herr Sesemann hatte ja geschrieben,
+sie müsste wie seine Tochter gehalten werden, und dieses Wort
+musste sich hauptsächlich auf das Verhältnis zu den Dienstboten
+beziehen, dachte Fräulein Rottenmeier. Sie konnte aber nicht lange
+ungestört überlegen, denn auf einmal ertönte drinnen im
+Studierzimmer ein erschreckliches Gekrache fallender Gegenstände
+und dann ein Hilferuf nach Sebastian. Sie stürzte hinein. Da lag
+auf dem Boden alles übereinander, die sämtlichen Studien-Hilfsmittel,
+Bücher, Hefte, Tintenfass und obendrauf der
+Tischteppich, unter dem ein schwarzes Tintenbächlein hervorfloss,
+die ganze Stube entlang. Heidi war verschwunden.
+
+"Da haben wir's", rief Fräulein Rottenmeier händeringend aus.
+"Teppich, Bücher, Arbeitskorb, alles in der Tinte! Das ist noch
+nie geschehen! Das ist das Unglückswesen, da ist kein Zweifel!"
+
+Der Herr Kandidat stand sehr erschrocken da und schaute auf die
+Verwüstung, die allerdings nur _eine_ Seite hatte und eine recht
+bestürzende. Klara dagegen verfolgte mit vergnügtem Gesicht die
+ungewöhnlichen Ereignisse und deren Wirkungen und sagte nun
+erklärend: "Ja, Heidi hat's gemacht, aber nicht mit Absicht, es
+muss gewiss nicht gestraft werden, es war nur so schrecklich eilig,
+fortzukommen, und riss den Teppich mit, und so fiel alles
+hintereinander auf den Boden. Es fuhren viele Wagen hintereinander
+vorbei, darum ist es so fortgeschossen; es hat vielleicht noch nie
+eine Kutsche gesehen."
+
+"Da, ist's nicht, wie ich sagte, Herr Kandidat? Nicht _einen_
+Urbegriff hat das Wesen! Keine Ahnung davon, was eine
+Unterrichtsstunde ist, dass man dabei zuzuhören und still zu sitzen
+hat. Aber wo ist das Unheil bringende Ding hin? Wenn es
+fortgelaufen wäre! Was würde mir Herr Sesemann--"
+
+Fräulein Rottenmeier lief hinaus und die Treppe hinunter. Hier,
+unter der geöffneten Haustür, stand Heidi und guckte ganz verblüfft
+die Straße auf und ab.
+
+"Was ist denn? Was fällt dir denn ein? Wie kannst du so
+davonlaufen!", fuhr Fräulein Rottenmeier das Kind an.
+
+"Ich habe die Tannen rauschen gehört, aber ich weiß nicht, wo sie
+stehen, und höre sie nicht mehr", antwortete Heidi und schaute
+enttäuscht nach der Seite hin, wo das Rollen der Wagen verhallt war,
+das in Heidis Ohren dem Tosen des Föhns in den Tannen ähnlich
+geklungen hatte, so dass es in höchster Freude dem Ton nachgerannt
+war.
+
+"Tannen! Sind wir im Wald? Was sind das für Einfälle! Komm
+herauf und sieh, was du angerichtet hast!" Damit stieg Fräulein
+Rottenmeier wieder die Treppe hinan; Heidi folgte ihr und stand nun
+sehr verwundert vor der großen Verheerung, denn es hatte nicht
+gemerkt, was es alles mitriss vor Freude und Eile, die Tannen zu
+hören.
+
+"Das hast du einmal getan, ein zweites Mal tust du's nicht wieder",
+sagte Fräulein Rottenmeier, auf den Boden zeigend; "zum Lernen
+sitzt man still auf seinem Sessel und gibt Acht. Kannst du das
+nicht selbst fertig bringen, so muss ich dich an deinen Stuhl
+festbinden. Kannst du das verstehen?"
+
+"Ja", entgegnete Heidi, "aber ich will schon festsitzen." Denn
+jetzt hatte es begriffen, dass es eine Regel ist, in einer
+Unterrichtsstunde still zu sitzen.
+
+Jetzt mussten Sebastian und Tinette hereinkommen, um die Ordnung
+wiederherzustellen. Der Herr Kandidat entfernte sich, denn der
+weitere Unterricht musste nun aufgegeben werden. Zum Gähnen war
+heute gar keine Zeit gewesen.
+
+Am Nachmittag musste Klara immer eine Zeit lang ruhen und Heidi
+hatte alsdann seine Beschäftigung selbst zu wählen; so hatte
+Fräulein Rottenmeier ihm am Morgen erklärt. Als nun nach Tisch
+Klara sich in ihrem Sessel zur Ruhe gelegt hatte, ging Fräulein
+Rottenmeier nach ihrem Zimmer, und Heidi sah, dass nun die Zeit da
+war, da es seine Beschäftigung selbst wählen konnte. Das war dem
+Heidi sehr erwünscht, denn es hatte schon immer im Sinn, etwas zu
+unternehmen; es musste aber Hilfe dazu haben und stellte sich darum
+vor das Esszimmer mitten auf den Korridor, damit die Persönlichkeit,
+die es zu beraten gedachte, ihm nicht entgehen könne. Richtig,
+nach kurzer Zeit kam Sebastian die Treppe herauf mit dem großen
+Teebrett auf den Armen, denn er brachte das Silberzeug aus der
+Küche herauf, um es im Schrank des Esszimmers zu verwahren. Als er
+auf der letzten Stufe der Treppe angekommen war, trat Heidi vor ihn
+hin und sagte mit großer Deutlichkeit: "Sie oder Er!"
+
+Sebastian riss die Augen so weit auf, als es nur möglich war, und
+sagte ziemlich barsch: "Was soll das heißen, Mamsell?"
+
+"Ich möchte nur gern etwas fragen, aber es ist gewiss nichts Böses
+wie heute Morgen", fügte Heidi beschwichtigend hinzu, denn es
+merkte, dass Sebastian ein wenig erbittert war, und dachte, es
+komme noch von der Tinte am Boden her.
+
+"So, und warum muss es denn heißen Sie oder Er, das möcht ich
+zuerst wissen", gab Sebastian im gleichen barschen Ton zurück.
+
+"Ja, so muss ich jetzt immer sagen", versicherte Heidi; "Fräulein
+Rottenmeier hat es befohlen."
+
+Jetzt lachte Sebastian so laut auf, dass Heidi ihn ganz verwundert
+ansehen musste, denn es hatte nichts Lustiges bemerkt; aber
+Sebastian hatte auf einmal begriffen, was Fräulein Rottenmeier
+befohlen hatte, und sagte nun sehr erlustigt: "Schon recht, so
+fahre die Mamsell nur zu."
+
+"Ich heiße gar nicht Mamsell", sagte nun Heidi seinerseits ein
+wenig geärgert; "ich heiße Heidi."
+
+"Ist schon recht; die gleiche Dame hat aber befohlen, dass ich
+Mamsell sage", erklärte Sebastian.
+
+"Hat sie? Ja, dann muss ich schon so heißen", sagte Heidi mit
+Ergebung, denn es hatte wohl gemerkt, dass alles so geschehen
+musste, wie Fräulein Rottenmeier befahl.
+
+"Jetzt habe ich schon drei Namen", setzte es mit einem Seufzer
+hinzu.
+
+"Was wollte die kleine Mamsell denn fragen?", fragte Sebastian
+jetzt, indem er, ins Esszimmer eingetreten, sein Silberzeug im
+Schrank zurechtlegte.
+
+"Wie kann man ein Fenster aufmachen, Sebastian?"
+
+"So, gerade so", und er machte den großen Fensterflügel auf.
+
+Heidi trat heran, aber es war zu klein, um etwas sehen zu können;
+es langte nur bis zum Gesims hinauf.
+
+"Da, so kann das Mamsellchen einmal hinausgucken und sehen, was
+unten ist", sagte Sebastian, indem er einen hohen hölzernen Schemel
+herbeigeholt hatte und hinstellte. Hoch erfreut stieg Heidi hinauf
+und konnte endlich den ersehnten Blick durch das Fenster tun. Aber
+mit dem Ausdruck der größten Enttäuschung zog es sogleich den Kopf
+wieder zurück.
+
+"Man sieht nur die steinerne Straße hier, sonst gar nichts", sagte
+das Kind bedauerlich; "aber wenn man um das ganze Haus herumgeht,
+was sieht man dann auf der anderen Seite, Sebastian?"
+
+"Gerade dasselbe", gab dieser zur Antwort.
+
+"Aber wohin kann man denn gehen, dass man weit, weit hinuntersehen
+kann über das ganze Tal hinab?"
+
+"Da muss man auf einen hohen Turm hinaufsteigen, einen Kirchturm,
+so einen, wie der dort ist mit der goldenen Kugel oben drauf. Da
+guckt man von oben herunter und sieht weit über alles weg."
+
+Jetzt stieg Heidi eilig von seinem Schemel herunter, rannte zur Tür
+hinaus, die Treppe hinunter und trat auf die Straße hinaus. Aber
+die Sache ging nicht, wie Heidi sich vorgestellt hatte. Als es aus
+dem Fenster den Turm gesehen hatte, kam es ihm vor, es könne nur
+über die Straße gehen, so müsste er gleich vor ihm stehen. Nun
+ging Heidi die ganze Straße hinunter, aber es kam nicht an den Turm,
+konnte ihn auch nirgends mehr entdecken und kam nun in eine andere
+Straße hinein und weiter und weiter, aber immer noch sah es den
+Turm nicht. Es gingen viele Leute an ihm vorbei, aber die waren
+alle so eilig, dass Heidi dachte, sie hätten nicht Zeit, ihm
+Bescheid zu geben. Jetzt sah es an der nächsten Straßenecke einen
+Jungen stehen, der eine kleine Drehorgel auf dem Rücken und ein
+ganz kurioses Tier auf dem Arme trug. Heidi lief zu ihm hin und
+fragte: "Wo ist der Turm mit der goldenen Kugel zuoberst?"
+
+"Weiß nicht", war die Antwort.
+
+"Wen kann ich denn fragen, wo er sei?", fragte Heidi weiter.
+
+"Weiß nicht."
+
+"Weißt du keine andere Kirche mit einem hohen Turm?"
+
+"Freilich weiß ich eine."
+
+"So komm und zeige mir sie."
+
+"Zeig du zuerst, was du mir dafür gibst." Der Junge hielt seine
+Hand hin. Heidi suchte in seiner Tasche herum. Jetzt zog es ein
+Bildchen hervor, darauf ein schönes Kränzchen von roten Rosen
+gemalt war; erst sah es noch eine kleine Weile darauf hin, denn es
+reute Heidi ein wenig. Erst heute Morgen hatte Klara es ihm
+geschenkt; aber hinuntersehen ins Tal, über die grünen Abhänge!
+"Da", sagte Heidi und hielt das Bildchen hin, "willst du das?"
+
+Der Junge zog die Hand zurück und schüttelte den Kopf.
+
+"Was willst du denn?", fragte Heidi und steckte vergnügt sein
+Bildchen wieder ein.
+
+"Geld."
+
+"Ich habe keins, aber Klara hat, sie gibt mir dann schon; wie viel
+willst du?"
+
+"Zwanzig Pfennige."
+
+"So komm jetzt."
+
+Nun wanderten die beiden eine lange Straße hin, und auf dem Wege
+fragte Heidi den Begleiter, was er auf dem Rücken trage, und er
+erklärte ihm, es sei eine schöne Orgel unter dem Tuch, die mache
+eine prachtvolle Musik, wenn er daran drehe.
+
+Auf einmal standen sie vor einer alten Kirche mit hohem Turm; der
+Junge stand still und sagte: "Da."
+
+"Aber wie komm ich da hinein?", fragte Heidi, als es die fest
+verschlossenen Türen sah.
+
+"Weiß nicht", war wieder die Antwort.
+
+"Glaubst du, man könne hier klingeln, so wie man dem Sebastian tut?"
+
+"Weiß nicht."
+
+Heidi hatte eine Klingel entdeckt an der Mauer und zog jetzt aus
+allen Kräften daran.
+
+"Wenn ich dann hinaufgehe, so musst du warten hier unten, ich weiß
+jetzt den Weg nicht mehr zurück, du musst mir ihn dann zeigen."
+
+"Was gibst du mir dann?"
+
+"Was muss ich dir dann wieder geben?"
+
+"Wieder zwanzig Pfennige."
+
+Jetzt wurde das alte Schloss inwendig umgedreht und die knarrende
+Tür geöffnet; ein alter Mann trat heraus und schaute erst
+verwundert, dann ziemlich erzürnt auf die Kinder und fuhr sie an:
+"Was untersteht ihr euch, mich da herunterzuklingeln? Könnt ihr
+nicht lesen, was über der Klingel steht: 'Für solche, die den
+Turm besteigen wollen'?"
+
+Der Junge wies mit dem Zeigefinger auf Heidi und sagte kein Wort.
+Heidi antwortete: "Eben auf den Turm wollt ich."
+
+"Was hast du droben zu tun?", fragte der Türmer; "hat dich jemand
+geschickt?"
+
+"Nein", entgegnete Heidi, "ich möchte nur hinaufgehen, dass ich
+hinuntersehen kann."
+
+"Macht, dass ihr heimkommt, und probiert den Spaß nicht wieder,
+oder ihr kommt nicht gut weg zum zweiten Mal!" Damit kehrte sich
+der Türmer um und wollte die Tür zumachen.
+
+Aber Heidi hielt ihn ein wenig am Rockschoß und sagte bittend: "Nur
+ein einziges Mal!"
+
+Er sah sich um, und Heidis Augen schauten so flehentlich zu ihm auf,
+dass es ihn ganz umstimmte; er nahm das Kind bei der Hand und
+sagte freundlich: "Wenn dir so viel daran gelegen ist, so komm mit
+mir!"
+
+Der Junge setzte sich auf die steinernen Stufen vor der Tür nieder
+und zeigte, dass er nicht mitwollte.
+
+Heidi stieg an der Hand des Türmers viele, viele Treppen hinauf;
+dann wurden diese immer schmäler, und endlich ging es noch ein ganz
+enges Treppchen hinauf, und nun waren sie oben. Der Türmer hob
+Heidi vom Boden auf und hielt es an das offene Fenster.
+
+"Da, jetzt guck hinunter", sagte er.
+
+Heidi sah auf ein Meer von Dächern, Türmen und Schornsteinen nieder;
+es zog bald seinen Kopf zurück und sagte niedergeschlagen: "Es ist
+gar nicht, wie ich gemeint habe."
+
+"Siehst du wohl? Was versteht so ein Kleines von Aussicht! So,
+komm nun wieder herunter und läute nie mehr an einem Turm!"
+
+Der Türmer stellte Heidi wieder auf den Boden und stieg ihm voran
+die schmalen Stufen hinab. Wo diese breiter wurden, kam links die
+Tür, die in des Türmers Stübchen führte, und nebenan ging der Boden
+bis unter das schräge Dach hin. Dort hinten stand ein großer Korb
+und davor saß eine dicke graue Katze und knurrte, denn in dem Korb
+wohnte ihre Familie und sie wollte jeden Vorübergehenden davor
+warnen, sich in ihre Familienangelegenheiten zu mischen. Heidi
+stand still und schaute verwundert hinüber, eine so mächtige Katze
+hatte es noch nie gesehen; in dem alten Turm wohnten aber ganze
+Herden von Mäusen, so holte sich die Katze ohne Mühe jeden Tag ein
+halbes Dutzend Mäusebraten. Der Türmer sah Heidis Bewunderung und
+sagte: "Komm, sie tut dir nichts, wenn ich dabei bin; du kannst die
+Jungen ansehen."
+
+Heidi trat an den Korb heran und brach in ein großes Entzücken aus.
+
+"Oh, die netten Tierlein! Die schönen Kätzchen!", rief es ein Mal
+ums andere und sprang hin und her um den Korb herum, um auch recht
+alle komischen Gebärden und Sprünge zu sehen, welche die sieben
+oder acht jungen Kätzchen vollführten, die in dem Korb rastlos
+übereinanderhin krabbelten, sprangen, fielen.
+
+"Willst du eins haben?", fragte der Türmer, der Heidis
+Freudensprüngen vergnügt zuschaute.
+
+"Selbst für mich? Für immer?", fragte Heidi gespannt und konnte
+das große Glück fast nicht glauben.
+
+"Ja, gewiss, du kannst auch noch mehr haben, du kannst sie alle
+zusammen haben, wenn du Platz hast", sagte der Mann, dem es gerade
+recht war, seine kleinen Katzen loszuwerden, ohne dass er ihnen ein
+Leid antun musste.
+
+Heidi war im höchsten Glück. In dem großen Hause hatten ja die
+Kätzchen so viel Platz, und wie musste Klara erstaunt und erfreut
+sein, wenn die niedlichen Tierchen ankamen!
+
+"Aber wie kann ich sie mitnehmen?", fragte nun Heidi und wollte
+schnell einige fangen mit seinen Händen, aber die dicke Katze
+sprang ihm auf den Arm und fauchte es so grimmig an, dass es sehr
+erschrocken zurückfuhr.
+
+"Ich will sie dir bringen, sag nur, wohin", sagte der Türmer, der
+die alte Katze nun streichelte, um sie wieder gut zu machen, denn
+sie war seine Freundin und hatte schon viele Jahre mit ihm auf dem
+Turm gelebt.
+
+"Zum Herrn Sesemann in dem großen Haus, wo an der Haustür ein
+goldener Hundskopf ist mit einem dicken Ring im Maul", erklärte
+Heidi.
+
+Es hätte nicht einmal so viel gebraucht für den Türmer, der schon
+seit langen Jahren auf dem Turm saß und jedes Haus weithin kannte,
+und dazu war der Sebastian noch ein alter Bekannter von ihm.
+
+"Ich weiß schon", bemerkte er; "aber wem muss ich die Dinger
+bringen, bei wem muss ich nachfragen, du gehörst doch nicht Herrn
+Sesemann?"
+
+"Nein, aber die Klara, sie hat eine so große Freude, wenn die
+Kätzchen kommen!"
+
+Der Türmer wollte nun weitergehen, aber Heidi konnte sich von dem
+unterhaltenden Schauspiel fast nicht trennen.
+
+"Wenn ich nur schon eins oder zwei mitnehmen könnte! Eins für mich
+und eins für Klara, kann ich nicht?"
+
+"So wart ein wenig", sagte der Türmer, trug dann die alte Katze
+behutsam in sein Stübchen hinein und stellte sie an das
+Essschüsselchen hin, schloss die Tür vor ihr zu und kam zurück: "So,
+nun nimm zwei!"
+
+Heidis Augen leuchteten vor Wonne. Es las ein weißes und dann ein
+gelb und weiß gestreiftes aus und steckte eins in die rechte und
+eins in die linke Tasche. Nun ging's die Treppe hinunter.
+
+Der Junge saß noch auf den Stufen draußen, und als nun der Türmer
+hinter Heidi die Tür zugeschlossen hatte, sagte das Kind: "Welchen
+Weg müssen wir nun zu Herrn Sesemanns Haus?"
+
+"Weiß nicht", war die Antwort.
+
+Heidi fing nun an zu beschreiben, was es wusste, die Haustür und
+die Fenster und die Treppen, aber der Junge schüttelte zu allem den
+Kopf, es war ihm alles unbekannt.
+
+"Siehst du", fuhr dann Heidi im Beschreiben fort, "aus einem
+Fenster sieht man ein großes, großes, graues Haus und das Dach geht
+so"--Heidi zeichnete hier mit dem Zeigefinger große Zacken in die
+Luft hinaus.
+
+Jetzt sprang der Junge auf, er mochte ähnliche Merkmale haben,
+seine Wege zu finden. Er lief nun in einem Zug drauflos und Heidi
+hinter ihm drein, und in kurzer Zeit standen sie richtig vor der
+Haustür mit dem großen Messing-Tierkopf. Heidi zog die Glocke.
+Bald erschien Sebastian, und wie er Heidi erblickte, rief er
+drängend: "Schnell! Schnell!"
+
+Heidi sprang eilig herein, und Sebastian schlug die Tür zu; den
+Jungen, der verblüfft draußen stand, hatte er gar nicht bemerkt.
+
+"Schnell, Mamsellchen", drängte Sebastian weiter, "gleich ins
+Esszimmer hinein, sie sitzen schon am Tisch. Fräulein Rottenmeier
+sieht aus wie eine geladene Kanone; was stellt aber auch die kleine
+Mamsell an, so fortzulaufen?"
+
+Heidi war ins Zimmer getreten. Fräulein Rottenmeier blickte nicht
+auf; Klara sagte auch nichts, es war eine etwas unheimliche Stille.
+Sebastian rückte Heidi den Sessel zurecht. Jetzt, wie es auf
+seinem Stuhl saß, begann Fräulein Rottenmeier mit strengem Gesicht
+und einem ganz feierlich-ernsten Ton: "Adelheid, ich werde nachher
+mit dir sprechen, jetzt nur so viel: Du hast dich sehr ungezogen,
+wirklich strafbar benommen, dass du das Haus verlässt, ohne zu
+fragen, ohne dass jemand ein Wort davon wusste, und herumstreichst
+bis zum späten Abend; es ist eine völlig beispiellose Aufführung."
+
+"Miau", tönte es wie als Antwort zurück.
+
+Aber jetzt stieg der Zorn der Dame. "Wie, Adelheid", rief sie in
+immer höheren Tönen, "du unterstehst dich noch, nach aller
+Ungezogenheit einen schlechten Spaß zu machen? Hüte dich wohl, sag
+ich dir!"
+
+"Ich mache", fing Heidi an--"Miau! Miau!"
+
+Sebastian warf fast seine Schüssel auf den Tisch und stürzte hinaus.
+
+"Es ist genug", wollte Fräulein Rottenmeier rufen; aber vor
+Aufregung tönte ihre Stimme gar nicht mehr. "Steh auf und verlass
+das Zimmer."
+
+Heidi stand erschrocken von seinem Sessel auf und wollte noch
+einmal erklären: "Ich mache gewiss"--"Miau! Miau! Miau!"
+
+"Aber Heidi", sagte jetzt Klara, "wenn du doch siehst, dass du
+Fräulein Rottenmeier so böse machst, warum machst du immer wieder
+'miau'?"
+
+"Ich mache nicht, die Kätzlein machen", konnte Heidi endlich
+ungestört hervorbringen.
+
+"Wie? Was? Katzen? junge Katzen?", schrie Fräulein Rottenmeier
+auf. "Sebastian! Tinette! Sucht die greulichen Tiere! Schafft
+sie fort!" Damit stürzte die Dame ins Studierzimmer hinein und
+riegelte die Türen zu, um sicherer zu sein, denn junge Katzen waren
+für Fräulein Rottenmeier das Schrecklichste in der Schöpfung.
+Sebastian stand draußen vor der Tür und musste erst fertig lachen,
+eh er wieder eintreten konnte. Er hatte, als er Heidi bediente,
+einen kleinen Katzenkopf aus dessen Tasche herausgucken gesehen und
+sah dem Spektakel entgegen, und wie er nun ausbrach, konnte er sich
+nicht mehr halten, kaum noch seine Schüssel auf den Tisch setzen.
+Endlich trat er denn wieder gefasst ins Zimmer herein, nachdem die
+Hilferufe der geängsteten Dame schon längere Zeit verklungen waren.
+Jetzt sah es ganz still und friedlich aus drinnen; Klara hielt die
+Kätzchen auf ihrem Schoß, Heidi kniete neben ihr und beide spielten
+mit großer Wonne mit den zwei winzigen, graziösen Tierchen.
+
+"Sebastian", sagte Klara zu dem Eintretenden, "Sie müssen uns
+helfen; Sie müssen ein Nest finden für die Kätzchen, wo Fräulein
+Rottenmeier sie nicht sieht, denn sie fürchtet sich vor ihnen und
+will sie forthaben; aber wir wollen die niedlichen Tierchen
+behalten und sie immer hervorholen, sobald wir allein sind. Wo
+kann man sie hintun?"
+
+"Das will ich schon besorgen, Fräulein Klara", entgegnete Sebastian
+bereitwillig; "ich mache ein schönes Bettchen in einem Korb und
+stelle den an einen Ort, wo mir die furchtsame Dame nicht dahinter
+kommt, verlassen Sie sich auf mich." Sebastian ging gleich an die
+Arbeit und kicherte beständig vor sich hin, denn er dachte: "Das
+wird noch was absetzen!", und der Sebastian sah es nicht ungern,
+wenn Fräulein Rottenmeier ein wenig in Aufregung geriet.
+
+Nach längerer Zeit erst, als der Augenblick des Schlafengehens
+nahte, machte Fräulein Rottenmeier ein ganz klein wenig die Tür auf
+und rief durch das Spältchen heraus: "Sind die abscheulichen Tiere
+fortgeschafft?"
+
+"Jawohl! Jawohl!", gab Sebastian zurück, der sich im Zimmer zu
+schaffen gemacht hatte in Erwartung dieser Frage. Schnell und
+leise fasste er die beiden Kätzchen auf Klaras Schoß und verschwand
+damit.
+
+Die besondere Strafrede, die Fräulein Rottenmeier Heidi noch zu
+halten gedachte, verschob sie auf den folgenden Tag, denn heute
+fühlte sie sich zu erschöpft nach all den vorhergegangenen
+Gemütsbewegungen von Ärger, Zorn und Schrecken, die ihr Heidi ganz
+unwissentlich nacheinander verursacht hatte. Sie zog sich
+schweigend zurück, und Klara und Heidi folgten vergnügt nach, denn
+sie wussten ihre Kätzchen in einem guten Bett.
+
+
+
+
+Im Hause Sesemann geht's unruhig zu
+
+Als Sebastian am folgenden Morgen dem Herrn Kandidaten die Haustür
+geöffnet und ihn zum Studierzimmer geführt hatte, zog schon wieder
+jemand die Hausglocke an, aber mit solcher Gewalt, dass Sebastian
+die Treppe völlig hinunterschoss, denn er dachte: "So schellt nur
+der Herr Sesemann selbst, er muss unerwartet nach Hause gekommen
+sein." Er riss die Tür auf--ein zerlumpter Junge mit einer
+Drehorgel auf dem Rücken stand vor ihm.
+
+"Was soll das heißen?", fuhr ihn Sebastian an. "Ich will dich
+lehren, Glocken herunterzureißen! Was hast du hier zu tun?"
+
+"Ich muss zur Klara", war die Antwort.
+
+"Du ungewaschener Straßenkäfer du; kannst du nicht sagen
+'Fräulein Klara', wie unsereins tut? Was hast du bei Fräulein
+Klara zu tun?", fragte Sebastian barsch.
+
+"Sie ist mir vierzig Pfennige schuldig", erklärte der Junge.
+
+"Du bist, denk ich, nicht recht im Kopf! Wie weißt du überhaupt,
+dass ein Fräulein Klara hier ist?"
+
+"Gestern habe ich ihr den Weg gezeigt, macht zwanzig, und dann
+wieder zurück den Weg gezeigt, macht vierzig."
+
+"Da siehst du, was für Zeug du zusammenflunkerst; Fräulein Klara
+geht niemals aus, kann gar nicht gehen, mach, dass du dahin kommst,
+wo du hingehörst, bevor ich dir dazu verhelfe!"
+
+Aber der Junge ließ sich nicht einschüchtern; er blieb unbeweglich
+stehen und sagte trocken: "Ich habe sie doch gesehen auf der Straße,
+ich kann sie beschreiben: Sie hat kurzes, krauses Haar, das ist
+schwarz, und die Augen sind schwarz und der Rock ist braun, und sie
+kann nicht reden wie wir."
+
+"Oho", dachte jetzt Sebastian und kicherte in sich hinein, "das ist
+die kleine Mamsell, die hat wieder etwas angestellt." Dann sagte er,
+den Jungen hereinziehend: "'s ist schon recht, komm mir nur nach
+und warte vor der Tür, bis ich wieder herauskomme. Wenn ich dich
+dann einlasse, kannst du gleich etwas spielen; das Fräulein hört es
+gern."
+
+Oben klopfte er am Studierzimmer und wurde hereingerufen.
+
+"Es ist ein Junge da, der durchaus an Fräulein Klara selbst etwas
+zu bestellen hat", berichtete Sebastian.
+
+Klara war sehr erfreut über das außergewöhnliche Ereignis.
+
+"Er soll nur gleich hereinkommen", sagte sie, "nicht wahr, Herr
+Kandidat, wenn er doch mit mir selbst sprechen muss."
+
+Der Junge war schon eingetreten, und nach Anweisung fing er sofort
+seine Orgel zu drehen an. Fräulein Rottenmeier hatte, um dem Abc
+auszuweichen, sich im Esszimmer allerlei zu schaffen gemacht. Auf
+einmal horchte sie auf.--Kamen die Töne von der Straße her? Aber
+so nahe? Wie konnte vom Studierzimmer her eine Drehorgel ertönen?
+Und dennoch--wahrhaftig--sie stürzte durch das lange Esszimmer
+und riss die Tür auf. Da--unglaublich--da stand mitten im
+Studierzimmer ein zerlumpter Orgelspieler und drehte sein
+Instrument mit größter Emsigkeit. Der Herr Kandidat schien
+immerfort etwas sagen zu wollen, aber es wurde nichts vernommen.
+Klara und Heidi hörten mit ganz erfreuten Gesichtern der Musik zu.
+
+"Aufhören! Sofort aufhören!", rief Fräulein Rottenmeier ins Zimmer
+hinein. Ihre Stimme wurde übertönt von der Musik. Jetzt lief sie
+auf den Jungen zu--aber auf einmal hatte sie etwas zwischen den
+Füßen, sie sah auf den Boden: ein grausiges, schwarzes Tier kroch
+ihr zwischen den Füßen durch--eine Schildkröte. Jetzt tat
+Fräulein Rottenmeier einen Sprung in die Höhe, wie sie seit vielen
+Jahren keinen getan hatte, dann schrie sie aus Leibeskräften:
+"Sebastian! Sebastian!"
+
+Plötzlich hielt der Orgelspieler inne, denn diesmal hatte die
+Stimme die Musik übertönt. Sebastian stand draußen vor der halb
+offenen Tür und krümmte sich vor Lachen, denn er hatte zugesehen,
+wie der Sprung vor sich ging. Endlich kam er herein. Fräulein
+Rottenmeier war auf einen Stuhl niedergesunken.
+
+"Fort mit allem, Mensch und Tier! Schaffen Sie sie weg, Sebastian,
+sofort!", rief sie ihm entgegen. Sebastian gehorchte bereitwillig,
+zog den Jungen hinaus, der schnell seine Schildkröte erfasst hatte,
+drückte ihm draußen etwas in die Hand und sagte: "Vierzig für
+Fräulein Klara, und vierzig fürs Spielen, das hast du gut gemacht";
+damit schloss er hinter ihm die Haustür. Im Studierzimmer war es
+wieder ruhig geworden; die Studien wurden wieder fortgesetzt, und
+Fräulein Rottenmeier hatte sich nun auch festgesetzt in dem Zimmer,
+um durch ihre Gegenwart ähnliche Gräuel zu verhüten. Den Vorfall
+wollte sie nach den Unterrichtsstunden untersuchen und den
+Schuldigen so bestrafen, dass er daran denken würde.
+
+Schon wieder klopfte es an die Tür, und herein trat abermals
+Sebastian mit der Nachricht, es sei ein großer Korb gebracht worden,
+der sogleich an Fräulein Klara selbst abzugeben sei.
+
+"An mich?", fragte Klara erstaunt und äußerst neugierig, was das
+sein möchte; "zeigen Sie doch gleich einmal her, wie er aussieht."
+
+Sebastian brachte einen bedeckten Korb herein und entfernte sich
+dann eilig wieder.
+
+"Ich denke, erst wird der Unterricht beendet, dann der Korb
+ausgepackt", bemerkte Fräulein Rottenmeier.
+
+Klara konnte sich nicht vorstellen, was man ihr gebracht hatte; sie
+schaute sehr verlangend nach dem Korb.
+
+"Herr Kandidat", sagte sie, sich selbst in ihrem Deklinieren
+unterbrechend, "könnte ich nicht nur einmal schnell hineinsehen, um
+zu wissen, was drin ist, und dann gleich wieder fortfahren?"
+
+"In einer Hinsicht könnte man dafür, in einer anderen dawider sein",
+entgegnete der Herr Kandidat; "_dafür_ spräche der Grund, dass,
+wenn nun Ihre ganze Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand gerichtet
+ist--"; die Rede konnte nicht beendigt werden. Der Deckel des
+Korbes saß nur lose darauf, und nun sprangen mit einem Mal ein,
+zwei drei und wieder zwei und immer noch mehr junge Kätzchen
+darunter hervor und ins Zimmer hinaus, und mit einer so
+unbegreiflichen Schnelligkeit fuhren sie überall herum, dass es war,
+als wäre das ganze Zimmer voll solcher Tierchen. Sie sprangen
+über die Stiefel des Herrn Kandidaten, bissen an seinen
+Beinkleidern, kletterten am Kleid von Fräulein Rottenmeier empor,
+krabbelten um ihre Füße herum, sprangen an Klaras Sessel hinauf,
+kratzten, krabbelten, miauten; es war ein arges Gewirre. Klara
+rief immerfort voller Entzücken: "Oh, die niedlichen Tierchen! Die
+lustigen Sprünge! Sieh! Sieh! Heidi, hier, dort, sieh dieses!"
+Heidi schoss ihnen vor Freude in alle Winkel nach. Der Herr
+Kandidat stand sehr verlegen am Tisch und zog bald den einen, bald
+den andern Fuß in die Höhe, um ihn dem unheimlichen Gekrabbel zu
+entziehen. Fräulein Rottenmeier saß erst sprachlos vor Entsetzen
+in ihrem Sessel, dann fing sie an aus Leibeskräften zu schreien:
+"Tinette! Tinette! Sebastian! Sebastian!", denn vom Sessel
+aufzustehen konnte sie unmöglich wagen, da konnten ja mit einem Mal
+alle die kleinen Scheusale an ihr emporspringen.
+
+Endlich kamen Sebastian und Tinette auf die wiederholten Hilferufe
+herbei, und jener packte gleich eins nach dem andern der kleinen
+Geschöpfe in den Korb hinein und trug sie auf den Estrich zu dem
+Katzenlager, das er für die zwei von gestern bereitet hatte.
+
+Auch am heutigen Tage hatte kein Gähnen während der
+Unterrichtsstunden stattgefunden. Am späten Abend, als Fräulein
+Rottenmeier sich von den Aufregungen des Morgens wieder hinlänglich
+erholt hatte, berief sie Sebastian und Tinette ins Studierzimmer
+herauf, um hier eine gründliche Untersuchung über die strafwürdigen
+Vorgänge anzustellen. Nun kam es denn heraus, dass Heidi auf
+seinem gestrigen Ausflug die sämtlichen Ereignisse vorbereitet und
+herbeigeführt hatte. Fräulein Rottenmeier saß weiß vor Entrüstung
+da und konnte erst keine Worte für ihre Empfindungen finden. Sie
+winkte mit der Hand, dass Sebastian und Tinette sich entfernen
+sollten. Jetzt wandte sie sich an Heidi, das neben Klaras Sessel
+stand und nicht recht begriff, was es verbrochen hatte.
+
+"Adelheid", begann sie mit strengem Ton, "ich weiß nur _eine_
+Strafe, die dir empfindlich sein könnte, denn du bist eine Barbarin;
+aber wir wollen sehen, ob du unten im dunklen Keller bei Molchen
+und Ratten nicht zahm wirst, dass du dir keine solchen Dinge mehr
+einfallen lässt."
+
+Heidi hörte still und verwundert sein Urteil an, denn in einem
+schreckhaften Keller war es noch nie gewesen, der anstoßende Raum
+in der Almhütte, den der Großvater Keller nannte, wo immer die
+fertigen Käse lagen und die frische Milch stand, war eher ein
+anmutiger und einladender Ort, und Ratten und Molche hatte es noch
+keine gesehen.
+
+Aber Klara erhob einen lauten Jammer: "Nein, nein, Fräulein
+Rottenmeier, man muss warten, bis der Papa da ist; er hat ja
+geschrieben, er komme nun bald, und dann will ich ihm alles
+erzählen, und er sagt dann schon, was mit Heidi geschehen soll."
+
+Gegen diesen Oberrichter durfte Fräulein Rottenmeier nichts
+einwenden, umso weniger, da er wirklich in Bälde zu erwarten war.
+Sie stand auf und sagte etwas grimmig: "Gut, Klara, aber auch ich
+werde ein Wort mit Herrn Sesemann sprechen." Damit verließ sie das
+Zimmer.
+
+Es verflossen nun ein paar ungestörte Tage, aber Fräulein
+Rottenmeier kam nicht mehr aus der Aufregung heraus, stündlich trat
+ihr die Täuschung vor Augen, die sie in Heidis Persönlichkeit
+erlebt hatte, und es war ihr, als sei seit seiner Erscheinung im
+Hause Sesemann alles aus den Fugen gekommen und komme nicht wieder
+hinein. Klara war sehr vergnügt; sie langweilte sich nie mehr,
+denn in den Unterrichtsstunden machte Heidi die kurzweiligsten
+Sachen; die Buchstaben machte es immer alle durcheinander und
+konnte sie nie kennen lernen, und wenn der Herr Kandidat mitten im
+Erklären und Beschreiben ihrer Formen war, um sie ihm anschaulicher
+zu machen und als Vergleichung etwa von einem Hörnchen oder einem
+Schnabel sprach dabei, rief es auf einmal in aller Freude aus: "Es
+ist eine Geiß!", oder: "Es ist ein Raubvogel!" Denn die
+Beschreibungen weckten in seinem Gehirn allerlei Vorstellungen, nur
+keine Buchstaben. In den späteren Nachmittagsstunden saß Heidi
+wieder bei Klara und erzählte ihr immer wieder von der Alm und dem
+Leben dort, so viel und so lange, bis das Verlangen darnach in ihm
+so brennend wurde, dass es immer zum Schluss versicherte: "Nun muss
+ich gewiss wieder heim! Morgen muss ich gewiss gehen!" Aber Klara
+beschwichtigte immer wieder diese Anfälle und bewies Heidi, dass es
+doch sicher dableiben müsse, bis der Papa komme; dann werde man
+schon sehen, wie es weitergehe. Wenn Heidi alsdann immer wieder
+nachgab und gleich wieder zufrieden war, so half ihm eine fröhliche
+Aussicht dazu, die es im Stillen hatte, dass mit jedem Tage, den es
+noch dablieb, sein Häuflein Brötchen für die Großmutter wieder um
+zwei größer würde, denn mittags und abends lag immer ein schönes
+Weißbrötchen bei seinem Teller; das steckte es gleich ein, denn es
+hätte das Brötchen nie essen können beim Gedanken, dass die
+Großmutter nie eines habe und das harte, schwarze Brot fast nicht
+mehr essen konnte. Nach Tisch saß Heidi jeden Tag ein paar Stunden
+lang ganz allein in seinem Zimmer und regte sich nicht, denn dass
+es in Frankfurt verboten war, nur so hinauszulaufen, wie es auf der
+Alm getan, das hatte es nun begriffen und tat es nie mehr. Mit
+Sebastian drüben im Esszimmer ein Gespräch führen durfte es auch
+nicht, das hatte Fräulein Rottenmeier auch verboten, und mit
+Tinette eine Unterhaltung zu probieren, daran kam ihm kein Sinn; es
+ging ihr immer scheu aus dem Wege, denn sie redete nur in
+höhnischem Ton mit ihm und spöttelte es fortwährend an, und Heidi
+verstand ihre Art ganz gut, und dass sie es nur immer ausspottete.
+So saß Heidi täglich da und hatte alle Zeit, sich auszudenken, wie
+nun die Alm wieder grün war und wie die gelben Blümchen im
+Sonnenschein glitzerten und wie alles leuchtete rings um die Sonne,
+der Schnee und die Berge und das ganze weite Tal, und Heidi konnte
+es manchmal fast nicht mehr aushalten vor Verlangen, wieder dort zu
+sein. Die Base hatte ja auch gesagt, es könne wieder heimgehen,
+wann es wolle. So kam es, dass Heidi eines Tages es nicht mehr
+aushielt; es packte in aller Eile seine Brötchen in das große rote
+Halstuch zusammen, setzte sein Strohhütchen auf und zog aus. Aber
+schon unter der Haustür traf es auf ein großes Reisehindernis, auf
+Fräulein Rottenmeier selbst, die eben von einem Ausgang
+zurückkehrte. Sie stand still und schaute in starrem Erstaunen
+Heidi von oben bis unten an, und ihr Blick blieb vorzüglich auf dem
+gefüllten roten Halstuch haften. Jetzt brach sie los.
+
+"Was ist das für ein Aufzug? Was heißt das überhaupt? Habe ich
+dir nicht streng verboten, je wieder herumzustreichen? Nun
+probierst du's doch wieder und dazu noch völlig aussehend wie eine
+Landstreicherin."
+
+"Ich wollte nicht herumstreichen, ich wollte nur heimgehen",
+entgegnete Heidi erschrocken.
+
+"Wie? Was? Heimgehen? Heimgehen wolltest du?" Fräulein
+Rottenmeier schlug die Hände zusammen vor Aufregung. "Fortlaufen!
+Wenn das Herr Sesemann wüsste! Fortlaufen aus seinem Hause! Mach
+nicht, dass er das je erfährt! Und was ist dir denn nicht recht in
+seinem Hause? Wirst du nicht viel besser behandelt, als du
+verdienst? Fehlt es dir an irgendetwas? Hast du je in deinem
+ganzen Leben eine Wohnung oder einen Tisch oder eine Bedienung
+gehabt, wie du hier hast? Sag!"
+
+"Nein", entgegnete Heidi.
+
+"Das weiß ich wohl!", fuhr die Dame eifrig fort. "Nichts fehlt dir,
+gar nichts, du bist ein ganz unglaublich undankbares Kind, und vor
+lauter Wohlsein weißt du nicht, was du noch alles anstellen willst!"
+
+Aber jetzt kam dem Heidi alles obenauf, was in ihm war, und brach
+hervor: "Ich will ja nur heim, und wenn ich so lang nicht komme, so
+muss das Schneehöppli immer klagen, und die Großmutter erwartet
+mich, und der Distelfink bekommt die Rute, wenn der Geißenpeter
+keinen Käse bekommt, und hier kann man gar nie sehen, wie die Sonne
+gute Nacht sagt zu den Bergen; und wenn der Raubvogel in Frankfurt
+obenüber fliegen würde, so würde er noch viel lauter krächzen, dass
+so viele Menschen beieinander sitzen und einander bös machen und
+nicht auf den Felsen gehen, wo es einem wohl ist."
+
+"Barmherzigkeit, das Kind ist übergeschnappt!", rief Fräulein
+Rottenmeier aus und stürzte mit Schrecken die Treppe hinauf, wo sie
+sehr unsanft gegen den Sebastian rannte, der eben hinunter wollte.
+"Holen Sie auf der Stelle das unglückliche Wesen herauf!", rief sie
+ihm zu, indem sie sich den Kopf rieb, denn sie war hart angestoßen.
+
+"Ja, ja, schon recht, danke schön", gab Sebastian zurück und rieb
+sich den seinen, denn er war noch härter angefahren.
+
+Heidi stand mit flammenden Augen noch auf derselben Stelle fest und
+zitterte vor innerer Erregung am ganzen Körper.
+
+"Na, schon wieder was angestellt?", fragte Sebastian lustig; als er
+aber Heidi, das sich nicht rührte, recht ansah, klopfte er ihm
+freundlich auf die Schulter und sagte tröstend: "Pah! Pah! Das
+muss sich das Mamsellchen nicht so zu Herzen nehmen, nur lustig,
+das ist die Hauptsache! Sie hat mir eben jetzt auch fast ein Loch
+in den Kopf gerannt; aber nur nicht einschüchtern lassen! Na?
+Immer noch auf demselben Fleck? Wir müssen hinauf, sie hat's
+befohlen."
+
+Heidi ging nun die Treppe hinauf, aber langsam und leise und gar
+nicht, wie sonst seine Art war. Das tat dem Sebastian Leid zu
+sehen; er ging hinter dem Heidi her und sprach ermutigende Worte zu
+ihm: "Nur nicht abgeben! Nur nicht traurig werden! Nur immer
+tapfer darauf zu! Wir haben ja ein ganz vernünftiges Mamsellchen,
+hat noch gar nie geweint, seit es bei uns ist; sonst weinen sie ja
+zwölfmal im Tag in dem Alter, das kennt man. Die Kätzchen sind
+auch lustig droben, die springen auf dem ganzen Estrich herum und
+tun wie närrisch. Nachher gehen wir mal zusammen hinauf und
+schauen ihnen zu, wenn die Dame drinnen weg ist, ja?"
+
+Heidi nickte ein wenig mit dem Kopf, aber so freudlos, dass es dem
+Sebastian recht zu Herzen ging und er ganz teilnehmend dem Heidi
+nachschaute, wie es nach seinem Zimmer hin schlich.
+
+Am Abendessen heute sagte Fräulein Rottenmeier kein Wort, aber
+fortwährend warf sie sonderbar wachsame Blicke zu Heidi hinüber, so
+als erwartete sie, es könnte plötzlich etwas Unerhörtes unternehmen;
+aber Heidi saß mäuschenstill am Tisch und rührte sich nicht, es aß
+nicht und trank nicht; nur sein Brötchen hatte es schnell in die
+Tasche gesteckt.
+
+Am folgenden Morgen, als der Herr Kandidat die Treppe heraufkam,
+winkte ihn Fräulein Rottenmeier geheimnisvoll ins Esszimmer herein,
+und hier teilte sie ihm in großer Aufregung ihre Besorgnis mit, die
+Luftveränderung, die neue Lebensart und die ungewohnten Eindrücke
+hätten das Kind um den Verstand gebracht, und sie erzählte ihm von
+Heidis Fluchtversuch und wiederholte ihm von seinen sonderbaren
+Reden, was sie noch wusste. Aber der Herr Kandidat besänftigte und
+beruhigte Fräulein Rottenmeier, indem er sie versicherte, dass er
+die Wahrnehmung gemacht habe, die Adelheid sei zwar einerseits
+allerdings eher exzentrisch, aber anderseits doch wieder bei
+richtigem Verstand, so dass sich nach und nach bei einer allseitig
+erwogenen Behandlung das nötige Gleichgewicht einstellen könne, was
+er im Auge habe; er finde den Umstand wichtiger, dass er durchaus
+nicht über das Abc hinauskomme mit ihr, indem sie die Buchstaben
+nicht zu fassen imstande sei.
+
+Fräulein Rottenmeier fühlte sich beruhigter und entließ den Herrn
+Kandidaten zu seiner Arbeit. Am späteren Nachmittag stieg ihr die
+Erinnerung an Heidis Aufzug bei seiner vorgehabten Abreise auf, und
+sie beschloss, die Gewandung des Kindes durch verschiedene
+Kleidungsstücke der Klara in den nötigen Stand zu setzen, bevor
+Herr Sesemann erscheinen würde. Sie teilte ihre Gedanken darüber
+an Klara mit, und da diese mit allem einverstanden war und dem
+Heidi eine Menge Kleider und Tücher und Hüte schenken wollte,
+verfügte sich die Dame in Heidis Zimmer, um seinen Kleiderschrank
+zu besehen und zu untersuchen, was da von dem Vorhandenen bleiben
+und was entfernt werden solle. Aber in wenig Minuten kam sie
+wieder zurück mit Gebärden des Abscheus. "Was muss ich entdecken,
+Adelheid!", rief sie aus. "Es ist nie dagewesen! In deinem
+Kleiderschrank, einem Schrank für Kleider, Adelheid, im Fuß dieses
+Schrankes, was finde ich? Einen Haufen kleiner Brote! Brot, sage
+ich, Klara, im Kleiderschrank! Und einen solchen Haufen
+aufspeichern!"--"Tinette", rief sie jetzt ins Esszimmer hinaus,
+"schaffen Sie mir das alte Brot fort aus dem Schrank der Adelheid
+und den zerdrückten Strohhut auf dem Tisch!"
+
+"Nein! Nein!", schrie Heidi auf; "ich muss den Hut haben, und die
+Brötchen sind für die Großmutter", und Heidi wollte der Tinette
+nachstürzen, aber es wurde von Fräulein Rottenmeier festgehalten.
+
+"Du bleibst hier und der Kram wird hingebracht, wo er hingehört",
+sagte sie bestimmt und hielt das Kind zurück. Aber nun warf sich
+Heidi an Klaras Sessel nieder und fing ganz verzweiflungsvoll zu
+weinen an, immer lauter und schmerzlicher, und schluchzte ein Mal
+ums andere in seinem Jammer auf: "Nun hat die Großmutter keine
+Brötchen mehr. Sie waren für die Großmutter, nun sind sie alle
+fort und die Großmutter bekommt keine!", und Heidi weinte auf, als
+wollte ihm das Herz zerspringen. Fräulein Rottenmeier lief hinaus.
+Klara wurde es angst und bange bei dem Jammer. "Heidi, Heidi,
+weine nur nicht so", sagte sie bittend, "hör mich nur! Jammere nur
+nicht so, sieh, ich verspreche dir, ich gebe dir gerade so viel
+Brötchen für die Großmutter, oder noch mehr, wenn du einmal
+heimgehst, und dann sind diese frisch und weich, und die deinen
+wären ja ganz hart geworden und waren es schon. Komm, Heidi, weine
+nur nicht mehr so!"
+
+Heidi konnte noch lange nicht aus seinem Schluchzen herauskommen;
+aber es verstand Klaras Trost und hielt sich daran, sonst hätte es
+gar nicht mehr zu weinen aufhören können. Es musste auch noch
+mehrere Male seiner Hoffnung gewiss werden und Klara, durch die
+letzten Anfälle von Schluchzen unterbrochen, fragen: "Gibst du mir
+so viele, viele, wie ich hatte, für die Großmutter?"
+
+Und Klara versicherte immer wieder: "Gewiss, ganz gewiss, noch mehr,
+sei nur wieder froh!"
+
+Noch zum Abendtisch kam Heidi mit den rot verweinten Augen, und als
+es sein Brötchen erblickte, musste es gleich noch einmal
+aufschluchzen. Aber es bezwang sich jetzt mit Gewalt, denn es
+verstand, dass es sich am Tisch ruhig verhalten musste. Sebastian
+machte heute jedes Mal die merkwürdigsten Gebärden, wenn er in
+Heidis Nähe kam; er deutete bald auf seinen, bald auf Heidis Kopf,
+dann nickte er wieder und kniff die Augen zu, so als wollte er
+sagen: "Nur getrost! Ich hab's schon gemerkt und besorgt."
+
+Als Heidi später in sein Zimmer kam und in sein Bett steigen wollte,
+lag sein zerdrücktes Strohhütchen unter der Decke versteckt. Mit
+Entzücken zog es den alten Hut hervor, zerdrückte ihn vor lauter
+Freude noch ein wenig mehr und versteckte ihn dann, in ein
+Taschentüchlein eingewickelt, in die allerhinterste Ecke seines
+Schrankes. Das Hütchen hatte der Sebastian unter die Decke
+gesteckt; er war zu gleicher Zeit mit Tinette im Esszimmer gewesen,
+als diese gerufen wurde, und hatte Heidis Jammerruf vernommen.
+Dann war er Tinette nachgegangen, und als sie aus Heidis Zimmer
+heraustrat mit ihrer Brotlast und dem Hütchen oben darauf, hatte er
+schnell dieses weggenommen und ihr zugerufen: "Das will ich schon
+forttun." Darauf hatte er es in aller Freude für Heidi gerettet,
+was er ihm beim Abendessen zur Erheiterung andeuten wollte.
+
+
+
+
+Der Hausherr hört allerlei in seinem Hause, das er noch nicht
+gehört hat
+
+Einige Tage nach diesen Ereignissen war im Hause Sesemann große
+Lebendigkeit und ein eifriges Treppauf- und Treppabrennen, denn
+eben war der Hausherr von seiner Reise zurückgekehrt, und aus dem
+bepackten Wagen wurde von Sebastian und Tinette eine Last nach der
+anderen hinaufgetragen, denn Herr Sesemann brachte immer eine Menge
+schöner Sachen mit nach Hause.
+
+Er selbst war vor allem in das Zimmer seiner Tochter eingetreten,
+um sie zu begrüßen. Heidi saß bei ihr, denn es war die Zeit des
+späten Nachmittags, da die beiden immer zusammen waren. Klara
+begrüßte ihren Vater mit großer Zärtlichkeit, denn sie liebte ihn
+sehr, und der gute Papa grüßte sein Klärchen nicht weniger
+liebevoll. Dann streckte er seine Hand dem Heidi entgegen, das
+sich leise in eine Ecke zurückgezogen hatte, und sagte freundlich:
+"Und das ist unsre kleine Schweizerin; komm her, gib mir mal eine
+Hand! So ist's recht! Nun sag mir mal, seid ihr auch gute Freunde
+zusammen, Klara und du? Nicht zanken und böse werden, und dann
+weinen und dann versöhnen, und dann wieder von vorn anfangen, nun?"
+
+"Nein, Klara ist immer gut mit mir", entgegnete Heidi.
+
+"Und Heidi hat auch noch gar nie versucht zu zanken, Papa", warf
+Klara schnell ein.
+
+"So ist's gut, das hör ich gern", sagte der Papa, indem er aufstand.
+"Nun musst du aber erlauben, Klärchen, dass ich etwas genieße;
+heute habe ich noch nichts bekommen. Nachher komm ich wieder zu
+dir und du sollst sehen, was ich mitgebracht habe!"
+
+Herr Sesemann trat ins Esszimmer ein, wo Fräulein Rottenmeier den
+Tisch überschaute, der für sein Mittagsmahl gerüstet war. Nachdem
+Herr Sesemann sich niedergelassen und die Dame ihm gegenüber Platz
+genommen hatte und aussah wie ein lebendiges Missgeschick, wandte
+sich der Hausherr zu ihr: "Aber Fräulein Rottenmeier, was muss ich
+denken? Sie haben zu meinem Empfang ein wahrhaft erschreckendes
+Gesicht aufgesetzt. Wo fehlt es denn? Klärchen ist ganz munter."
+
+"Herr Sesemann", begann die Dame mit gewichtigem Ernst, "Klara ist
+mit betroffen, wir sind fürchterlich getäuscht worden."
+
+"Wieso?", fragte Herr Sesemann und trank in aller Ruhe einen
+Schluck Wein.
+
+"Wir hatten ja beschlossen, wie Sie wissen, Herr Sesemann, eine
+Gespielin für Klara ins Haus zu nehmen, und da ich ja weiß, wie
+sehr Sie darauf halten, dass nur Gutes und Edles Ihre Tochter
+umgebe, hatte ich meinen Sinn auf ein junges Schweizermädchen
+gerichtet, indem ich hoffte, eines jener Wesen bei uns eintreten zu
+sehen, von denen ich schon so oft gelesen, welche, der reinen
+Bergluft entsprossen, sozusagen, ohne die Erde zu berühren, durch
+das Leben gehen."
+
+"Ich glaube zwar", bemerkte hier Herr Sesemann, "dass auch die
+Schweizerkinder den Erdboden berühren, wenn sie vorwärts kommen
+wollen; sonst wären ihnen wohl Flügel gewachsen statt der Füße."
+
+"Ach, Herr Sesemann, Sie verstehen mich wohl", fuhr das Fräulein
+fort; "Ich meinte eine jener so bekannten, in den hohen, reinen
+Bergregionen lebenden Gestalten, die nur wie ein idealer Hauch an
+uns vorüberziehen."
+
+"Was sollte aber meine Klara mit einem idealen Hauch anfangen,
+Fräulein Rottenmeier?"
+
+"Nein, Herr Sesemann, ich scherze nicht, die Sache ist mir ernster,
+als Sie denken; ich bin schrecklich, wirklich ganz schrecklich
+getäuscht worden."
+
+"Aber worin liegt denn das Schreckliche? So gar erschrecklich
+sieht mir das Kind nicht aus", bemerkte ruhig Herr Sesemann.
+
+"Sie sollten nur _eines_ wissen, Herr Sesemann, nur das _eine_, mit
+was für Menschen und Tieren dieses Wesen Ihr Haus in Ihrer
+Abwesenheit bevölkert hat; davon könnte der Herr Kandidat erzählen."
+
+"Mit Tieren? Wie muss ich das verstehen, Fräulein Rottenmeier?"
+
+"Es ist eben nicht zu verstehen; die ganze Aufführung dieses Wesens
+wäre nicht zu verstehen, wenn nicht aus dem _einen_ Punkte, dass es
+Anfälle von völliger Verstandesgestörtheit hat."
+
+Bis hierher hatte Herr Sesemann die Sache nicht für wichtig
+gehalten; aber Gestörtheit des Verstandes? Eine solche konnte ja
+für seine Tochter die bedenklichsten Folgen haben. Herr Sesemann
+schaute Fräulein Rottenmeier sehr genau an, so, als wollte er sich
+erst versichern, ob nicht etwa bei ihr eine derartige Störung zu
+bemerken sei. In diesem Augenblick wurde die Tür aufgetan und der
+Herr Kandidat angemeldet.
+
+"Ah, da kommt unser Herr Kandidat, der wird uns Aufschluss geben!",
+rief ihm Herr Sesemann entgegen. "Kommen Sie, kommen Sie, setzen
+Sie sich zu mir!" Herr Sesemann streckte dem Eintretenden die Hand
+entgegen. "Der Herr Kandidat trinkt eine Tasse schwarzen Kaffee
+mit mir, Fräulein Rottenmeier! Setzen Sie sich, setzen Sie sich--
+keine Komplimente! Und nun sagen Sie mir, Herr Kandidat, was ist
+mit dem Kinde, das als Gespielin meiner Tochter ins Haus gekommen
+ist und das Sie unterrichten. Was hat es für eine Bewandtnis mit
+den Tieren, die es ins Haus gebracht, und wie steht es mit seinem
+Verstand?"
+
+Der Herr Kandidat musste erst seine Freude über Herrn Sesemanns
+glückliche Rückkehr aussprechen und ihn willkommen heißen, weswegen
+er ja gekommen war; aber Herr Sesemann drängte ihn, dass er ihm
+Aufschluss gebe über die fraglichen Punkte. So begann denn der
+Herr Kandidat: "Wenn ich mich über das Wesen dieses jungen Mädchens
+aussprechen soll, Herr Sesemann, so möchte ich vor allem darauf
+aufmerksam machen, dass, wenn auch auf der einen Seite sich ein
+Mangel der Entwicklung, welcher durch eine mehr oder weniger
+vernachlässigte Erziehung, oder besser gesagt, etwas verspäteten
+Unterricht verursacht und durch die mehr oder weniger, jedoch
+durchaus nicht in jeder Beziehung zu verurteilende, im Gegenteil
+ihre guten Seiten unstreitig dartuende Abgeschiedenheit eines
+längeren Alpenaufenthalts, welcher, wenn er nicht eine gewisse
+Dauer überschreitet, ja ohne Zweifel seine gute Seite--"
+
+"Mein lieber Herr Kandidat", unterbrach hier Herr Sesemann, "Sie
+geben sich wirklich zu viel Mühe; sagen Sie mir, hat auch Ihnen das
+Kind einen Schrecken beigebracht durch eingeschleppte Tiere, und
+was halten Sie überhaupt von diesem Umgang für mein Töchterchen?"
+
+"Ich möchte dem jungen Mädchen in keiner Art zu nahe treten",
+begann der Herr Kandidat wieder, "denn wenn es auch auf der einen
+Seite in einer Art von gesellschaftlicher Unerfahrenheit, welche
+mit dem mehr oder weniger unkultivierten Leben, in welchem das
+junge Mädchen bis zu dem Augenblick seiner Versetzung nach
+Frankfurt sich bewegte, welche Versetzung allerdings in die
+Entwicklung dieses, ich möchte sagen noch völlig, wenigstens
+teilweise unentwickelten, aber anderseits mit nicht zu verachtenden
+Anlagen begabten und wenn allseitig umsichtig geleitet--"
+
+"Entschuldigen Sie, Herr Kandidat, bitte, lassen Sie sich nicht
+stören, ich werde--ich muss schnell einmal nach meiner Tochter
+sehen." Damit lief Herr Sesemann zur Tür hinaus und kam nicht
+wieder. Drüben im Studierzimmer setzte er sich zu seinem
+Töchterchen hin; Heidi war aufgestanden. Herr Sesemann wandte sich
+nach dem Kinde um: "Hör mal, Kleine, hol mir doch schnell--wart
+einmal--hol mir mal"--(Herr Sesemann wusste nicht recht, was er
+bedurfte, Heidi sollte aber ein wenig ausgeschickt werden)--"hol
+mir doch mal ein Glas Wasser."
+
+"Frisches?", fragte Heidi.
+
+"Jawohl! Jawohl! Recht frisches!", gab Herr Sesemann zurück.
+Heidi verschwand.
+
+"Nun, mein liebes Klärchen", sagte der Papa, indem er ganz nah an
+sein Töchterchen heranrückte und dessen Hand in die seinige legte,
+"sag du mir klar und fasslich: Was für Tiere hat diese deine
+Gespielin ins Haus gebracht und warum muss Fräulein Rottenmeier
+denken, sie sei zeitweise nicht ganz recht im Kopf; kannst du mir
+das sagen?"
+
+Das konnte Klara, denn die erschrockene Dame hatte auch ihr von
+Heidis sich verwirrenden Reden gesprochen, die aber für Klara alle
+einen Sinn hatten. Sie erzählte erst dem Vater die Geschichten von
+der Schildkröte und den jungen Katzen und erklärte ihm dann Heidis
+Reden, welche die Dame so erschreckt hatten. Jetzt lachte Herr
+Sesemann herzlich. "So willst du nicht, dass ich das Kind nach
+Haus schicke, Klärchen, du bist seiner nicht müde?", fragte der
+Vater.
+
+"Nein, nein, Papa, tu nur das nicht!", rief Klara abwehrend aus.
+"Seit Heidi da ist, begegnet immer etwas, jeden Tag, und es ist so
+kurzweilig, ganz anders als vorher, da begegnete nie etwas, und
+Heidi erzählt mir auch so viel."
+
+"Schon gut, schon gut, Klärchen, da kommt ja auch deine Freundin
+schon wieder. Na, schönes, frisches Wasser geholt?", fragte Herr
+Sesemann, da ihm Heidi nun ein Glas Wasser hinstreckte.
+
+"Ja, frisch vom Brunnen", antwortete Heidi.
+
+"Du bist doch nicht selbst zum Brunnen gelaufen, Heidi?", sagte
+Klara.
+
+"Doch gewiss, es ist ganz frisch, aber ich musste weit gehen, denn
+am ersten Brunnen waren so viele Leute. Da ging ich die Straße
+ganz hinab, aber beim zweiten waren wieder so viele Leute; da ging
+ich in die andere Straße hinein und dort nahm ich Wasser, und der
+Herr mit den weißen Haaren lässt Herrn Sesemann freundlich grüßen."
+
+"Na, die Expedition ist gut", lachte Herr Sesemann, "und wer ist
+denn der Herr?"
+
+"Er kam beim Brunnen vorbei und dann stand er still und sagte:
+'Weil du doch ein Glas hast, so gib mir auch einmal zu
+trinken; wem bringst du dein Glas Wasser?' Und ich sagte:
+'Herrn Sesemann.' Da lachte er sehr stark, und dann
+sagte er den Gruß und auch noch, Herr Sesemann solle sich's
+schmecken lassen."
+
+"So, und wer lässt mir denn wohl den guten Wunsch sagen? Wie sah
+der Herr denn weiter aus?", fragte Herr Sesemann.
+
+"Er lacht freundlich und hat eine dicke goldene Kette und ein
+goldenes Ding hängt daran mit einem großen roten Stein und auf
+seinem Stock ist ein Rosskopf."
+
+"Das ist der Herr Doktor"--"Das ist mein alter Doktor", sagten
+Klara und ihr Vater wie aus einem Munde, und Herr Sesemann lachte
+noch ein wenig in sich hinein im Gedanken an seinen Freund und
+dessen Betrachtungen über diese neue Weise, seinen Wasserbedarf
+sich zuführen zu lassen.
+
+Noch an demselben Abend erklärte Herr Sesemann, als er allein mit
+Fräulein Rottenmeier im Esszimmer saß, um allerlei häusliche
+Angelegenheiten mit ihr zu besprechen, die Gespielin seiner Tochter
+werde im Hause bleiben; er finde, das Kind sei in einem normalen
+Zustand, und seine Gesellschaft sei seiner Tochter sehr lieb und
+angenehmer als jede andere. "Ich wünsche daher", setzte Herr
+Sesemann sehr bestimmt hinzu, "dass dieses Kind jederzeit durchaus
+freundlich behandelt und seine Eigentümlichkeiten nicht als
+Vergehen betrachtet werden. Sollten Sie übrigens mit dem Kinde
+nicht allein fertig werden, Fräulein Rottenmeier, so ist ja eine
+gute Hilfe für Sie in Aussicht, da in nächster Zeit meine Mutter zu
+ihrem längeren Aufenthalt in mein Haus kommt, und meine Mutter wird
+mit jedem Menschen fertig, wie er sich auch anstelle, das wissen
+Sie ja wohl, Fräulein Rottenmeier?"
+
+"Jawohl, das weiß ich, Herr Sesemann", entgegnete die Dame, aber
+nicht mit dem Ausdruck der Erleichterung im Hinblick auf die
+angezeigte Hilfe.--
+
+Herr Sesemann hatte diesmal nur eine kurze Zeit Ruhe zu Hause,
+schon nach vierzehn Tagen riefen ihn seine Geschäfte wieder nach
+Paris, und er tröstete sein Töchterchen, das mit der nahen Abreise
+nicht einverstanden war, mit der Aussicht auf die baldige Ankunft
+der Großmama, die schon nach einigen Tagen erwartet werden konnte.
+
+Kaum war auch Herr Sesemann abgereist, als schon der Brief anlangte,
+der die Abreise der Frau Sesemann aus Holstein, wo sie auf einem
+alten Gute wohnte, anzeigte und die bestimmte Zeit ihrer Ankunft
+auf den folgenden Tag meldete, damit der Wagen nach dem Bahnhof
+geschickt würde, um sie abzuholen.
+
+Klara war voller Freude über die Nachricht und erzählte noch an
+demselben Abend dem Heidi so viel und so lange von der Großmama,
+dass Heidi auch anfing, von der 'Großmama' zu reden,
+worauf Fräulein Rottenmeier Heidi mit Missbilligung anblickte, was
+aber das Kind auf nichts Besonderes bezog, denn es fühlte sich
+unter fortdauernder Missbilligung der Dame. Als es sich dann
+später entfernte, um in sein Schlafzimmer zu gehen, berief Fräulein
+Rottenmeier es erst in das ihrige herein und erklärte ihm hier, es
+habe niemals den Namen 'Großmama' anzuwenden, sondern
+wenn Frau Sesemann nun da sei, habe es sie stets 'gnädige
+Frau' anzureden. "Verstehst du das?", fragte die Dame, als
+Heidi sie etwas zweifelhaft ansah; sie gab ihm aber einen so
+abschließenden Blick zurück, dass Heidi sich keine Erklärung mehr
+erbat, obschon es den Titel nicht verstanden hatte.
+
+
+
+
+Eine Großmama
+
+Am folgenden Abend waren große Erwartungen und lebhafte
+Vorbereitungen im Hause Sesemann sichtbar, man konnte deutlich
+bemerken, dass die erwartete Dame ein bedeutendes Wort im Hause
+mitzusprechen hatte und dass jedermann großen Respekt vor ihr
+empfand. Tinette hatte ein ganz neues, weißes Deckelchen auf den
+Kopf gesetzt, und Sebastian raffte eine Menge von Schemeln zusammen
+und stellte sie an alle passenden Stellen hin, damit die Dame
+gleich einen Schemel unter den Füßen finde, wohin sie sich auch
+setzen möge. Fräulein Rottenmeier ging zur Musterung der Dinge
+sehr aufrecht durch die Zimmer, so wie um anzudeuten, dass, wenn
+auch eine zweite Herrschermacht herannahe, die ihrige dennoch nicht
+am Erlöschen sei.
+
+Jetzt rollte der Wagen vor das Haus, und Sebastian und Tinette
+stürzten die Treppe hinunter; langsam und würdevoll folgte Fräulein
+Rottenmeier nach, denn sie wusste, dass auch sie zum Empfang der
+Frau Sesemann zu erscheinen hatte. Heidi war beordert worden, sich
+in sein Zimmer zurückzuziehen und da zu warten, bis es gerufen
+würde, denn die Großmutter würde zuerst bei Klara eintreten und
+diese wohl allein sehen wollen. Heidi setzte sich in einen Winkel
+und repetierte seine Anrede. Es währte gar nicht lange, so steckte
+die Tinette den Kopf ein klein wenig unter Heidis Zimmertür und
+sagte kurz angebunden wie immer: "Hinübergehen ins Studierzimmer!"
+
+Heidi hatte Fräulein Rottenmeier nicht fragen dürfen, wie es mit
+der Anrede sei, aber es dachte, die Dame habe sich nur versprochen,
+denn es hatte bis jetzt immer erst den Titel nennen gehört und
+nachher den Namen; so hatte es sich nun die Sache zurechtgelegt.
+Wie es die Tür zum Studierzimmer aufmachte, rief ihm die Großmutter
+mit freundlicher Stimme entgegen: "Ah, da kommt ja das Kind! Komm
+mal her zu mir und lass dich recht ansehen."
+
+Heidi trat heran, und mit seiner klaren Stimme sagte es sehr
+deutlich: "Guten Tag, Frau Gnädige."
+
+"Warum nicht gar!", lachte die Großmama. "Sagt man so bei euch?
+Hast du das daheim auf der Alp gehört?"
+
+"Nein, bei uns heißt niemand so", erklärte Heidi ernsthaft.
+
+"So, bei uns auch nicht", lachte die Großmama wieder und klopfte
+Heidi freundlich auf die Wange. "Das ist nichts! In der
+Kinderstube bin ich die Großmama; so sollst du mich nennen, das
+kannst du wohl behalten, wie?"
+
+"Ja, das kann ich gut", versicherte Heidi, "vorher hab ich schon
+immer so gesagt."
+
+"So, so, verstehe schon!", sagte die Großmama und nickte ganz
+lustig mit dem Kopfe. Dann schaute sie Heidi genau an und nickte
+von Zeit zu Zeit wieder mit dem Kopf, und Heidi guckte ihr auch
+ganz ernsthaft in die Augen, denn da kam etwas so Herzliches heraus,
+dass es dem Heidi ganz wohl machte, und die ganze Großmama gefiel
+dem Heidi so, dass es sie unverwandt anschauen musste. Sie hatte
+so schöne weiße Haare, und um den Kopf ging eine schöne
+Spitzenkrause, und zwei breite Bänder flatterten von der Haube weg
+und bewegten sich immer irgendwie, so als ob stets ein leichter
+Wind um die Großmama wehe, was das Heidi ganz besonders anmutete.
+
+"Und wie heißt du, Kind?", fragte jetzt die Großmama.
+
+"Ich heiße nur Heidi; aber weil ich soll Adelheid heißen, so will
+ich schon Acht geben--"; Heidi stockte, denn es fühlte sich ein
+wenig schuldig, da es noch immer keine Antwort gab, wenn Fräulein
+Rottenmeier unversehens rief: "Adelheid!", indem es ihm noch immer
+nicht recht gegenwärtig war, dass dies sein Name sei, und Fräulein
+Rottenmeier war eben ins Zimmer getreten.
+
+"Frau Sesemann wird unstreitig billigen", fiel hier die eben
+Eingetretene ein, "dass ich einen Namen wählen musste, den man doch
+aussprechen kann, ohne sich selbst genieren zu müssen, schon um der
+Dienstboten willen."
+
+"Werteste Rottenmeier", entgegnete Frau Sesemann, "wenn ein Mensch
+einmal 'Heidi' heißt und an den Namen gewöhnt ist, so
+nenn ich ihn so, und dabei bleibt's!"
+
+Es war Fräulein Rottenmeier sehr genierlich, dass die alte Dame sie
+beständig nur bei ihrem Namen nannte, ohne weitere Titulatur; aber
+da war nichts zu machen; die Großmama hatte einmal ihre eigenen
+Wege, und diese ging sie, da half kein Mittel dagegen. Auch ihre
+fünf Sinne hatte die Großmama noch ganz scharf und gesund, und sie
+bemerkte, was im Hause vorging, sobald sie es betreten hatte.
+
+Als am Tage nach ihrer Ankunft Klara sich zur gewohnten Zeit nach
+Tisch niederlegte, setzte die Großmama sich neben sie auf einen
+Lehnstuhl und schloss ihre Augen für einige Minuten; dann stand sie
+schon wieder auf--denn sie war gleich wieder munter--und trat ins
+Esszimmer hinaus; da war niemand. "Die schläft", sagte sie vor
+sich hin, ging dann nach dem Zimmer der Dame Rottenmeier und
+klopfte kräftig an die Tür. Nach einiger Zeit erschien diese und
+fuhr erschrocken ein wenig zurück bei dem unerwarteten Besuch.
+
+"Wo hält sich das Kind auf um diese Zeit, und was tut es? Das
+wollte ich wissen", sagte Frau Sesemann.
+
+"In seinem Zimmer sitzt es, wo es sich nützlich beschäftigen könnte,
+wenn es den leisesten Tätigkeitstrieb hätte; aber Frau Sesemann
+sollte nur wissen, was für verkehrtes Zeug sich dieses Wesen oft
+ausdenkt und wirklich ausführt, Dinge, die ich in gebildeter
+Gesellschaft kaum erzählen könnte."
+
+"Das würde ich gerade auch tun, wenn ich so da drinnen säße wie
+dieses Kind, das kann ich Ihnen sagen, und Sie könnten zusehen, wie
+Sie mein Zeug in gebildeter Gesellschaft erzählen wollten! Jetzt
+holen Sie mir das Kind heraus und bringen Sie mir's in meine Stube,
+ich will ihm einige hübsche Bücher geben, die ich mitgebracht habe."
+
+"Das ist ja gerade das Unglück, das ist es ja eben!", rief Fräulein
+Rottenmeier aus und schlug die Hände zusammen. "Was sollte das
+Kind mit Büchern tun? In all dieser Zeit hat es noch nicht einmal
+das Abc erlernt; es ist völlig unmöglich, diesem Wesen auch nur
+_einen_ Begriff beizubringen, davon kann der Herr Kandidat reden!
+Wenn dieser treffliche Mensch nicht die Geduld eines himmlischen
+Engels besäße, er hätte diesen Unterricht längst aufgegeben."
+
+"So, das ist merkwürdig, das Kind sieht nicht aus wie eines, das
+das Abc nicht erlernen kann", sagte Frau Sesemann. "Jetzt holen
+Sie mir's herüber, es kann vorläufig die Bilder in den Büchern
+ansehen."
+
+Fräulein Rottenmeier wollte noch einiges bemerken, aber Frau
+Sesemann hatte sich schon umgewandt und ging rasch ihrem Zimmer zu.
+Sie musste sich sehr verwundern über die Nachricht von Heidis
+Beschränktheit und gedachte, die Sache zu untersuchen, jedoch nicht
+mit dem Herrn Kandidaten, den sie zwar um seines guten Charakters
+willen sehr schätzte; sie grüßte ihn auch immer, wenn sie mit ihm
+zusammentraf, überaus freundlich, lief dann aber sehr schnell auf
+eine andere Seite, um nicht in ein Gespräch mit ihm verwickelt zu
+werden, denn seine Ausdrucksweise war ihr ein wenig beschwerlich.
+
+Heidi erschien im Zimmer der Großmama und machte die Augen weit auf,
+als es die prächtigen bunten Bilder in den großen Büchern sah,
+welche die Großmama mitgebracht hatte. Auf einmal schrie Heidi
+laut auf, als die Großmama wieder ein Blatt umgewandt hatte; mit
+glühendem Blick schaute es auf die Figuren, dann stürzten ihm
+plötzlich die hellen Tränen aus den Augen, und es fing gewaltig zu
+schluchzen an. Die Großmama schaute das Bild an. Es war eine
+schöne, grüne Weide, wo allerlei Tierlein herumweideten und an den
+grünen Gebüschen nagten. In der Mitte stand der Hirt, auf einen
+langen Stab gestützt, der schaute den fröhlichen Tierchen zu.
+Alles war wie in Goldschimmer gemalt, denn hinten am Horizont war
+eben die Sonne im Untergehen.
+
+Die Großmama nahm Heidi bei der Hand. "Komm, komm, Kind", sagte
+sie in freundlichster Weise, "nicht weinen, nicht weinen. Das hat
+dich wohl an etwas erinnert; aber sieh, da ist auch eine schöne
+Geschichte dazu, die erzähl ich heut Abend. Und da sind noch so
+viele schöne Geschichten in dem Buch, die kann man alle lesen und
+wieder erzählen. Komm, nun müssen wir etwas besprechen zusammen,
+trockne schön deine Tränen, so, und nun stell dich hier vor mich
+hin, dass ich dich recht ansehen kann; so ist's recht, nun sind wir
+wieder fröhlich."
+
+Aber noch verging einige Zeit, bevor Heidi zu schluchzen aufhören
+konnte. Die Großmama ließ ihm auch eine gute Weile zur Erholung,
+nur sagte sie von Zeit zu Zeit ermunternd: "So, nun ist's gut, nun
+sind wir wieder froh zusammen."
+
+Als sie endlich das Kind beruhigt sah, sagte sie: "Nun musst du mir
+was erzählen, Kind! Wie geht es denn beim Herrn Kandidaten in den
+Unterrichtsstunden, lernst du auch gut und kannst du was?"
+
+"O nein", antwortete Heidi seufzend; "aber ich wusste schon, dass
+man es nicht lernen kann."
+
+"Was kann man denn nicht lernen, Heidi, was meinst du?"
+
+"Lesen kann man nicht lernen, es ist zu schwer."
+
+"Das wäre! Und woher weißt du denn diese Neuigkeit?"
+
+"Der Peter hat es mir gesagt und er weiß es schon, der muss immer
+wieder probieren, aber er kann es nie lernen, es ist zu schwer."
+
+"So, das ist mir ein eigener Peter, der! Aber sieh, Heidi, man
+muss nicht alles nur so hinnehmen, was einem ein Peter sagt, man
+muss selbst probieren. Gewiss hast du nicht recht mit all deinen
+Gedanken dem Herrn Kandidaten zugehört und seine Buchstaben
+angesehen."
+
+"Es nützt nichts", versicherte Heidi mit dem Ton der vollen
+Ergebung in das Unabänderliche.
+
+"Heidi", sagte nun die Großmama, "jetzt will ich dir etwas sagen:
+Du hast noch nie lesen gelernt, weil du deinem Peter geglaubt hast;
+nun aber sollst du mir glauben, und ich sage dir fest und sicher,
+dass du in kurzer Zeit lesen lernen kannst, wie eine große Menge
+von Kindern, die geartet sind wie du und nicht wie der Peter. Und
+nun musst du wissen, was nachher kommt, wenn du dann lesen kannst--
+du hast den Hirten gesehen auf der schönen, grünen Weide--; sobald
+du nun lesen kannst, bekommst du das Buch, da kannst du seine ganze
+Geschichte vernehmen, ganz so, als ob sie dir jemand erzählte,
+alles, was er macht mit seinen Schafen und Ziegen und was ihm für
+merkwürdige Dinge begegnen. Das möchtest du schon wissen, Heidi,
+nicht?"
+
+Heidi hatte mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört, und mit
+leuchtenden Augen sagte es jetzt, tief Atem holend: "Oh, wenn ich
+nur schon lesen könnte!"
+
+"Jetzt wird's kommen, und gar nicht lange wird's währen, das kann
+ich schon sehen, Heidi, und nun müssen wir mal nach der Klara sehen;
+komm, die schönen Bücher nehmen wir mit." Damit nahm die Großmama
+Heidi bei der Hand und ging mit ihm nach dem Studierzimmer.
+
+Seit dem Tage, da Heidi hatte heimgehen wollen und Fräulein
+Rottenmeier es auf der Treppe ausgescholten und ihm gesagt hatte,
+wie schlecht und undankbar es sich erweise durch sein
+Fortlaufenwollen und wie gut es sei, dass Herr Sesemann nichts
+davon wisse, war mit dem Kinde eine Veränderung vorgegangen. Es
+hatte begriffen, dass es nicht heimgehen könne, wenn es wolle, wie
+ihm die Base gesagt hatte, sondern dass es in Frankfurt zu bleiben
+habe, lange, lange, vielleicht für immer. Es hatte auch verstanden,
+dass Herr Sesemann es sehr undankbar von ihm finden würde, wenn es
+heimgehen wollte, und es dachte sich aus, dass die Großmama und
+Klara auch so denken würden. So durfte es keinem Menschen sagen,
+dass es heimgehen möchte, denn dass die Großmama, die so freundlich
+mit ihm war, auch böse würde, wie Fräulein Rottenmeier geworden war,
+das wollte Heidi nicht verursachen. Aber in seinem Herzen wurde
+die Last, die darinnen lag, immer schwerer; es konnte nicht mehr
+essen, und jeden Tag wurde es ein wenig bleicher. Am Abend konnte
+es oft lange, lange nicht einschlafen, denn sobald es allein war
+und alles still ringsumher, kam ihm alles so lebendig vor die Augen,
+die Alm und der Sonnenschein darauf und die Blumen; und schlief es
+endlich doch ein, so sah es im Traum die roten Felsenspitzen am
+Falknis und das feurige Schneefeld an der Schesaplana, und erwachte
+dann Heidi am Morgen und wollte voller Freude hinausspringen aus
+der Hütte--da war es auf einmal in seinem großen Bett in Frankfurt,
+so weit, weit weg, und konnte nicht mehr heim. Dann drückte Heidi
+oft seinen Kopf in das Kissen und weinte lang, ganz leise, dass
+niemand es höre.
+
+Heidis freudloser Zustand entging der Großmama nicht. Sie ließ
+einige Tage vorübergehen und sah zu, ob die Sache sich ändere und
+das Kind sein niedergeschlagenes Wesen verlieren würde. Als es
+aber gleich blieb und die Großmama manchmal am frühen Morgen schon
+sehen konnte, dass Heidi geweint hatte, da nahm sie eines Tages das
+Kind wieder in ihre Stube, stellte es vor sich hin und sagte mit
+großer Freundlichkeit: "Jetzt sag mir, was dir fehlt, Heidi; hast
+du einen Kummer?"
+
+Aber gerade dieser freundlichen Großmama wollte Heidi nicht sich so
+undankbar zeigen, dass sie vielleicht nachher gar nicht mehr so
+freundlich wäre; so sagte Heidi traurig: "Man kann es nicht sagen."
+
+"Nicht? Kann man es etwa der Klara sagen?", fragte die Großmama.
+
+"O nein, keinem Menschen", versicherte Heidi und sah dabei so
+unglücklich aus, dass es die Großmama erbarmte.
+
+"Komm, Kind", sagte sie, "ich will dir was sagen: Wenn man einen
+Kummer hat, den man keinem Menschen sagen kann, so klagt man ihn
+dem lieben Gott im Himmel und bittet ihn, dass er helfe, denn er
+kann allem Leid abhelfen, das uns drückt. Das verstehst du, nicht
+wahr? Du betest doch jeden Abend zum lieben Gott im Himmel und
+dankst ihm für alles Gute und bittest ihn, dass er dich vor allem
+Bösen behüte?"
+
+"O nein, das tu ich nie", antwortete das Kind.
+
+"Hast du denn gar nie gebetet, Heidi, weißt du nicht, was das ist?"
+
+"Nur mit der ersten Großmutter habe ich gebetet, aber es ist schon
+lang, und jetzt habe ich es vergessen."
+
+"Siehst du, Heidi, darum musst du so traurig sein, weil du jetzt
+gar niemanden kennst, der dir helfen kann. Denk einmal nach, wie
+wohl das tun muss, wenn einen im Herzen etwas immerfort drückt und
+quält und man kann so jeden Augenblick zum lieben Gott hingehen und
+ihm alles sagen und ihn bitten, dass er helfe, wo uns sonst gar
+niemand helfen kann! Und er kann überall helfen und uns geben, was
+uns wieder froh macht."
+
+Durch Heidis Augen fuhr ein Freudenstrahl: "Darf man ihm alles,
+alles sagen?"
+
+"Alles, Heidi, alles."
+
+Das Kind zog seine Hand aus den Händen der Großmama und sagte eilig:
+"Kann ich gehen?"
+
+"Gewiss! Gewiss!", gab diese zur Antwort, und Heidi lief davon und
+hinüber in sein Zimmer, und hier setzte es sich auf seinen Schemel
+nieder und faltete seine Hände und sagte dem lieben Gott alles, was
+in seinem Herzen war und es so traurig machte, und bat ihn dringend
+und herzlich, dass er ihm helfe und es wieder heimkommen lasse zum
+Großvater.--
+
+Es mochte etwas mehr als eine Woche verflossen sein seit diesem
+Tage, als der Herr Kandidat begehrte, der Frau Sesemann seine
+Aufwartung zu machen, indem er eine Besprechung über einen
+merkwürdigen Gegenstand mit der Dame abzuhalten gedachte. Er wurde
+auf ihre Stube berufen, und hier, wie er eintrat, streckte ihm Frau
+Sesemann sogleich freundlich die Hand entgegen: "Mein lieber Herr
+Kandidat, seien Sie mir willkommen! Setzen Sie sich her zu mir,
+hier"--sie rückte ihm den Stuhl zurecht. "So, nun sagen Sie mir,
+was bringt Sie zu mir; doch nichts Schlimmes, keine Klagen?"
+
+"Im Gegenteil, gnädige Frau", begann der Herr Kandidat; "es ist
+etwas vorgefallen, das ich nicht mehr erwarten konnte und keiner,
+der einen Blick in alles Vorhergegangene hätte werfen können, denn
+nach allen Voraussetzungen musste angenommen werden, dass es eine
+völlige Unmöglichkeit sein müsse, was dennoch jetzt wirklich
+geschehen ist und in der wunderbarsten Weise stattgefunden hat,
+gleichsam im Gegensatz zu allem folgerichtig zu Erwartenden--"
+
+"Sollte das Kind Heidi etwa lesen gelernt haben, Herr Kandidat?",
+setzte hier Frau Sesemann ein.
+
+In sprachlosem Erstaunen schaute der überraschte Herr die Dame an.
+
+"Es ist ja wirklich völlig wunderbar", sagte er endlich, "nicht nur,
+dass das junge Mädchen nach all meinen gründlichen Erklärungen,
+und ungewöhnlichen Bemühungen das Abc nicht erlernt hat, sondern
+auch und besonders, dass es jetzt in kürzester Zeit, nachdem ich
+mich entschlossen hatte, das Unerreichbare aus den Augen zu lassen
+und ohne alle weiter greifenden Erläuterungen nur noch sozusagen
+die nackten Buchstaben vor die Augen des jungen Mädchens zu bringen,
+sozusagen über Nacht das Lesen erfasst hat, und dann sogleich mit
+einer Korrektheit die Worte liest, wie mir bei Anfängern noch
+selten vorgekommen ist. Fast ebenso wunderbar ist mir die
+Wahrnehmung, dass die gnädige Frau gerade diese fern liegende
+Tatsache als Möglichkeit vermutete."
+
+"Es geschehen viele wunderbare Dinge im Menschenleben", bestätigte
+Frau Sesemann und lächelte vergnüglich; "es können auch einmal zwei
+Dinge glücklich zusammentreffen, wie ein neuer Lerneifer und eine
+neue Lehrmethode, und beide können nichts schaden, Herr Kandidat.
+Jetzt wollen wir uns freuen, dass das Kind so weit ist, und auf
+guten Fortgang hoffen."
+
+Damit begleitete sie den Herrn Kandidaten zur Tür hinaus und ging
+rasch nach dem Studierzimmer, um sich selbst der erfreulichen
+Nachricht zu versichern. Richtig saß hier Heidi neben Klara und
+las dieser eine Geschichte vor, sichtlich selbst mit dem größten
+Erstaunen und mit einem wachsenden Eifer in die neue Welt
+eindringend, die ihm aufgegangen war, nun ihm mit einem Mal aus den
+schwarzen Buchstaben Menschen und Dinge entgegentraten und Leben
+gewannen und zu herzbewegenden Geschichten wurden. Noch am selben
+Abend, als man sich zu Tische setzte, fand Heidi auf seinem Teller
+das große Buch liegen mit den schönen Bildern, und als es fragend
+nach der Großmama blickte, sagte diese freundlich nickend: "Ja, ja,
+nun gehört es dir."
+
+"Für immer? Auch wenn ich heimgehe?", fragte Heidi ganz rot vor
+Freude.
+
+"Gewiss, für immer!", versicherte die Großmama; "morgen fangen wir
+an zu lesen."
+
+"Aber du gehst nicht heim, noch viele Jahre nicht, Heidi", warf
+Klara hier ein; "wenn nun die Großmama wieder fortgeht, dann musst
+du erst recht bei mir bleiben."
+
+Noch vor dem Schlafengehen musste Heidi in seinem Zimmer sein
+schönes Buch ansehen, und von dem Tage an war es sein Liebstes,
+über seinem Buch zu sitzen und immer wieder die Geschichten zu
+lesen, zu denen die schönen bunten Bilder gehörten. Sagte am Abend
+die Großmama: "Nun liest uns Heidi vor", so war das Kind sehr
+beglückt, denn das Lesen ging ihm nun ganz leicht, und wenn es die
+Geschichten laut vorlas, so kamen sie ihm noch viel schöner und
+verständlicher vor, und die Großmama erklärte dann noch so vieles
+und erzählte immer noch mehr dazu. Am liebsten beschaute Heidi
+immer wieder seine grüne Weide und den Hirten mitten unter der
+Herde, wie er so vergnüglich, auf seinen langen Stab gelehnt,
+dastand, denn da war er noch bei der schönen Herde des Vaters und
+ging nur den lustigen Schäfchen und Ziegen nach, weil es ihn freute.
+Aber dann kam das Bild, wo er, vom Vaterhaus weggelaufen, nun in
+der Fremde war und die Schweinchen hüten musste und ganz mager
+geworden war bei den Trebern, die er allein noch zu essen bekam.
+Und auf dem Bilde schien auch die Sonne nicht mehr so golden, da
+war das Land grau und nebelig. Aber dann kam noch ein Bild zu der
+Geschichte: Da kam der alte Vater mit ausgebreiteten Armen aus dem
+Hause heraus und lief dem heimkehrenden reuigen Sohn entgegen, um
+ihn zu empfangen, der ganz furchtsam und abgemagert in einem
+zerrissenen Wams daherkam. Das war Heidis Lieblingsgeschichte, die
+es immer wieder las, laut und leise, und es konnte nie genug der
+Erklärungen bekommen, welche die Großmama den Kindern dazu machte.
+Da waren aber noch so viele schöne Geschichten in dem Buch, und bei
+dem Lesen derselben und dem Bilderbesehen gingen die Tage sehr
+schnell dahin, und schon nahte die Zeit heran, welche die Großmama
+zu ihrer Abreise bestimmt hatte.
+
+
+
+
+Heidi nimmt auf einer Seite zu und auf der anderen ab
+
+Die Großmama hatte während der ganzen Zeit ihres Aufenthalts jeden
+Nachmittag, wenn Klara sich hinlegte und Fräulein Rottenmeier,
+wahrscheinlich der Ruhe bedürftig, geheimnisvoll verschwand, sich
+einen Augenblick neben Klara hingesetzt; aber schon nach fünf
+Minuten war sie wieder auf den Füßen und hatte dann immer Heidi auf
+ihre Stube berufen, sich mit ihm besprochen und es auf allerlei
+Weise beschäftigt und unterhalten. Die Großmama hatte hübsche
+kleine Puppen und zeigte dem Heidi, wie man ihnen Kleider und
+Schürzchen macht, und ganz unvermerkt hatte Heidi das Nähen erlernt
+und machte den kleinen Frauenzimmern die schönsten Röcke und
+Mäntelchen, denn die Großmama hatte immer Zeugstücke von den
+prächtigsten Farben. Nun Heidi lesen konnte, durfte es auch immer
+wieder der Großmama seine Geschichten vorlesen; das machte ihm die
+größte Freude, denn je mehr es seine Geschichten las, desto lieber
+wurden sie ihm, denn Heidi lebte alles ganz mit durch, was die
+Leute alle zu erleben hatten, und so hatte es zu ihnen allen ein
+sehr nahes Verhältnis und freute sich immer wieder, bei ihnen zu
+sein. Aber so recht froh sah Heidi nie aus, und seine lustigen
+Augen waren nie mehr zu sehen.
+
+Es war die letzte Woche, welche die Großmama in Frankfurt zubringen
+wollte. Sie hatte eben nach Heidi gerufen, dass es auf ihre Stube
+komme; es war die Zeit, da Klara schlief. Als Heidi eintrat mit
+seinem großen Buch unter dem Arm, winkte ihm die Großmama, dass es
+ganz nahe zu ihr herankomme, legte das Buch weg und sagte: "Nun
+komm, Kind, und sag mir, warum bist du nicht fröhlich? Hast du
+immer noch denselben Kummer im Herzen?"
+
+"Ja", nickte Heidi.
+
+"Hast du ihn dem lieben Gott geklagt?"
+
+"Ja."
+
+"Und betest du nun alle Tage, dass alles gut werde und er dich froh
+mache?"
+
+"O nein, ich bete jetzt gar nie mehr."
+
+"Was sagst du mir, Heidi? Was muss ich hören? Warum betest du
+denn nicht mehr?"
+
+"Es nützt nichts, der liebe Gott hat nicht zugehört, und ich glaube
+es auch wohl", fuhr Heidi in einiger Aufregung weiter, "wenn nun am
+Abend so viele, viele Leute in Frankfurt alle miteinander beten, so
+kann der liebe Gott ja nicht auf alle Acht geben, und mich hat er
+gewiss gar nicht gehört."
+
+"So, wie weißt du denn das so sicher, Heidi?"
+
+"Ich habe alle Tage das Gleiche gebetet, manche Woche lang, und der
+liebe Gott hat es nie getan."
+
+"Ja, so geht's nicht zu, Heidi! Das musst du nicht meinen! Siehst
+du, der liebe Gott ist für uns alle ein guter Vater, der immer weiß,
+was gut für uns ist, wenn wir es gar nicht wissen. Wenn wir aber
+nun etwas von ihm haben wollen, das nicht gut für uns ist, so gibt
+er uns das nicht, sondern etwas viel Besseres, wenn wir fortfahren,
+so recht herzlich zu ihm zu beten, aber nicht gleich weglaufen und
+alles Vertrauen zu ihm verlieren. Siehst du, was du nun von ihm
+erbitten wolltest, das war in diesem Augenblick nicht gut für dich;
+der liebe Gott hat dich schon gehört, er kann alle Menschen auf
+einmal anhören und übersehen, siehst du, dafür ist er der liebe
+Gott und nicht ein Mensch wie du und ich. Und weil er nun wohl
+wusste, was für dich gut ist, dachte er bei sich: 'Ja, das
+Heidi soll schon einmal haben, wofür es bittet, aber erst dann,
+wenn es ihm gut ist, und so wie es darüber recht froh werden kann.
+Denn wenn ich jetzt tue, was es will, und es merkt nachher, dass es
+doch besser gewesen wäre, ich hätte ihm seinen Willen nicht getan,
+dann weint es nachher und sagt: Hätte mir doch der liebe Gott nur
+nicht gegeben, wofür ich bat, es ist gar nicht so gut, wie ich
+gemeint habe.' Und während nun der liebe Gott auf dich
+niedersah, ob du ihm auch recht vertrautest und täglich zu ihm
+kommest und betest und immer zu ihm aufsehest, wenn dir etwas fehlt,
+da bist du weggelaufen ohne alles Vertrauen, hast nie mehr gebetet
+und hast den lieben Gott ganz vergessen. Aber siehst du, wenn
+einer es so macht und der liebe Gott hört seine Stimme gar nie mehr
+unter den Betenden, so vergisst er ihn auch und lässt ihn gehen,
+wohin er will. Wenn es ihm dabei aber schlecht geht und er jammert:
+'Mir hilft aber auch gar niemand!', dann hat keiner
+Mitleiden mit ihm, sondern jeder sagt zu ihm: 'Du bist ja
+selbst vom lieben Gott weggelaufen, der dir helfen konnte!'
+Willst du's so haben, Heidi, oder willst du gleich wieder zum
+lieben Gott gehen und ihn um Verzeihung bitten, dass du so von ihm
+weggelaufen bist, und dann alle Tage zu ihm beten und ihm vertrauen,
+dass er alles gut für dich machen werde, so dass du auch wieder
+ein frohes Herz bekommen kannst?"
+
+Heidi hatte sehr aufmerksam zugehört; jedes Wort der Großmama fiel
+in sein Herz, denn zu ihr hatte das Kind ein unbedingtes Vertrauen.
+
+"Ich will jetzt gleich auf der Stelle gehen und den lieben Gott um
+Verzeihung bitten, und ich will ihn nie mehr vergessen", sagte
+Heidi reumütig.
+
+"So ist's recht, Kind, er wird dir auch helfen zur rechten Zeit,
+sei nur getrost!", ermunterte die Großmama, und Heidi lief sofort
+in sein Zimmer hinüber und betete ernstlich und reuig zum lieben
+Gott und bat ihn, dass er es doch nicht vergessen und auch wieder
+zu ihm niederschauen möge.--
+
+Der Tag der Abreise war gekommen, es war für Klara und Heidi ein
+trauriger Tag; aber die Großmama wusste es so einzurichten, dass
+sie gar nicht zum Bewusstsein kamen, dass es eigentlich ein
+trauriger Tag sei, sondern es war eher wie ein Festtag, bis die
+gute Großmama im Wagen davonfuhr. Da trat eine Leere und Stille im
+Hause ein, als wäre alles vorüber, und solange noch der Tag währte,
+saßen Klara und Heidi wie verloren da und wussten gar nicht, wie es
+nun weiter kommen sollte.
+
+Am folgenden Tag, als die Unterrichtsstunden vorbei und die Zeit da
+war, da die Kinder gewöhnlich zusammensaßen, trat Heidi mit seinem
+Buch unter dem Arm herein und sagte: "Ich will dir nun immer, immer
+vorlesen; willst du, Klara?"
+
+Der Klara war der Vorschlag recht für einmal, und Heidi machte sich
+mit Eifer an seine Tätigkeit. Aber es ging nicht lange, so hörte
+schon wieder alles auf, denn kaum hatte Heidi eine Geschichte zu
+lesen begonnen, die von einer sterbenden Großmutter handelte, als
+es auf einmal laut aufschrie: "Oh, nun ist die Großmutter tot!",
+und in ein jammervolles Weinen ausbrach, denn alles, was es las,
+war dem Heidi volle Gegenwart, und es glaubte nicht anders, als nun
+sei die Großmutter auf der Alm gestorben, und es klagte in immer
+lauterem Weinen: "Nun ist die Großmutter tot, und ich kann nie mehr
+zu ihr gehen, und sie hat nicht ein einziges Brötchen mehr bekommen!"
+
+Klara suchte immerfort dem Heidi zu erklären, dass es ja nicht die
+Großmutter auf der Alm sei, sondern eine ganz andere, von der diese
+Geschichte handle; aber auch, als sie endlich dazu gekommen war,
+dem aufgeregten Heidi diese Verwechslung klar zu machen, konnte es
+sich doch nicht beruhigen und weinte immer noch untröstlich weiter,
+denn der Gedanke war ihm nun im Herzen erwacht, die Großmutter
+könne ja sterben, während es so weit weg sei, und der Großvater
+auch noch, und wenn es dann nach einiger Zeit wieder heimkomme, so
+sei alles still und tot auf der Alm und es stehe ganz allein da und
+könne niemals mehr die sehen, die ihm lieb waren.
+
+Währenddessen war Fräulein Rottenmeier ins Zimmer getreten und
+hatte noch Klaras Bemühungen, Heidi über seinen Irrtum aufzuklären,
+mit angehört. Als das Kind aber immer noch nicht aufhören konnte
+zu schluchzen, trat sie mit sichtlichen Zeichen der Ungeduld zu den
+Kindern heran und sagte mit bestimmtem Ton: "Adelheid, nun ist des
+grundlosen Geschreis genug! Ich will dir eines sagen: Wenn du noch
+ein einziges Mal beim Lesen deiner Geschichten solchen Ausbrüchen
+den Lauf lässt, so nehme ich das Buch aus deinen Händen und für
+immer!"
+
+Das machte Eindruck. Heidi wurde ganz weiß vor Schrecken, das Buch
+war sein höchster Schatz. Es trocknete in größter Eile seine
+Tränen und schluckte und würgte sein Schluchzen mit Gewalt hinunter,
+so dass kein Tönchen mehr laut wurde. Das Mittel hatte geholfen,
+Heidi weinte nie mehr, was es auch lesen mochte; aber manchmal
+hatte es solche Anstrengungen zu machen, um sich zu überwinden und
+nicht aufzuschreien, dass Klara öfter ganz erstaunt sagte: "Heidi,
+du machst so schreckliche Grimassen, wie ich noch nie gesehen habe."
+Aber die Grimassen machten keinen Lärm und fielen der Dame
+Rottenmeier nicht auf, und wenn Heidi seinen Anfall von
+verzweiflungsvoller Traurigkeit niedergerungen hatte, kam alles
+wieder ins Geleise für einige Zeit und war tonlos vorübergegangen.
+Aber seinen Appetit verlor Heidi so sehr und sah so mager und
+bleich aus, dass der Sebastian fast nicht ertragen konnte, das so
+mit anzusehen und Zeuge sein zu müssen, wie Heidi bei Tisch die
+schönsten Gerichte an sich vorübergehen ließ und nichts essen
+wollte. Er flüsterte ihm auch öfter ermunternd zu, wenn er ihm
+eine Schüssel hinhielt: "Nehmen von dem, Mamsellchen, 's ist
+vortrefflich. Nicht so! Einen rechten Löffel voll, noch einen!",
+und dergleichen väterlicher Räte mehr; aber es half nichts: Heidi
+aß fast gar nicht mehr, und wenn es sich am Abend auf sein Kissen
+legte, so hatte es augenblicklich alles vor Augen, was daheim war,
+und nur ganz leise weinte es dann vor Sehnsucht in sein Kissen
+hinein, so dass es gar niemand hören konnte.
+
+So ging eine lange Zeit dahin. Heidi wusste gar nie, ob es Sommer
+oder Winter sei, denn die Mauern und Fenster, die es aus allen
+Fenstern des Hauses Sesemann erblickte, sahen immer gleich aus, und
+hinaus kam es nur, wenn es Klara besonders gut ging und eine
+Ausfahrt im Wagen mit ihr gemacht werden konnte, die aber immer
+sehr kurz war, denn Klara konnte nicht vertragen, lang zu fahren.
+So kam man kaum aus den Mauern und Steinstraßen heraus, sondern
+kehrte gewöhnlich vorher wieder um und fuhr immerfort durch große,
+schöne Straßen, wo Häuser und Menschen in Fülle zu sehen waren,
+aber nicht Gras und Blumen, keine Tannen und keine Berge, und
+Heidis Verlangen nach dem Anblick der schönen gewohnten Dinge
+steigerte sich mit jedem Tage mehr, so dass es jetzt nur den Namen
+eines dieser Erinnerung weckenden Worte zu lesen brauchte, so war
+schon ein Ausbruch des Schmerzes nahe, und Heidi hatte mit aller
+Gewalt dagegen zu ringen. So waren Herbst und Winter vergangen,
+und schon blendete die Sonne wieder so stark auf die weißen Mauern
+am Hause gegenüber, dass Heidi ahnte, nun sei die Zeit nahe, da der
+Peter wieder zur Alm führe mit den Geißen, da die goldenen
+Cystusröschen glitzerten droben im Sonnenschein und allabendlich
+ringsum alle Berge im Feuer ständen. Heidi setzte sich in seinem
+einsamen Zimmer in einen Winkel und hielt sich mit beiden Händen
+die Augen zu, dass es den Sonnenschein drüben an der Mauer nicht
+sehe; und so saß es regungslos, sein brennendes Heimweh lautlos
+niederkämpfend, bis Klara wieder nach ihm rief.
+
+
+
+
+Im Hause Sesemann spukt's
+
+Seit einigen Tagen wanderte Fräulein Rottenmeier meistens
+schweigend und in sich gekehrt im Haus herum. Wenn sie um die Zeit
+der Dämmerung von einem Zimmer ins andere oder über den langen
+Korridor ging, schaute sie öfters um sich, gegen die Ecken hin und
+auch schnell einmal hinter sich, so, als denke sie, es könnte
+jemand leise hinter ihr herkommen und sie unversehens am Rock
+zupfen. So allein ging sie aber nur noch in den bewohnten Räumen
+herum. Hatte sie auf dem oberen Boden, wo die feierlich
+aufgerüsteten Gastzimmer lagen, oder gar in den unteren Räumen
+etwas zu besorgen, wo der große geheimnisvolle Saal war, in dem
+jeder Tritt einen weithin schallenden Widerhall gab und die alten
+Ratsherren mit den großen, weißen Kragen so ernsthaft und
+unverwandt auf einen niederschauten, da rief sie nun regelmäßig die
+Tinette herbei und sagte ihr, sie habe mitzukommen, im Fall etwas
+von dort herauf- oder von oben herunterzutragen wäre. Tinette
+ihrerseits machte es pünktlich ebenso; hatte sie oben oder unten
+irgendein Geschäft abzutun, so rief sie den Sebastian herbei und
+sagte ihm, er habe sie zu begleiten, es möchte etwas
+herbeizubringen sein, das sie nicht allein tragen könnte.
+Wunderbarerweise tat auch Sebastian akkurat dasselbe; wurde er in
+die abgelegenen Räume geschickt, so holte er den Johann herauf und
+wies ihn an, ihn zu begleiten, im Fall er nicht herbeischaffen
+könnte, was erforderlich sei. Und jedes folgte immer ganz willig
+dem Ruf, obschon eigentlich nie etwas herbeizutragen war, so dass
+jedes gut hätte allein gehen können; aber es war so, als denke der
+Herbeigerufene immer bei sich, er könne den anderen auch bald für
+denselben Dienst nötig haben. Während sich solches oben zutrug,
+stand unten die langjährige Köchin tiefsinnig bei ihren Töpfen und
+schüttelte den Kopf und seufzte: "Dass ich das noch erleben musste!"
+
+Es ging im Hause Sesemann seit einiger Zeit etwas ganz Seltsames
+und Unheimliches vor. Jeden Morgen, wenn die Dienerschaft
+herunterkam, stand die Haustür weit offen; aber weit und breit war
+niemand zu sehen, der mit dieser Erscheinung im Zusammenhang stehen
+konnte. In den ersten Tagen, da dies geschehen war, wurden gleich
+mit Schrecken alle Zimmer und Räume des Hauses durchsucht, um zu
+sehen, was alles gestohlen sei, denn man dachte, ein Dieb habe sich
+im Hause verstecken können und sei in der Nacht mit dem Gestohlenen
+entflohen; aber da war gar nichts fortgekommen, es fehlte im ganzen
+Hause nicht ein einziges Ding. Abends wurde nicht nur die Tür
+doppelt zugeriegelt, sondern es wurde noch der hölzerne Balken
+vorgeschoben--es half nichts: Am Morgen stand die Tür weit offen;
+und so früh nun auch die ganze Dienerschaft in ihrer Aufregung am
+Morgen herunterkommen mochte--die Tür stand offen, wenn auch
+ringsum alles noch im tiefen Schlaf lag und Fenster und Türen an
+allen anderen Häusern noch fest verrammelt waren. Endlich fassten
+sich der Johann und der Sebastian ein Herz und machten sich auf die
+dringenden Zureden der Dame Rottenmeier bereit, die Nacht unten in
+dem Zimmer, das an den großen Saal stieß, zuzubringen und zu
+erwarten, was geschehe. Fräulein Rottenmeier suchte mehrere Waffen
+des Herrn Sesemann hervor und übergab dem Sebastian eine große
+Liqueurflasche, damit Stärkung vorausgehen und gute Wehr nachfolgen
+könne, wo sie nötig sei.
+
+Die beiden setzten sich an dem festgesetzten Abend hin und fingen
+gleich an, sich Stärkung zuzutrinken, was sie erst sehr gesprächig
+und dann ziemlich schläfrig machte, worauf sie beide sich an die
+Sesselrücken lehnten und verstummten. Als die alte Turmuhr drüben
+zwölf schlug, ermannte sich Sebastian und rief seinen Kameraden an;
+der war aber nicht leicht zu erwecken; sooft ihn Sebastian anrief,
+legte er seinen Kopf von einer Seite der Sessellehne auf die andere
+und schlief weiter. Sebastian lauschte nunmehr gespannt, er war
+nun wieder ganz munter geworden. Es war alles mäuschenstill, auch
+von der Straße war kein Laut mehr zu hören. Sebastian entschlief
+nicht wieder, denn jetzt wurde es ihm sehr unheimlich in der großen
+Stille, und er rief den Johann nur noch mit gedämpfter Stimme an
+und rüttelte ihn von Zeit zu Zeit ein wenig. Endlich, als es
+droben schon ein Uhr geschlagen hatte, war der Johann wach geworden
+und wieder zum klaren Bewusstsein gekommen, warum er auf dem Stuhl
+sitze und nicht in seinem Bett liege. Jetzt fuhr er auf einmal
+sehr tapfer empor und rief: "Nun, Sebastian, wir müssen doch einmal
+hinaus und sehen, wie's steht; du wirst dich ja nicht fürchten.
+Nur mir nach."
+
+Johann machte die leicht angelehnte Zimmertür weit auf und trat
+hinaus. Im gleichen Augenblick blies aus der offenen Haustür ein
+scharfer Luftzug her und löschte das Licht aus, das der Johann in
+der Hand hielt. Dieser stürzte zurück, warf den hinter ihm
+stehenden Sebastian beinah rücklings ins Zimmer hinein, riss ihn
+dann mit, schlug die Tür zu und drehte in fieberhafter Eile den
+Schlüssel um, solang er nur umging. Dann riss er seine
+Streichhölzer hervor und zündete sein Licht wieder an. Sebastian
+wusste gar nicht recht, was vorgefallen war, denn hinter dem
+breiten Johann stehend, hatte er den Luftzug nicht so deutlich
+empfunden. Wie er aber jenen nun bei Licht besah, tat er einen
+Schreckensruf, denn der Johann war kreideweiß und zitterte wie
+Espenlaub. "Was ist's denn? Was war denn draußen?", fragte der
+Sebastian teilnehmend.
+
+"Sperrangelweit offen die Tür", keuchte Johann, "und auf der Treppe
+eine weiße Gestalt, siehst du, Sebastian, nur so die Treppe hinauf--
+husch und verschwunden."
+
+Dem Sebastian gruselte es den ganzen Rücken hinauf. Jetzt setzten
+sich die beiden ganz nah zusammen und regten sich nicht mehr, bis
+dass der neue Morgen da war und es auf der Straße anfing, lebendig
+zu werden. Dann traten sie zusammen hinaus, machten die weit offen
+stehende Haustür zu und stiegen dann hinauf, um Fräulein
+Rottenmeier Bericht zu erstatten über das Erlebte. Die Dame war
+auch schon zu sprechen, denn die Erwartung der zu vernehmenden
+Dinge hatte sie nicht mehr schlafen lassen. Sobald sie nun
+vernommen hatte, was vorgefallen war, setzte sie sich hin und
+schrieb einen Brief an Herrn Sesemann, wie er noch keinen erhalten
+hatte; er möge sich nur sogleich, ohne Verzug, aufmachen und nach
+Hause zurückkehren, denn da geschähen unerhörte Dinge. Dann wurde
+ihm das Vorgefallene mitgeteilt sowie auch die Nachricht, dass
+fortgesetzt die Tür jeden Morgen offen stehe; dass also keiner im
+Hause seines Lebens mehr sicher sei bei dergestalt allnächtlich
+offen stehender Hauspforte und dass man überhaupt nicht absehen
+könne, was für dunkle Folgen dieser unheimliche Vorgang noch nach
+sich ziehen könne. Herr Sesemann antwortete umgehend, es sei ihm
+unmöglich, so plötzlich alles liegen zu lassen und nach Hause zu
+kommen. Die Gespenstergeschichte sei ihm sehr befremdend, er hoffe
+auch, sie sei vorübergehend; sollte es indessen keine Ruhe geben,
+so möge Fräulein Rottenmeier an Frau Sesemann schreiben und sie
+fragen, ob sie nicht nach Frankfurt zu Hilfe kommen wollte; gewiss
+würde seine Mutter in kürzester Zeit mit den Gespenstern fertig,
+und diese trauten sich nachher sicher so bald nicht wieder, sein
+Haus zu beunruhigen. Fräulein Rottenmeier war nicht zufrieden mit
+dem Ton dieses Briefes; die Sache war ihr zu wenig ernst aufgefasst.
+Sie schrieb unverzüglich an Frau Sesemann, aber von dieser Seite
+her tönte es nicht eben befriedigender, und die Antwort enthielt
+einige ganz anzügliche Bemerkungen. Frau Sesemann schrieb, sie
+gedenke nicht, extra von Holstein nach Frankfurt hinunterzureisen,
+weil die Rottenmeier Gespenster sehe. Übrigens sei niemals ein
+Gespenst gesehen worden im Hause Sesemann, und wenn jetzt eines
+darin herumfahre, so könne es nur ein lebendiges sein, mit dem die
+Rottenmeier sich sollte verständigen können; wo nicht, so solle sie
+die Nachtwächter zu Hilfe rufen.
+
+Aber Fräulein Rottenmeier war entschlossen, ihre Tage nicht mehr in
+Schrecken zuzubringen, und sie wusste sich zu helfen. Bis dahin
+hatte sie den beiden Kindern nichts von der Geistererscheinung
+gesagt, denn sie befürchtete, die Kinder würden vor Furcht Tag und
+Nacht keinen Augenblick mehr allein bleiben wollen, und das konnte
+sehr unbequeme Folgen für sie haben. Jetzt ging sie stracks ins
+Studierzimmer hinüber, wo die beiden zusammensaßen, und erzählte
+mit gedämpfter Stimme von den nächtlichen Erscheinungen eines
+Unbekannten. Sofort schrie Klara auf, sie bleibe keinen Augenblick
+mehr allein, der Papa müsse nach Hause kommen und Fräulein
+Rottenmeier müsse zum Schlafen in ihr Zimmer hinüberziehen, und
+Heidi dürfe auch nicht mehr allein sein, sonst könne das Gespenst
+einmal zu ihm kommen und ihm etwas tun; sie wollten alle in _einem_
+Zimmer schlafen und die ganze Nacht das Licht brennen lassen, und
+Tinette müsste nebenan schlafen und der Sebastian und der Johann
+müssten auch herunterkommen und auf dem Korridor schlafen, dass sie
+gleich schreien und das Gespenst erschrecken könnten, wenn es etwa
+die Treppe heraufkommen wollte. Klara war sehr aufgeregt und
+Fräulein Rottenmeier hatte nun die größte Mühe, sie etwas zu
+beschwichtigen. Sie versprach ihr, sogleich an den Papa zu
+schreiben und auch ihr Bett in Klaras Zimmer stellen und sie nie
+mehr allein lassen zu wollen. Alle konnten sie nicht in demselben
+Raume schlafen, aber wenn Adelheid sich auch fürchten sollte, so
+müsste Tinette ihr Nachtlager bei ihr aufschlagen. Aber Heidi
+fürchtete sich mehr vor der Tinette als vor Gespenstern, von denen
+das Kind noch gar nie etwas gehört hatte, und es erklärte gleich,
+es fürchte das Gespenst nicht und wolle schon allein in seinem
+Zimmer bleiben. Hierauf eilte Fräulein Rottenmeier an ihren
+Schreibtisch und schrieb an Herrn Sesemann, die unheimlichen
+Vorgänge im Hause, die allnächtlich sich wiederholten, hätten die
+zarte Konstitution seiner Tochter dergestalt erschüttert, dass die
+schlimmsten Folgen zu befürchten seien; man habe Beispiele von
+plötzlich eintretenden epileptischen Zufällen oder Veitstanz in
+solchen Verhältnissen, und seine Tochter sei allem ausgesetzt, wenn
+dieser Zustand des Schreckens im Hause nicht gehoben werde.
+
+Das half. Zwei Tage darauf stand Herr Sesemann vor seiner Tür und
+schellte dergestalt an seiner Hausglocke, dass alles zusammenlief
+und einer den anderen anstarrte, denn man glaubte nicht anders, als
+nun lasse der Geist frecherweise noch vor Nacht seine boshaften
+Stücke aus. Sebastian guckte ganz behutsam durch einen halb
+geöffneten Laden von oben herunter; in dem Augenblick schellte es
+noch einmal so nachdrücklich, dass jeder unwillkürlich eine
+Menschenhand hinter dem tüchtigen Ruck vermutete. Sebastian hatte
+die Hand erkannt, stürzte durchs Zimmer, kopfüber die Treppe
+hinunter, kam aber unten wieder auf die Füße und riss die Haustür
+auf. Herr Sesemann grüßte kurz und stieg ohne weiteres nach dem
+Zimmer seiner Tochter hinauf. Klara empfing den Papa mit einem
+lauten Freudenruf, und als er sie so munter und völlig unverändert
+sah, glättete sich seine Stirn, die er vorher sehr zusammengezogen
+hatte, und immer mehr, als er nun von ihr selbst hörte, sie sei so
+wohl wie immer und sie sei so froh, dass er gekommen sei, dass es
+ihr jetzt ganz recht sei, dass ein Geist im Haus herumfahre, weil
+er doch daran schuld sei, dass der Papa heimkommen musste.
+
+"Und wie führt sich das Gespenst weiter auf, Fräulein Rottenmeier?",
+fragte nun Herr Sesemann mit einem lustigen Ausdruck in den
+Mundwinkeln.
+
+"Nein, Herr Sesemann", entgegnete die Dame ernst, "es ist kein
+Scherz. Ich zweifle nicht daran, dass morgen Herr Sesemann nicht
+mehr lachen wird; denn was in dem Hause vorgeht, deutet auf
+Fürchterliches, das hier in vergangener Zeit muss vorgegangen und
+verheimlicht worden sein."
+
+"So, davon weiß ich nichts", bemerkte Herr Sesemann, "muss aber
+bitten, meine völlig ehrenwerten Ahnen nicht verdächtigen zu wollen.
+Und nun rufen Sie mir den Sebastian ins Esszimmer, ich will
+allein mit ihm reden."
+
+Herr Sesemann ging hinüber und Sebastian erschien. Es war Herrn
+Sesemann nicht entgangen, dass Sebastian und Fräulein Rottenmeier
+sich nicht eben mit Zuneigung betrachteten; so hatte er seine
+Gedanken.
+
+"Komm Er her, Bursche", winkte er dem Eintretenden entgegen, "und
+sag Er mir nun ganz ehrlich: Hat Er nicht etwa selbst ein wenig
+Gespenst gespielt, so um Fräulein Rottenmeier etwas Kurzweil zu
+machen, he?"
+
+"Nein, meiner Treu, das muss der gnädige Herr nicht glauben; es ist
+mir selbst nicht ganz gemütlich bei der Sache", entgegnete
+Sebastian mit unverkennbarer Ehrlichkeit.
+
+"Nun, wenn es so steht, so will ich morgen Ihm und dem tapferen
+Johann zeigen, wie Gespenster beim Licht aussehen. Schäme Er sich,
+Sebastian, ein junger, kräftiger Bursch, wie Er ist, vor
+Gespenstern davonzulaufen! Nun geh Er unverzüglich zu meinem alten
+Freund, Doktor Classen: meine Empfehlung und er möchte unfehlbar
+heut Abend neun Uhr bei mir erscheinen; ich sei extra von Paris
+hergereist, um ihn zu konsultieren. Er müsse die Nacht bei mir
+wachen, so schlimm sei's; er solle sich richten! Verstanden,
+Sebastian?"
+
+"Jawohl, jawohl! Der gnädige Herr kann sicher sein, dass ich's gut
+mache." Damit entfernte sich Sebastian, und Herr Sesemann kehrte zu
+seinem Töchterchen zurück, um ihr alle Furcht vor einer Erscheinung
+zu benehmen, die er noch heute ins nötige Licht stellen wollte.
+
+Punkt neun Uhr, als die Kinder zur Ruhe gegangen und auch Fräulein
+Rottenmeier sich zurückgezogen hatte, erschien der Doktor, der
+unter seinen grauen Haaren noch ein recht frisches Gesicht und zwei
+lebhaft und freundlich blickende Augen zeigte. Er sah etwas
+ängstlich aus, brach aber gleich nach seiner Begrüßung in ein
+helles Lachen aus und sagte, seinem Freunde auf die Schulter
+klopfend: "Nun, nun, für einen, bei dem man wachen soll, siehst du
+noch leidlich aus, Alter."
+
+"Nur Geduld, Alter", gab Herr Sesemann zurück; "derjenige, für den
+du wachen musst, wird schon schlimmer aussehen, wenn wir ihn erst
+abgefangen haben."
+
+"Also doch ein Kranker im Haus und dazu einer, der eingefangen
+werden muss?"
+
+"Weit schlimmer, Doktor, weit schlimmer. Ein Gespenst im Hause,
+bei mir spukt's!"
+
+Der Doktor lachte laut auf.
+
+"Schöne Teilnahme das, Doktor!", fuhr Herr Sesemann fort; "schade,
+dass meine Freundin Rottenmeier sie nicht genießen kann. Sie ist
+fest überzeugt, dass ein alter Sesemann hier herumrumort und
+Schauertaten abbüßt."
+
+"Wie hat sie ihn aber nur kennen gelernt?", fragte der Doktor noch
+immer sehr erheitert.
+
+Herr Sesemann erzählte nun seinem Freunde den ganzen Vorgang und
+wie noch jetzt allnächtlich die Haustür geöffnet werde, nach der
+Angabe der sämtlichen Hausbewohner, und fügte hinzu, um für alle
+Fälle vorbereitet zu sein, habe er zwei gut geladene Revolver in
+das Wachtlokal legen lassen; denn entweder sei die Sache ein sehr
+unerwünschter Scherz, den sich vielleicht irgendein Bekannter der
+Dienerschaft mache, um die Leute des Hauses in Abwesenheit des
+Hausherrn zu erschrecken--dann könnte ein kleiner Schrecken, wie
+ein guter Schuss ins Leere, ihm nicht unheilsam sein--; oder auch
+es handle sich um Diebe, die auf diese Weise erst den Gedanken an
+Gespenster aufkommen lassen wollten, um nachher umso sicherer zu
+sein, dass niemand sich herauswage--in diesem Falle könnte eine
+gute Waffe auch nicht schaden.
+
+Während dieser Erklärungen waren die Herren die Treppe
+hinuntergestiegen und traten in dasselbe Zimmer ein, wo Johann und
+Sebastian auch gewacht hatten. Auf dem Tische standen einige
+Flaschen schönen Weines, denn eine kleine Stärkung von Zeit zu Zeit
+konnte nicht unerwünscht sein, wenn die Nacht da zugebracht werden
+musste. Daneben lagen die beiden Revolver, und zwei, ein helles
+Licht verbreitende Armleuchter standen mitten auf dem Tisch, denn
+so im Halbdunkel wollte Herr Sesemann das Gespenst denn doch nicht
+erwarten.
+
+Nun wurde die Tür ans Schloss gelehnt, denn zu viel Licht durfte
+nicht in den Korridor hinausfließen, es konnte das Gespenst
+verscheuchen. Jetzt setzten sich die Herren gemütlich in ihre
+Lehnstühle und fingen an, sich allerlei zu erzählen, nahmen auch
+hier und da dazwischen einen guten Schluck, und so schlug es zwölf
+Uhr, eh sie sich's versahen.
+
+"Das Gespenst hat uns gewittert und kommt wohl heut gar nicht",
+sagte der Doktor jetzt.
+
+"Nur Geduld, es soll erst um ein Uhr kommen", entgegnete der Freund.
+
+Das Gespräch wurde wieder aufgenommen. Es schlug ein Uhr. Ringsum
+war es völlig still, auch auf den Straßen war aller Lärm verklungen.
+Auf einmal hob der Doktor den Finger empor.
+
+"Pst, Sesemann, hörst du nichts?"
+
+Sie lauschten beide. Leise, aber ganz deutlich hörten sie, wie der
+Balken zurückgeschoben, dann der Schlüssel zweimal im Schloss
+umgedreht, jetzt die Tür geöffnet wurde. Herr Sesemann fuhr mit
+der Hand nach seinem Revolver.
+
+"Du fürchtest dich doch nicht?", sagte der Doktor und stand auf.
+
+"Behutsam ist besser", flüsterte Herr Sesemann, erfasste mit der
+Linken den Armleuchter mit drei Kerzen, mit der Rechten den
+Revolver und folgte dem Doktor, der, gleichermaßen mit Leuchter und
+Schießgewehr bewaffnet, voranging. Sie traten auf den Korridor
+hinaus.
+
+Durch die weit geöffnete Tür floss ein bleicher Mondschein herein
+und beleuchtete eine weiße Gestalt, die regungslos auf der Schwelle
+stand.
+
+"Wer da?", donnerte jetzt der Doktor heraus, dass es durch den
+ganzen Korridor hallte, und beide Herren traten nun mit Lichtern
+und Waffen an die Gestalt heran. Sie kehrte sich um und tat einen
+leisen Schrei. Mit bloßen Füßen im weißen Nachtkleidchen stand
+Heidi da, schaute mit verwirrten Blicken in die hellen Flammen und
+auf die Waffen und zitterte und bebte wie ein Blättlein im Winde
+von oben bis unten. Die Herren schauten einander in großem
+Erstaunen an.
+
+"Ich glaube wahrhaftig, Sesemann, es ist deine kleine
+Wasserträgerin", sagte der Doktor.
+
+"Kind, was soll das heißen?", fragte nun Herr Sesemann. "Was
+wolltest du tun? Warum bist du hier heruntergekommen?"
+
+Schneeweiß vor Schrecken stand Heidi vor ihm und sagte fast tonlos:
+"Ich weiß nicht."
+
+Jetzt trat der Doktor vor: "Sesemann, der Fall gehört in mein
+Gebiet; geh, setz dich einstweilen in deinen Lehnstuhl drinnen, ich
+will vor allem das Kind hinbringen, wo es hingehört."
+
+Damit legte er seinen Revolver auf den Boden, nahm das zitternde
+Kind ganz väterlich bei der Hand und ging mit ihm der Treppe zu.
+
+"Nicht fürchten, nicht fürchten", sagte er freundlich im
+Hinaufsteigen, "nur ganz ruhig sein, da ist gar nichts Schlimmes
+dabei, nur getrost sein."
+
+In Heidis Zimmer eingetreten, stellte der Doktor seinen Leuchter
+auf den Tisch, nahm Heidi auf den Arm, legte es in sein Bett hinein
+und deckte es sorgfältig zu. Dann setzte er sich auf den Sessel am
+Bett und wartete, bis Heidi ein wenig beruhigt war und nicht mehr
+an allen Gliedern bebte. Dann nahm er das Kind bei der Hand und
+sagte begütigend: "So, nun ist alles in Ordnung, nun sag mir auch
+noch, wo wolltest du denn hin?"
+
+"Ich wollte gewiss nirgends hin", versicherte Heidi; "ich bin auch
+gar nicht selbst hinuntergegangen, ich war nur auf einmal da."
+
+"So, so, und hast du etwa geträumt in der Nacht, weißt du, so, dass
+du deutlich etwas sahst und hörtest?"
+
+"Ja, jede Nacht träumt es mir und immer gleich. Dann mein ich, ich
+sei beim Großvater, und draußen hör ich's in den Tannen sausen und
+denke: Jetzt glitzern so schön die Sterne am Himmel, und ich laufe
+geschwind und mache die Tür auf an der Hütte und da ist's so schön!
+Aber wenn ich erwache, bin ich immer noch in Frankfurt." Heidi
+fing schon an zu kämpfen und zu schlucken an dem Gewicht, das den
+Hals hinaufstieg.
+
+"Hm, und tut dir denn auch nichts weh, nirgends? Nicht im Kopf
+oder im Rücken?"
+
+"O nein, nur hier drückt es so wie ein großer Stein immerfort."
+
+"Hm, etwa so, wie wenn man etwas gegessen hat und wollte es nachher
+lieber wieder zurückgeben?"
+
+"Nein, so nicht, aber so schwer, wie wenn man stark weinen sollte."
+
+"So, so, und weinst du denn so recht heraus?"
+
+"O nein, das darf man nicht, Fräulein Rottenmeier hat es verboten."
+
+"Dann schluckst du's herunter zum andern, nicht wahr, so? Richtig!
+Nun, du bist doch recht gern in Frankfurt, nicht?"
+
+"O ja", war die leise Antwort; sie klang aber so, als bedeute sie
+eher das Gegenteil.
+
+"Hm, und wo hast du mit deinem Großvater gelebt?"
+
+"Immer auf der Alm."
+
+"So, da ist's doch nicht so besonders kurzweilig, eher ein wenig
+langweilig, nicht?"
+
+"O nein, da ist's so schön, so schön!" Heidi konnte nicht weiter;
+die Erinnerung, die eben durchgemachte Aufregung, das lang
+verhaltene Weinen überwältigten die Kräfte des Kindes; gewaltsam
+stürzten ihm die Tränen aus den Augen und es brach in ein lautes,
+heftiges Schluchzen aus.
+
+Der Doktor stand auf; er legte freundlich Heidis Kopf auf das
+Kissen nieder und sagte: "So, noch ein klein wenig weinen, das kann
+nichts schaden, und dann schlafen, ganz fröhlich einschlafen;
+morgen wird alles gut." Dann verließ er das Zimmer.
+
+Wieder unten in die Wachtstube eingetreten, ließ er sich dem
+harrenden Freunde gegenüber in den Lehnstuhl nieder und erklärte
+dem mit gespannter Erwartung Lauschenden: "Sesemann, dein kleiner
+Schützling ist erstens mondsüchtig; völlig unbewusst hat er dir
+allnächtlich als Gespenst die Haustür aufgemacht und deiner ganzen
+Mannschaft die Fieber des Schreckens ins Gebein gejagt. Zweitens
+wird das Kind vom Heimweh verzehrt, so dass es schon jetzt fast zum
+Geripplein abgemagert ist und es noch völlig werden würde; also
+schnelle Hilfe! Für das erste Übel und die in hohem Grade
+stattfindende Nervenaufregung gibt es nur ein Heilmittel, nämlich,
+dass du sofort das Kind in die heimatliche Bergluft
+zurückversetzest; für das zweite gibt's ebenfalls nur _eine_
+Medizin, nämlich ganz dieselbe. Demnach reist das Kind morgen ab,
+das ist mein Rezept."
+
+Herr Sesemann war aufgestanden. In größter Aufregung lief er das
+Zimmer auf und ab; jetzt brach er aus: "Mondsüchtig! Krank!
+Heimweh! Abgemagert in meinem Hause! Das alles in meinem Hause!
+Und niemand sieht zu und weiß etwas davon! Und du, Doktor, du
+meinst, das Kind, das frisch und gesund in mein Haus gekommen ist,
+schicke ich elend und abgemagert seinem Großvater zurück? Nein,
+Doktor, das kannst du nicht verlangen, das tu ich nicht, das werde
+ich nie tun. Jetzt nimm das Kind in die Hand, mach Kuren mit ihm,
+mach, was du willst, aber mach es mir heil und gesund, dann will
+ich es heimschicken, wenn es will; aber erst hilf du!"
+
+"Sesemann", entgegnete der Doktor ernsthaft, "bedenke, was du tust!
+Dieser Zustand ist keine Krankheit, die man mit Pulvern und Pillen
+heilt. Das Kind hat keine zähe Natur, indessen, wenn du es jetzt
+gleich wieder in die kräftige Bergluft hinaufschickst, an die es
+gewöhnt ist, so kann es wieder völlig gesunden; wenn nicht--du
+willst nicht, dass das Kind dem Großvater unheilbar oder gar nicht
+mehr zurückkomme?"
+
+Herr Sesemann war erschrocken stehen geblieben: "Ja, wenn du so
+redest, Doktor, dann ist nur _ein_ Weg, dann muss sofort gehandelt
+werden." Mit diesen Worten nahm Herr Sesemann den Arm seines
+Freundes und wanderte mit ihm hin und her, um die Sache noch weiter
+zu besprechen. Dann brach der Doktor auf, um nach Hause zu gehen,
+denn es war unterdessen viel Zeit vergangen, und durch die Haustür,
+die diesmal vom Herrn des Hauses aufgeschlossen wurde, drang schon
+der helle Morgenschimmer herein.
+
+
+
+
+Am Sommerabend die Alm hinan
+
+Herr Sesemann stieg in großer Erregtheit die Treppe hinauf und
+wanderte mit festem Schritt zum Schlafgemach der Dame Rottenmeier.
+Hier klopfte er so ungewöhnlich kräftig an die Tür, dass die
+Bewohnerin mit einem Schreckensruf aus dem Schlaf auffuhr. Sie
+hörte die Stimme des Hausherrn draußen: "Bitte sich zu beeilen und
+im Esszimmer zu erscheinen, es muss sofort eine Abreise vorbereitet
+werden."
+
+Fräulein Rottenmeier schaute auf ihre Uhr, es war halb fünf des
+Morgens; zu solcher Stunde war sie in ihrem Leben noch nie
+aufgestanden. Was konnte nur vorgefallen sein? Vor Neugierde und
+angstvoller Erwartung nahm sie alles verkehrt in die Hand und kam
+durchaus nicht vorwärts, denn was sie einmal auf den Leib gebracht
+hatte, suchte sie nachher rastlos im Zimmer herum.
+
+Unterdessen ging Herr Sesemann den Korridor entlang und zog mit
+aller Kraft an jedem Glockenzug, der je für die verschiedenen
+Glieder der Dienerschaft angebracht war, so dass in jedem der
+betreffenden Zimmer eine Schreckensgestalt aus dem Bett sprang und
+verkehrt in die Kleider fuhr, denn einer wie der andere dachte
+sogleich, das Gespenst habe irgendwie den Hausherrn gepackt und
+dies sei sein Hilferuf. So kamen sie nach und nach, einer
+schauerlicher aussehend als der andere, herunter und stellten sich
+mit Erstaunen vor den Hausherrn hin, denn dieser ging frisch und
+munter im Esszimmer auf und ab und sah keineswegs aus, als habe ihn
+ein Gespenst erschreckt. Johann wurde sofort hingeschickt, Pferde
+und Wagen in Ordnung zu bringen und sie nachher vorzuführen.
+Tinette erhielt den Auftrag, sogleich Heidi aufzuwecken und es in
+den Stand zu stellen, eine Reise anzutreten. Sebastian erhielt den
+Auftrag, nach dem Hause zu eilen, wo Heidis Base im Dienst stand,
+und diese herbeizuholen. Fräulein Rottenmeier war unterdessen
+zurechtgekommen mit ihrem Anzug, und alles saß, wie es musste, nur
+die Haube saß verkehrt auf dem Kopf, so dass es von weitem aussah,
+als sitze ihr das Gesicht auf dem Rücken. Herr Sesemann schrieb
+den rätselhaften Anblick dem frühen Schlafbrechen zu und ging
+unverweilt an die Geschäftsverhandlungen. Er erklärte der Dame,
+sie habe ohne Zögern einen Koffer zur Stelle zu schaffen, die
+sämtliche Habe des Schweizerkindes hineinzupacken--so nannte Herr
+Sesemann gewöhnlich das Heidi, dessen Name ihm etwas ungewohnt war--,
+dazu noch einen guten Teil von Klaras Zeug, damit das Kind was
+Rechtes mitbringe; es müsse aber alles schnell und ohne langes
+Besinnen vor sich gehen.
+
+Fräulein Rottenmeier blieb vor Überraschung wie in den Boden
+eingewurzelt stehen und starrte Herrn Sesemann an. Sie hatte
+erwartet, er wolle ihr im Vertrauen die Mitteilung einer
+schauerlichen Geistergeschichte machen, die er in der Nacht erlebt
+und die sie eben jetzt bei dem hellen Morgenlicht nicht ungern
+gehört hätte; stattdessen diese völlig prosaischen und dazu noch
+sehr unbequemen Aufträge. So schnell konnte sie das Unerwartete
+nicht bewältigen. Sprachlos stand sie immer noch da und erwartete
+ein Weiteres.
+
+Aber Herr Sesemann hatte keine Erklärungen im Sinn; er ließ die
+Dame stehen, wo sie stand, und ging nach dem Zimmer seiner Tochter.
+Wie er vermutet hatte, war diese durch die ungewöhnliche Bewegung
+im Hause wach geworden und lauschte nach allen Seiten hin, was wohl
+vorgehe. Der Vater setzte sich nun an ihr Bett und erzählte ihr
+den ganzen Verlauf der Geistererscheinung und dass Heidi nach des
+Doktors Ausspruch sehr angegriffen sei und wohl nach und nach seine
+nächtlichen Wanderungen ausdehnen, vielleicht gar das Dach
+besteigen würde, was dann mit den höchsten Gefahren verbunden wäre.
+Er habe also beschlossen, das Kind sofort heimzuschicken, denn
+solche Verantwortung könne er nicht auf sich nehmen, und Klara
+müsse sich dareinfinden, sie sehe ja ein, dass es nicht anders sein
+könne.
+
+Klara war sehr schmerzlich überrascht von der Mitteilung und wollte
+erst allerlei Auswege finden, aber es half nichts, der Vater blieb
+fest bei seinem Entschluss, versprach aber, im nächsten Jahre mit
+Klara nach der Schweiz zu reisen, wenn sie nun recht vernünftig sei
+und keinen Jammer erhebe. So ergab sich Klara in das
+Unvermeidliche, begehrte aber zum Ersatz, dass der Koffer für Heidi
+in ihr Zimmer gebracht und da gepackt werde, damit sie
+hineinstecken könne, was ihr Freude mache, was der Papa sehr gern
+bewilligte, ja er ermunterte Klara noch, dem Kinde eine schöne
+Aussteuer zurechtzumachen. Unterdessen war die Base Dete angelangt
+und stand in großer Erwartung im Vorzimmer, denn dass sie um diese
+ungewöhnliche Zeit einberufen worden war, musste etwas
+Außerordentliches bedeuten. Herr Sesemann trat zu ihr heraus und
+erklärte ihr, wie es mit Heidi stehe und dass er wünsche, sie
+möchte das Kind sofort, gleich heute noch, nach Hause bringen. Die
+Base sah sehr enttäuscht aus; diese Nachricht hatte sie nicht
+erwartet. Sie erinnerte sich auch noch recht wohl der Worte, die
+ihr der Öhi mit auf den Weg gegeben hatte, dass sie ihm nie mehr
+vor die Augen kommen solle, und so das Kind dem Alten einmal
+bringen und dann nehmen und dann wiederbringen, das schien ihr
+nicht ganz geraten zu sein. Sie besann sich also nicht lange,
+sondern sagte mit großer Beredsamkeit, heute wäre es ihr leider
+völlig unmöglich, die Reise anzutreten, und morgen könnte sie noch
+weniger daran denken, und die Tage darauf wäre es am
+allerunmöglichsten, um der darauf folgenden Geschäfte willen, und
+nachher könnte sie dann gar nicht mehr. Herr Sesemann verstand die
+Sprache und entließ die Base ohne weiteres. Nun ließ er den
+Sebastian vortreten und erklärte ihm, er habe sich unverzüglich zur
+Reise zu rüsten; heute habe er mit dem Kinde bis nach Basel zu
+fahren, morgen bringe er es heim. Dann könne er sogleich wieder
+umkehren, zu berichten habe er nichts, ein Brief an den Großvater
+werde diesem alles erklären.
+
+"Nun aber noch eine Hauptsache, Sebastian", schloss Herr Sesemann,
+"und dass Er mir das pünktlich besorgt! Den Gasthof in Basel, den
+ich Ihm hier auf meine Karte geschrieben, kenne ich. Er weist
+meine Karte vor, dann wird Ihm ein gutes Zimmer angewiesen werden
+für das Kind; für sich selbst wird Er schon sorgen. Dann geht Er
+erst in des Kindes Zimmer hinein und verrammelt alle Fenster so
+vollständig, dass nur große Gewalt sie aufzubringen vermöchte. Ist
+das Kind zu Bett, so geht Er und schließt von außen die Tür ab,
+denn das Kind wandert herum in der Nacht und könnte Gefahr laufen
+in dem fremden Haus, wenn es etwa hinausginge und die Haustür
+aufmachen wollte; versteht Er das?"
+
+"Ah! Ah! Ah! Das war's? So war's?", stieß Sebastian jetzt in
+größter Verwunderung aus, denn es war ihm eben ein großes Licht
+aufgegangen über die Geistererscheinung.
+
+"Ja, so war's! Das war's! Und Er ist ein Hasenfuß, und dem Johann
+kann Er sagen, er sei desgleichen und alle miteinander eine
+lächerliche Mannschaft." Damit ging Herr Sesemann nach seiner Stube,
+setzte sich hin und schrieb einen Brief an den Alm-Öhi.
+
+Sebastian war verdutzt mitten im Zimmer stehen geblieben und
+wiederholte jetzt zu öfteren Malen in seinem Innern: "Hätt ich mich
+doch von dem Feigling von einem Johann nicht in die Wachtstube
+hineinreißen lassen, sondern wäre dem weißen Figürchen nachgegangen,
+was ich doch jetzt unzweifelhaft tun würde!", denn jetzt
+beleuchtete die helle Sonne jeden Winkel der hellgrauen Stube mit
+voller Klarheit.
+
+Unterdessen stand Heidi völlig ahnungslos in seinem
+Sonntagsröckchen und wartete ab, was geschehen sollte, denn die
+Tinette hatte es nur aus dem Schlafe aufgerüttelt, die Kleider aus
+dem Schrank genommen und das Anziehen gefördert, ohne ein Wort zu
+sagen. Sie sprach niemals mit dem ungebildeten Heidi, denn das war
+ihr zu gering.
+
+Herr Sesemann trat mit seinem Brief ins Esszimmer ein, wo das
+Frühstück bereitstand, und rief: "Wo ist das Kind?"
+
+Heidi wurde gerufen. Als es zu Herrn Sesemann herantrat, um ihm
+'guten Morgen' zu sagen, schaute er ihm fragend ins
+Gesicht: "Nun, was sagst du denn dazu, Kleine?"
+
+Heidi blickte verwundert zu ihm auf.
+
+"Du weißt am Ende noch gar nichts", lachte Herr Sesemann. "Nun,
+heut gehst du heim, jetzt gleich."
+
+"Heim?", wiederholte Heidi tonlos und wurde schneeweiß, und eine
+kleine Weile konnte es gar keinen Atem mehr holen, so stark wurde
+sein Herz von dem Eindruck gepackt.
+
+"Nun, willst du etwa nichts wissen davon?", fragte Herr Sesemann
+lächelnd.
+
+"O ja, ich will schon", kam jetzt heraus, und nun war Heidi
+dunkelrot geworden.
+
+"Gut, gut", sagte Herr Sesemann ermunternd, indem er sich setzte
+und Heidi winkte, dasselbe zu tun. "Und nun tüchtig frühstücken
+und hernach in den Wagen und fort."
+
+Aber Heidi konnte keinen Bissen herunterbringen, wie es sich auch
+zwingen wollte aus Gehorsam; es war in einem Zustand von Aufregung,
+dass es gar nicht wusste, ob es wache oder träume und ob es
+vielleicht wieder auf einmal erwachen und im Nachthemdchen an der
+Haustür stehen werde.
+
+"Sebastian soll reichlich Proviant mitnehmen", rief Herr Sesemann
+Fräulein Rottenmeier zu, die eben eintrat; "das Kind kann nicht
+essen, begreiflicherweise.--Geh hinüber zu Klara, bis der Wagen
+vorfährt", setzte er freundlich, zu Heidi gewandt, hinzu.
+
+Das war Heidis Wunsch: Es sprang hinüber. Mitten in Klaras Zimmer
+war ein ungeheurer Koffer zu sehen, noch stand dessen Deckel weit
+offen.
+
+"Komm, Heidi, komm", rief ihm Klara entgegen. "Sieh, was ich dir
+habe einpacken lassen, komm, freut's dich?"
+
+Und sie nannte ihm eine ganze Menge von Dingen, Kleider und
+Schürzen, Tücher und Nähgerät, "und sieh hier, Heidi", und Klara
+hob triumphierend einen Korb in die Höhe. Heidi guckte hinein und
+sprang hoch auf vor Freude, denn drinnen lagen wohl zwölf schöne,
+weiße, runde Brötchen, alle für die Großmutter. Die Kinder
+vergaßen in ihrem Jubel ganz, dass nun der Augenblick komme, da sie
+sich trennen mussten, und als mit einem Mal der Ruf erschallte:
+"Der Wagen ist bereit!"--da war keine Zeit mehr zum Traurigwerden.
+Heidi lief in sein Zimmer, da musste noch ein schönes Buch von der
+Großmama liegen, niemand konnte es eingepackt haben, denn es lag
+unter dem Kopfkissen, weil Heidi Tag und Nacht sich nicht davon
+trennen konnte. Das wurde in den Korb auf die Brötchen gelegt.
+Dann machte es seinen Schrank auf; noch suchte es nach einem Gute,
+das man vielleicht auch nicht eingepackt hatte. Richtig--auch das
+alte rote Tuch lag noch da, Fräulein Rottenmeier hatte es zu gering
+erachtet, um mit eingepackt zu werden. Heidi wickelte es um einen
+anderen Gegenstand und legte es zuoberst auf den Korb, so dass das
+rote Paket sehr sichtbar zur Erscheinung kam. Dann setzte es sein
+schönes Hütchen auf und verließ sein Zimmer.
+
+Die beiden Kinder mussten sich schnell Lebewohl sagen, denn Herr
+Sesemann stand schon da, um Heidi nach dem Wagen zu bringen.
+Fräulein Rottenmeier stand oben an der Treppe, um hier Heidi zu
+verabschieden. Als sie das seltsame rote Bündelchen erblickte,
+nahm sie es schnell aus dem Korb heraus und warf es auf den Boden.
+
+"Nein, Adelheid", sagte sie tadelnd, "so kannst du nicht reisen von
+diesem Hause aus; solches Zeug brauchst du überhaupt nicht
+mitzuschleppen. Nun lebe wohl."
+
+Auf dieses Verbot hin durfte Heidi sein Bündelchen nicht wieder
+aufnehmen, aber es schaute mit einem flehentlichen Blick zu dem
+Hausherrn auf, so, als wollte man ihm seinen größten Schatz nehmen.
+
+"Nein, nein", sagte Herr Sesemann in sehr bestimmtem Tone, "das
+Kind soll mit heimtragen, was ihm Freude macht, und sollte es auch
+junge Katzen oder Schildkröten mit fortschleppen, so wollen wir uns
+darüber nicht aufregen, Fräulein Rottenmeier."
+
+Heidi hob eilig sein Bündelchen wieder vom Boden auf, und Dank und
+Freude leuchteten ihm aus den Augen. Unten am Wagen reichte Herr
+Sesemann dem Kinde die Hand und sagte ihm mit freundlichen Worten,
+sie würden seiner gedenken, er und seine Tochter Klara; er wünschte
+ihm alles Gute auf den Weg, und Heidi dankte recht schön für alle
+Guttaten, die ihm zuteil geworden waren, und zum Schluss sagte es:
+"Und den Herrn Doktor lasse ich tausendmal grüßen und ihm auch
+vielmals danken." Denn es hatte sich wohl gemerkt, wie er gestern
+Abend gesagt hatte: "Und morgen wird alles gut." Nun war es so
+gekommen, und Heidi dachte, er habe dazu geholfen.
+
+Jetzt wurde das Kind in den Wagen gehoben und der Korb und die
+Provianttasche und der Sebastian kamen nach. Herr Sesemann rief
+noch einmal freundlich: "Glückliche Reise!", und der Wagen rollte
+davon.
+
+Bald nachher saß Heidi in der Eisenbahn und hielt unbeweglich
+seinen Korb auf dem Schoße fest, denn es wollte ihn nicht einen
+Augenblick aus den Händen lassen, seine kostbaren Brötchen für die
+Großmutter waren ja darin, die musste es sorgfältig hüten und von
+Zeit zu Zeit einmal wieder ansehen und sich freuen darüber. Heidi
+saß mäuschenstille während mehrerer Stunden, denn erst jetzt kam es
+recht zum Bewusstsein, dass es auf dem Wege sei heim zum Großvater,
+auf die Alm, zur Großmutter, zum Geißenpeter, und nun kam ihm alles
+vor Augen, eins nach dem anderen, was es wieder sehen werde und wie
+alles aussehen werde daheim, und dabei stiegen ihm wieder neue
+Gedanken auf, und auf einmal sagte es ängstlich: "Sebastian, ist
+auch sicher die Großmutter auf der Alm nicht gestorben?"
+
+"Nein, nein", beruhigte dieser, "wollen's nicht hoffen, wird schon
+noch am Leben sein."
+
+Dann fiel Heidi wieder in sein Sinnen zurück; nur hier und da
+guckte es einmal in seinen Korb hinein, denn alle die Brötchen der
+Großmutter auf den Tisch legen war sein Hauptgedanke. Nach
+längerer Zeit sagte es wieder: "Sebastian, wenn man nur auch ganz
+sicher wissen könnte, dass die Großmutter noch am Leben ist."
+
+"Jawohl! Jawohl!", entgegnete der Begleiter halb schlafend; "Wird
+schon noch leben, wüsste auch gar nicht, warum nicht."
+
+Nach einiger Zeit drückte der Schlaf auch Heidis Augen zu, und nach
+der vergangenen unruhigen Nacht und dem frühen Aufstehen war es so
+schlafbedürftig, dass es erst wieder erwachte, als Sebastian es
+tüchtig am Arm schüttelte und ihm zurief: "Erwachen! Erwachen!
+Gleich aussteigen, in Basel angekommen!"
+
+Am folgenden Morgen ging's weiter, viele Stunden lang. Heidi saß
+wieder mit seinem Korb auf dem Schoß, den es um keinen Preis dem
+Sebastian übergeben wollte; aber heute sagte es gar nichts mehr,
+denn nun wurde mit jeder Stunde die Erwartung gespannter. Dann auf
+einmal, als Heidi gar nicht daran dachte, ertönte laut der Ruf:
+"Maienfeld!" Es sprang von seinem Sitz auf, und dasselbe tat
+Sebastian, der auch überrascht worden war. Jetzt standen sie
+draußen, der Koffer mit ihnen, und der Bahnzug pfiff weiter ins Tal
+hinein. Sebastian sah ihm wehmütig nach, denn er wäre viel lieber
+so sicher und ohne Mühe weitergereist, als dass er nun eine
+Fußpartie unternehmen sollte, die dazu noch mit einer
+Bergbesteigung enden musste, die sehr beschwerlich und dazu
+gefahrvoll sein konnte in diesem Lande, wo doch alles noch halb
+wild war, wie Sebastian annahm. Er schaute daher sehr vorsichtig
+um sich, wen er etwa beraten könnte über den sichersten Weg nach
+dem 'Dörfli'. Unweit des kleinen Stationsgebäudes
+stand ein kleiner Leiterwagen mit einem mageren Rösslein davor; auf
+diesen wurden von einem breitschultrigen Manne ein paar große Säcke
+aufgeladen, die mit der Bahn hergebracht worden waren. Sebastian
+trat zu ihm heran und brachte seine Frage nach dem sichersten Weg
+zum Dörfli vor.
+
+"Hier sind alle Wege sicher", war die kurze Antwort.
+
+Jetzt fragte Sebastian nach dem besten Wege, auf dem man gehen
+könne, ohne in die Abgründe zu stürzen, und auch wie man einen
+Koffer nach dem betreffenden Dörfli befördern könnte. Der Mann
+schaute nach dem Koffer hin und maß ihn ein wenig mit den Augen;
+dann erklärte er, wenn das Ding nicht zu schwer sei, so wolle er es
+auf seinen Wagen nehmen, da er selbst nach dem Dörfli fahre, und so
+gab noch ein Wort das andere, und endlich kamen die beiden überein,
+der Mann solle Kind und Koffer mit auf seinen Wagen nehmen, und
+nachher vom Dörfli aus könne das Kind am Abend mit irgendjemand auf
+die Alm geschickt werden.
+
+"Ich kann allein gehen, ich weiß schon den Weg vom Dörfli auf die
+Alm", sagte hier Heidi, das mit Aufmerksamkeit der Verhandlung
+zugehört hatte. Dem Sebastian fiel eine schwere Last vom Herzen,
+als er sich so auf einmal seiner Aussicht auf das Bergklettern
+entledigt sah. Er winkte nun Heidi geheimnisvoll auf die Seite und
+überreichte ihm hier eine schwere Rolle und einen Brief an den
+Großvater und erklärte ihm, die Rolle sei ein Geschenk von Herrn
+Sesemann, die müsse aber zuunterst in den Korb gesteckt werden,
+noch unter die Brötchen, und darauf müsse genau Acht gegeben werden,
+dass sie nicht verloren gehe, denn darüber würde Herr Sesemann
+ganz fürchterlich böse und sein Leben lang nie mehr gut werden; das
+sollte das Mamsellchen nur ja bedenken.
+
+"Ich verliere sie schon nicht", sagte Heidi zuversichtlich und
+steckte die Rolle samt dem Brief zuallerunterst in den Korb hinein.
+Nun wurde der Koffer aufgeladen, und nachher hob Sebastian Heidi
+samt seinem Korb auf den hohen Sitz empor, reichte ihm seine Hand
+hinauf zum Abschied und ermahnte es noch einmal mit allerlei
+Zeichen, auf den Inhalt des Korbes ein Auge zu haben; denn der
+Führer war noch in der Nähe, und Sebastian war vorsichtig,
+besonders jetzt, da er wusste, er hätte eigentlich selbst das Kind
+an Ort und Stelle bringen sollen. Der Führer schwang sich jetzt
+neben Heidi auf den Sitz hinauf, und der Wagen rollte den Bergen zu,
+während Sebastian, froh über seine Befreiung von der gefürchteten
+Bergreise, sich am Stationshäuschen niedersetzte, um den
+zurückgehenden Bahnzug abzuwarten.
+
+Der Mann auf dem Wagen war der Bäcker vom Dörfli, welcher seine
+Mehlsäcke nach Hause fuhr. Er hatte Heidi nie gesehen, aber wie
+jedermann im Dörfli wusste er von dem Kinde, das man dem Alm-Öhi
+gebracht hatte; auch hatte er Heidis Eltern gekannt und sich gleich
+vorgestellt, er werde es mit dem viel besprochenen Kinde hier zu
+tun haben. Es wunderte ihn nun ein wenig, warum das Kind schon
+wieder heimkommen und während der Fahrt fing er nun mit Heidi ein
+Gespräch an: "Du wirst das Kind sein, das oben beim Alm-Öhi war,
+beim Großvater?"
+
+"Ja."
+
+"So ist es dir schlecht gegangen, dass du schon wieder von so weit
+her heimkommst?"
+
+"Nein, das ist es mir nicht; kein Mensch kann es so gut haben, wie
+man es in Frankfurt hat."
+
+"Warum läufst du denn heim?"
+
+"Nur weil es mir der Herr Sesemann erlaubt hat, sonst wär ich nicht
+heimgelaufen."
+
+"Pah, warum bist du denn aber nicht lieber dort geblieben, wenn man
+dir's erlaubt hat, heimzugehen?"
+
+"Weil ich tausendmal lieber heimwill zum Großvater auf die Alm als
+sonst alles auf der Welt."
+
+"Denkst vielleicht anders, wenn du hinaufkommst", brummte der
+Bäcker; "nimmt mich aber doch wunder", sagte er dann zu sich selbst,
+"es kann wissen, wie's ist."
+
+Nun fing er an zu pfeifen und sagte nichts mehr, und Heidi schaute
+um sich und fing an innerlich zu zittern vor Erregung, denn es
+erkannte die Bäume am Wege, und drüben standen die hohen Zacken des
+Falknis-Berges und schauten zu ihm herüber, so als grüßten sie es
+wie gute alte Freunde; und Heidi grüßte wieder, und mit jedem
+Schritt vorwärts wurde Heidis Erwartung gespannter, und es meinte,
+es müsse vom Wagen herunterspringen und aus allen Kräften laufen,
+bis es ganz oben wäre. Aber es blieb doch still sitzen und rührte
+sich nicht, aber alles zitterte an ihm. Jetzt fuhren sie im Dörfli
+ein, eben schlug die Glocke fünf Uhr. Augenblicklich sammelte sich
+eine Gesellschaft von Kindern und Frauen um den Wagen herum, und
+ein paar Nachbarn traten auch noch herzu, denn der Koffer und das
+Kind auf des Bäckers Wagen hatten die Aufmerksamkeit aller
+Umwohnenden auf sich gezogen, und jeder wollte wissen, woher und
+wohin und wem beide zugehörten. Als der Bäcker Heidi
+heruntergehoben hatte, sagte es eilig: "Danke, der Großvater holt
+dann schon den Koffer", und wollte davonrennen. Aber von allen
+Seiten wurde es festgehalten, und eine Menge von Stimmen fragten
+alle auf einmal, jede etwas Eigenes. Heidi drängte sich mit einer
+solchen Angst auf dem Gesichte durch die Leute, dass man ihm
+unwillkürlich Platz machte und es laufen ließ, und einer sagte zum
+anderen: "Du siehst ja, wie es sich fürchtet, es hat auch alle
+Ursache." Und dann fingen sie noch an, sich zu erzählen, wie der
+Alm-Öhi seit einem Jahr noch viel ärger geworden sei als vorher und
+mit keinem Menschen mehr ein Wort rede und ein Gesicht mache, als
+wolle er am liebsten jeden umbringen, der ihm in den Weg komme, und
+wenn das Kind auf der ganzen Welt noch wüsste wohin, so liefe es
+nicht in das alte Drachennest hinauf. Aber hier fiel der Bäcker in
+das Gespräch ein und sagte, er werde wohl mehr wissen als sie alle,
+und erzählte dann sehr geheimnisvoll, wie ein Herr das Kind bis
+nach Maienfeld gebracht und es ganz freundlich entlassen habe und
+auch gleich ohne Markten ihm den geforderten Fahrpreis und dazu
+noch ein Trinkgeld gegeben habe, und überhaupt könne er sicher
+sagen, dass es dem Kind wohl genug gewesen sei, wo es war, und es
+selbst begehrt habe, zum Großvater zurückzugehen. Diese Nachricht
+brachte eine große Verwunderung hervor und wurde nun gleich im
+ganzen Dörfli so verbreitet, dass noch am gleichen Abend kein Haus
+daselbst war, in dem man nicht davon redete, dass das Heidi aus
+allem Wohlleben zum Großvater zurückbegehrt habe.
+
+Heidi lief vom Dörfli bergan, so schnell es nur konnte; von Zeit zu
+Zeit musste es aber plötzlich stille stehen, denn es hatte ganz den
+Atem verloren; sein Korb am Arm war doch ziemlich schwer, und dazu
+ging es nun immer steiler, je höher hinauf es ging. Heidi hatte
+nur noch einen Gedanken: "Wird auch die Großmutter noch auf ihrem
+Plätzchen sitzen am Spinnrad in der Ecke, ist sie auch nicht
+gestorben unterdessen?" Jetzt erblickte Heidi die Hütte oben in der
+Vertiefung an der Alm, sein Herz fing an zu klopfen, Heidi rannte
+noch mehr, immer mehr und immer lauter schlug ihm das Herz. Jetzt
+war es oben--vor Zittern konnte es fast die Tür nicht aufmachen--
+doch jetzt--es sprang hinein bis mitten in die kleine Stube und
+stand da, völlig außer Atem, und brachte keinen Ton hervor.
+
+"Ach du mein Gott", tönte es aus der Ecke hervor, "so sprang unser
+Heidi herein, ach, wenn ich es noch ein Mal im Leben bei mir haben
+könnte! Wer ist hereingekommen?"
+
+"Da bin ich ja, Großmutter, da bin ich ja", rief Heidi jetzt und
+stürzte nach der Ecke und gleich auf seine Knie zu der Großmutter
+heran, fasste ihren Arm und ihre Hände und legte sich an sie und
+konnte vor Freude gar nichts mehr sagen. Erst war die Großmutter
+so überrascht, dass auch sie kein Wort hervorbringen konnte; dann
+fuhr sie mit der Hand streichelnd über Heidis Kraushaare hin, und
+nun sagte sie ein Mal über das andere: "Ja, ja, das sind seine
+Haare und es ist ja seine Stimme, ach du lieber Gott, dass du mich
+das noch erleben lässt!" Und aus den blinden Augen fielen ein paar
+große Freudentränen auf Heidis Hand nieder. "Bist du's auch, Heidi,
+bist du auch sicher wieder da?"
+
+"Ja, ja, sicher, Großmutter", rief Heidi nun mit aller Zuversicht,
+"weine nur nicht, ich bin ganz gewiss wieder da und komme alle Tage
+zu dir und gehe nie wieder fort, und du musst auch manchen Tag kein
+hartes Brot mehr essen, siehst du, Großmutter, siehst du?"
+
+Und Heidi packte nun aus seinem Korb ein Brötchen nach dem andern
+aus, bis es alle zwölf auf dem Schoß der Großmutter aufgehäuft
+hatte.
+
+"Ach Kind! Ach Kind! Was bringst du denn für einen Segen mit!",
+rief die Großmutter aus, als es nicht enden wollte mit den Brötchen
+und immer noch eines folgte. "Aber der größte Segen bist du mir
+doch selber, Kind!" Dann griff sie wieder in Heidis krause Haare
+und strich über seine heißen Wangen und sagte wieder: "Sag noch ein
+Wort, Kind, sag noch etwas, dass ich dich hören kann."
+
+Heidi erzählte nun der Großmutter, welche große Angst es habe
+ausstehen müssen, sie sei vielleicht gestorben unterdessen und habe
+nun gar nie die weißen Brötchen bekommen, und es könne nie, nie
+mehr zu ihr gehen.
+
+Jetzt trat Peters Mutter herein und blieb einen Augenblick
+unbeweglich stehen vor Erstaunen. Dann rief sie: "Sicher, es ist
+das Heidi, wie kann auch das sein!"
+
+Heidi stand auf und gab ihr die Hand, und die Brigitte konnte sich
+gar nicht genug verwundern darüber, wie Heidi aussehe, und ging um
+das Kind herum und sagte: "Großmutter, wenn du doch nur sehen
+könntest, was für ein schönes Röcklein das Heidi hat und wie es
+aussieht; man kennt es fast nicht mehr. Und das Federnhütlein auf
+dem Tisch gehört dir auch noch? Setz es doch einmal auf, so kann
+ich sehen, wie du drin aussiehst."
+
+"Nein, ich will nicht", erklärte Heidi, "du kannst es haben, ich
+brauche es nicht mehr, ich habe schon noch mein eigenes." Damit
+machte Heidi sein rotes Bündelchen auf und nahm sein altes Hütchen
+daraus hervor, das auf der Reise zu den Knicken, die es schon
+vorher gehabt, noch einige bekommen hatte. Aber das kümmerte das
+Heidi wenig; es hatte ja nicht vergessen, wie der Großvater beim
+Abschied nachgerufen hatte, in einem Federnhut wolle er es niemals
+sehen; darum hatte Heidi sein Hütchen so sorgfältig aufgehoben,
+denn es dachte ja immer ans Heimgehen zum Großvater. Aber die
+Brigitte sagte, so einfältig müsse es nicht sein, es sei ja ein
+prächtiges Hütchen, das nehme sie nicht; man könnte es ja etwa dem
+Töchterlein vom Lehrer im Dörfli verkaufen und noch viel Geld
+bekommen, wenn es das Hütlein nicht tragen wolle. Aber Heidi blieb
+bei seinem Vorhaben und legte das Hütchen leise hinter die
+Großmutter in den Winkel, wo es ganz verborgen war. Dann zog Heidi
+auf einmal sein schönes Röcklein aus, und über das Unterröckchen,
+in dem es nun mit bloßen Armen dastand, band es das rote Halstuch,
+und nun fasste es die Hand der Großmutter und sagte: "Jetzt muss
+ich heim zum Großvater, aber morgen komm ich wieder zu dir; gute
+Nacht, Großmutter."
+
+"Ja, komm auch wieder, Heidi, komm auch morgen wieder", bat die
+Großmutter und drückte seine Hand zwischen den ihrigen und konnte
+das Kind fast nicht loslassen.
+
+"Warum hast du denn dein schönes Röcklein ausgezogen?", fragte die
+Brigitte.
+
+"Weil ich lieber so zum Großvater will, sonst kennt er mich
+vielleicht nicht mehr, du hast mich ja auch fast nicht gekannt
+darin."
+
+Die Brigitte ging noch mit Heidi vor die Tür hinaus, und hier sagte
+sie ein wenig geheimnisvoll zu ihm: "Den Rock hättest du schon
+anbehalten können, er hätte dich doch gekannt; aber sonst musst du
+dich in Acht nehmen; der Peterli sagt, der Alm-Öhi sei jetzt immer
+bös und rede kein Wort mehr."
+
+Heidi sagte 'gute Nacht' und stieg die Alm hinan mit
+seinem Korb am Arm. Die Abendsonne leuchtete ringsum auf die grüne
+Alm, und jetzt war auch drüben das große Schneefeld an der
+Schesaplana sichtbar geworden und strahlte herüber. Heidi musste
+alle paar Schritte wieder stille stehen und sich umkehren, denn die
+hohen Berge hatte es im Rücken beim Hinaufsteigen. Jetzt fiel ein
+roter Schimmer vor seinen Füßen auf das Gras, es kehrte sich um, da
+--so hatte es die Herrlichkeit nicht mehr im Sinn gehabt und auch
+nie so im Traum gesehen--die Felshörner am Falknis flammten zum
+Himmel auf, das weite Schneefeld glühte und rosenrote Wolken zogen
+darüber hin; das Gras rings auf der Alm war golden, von allen
+Felsen flimmerte und leuchtete es nieder und unten schwamm weithin
+das ganze Tal in Duft und Gold. Heidi stand mitten in der
+Herrlichkeit, und vor Freude und Wonne liefen ihm die hellen Tränen
+die Wangen herunter, und es musste die Hände falten und in den
+Himmel hinaufschauen und ganz laut dem lieben Gott danken, dass er
+es wieder heimgebracht hatte und dass alles, alles noch so schön
+sei und noch viel schöner, als es gewusst hatte, und dass alles
+wieder ihm gehöre; und Heidi war so glücklich und so reich in all
+der großen Herrlichkeit, dass es gar nicht Worte fand, dem lieben
+Gott genug zu danken. Erst als das Licht ringsum verglühte, konnte
+Heidi wieder von der Stelle weg; nun rannte es aber so den Berg
+hinan, dass es gar nicht lange dauerte, so erblickte es oben die
+Tannenwipfel über dem Dache und jetzt das Dach und die ganze Hütte,
+und auf der Bank an der Hütte saß der Großvater und rauchte sein
+Pfeifchen, und über die Hütte her wogten die alten Tannenwipfel und
+raschelten im Abendwind. Jetzt rannte das Heidi noch mehr, und
+bevor der Alm-Öhi nur recht sehen konnte, was da herankam, stürzte
+das Kind schon auf ihn hin, warf seinen Korb auf den Boden und
+umklammerte den Alten, und vor Aufregung des Wiedersehens konnte es
+nichts sagen, als nur immer ausrufen: "Großvater! Großvater!
+Großvater!"
+
+Der Großvater sagte auch nichts. Seit vielen Jahren waren ihm zum
+erstenmal wieder die Augen nass geworden, und er musste mit der
+Hand darüber fahren. Dann löste er Heidis Arme von seinem Hals,
+setzte das Kind auf seine Knie und betrachtete es einen Augenblick.
+"So, bist du wieder heimgekommen, Heidi", sagte er dann; "wie ist
+das? Besonders hoffärtig siehst du nicht aus, haben sie dich
+fortgeschickt?"
+
+"O nein, Großvater", fing Heidi nun mit Eifer an, "das musst du
+nicht glauben, sie waren alle so gut, die Klara und die Großmama
+und der Herr Sesemann; aber siehst du, Großvater, ich konnte es
+fast gar nicht mehr aushalten, bis ich wieder bei dir daheim sein
+könnte, und ich habe manchmal gemeint, ich müsse ganz ersticken, so
+hat es mich gewürgt; aber ich habe gewiss nichts gesagt, weil es
+undankbar war. Aber dann auf einmal an einem Morgen rief mich der
+Herr Sesemann ganz früh--aber ich glaube, der Herr Doktor war
+schuld daran--aber es steht vielleicht alles in dem Brief"--damit
+sprang Heidi auf den Boden und holte seinen Brief und seine Rolle
+aus dem Korb herbei und legte beide in die Hand des Großvaters.
+
+"Das gehört dir", sagte dieser und legte die Rolle neben sich auf
+die Bank. Dann nahm er den Brief und las ihn durch: Ohne ein Wort
+zu sagen, steckte er dann das Blatt in die Tasche.
+
+"Meinst, du könntest auch noch Milch trinken mit mir, Heidi?",
+fragte er nun, indem er das Kind bei der Hand nahm, um in die Hütte
+einzutreten. "Aber nimm dort dein Geld mit dir, da kannst du ein
+ganzes Bett daraus kaufen und Kleider für ein paar Jahre."
+
+"Ich brauch es gewiss nicht, Großvater", versicherte Heidi; "ein
+Bett hab ich schon, und Kleider hat mir Klara so viele eingepackt,
+dass ich gewiss nie mehr andere brauche."
+
+"Nimm's, nimm's, und leg's in den Schrank, du wirst's schon einmal
+brauchen können."
+
+Heidi gehorchte und hüpfte nun dem Großvater nach in die Hütte
+hinein, wo es vor Freude über das Wiedersehen in alle Winkel sprang
+und die Leiter hinauf--aber da stand es plötzlich still und rief
+in Betroffenheit von oben herunter: "Oh, Großvater, ich habe kein
+Bett mehr!"
+
+"Kommt schon wieder", tönte es von unten herauf, "wusste ja nicht,
+dass du wieder heimkommst; jetzt komm zur Milch!"
+
+Heidi kam herunter und setzte sich auf seinen hohen Stuhl am alten
+Platze, und nun erfasste es sein Schüsselchen und trank mit einer
+Begierde, als wäre etwas so Köstliches noch nie in seinen Bereich
+gekommen, und als es mit einem tiefen Atemzug das Schüsselchen
+hinstellte, sagte es: "So gut wie unsere Milch ist doch gar nichts
+auf der Welt, Großvater."
+
+Jetzt ertönte draußen ein schriller Pfiff; wie der Blitz schoss
+Heidi zur Tür hinaus. Da kam die ganze Schar der Geißen hüpfend,
+springend, Sätze machend von der Höhe herunter, mittendrin der
+Peter. Als er Heidi ansichtig wurde, blieb er auf der Stelle
+völlig wie angewurzelt stehen und starrte es sprachlos an. Heidi
+rief: "Guten Abend, Peter!", und stürzte mitten in die Geißen
+hinein: "Schwänli! Bärli! Kennt ihr mich noch?", und die Geißlein
+mussten seine Stimme gleich erkannt haben, denn sie rieben ihre
+Köpfe an Heidi und fingen an leidenschaftlich zu meckern vor Freude,
+und Heidi rief alle nacheinander beim Namen, und alle rannten wie
+wild durcheinander und drängten sich zu ihm heran; der ungeduldige
+Distelfink sprang hoch auf und über zwei Geißen weg, um gleich in
+die Nähe zu kommen, und sogar das schüchterne Schneehöppli drängte
+mit einem ziemlich eigensinnigen Bohren den großen Türk auf die
+Seite, der nun ganz verwundert über die Frechheit dastand und
+seinen Bart in die Luft hob, um zu zeigen, dass er es sei.
+
+Heidi war außer sich vor Freude, alle die alten Gefährten wieder zu
+haben; es umarmte das kleine, zärtliche Schneehöppli wieder und
+wieder und streichelte den stürmischen Distelfink und wurde vor
+großer Liebe und Zutraulichkeit der Geißen hin und her gedrängt und
+geschoben, bis es nun ganz in Peters Nähe kam, der noch immer auf
+demselben Platze stand.
+
+"Komm herunter, Peter, und sag mir einmal guten Abend!", rief ihm
+Heidi jetzt zu.
+
+"Bist denn wieder da?", brachte er nun endlich in seinem Erstaunen
+heraus, und nun kam er herzu und nahm Heidis Hand, die dieses ihm
+schon lange hingehalten hatte, und nun fragte er, so wie er immer
+getan hatte bei der Heimkehr am Abend: "Kommst morgen wieder mit?"
+
+"Nein, morgen nicht, aber übermorgen vielleicht, denn morgen muss
+ich zur Großmutter."
+
+"Es ist recht, dass du wieder da bist", sagte der Peter und verzog
+sein Gesicht auf alle Seiten vor ungeheurem Vergnügen, dann
+schickte er sich zur Heimfahrt an; aber heute wurde es ihm so
+schwer wie noch nie mit seinen Geißen, denn als er sie endlich mit
+Locken und Drohen so weit gebracht hatte, dass sie sich um ihn
+sammelten, und Heidi, den einen Arm um Schwänlis und den andern um
+Bärlis Kopf gelegt, davonspazierte, da kehrten mit einem Male alle
+wieder um und liefen den dreien nach. Heidi musste mit seinen zwei
+Geißen in den Stall eintreten und die Tür zumachen, sonst wäre der
+Peter niemals mit seiner Herde fortgekommen. Als das Kind dann in
+die Hütte zurückkam, da sah es sein Bett schon wieder aufgerichtet,
+prächtig hoch und duftend, denn das Heu war noch nicht lange
+hereingeholt, und darüber hatte der Großvater ganz sorgfältig die
+sauberen Leintücher gebreitet. Heidi legte sich mit großer Lust
+hinein und schlief so herrlich, wie es ein ganzes Jahr lang nicht
+geschlafen hatte. Während der Nacht verließ der Großvater wohl
+zehnmal sein Lager und stieg die Leiter hinauf und lauschte sorgsam,
+ob Heidi auch schlafe und nicht unruhig werde, und suchte am Loch
+nach, wo sonst der Mond hereinkam auf Heidis Lager, ob auch das Heu
+noch fest drinnen sitze, das er hineingestopft hatte, denn von nun
+an durfte der Mondschein nicht mehr hereinkommen. Aber Heidi
+schlief in einem Zuge fort und wanderte keinen Schritt herum, denn
+sein großes, brennendes Verlangen war gestillt worden: Es hatte
+alle Berge und Felsen wieder im Abendglühen gesehen, es hatte die
+Tannen rauschen gehört, es war wieder daheim auf der Alm.
+
+
+
+
+Am Sonntag, wenn's läutet
+
+Heidi stand unter den wogenden Tannen und wartete auf den Großvater,
+der mitgehen und den Koffer vom Dörfli heraufholen wollte, während
+es bei der Großmutter wäre. Das Kind konnte es fast nicht erwarten,
+die Großmutter wieder zu sehen und zu hören, wie ihr die Brötchen
+geschmeckt hatten, und doch wurde ihm wieder die Zeit nicht lang,
+denn es konnte ja nicht genug die heimatlichen Töne von dem
+Tannenrauschen über ihm und das Duften und Leuchten der grünen
+Weiden und der goldenen Blumen darauf eintrinken.
+
+Jetzt trat der Großvater aus der Hütte, schaute noch einmal rings
+um sich und sagte dann mit zufriedenem Ton: "So, nun können wir
+gehen."
+
+Denn es war Sonnabend heut, und an dem Tage machte der Alm-Öhi
+alles sauber und in Ordnung in der Hütte, im Stall und ringsherum,
+das war seine Gewohnheit, und heut hatte er den Morgen dazu
+genommen, um gleich nachmittags mit Heidi ausziehen zu können, und
+so sah nun alles ringsherum gut und zu seiner Zufriedenheit aus.
+Bei der Geißenpeter-Hütte trennten sie sich, und Heidi sprang
+hinein. Schon hatte die Großmutter seinen Schritt gehört und rief
+ihm liebevoll entgegen: "Kommst du, Kind? Kommst du wieder?"
+
+Dann erfasste sie Heidis Hand und hielt sie ganz fest, denn immer
+noch fürchtete sie, das Kind könnte ihr wieder entrissen werden.
+Und nun musste die Großmutter erzählen, wie die Brötchen geschmeckt
+hätten, und sie sagte, sie habe sich so daran erlabt, dass sie
+meine, sie sei heute viel kräftiger als lang nicht mehr, und Peters
+Mutter fügte hinzu, die Großmutter habe vor lauter Sorge, sie werde
+zu bald fertig damit, nur ein einziges Brötchen essen wollen,
+gestern und heut zusammen, und sie käme gewiss noch ziemlich zu
+Kräften, wenn sie so acht Tage lang hintereinander jeden Tage eines
+essen wollte. Heidi hörte der Brigitte mit Aufmerksamkeit zu und
+blieb jetzt noch eine Zeit lang nachdenklich. Nun hatte es seinen
+Weg gefunden. "Ich weiß schon, was ich mache, Großmutter", sagte
+es in freudigem Eifer; "ich schreibe der Klara einen Brief und dann
+schickt sie mir gewiss noch einmal so viel Brötchen, wie da sind,
+oder zweimal, denn ich hatte schon einen großen Haufen ganz gleiche
+im Kasten, und als man mir sie weggenommen hatte, sagte Klara, sie
+gebe mir gerade so viele wieder, und das tut sie schon."
+
+"Ach Gott", sagte die Brigitte, "das ist eine gute Meinung; aber
+denk, sie werden auch hart. Wenn man nur hier und da einen übrigen
+Batzen hätte, der Bäcker unten im Dörfli macht auch solche, aber
+ich vermag kaum das schwarze Brot zu bezahlen."
+
+Jetzt schoss ein heller Freudenstrahl über Heidis Gesicht: "Oh, ich
+habe furchtbar viel Geld, Großmutter", rief es jubelnd aus und
+hüpfte vor Freuden in die Höhe, "jetzt weiß ich, was ich damit
+mache! Alle, alle Tage musst du ein neues Brötchen haben und am
+Sonntage zwei, und der Peter kann sie heraufbringen vom Dörfli."
+
+"Nein, nein, Kind!", wehrte die Großmutter; "das kann nicht sein,
+das Geld hast du nicht dazu bekommen, du musst es dem Großvater
+geben, er sagt dir dann schon, was du damit machen musst."
+
+Aber Heidi ließ sich nicht stören in seiner Freude, es jauchzte und
+hüpfte in der Stube herum und rief ein Mal übers andere: "Jetzt
+kann die Großmutter jeden Tag ein Brötchen essen und wird wieder
+ganz kräftig, und--oh, Großmutter", rief es mit neuem Jubel, "wenn
+du dann so gesund wirst, so wird es dir gewiss auch wieder hell, es
+ist vielleicht nur, weil du so schwach bist."
+
+Die Großmutter schwieg still, sie wollte des Kindes Freude nicht
+trüben. Bei seinem Herumhüpfen fiel dem Heidi auf einmal das alte
+Liederbuch der Großmutter in die Augen, und es kam ihm ein neuer
+freudiger Gedanke: "Großmutter, jetzt kann ich auch ganz gut lesen;
+soll ich dir einmal ein Lied lesen aus deinem alten Buch?"
+
+"O ja", bat die Großmutter freudig überrascht; "kannst du das auch
+wirklich, Kind, kannst du das?"
+
+Heidi war auf einen Stuhl geklettert und hatte das Buch mit einer
+dicken Staubwolke heruntergezogen, denn es hatte lange unberührt
+gelegen da oben; nun wischte es Heidi sauber ab, setzte sich damit
+auf seinen Schemel zur Großmutter hin und fragte, was es nun lesen
+solle.
+
+"Was du willst, Kind, was du willst", und mit gespannter Erwartung
+saß die Großmutter da und hatte ihr Spinnrad ein wenig von sich
+geschoben.
+
+Heidi blätterte und las leise hier und da eine Linie: "jetzt kommt
+etwas von der Sonne, das will ich dir lesen, Großmutter." Und Heidi
+begann und wurde selbst immer eifriger und immer wärmer, während es
+las:
+
+ "Die güldne Sonne Voll
+ Freud und Wonne
+ Bringt unsern Grenzen
+ Mit ihrem Glänzen
+ Ein herzerquickendes, liebliches Licht.
+
+ Mein Haupt und Glieder
+ Die lagen darnieder;
+ Aber nun steh ich,
+ Bin munter und fröhlich,
+ Schaue den Himmel mit meinem Gesicht.
+
+ Mein Auge schauet,
+ Was Gott gebauet
+ Zu seinen Ehren,
+ Und uns zu lehren,
+ Wie sein Vermögen sei mächtig und groß.
+
+ Und wo die Frommen
+ Dann sollen hinkommen,
+ Wenn sie mit Frieden
+ Von hinnen geschieden
+ Aus dieser Erde vergänglichem Schoß.
+
+ Alles vergehet,
+ Gott aber stehet
+ Ohn alles Wanken,
+ Seine Gedanken,
+ Sein Wort und Wille hat ewigen Grund.
+
+ Sein Heil und Gnaden
+ Die nehmen nicht Schaden,
+ Heilen im Herzen,
+ Die tödlichen Schmerzen,
+ Halten uns zeitlich und ewig gesund.
+
+ Kreuz und Elende--
+ Das nimmt ein Ende,
+ Nach Meeresbrausen
+ Und Windessausen
+ Leuchtet der Sonne erwünschtes Gesicht.
+
+ Freude die Fülle
+ Und selige Stille
+ Darf ich erwarten
+ Im himmlischen Garten,
+ Dahin sind meine Gedanken gericht'."
+
+
+Die Großmutter saß still da mit gefalteten Händen, und ein Ausdruck
+unbeschreiblicher Freude, so wie ihn Heidi nie an ihr gesehen hatte,
+lag auf ihrem Gesicht, obschon ihr die Tränen die Wangen
+herabliefen. Als Heidi schwieg, bat sie mit Verlangen: "Oh, noch
+einmal, Heidi, lass es mich noch einmal hören:
+
+ 'Kreuz und Elende
+ Das nimmt ein Ende'--"
+
+Und das Kind fing noch einmal an und las in eigener Freude und
+Verlangen:
+
+ "Kreuz und Elende--
+ Das nimmt ein Ende,
+ Nach Meeresbrausen
+ Und Windessausen
+ Leuchtet der Sonne erwünschtes Gesicht.
+
+ Freude die Fülle
+ Und selige Stille
+ Darf ich erwarten
+ Im himmlischen Garten,
+ Dahin sind meine Gedanken gericht'."
+
+
+"O Heidi, das macht hell! Das macht so hell im Herzen! Oh, wie
+hast du mir wohl gemacht, Heidi!"
+
+Ein Mal ums andere sagte die Großmutter die Worte der Freude, und
+Heidi strahlte vor Glück und musste sie nur immer ansehen, denn so
+hatte es die Großmutter nie gesehen. Sie hatte gar nicht mehr das
+alte trübselige Gesicht, sondern schaute so freudig und dankend auf,
+als sähe sie schon mit neuen, hellen Augen in den schönen
+himmlischen Garten hinein.
+
+Jetzt klopfte es am Fenster, und Heidi sah den Großvater draußen,
+der ihm winkte, mit heimzukommen. Es folgte schnell, aber nicht
+ohne die Großmutter zu versichern, morgen komme es wieder, und auch
+wenn es mit Peter auf die Weide gehe, so komme es doch im halben
+Tag zurück; denn dass es der Großmutter wieder hell machen konnte
+und sie wieder fröhlich wurde, das war nun für Heidi das
+allergrößte Glück, das es kannte, noch viel größer, als auf der
+sonnigen Weide und bei den Blumen und Geißen zu sein. Die Brigitte
+lief dem Heidi unter die Tür nach mit Rock und Hut, dass es seine
+Habe mitnehme. Den Rock nahm es auf den Arm, denn der Großvater
+kenne es jetzt schon, dachte es bei sich; aber den Hut wies es
+hartnäckig zurück, die Brigitte sollte ihn nur behalten, es setze
+ihn nie, nie mehr auf den Kopf. Heidi war so erfüllt von seinen
+Erlebnissen, dass es gleich dem Großvater alles erzählen musste,
+was ihm das Herz erfreute, dass man die weißen Brötchen auch unten
+im Dörfli für die Großmutter holen könne, wenn man nur Geld habe,
+und dass es der Großmutter auf einmal so hell und wohl geworden war,
+und wie Heidi das alles zu Ende geschildert hatte, kehrte es
+wieder zum Ersten zurück und sagte ganz zuversichtlich: "Gelt,
+Großvater, wenn die Großmuttter schon nicht will, so gibst du mir
+doch alles Geld in der Rolle, dass ich dem Peter jeden Tag ein
+Stück geben kann zu einem Brötchen und am Sonntag zwei?"
+
+"Aber das Bett, Heidi?", sagte der Großvater; "ein rechtes Bett für
+dich wäre gut, und nachher bleibt schon noch für manches Brötchen."
+
+Aber Heidi ließ dem Großvater keine Ruhe und bewies ihm, dass es
+auf seinem Heubett viel besser schlafe, als es jemals in seinem
+Kissenbett in Frankfurt geschlafen habe, und bat so eindringlich
+und unablässig, dass der Großvater zuletzt sagte: "Das Geld ist
+dein, mach, was dich freut; du kannst der Großmutter manches Jahr
+lang Brot holen dafür."
+
+Heidi jauchzte auf: "O juhe! Nun muss die Großmutter gar nie mehr
+hartes, schwarzes Brot essen, und, o Großvater! Nun ist doch alles
+so schön wie noch gar nie, seit wir leben!", und Heidi hüpfte hoch
+auf an der Hand des Großvaters und jauchzte in die Luft hinauf wie
+die fröhlichen Vögel des Himmels. Aber auf einmal wurde es ganz
+ernsthaft und sagte: "Oh, wenn nun der liebe Gott gleich auf der
+Stelle getan hätte, was ich so stark erbetete, dann wäre doch alles
+nicht so geworden, ich wäre nur gleich wieder heimgekommen und
+hätte der Großmutter nur wenige Brötchen gebracht und hätte ihr
+nicht lesen können, was ihr wohl macht; aber der liebe Gott hatte
+schon alles ausgedacht, so viel schöner, als ich es wusste; die
+Großmama hat es mir gesagt, und nun ist alles so gekommen. Oh, wie
+bin ich froh, dass der liebe Gott nicht nachgab, wie ich so bat und
+jammerte! Aber jetzt will ich immer so beten, wie die Großmama
+sagte, und dem lieben Gott immer danken, und wenn er etwas nicht
+tut, das ich erbeten will, dann will ich gleich denken: Es geht
+gewiss wieder wie in Frankfurt, der liebe Gott denkt gewiss etwas
+viel Besseres aus. Aber wir wollen auch alle Tage beten, gelt
+Großvater, und wir wollen es nie mehr vergessen, damit der liebe
+Gott uns auch nicht vergisst."
+
+"Und wenn's einer doch täte?", murmelte der Großvater.
+
+"Oh, dem geht's nicht gut, denn der liebe Gott vergisst ihn dann
+auch und lässt ihn ganz laufen, und wenn es ihm einmal schlecht
+geht und er jammert, so hat kein Mensch Mitleid mit ihm, sondern
+alle sagen nur: Er ist ja zuerst vom lieben Gott weggelaufen, nun
+lässt ihn der liebe Gott auch gehen, der ihm helfen könnte."
+
+"Das ist wahr, Heidi, woher weißt du das?"
+
+"Von der Großmama, sie hat mir alles erklärt."
+
+Der Großvater ging eine Weile schweigend weiter. Dann sagte er,
+seine Gedanken verfolgend, vor sich hin: "Und wenn's einmal so ist,
+dann ist es so; zurück kann keiner, und wen der Herrgott vergessen
+hat, den hat er vergessen."
+
+"O nein, Großvater, zurück kann einer, das weiß ich auch von der
+Großmama, und dann geht es so wie in der schönen Geschichte in
+meinem Buch, aber die weißt du nicht; jetzt sind wir aber gleich
+daheim, und dann wirst du schon erfahren, wie schön die Geschichte
+ist."
+
+Heidi strebte in seinem Eifer rascher und rascher die letzte
+Steigung hinan, und kaum waren sie oben angelangt, als es des
+Großvaters Hand losließ und in die Hütte hineinrannte. Der
+Großvater nahm den Korb von seinem Rücken, in den er die Hälfte der
+Sachen aus dem Koffer hineingestoßen hatte, denn den ganzen Koffer
+heraufzubringen wäre ihm zu schwer gewesen. Dann setzte er sich
+nachdenklich auf die Bank nieder. Heidi kam wieder herbeigerannt,
+sein großes Buch unter dem Arm: "Oh, das ist recht, Großvater, dass
+du schon dasitzt", und mit einem Satz war Heidi an seiner Seite und
+hatte schon seine Geschichte aufgeschlagen, denn die hatte es schon
+so oft und immer wieder gelesen, dass das Buch von selbst aufging
+an dieser Stelle. Jetzt las Heidi mit großer Teilnahme von dem
+Sohne, der es gut hatte daheim, wo draußen auf des Vaters Feldern
+die schönen Kühe und Schäflein weideten und er in einem schönen
+Mäntelchen, auf seinen Hirtenstab gestützt, bei ihnen auf der Weide
+stehen und dem Sonnenuntergang zusehen konnte, wie es alles auf dem
+Bilde zu sehen war. "Aber auf einmal wollte er sein Hab und Gut
+für sich haben und sein eigener Meister sein und forderte es dem
+Vater ab und lief fort damit und verprasste alles. Und als er gar
+nichts mehr hatte, musste er hingehen und Knecht sein bei einem
+Bauer, der hatte aber nicht so schöne Tiere, wie auf seines Vaters
+Feldern waren, sondern nur Schweinlein; diese musste er hüten, und
+er hatte nur noch Fetzen auf sich und bekam nur von den Trebern,
+welche die Schweinchen aßen, ein klein wenig. Da dachte er daran,
+wie er es daheim beim Vater gehabt und wie gut der Vater mit ihm
+gewesen war und wie undankbar er gegen den Vater gehandelt hatte,
+und er musste weinen vor Reue und Heimweh. Und er dachte: 'Ich
+will zu meinem Vater gehen und ihn um Verzeihung bitten und ihm
+sagen, ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen, aber lass mich
+nur dein Tagelöhner bei dir sein.' Und wie er von ferne gegen
+das Haus seines Vaters kam, da sah ihn der Vater und kam
+herausgelaufen--was meinst du jetzt, Großvater?", unterbrach sich
+Heidi in seinem Vorlesen; "jetzt meinst du, der Vater sei noch böse
+und sage zu ihm: 'Ich habe dir's ja gesagt!'? Jetzt
+hör nur, was kommt: Und sein Vater sah ihn und es jammerte ihn und
+lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn, und der Sohn sprach
+zu ihm: 'Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor
+dir und bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen.' Aber der
+Vater sprach zu seinen Knechten: 'Bringt das beste Kleid her
+und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und
+Schuhe an die Füße, und bringt das gemästete Kalb her und
+schlachtet es und lasst uns essen und fröhlich sein, denn dieser
+mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, und er war
+verloren und ist wieder gefunden worden.' Und sie fingen an,
+fröhlich zu sein."
+
+"Ist denn das nicht eine schöne Geschichte, Großvater?", fragte
+Heidi, als dieser immer noch schweigend dasaß und es doch erwartet
+hatte, er werde sich freuen und verwundern.
+
+"Doch, Heidi, die Geschichte ist schön", sagte der Großvater; aber
+sein Gesicht war so ernsthaft, dass Heidi ganz stille wurde und
+seine Bilder ansah. Leise schob es noch einmal sein Buch vor den
+Großvater hin und sagte: "Sieh, wie es ihm wohl ist", und zeigte
+mit seinem Finger auf das Bild des Heimgekehrten, wie er im
+frischen Kleid neben dem Vater steht und wieder zu ihm gehört als
+sein Sohn.
+
+Ein paar Stunden später, als Heidi längst im tiefen Schlafe lag,
+stieg der Großvater die kleine Leiter hinauf; er stellte sein
+Lämpchen neben Heidis Lager hin, so dass das Licht auf das
+schlafende Kind fiel. Es lag da mit gefalteten Händen, denn zu
+beten hatte Heidi nicht vergessen. Auf seinem rosigen Gesichtchen
+lag ein Ausdruck des Friedens und seligen Vertrauens, der zu dem
+Großvater reden musste, denn lange, lange stand er da und rührte
+sich nicht und wandte kein Auge von dem schlafenden Kinde ab.
+Jetzt faltete auch er die Hände, und halblaut sagte er mit
+gesenktem Haupte: "Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und
+vor dir und bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen!" Und ein paar
+große Tränen rollten dem Alten die Wangen herab.--
+
+Wenige Stunden nachher in der ersten Frühe des Tages stand der
+Alm-Öhi vor seiner Hütte und schaute mit hellen Augen um sich. Der
+Sonntagmorgen flimmerte und leuchtete über Berg und Tal. Einzelne
+Frühglocken tönten aus den Tälern herauf, und oben in den Tannen
+sangen die Vögel ihre Morgenlieder.
+
+Jetzt trat der Großvater in die Hütte zurück. "Komm, Heidi!", rief
+er auf den Boden hinauf. "Die Sonne ist da! Zieh ein gutes
+Röcklein an, wir wollen in die Kirche miteinander!"
+
+Heidi machte nicht lange; das war ein ganz neuer Ruf vom Großvater,
+dem musste es schnell folgen. In kurzer Zeit kam es
+heruntergesprungen in seinem schmucken Frankfurter Röckchen. Aber
+voller Erstaunen blieb Heidi vor seinem Großvater stehen und
+schaute ihn an. "O Großvater, so hab ich dich nie gesehen", brach
+es endlich aus, "und den Rock mit den silbernen Knöpfen hast du
+noch gar nicht getragen, oh, du bist so schön in deinem schönen
+Sonntagsrock."
+
+Der Alte blickte vergnüglich lächelnd auf das Kind und sagte: "Und
+du in dem deinen; jetzt komm!" Er nahm Heidis Hand in die seine,
+und so wanderten sie miteinander den Berg hinunter. Von allen
+Seiten tönten jetzt die hellen Glocken ihnen entgegen, immer voller
+und reicher, je weiter sie kamen, und Heidi lauschte mit Entzücken
+und sagte: "Hörst du's, Großvater? Es ist wie ein großes, großes
+Fest."
+
+Unten im Dörfli waren schon alle Leute in der Kirche und fingen
+eben zu singen an, als der Großvater mit Heidi eintrat und ganz
+hinten auf der letzten Bank sich niedersetzte. Aber mitten im
+Singen stieß der zunächst Sitzende seinen Nachbar mit dem
+Ellenbogen an und sagte: "Hast du das gesehen? Der Alm-Öhi ist in
+der Kirche!"
+
+Und der Angestoßene stieß den Zweiten an und so fort, und in
+kürzester Zeit flüsterte es an allen Ecken: "Der Alm-Öhi! Der
+Alm-Öhi!", und die Frauen mussten fast alle einen Augenblick den Kopf
+umdrehen, und die meisten fielen ein wenig aus der Melodie, so dass
+der Vorsänger die größte Mühe hatte, den Gesang schön
+aufrechtzuerhalten. Aber als dann der Herr Pfarrer anfing zu
+predigen, ging die Zerstreutheit ganz vorüber, denn es war ein so
+warmes Loben und Danken in seinen Worten, dass alle Zuhörer davon
+ergriffen wurden, und es war, als sei ihnen allen eine große Freude
+widerfahren. Als der Gottesdienst zu Ende war, trat der Alm-Öhi
+mit dem Kinde an der Hand heraus und schritt dem Pfarrhaus zu, und
+alle, die mit ihm heraustraten und die schon draußen standen,
+schauten ihm nach, und die meisten gingen hinter ihm her, um zu
+sehen, ob er wirklich ins Pfarrhaus eintrete, was er tat. Dann
+sammelten sie sich in Gruppen zusammen und besprachen in großer
+Aufregung das Unerhörte, dass der Alm-Öhi in der Kirche erschienen
+war, und alle schauten mit Spannung nach der Pfarrhaustür, wie der
+Öhi wohl wieder herauskommen werde, ob in Zorn und Hader oder im
+Frieden mit dem Herrn Pfarrer, denn man wusste ja gar nicht, was
+den Alten heruntergebracht hatte und wie es eigentlich gemeint sei.
+Aber doch war schon bei vielen eine neue Stimmung eingetreten, und
+einer sagte zum andern: "Es wird wohl mit dem Alm-Öhi nicht so bös
+sein, wie man tut; man kann ja nur sehen, wie sorglich er das
+Kleine an der Hand hält." Und der andere sagte: "Das hab ich ja
+immer gesagt, und zum Pfarrer hinein ginge er auch nicht, wenn er
+so bodenschlecht wäre, sonst müsste er sich ja fürchten; man
+übertreibt auch viel." Und der Bäcker sagte: "Hab ich das nicht
+zuallererst gesagt? Seit wann läuft denn ein kleines Kind, das zu
+essen und zu trinken hat, was es will, und sonst alles Gute, aus
+alledem weg und heim zu einem Großvater, wenn der bös und wild ist
+und es sich zu fürchten hat vor ihm?" Und es kam eine ganz
+liebevolle Stimmung gegen den Alm-Öhi auf und nahm überhand, denn
+jetzt nahten sich auch die Frauen herzu, und diese hatten so
+manches von der Geißenpeterin und der Großmutter gehört, das den
+Alm-Öhi ganz anders darstellte, als die allgemeine Meinung war, und
+das ihnen jetzt auf einmal glaublich schien, dass es mehr und mehr
+so wurde, als warteten sie alle da, um einen alten Freund zu
+bewillkommnen, der ihnen lange gemangelt hatte.
+
+Der Alm-Öhi war unterdessen an die Tür der Studierstube getreten
+und hatte angeklopft. Der Herr Pfarrer machte auf und trat dem
+Eintretenden entgegen, nicht überrascht, wie er wohl hätte sein
+können, sondern so, als habe er ihn erwartet; die ungewohnte
+Erscheinung in der Kirche musste ihm nicht entgangen sein. Er
+ergriff die Hand des Alten und schüttelte sie wiederholt mit der
+größten Herzlichkeit, und der Alm-Öhi stand schweigend da und
+konnte erst kein Wort herausbringen, denn auf solchen herzlichen
+Empfang war er nicht vorbereitet. Jetzt fasste er sich und sagte:
+"Ich komme, um den Herrn Pfarrer zu bitten, dass er mir die Worte
+vergessen möchte, die ich zu ihm auf der Alm geredet habe, und dass
+er mir nicht nachtragen wolle, wenn ich widerspenstig war gegen
+seinen wohlmeinenden Rat. Der Herr Pfarrer hat ja in allem Recht
+gehabt und ich war im Unrecht, aber ich will jetzt seinem Rate
+folgen und auf den Winter wieder ein Quartier im Dörfli beziehen,
+denn die harte Jahreszeit ist nichts für das Kind dort oben, es ist
+zu zart, und wenn auch dann die Leute hier unten mich von der Seite
+ansehen, so wie einen, dem nicht zu trauen ist, so habe ich es
+nicht besser verdient, und der Herr Pfarrer wird es ja nicht tun."
+
+Die freundlichen Augen des Pfarrers glänzten vor Freude. Er nahm
+noch einmal des Alten Hand und drückte sie in der seinen und sagte
+mit Rührung: "Nachbar, Ihr seid in der rechten Kirche gewesen, noch
+eh Ihr in die meinige herunterkamt; des freu ich mich, und dass Ihr
+wieder zu uns kommen und mit uns leben wollt, soll Euch nicht
+gereuen, bei mir sollt Ihr als ein lieber Freund und Nachbar alle
+Zeit willkommen sein, und ich gedenke manches Winterabendstündchen
+fröhlich mit Euch zu verbringen, denn Eure Gesellschaft ist mir
+lieb und wert, und für das Kleine wollen wir auch gute Freunde
+finden." Und der Herr Pfarrer legte sehr freundlich seine Hand auf
+Heidis Krauskopf und nahm es bei der Hand und führte es hinaus,
+indem er den Großvater fortbegleitete, und erst draußen vor der
+Haustür nahm er Abschied, und nun konnten alle die herumstehenden
+Leute sehen, wie der Herr Pfarrer dem Alm-Öhi die Hand immer noch
+einmal schüttelte, gerade als wäre das sein bester Freund, von dem
+er sich fast nicht trennen könnte. Kaum hatte dann auch die Tür
+sich hinter dem Herrn Pfarrer geschlossen, so drängte die ganze
+Versammlung dem Alm-Öhi entgegen, und jeder wollte der Erste sein,
+und so viele Hände wurden miteinander dem Herankommenden
+entgegengestreckt, dass er gar nicht wusste, welche zuerst
+ergreifen, und einer rief ihm zu: "Das freut mich! Das freut mich,
+Öhi, dass Ihr auch wieder einmal zu uns kommt!", und ein anderer:
+"Ich hätte auch schon lang gern wieder einmal ein Wort mit Euch
+geredet, Öhi!" Und so tönte und drängte es von allen Seiten, und
+wie nun der Öhi auf alle die freundlichen Begrüßungen erwiderte, er
+gedenke, sein altes Quartier im Dörfli wieder zu beziehen und den
+Winter mit den alten Bekannten zu verleben, da gab es erst einen
+rechten Lärm, und es war gerade so, wie wenn der Alm-Öhi die
+beliebteste Persönlichkeit im ganzen Dörfli wäre, die jeder mit
+Nachteil entbehrt hatte. Noch weit an die Alm hinauf wurden
+Großvater und Kind von den meisten begleitet, und beim Abschied
+wollte jeder die Versicherung haben, dass der Alm-Öhi bald einmal
+bei ihm vorspreche, wenn er wieder herunterkomme; und wie nun die
+Leute den Berg hinab zurückkehrten, blieb der Alte stehen und
+schaute ihnen lange nach, und auf seinem Gesichte lag ein so warmes
+Licht, als schiene bei ihm die Sonne von innen heraus. Heidi
+schaute unverwandt zu ihm auf und sagte ganz erfreut: "Großvater,
+heut wirst du immer schöner, so warst du noch gar nie."
+
+"Meinst du?", lächelte der Großvater. "Ja, und siehst du, Heidi,
+mir geht's auch heut über Verstehen und Verdienen gut, und mit Gott
+und Menschen im Frieden stehen, das macht einem so wohl! Der liebe
+Gott hat's gut mit mir gemeint, dass er dich auf die Alm schickte."
+
+Bei der Geißenpeter-Hütte angekommen, machte der Großvater gleich
+die Tür auf und trat ein. "Grüß Gott, Großmutter", rief er hinein;
+"ich denke, wir müssen einmal wieder ans Flicken gehen, bevor der
+Herbstwind kommt."
+
+"Du mein Gott, das ist der Öhi!", rief die Großmutter voll
+freudiger Überraschung aus. "Dass ich das noch erlebe! Dass ich
+Euch noch einmal danken kann für alles, das Ihr für uns getan habt,
+Öhi! Vergelt's Gott! Vergelt's Gott!"
+
+Und mit zitternder Freude streckte die alte Großmutter ihre Hand
+aus, und als der Angeredete sie herzlich schüttelte, fuhr sie fort,
+indem sie die seinige fest hielt: "Und eine Bitte hab ich auch noch
+auf dem Herzen, Öhi: Wenn ich Euch je etwas zuleid getan habe, so
+straft mich nicht damit, dass Ihr noch einmal das Heidi fortlasst,
+bevor ich unten bei der Kirche liege. Oh, Ihr wisst nicht, was mir
+das Kind ist!", und sie hielt es fest an sich, denn Heidi hatte
+sich schon an sie geschmiegt.
+
+"Keine Sorge, Großmutter", beruhigte der Öhi; "damit will ich weder
+Euch noch mich strafen. Jetzt bleiben wir alle beieinander und,
+will's Gott, noch lange so."
+
+Jetzt zog die Brigitte den Öhi ein wenig geheimnisvoll in eine Ecke
+hinein und zeigte ihm das schöne Federnhütchen und erzählte ihm,
+wie es sich damit verhalte, und dass sie ja natürlich so etwas
+einem Kinde nicht abnehme.
+
+Aber der Großvater sah ganz wohlgefällig auf sein Heidi hin und
+sagte: "Der Hut ist sein, und wenn es ihn nicht mehr auf den Kopf
+tun will, so hat es Recht, und hat es ihn dir gegeben, so nimm ihn
+nur."
+
+Die Brigitte war höchlich erfreut über das unerwartete Urteil. "Er
+ist gewiss mehr als zehn Franken wert, seht nur!", und in ihrer
+Freude streckte sie das Hütchen hoch auf. "Was aber auch dieses
+Heidi für einen Segen von Frankfurt mit heimgebracht hat! Ich habe
+schon manchmal denken müssen, ob ich nicht den Peterli auch ein
+wenig nach Frankfurt schicken solle; was meint Ihr, Öhi?"
+
+Dem Öhi schoss es ganz lustig aus den Augen. Er meinte, es könnte
+dem Peterli nichts schaden; aber er würde doch eine gute
+Gelegenheit dazu abwarten.
+
+Jetzt fuhr der Besprochene eben zur Tür herein, nachdem er zuerst
+mit dem Kopf so fest dagegen gerannt war, dass alles erklirrte
+davon; er musste pressiert sein. Atemlos und keuchend stand er nun
+mitten in der Stube still und streckte einen Brief aus. Das war
+auch ein Ereignis, das noch nie vorgekommen war, ein Brief mit
+einer Aufschrift an das Heidi, den man ihm auf der Post im Dörfli
+übergeben hatte. Jetzt setzten sich alle voller Erwartung um den
+Tisch herum, und Heidi machte seinen Brief auf und las ihn laut und
+ohne Anstoß vor. Der Brief war von der Klara Sesemann geschrieben.
+Sie erzählte Heidi, dass es seit seiner Abreise so langweilig
+geworden sei in ihrem Hause, sie es nicht lang hintereinander so
+aushalten könne und so lange den Vater gebeten habe, bis er die
+Reise ins Bad Ragaz schon auf den kommenden Herbst festgestellt
+habe, und die Großmama wolle auch mitkommen, denn sie wolle auch
+das Heidi und den Großvater besuchen auf der Alm. Und weiter ließ
+die Großmama noch dem Heidi sagen, es habe Recht getan, dass es der
+alten Großmutter die Brötchen habe mitbringen wollen, und damit sie
+diese nicht trocken essen müsse, komme gleich der Kaffee noch dazu,
+er sei schon auf der Reise, und wenn sie selbst nach der Alm komme,
+so müsse das Heidi sie auch zur Großmutter führen.
+
+Da gab es nun eine solche Freude und Verwunderung über diese
+Nachrichten und so viel zu reden und zu fragen, da die große
+Erwartung alle gleich betraf, dass selbst der Großvater nicht
+bemerkte, wie spät es schon war, und so vergnügt und fröhlich waren
+sie alle in der Aussicht auf die kommenden Tage und fast noch mehr
+in der Freude über das Zusammensein an dem heutigen, dass die
+Großmutter zuletzt sagte: "Das Schönste ist doch, wenn so ein alter
+Freund kommt und uns wieder die Hand gibt, so wie vor langer Zeit;
+das gibt so ein tröstliches Gefühl ins Herz, dass wir einmal alles
+wieder finden, was uns lieb ist. Ihr kommt doch bald wieder, Öhi,
+und das Kind morgen schon?"
+
+Das wurde der Großmutter in die Hand hinein versprochen; nun aber
+war es Zeit zum Aufbruch, und der Großvater wanderte mit Heidi die
+Alm hinan, und wie am Morgen die hellen Glocken von nah und fern
+sie heruntergerufen hatten, so begleitete nun aus dem Tale herauf
+das friedliche Geläut der Abendglocken sie bis hinauf zur sonnigen
+Almhütte, die ganz sonntäglich im Abendschimmer ihnen
+entgegenglänzte.
+
+Wenn aber die Großmama kommt im Herbst, dann gibt es gewiss noch
+manche neue Freude und Überraschung für das Heidi wie für die
+Großmutter, und sicher kommt auch gleich ein richtiges Bett auf den
+Heuboden hinauf, denn wo die Großmama hintritt, da kommen alle
+Dinge bald in die erwünschte Ordnung und Richtigkeit, nach außen
+wie nach innen.
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+End of Project Gutenberg's Heidis Lehr- und Wanderjahre, by Johanna Spyri
+
+*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK HEIDIS LEHR- UND WANDERJAHRE ***
+
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+The Project Gutenberg E-text of Heidis Lehr- und Wanderjahre, by Johanna Spyri
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+The Project Gutenberg EBook of Heidis Lehr- und Wanderjahre, by Johanna Spyri
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+This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
+other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
+whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of
+the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
+www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have
+to check the laws of the country where you are located before using this ebook.
+
+Title: Heidis Lehr- und Wanderjahre
+
+Author: Johanna Spyri
+
+Posting Date: September 1, 2014 [EBook #7500]
+Release Date: February, 2005
+First Posted: May 11, 2003
+Last Revised: August 21, 2016
+
+Language: German
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+Character set encoding: ISO-8859-1
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+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK HEIDIS LEHR- UND WANDERJAHRE ***
+
+
+
+
+Produced by Mike Pullen and Juliet Sunderland. HTML version
+by Al Haines.
+
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+</pre>
+
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<p class="letter">
+This book content was graciously contributed by the Gutenberg Projekt-DE.
+That project is reachable at the web site http://gutenberg2000.de.
+</p>
+
+<p class="letter">
+Dieses Buch wurde uns freundlicherweise vom "Gutenberg Projekt-DE"
+zur Verfügung gestellt. Das Projekt ist unter der Internet-Adresse
+http://gutenberg2000.de erreichbar.
+</p>
+
+<h1>
+<br /><br /><br />
+Heidis Lehr- und Wanderjahre
+</h1>
+
+<p class="t2">
+Johanna Spyri
+</p>
+
+<p><br /></p>
+
+<p class="t3b">
+ Inhalt<br />
+</p>
+
+<p class="noindent">
+ 1 <a href="#chap01">Zum Alm-Öhi hinauf</a><br />
+ 2 <a href="#chap02">Beim Großvater</a><br />
+ 3 <a href="#chap03">Auf der Weide</a><br />
+ 4 <a href="#chap04">Bei der Großmutter</a><br />
+ 5 <a href="#chap05">Es kommt ein Besuch und dann noch einer, der mehr Folgen hat</a><br />
+ 6 <a href="#chap06">Ein neues Kapitel und lauter neue Dinge</a><br />
+ 7 <a href="#chap07">Fräulein Rottenmeier hat einen unruhigen Tag</a><br />
+ 8 <a href="#chap08">Im Hause Sesemann geht's unruhig zu</a><br />
+ 9 <a href="#chap09">Der Hausherr hört allerlei in seinem Hause, das er noch nicht gehört hat</a><br />
+ 10 <a href="#chap10">Eine Großmama</a><br />
+ 11 <a href="#chap11">Heidi nimmt auf einer Seite zu und auf der anderen ab</a><br />
+ 12 <a href="#chap12">Im Hause Sesemann spukt's</a><br />
+ 13 <a href="#chap13">Am Sommerabend die Alm hinan</a><br />
+ 14 <a href="#chap14">Am Sonntag, wenn's läutet</a><br />
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap01"></a>
+Zum Alm-Öhi hinauf
+</h3>
+
+<p>
+Vom freundlichen Dorfe Maienfeld führt ein Fußweg durch grüne,
+baumreiche Fluren bis zum Fuße der Höhen, die von dieser Seite groß
+und ernst auf das Tal herniederschauen. Wo der Fußweg anfängt,
+beginnt bald Heideland mit dem kurzen Gras und den kräftigen
+Bergkräutern dem Kommenden entgegenzuduften, denn der Fußweg geht
+steil und direkt zu den Alpen hinauf.
+</p>
+
+<p>
+Auf diesem schmalen Bergpfade stieg am hellen, sonnigen Junimorgen
+ein großes, kräftig aussehendes Mädchen dieses Berglandes hinan,
+ein Kind an der Hand führend, dessen Wangen so glühend waren, dass
+sie selbst die sonnverbrannte, völlig braune Haut des Kindes
+flammend rot durchleuchteten. Es war auch kein Wunder: Das Kind
+war trotz der heißen Junisonne so verpackt, als hätte es sich eines
+bitteren Frostes zu erwehren. Das kleine Mädchen mochte kaum fünf
+Jahre zählen; was aber seine natürliche Gestalt war, konnte man
+nicht ersehen, denn es hatte sichtlich zwei, wenn nicht drei
+Kleider übereinander angezogen und drüberhin ein großes, rotes
+Baumwolltuch um und um gebunden, so dass die kleine Person eine
+völlig formlose Figur darstellte, die, in zwei schwere, mit Nägeln
+beschlagene Bergschuhe gesteckt, sich heiß und mühsam den Berg
+hinaufarbeitete. Eine Stunde vom Tal aufwärts mochten die beiden
+gestiegen sein, als sie zu dem Weiler kamen, der auf halber Höhe
+der Alm liegt und 'im Dörfli' heißt. Hier wurden die
+Wandernden fast von jedem Hause aus angerufen, einmal vom Fenster,
+einmal von einer Haustür und einmal vom Wege her, denn das Mädchen
+war in seinem Heimatort angelangt. Es machte aber nirgends Halt,
+sondern erwiderte alle zugerufenen Grüße und Fragen im Vorbeigehen,
+ohne still zu stehen, bis es am Ende des Weilers bei dem letzten
+der zerstreuten Häuschen angelangt war. Hier rief es aus einer Tür:
+"Wart einen Augenblick, Dete, ich komme mit, wenn du weiter
+hinaufgehst."
+</p>
+
+<p>
+Die Angeredete stand still; sofort machte sich das Kind von ihrer
+Hand los und setzte sich auf den Boden.
+</p>
+
+<p>
+"Bist du müde, Heidi?", fragte die Begleiterin.
+</p>
+
+<p>
+"Nein, es ist mir heiß", entgegnete das Kind.
+</p>
+
+<p>
+"Wir sind jetzt gleich oben, du musst dich nur noch ein wenig
+anstrengen und große Schritte nehmen, dann sind wir in einer Stunde
+oben", ermunterte die Gefährtin.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt trat eine breite gutmütig aussehende Frau aus der Tür und
+gesellte sich zu den beiden. Das Kind war aufgestanden und
+wanderte nun hinter den zwei alten Bekannten her, die sofort in ein
+lebhaftes Gespräch gerieten über allerlei Bewohner des 'Dörfli' und
+vieler umherliegender Behausungen.
+</p>
+
+<p>
+"Aber wohin willst du eigentlich mit dem Kinde, Dete?", fragte
+jetzt die neu Hinzugekommene. "Es wird wohl deiner Schwester Kind
+sein, das hinterlassene."
+</p>
+
+<p>
+"Das ist es", erwiderte Dete, "ich will mit ihm hinauf zum Öhi, es
+muss dort bleiben."
+</p>
+
+<p>
+"Was, beim Alm-Öhi soll das Kind bleiben? Du bist, denk ich, nicht
+recht bei Verstand, Dete! Wie kannst du so etwas tun! Der Alte
+wird dich aber schon heimschicken mit deinem Vorhaben!"
+</p>
+
+<p>
+"Das kann er nicht, er ist der Großvater, er muss etwas tun, ich
+habe das Kind bis jetzt gehabt, und das kann ich dir schon sagen,
+Barbel, dass ich einen Platz, wie ich ihn jetzt haben kann, nicht
+dahinten lasse um des Kindes willen; jetzt soll der Großvater das
+Seinige tun."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, wenn der wäre wie andere Leute, dann schon", bestätigte die
+kleine Barbel eifrig; "aber du kennst ja den. Was wird der mit
+einem Kinde anfangen und dann noch einem so kleinen! Das hält's
+nicht aus bei ihm! Aber wo willst du denn hin?"
+</p>
+
+<p>
+"Nach Frankfurt", erklärte Dete, "da bekomm ich einen extraguten
+Dienst. Die Herrschaft war schon im vorigen Sommer unten im Bad,
+ich habe ihre Zimmer auf meinem Gang gehabt und sie besorgt, und
+schon damals wollten sie mich mitnehmen, aber ich konnte nicht
+fortkommen, und jetzt sind sie wieder da und wollen mich mitnehmen,
+und ich will auch gehen, da kannst du sicher sein."
+</p>
+
+<p>
+"Ich möchte nicht das Kind sein!", rief die Barbel mit abwehrender
+Gebärde aus. "Es weiß ja kein Mensch, was mit dem Alten da oben
+ist! Mit keinem Menschen will er etwas zu tun haben, jahraus,
+jahrein setzt er keinen Fuß in eine Kirche, und wenn er mit seinem
+dicken Stock im Jahr einmal herunterkommt, so weicht ihm alles aus
+und muss sich vor ihm fürchten. Mit seinen dicken grauen
+Augenbrauen und dem furchtbaren Bart sieht er auch aus wie ein
+alter Heide und Indianer, dass man froh ist, wenn man ihm nicht
+allein begegnet."
+</p>
+
+<p>
+"Und wenn auch", sagte Dete trotzig, "er ist der Großvater und muss
+für das Kind sorgen, er wird ihm wohl nichts tun, sonst hat er's zu
+verantworten, nicht ich."
+</p>
+
+<p>
+"Ich möchte nur wissen", sagte die Barbel forschend, "was der Alte
+auf dem Gewissen hat, dass er solche Augen macht und so
+mutterseelenallein da droben auf der Alm bleibt und sich fast nie
+blicken lässt. Man sagt allerhand von ihm; du weißt doch gewiss
+auch etwas davon, von deiner Schwester, nicht, Dete?"
+</p>
+
+<p>
+"Freilich, aber ich rede nicht; wenn er's hörte, so käme ich schön
+an!"
+</p>
+
+<p>
+Aber die Barbel hätte schon lange gern gewusst, wie es sich mit dem
+Alm-Öhi verhalte, dass er so menschenfeindlich aussehe und da oben
+ganz allein wohne und die Leute immer so mit halben Worten von ihm
+redeten, als fürchteten sie sich, gegen ihn zu sein, und wollten
+doch nicht für ihn sein. Auch wusste die Barbel gar nicht, warum
+der Alte von allen Leuten im Dörfli der Alm-Öhi genannt wurde, er
+konnte doch nicht der wirkliche Oheim von den sämtlichen Bewohnern
+sein; da aber alle ihn so nannten, tat sie es auch und nannte den
+Alten nie anders als Öhi, was die Aussprache der Gegend für Oheim
+ist. Die Barbel hatte sich erst vor kurzer Zeit nach dem Dörfli
+hinauf verheiratet, vorher hatte sie unten im Prättigau gewohnt,
+und so war sie noch nicht so ganz bekannt mit allen Erlebnissen und
+besonderen Persönlichkeiten aller Zeiten vom Dörfli und der
+Umgegend. Die Dete, ihre gute Bekannte, war dagegen vom Dörfli
+gebürtig und hatte da gelebt mit ihrer Mutter bis vor einem Jahr;
+da war diese gestorben, und die Dete war nach dem Bade Ragaz
+hinübergezogen, wo sie im großen Hotel als Zimmermädchen einen
+guten Verdienst fand. Sie war auch an diesem Morgen mit dem Kinde
+von Ragaz hergekommen; bis Maienfeld hatte sie auf einem Heuwagen
+fahren können, auf dem ein Bekannter von ihr heimfuhr und sie und
+das Kind mitnahm. --Die Barbel wollte also diesmal die gute
+Gelegenheit, etwas zu vernehmen, nicht unbenutzt vorbeigehen lassen;
+sie fasste vertraulich die Dete am Arm und sagte: "Von dir kann
+man doch vernehmen, was wahr ist und was die Leute darüber hinaus
+sagen; du weißt, denk ich, die ganze Geschichte. Sag mir jetzt ein
+wenig, was mit dem Alten ist und ob der immer so gefürchtet und ein
+solcher Menschenhasser war."
+</p>
+
+<p>
+"Ob er immer so war, kann ich, denk ich, nicht präzis wissen, ich
+bin jetzt sechsundzwanzig und er sicher siebzig Jahr alt; so hab
+ich ihn nicht gesehen, wie er jung war, das wirst du nicht erwarten.
+Wenn ich aber wüsste, dass es nachher nicht im ganzen Prättigau
+herumkäme, so könnte ich dir schon allerhand erzählen von ihm;
+meine Mutter war aus dem Domleschg und er auch."
+</p>
+
+<p>
+"A bah, Dete, was meinst denn?", gab die Barbel ein wenig beleidigt
+zurück; "es geht nicht so streng mit dem Schwatzen im Prättigau,
+und dann kann ich schon etwas für mich behalten, wenn es sein muss.
+Erzähl mir's jetzt, es muss dich nicht gereuen."
+</p>
+
+<p>
+"Ja nu, so will ich, aber halt Wort!", mahnte die Dete. Erst sah
+sie sich aber um, ob das Kind nicht zu nah sei und alles anhöre,
+was sie sagen wollte; aber das Kind war gar nicht zu sehen, es
+musste schon seit einiger Zeit den beiden Begleiterinnen nicht mehr
+gefolgt sein, diese hatten es aber im Eifer der Unterhaltung nicht
+bemerkt. Dete stand still und schaute sich überall um. Der Fußweg
+machte einige Krümmungen, doch konnte man ihn fast bis zum Dörfli
+hinunter übersehen, es war aber niemand darauf sichtbar.
+</p>
+
+<p>
+"Jetzt seh ich's", erklärte die Barbel; "siehst du dort?", und sie
+wies mit dem Zeigefinger weitab vom Bergpfad. "Es klettert die
+Abhänge hinauf mit dem Geißenpeter und seinen Geißen. Warum der
+heut so spät hinauffährt mit seinen Tieren? Es ist aber gerad
+recht, er kann nun zu dem Kinde sehen, und du kannst mir umso
+besser erzählen."
+</p>
+
+<p>
+"Mit dem Nach-ihm-Sehen muss sich der Peter nicht anstrengen",
+bemerkte die Dete; "es ist nicht dumm für seine fünf Jahre, es tut
+seine Augen auf und sieht, was vorgeht, das hab ich schon bemerkt
+an ihm, und es wird ihm einmal zugut kommen, denn der Alte hat gar
+nichts mehr als seine zwei Geißen und die Almhütte."
+</p>
+
+<p>
+"Hat er denn einmal mehr gehabt?", fragte die Barbel.
+</p>
+
+<p>
+"Der? Ja, das denk ich, dass er einmal mehr gehabt hat",
+entgegnete eifrig die Dete; "eins der schönsten Bauerngüter im
+Domleschg hat er gehabt. Er war der ältere Sohn und hatte nur noch
+einen Bruder, der war still und ordentlich. Aber der Ältere wollte
+nichts tun, als den Herrn spielen und im Lande herumfahren und mit
+bösem Volk zu tun haben, das niemand kannte. Den ganzen Hof hat er
+verspielt und verzecht, und wie es herauskam, da sind sein Vater
+und seine Mutter hintereinander gestorben vor lauter Gram, und der
+Bruder, der nun auch am Bettelstab war, ist vor Verdruss in die
+Welt hinaus, es weiß kein Mensch wohin, und der Öhi selber, als er
+nichts mehr hatte als einen bösen Namen, ist auch verschwunden.
+Erst wusste niemand wohin, dann vernahm man, er sei unter das
+Militär gegangen nach Neapel, und dann hörte man nichts mehr von
+ihm zwölf oder fünfzehn Jahre lang. Dann auf einmal erschien er
+wieder im Domleschg mit einem halb erwachsenen Buben und wollte
+diesen in der Verwandtschaft unterzubringen suchen. Aber es
+schlossen sich alle Türen vor ihm, und keiner wollte mehr etwas von
+ihm wissen. Das erbitterte ihn sehr; er sagte, ins Domleschg setze
+er keinen Fuß mehr, und dann kam er hierher ins Dörfli und lebte da
+mit dem Buben. Die Frau muss eine Bündnerin gewesen sein, die er
+dort unten getroffen und dann bald wieder verloren hatte. Er
+musste noch etwas Geld haben, denn er ließ den Buben, den Tobias,
+ein Handwerk erlernen, Zimmermann, und der war ein ordentlicher
+Mensch und wohlgelitten bei allen Leuten im Dörfli. Aber dem Alten
+traute keiner, man sagte auch, er sei von Neapel desertiert, es
+wäre ihm sonst schlimm gegangen, denn er habe einen erschlagen,
+natürlich nicht im Krieg, verstehst du, sondern beim Raufhandel.
+Wir anerkannten aber die Verwandtschaft, da meiner Mutter
+Großmutter mit seiner Großmutter Geschwisterkind gewesen war. So
+nannten wir ihn Öhi, und da wir fast mit allen Leuten im Dörfli
+wieder verwandt sind vom Vater her, so nannten ihn diese alle auch
+Öhi, und seit er dann auf die Alm hinaufgezogen war, hieß er eben
+nur noch der 'Alm-Öhi'."
+</p>
+
+<p>
+"Aber wie ist es dann mit dem Tobias gegangen?", fragte gespannt
+die Barbel.
+</p>
+
+<p>
+"Wart nur, das kommt schon, ich kann nicht alles auf einmal sagen",
+erklärte Dete. "Also der Tobias war in der Lehre draußen in Mels,
+und sowie er fertig war, kam er heim ins Dörfli und nahm meine
+Schwester zur Frau, die Adelheid, denn sie hatten sich schon immer
+gern gehabt, und auch wie sie nun verheiratet waren, konnten sie's
+sehr gut zusammen. Aber es ging nicht lange. Schon zwei Jahre
+nachher, wie er an einem Hausbau mithalf, fiel ein Balken auf ihn
+herunter und schlug ihn tot. Und wie man den Mann so entstellt
+nach Hause brachte, da fiel die Adelheid vor Schrecken und Leid in
+ein heftiges Fieber und konnte sich nicht mehr erholen, sie war
+sonst nicht sehr kräftig und hatte manchmal so eigene Zustände
+gehabt, dass man nicht recht wusste, schlief sie oder war sie wach.
+Nur ein paar Wochen, nachdem der Tobias tot war, begrub man auch
+die Adelheid. Da sprachen alle Leute weit und breit von dem
+traurigen Schicksal der beiden, und leise und laut sagten sie, das
+sei die Strafe, die der Öhi verdient habe für sein gottloses Leben,
+und ihm selbst wurde es gesagt und auch der Herr Pfarrer redete ihm
+ins Gewissen, er sollte doch jetzt Buße tun, aber er wurde nur
+immer grimmiger und verstockter und redete mit niemandem mehr, es
+ging ihm auch jeder aus dem Wege. Auf einmal hieß es, der Öhi sei
+auf die Alm hinaufgezogen und komme gar nicht mehr herunter, und
+seither ist er dort und lebt mit Gott und Menschen im Unfrieden.
+Das kleine Kind der Adelheid nahmen wir zu uns, die Mutter und ich;
+es war ein Jahr alt. Wie nun im letzten Sommer die Mutter starb
+und ich im Bad drunten etwas verdienen wollte, nahm ich es mit und
+gab es der alten Ursel oben im Pfäfferserdorf in die Kost. Ich
+konnte auch im Winter im Bad bleiben, es gab allerhand Arbeit, weil
+ich zu nähen und flicken verstehe, und früh im Frühling kam die
+Herrschaft aus Frankfurt wieder, die ich voriges Jahr bedient hatte
+und die mich mitnehmen will; übermorgen reisen wir ab, und der
+Dienst ist gut, das kann ich dir sagen."
+</p>
+
+<p>
+"Und dem Alten da droben willst du nun das Kind übergeben? Es
+nimmt mich nur wunder, was du denkst, Dete", sagte die Barbel
+vorwurfsvoll.
+</p>
+
+<p>
+"Was meinst du denn?", gab Dete zurück. "Ich habe das Meinige an
+dem Kinde getan, und was sollte ich denn mit ihm machen? Ich denke,
+ich kann eines, das erst fünf Jahre alt wird, nicht mit nach
+Frankfurt nehmen. Aber wohin gehst du eigentlich, Barbel, wir sind
+ja schon halbwegs auf der Alm?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich bin auch gleich da, wo ich hinmuss", entgegnete die Barbel;
+"ich habe mit der Geißenpeterin zu reden, sie spinnt mir im Winter.
+So leb wohl, Dete, mit Glück!"
+</p>
+
+<p>
+Dete reichte der Begleiterin die Hand und blieb stehen, während
+diese der kleinen, dunkelbraunen Almhütte zuging, die einige
+Schritte seitwärts vom Pfad in einer Mulde stand, wo sie vor dem
+Bergwind ziemlich geschützt war. Die Hütte stand auf der halben
+Höhe der Alm, vom Dörfli aus gerechnet, und dass sie in einer
+kleinen Vertiefung des Berges stand, war gut, denn sie sah so
+baufällig und verfallen aus, dass es auch so noch ein gefährliches
+Darinwohnen sein musste, wenn der Föhnwind so mächtig über die
+Berge strich, dass alles an der Hütte klapperte, Türen und Fenster,
+und alle die morschen Balken zitterten und krachten. Hätte die
+Hütte an solchen Tagen oben auf der Alm gestanden, sie wäre
+unverzüglich ins Tal hinabgeweht worden.
+</p>
+
+<p>
+Hier wohnte der Geißenpeter, der elfjährige Bube, der jeden Morgen
+unten im Dörfli die Geißen holte, um sie hoch auf die Alm
+hinaufzutreiben, um sie da die kurzen kräftigen Kräuter fressen zu
+lassen bis zum Abend; dann sprang der Peter mit den leichtfüßigen
+Tierchen wieder herunter, tat, im Dörfli angekommen, einen
+schrillen Pfiff durch die Finger, und jeder Besitzer holte seine
+Geiß auf dem Platz. Meistens kamen kleine Buben und Mädchen, denn
+die friedlichen Geißen waren nicht zu fürchten, und das war denn
+den ganzen Sommer durch die einzige Zeit am Tage, da der Peter mit
+seinesgleichen verkehrte; sonst lebte er nur mit den Geißen. Er
+hatte zwar daheim seine Mutter und die blinde Großmutter; aber da
+er immer am Morgen sehr früh fortmusste und am Abend vom Dörfli
+spät heimkam, weil er sich da noch so lange als möglich mit den
+Kindern unterhalten musste, so verbrachte er daheim nur gerade so
+viel Zeit, um am Morgen seine Milch und Brot und am Abend
+ebendasselbe hinunterzuschlucken und dann sich aufs Ohr zu legen
+und zu schlafen. Sein Vater, der auch schon der Geißenpeter
+genannt worden war, weil er in früheren Jahren in demselben Berufe
+gestanden hatte, war vor einigen Jahren beim Holzfällen verunglückt.
+Seine Mutter, die zwar Brigitte hieß, wurde von jedermann um des
+Zusammenhangs willen die Geißenpeterin genannt, und die blinde
+Großmutter kannten weit und breit Alt und Jung nur unter dem Namen
+Großmutter.
+</p>
+
+<p>
+Die Dete hatte wohl zehn Minuten gewartet und sich nach allen
+Seiten umgesehen, ob die Kinder mit den Geißen noch nirgends zu
+sehen seien; als dies aber nicht der Fall war, so stieg sie noch
+ein wenig höher, wo sie besser die ganze Alm bis hinunter übersehen
+konnte, und guckte nun von hier aus bald dahin, bald dorthin mit
+Zeichen großer Ungeduld auf dem Gesicht und in den Bewegungen.
+Unterdessen rückten die Kinder auf einem großen Umwege heran, denn
+der Peter wusste viele Stellen, wo allerhand Gutes an Sträuchern
+und Gebüschen für seine Geißen zu nagen war; darum machte er mit
+seiner Herde vielerlei Wendungen auf dem Wege. Erst war das Kind
+mühsam nachgeklettert, in seiner schweren Rüstung vor Hitze und
+Unbequemlichkeit keuchend und alle Kräfte anstrengend. Es sagte
+kein Wort, blickte aber unverwandt bald auf den Peter, der mit
+seinen nackten Füßen und leichten Höschen ohne alle Mühe hin und
+her sprang, bald auf die Geißen, die mit den dünnen, schlanken
+Beinchen noch leichter über Busch und Stein und steile Abhänge
+hinaufkletterten. Auf einmal setzte das Kind sich auf den Boden
+nieder, zog mit großer Schnelligkeit Schuhe und Strümpfe aus, stand
+wieder auf, zog sein rotes, dickes Halstuch weg, machte sein
+Röckchen auf, zog es schnell aus und hatte gleich noch eins
+auszuhäkeln, denn die Base Dete hatte ihm das Sonntagskleidchen
+über das Alltagszeug angezogen, um der Kürze willen, damit niemand
+es tragen müsse. Blitzschnell war auch das Alltagsröcklein weg,
+und nun stand das Kind im leichten Unterröckchen, die bloßen Arme
+aus den kurzen Hemdärmelchen vergnüglich in die Luft
+hinausstreckend. Dann legte es schön alles auf ein Häufchen, und
+nun sprang und kletterte es hinter den Geißen und neben dem Peter
+her, so leicht als nur eines aus der ganzen Gesellschaft. Der
+Peter hatte nicht Acht gegeben, was das Kind mache, als es
+zurückgeblieben war. Wie es nun in der neuen Bekleidung
+nachgesprungen kam, zog er lustig grinsend das ganze Gesicht
+auseinander und schaute zurück, und wie er unten das Häuflein
+Kleider liegen sah, ging sein Gesicht noch ein wenig mehr
+auseinander, und sein Mund kam fast von einem Ohr bis zum anderen;
+er sagte aber nichts. Wie nun das Kind sich so frei und leicht
+fühlte, fing es ein Gespräch mit dem Peter an, und er fing auch an
+zu reden und musste auf vielerlei antworten, denn das Kind wollte
+wissen, wie viele Geißen er habe und wohin er mit ihnen gehe und
+was er dort tue, wo er hinkomme. So langten endlich die Kinder
+samt den Geißen oben bei der Hütte an und kamen der Base Dete zu
+Gesicht. Kaum aber hatte diese die herankletternde Gesellschaft
+erblickt, als sie laut aufschrie: "Heidi, was machst du? Wie
+siehst du aus? Wo hast du deinen Rock und den zweiten und das
+Halstuch? Und ganz neue Schuhe habe ich dir gekauft auf den Berg
+und dir neue Strümpfe gemacht, und alles fort! Alles fort! Heidi,
+was machst du, wo hast du alles?"
+</p>
+
+<p>
+Das Kind zeigte ruhig den Berg hinunter und sagte: "Dort!" Die Base
+folgte seinem Finger. Richtig, dort lag etwas und obenauf war ein
+roter Punkt, das musste das Halstuch sein.
+</p>
+
+<p>
+"Du Unglückstropf!", rief die Base in großer Aufregung. "Was kommt
+dir denn in den Sinn, warum hast du alles ausgezogen? Was soll das
+sein?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich brauch es nicht", sagte das Kind und sah gar nicht reuevoll
+aus über seine Tat.
+</p>
+
+<p>
+"Ach du unglückseliges, vernunftloses Heidi, hast du denn auch noch
+gar keine Begriffe?", jammerte und schalt die Base weiter. "Wer
+sollte nun wieder da hinunter, es ist ja eine halbe Stunde! Komm,
+Peter, lauf du mir schnell zurück und hol das Zeug, komm schnell
+und steh nicht dort und glotze mich an, als wärst du am Boden
+festgenagelt."
+</p>
+
+<p>
+"Ich bin schon zu spät", sagte Peter langsam und blieb, ohne sich
+zu rühren, auf demselben Fleck stehen, von dem aus er, beide Hände
+in die Taschen gesteckt, dem Schreckensausbruch der Base zugehört
+hatte.
+</p>
+
+<p>
+"Du stehst ja doch nur und reißest deine Augen auf und kommst, denk
+ich, nicht weit auf die Art!", rief ihm die Base Dete zu. "Komm
+her, du musst etwas Schönes haben, siehst du?" Sie hielt ihm ein
+neues Fünferchen hin, das glänzte ihm in die Augen. Plötzlich
+sprang er auf und davon auf dem geradesten Weg die Alm hinunter und
+kam in ungeheuren Sätzen in kurzer Zeit bei dem Häuflein Kleider an,
+packte sie auf und erschien damit so schnell, dass ihn die Base
+rühmen musste und ihm sogleich sein Fünfrappenstück überreichte.
+Peter steckte es schnell tief in seine Tasche, und sein Gesicht
+glänzte und lachte in voller Breite, denn ein solcher Schatz wurde
+ihm nicht oft zuteil.
+</p>
+
+<p>
+"Du kannst mir das Zeug noch tragen bis zum Öhi hinauf, du gehst ja
+auch den Weg", sagte die Base Dete jetzt, indem sie sich anschickte,
+den steilen Abhang zu erklimmen, der gleich hinter der Hütte des
+Geißenpeter emporragte. Willig übernahm dieser den Auftrag und
+folgte der Voranschreitenden auf dem Fuße nach, den linken Arm um
+sein Bündel geschlungen, in der Rechten die Geißenrute schwingend.
+Das Heidi und die Geißen hüpften und sprangen fröhlich neben ihm
+her. So gelangte der Zug nach drei Viertelstunden auf die Almhöhe,
+wo frei auf dem Vorsprung des Berges die Hütte des alten Öhi stand,
+allen Winden ausgesetzt, aber auch jedem Sonnenblick zugänglich und
+mit der vollen Aussicht weit ins Tal hinab. Hinter der Hütte
+standen drei alte Tannen mit dichten, langen, unbeschnittenen Ästen.
+Weiter hinten ging es nochmals bergan bis hoch hinauf in die
+alten, grauen Felsen, erst noch über schöne, kräuterreiche Höhen,
+dann in steiniges Gestrüpp und endlich zu den kahlen, steilen
+Felsen hinan.
+</p>
+
+<p>
+An die Hütte festgemacht, der Talseite zu, hatte sich der Öhi eine
+Bank gezimmert. Hier saß er, eine Pfeife im Mund, beide Hände auf
+seine Knie gelegt, und schaute ruhig zu, wie die Kinder, die Geißen
+und die Base Dete herankletterten, denn die Letztere war nach und
+nach von den anderen überholt worden. Heidi war zuerst oben; es
+ging geradeaus auf den Alten zu, streckte ihm die Hand entgegen und
+sagte: "Guten Abend, Großvater!"
+</p>
+
+<p>
+"So, so, wie ist das gemeint?", fragte der Alte barsch, gab dem
+Kinde kurz die Hand und schaute es mit einem langen,
+durchdringenden Blick an, unter seinen buschigen Augenbrauen hervor.
+Heidi gab den langen Blick ausdauernd zurück, ohne nur einmal mit
+den Augen zu zwinkern, denn der Großvater mit dem langen Bart und
+den dichten, grauen Augenbrauen, die in der Mitte zusammengewachsen
+waren und aussahen wie eine Art Gesträuch, war so verwunderlich
+anzusehen, dass Heidi ihn recht betrachten musste. Unterdessen war
+auch die Base herangekommen samt dem Peter, der eine Weile stille
+stand und zusah, was sich da ereigne.
+</p>
+
+<p>
+"Ich wünsche Euch guten Tag, Öhi", sagte die Dete hinzutretend,
+"und hier bring ich Euch das Kind vom Tobias und der Adelheid. Ihr
+werdet es wohl nicht mehr kennen, denn seit es jährig war, habt Ihr
+es nie mehr gesehen."
+</p>
+
+<p>
+"So, was muss das Kind bei mir?", fragte der Alte kurz; "und du
+dort", rief er dem Peter zu, "du kannst gehen mit deinen Geißen, du
+bist nicht zu früh; nimm meine mit!"
+</p>
+
+<p>
+Der Peter gehorchte sofort und verschwand, denn der Öhi hatte ihn
+angeschaut, dass er schon genug davon hatte.
+</p>
+
+<p>
+"Es muss eben bei Euch bleiben, Öhi", gab die Dete auf seine Frage
+zurück. "Ich habe, denk ich, das Meinige an ihm getan die vier
+Jahre durch, es wird jetzt wohl an Euch sein, das Eurige auch
+einmal zu tun."
+</p>
+
+<p>
+"So", sagte der Alte und warf einen blitzenden Blick auf die Dete.
+"Und wenn nun das Kind anfängt, dir nachzuflennen und zu winseln,
+wie kleine Unvernünftige tun, was muss ich dann mit ihm anfangen?"
+</p>
+
+<p>
+"Das ist dann Eure Sache", warf die Dete zurück, "ich meine fast,
+es habe mir auch kein Mensch gesagt, wie ich es mit dem Kleinen
+anzufangen habe, als es mir auf den Händen lag, ein einziges
+Jährchen alt, und ich schon für mich und die Mutter genug zu tun
+hatte. Jetzt muss ich meinem Verdienst nach, und Ihr seid der
+Nächste am Kind; wenn Ihr's nicht haben könnt, so macht mit ihm,
+was Ihr wollt, dann habt Ihr's zu verantworten, wenn's verdirbt,
+und Ihr werdet wohl nicht nötig haben, noch etwas aufzuladen."
+</p>
+
+<p>
+Die Dete hatte kein recht gutes Gewissen bei der Sache, darum war
+sie so hitzig geworden und hatte mehr gesagt, als sie im Sinn
+gehabt hatte. Bei ihren letzten Worten war der Öhi aufgestanden;
+er schaute sie so an, dass sie einige Schritte zurückwich; dann
+streckte er den Arm aus und sagte befehlend: "Mach, dass du
+hinunterkommst, wo du heraufgekommen bist, und zeig dich nicht so
+bald wieder!" Das ließ sich die Dete nicht zweimal sagen. "So lebt
+wohl, und du auch, Heidi", sagte sie schnell und lief den Berg
+hinunter in einem Trab bis ins Dörfli hinab, denn die innere
+Aufregung trieb sie vorwärts wie eine wirksame Dampfkraft. Im
+Dörfli wurde sie diesmal noch viel mehr angerufen, denn es wunderte
+die Leute, wo das Kind sei; sie kannten ja alle die Dete genau und
+wussten, wem das Kind gehörte und alles, was mit ihm vorgegangen
+war. Als es nun aus allen Türen und Fenstern tönte: "Wo ist das
+Kind? Dete, wo hast du das Kind gelassen?", rief sie immer
+unwilliger zurück: "Droben beim Alm-Öhi! Nun, beim Alm-Öhi, ihr
+hört's ja!"
+</p>
+
+<p>
+Sie wurde aber so maßleidig, weil die Frauen von allen Seiten ihr
+zuriefen: "Wie kannst du so etwas tun!", und: "Das arme Tröpfli!",
+und: "So ein kleines Hilfloses da droben lassen!", und dann wieder
+und wieder: "Das arme Tröpfli!" Die Dete lief, so schnell sie
+konnte, weiter und war froh, als sie nichts mehr hörte, denn es war
+ihr nicht wohl bei der Sache; ihre Mutter hatte ihr beim Sterben
+das Kind noch übergeben. Aber sie sagte sich zur Beruhigung, sie
+könne dann ja eher wieder etwas für das Kind tun, wenn sie nun viel
+Geld verdiene, und so war sie sehr froh, dass sie bald weit von
+allen Leuten, die ihr dreinredeten, weg- und zu einem schönen
+Verdienst kommen konnte.
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap02"></a>
+Beim Großvater
+</h3>
+
+<p>
+Nachdem die Dete verschwunden war, hatte der Öhi sich wieder auf
+die Bank hingesetzt und blies nun große Wolken aus seiner Pfeife;
+dabei starrte er auf den Boden und sagte kein Wort. Derweilen
+schaute das Heidi vergnüglich um sich, entdeckte den Geißenstall,
+der an die Hütte angebaut war, und guckte hinein. Es war nichts
+drin. Das Kind setzte seine Untersuchungen fort und kam hinter die
+Hütte zu den alten Tannen. Da blies der Wind durch die Äste so
+stark, dass es sauste und brauste oben in den Wipfeln. Heidi blieb
+stehen und hörte zu. Als es ein wenig stiller wurde, ging das Kind
+um die kommende Ecke der Hütte herum und kam vorn wieder zum
+Großvater zurück. Als es diesen noch in derselben Stellung
+erblickte, wie es ihn verlassen hatte, stellte es sich vor ihn hin,
+legte die Hände auf den Rücken und betrachtete ihn. Der Großvater
+schaute auf. "Was willst du jetzt tun?", fragte er, als das Kind
+immer noch unbeweglich vor ihm stand.
+</p>
+
+<p>
+"Ich will sehen, was du drinnen hast, in der Hütte", sagte Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"So komm!", und der Großvater stand auf und ging voran in die Hütte
+hinein.
+</p>
+
+<p>
+"Nimm dort dein Bündel Kleider noch mit", befahl er im Hereintreten.
+</p>
+
+<p>
+"Das brauch ich nicht mehr", erklärte Heidi.
+</p>
+
+<p>
+Der Alte kehrte sich um und schaute durchdringend auf das Kind,
+dessen schwarze Augen glühten in Erwartung der Dinge, die da
+drinnen sein konnten. "Es kann ihm nicht an Verstand fehlen",
+sagte er halblaut. "Warum brauchst du's nicht mehr?", setzte er
+laut hinzu.
+</p>
+
+<p>
+"Ich will am liebsten gehen wie die Geißen, die haben ganz leichte
+Beinchen."
+</p>
+
+<p>
+"So, das kannst du, aber hol das Zeug", befahl der Großvater, "es
+kommt in den Kasten." Heidi gehorchte. Jetzt machte der Alte die
+Tür auf und Heidi trat hinter ihm her in einen ziemlich großen Raum
+ein, es war der Umfang der ganzen Hütte. Da stand ein Tisch und
+ein Stuhl daran; in einer Ecke war des Großvaters Schlaflager, in
+einer anderen hing der große Kessel über dem Herd; auf der anderen
+Seite war eine große Tür in der Wand, die machte der Großvater auf,
+es war der Schrank. Da hingen seine Kleider drin und auf einem
+Gestell lagen ein paar Hemden, Strümpfe und Tücher und auf einem
+anderen einige Teller und Tassen und Gläser und auf dem obersten
+ein rundes Brot und geräuchertes Fleisch und Käse, denn in dem
+Kasten war alles enthalten, was der Alm-Öhi besaß und zu seinem
+Lebensunterhalt gebrauchte. Wie er nun den Schrank aufgemacht
+hatte, kam das Heidi schnell heran und stieß sein Zeug hinein, so
+weit hinter des Großvaters Kleider als möglich, damit es nicht so
+leicht wieder zu finden sei. Nun sah es sich aufmerksam um in dem
+Raum und sagte dann: "Wo muss ich schlafen, Großvater?"
+</p>
+
+<p>
+"Wo du willst", gab dieser zur Antwort.
+</p>
+
+<p>
+Das war dem Heidi eben recht. Nun fuhr es in alle Winkel hinein
+und schaute jedes Plätzchen aus, wo am schönsten zu schlafen wäre.
+In der Ecke vorüber des Großvaters Lagerstätte war eine kleine
+Leiter aufgerichtet; Heidi kletterte hinauf und langte auf dem
+Heuboden an. Da lag ein frischer, duftender Heuhaufen oben, und
+durch eine runde Luke sah man weit ins Tal hinab.
+</p>
+
+<p>
+"Hier will ich schlafen", rief Heidi hinunter, "hier ist's schön!
+Komm und sieh einmal, wie schön es hier ist, Großvater!"
+</p>
+
+<p>
+"Weiß schon", tönte es von unten herauf.
+</p>
+
+<p>
+"Ich mache jetzt das Bett!", rief das Kind wieder, indem es oben
+geschäftig hin und her fuhr; "aber du musst heraufkommen und mir
+ein Leintuch mitbringen, denn auf ein Bett kommt auch ein Leintuch,
+und darauf liegt man."
+</p>
+
+<p>
+"So, so", sagte unten der Großvater, und nach einer Weile ging er
+an den Schrank und kramte ein wenig darin herum; dann zog er unter
+seinen Hemden ein langes, grobes Tuch hervor, das musste so etwas
+sein wie ein Leintuch. Er kam damit die Leiter herauf. Da war auf
+dem Heuboden ein ganz artiges Bettlein zugerichtet; oben, wo der
+Kopf liegen musste, war das Heu hoch aufgeschichtet, und das
+Gesicht kam so zu liegen, dass es gerade auf das offene, runde Loch
+traf.
+</p>
+
+<p>
+"Das ist recht gemacht", sagte der Großvater, "jetzt wird das Tuch
+kommen, aber wart noch"--damit nahm er einen guten Wisch Heu von
+dem Haufen und machte das Lager doppelt so dick, damit der harte
+Boden nicht durchgefühlt werden konnte--; "so, jetzt komm her
+damit." Heidi hatte das Leintuch schnell zuhanden genommen, konnte
+es aber fast nicht tragen, so schwer war's; aber das war sehr gut,
+denn durch das feste Zeug konnten die spitzen Heuhalme nicht
+durchstechen. Jetzt breiteten die beiden miteinander das Tuch über
+das Heu, und wo es zu breit und zu lang war, stopfte Heidi die
+Enden eilfertig unter das Lager. Nun sah es recht gut und reinlich
+aus, und Heidi stellte sich davor und betrachtete es nachdenklich.
+</p>
+
+<p>
+"Wir haben noch etwas vergessen, Großvater", sagte es dann.
+</p>
+
+<p>
+"Was denn?", fragte er.
+</p>
+
+<p>
+"Eine Decke; denn wenn man ins Bett geht, kriecht man zwischen das
+Leintuch und die Decke hinein."
+</p>
+
+<p>
+"So, meinst du? Wenn ich aber keine habe?", sagte der Alte.
+</p>
+
+<p>
+"Oh, dann ist's gleich, Großvater", beruhigte Heidi, "dann nimmt
+man wieder Heu zur Decke", und eilfertig wollte es gleich wieder an
+den Heustock gehen, aber der Großvater wehrte es ihm.
+</p>
+
+<p>
+"Wart einen Augenblick", sagte er, stieg die Leiter hinab und ging
+an sein Lager hin. Dann kam er wieder und legte einen großen,
+schweren, leinenen Sack auf den Boden.
+</p>
+
+<p>
+"Ist das nicht besser als Heu?", fragte er. Heidi zog aus
+Leibeskräften an dem Sacke hin und her, um ihn auseinander zu legen,
+aber die kleinen Hände konnten das schwere Zeug nicht bewältigen.
+Der Großvater half, und wie es nun ausgebreitet auf dem Bette lag,
+da sah alles sehr gut und haltbar aus, und Heidi stand staunend vor
+seinem neuen Lager und sagte: "Das ist eine prächtige Decke und das
+ganze Bett! Jetzt wollt ich, es wäre schon Nacht, so könnte ich
+hineinliegen."
+</p>
+
+<p>
+"Ich meine, wir könnten erst einmal etwas essen", sagte der
+Großvater, "oder was meinst du?" Heidi hatte über dem Eifer des
+Bettens alles andere vergessen; nun ihm aber der Gedanke ans Essen
+kam, stieg ein großer Hunger in ihm auf, denn es hatte auch heute
+noch gar nichts bekommen als früh am Morgen sein Stück Brot und ein
+paar Schlucke dünnen Kaffees, und nachher hatte es die lange Reise
+gemacht. So sagte Heidi ganz zustimmend: "Ja, ich mein es auch."
+</p>
+
+<p>
+"So geh hinunter, wenn wir denn einig sind", sagte der Alte und
+folgte dem Kind auf dem Fuß nach. Dann ging er zum Kessel hin,
+schob den großen weg und drehte den kleinen heran, der an der Kette
+hing, setzte sich auf den hölzernen Dreifuß mit dem runden Sitz
+davor hin und blies ein helles Feuer an. Im Kessel fing es an zu
+sieden, und unten hielt der Alte an einer langen Eisengabel ein
+großes Stück Käse über das Feuer und drehte es hin und her, bis es
+auf allen Seiten goldgelb war. Heidi hatte mit gespannter
+Aufmerksamkeit zugesehen; jetzt musste ihm etwas Neues in den Sinn
+gekommen sein; auf einmal sprang es weg und an den Schrank und von
+da hin und her. Jetzt kam der Großvater mit einem Topf und dem
+Käsebraten an der Gabel zum Tisch heran; da lag schon das runde
+Brot darauf und zwei Teller und zwei Messer, alles schön geordnet,
+denn das Heidi hatte alles im Schrank gut wahrgenommen und wusste,
+dass man das alles nun gleich zum Essen brauchen werde.
+</p>
+
+<p>
+"So, das ist recht, dass du selbst etwas ausdenkst", sagte der
+Großvater und legte den Braten auf das Brot als Unterlage; "aber es
+fehlt noch etwas auf dem Tisch."
+</p>
+
+<p>
+Heidi sah, wie einladend es aus dem Topf hervordampfte, und sprang
+schnell wieder an den Schrank. Da stand aber nur ein einziges
+Schüsselchen. Heidi war nicht lang in Verlegenheit, dort hinten
+standen zwei Gläser; augenblicklich kam das Kind zurück und stellte
+Schüsselchen und Glas auf den Tisch.
+</p>
+
+<p>
+"Recht so; du weißt dir zu helfen; aber wo willst du sitzen?" Auf
+dem einzigen Stuhl saß der Großvater selbst. Heidi schoss
+pfeilschnell zum Herd hin, brachte den kleinen Dreifuß zurück und
+setzte sich drauf.
+</p>
+
+<p>
+"Einen Sitz hast du wenigstens, das ist wahr, nur ein wenig weit
+unten", sagte der Großvater; "aber von meinem Stuhl wärst auch zu
+kurz, auf den Tisch zu langen; jetzt musst aber einmal etwas haben,
+so komm!" Damit stand er auf, füllte das Schüsselchen mit Milch,
+stellte es auf den Stuhl und rückte den ganz nah an den Dreifuß hin,
+so dass das Heidi nun einen Tisch vor sich hatte. Der Großvater
+legte ein großes Stück Brot und ein Stück von dem goldenen Käse
+darauf und sagte: "Jetzt iss!" Er selbst setzte sich nun auf die
+Ecke des Tisches und begann sein Mittagsmahl. Heidi ergriff sein
+Schüsselchen und trank und trank ohne Aufenthalt, denn der ganze
+Durst seiner langen Reise war ihm wieder aufgestiegen. Jetzt tat
+es einen langen Atemzug--denn im Eifer des Trinkens hatte es lange
+den Atem nicht holen können--und stellte sein Schüsselchen hin.
+</p>
+
+<p>
+"Gefällt dir die Milch?", fragte der Großvater.
+</p>
+
+<p>
+"Ich habe noch gar nie so gute Milch getrunken", antwortete Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"So musst du mehr haben", und der Großvater füllte das Schüsselchen
+noch einmal bis oben hin und stellte es vor das Kind, das
+vergnüglich in sein Brot biss, nachdem es von dem weichen Käse
+darauf gestrichen, denn der war, so gebraten, weich wie Butter, und
+das schmeckte ganz kräftig zusammen, und zwischendurch trank es
+seine Milch und sah sehr vergnüglich aus. Als nun das Essen zu
+Ende war, ging der Großvater in den Geißenstall hinaus und hatte da
+allerhand in Ordnung zu bringen, und Heidi sah ihm aufmerksam zu,
+wie er erst mit dem Besen säuberte, dann frische Streu legte, dass
+die Tierchen darauf schlafen konnten; wie er dann nach dem
+Schöpfchen ging nebenan und hier runde Stöcke zurechtschnitt und an
+einem Brett herumhackte und Löcher hineinbohrte und dann die runden
+Stöcke hineinsteckte und aufstellte; da war es auf einmal ein Stuhl,
+wie der vom Großvater, nur viel höher, und Heidi staunte das Werk
+an, sprachlos vor Verwunderung.
+</p>
+
+<p>
+"Was ist das, Heidi?", fragte der Großvater.
+</p>
+
+<p>
+"Das ist mein Stuhl, weil er so hoch ist; auf einmal war er fertig",
+sagte das Kind, noch in tiefem Erstaunen und Bewunderung.
+</p>
+
+<p>
+"Es weiß, was es sieht, es hat die Augen am rechten Ort", bemerkte
+der Großvater vor sich hin, als er nun um die Hütte herumging und
+hier einen Nagel einschlug und dort einen und dann an der Tür etwas
+zu befestigen hatte und so mit Hammer und Nägeln und Holzstücken
+von einem Ort zum anderen wanderte und immer etwas ausbesserte oder
+wegschlug, je nach dem Bedürfnis. Heidi ging Schritt für Schritt
+hinter ihm her und schaute ihm unverwandt mit der größten
+Aufmerksamkeit zu, und alles, was da vorging, war ihm sehr
+kurzweilig anzusehen.
+</p>
+
+<p>
+So kam der Abend heran. Es fing stärker an zu rauschen in den
+alten Tannen, ein mächtiger Wind fuhr daher und sauste und brauste
+durch die dichten Wipfel. Das tönte dem Heidi so schön in die
+Ohren und ins Herz hinein, dass es ganz fröhlich darüber wurde und
+hüpfte und sprang unter den Tannen umher, als hätte es eine
+unerhörte Freude erlebt. Der Großvater stand unter der Schopftür
+und schaute dem Kind zu. Jetzt ertönte ein schriller Pfiff. Heidi
+hielt an in seinen Sprüngen, der Großvater trat heraus. Von oben
+herunter kam es gesprungen, Geiß um Geiß, wie eine Jagd, und
+mittendrin der Peter. Mit einem Freudenruf schoss Heidi mitten in
+das Rudel hinein und begrüßte die alten Freunde von heute Morgen
+einen um den anderen. Bei der Hütte angekommen, stand alles still,
+und aus der Herde heraus kamen zwei schöne, schlanke Geißen, eine
+weiße und eine braune, auf den Großvater zu und leckten seine Hände,
+denn er hielt ein wenig Salz darin, wie er jeden Abend zum Empfang
+seiner zwei Tierlein tat. Der Peter verschwand mit seiner Schar.
+Heidi streichelte zärtlich die eine und dann die andere von den
+Geißen und sprang um sie herum, um sie von der anderen Seite auch
+zu streicheln, und war ganz Glück und Freude über die Tierchen.
+"Sind sie unser, Großvater? Sind sie beide unser? Kommen sie in
+den Stall? Bleiben sie immer bei uns?", so fragte Heidi
+hintereinander in seinem Vergnügen, und der Großvater konnte kaum
+sein stetiges "Ja, ja!" zwischen die eine und die andere Frage
+hineinbringen. Als die Geißen ihr Salz aufgeleckt hatten, sagte
+der Alte: "Geh und hol dein Schüsselchen heraus und das Brot."
+</p>
+
+<p>
+Heidi gehorchte und kam gleich wieder. Nun melkte der Großvater
+gleich von der Weißen das Schüsselchen voll und schnitt ein Stück
+Brot ab und sagte: "Nun iss und dann geh hinauf und schlaf! Die
+Base Dete hat noch ein Bündelchen abgelegt für dich, da seien
+Hemdlein und so etwas darin, das liegt unten im Kasten, wenn du's
+brauchst; ich muss nun mit den Geißen hinein, so schlaf wohl!"
+</p>
+
+<p>
+"Gut Nacht, Großvater! Gut Nacht--wie heißen sie, Großvater, wie
+heißen sie?", rief das Kind und lief dem verschwindenden Alten und
+den Geißen nach.
+</p>
+
+<p>
+"Die Weiße heißt Schwänli und die Braune Bärli", gab der Großvater
+zurück.
+</p>
+
+<p>
+"Gut Nacht, Schwänli, gut Nacht, Bärli!", rief nun Heidi noch mit
+Macht, denn eben verschwanden beide in den Stall hinein. Nun
+setzte sich Heidi noch auf die Bank und aß sein Brot und trank
+seine Milch; aber der starke Wind wehte es fast von seinem Sitz
+herunter; so machte es schnell fertig, ging dann hinein und stieg
+zu seinem Bett hinauf, in dem es auch gleich nachher so fest und
+herrlich schlief, als nur einer im schönsten Fürstenbett schlafen
+konnte. Nicht lange nachher, noch eh es völlig dunkel war, legte
+auch der Großvater sich auf sein Lager, denn am Morgen war er immer
+schon mit der Sonne wieder draußen, und die kam sehr früh über die
+Berge hereingestiegen in dieser Sommerszeit. In der Nacht kam der
+Wind so gewaltig, dass bei seinen Stößen die ganze Hütte erzitterte
+und es in allen Balken krachte; durch den Schornstein heulte und
+ächzte es wie Jammerstimmen, und in den alten Tannen draußen tobte
+es mit solcher Wut, dass hier und da ein Ast niederkrachte. Mitten
+in der Nacht stand der Großvater auf und sagte halblaut vor sich
+hin: "Es wird sich wohl fürchten." Er stieg die Leiter hinauf und
+trat an Heidis Lager heran. Der Mond draußen stand einmal hell
+leuchtend am Himmel, dann fuhren wieder die jagenden Wolken darüber
+hin und alles wurde dunkel. Jetzt kam der Mondschein eben
+leuchtend durch die runde Öffnung herein und fiel gerade auf Heidis
+Lager. Es hatte sich feuerrote Backen erschlafen unter seiner
+schweren Decke, und ruhig und friedlich lag es auf seinem runden
+Ärmchen und träumte von etwas Erfreulichem, denn sein Gesichtchen
+sah ganz wohlgemut aus. Der Großvater schaute so lange auf das
+friedlich schlafende Kind, bis der Mond wieder hinter die Wolken
+trat und es dunkel wurde, dann kehrte er auf sein Lager zurück.
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap03"></a>
+Auf der Weide
+</h3>
+
+<p>
+Heidi erwachte am frühen Morgen an einem lauten Pfiff, und als es
+die Augen aufschlug, kam ein goldener Schein durch das runde Loch
+hereingeflossen auf sein Lager und auf das Heu daneben, dass alles
+golden leuchtete ringsherum. Heidi schaute erstaunt um sich und
+wusste durchaus nicht, wo es war. Aber nun hörte es draußen des
+Großvaters tiefe Stimme, und jetzt kam ihm alles in den Sinn: Woher
+es gekommen war und dass es nun auf der Alm beim Großvater sei,
+nicht mehr bei der alten Ursel, die fast nichts mehr hörte und
+meistens fror, so dass sie immer am Küchenfenster oder am
+Stubenofen gesessen hatte, wo dann auch Heidi hatte verweilen
+müssen oder doch ganz in der Nähe, damit die Alte sehen konnte, wo
+es war, weil sie es nicht hören konnte. Da war es dem Heidi
+manchmal zu eng drinnen, und es wäre lieber hinausgelaufen. So war
+es sehr froh, als es in der neuen Behausung erwachte und sich
+erinnerte, wie viel Neues es gestern gesehen hatte und was es heute
+wieder alles sehen könnte, vor allem das Schwänli und das Bärli.
+Heidi sprang eilig aus seinem Bett und hatte in wenig Minuten alles
+wieder angelegt, was es gestern getragen hatte, denn es war sehr
+wenig. Nun stieg es die Leiter hinunter und sprang vor die Hütte
+hinaus. Da stand schon der Geißenpeter mit seiner Schar, und der
+Großvater brachte eben Schwänli und Bärli aus dem Stall herbei,
+dass sie sich der Gesellschaft anschlossen. Heidi lief ihm
+entgegen, um ihm und den Geißen guten Tag zu sagen.
+</p>
+
+<p>
+"Willst mit auf die Weide?", fragte der Großvater. Das war dem
+Heidi eben recht, es hüpfte hoch auf vor Freude.
+</p>
+
+<p>
+"Aber erst waschen und sauber sein, sonst lacht einen die Sonne aus,
+wenn sie so schön glänzt da droben und sieht, dass du schwarz bist;
+sieh, dort ist's für dich gerichtet." Der Großvater zeigte auf
+einen großen Zuber voll Wasser, der vor der Tür in der Sonne stand.
+Heidi sprang hin und patschte und rieb, bis es ganz glänzend war.
+Unterdessen ging der Großvater in die Hütte hinein und rief dem
+Peter zu: "Komm hierher, Geißengeneral, und bring deinen Habersack
+mit." Verwundert folgte Peter dem Ruf und streckte sein Säcklein
+hin, in dem er sein mageres Mittagessen bei sich trug.
+</p>
+
+<p>
+"Mach auf", befahl der Alte und steckte nun ein großes Stück Brot
+und ein ebenso großes Stück Käse hinein. Der Peter machte vor
+Erstaunen seine runden Augen so weit auf als nur möglich, denn die
+beiden Stücke waren wohl doppelt so groß wie die zwei, die er als
+eignes Mittagsmahl drinnen hatte.
+</p>
+
+<p>
+"So, nun kommt noch das Schüsselchen hinein", fuhr der Öhi fort,
+"denn das Kind kann nicht trinken wie du, nur so von der Geiß weg,
+es kennt das nicht. Du melkst ihm zwei Schüsselchen voll zu Mittag,
+denn das Kind geht mit dir und bleibt bei dir, bis du wieder
+herunterkommst; gib Acht, dass es nicht über die Felsen
+hinunterfällt, hörst du?"--
+</p>
+
+<p>
+Nun kam Heidi hereingelaufen. "Kann mich die Sonne jetzt nicht
+auslachen, Großvater?", fragte es angelegentlich. Es hatte sich
+mit dem groben Tuch, das der Großvater neben dem Wasserzuber
+aufgehängt hatte, Gesicht, Hals und Arme in seinem Schrecken vor
+der Sonne so erstaunlich gerieben, dass es krebsrot vor dem
+Großvater stand. Er lachte ein wenig.
+</p>
+
+<p>
+"Nein, nun hat sie nichts zu lachen", bestätigte er. "Aber weißt
+was? Am Abend, wenn du heimkommst, da gehst du noch ganz hinein in
+den Zuber, wie ein Fisch; denn wenn man geht wie die Geißen, da
+bekommt man schwarze Füße. Jetzt könnt ihr ausziehen."
+</p>
+
+<p>
+Nun ging es lustig die Alm hinan. Der Wind hatte in der Nacht das
+letzte Wölkchen weggeblasen; dunkelblau schaute der Himmel von
+allen Seiten hernieder, und mittendrauf stand die leuchtende Sonne
+und schimmerte auf die grüne Alp, und alle die blauen und gelben
+Blümchen darauf machten ihre Kelche auf und schauten ihr fröhlich
+entgegen. Heidi sprang hierhin und dorthin und jauchzte vor Freude,
+denn da waren ganze Trüppchen feiner, roter Himmelsschlüsselchen
+beieinander, und dort schimmerte es ganz blau von den schönen
+Enzianen, und überall lachten und nickten die zartblätterigen,
+goldenen Cystusröschen in der Sonne. Vor Entzücken über all die
+flimmernden winkenden Blümchen vergaß Heidi sogar die Geißen und
+auch den Peter. Es sprang ganze Strecken voran und dann auf die
+Seite, denn dort funkelte es rot und da gelb und lockte Heidi auf
+alle Seiten. Und überall brach Heidi ganze Scharen von den Blumen
+und packte sie in sein Schürzchen ein, denn es wollte sie alle mit
+heimnehmen und ins Heu stecken in seiner Schlafkammer, dass es dort
+werde wie hier draußen. --So hatte der Peter heut nach allen
+Seiten zu gucken, und seine kugelrunden Augen, die nicht besonders
+schnell hin und her gingen, hatten mehr Arbeit, als der Peter gut
+bewältigen konnte, denn die Geißen machten es wie das Heidi: Sie
+liefen auch dahin und dorthin, und er musste überallhin pfeifen und
+rufen und seine Rute schwingen, um wieder alle die Verlaufenen
+zusammenzutreiben.
+</p>
+
+<p>
+"Wo bist du schon wieder, Heidi?", rief er jetzt mit ziemlich
+grimmiger Stimme.
+</p>
+
+<p>
+"Da", tönte es von irgendwoher zurück. Sehen konnte Peter niemand,
+denn Heidi saß am Boden hinter einem Hügelchen, das dicht mit
+duftenden Prünellen besät war; da war die ganze Luft umher so mit
+Wohlgeruch erfüllt, dass Heidi noch nie so Liebliches eingeatmet
+hatte. Es setzte sich in die Blumen hinein und zog den Duft in
+vollen Zügen ein.
+</p>
+
+<p>
+"Komm nach!", rief der Peter wieder. "Du musst nicht über die
+Felsen hinunterfallen, der Öhi hat's verboten."
+</p>
+
+<p>
+"Wo sind die Felsen?", fragte Heidi zurück, bewegte sich aber nicht
+von der Stelle, denn der süße Duft strömte mit jedem Windhauch dem
+Kinde lieblicher entgegen.
+</p>
+
+<p>
+"Dort oben, ganz oben, wir haben noch weit, drum komm jetzt! Und
+oben am höchsten sitzt der alte Raubvogel und krächzt."
+</p>
+
+<p>
+Das half. Augenblicklich sprang Heidi in die Höhe und rannte mit
+seiner Schürze voller Blumen dem Peter zu.
+</p>
+
+<p>
+"Jetzt hast genug", sagte dieser, als sie wieder zusammen
+weiterkletterten; "sonst bleibst du immer stecken, und wenn du alle
+nimmst, hat's morgen keine mehr." Der letzte Grund leuchtete Heidi
+ein, und dann hatte es die Schürze schon so angefüllt, dass da
+wenig Platz mehr gewesen wäre, und morgen mussten auch noch da sein.
+So zog es nun mit dem Peter weiter, und die Geißen gingen nun
+alle geregelter, denn sie rochen die guten Kräuter von dem hohen
+Weideplatz schon von fern und strebten nun ohne Aufenthalt dahin.
+Der Weideplatz, wo Peter gewöhnlich Halt machte mit seinen Geißen
+und sein Quartier für den Tag aufschlug, lag am Fuße der hohen
+Felsen, die, erst noch von Gebüsch und Tannen bedeckt, zuletzt ganz
+kahl und schroff zum Himmel hinaufragen. An der einen Seite der
+Alp ziehen sich Felsenklüfte weit hinunter und der Großvater hatte
+Recht, davor zu warnen. Als nun dieser Punkt der Höhe erreicht war,
+nahm Peter seinen Sack ab und legte ihn sorgfältig in eine kleine
+Vertiefung des Bodens hinein, denn der Wind kam manchmal in starken
+Stößen dahergefahren, und den kannte Peter und wollte seine
+kostbare Habe nicht den Berg hinunterrollen sehen; dann streckte er
+sich lang und breit auf den sonnigen Weideboden hin, denn er musste
+sich nun von der Anstrengung des Steigens erholen.
+</p>
+
+<p>
+Heidi hatte unterdessen sein Schürzchen losgemacht und schön fest
+zusammengerollt mit den Blumen darin zum Proviantsack in die
+Vertiefung hineingelegt, und nun setzte es sich neben den
+ausgestreckten Peter hin und schaute um sich. Das Tal lag weit
+unten im vollen Morgenglanz; vor sich sah Heidi ein großes, weites
+Schneefeld sich erheben, hoch in den dunkelblauen Himmel hinauf,
+und links davon stand eine ungeheure Felsenmasse, und zu jeder
+Seite derselben ragte ein hoher Felsenturm kahl und zackig in die
+Bläue hinauf und schaute von dort oben ganz ernsthaft auf das Heidi
+nieder. Das Kind saß mäuschenstill da und schaute ringsum, und
+weit umher war eine große, tiefe Stille; nur ganz sanft und leise
+ging der Wind über die zarten, blauen Glockenblümchen und die
+goldnen, strahlenden Cystusröschen, die überall herumstanden auf
+ihren dünnen Stängelchen und leise und fröhlich hin und her nickten.
+Der Peter war entschlafen nach seiner Anstrengung, und die Geißen
+kletterten oben an den Büschen umher. Dem Heidi war es so schön
+zumute, wie in seinem Leben noch nie. Es trank das goldene
+Sonnenlicht, die frischen Lüfte, den zarten Blumenduft in sich ein
+und begehrte gar nichts mehr, als so dazubleiben immerzu. So
+verging eine gute Zeit und Heidi hatte so oft und so lange zu den
+hohen Bergstöcken drüben aufgeschaut, dass es nun war, als hätten
+sie alle auch Gesichter bekommen und schauten ganz bekannt zu ihm
+hernieder, so wie gute Freunde.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt hörte Heidi über sich ein lautes, scharfes Geschrei und
+Krächzen ertönen, und wie es aufschaute, kreiste über ihm ein so
+großer Vogel, wie es nie in seinem Leben gesehen hatte, mit weit
+ausgebreiteten Schwingen in der Luft umher, und in großen Bogen
+kehrte er immer wieder zurück und krächzte laut und durchdringend
+über Heidis Kopf.
+</p>
+
+<p>
+"Peter! Peter! Erwache!", rief Heidi laut. "Sich, der Raubvogel
+ist da, sieh! Sieh!"
+</p>
+
+<p>
+Peter erhob sich auf den Ruf und schaute mit Heidi dem Vogel nach,
+der sich nun höher und höher hinaufschwang ins Himmelsblau und
+endlich über grauen Felsen verschwand.
+</p>
+
+<p>
+"Wo ist er jetzt hin?", fragte Heidi, das mit gespannter
+Aufmerksamkeit den Vogel verfolgt hatte.
+</p>
+
+<p>
+"Heim ins Nest", war Peters Antwort.
+</p>
+
+<p>
+"Ist er dort oben daheim? Oh, wie schön so hoch oben! Warum
+schreit er so?", fragte Heidi weiter.
+</p>
+
+<p>
+"Weil er muss", erklärte Peter.
+</p>
+
+<p>
+"Wir wollen doch dort hinaufklettern und sehen, wo er daheim ist",
+schlug Heidi vor.
+</p>
+
+<p>
+"Oh! oh! oh!", brach der Peter aus, jeden Ausruf mit verstärkter
+Missbilligung hervorstoßend; "wenn keine Geiß mehr dorthin kann und
+der Öhi gesagt hat, du dürfest nicht über die Felsen hinunterfallen."
+</p>
+
+<p>
+Jetzt begann der Peter mit einem Mal ein so gewaltiges Pfeifen und
+Rufen anzustimmen, dass Heidi gar nicht wusste, was begegnen sollte;
+aber die Geißen mussten die Töne verstehen, denn eine nach der
+anderen kam heruntergesprungen, und nun war die ganze Schar auf der
+grünen Halde versammelt, die einen fortnagend an den würzigen
+Halmen, die anderen hin und her rennend und die Dritten ein wenig
+gegeneinander stoßend mit ihren Hörnern zum Zeitvertreib. Heidi
+war aufgesprungen und rannte mitten unter den Geißen umher, denn
+das war ihm ein neuer, unbeschreiblich vergnüglicher Anblick, wie
+die Tierlein durcheinander sprangen und sich lustig machten, und
+Heidi sprang von einem zum anderen und machte mit jedem ganz
+persönliche Bekanntschaft, denn jedes war eine ganz besondere
+Erscheinung für sich und hatte seine eigenen Manieren. Unterdessen
+hatte Peter den Sack herbeigeholt und alle vier Stücke, die drin
+waren, schön auf den Boden hingelegt in ein Viereck, die großen
+Stücke auf Heidis Seite und die kleinen auf die seinige hin, denn
+er wusste genau, wie er sie erhalten hatte. Dann nahm er das
+Schüsselchen und melkte schöne, frische Milch hinein vom Schwänli
+und stellte das Schüsselchen mitten ins Viereck. Dann rief er
+Heidi herbei, musste aber länger rufen als nach den Geißen, denn
+das Kind war so in Eifer und Freude über die mannigfaltigen Sprünge
+und Erlustigungen seiner neuen Spielkameraden, dass es nichts sah
+und nichts hörte außer diesen. Aber Peter wusste sich verständlich
+zu machen, er rief, dass es bis in die Felsen hinaufdröhnte, und
+nun erschien Heidi und die gedeckte Tafel sah so einladend aus,
+dass es um sie herumhüpfte vor Wohlgefallen.
+</p>
+
+<p>
+"Hör auf zu hopsen, es ist Zeit zum Essen", sagte Peter, "jetzt
+sitz und fang an."
+</p>
+
+<p>
+Heidi setzte sich hin. "Ist die Milch mein?", fragte es, nochmals
+das schöne Viereck und den Hauptpunkt in der Mitte mit Wohlgefallen
+betrachtend.
+</p>
+
+<p>
+"Ja", erwiderte Peter, "und die zwei großen Stücke zum Essen sind
+auch dein, und wenn du ausgetrunken hast, bekommst du noch ein
+Schüsselchen vom Schwänli und dann komm ich."
+</p>
+
+<p>
+"Und von wem bekommst du die Milch?", wollte Heidi wissen.
+</p>
+
+<p>
+"Von meiner Geiß, von der Schnecke. Fang einmal zu essen an",
+mahnte Peter wieder. Heidi fing bei seiner Milch an, und sowie es
+sein leeres Schüsselchen hinstellte, stand Peter auf und holte ein
+zweites herbei. Dazu brach Heidi ein Stück von seinem Brot ab, und
+das ganze übrige Stück, das immer noch größer war, als Peters
+eigenes Stück gewesen, das nun schon samt Zubehör fast zu Ende war,
+reichte es diesem hinüber mit dem ganzen großen Brocken Käse und
+sagte: "Das kannst du haben, ich habe nun genug."
+</p>
+
+<p>
+Peter schaute das Heidi mit sprachloser Verwunderung an, denn noch
+nie in seinem Leben hätte er so sagen und etwas weggeben können.
+Er zögerte noch ein wenig, denn er konnte nicht recht glauben, dass
+es dem Heidi ernst sei; aber dieses hielt erst fest seine Stücke
+hin, und da Peter nicht zugriff, legte sie es ihm aufs Knie. Nun
+sah er, dass es ernst gemeint sei; er erfasste sein Geschenk,
+nickte in Dank und Zustimmung und hielt nun ein so reichliches
+Mittagsmahl wie noch nie in seinem Leben als Geißbub. Heidi
+schaute derweilen nach den Geißen aus. "Wie heißen sie alle,
+Peter?", fragte es.
+</p>
+
+<p>
+Das wusste dieser nun ganz genau und konnte es umso besser in
+seinem Kopf behalten, da er daneben wenig darin aufzubewahren hatte.
+Er fing also an und nannte ohne Anstoß eine nach der anderen,
+immer je mit dem Finger die betreffende bezeichnend. Heidi hörte
+mit gespannter Aufmerksamkeit der Unterweisung zu, und es währte
+gar nicht lange, so konnte es sie alle voneinander unterscheiden
+und jede bei ihrem Namen nennen, denn es hatte eine jede ihre
+Besonderheiten, die einem gleich im Sinne bleiben mussten; man
+musste nur allen genau zusehen, und das tat Heidi. Da war der
+große Türk mit den starken Hörnern, der wollte mit diesen immer
+gegen alle anderen stoßen, und die meisten liefen davon, wenn er
+kam, und wollten nichts von dem groben Kameraden wissen. Nur der
+kecke Distelfink, das schlanke, behände Geißchen, wich ihm nicht
+aus, sondern rannte von sich aus manchmal drei-, viermal
+hintereinander so rasch und tüchtig gegen ihn an, dass der große
+Türk öfters ganz erstaunt dastand und nicht mehr angriff, denn der
+Distelfink stand ganz kriegslustig vor ihm und hatte scharfe
+Hörnchen. Da war das kleine, weiße Schneehöppli, das immer so
+eindringlich und flehentlich meckerte, dass Heidi schon mehrmals zu
+ihm hingelaufen war und es tröstend beim Kopf genommen hatte. Auch
+jetzt sprang das Kind wieder hin, denn die junge, jammernde Stimme
+hatte eben wieder flehentlich gerufen. Heidi legte seinen Arm um
+den Hals des Geißleins und fragte ganz teilnehmend: "Was hast du,
+Schneehöppli? Warum rufst du so um Hilfe?" Das Geißlein schmiegte
+sich nahe und vertrauensvoll an Heidi an und war jetzt ganz still.
+Peter rief von seinem Sitz aus, mit einigen Unterbrechungen, denn
+er hatte immer noch zu beißen und zu schlucken: "Es tut so, weil
+die Alte nicht mehr mitkommt, sie haben sie verkauft nach Maienfeld
+vorgestern, nun kommt sie nicht mehr auf die Alm."
+</p>
+
+<p>
+"Wer ist die Alte?", fragte Heidi zurück.
+</p>
+
+<p>
+"Pah, seine Mutter", war die Antwort.
+</p>
+
+<p>
+"Wo ist die Großmutter?", rief Heidi wieder.
+</p>
+
+<p>
+"Hat keine."
+</p>
+
+<p>
+"Und der Großvater?"
+</p>
+
+<p>
+"Hat keinen."
+</p>
+
+<p>
+"Du armes Schneehöppli du", sagte Heidi und drückte das Tierlein
+zärtlich an sich. "Aber jammere jetzt nur nicht mehr so; siehst du,
+ich komme nun jeden Tag mit dir, dann bist du nicht mehr so
+verlassen, und wenn dir etwas fehlt, kannst du nur zu mir kommen."
+</p>
+
+<p>
+Das Schneehöppli rieb ganz vergnügt seinen Kopf an Heidis Schulter
+und meckerte nicht mehr kläglich. Unterdessen hatte Peter sein
+Mittagsmahl beendet und kam nun auch wieder zu seiner Herde und zu
+Heidi heran, das schon wieder allerlei Betrachtungen angestellt
+hatte.
+</p>
+
+<p>
+Weitaus die zwei schönsten und saubersten Geißen der ganzen Schar
+waren Schwänli und Bärli, die sich auch mit einer gewissen
+Vornehmheit betrugen, meistens ihre eigenen Wege gingen und
+besonders dem zudringlichen Türk abweisend und verächtlich
+begegneten.--
+</p>
+
+<p>
+Die Tierchen hatten nun wieder begonnen, nach den Büschen
+hinaufzuklettern, und jedes hatte seine eigene Weise dabei, die
+einen leichtfertig über alles weg hüpfend, die anderen bedächtlich
+die guten Kräutlein suchend unterwegs, der Türk hier und da seine
+Angriffe probierend. Schwänli und Bärli kletterten hübsch und
+leicht hinan und fanden oben sogleich die schönsten Büsche,
+stellten sich geschickt daran auf und nagten sie zierlich ab.
+Heidi stand mit den Händen auf dem Rücken und schaute dem allen mit
+der größten Aufmerksamkeit zu.
+</p>
+
+<p>
+"Peter", bemerkte es jetzt zu dem wieder auf dem Boden Liegenden,
+"die schönsten von allen sind das Schwänli und das Bärli."
+</p>
+
+<p>
+"Weiß schon", war die Antwort. "Der Alm-Öhi putzt und wäscht sie
+und gibt ihnen Salz und hat den schönsten Stall."
+</p>
+
+<p>
+Aber auf einmal sprang Peter auf und setzte in großen Sprüngen den
+Geißen nach, und das Heidi lief hintendrein; da musste etwas
+begegnet sein, es konnte da nicht zurückbleiben. Der Peter sprang
+durch den Geißenrudel durch der Seite der Alm zu, wo die Felsen
+schroff und kahl weit hinabstiegen und ein unbesonnenes Geißlein,
+wenn es dorthin ging, leicht hinunterstürzen und alle Beine brechen
+konnte. Er hatte gesehen, wie der vorwitzige Distelfink nach jener
+Seite hin gehüpft war, und kam noch gerade recht, denn eben sprang
+das Geißlein dem Rande des Abgrundes zu. Peter wollte es eben
+packen, da stürzte er auf den Boden und konnte nur noch im Sturze
+ein Bein des Tierleins erwischen und es daran festhalten. Der
+Distelfink meckerte voller Zorn und Überraschung, dass er so am
+Bein festgehalten und am Fortsetzen seines fröhlichen Streifzuges
+gehindert war, und strebte eigensinnig vorwärts. Der Peter schrie
+nach Heidi, dass es ihm beistehe, denn er konnte nicht aufstehen
+und riss dem Distelfink fast das Bein aus. Heidi war schon da und
+erkannte gleich die schlimme Lage der beiden. Es riss schnell
+einige wohlduftende Kräuter aus dem Boden und hielt sie dem
+Distelfink unter die Nase und sagte begütigend:
+</p>
+
+<p>
+"Komm, komm, Distelfink, du musst auch vernünftig sein! Sieh, da
+kannst du hinabfallen und ein Bein brechen, das tut dir furchtbar
+weh."
+</p>
+
+<p>
+Das Geißlein hatte sich schnell umgewandt und dem Heidi vergnüglich
+die Kräuter aus der Hand gefressen. Derweilen war der Peter auf
+seine Füße gekommen und hatte den Distelfink an der Schnur erfasst,
+an welcher sein Glöckchen um den Hals gebunden war, und Heidi
+erfasste diese von der anderen Seite, und so führten die beiden den
+Ausreißer zu der friedlich weidenden Herde zurück. Als ihn aber
+Peter hier in Sicherheit hatte, erhob er seine Rute und wollte ihn
+zur Strafe tüchtig durchprügeln, und der Distelfink wich scheu
+zurück, denn er merkte, was begegnen sollte. Aber Heidi schrie
+laut auf: "Nein, Peter, nein, du musst ihn nicht schlagen, sieh,
+wie er sich fürchtet!"
+</p>
+
+<p>
+"Er verdient's", schnurrte Peter und wollte zuschlagen. Aber Heidi
+fiel ihm in den Arm und rief ganz entrüstet: "Du darfst ihm nichts
+tun, es tut ihm weh, lass ihn los!"
+</p>
+
+<p>
+Peter schaute erstaunt auf das gebietende Heidi, dessen schwarze
+Augen ihn so anfunkelten, dass er unwillkürlich seine Rute
+niederhielt. "So kann er gehen, wenn du mir morgen wieder von
+deinem Käse gibst", sagte dann der Peter nachgebend, denn eine
+Entschädigung wollte er haben für den Schrecken.
+</p>
+
+<p>
+"Allen kannst du haben, das ganze Stück morgen und alle Tage, ich
+brauche ihn gar nicht", sagte Heidi zustimmend, "und Brot gebe ich
+dir auch ganz viel, wie heute; aber dann darfst du den Distelfink
+nie, gar nie schlagen und auch das Schneehöppli nie und gar keine
+Geiß."
+</p>
+
+<p>
+"Es ist mir gleich", bemerkte Peter, und das war bei ihm soviel als
+eine Zusage. Jetzt ließ er den Schuldigen los, und der fröhliche
+Distelfink sprang in hohen Sprüngen auf und davon in die Herde
+hinein.--
+</p>
+
+<p>
+So war unvermerkt der Tag vergangen, und schon war die Sonne im
+Begriff, weit drüben hinter den Bergen hinabzugehen. Heidi saß
+wieder am Boden und schaute ganz still auf die Blauglöckchen und
+die Cystusröschen, die im goldenen Abendschein leuchteten, und
+alles Gras wurde wie golden angehaucht und die Felsen droben fingen
+an zu schimmern und zu funkeln, und auf einmal sprang Heidi auf und
+schrie: "Peter! Peter! Es brennt! Es brennt! Alle Berge brennen
+und der große Schnee drüben brennt und der Himmel. O sieh! Sieh!
+Der hohe Felsenberg ist ganz glühend! Oh, der schöne, feurige
+Schnee! Peter, sieh auf, sieh, das Feuer ist auch beim Raubvogel!
+Sieh doch die Felsen! Sieh die Tannen! Alles, alles ist im Feuer!"
+</p>
+
+<p>
+"Es war immer so", sagte jetzt der Peter gemütlich und schälte an
+seiner Rute fort, "aber es ist kein Feuer."
+</p>
+
+<p>
+"Was ist es denn?", rief Heidi und sprang hierhin und dorthin, dass
+es überallhin sehe, denn es konnte gar nicht genug bekommen, so
+schön war's auf allen Seiten. "Was ist es, Peter, was ist es?",
+rief Heidi wieder.
+</p>
+
+<p>
+"Es kommt von selbst so", erklärte Peter.
+</p>
+
+<p>
+"O sieh, sieh", rief Heidi in großer Aufregung, "auf einmal werden
+sie rosenrot! Sieh den mit dem Schnee und den mit den hohen,
+spitzigen Felsen! Wie heißen sie, Peter?"
+</p>
+
+<p>
+"Berge heißen nicht", erwiderte dieser.
+</p>
+
+<p>
+"O wie schön, sieh den rosenroten Schnee! Oh, und an den Felsen
+oben sind viele, viele Rosen! Oh, nun werden sie grau! Oh! Oh!
+Nun ist alles ausgelöscht! Nun ist alles aus, Peter!" Und Heidi
+setzte sich auf den Boden und sah so verstört aus, als ginge
+wirklich alles zu Ende.
+</p>
+
+<p>
+"Es ist morgen wieder so", erklärte Peter. "Steh auf, nun müssen
+wir heim."
+</p>
+
+<p>
+Die Geißen wurden herbeigepfiffen und <span style="white-space: nowrap;">-gerufen</span> und die Heimfahrt
+angetreten.
+</p>
+
+<p>
+"Ist's alle Tage wieder so, alle Tage, wenn wir auf der Weide
+sind?", fragte Heidi, begierig nach einer bejahenden Versicherung
+horchend, als es nun neben dem Peter die Alm hinunterstieg.
+</p>
+
+<p>
+"Meistens", gab dieser zur Antwort.
+</p>
+
+<p>
+"Aber gewiss morgen wieder?", wollte es noch wissen.
+</p>
+
+<p>
+"Ja, ja, morgen schon!", versicherte Peter.
+</p>
+
+<p>
+Nun war Heidi wieder froh und es hatte so viele Eindrücke in sich
+aufgenommen und so viele Dinge gingen ihm im Sinn herum, dass es
+nun ganz stillschwieg, bis es bei der Almhütte ankam und den
+Großvater unter den Tannen sitzen sah, wo er auch eine Bank
+angebracht hatte und am Abend seine Geißen erwartete, die von
+dieser Seite herunterkämen. Heidi sprang gleich auf ihn zu und
+Schwänli und Bärli hinter ihm drein, denn die Geißen kannten ihren
+Herrn und ihren Stall. Der Peter rief dem Heidi nach: "Komm dann
+morgen wieder! Gute Nacht!" Denn es war ihm sehr daran gelegen,
+dass das Heidi wiederkomme.
+</p>
+
+<p>
+Da rannte das Heidi schnell wieder zurück und gab dem Peter die
+Hand und versicherte ihm, dass es wieder mitkomme, und dann sprang
+es mitten in die davonziehende Herde hinein und fasste noch einmal
+das Schneehöppli um den Hals und sagte vertraulich: "Schlaf wohl,
+Schneehöppli, und denk dran, dass ich morgen wiederkomme und dass
+du nie mehr so jämmerlich meckern musst."
+</p>
+
+<p>
+Das Schneehöppli schaute ganz freundlich und dankbar zu Heidi auf
+und sprang dann fröhlich der Herde nach.
+</p>
+
+<p>
+Heidi kam unter die Tannen zurück.
+</p>
+
+<p>
+"O Großvater, das war so schön!", rief es, noch bevor es bei ihm
+war. "Das Feuer und die Rosen am Felsen und die blauen und gelben
+Blumen, und sieh, was ich hier bringe!" Und damit schüttete Heidi
+seinen ganzen Blumenreichtum aus dem gefalteten Schürzchen vor den
+Großvater hin. Aber wie sahen die armen Blümchen aus! Heidi
+erkannte sie nicht mehr. Es war alles wie Heu, und kein einziges
+Kelchlein stand mehr offen.
+</p>
+
+<p>
+"O Großvater, was haben sie?", rief Heidi ganz erschrocken aus.
+"So waren sie nicht, warum sehen sie so aus?"
+</p>
+
+<p>
+"Die wollen draußen stehen in der Sonne und nicht ins Schürzchen
+hinein", sagte der Großvater.
+</p>
+
+<p>
+"Dann will ich gar keine mehr mitnehmen. Aber, Großvater, warum
+hat der Raubvogel so gekrächzt?", fragte Heidi nun angelegentlich.
+</p>
+
+<p>
+"Jetzt gehst du ins Wasser und ich in den Stall und hole Milch, und
+nachher kommen wir hinein zusammen in die Hütte und essen zu Nacht,
+dann sag ich dir's."
+</p>
+
+<p>
+So wurde getan, und wie nun später Heidi auf seinem hohen Stuhl saß
+vor seinem Milchschüsselchen und der Großvater neben ihm, da kam
+das Kind gleich wieder mit seiner Frage: "Warum krächzt der
+Raubvogel so und schreit immer so herunter, Großvater?"
+</p>
+
+<p>
+"Der höhnt die Leute aus dort unten, dass sie so viele
+zusammensitzen in den Dörfern und einander bös machen. Da höhnt er
+hinunter: 'Würdet ihr auseinander gehen und jedes seinen Weg
+und auf eine Höhe steigen wie ich, so wär's euch wohler!'"
+Der Großvater sagte diese Worte fast wild, so dass dem Heidi das
+Gekrächz des Raubvogels dadurch noch eindrücklicher wurde in der
+Erinnerung.
+</p>
+
+<p>
+"Warum haben die Berge keinen Namen, Großvater?", fragte Heidi
+wieder.
+</p>
+
+<p>
+"Die haben Namen", erwiderte dieser, "und wenn du mir einen so
+beschreiben kannst, dass ich ihn kenne, so sage ich dir, wie er
+heißt."
+</p>
+
+<p>
+Nun beschrieb Heidi den Felsenberg mit den zwei hohen Türmen genau
+so, wie es ihn gesehen hatte, und der Großvater sagte wohlgefällig:
+"Recht so, den kenn ich, der heißt Falknis. Hast du noch einen
+gesehen?"
+</p>
+
+<p>
+Nun beschrieb Heidi den Berg mit dem großen Schneefeld, auf dem der
+ganze Schnee im Feuer gestanden hatte und dann rosenrot geworden
+war und dann auf einmal ganz bleich und erloschen dastand.
+</p>
+
+<p>
+"Den erkenn ich auch", sagte der Großvater, "das ist die
+Schesaplana; so hat es dir gefallen auf der Weide?"
+</p>
+
+<p>
+Nun erzählte Heidi alles vom ganzen Tage, wie schön es gewesen, und
+besonders von dem Feuer am Abend, und nun sollte der Großvater auch
+sagen, woher es gekommen war, denn der Peter hätte nichts davon
+gewusst.
+</p>
+
+<p>
+"Siehst du", erklärte der Großvater, "das macht die Sonne, wenn sie
+den Bergen gute Nacht sagt, dann wirft sie ihnen noch ihre
+schönsten Strahlen zu, dass sie sie nicht vergessen, bis sie am
+Morgen wiederkommt."
+</p>
+
+<p>
+Das gefiel dem Heidi und es konnte fast nicht erwarten, dass wieder
+ein Tag komme, da es hinaufkonnte auf die Weide und wieder sehen,
+wie die Sonne den Bergen gute Nacht sagte. Aber erst musste es nun
+schlafen gehen, und es schlief auch die ganze Nacht herrlich auf
+seinem Heulager, und träumte von lauter schimmernden Bergen und
+roten Rosen darauf und mittendrin das Schneehöppli in fröhlichen
+Sprüngen.
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap04"></a>
+Bei der Großmutter
+</h3>
+
+<p>
+Am andern Morgen kam wieder die helle Sonne, und dann kam der Peter
+und die Geißen, und wieder zogen sie alle miteinander nach der
+Weide hinauf, und so ging es Tag für Tag, und Heidi wurde bei
+diesem Weideleben ganz gebräunt und so kräftig und gesund, dass ihm
+gar nie etwas fehlte, und so froh und glücklich lebte Heidi von
+einem Tag zum anderen, wie nur die lustigen Vögelein leben auf
+allen Bäumen im grünen Wald. Wie es nun Herbst wurde und der Wind
+lauter zu sausen anfing über die Berge hin, dann sagte etwa der
+Großvater: "Heut bleibst du da, Heidi; ein Kleines, wie du bist,
+kann der Wind mit einem Ruck über alle Felsen ins Tal hinabwehen."
+</p>
+
+<p>
+Wenn aber das am Morgen der Peter vernahm, sah er sehr unglücklich
+aus, denn er sah lauter Missgeschick vor sich: Einmal wusste er vor
+Langeweile nun gar nicht mehr, was anfangen, wenn Heidi nicht bei
+ihm war; dann kam er um sein reichliches Mittagsmahl, und dann
+waren die Geißen so störrig an diesen Tagen, dass er die doppelte
+Mühe mit ihnen hatte; denn die waren nun auch so an Heidis
+Gesellschaft gewöhnt, dass sie nicht vorwärts wollten, wenn es
+nicht dabei war, und auf alle Seiten rannten. Heidi wurde niemals
+unglücklich, denn es sah immer irgendetwas Erfreuliches vor sich.
+Am liebsten ging es schon mit Hirt und Geißen auf die Weide zu den
+Blumen und zum Raubvogel hinauf, wo so mannigfaltige Dinge zu
+erleben waren mit all den verschieden gearteten Geißen; aber auch
+das Hämmern und Sägen und Zimmern des Großvaters war sehr
+unterhaltend für Heidi; und traf es sich, dass er gerade die
+schönen runden Geißkäschen zubereitete, wenn es daheim bleiben
+musste, so war das ein ganz besonderes Vergnügen, dieser
+merkwürdigen Tätigkeit zuzuschauen, wobei der Großvater beide Arme
+bloß machte und damit in dem großen Kessel herumrührte. Aber vor
+allem anziehend war für das Heidi an solchen Windtagen das Wogen
+und Rauschen in den drei alten Tannen hinter der Hütte. Da musste
+es immer von Zeit zu Zeit hinlaufen von allem anderen weg, was es
+auch sein mochte, denn so schön und wunderbar war gar nichts wie
+dieses tiefe, geheimnisvolle Tosen in den Wipfeln da droben; da
+stand Heidi unten und lauschte hinauf und konnte niemals genug
+bekommen, zu sehen und zu hören, wie das wehte und wogte und
+rauschte in den Bäumen mit großer Macht. Jetzt gab die Sonne nicht
+mehr heiß wie im Sommer, und Heidi suchte seine Strümpfe und Schuhe
+hervor und auch den Rock, denn nun wurde es immer frischer, und
+wenn das Heidi unter den Tannen stand, wurde es durchblasen wie ein
+dünnes Blättlein, aber es lief doch immer wieder hin und konnte
+nicht in der Hütte bleiben, wenn es das Windeswehen vernahm.
+</p>
+
+<p>
+Dann wurde es kalt, und der Peter hauchte in die Hände, wenn er
+früh am Morgen heraufkam, aber nicht lange; denn auf einmal fiel
+über Nacht ein tiefer Schnee, und am Morgen war die ganze Alm
+schneeweiß und kein einziges grünes Blättlein mehr zu sehen ringsum
+und um. Da kam der Geißenpeter nicht mehr mit seiner Herde, und
+Heidi schaute ganz verwundert durch das kleine Fenster, denn nun
+fing es wieder zu schneien an, und die dicken Flocken fielen fort
+und fort, bis der Schnee so hoch wurde, dass er bis ans Fenster
+hinaufreichte, und dann noch höher, dass man das Fenster gar nicht
+mehr aufmachen konnte und man ganz verpackt war in dem Häuschen.
+Das kam dem Heidi so lustig vor, dass es immer von einem Fenster
+zum anderen rannte, um zu sehen, wie es denn noch werden wollte und
+ob der Schnee noch die ganze Hütte zudecken wollte, dass man müsste
+ein Licht anzünden am hellen Tag. Es kam aber nicht so weit, und
+am anderen Tag ging der Großvater hinaus--denn nun schneite es
+nicht mehr--und schaufelte ums ganze Haus herum und warf große,
+große Schneehaufen aufeinander, dass es war wie hier ein Berg und
+dort ein Berg und dort ein Berg um die Hütte herum; aber nun waren
+die Fenster wieder frei und auch die Tür, und das war gut, denn als
+am Nachmittag Heidi und der Großvater am Feuer saßen, jedes auf
+seinem Dreifuß--denn der Großvater hatte längst auch einen für das
+Kind gezimmert--, da polterte auf einmal etwas heran und schlug
+immerzu gegen die Holzschwelle und machte endlich die Tür auf. Es
+war der Geißenpeter; er hatte aber nicht aus Unart so gegen die Tür
+gepoltert, sondern um seinen Schnee von den Schuhen abzuschlagen,
+die hoch hinauf davon bedeckt waren; eigentlich der ganze Peter war
+von Schnee bedeckt, denn er hatte sich durch die hohen Schichten so
+durchkämpfen müssen, dass ganze Massen an ihm hängen geblieben und
+auf ihm festgefroren waren, denn es war sehr kalt. Aber er hatte
+nicht nachgegeben, denn er wollte zu Heidi hinauf, er hatte es
+jetzt acht Tage lang nicht gesehen.
+</p>
+
+<p>
+"Guten Abend", sagte er im Eintreten, stellte sich gleich so nah
+als möglich ans Feuer heran und sagte weiter nichts mehr; aber sein
+ganzes Gesicht lachte vor Vergnügen, dass er da war. Heidi schaute
+ihn sehr verwundert an, denn nun er so nah am Feuer war, fing es
+überall an ihm zu tauen an, so dass der ganze Peter anzusehen war
+wie ein gelinder Wasserfall.
+</p>
+
+<p>
+"Nun, General, wie steht's?", sagte jetzt der Großvater. "Nun bist
+du ohne Armee und musst am Griffel nagen."
+</p>
+
+<p>
+"Warum muss er am Griffel nagen, Großvater?", fragte Heidi sogleich
+mit Wissbegierde.
+</p>
+
+<p>
+"Im Winter muss er in die Schule gehen", erklärte der Großvater;
+"da lernt man lesen und schreiben, und das geht manchmal schwer, da
+hilft's ein wenig nach, wenn man am Griffel nagt; ist's nicht wahr,
+General?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja, 's ist wahr", bestätigte Peter.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt war Heidis Teilnahme an der Sache wach geworden und es hatte
+sehr viele Fragen über die Schule und alles, was da begegnete und
+zu hören und zu sehen war, an den Peter zu richten, und da immer
+viel Zeit verfloss über einer Unterhaltung, an der Peter teilnehmen
+musste, so konnte er derweilen schön trocknen von oben bis unten.
+Es war immer eine große Anstrengung für ihn, seine Vorstellungen in
+die Worte zu bringen, die bedeuteten, was er meinte; aber diesmal
+hatte er's besonders streng, denn kaum hatte er eine Antwort
+zustande gebracht, so hatte ihm Heidi schon wieder zwei oder drei
+unerwartete Fragen zugeworfen und meistens solche, die einen ganzen
+Satz als Antwort erforderten.
+</p>
+
+<p>
+Der Großvater hatte sich ganz still verhalten während dieser
+Unterhaltung, aber es hatte ihm öfter ganz lustig um die Mundwinkel
+gezuckt, was ein Zeichen war, dass er zuhörte.
+</p>
+
+<p>
+"So, General, nun warst du im Feuer und brauchst Stärkung, komm,
+halt mit!" Damit stand der Großvater auf und holte das Abendessen
+aus dem Schrank hervor, und Heidi rückte die Stühle zum Tisch.
+Unterdessen war auch eine Bank an die Wand gezimmert worden vom
+Großvater; nun er nicht mehr allein war, hatte er da und dort
+allerlei Sitze zu zweien eingerichtet, denn Heidi hatte die Art,
+dass es sich überall nah zum Großvater hielt, wo er ging und stand
+und saß. So hatten sie alle drei gut Platz zum Sitzen und der
+Peter tat seine runden Augen ganz weit auf, als er sah, welch ein
+mächtiges Stück von dem schönen getrockneten Fleisch der Alm-Öhi
+ihm auf seine dicke Brotschnitte legte. So gut hatte es der Peter
+lange nicht gehabt. Als nun das vergnügte Mahl zu Ende war, fing
+es an zu dunkeln, und Peter schickte sich zur Heimkehr an. Als er
+nun "Gute Nacht" und "Dank Euch Gott" gesagt hatte und schon unter
+der Tür war, kehrte er sich noch einmal um und sagte: "Am Sonntag
+komm ich wieder, heut über acht Tag, und du solltest auch einmal
+zur Großmutter kommen, hat sie gesagt."
+</p>
+
+<p>
+Das war ein ganz neuer Gedanke für Heidi, dass es zu jemandem gehen
+sollte, aber er fasste auf der Stelle Boden bei ihm, und gleich am
+folgenden Morgen war sein Erstes, dass es erklärte: "Großvater,
+jetzt muss ich gewiss zu der Großmutter hinunter, sie erwartet mich."
+</p>
+
+<p>
+"Es hat zu viel Schnee", erwiderte der Großvater abwehrend.
+</p>
+
+<p>
+Aber das Vorhaben saß fest in Heidis Sinn, denn die Großmutter
+hatte es ja sagen lassen; so musste es sein. So verging kein Tag
+mehr, an dem das Kind nicht fünf- und sechsmal sagte: "Großvater,
+jetzt muss ich gewiss gehen, die Großmutter wartet ja immer auf
+mich."
+</p>
+
+<p>
+Am vierten Tag, als es draußen knisterte und knarrte vor Kälte bei
+jedem Schritt und die ganze große Schneedecke ringsum hart gefroren
+war, aber eine schöne Sonne ins Fenster guckte, gerade auf Heidis
+hohen Stuhl hin, wo es am Mittagsmahl saß, da begann es wieder sein
+Sprüchlein: "Heut muss ich aber gewiss zur Großmutter gehen, es
+währt ihr sonst zu lange." Da stand der Großvater auf vom
+Mittagstisch, stieg auf den Heuboden hinauf, brachte den dicken
+Sack herunter, der Heidis Bettdecke war, und sagte: "So komm!" In
+großer Freude hüpfte das Kind ihm nach in die glitzernde Schneewelt
+hinaus. In den alten Tannen war es nun ganz still und auf allen
+Ästen lag der weiße Schnee und in dem Sonnenschein schimmerte und
+funkelte es überall von den Bäumen in solcher Pracht, dass Heidi
+hoch aufsprang vor Entzücken und ein Mal übers andere ausrief:
+"Komm heraus, Großvater, komm heraus! Es ist lauter Silber und
+Gold an den Tannen!" Denn der Großvater war in den Schopf
+hineingegangen und kam nun heraus mit einem breiten Stoßschlitten:
+Da war vorn eine Stange angebracht, und von dem flachen Sitz konnte
+man die Füße nach vorn hinunterhalten und gegen den Schneeboden
+stemmen und der Fahrt die Weisung geben. Hier setzte sich der
+Großvater hin, nachdem er erst die Tannen ringsum mit Heidi hatte
+beschauen müssen, nahm das Kind auf seinen Schoß, wickelte es um
+und um in den Sack ein, damit es hübsch warm bleibe, und drückte es
+fest mit dem linken Arm an sich, denn das war nötig bei der
+kommenden Fahrt. Dann umfasste er mit der rechten Hand die Stange
+und gab einen Ruck mit beiden Füßen. Da schoss der Schlitten davon
+die Alm hinab mit einer solchen Schnelligkeit, dass das Heidi
+meinte, es fliege in der Luft wie ein Vogel, und laut aufjauchzte.
+Auf einmal stand der Schlitten still, gerade bei der Hütte vom
+Geißenpeter. Der Großvater stellte das Kind auf den Boden,
+wickelte es aus seiner Decke heraus und sagte:
+</p>
+
+<p>
+"So, nun geh hinein, und wenn es anfängt dunkel zu werden, dann
+komm wieder heraus und mach dich auf den Weg." Dann kehrte er um
+mit seinem Schlitten und zog ihn den Berg hinauf.
+</p>
+
+<p>
+Heidi machte die Tür auf und kam in einen kleinen Raum hinein, da
+sah es schwarz aus, und ein Herd war da und einige Schüsselchen auf
+einem Gestell, das war die kleine Küche; dann kam gleich wieder
+eine Tür, die machte Heidi wieder auf und kam in eine enge Stube
+hinein, denn das Ganze war nicht eine Sennhütte, wie beim Großvater,
+wo ein einziger, großer Raum war und oben ein Heuboden, sondern es
+war ein kleines, uraltes Häuschen, wo alles eng war und schmal und
+dürftig. Als Heidi in das Stübchen trat, stand es gleich vor dem
+Tisch, daran saß eine Frau und flickte an Peters Wams, denn dieses
+erkannte Heidi sogleich. In der Ecke saß ein altes, gekrümmtes
+Mütterchen und spann. Heidi wusste gleich, woran es war; es ging
+geradaus auf das Spinnrad zu und sagte: "Guten Tag, Großmutter,
+jetzt komme ich zu dir; hast du gedacht, es währe lang, bis ich
+komme?"
+</p>
+
+<p>
+Die Großmutter erhob den Kopf und suchte die Hand, die gegen sie
+ausgestreckt war, und als sie diese erfasst hatte, befühlte sie
+dieselbe erst eine Weile nachdenklich in der ihrigen, dann sagte
+sie: "Bist du das Kind droben beim Alm-Öhi, bist du das Heidi?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja, ja", bestätigte das Kind, "jetzt gerade bin ich mit dem
+Großvater im Schlitten heruntergefahren."
+</p>
+
+<p>
+"Wie ist das möglich! Du hast ja eine so warme Hand! Sag,
+Brigitte, ist der Alm-Öhi selber mit dem Kind heruntergekommen?"
+</p>
+
+<p>
+Peters Mutter, die Brigitte, die am Tisch geflickt hatte, war
+aufgestanden und betrachtete nun mit Neugierde das Kind von oben
+bis unten; dann sagte sie: "Ich weiß nicht, Mutter, ob der Öhi
+selber heruntergekommen ist mit ihm; es ist nicht glaublich, das
+Kind wird's nicht recht wissen."
+</p>
+
+<p>
+Aber das Heidi sah die Frau sehr bestimmt an und gar nicht, als sei
+es im Ungewissen, und sagte: "Ich weiß ganz gut, wer mich in die
+Bettdecke gewickelt hat und mit mir heruntergeschlittelt ist; das
+ist der Großvater."
+</p>
+
+<p>
+"Es muss doch etwas daran sein, was der Peter so gesagt hat den
+Sommer durch vom Alm-Öhi, wenn wir dachten, er wisse es nicht
+recht", sagte die Großmutter; "wer hätte freilich auch glauben
+können, dass so etwas möglich sei; ich dachte, das Kind lebte keine
+drei Wochen da oben. Wie sieht es auch aus, Brigitte!" Diese hatte
+das Kind unterdessen so von allen Seiten angesehen, dass sie nun
+wohl berichten konnte, wie es aussah.
+</p>
+
+<p>
+"Es ist so fein gegliedert, wie die Adelheid war", gab sie zur
+Antwort; "aber es hat die schwarzen Augen und das krause Haar, wie
+es der Tobias hatte und auch der Alte droben; ich glaube, es sieht
+den zweien gleich."
+</p>
+
+<p>
+Unterdessen war Heidi müßig geblieben; es hatte ringsum geguckt und
+alles genau betrachtet, was da zu sehen war. Jetzt sagte es: "Sieh,
+Großmutter, dort schlägt es einen Laden immer hin und her, und der
+Großvater würde auf der Stelle einen Nagel einschlagen, dass er
+wieder fest hält, sonst schlägt er auch einmal eine Scheibe ein;
+sieh, sieh, wie er tut!"
+</p>
+
+<p>
+"Ach, du gutes Kind", sagte die Großmutter, "sehen kann ich es
+nicht, aber hören kann ich es wohl und noch viel mehr, nicht nur
+den Laden; da kracht und klappert es überall, wenn der Wind kommt,
+und er kann überall hereinblasen; es hält nichts mehr zusammen, und
+in der Nacht, wenn sie beide schlafen, ist es mir manchmal so angst
+und bang, es falle alles über uns zusammen und schlage uns alle
+drei tot; ach, und da ist kein Mensch, der etwas ausbessern könnte
+an der Hütte, der Peter versteht's nicht."
+</p>
+
+<p>
+"Aber warum kannst du denn nicht sehen, wie der Laden tut,
+Großmutter? Sieh jetzt wieder, dort, gerade dort." Und Heidi
+zeigte die Stelle deutlich mit dem Finger.
+</p>
+
+<p>
+"Ach Kind, ich kann ja gar nichts sehen, gar nichts, nicht nur den
+Laden nicht", klagte die Großmutter.
+</p>
+
+<p>
+"Aber wenn ich hinausgehe und den Laden ganz aufmache, dass es
+recht hell wird, kannst du dann sehen, Großmutter?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, nein, auch dann nicht, es kann mir niemand mehr hell machen."
+</p>
+
+<p>
+"Aber wenn du hinausgehst in den ganz weißen Schnee, dann wird es
+dir gewiss hell; komm nur mit mir, Großmutter, ich will dir's
+zeigen." Heidi nahm die Großmutter bei der Hand und wollte sie
+fortziehen, denn es fing an, ihm ganz ängstlich zumute zu werden,
+dass es ihr nirgends hell wurde.
+</p>
+
+<p>
+"Lass mich nur sitzen, du gutes Kind; es bleibt doch dunkel bei mir,
+auch im Schnee und in der Helle, sie dringt nicht mehr in meine
+Augen."
+</p>
+
+<p>
+"Aber dann doch im Sommer, Großmutter", sagte Heidi, immer
+ängstlicher nach einem guten Ausweg suchend; "weißt, wenn dann
+wieder die Sonne ganz heiß herunterbrennt und dann 'gute
+Nacht' sagt und die Berge alle feuerrot schimmern und alle
+gelben Blümlein glitzern, dann wird es dir wieder schön hell?"
+</p>
+
+<p>
+"Ach, Kind, ich kann sie nie mehr sehen, die feurigen Berge und die
+goldenen Blümlein droben, es wird mir nie mehr hell auf Erden, nie
+mehr."
+</p>
+
+<p>
+Jetzt brach Heidi in lautes Weinen aus. Voller Jammer schluchzte
+es fortwährend: "Wer kann dir denn wieder hell machen? Kann es
+niemand? Kann es gar niemand?"
+</p>
+
+<p>
+Die Großmutter suchte nun das Kind zu trösten, aber es gelang ihr
+nicht so bald. Heidi weinte fast nie; wenn es aber einmal anfing,
+dann konnte es auch fast nicht mehr aus der Betrübnis herauskommen.
+Die Großmutter hatte schon allerhand probiert, um das Kind zu
+beschwichtigen, denn es ging ihr zu Herzen, dass es so jämmerlich
+schluchzen musste. Jetzt sagte sie: "Komm, du gutes Heidi, komm
+hier heran, ich will dir etwas sagen. Siehst du, wenn man nichts
+sehen kann, dann hört man so gern ein freundliches Wort, und ich
+höre es gern, wenn du redest; komm, setz dich da nahe zu mir und
+erzähl mir etwas, was du machst da droben und was der Großvater
+macht, ich habe ihn früher gut gekannt; aber jetzt hab ich seit
+manchem Jahr nichts mehr gehört von ihm als durch den Peter, aber
+der sagt nicht viel."
+</p>
+
+<p>
+Jetzt kam dem Heidi ein neuer Gedanke; es wischte rasch seine
+Tränen weg und sagte tröstlich: "Wart nur, Großmutter, ich will
+alles dem Großvater sagen, er macht dir schon wieder hell und macht,
+dass die Hütte nicht zusammenfällt, er kann alles wieder in
+Ordnung machen."
+</p>
+
+<p>
+Die Großmutter schwieg stille, und nun fing Heidi an, ihr mit
+großer Lebendigkeit zu erzählen von seinem Leben mit dem Großvater
+und von den Tagen auf der Weide und von dem jetzigen Winterleben
+mit dem Großvater, was er alles aus Holz machen könne, Bänke und
+Stühle und schöne Krippen, wo man für das Schwänli und Bärli das
+Heu hineinlegen könnte, und einen neuen großen Wassertrog zum Baden
+im Sommer, und ein neues Milchschüsselchen und Löffel, und Heidi
+wurde immer eifriger im Beschreiben all der schönen Sachen, die so
+auf einmal aus einem Stück Holz herauskommen, und wie es dann neben
+dem Großvater stehe und ihm zuschaue und wie es das alles auch
+einmal machen wolle. Die Großmutter hörte mit großer
+Aufmerksamkeit zu, und von Zeit zu Zeit sagte sie dazwischen:
+"Hörst du's auch, Brigitte? Hörst du, was es vom Öhi sagt?"
+</p>
+
+<p>
+Mit einem Mal wurde die Erzählung unterbrochen durch ein großes
+Gepolter an der Tür, und herein stampfte der Peter, blieb aber
+sogleich stille stehen und sperrte seine runden Augen ganz
+erstaunlich weit auf, als er das Heidi erblickte, und schnitt die
+allerfreundlichste Grimasse, als es ihm sogleich zurief: "Guten
+Abend, Peter!"
+</p>
+
+<p>
+"Ist denn das möglich, dass der schon aus der Schule kommt", rief
+die Großmutter ganz verwundert aus. "So geschwind ist mir seit
+manchem Jahr kein Nachmittag vergangen! Guten Abend, Peterli, wie
+geht es mit dem Lesen?"
+</p>
+
+<p>
+"Gleich", gab der Peter zur Antwort.
+</p>
+
+<p>
+"So, so", sagte die Großmutter ein wenig seufzend, "ich habe
+gedacht, es gäbe vielleicht eine Änderung auf die Zeit, wenn du
+dann zwölf Jahre alt wirst gegen den Hornung hin."
+</p>
+
+<p>
+"Warum muss es eine Änderung geben, Großmutter?", fragte Heidi
+gleich mit Interesse.
+</p>
+
+<p>
+"Ich meine nur, dass er es etwa noch hätte lernen können", sagte
+die Großmutter, "das Lesen mein ich. Ich habe dort oben auf dem
+Gestell ein altes Gebetbuch, da sind schöne Lieder drin, die habe
+ich so lange nicht mehr gehört, und im Gedächtnis habe ich sie auch
+nicht mehr; da habe ich gehofft, wenn der Peterli nun lesen lerne,
+so könne er mir etwa ein gutes Lied lesen; aber er kann es nicht
+lernen, es ist ihm zu schwer."
+</p>
+
+<p>
+"Ich denke, ich muss Licht machen, es wird ja schon ganz dunkel",
+sagte jetzt Peters Mutter, die immer emsig am Wams fortgeflickt
+hatte; "der Nachmittag ist mir auch vergangen, ohne dass ich's
+merkte."
+</p>
+
+<p>
+Nun sprang Heidi von seinem Stühlchen auf, streckte eilig seine
+Hand aus und sagte: "Gut Nacht, Großmutter, ich muss auf der Stelle
+heim, wenn es dunkel wird", und hintereinander bot es dem Peter und
+seiner Mutter die Hand und ging der Tür zu. Aber die Großmutter
+rief besorgt: "Wart, wart, Heidi; so allein musst du nicht fort,
+der Peter muss mit dir, hörst du? Und gib Acht auf das Kind,
+Peterli, dass es nicht umfällt, und steh nicht still mit ihm, dass
+es nicht friert, hörst du? Hat es auch ein dickes Halstuch an?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich habe gar kein Halstuch an", rief Heidi zurück, "aber ich will
+schon nicht frieren"; damit war es zur Tür hinaus und huschte so
+behend weiter, dass der Peter kaum nachkam. Aber die Großmutter
+rief jammernd: "Lauf ihm nach, Brigitte, lauf, das Kind muss ja
+erfrieren, so bei der Nacht, nimm mein Halstuch mit, lauf schnell!"
+Die Brigitte gehorchte. Die Kinder hatten aber kaum ein paar
+Schritte den Berg hinan getan, so sahen sie von oben herunter den
+Großvater kommen, und mit wenigen rüstigen Schritten stand er vor
+ihnen.
+</p>
+
+<p>
+"Recht so, Heidi, Wort gehalten!", sagte er, packte das Kind wieder
+fest in seine Decke ein, nahm es auf seinen Arm und stieg den Berg
+hinauf. Eben hatte die Brigitte noch gesehen, wie der Alte das
+Kind wohl verpackt auf seinen Arm genommen und den Rückweg
+angetreten hatte. Sie trat mit dem Peter wieder in die Hütte ein
+und erzählte der Großmutter mit Verwunderung, was sie gesehen hatte.
+Auch diese musste sich sehr verwundern und ein Mal über das
+andere sagen: "Gott Lob und Dank, dass er so ist mit dem Kind, Gott
+Lob und Dank! Wenn er es nur auch wieder zu mir lässt, das Kind
+hat mir so wohl gemacht! Was hat es für ein gutes Herz und wie
+kann es so kurzweilig erzählen!" Und immer wieder freute sich die
+Großmutter, und bis sie ins Bett ging, sagte sie immer wieder:
+"Wenn es nur auch wiederkommt! Jetzt habe ich doch noch etwas auf
+der Welt, auf das ich mich freuen kann!" Und die Brigitte stimmte
+jedes Mal ein, wenn die Großmutter wieder dasselbe sagte, und auch
+der Peter nickte jedes Mal zustimmend mit dem Kopf und zog seinen
+Mund weit auseinander vor Vergnüglichkeit und sagte: "Hab's schon
+gewusst."
+</p>
+
+<p>
+Unterdessen redete das Heidi in seinem Sack drinnen immerzu an den
+Großvater heran; da die Stimme aber nicht durch den achtfachen
+Umschlag dringen konnte und er daher kein Wort verstand, sagte er:
+"Wart ein wenig, bis wir daheim sind, dann sag's."
+</p>
+
+<p>
+Sobald er nun, oben angekommen, in seine Hütte eingetreten war und
+Heidi aus seiner Hülle herausgeschält hatte, sagte es: "Großvater,
+morgen müssen wir den Hammer und die großen Nägel mitnehmen und den
+Laden festschlagen bei der Großmutter und sonst noch viele Nägel
+einschlagen, denn es kracht und klappert alles bei ihr."
+</p>
+
+<p>
+"Müssen wir? So, das müssen wir? Wer hat dir das gesagt?", fragte
+der Großvater.
+</p>
+
+<p>
+"Das hat mir kein Mensch gesagt, ich weiß es sonst", entgegnete
+Heidi, "denn es hält alles nicht mehr fest und es ist der
+Großmutter angst und bang, wenn sie nicht schlafen kann und es so
+tut, und sie denkt: 'Jetzt fällt alles ein und gerade auf
+unsere Köpfe'; und der Großmutter kann man gar nicht mehr
+hell machen, sie weiß gar nicht, wie man es könnte, aber du kannst
+es schon, Großvater; denk nur, wie traurig es ist, wenn sie immer
+im Dunkeln ist und es ihr dann noch angst und bang ist und es kann
+ihr kein Mensch helfen als du! Morgen wollen wir gehen und ihr
+helfen; gelt, Großvater, wir wollen?"
+</p>
+
+<p>
+Heidi hatte sich an den Großvater angeklammert und schaute mit
+zweifellosem Vertrauen zu ihm auf. Der Alte schaute eine kleine
+Welle auf das Kind nieder, dann sagte er: "Ja, Heidi, wir wollen
+machen, dass es nicht mehr so klappert bei der Großmutter, das
+können wir; morgen tun wir's."
+</p>
+
+<p>
+Nun hüpfte das Kind vor Freude im ganzen Hüttenraum herum und rief
+ein Mal ums andere: "Morgen tun wir's! Morgen tun wir's!"
+</p>
+
+<p>
+Der Großvater hielt Wort. Am folgenden Nachmittag wurde dieselbe
+Schlittenfahrt ausgeführt. Wie am vorhergehenden Tag stellte der
+Alte das Kind vor der Tür der Geißenpeter-Hütte nieder und sagte:
+"Nun geh hinein, und wenn's Nacht wird, komm wieder." Dann legte er
+den Sack auf den Schlitten und ging um das Häuschen herum.
+</p>
+
+<p>
+Kaum hatte Heidi die Tür aufgemacht und war in die Stube
+hineingesprungen, so rief schon die Großmutter aus der Ecke: "Da
+kommt das Kind! Das ist das Kind!", und ließ vor Freude den Faden
+los und das Rädchen stehen und streckte beide Hände nach dem Kinde
+aus. Heidi lief zu ihr, rückte gleich das niedere Stühlchen ganz
+nahe an sie heran, setzte sich darauf und hatte der Großmutter
+schon wieder eine große Menge von Dingen zu erzählen und von ihr zu
+erfragen. Aber auf einmal ertönten so gewaltige Schläge an das
+Haus, dass die Großmutter vor Schrecken so zusammenfuhr, dass sie
+fast das Spinnrad umwarf, und zitternd ausrief: "Ach du mein Gott,
+jetzt kommt's, es fällt alles zusammen!" Aber Heidi hielt sie fest
+um den Arm und sagte tröstend: "Nein, nein, Großmutter, erschrick
+du nur nicht, das ist der Großvater mit dem Hammer, jetzt macht er
+alles fest, dass es dir nicht mehr angst und bang wird."
+</p>
+
+<p>
+"Ach, ist auch das möglich! Ist auch so etwas möglich! So hat uns
+doch der liebe Gott nicht ganz vergessen!", rief die Großmutter aus.
+"Hast du's gehört, Brigitte, was es ist, hörst du's? Wahrhaftig,
+es ist ein Hammer! Geh hinaus, Brigitte, und wenn es der Alm-Öhi
+ist, so sag ihm, er soll doch dann auch einen Augenblick
+hereinkommen, dass ich ihm auch danken kann."
+</p>
+
+<p>
+Die Brigitte ging hinaus. Eben schlug der Alm-Öhi mit großer
+Gewalt neue Kloben in die Mauer; Brigitte trat an ihn heran und
+sagte: "Ich wünsche Euch guten Abend, Öhi, und die Mutter auch, und
+wir haben Euch zu danken, dass Ihr uns einen solchen Dienst tut,
+und die Mutter möchte Euch noch gern eigens danken drinnen; sicher,
+es hätte uns das nicht gerad einer getan, wir wollen Euch auch dran
+denken, denn sicher--"
+</p>
+
+<p>
+"Macht's kurz", unterbrach sie der Alte hier; "was Ihr vom Alm-Öhi
+haltet, weiß ich schon. Geht nur wieder hinein; wo's fehlt, find
+ich selber."
+</p>
+
+<p>
+Brigitte gehorchte sogleich, denn der Öhi hatte eine Art, der man
+sich nicht leicht widersetzte. Er klopfte und hämmerte um das
+ganze Häuschen herum, stieg dann das schmale Treppchen hinauf bis
+unter das Dach, hämmerte weiter und weiter, bis er auch den letzten
+Nagel eingeschlagen, den er mitgebracht hatte. Unterdessen war
+auch schon die Dunkelheit hereingebrochen, und kaum war er
+heruntergestiegen und hatte seinen Schlitten hinter dem Geißenstall
+hervorgezogen, als auch schon Heidi aus der Tür trat und vom
+Großvater wie gestern verpackt auf den Arm genommen und der
+Schlitten nachgezogen wurde, denn allein da drauf sitzend, wäre die
+ganze Umhüllung vom Heidi abgefallen, und es wäre fast oder ganz
+erfroren. Das wusste der Großvater wohl und hielt das Kind ganz
+warm in seinem Arm.
+</p>
+
+<p>
+So ging der Winter dahin. In das freudlose Leben der blinden
+Großmutter war nach langen Jahren eine Freude gefallen und ihre
+Tage waren nicht mehr lang und dunkel, einer wie der andere, denn
+nun hatte sie immer etwas in Aussicht, nach dem sie verlangen
+konnte. Vom frühen Morgen an lauschte sie auch schon auf den
+trippelnden Schritt, und ging dann die Tür auf und das Kind kam
+wirklich dahergesprungen, dann rief sie jedes Mal in lauter Freude:
+"Gottlob! Da kommt's wieder!" Und Heidi setzte sich zu ihr und
+plauderte und erzählte so lustig von allem, was es wusste, dass es
+der Großmutter ganz wohl machte und ihr die Stunden dahingingen,
+sie merkte es nicht, und kein einziges Mal fragte sie mehr so wie
+früher: "Brigitte, ist der Tag noch nicht um?", sondern jedes Mal,
+wenn Heidi die Tür hinter sich schloss, sagte sie: "Wie war doch
+der Nachmittag so kurz; ist es nicht wahr, Brigitte?" Und diese
+sagte: "Doch sicher, es ist mir, wir haben erst die Teller vom
+Essen weggestellt." Und die Großmutter sagte wieder: "Wenn mir nur
+der Herrgott das Kind erhält und dem Alm-Öhi den guten Willen!
+Sieht es auch gesund aus, Brigitte?" Und jedes Mal erwiderte diese:
+"Es sieht aus wie ein Erdbeerapfel."
+</p>
+
+<p>
+Heidi hatte auch eine große Anhänglichkeit an die alte Großmutter,
+und wenn es ihm wieder in den Sinn kam, dass ihr gar niemand, auch
+der Großvater nicht mehr hell machen konnte, überkam es immer
+wieder eine große Betrübnis; aber die Großmutter sagte ihm immer
+wieder, dass sie am wenigsten davon leide, wenn es bei ihr sei, und
+Heidi kam auch an jedem schönen Wintertag heruntergefahren auf
+seinem Schlitten. Der Großvater hatte, ohne weitere Worte, so
+fortgefahren, hatte jedes Mal den Hammer und allerlei andere Sachen
+mit aufgeladen und manchen Nachmittag durch an dem Geißenpeter-Häuschen
+herumgeklopft. Das hatte aber auch seine gute Wirkung; es
+krachte und klapperte nicht mehr die ganzen Nächte durch, und die
+Großmutter sagte, so habe sie manchen Winter lang nicht mehr
+schlafen können, das wolle sie auch dem Öhi nie vergessen.
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap05"></a>
+Es kommt ein Besuch und dann noch einer,<br/>
+der mehr Folgen hat
+</h3>
+
+<p>
+Schnell war der Winter und noch schneller der fröhliche Sommer
+darauf vergangen, und ein neuer Winter neigte sich schon wieder dem
+Ende zu. Heidi war glücklich und froh wie die Vöglein des Himmels
+und freute sich jeden Tag mehr auf die herannahenden Frühlingstage,
+da der warme Föhn durch die Tannen brausen und den Schnee wegfegen
+würde und dann die helle Sonne die blauen und gelben Blümlein
+hervorlocken und die Tage der Weide kommen würden, die für Heidi
+das Schönste mit sich brachten, was es auf Erden geben konnte.
+Heidi stand nun in seinem achten Jahre; es hatte vom Großvater
+allerlei Kunstgriffe erlernt: Mit den Geißen wusste es so gut
+umzugehen als nur einer, und Schwänli und Bärli liefen ihm nach wie
+treue Hündlein und meckerten gleich laut vor Freude, wenn sie nur
+seine Stimme hörten. In diesem Winter hatte Peter schon zweimal
+vom Schullehrer im Dörfli den Bericht gebracht, der Alm-Öhi solle
+das Kind, das bei ihm sei, nun in die Schule schicken, es habe
+schon mehr als das Alter und hätte schon im letzten Winter kommen
+sollen. Der Öhi hatte beide Male dem Schullehrer sagen lassen,
+wenn er etwas mit ihm wolle, so sei er daheim, das Kind schicke er
+nicht in die Schule. Diesen Bericht hatte der Peter richtig
+überbracht.
+</p>
+
+<p>
+Als die Märzsonne den Schnee an den Abhängen geschmolzen hatte und
+überall die weißen Schneeglöckchen hervorguckten im Tal und auf der
+Alm die Tannen ihre Schneelast abgeschüttelt hatten und die Äste
+wieder lustig wehten, da rannte Heidi vor Wonne immer hin und her
+von der Haustür zum Geißenstall und von da unter die Tannen und
+dann wieder hinein zum Großvater, um ihm zu berichten, wie viel
+größer das Stück grüner Boden unter den Bäumen wieder geworden sei,
+und gleich nachher kam es wieder nachzusehen, denn es konnte nicht
+erwarten, dass alles wieder grün wurde und der ganze schöne Sommer
+mit Grün und Blumen wieder auf die Alm gezogen kam.
+</p>
+
+<p>
+Als Heidi so am sonnigen Märzmorgen hin und her rannte und jetzt
+wohl zum zehnten Mal über die Türschwelle sprang, wäre es vor
+Schrecken fast rückwärts wieder hineingefallen, denn auf einmal
+stand es vor einem schwarzen alten Herrn, der es ganz ernsthaft
+anblickte. Als er aber seinen Schrecken sah, sagte er freundlich:
+"Du musst nicht erschrecken vor mir, die Kinder sind mir lieb. Gib
+mir die Hand! Du wirst das Heidi sein; wo ist der Großvater?"
+</p>
+
+<p>
+"Er sitzt am Tisch und schnitzt runde Löffel von Holz", erklärte
+Heidi und machte nun die Tür wieder auf.
+</p>
+
+<p>
+Es war der alte Herr Pfarrer aus dem Dörfli, der den Öhi vor Jahren
+gut gekannt hatte, als er noch unten wohnte und sein Nachbar war.
+Er trat in die Hütte ein, ging auf den Alten zu, der sich über sein
+Schnitzwerk hinbeugte, und sagte: "Guten Morgen, Nachbar."
+</p>
+
+<p>
+Verwundert schaute dieser in die Höhe, stand dann auf und
+entgegnete: "Guten Morgen dem Herrn Pfarrer." Dann stellte er
+seinen Stuhl vor den Herrn hin und fuhr fort: "Wenn der Herr
+Pfarrer einen Holzsitz nicht scheut, hier ist einer."
+</p>
+
+<p>
+Der Herr Pfarrer setzte sich. "Ich habe Euch lange nicht gesehen,
+Nachbar", sagte er dann.
+</p>
+
+<p>
+"Ich den Herrn Pfarrer auch nicht", war die Antwort.
+</p>
+
+<p>
+"Ich komme heut, um etwas mit Euch zu besprechen", fing der Herr
+Pfarrer wieder an; "ich denke, Ihr könnt schon wissen, was meine
+Angelegenheit ist, worüber ich mich mit Euch verständigen und hören
+will, was Ihr im Sinne habt."
+</p>
+
+<p>
+Der Herr Pfarrer schwieg und schaute auf Heidi, das an der Tür
+stand und die neue Erscheinung aufmerksam betrachtete.
+</p>
+
+<p>
+"Heidi, geh zu den Geißen", sagte der Großvater. "Kannst ein wenig
+Salz mitnehmen und bei ihnen bleiben, bis ich auch komme."
+</p>
+
+<p>
+Heidi verschwand sofort.
+</p>
+
+<p>
+"Das Kind hätte schon vor dem Jahr und noch sicherer diesen Winter
+die Schule besuchen sollen", sagte nun der Herr Pfarrer; "der
+Lehrer hat Euch mahnen lassen, Ihr habt keine Antwort darauf
+gegeben; was habt Ihr mit dem Kind im Sinn, Nachbar?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich habe im Sinn, es nicht in die Schule zu schicken", war die
+Antwort.
+</p>
+
+<p>
+Verwundert schaute der Herr Pfarrer auf den Alten, der mit
+gekreuzten Armen auf seiner Bank saß und gar nicht nachgiebig
+aussah.
+</p>
+
+<p>
+"Was wollt Ihr aus dem Kinde machen?", fragte jetzt der Herr
+Pfarrer.
+</p>
+
+<p>
+"Nichts, es wächst und gedeiht mit den Geißen und den Vögeln; bei
+denen ist es ihm wohl und es lernt nichts Böses von ihnen."
+</p>
+
+<p>
+"Aber das Kind ist keine Geiß und kein Vogel, es ist ein
+Menschenkind. Wenn es nichts Böses lernt von diesen seinen
+Kameraden, so lernt es auch sonst nichts von ihnen; es soll aber
+etwas lernen, und die Zeit dazu ist da. Ich bin gekommen, es Euch
+zeitig zu sagen, Nachbar, damit Ihr Euch besinnen und einrichten
+könnt den Sommer durch. Dies war der letzte Winter, den das Kind
+so ohne allen Unterricht zugebracht hat; nächsten Winter kommt es
+zur Schule, und zwar jeden Tag."
+</p>
+
+<p>
+"Ich tu's nicht, Herr Pfarrer", sagte der Alte unentwegt.
+</p>
+
+<p>
+"Meint Ihr denn wirklich, es gebe kein Mittel, Euch zur Vernunft zu
+bringen, wenn Ihr so eigensinnig bei Eurem unvernünftigen Tun
+beharren wollt?", sagte der Herr Pfarrer jetzt ein wenig eifrig.
+"Ihr seid weit in der Welt herumgekommen und habt viel gesehen und
+vieles lernen können, ich hätte Euch mehr Einsicht zugetraut,
+Nachbar."
+</p>
+
+<p>
+"So", sagte jetzt der Alte und seine Stimme verriet, dass es auch
+in seinem Innern nicht mehr so ganz ruhig war; "und meint denn der
+Herr Pfarrer, ich werde wirklich im nächsten Winter am eisigen
+Morgen durch Sturm und Schnee ein zartgliedriges Kind den Berg
+hinunterschicken, zwei Stunden weit, und zur Nacht wieder
+heraufkommen lassen, wenn's manchmal tobt und tut, dass unsereiner
+fast in Wind und Schnee ersticken müsste, und dann ein Kind wie
+dieses? Und vielleicht kann sich der Herr Pfarrer auch noch der
+Mutter erinnern, der Adelheid; sie war mondsüchtig und hatte
+Zufälle, soll das Kind auch so etwas holen mit der Anstrengung? Es
+soll mir einer kommen und mich zwingen wollen! Ich gehe vor alle
+Gerichte mit ihm, und dann wollen wir sehen, wer mich zwingt!"
+</p>
+
+<p>
+"Ihr habt ganz Recht, Nachbar", sagte der Herr Pfarrer mit
+Freundlichkeit; "es wäre nicht möglich, das Kind von hier aus zur
+Schule zu schicken. Aber ich kann sehen, das Kind ist Euch lieb;
+tut um seinetwillen etwas, das Ihr schon lange hättet tun sollen,
+kommt wieder ins Dörfli herunter und lebt wieder mit den Menschen.
+Was ist das für ein Leben hier oben, allein und verbittert gegen
+Gott und Menschen! Wenn Euch einmal etwas zustoßen würde hier oben,
+wer würde Euch beistehen? Ich kann auch gar nicht begreifen, dass
+Ihr den Winter durch nicht halb erfriert in Eurer Hütte, und wie
+das zarte Kind es nur aushalten kann!"
+</p>
+
+<p>
+"Das Kind hat junges Blut und eine gute Decke, das möchte ich dem
+Herrn Pfarrer sagen, und dann noch eins: Ich weiß, wo es Holz gibt,
+und auch, wann die gute Zeit ist, es zu holen; der Herr Pfarrer
+darf in meinen Schopf hineingehen, es ist etwas drin, in meiner
+Hütte geht das Feuer nie aus den Winter durch. Was der Herr
+Pfarrer mit dem Herunterkommen meint, ist nicht für mich; die
+Menschen da unten verachten mich und ich sie auch, wir bleiben
+voneinander, so ist's beiden wohl."
+</p>
+
+<p>
+"Nein, nein, es ist Euch nicht wohl; ich weiß, was Euch fehlt",
+sagte der Herr Pfarrer mit herzlichem Ton. "Mit der Verachtung der
+Menschen dort unten ist es so schlimm nicht. Glaubt mir, Nachbar:
+Sucht Frieden mit Eurem Gott zu machen, bittet um seine Verzeihung,
+wo Ihr sie nötig habt, und dann kommt und seht, wie anders Euch die
+Menschen ansehen und wie wohl es Euch noch werden kann."
+</p>
+
+<p>
+Der Herr Pfarrer war aufgestanden, er hielt dem Alten die Hand hin
+und sagte nochmals mit Herzlichkeit: "Ich zähle darauf, Nachbar, im
+nächsten Winter seid Ihr wieder unten bei uns und wir sind die
+alten, guten Nachbarn. Es würde mir großen Kummer machen, wenn ein
+Zwang gegen Euch müsste angewandt werden; gebt mir jetzt die Hand
+darauf, dass ihr herunterkommt und wieder unter uns leben wollt,
+ausgesöhnt mit Gott und den Menschen."
+</p>
+
+<p>
+Der Alm-Öhi gab dem Herrn Pfarrer die Hand und sagte fest und
+bestimmt: "Der Herr Pfarrer meint es recht mit mir; aber was er
+erwartet, das tu ich nicht, ich sag es sicher und ohne Wandel: Das
+Kind schick ich nicht, und herunter komm ich nicht."
+</p>
+
+<p>
+"So helf Euch Gott!", sagte der Herr Pfarrer und ging traurig zur
+Tür hinaus und den Berg hinunter.
+</p>
+
+<p>
+Der Alm-Öhi war verstimmt. Als Heidi am Nachmittag sagte: "Jetzt
+wollen wir zur Großmutter", erwiderte er kurz: "Heut nicht." Den
+ganzen Tag sprach er nicht mehr, und am folgenden Morgen, als Heidi
+fragte: "Gehen wir heut zur Großmutter?", war er noch gleich kurz
+von Worten wie im Ton und sagte nur: "Wollen sehen." Aber noch
+bevor die Schüsselchen vom Mittagessen weggestellt waren, trat
+schon wieder ein Besuch zur Tür herein, es war die Base Dete. Sie
+hatte einen schönen Hut auf dem Kopf mit einer Feder darauf und ein
+Kleid, das alles mitfegte, was am Boden lag, und in der Sennhütte
+lag da allerlei, das nicht an ein Kleid gehörte. Der Öhi schaute
+sie an von oben bis unten und sagte kein Wort. Aber die Base Dete
+hatte im Sinn, ein sehr freundliches Gespräch zu führen, denn sie
+fing an zu rühmen und sagte, das Heidi sehe so gut aus, sie habe es
+fast nicht mehr gekannt und man könne schon sehen, dass es ihm
+nicht schlecht gegangen sei beim Großvater. Sie habe aber gewiss
+auch immer darauf gedacht, es ihm wieder abzunehmen, denn sie habe
+ja schon begreifen können, dass ihm das Kleine im Weg sein müsse,
+aber in jenem Augenblick habe sie es ja nirgends sonst hintun
+können; seitdem aber habe sie Tag und Nacht nachgesonnen, wo sie
+das Kind etwa unterbringen könnte, und deswegen komme sie auch
+heute, denn auf einmal habe sie etwas vernommen, da könne das Heidi
+zu einem solchen Glück kommen, dass sie es gar nicht habe glauben
+wollen. Dann sei sie aber auf der Stelle der Sache nachgegangen,
+und nun könne sie sagen, es sei alles so gut wie in Richtigkeit,
+das Heidi komme zu einem Glück wie unter Hunderttausenden nicht
+eines. Furchtbar reiche Verwandte von ihrer Herrschaft, die fast
+im schönsten Haus in ganz Frankfurt wohnen, die haben ein einziges
+Töchterlein, das müsse immer im Rollstuhl sitzen, denn es sei auf
+einer Seite lahm und sonst nicht gesund, und so sei es fast immer
+allein und müsse auch allen Unterricht allein nehmen bei einem
+Lehrer, und das sei ihm so langweilig, und auch sonst hätte es gern
+eine Gespielin im Haus, und da haben sie so davon geredet bei ihrer
+Herrschaft, und wenn man nur so ein Kind finden könnte, wie die
+Dame beschrieb, die in dem Haus die Wirtschaft führte, denn ihre
+Herrschaft habe viel Mitgefühl und möchte dem kranken Töchterlein
+eine gute Gespielin gönnen. Die Wirtschaftsdame hatte nun gesagt,
+sie wolle so ein recht unverdorbenes, so ein eigenartiges, das
+nicht sei wie alle, die man so alle Tage sehe. Da habe sie selbst
+denn auf der Stelle an das Heidi gedacht und sei gleich hingelaufen
+und habe der Dame alles so beschrieben vom Heidi und so von seinem
+Charakter, und die Dame habe sogleich zugesagt. Nun könne gar kein
+Mensch wissen, was dem Heidi alles an Glück und Wohlfahrt
+bevorstehe, denn wenn es dann einmal dort sei und die Leute es gern
+mögen und es etwa mit dem eigenen Töchterchen etwas geben sollte--
+man könne ja nie wissen, es sei doch so schwächlich--, und wenn
+eben die Leute doch nicht ohne ein Kind bleiben wollten, so könnte
+ja das unerhörteste Glück--
+</p>
+
+<p>
+"Bist du bald fertig?", unterbrach hier der Öhi, der bis dahin kein
+Wort dazwischengeredet hatte.
+</p>
+
+<p>
+"Pah", gab die Dete zurück und warf den Kopf auf, "Ihr tut gerade,
+wie wenn ich Euch das ordinärste Zeug gesagt hätte, und ist doch
+durchs ganze Prättigau auf und ab nicht einer, der nicht Gott im
+Himmel dankte, wenn ich ihm die Nachricht brächte, die ich Euch
+gebracht habe."
+</p>
+
+<p>
+"Bring sie, wem du willst, ich will nichts davon", sagte der Öhi
+trocken.
+</p>
+
+<p>
+Aber jetzt fuhr die Dete auf wie eine Rakete und rief: "Ja, wenn
+Ihr es so meint, dann will ich Euch denn schon auch sagen, wie ich
+es meine: Das Kind ist jetzt acht Jahre alt und kann nichts und
+weiß nichts, und Ihr wollt es nichts lernen lassen; Ihr wollt es in
+keine Schule und in keine Kirche schicken, das haben sie mir gesagt
+unten im Dörfli, und es ist meiner einzigen Schwester Kind; ich hab
+es zu verantworten, wie's mit ihm geht, und wenn ein Kind ein Glück
+erlangen kann wie jetzt das Heidi, so kann ihm nur einer davor sein,
+dem es um alle Leute gleich ist und der keinem etwas Gutes wünscht.
+Aber ich gebe nicht nach, das sag ich Euch, und die Leute habe
+ich alle für mich, es ist kein Einziger unten im Dörfli, der nicht
+mir hilft und gegen Euch ist, und wenn Ihr's etwa wollt vor Gericht
+kommen lassen, so besinnt Euch wohl, Öhi; es gibt noch Sachen, die
+Euch dann könnten aufgewärmt werden, die Ihr nicht gern hörtet,
+denn wenn man's einmal mit dem Gericht zu tun hat, so wird noch
+manches aufgespürt, an das keiner mehr denkt."
+</p>
+
+<p>
+"Schweig!", donnerte der Öhi heraus, und seine Augen flammten wie
+Feuer. "Nimm's und verdirb's! Komm mir nie mehr vor Augen mit ihm,
+ich will's nie sehen mit dem Federhut auf dem Kopf und Worten im
+Mund wie dich heut!"
+</p>
+
+<p>
+Der Öhi ging mit großen Schritten zur Tür hinaus.
+</p>
+
+<p>
+"Du hast den Großvater bös gemacht", sagte Heidi und blitzte mit
+seinen schwarzen Augen die Base wenig freundlich an.
+</p>
+
+<p>
+"Er wird schon wieder gut, komm jetzt", drängte die Base; "wo sind
+deine Kleider?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich komme nicht", sagte Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"Was sagst du?", fuhr die Base auf; dann änderte sie den Ton ein
+wenig und fuhr halb freundlich, halb ärgerlich weiter: "Komm, komm,
+du verstehst's nicht besser, du wirst es so gut haben, wie du gar
+nicht weißt." Dann ging sie an den Schrank, nahm Heidis Sachen
+hervor und packte sie zusammen: "So, komm jetzt, nimm dort dein
+Hütchen, es sieht nicht schön aus, aber es ist gleich für einmal,
+setz es auf und mach, dass wir fortkommen."
+</p>
+
+<p>
+"Ich komme nicht", wiederholte Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"Sei doch nicht so dumm und störrig wie eine Geiß; denen hast du's
+abgesehen. Begreif doch nur, jetzt ist der Großvater bös, du
+hast's ja gehört, dass er gesagt hat, wir sollen ihm nicht mehr vor
+Augen kommen, er will es nun haben, dass du mit mir gehst, und
+jetzt musst du ihn nicht noch böser machen. Du weißt gar nicht,
+wie schön es ist in Frankfurt und was du alles sehen wirst, und
+gefällt es dir dann nicht, so kannst du wieder heimgehen; bis dahin
+ist der Großvater dann wieder gut."
+</p>
+
+<p>
+"Kann ich gerad wieder umkehren und heimkommen heut Abend?", fragte
+Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"Ach was, komm jetzt! Ich sag dir's ja, du kannst wieder heim,
+wann du willst. Heut gehen wir bis nach Maienfeld hinunter und
+morgen früh sitzen wir in der Eisenbahn, mit der bist du nachher im
+Augenblick wieder daheim, das geht wie geflogen."
+</p>
+
+<p>
+Die Base Dete hatte das Bündelchen Kleider auf den Arm und Heidi an
+die Hand genommen; so gingen sie den Berg hinunter.
+</p>
+
+<p>
+Da es noch nicht Weidezeit war, ging der Peter noch zur Schule ins
+Dörfli hinunter, oder sollte doch dahin gehen; aber er machte hier
+und da einen Tag Ferien, denn er dachte, es nütze nichts, dahin zu
+gehen, das Lesen brauche man auch nicht, und ein wenig herumfahren
+und große Ruten suchen nütze etwas, denn diese könne man brauchen.
+So kam er eben in der Nähe seiner Hütte von der Seite her mit
+sichtlichem Erfolg seiner heutigen Bestrebungen, denn er trug ein
+ungeheures Bündel langer, dicker Haselruten auf der Achsel. Er
+stand still und starrte die zwei Entgegenkommenden an, bis sie bei
+ihm ankamen; dann sagte er: "Wo willst du hin?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich muss nur geschwind nach Frankfurt mit der Base", antwortete
+Heidi, "aber ich will zuerst noch zur Großmutter hinein, sie wartet
+auf mich."
+</p>
+
+<p>
+"Nein, nein, keine Rede, es ist schon viel zu spät", sagte die Base
+eilig und hielt das fortstrebende Heidi fest bei der Hand; "du
+kannst dann gehen, wenn du wieder heimkommst, komm jetzt!" Damit
+zog die Base das Heidi fest weiter und ließ es nicht mehr los, denn
+sie fürchtete, es könne drinnen dem Kinde wieder in den Sinn kommen,
+es wolle nicht fort, und die Großmutter könne ihm helfen wollen.
+Der Peter sprang in die Hütte hinein und schlug mit seinem ganzen
+Bündel Ruten so furchtbar auf den Tisch los, dass alles erzitterte
+und die Großmutter vor Schrecken vom Spinnrad aufsprang und laut
+aufjammerte. Der Peter hatte sich Luft machen müssen.
+</p>
+
+<p>
+"Was ist's denn? Was ist's denn?", rief angstvoll die Großmutter,
+und die Mutter, die am Tisch gesessen hatte und fast aufgeflogen
+war bei dem Knall, sagte in angeborener Langmut: "Was hast, Peterli;
+warum tust so wüst?"
+</p>
+
+<p>
+"Weil sie das Heidi mitgenommen hat", erklärte Peter.
+</p>
+
+<p>
+"Wer? Wer? Wohin, Peterli, wohin?", fragte die Großmutter jetzt
+mit neuer Angst; sie musste aber schnell erraten haben, was vorging,
+die Tochter hatte ihr ja vor kurzem berichtet, sie habe die Dete
+gesehen zum Alm-Öhi hinaufgehen. Ganz zitternd vor Eile machte die
+Großmutter das Fenster auf und rief flehentlich hinaus: "Dete, Dete,
+nimm uns das Kind nicht weg! Nimm uns das Heidi nicht!"
+</p>
+
+<p>
+Die beiden Laufenden hörten die Stimme, und die Dete mochte wohl
+ahnen, was sie rief, denn sie fasste das Kind noch fester und lief,
+was sie konnte. Heidi widerstrebte und sagte: "Die Großmutter hat
+gerufen, ich will zu ihr."
+</p>
+
+<p>
+Aber das wollte die Base gerade nicht und beschwichtigte das Kind,
+es solle nur schnell kommen jetzt, dass sie nicht noch zu spät
+kämen, sondern dass sie morgen weiterreisen könnten, es könnte ja
+dann sehen, wie es ihm gefallen werde in Frankfurt, dass es gar nie
+mehr fortwolle dort; und wenn es doch heim wolle, so könne es ja
+gleich gehen und dann erst noch der Großmutter etwas mit
+heimbringen, was sie freue. Das war eine Aussicht für Heidi, die
+ihm gefiel. Es fing an zu laufen ohne Widerstreben.
+</p>
+
+<p>
+"Was kann ich der Großmutter heimbringen?", fragte es nach einer
+Welle.
+</p>
+
+<p>
+"Etwas Gutes", sagte die Base, "so schöne, weiche Weißbrötchen, da
+wird sie Freud haben daran, sie kann ja doch das harte, schwarze
+Brot fast nicht mehr essen."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, sie gibt es immer wieder dem Peter und sagt: 'Es ist mir
+zu hart'; das habe ich selbst gesehen", bestätigte das Heidi.
+"So wollen wir geschwind gehen, Base Dete; dann kommen wir
+vielleicht heut noch nach Frankfurt, dass ich bald wieder da bin
+mit den Brötchen."
+</p>
+
+<p>
+Heidi fing nun so zu rennen an, dass die Base mit ihrem Bündel auf
+dem Arm fast nicht mehr nachkam. Aber sie war sehr froh, dass es
+so rasch ging, denn nun kamen sie gleich zu den ersten Häusern vom
+Dörfli, und da konnte es wieder allerhand Reden und Fragen geben,
+die das Heidi wieder auf andere Gedanken bringen konnten. So lief
+sie stracks durch, und das Kind zog dabei noch so stark an ihrer
+Hand, dass alle Leute es sehen konnten, wie sie um des Kindes
+willen so pressieren musste. So rief sie auf alle die Fragen und
+Anrufungen, die ihr aus allen Fenstern und Türen entgegentönten,
+nur immer zurück: "Ihr seht's ja, ich kann jetzt nicht still stehen,
+das Kind pressiert und wir haben noch weit."
+</p>
+
+<p>
+"Nimmst's mit?"--"Läuft's dem Alm-Öhi fort?"--"Es ist nur ein
+Wunder, dass es noch am Leben ist!"--"Und dazu noch so rotbackig!"
+So tönte es von allen Seiten, und die Dete war froh, dass sie ohne
+Verzug durchkam und keinen Bescheid geben musste und auch Heidi
+kein Wort sagte, sondern nur immer vorwärts strebte in großem Eifer.
+--
+</p>
+
+<p>
+Von dem Tage an machte der Alm-Öhi, wenn er herunterkam und durchs
+Dörfli ging, ein böseres Gesicht als je zuvor. Er grüßte keinen
+Menschen und sah mit seinem Käsereff auf dem Rücken, mit dem
+ungeheuren Stock in der Hand und den zusammengezogenen dicken
+Brauen so drohend aus, dass die Frauen zu den kleinen Kindern
+sagten: "Gib Acht! Geh dem Alm-Öhi aus dem Weg, er könnte dir noch
+etwas tun!"
+</p>
+
+<p>
+Der Alte verkehrte mit keinem Menschen im Dörfli, er ging nur durch
+und weit ins Tal hinab, wo er seinen Käse verhandelte und seine
+Vorräte an Brot und Fleisch einnahm. Wenn er so vorbeigegangen war
+im Dörfli, dann standen hinter ihm die Leute alle in Trüppchen
+zusammen, und jeder wusste etwas Besonderes, was er am Alm-Öhi
+gesehen hatte, wie er immer wilder aussehe und dass er jetzt keinem
+Menschen mehr auch nur einen Gruß abnehme, und alle kamen darin
+überein, dass es ein großes Glück sei, dass das Kind habe
+entweichen können, und man habe auch wohl gesehen, wie es
+fortgedrängt habe, so, als fürchte es, der Alte sei schon hinter
+ihm drein, um es zurückzuholen. Nur die blinde Großmutter hielt
+unverrückt zum Alm-Öhi, und wer zu ihr heraufkam, um bei ihr
+spinnen zu lassen oder das Gesponnene zu holen, dem erzählte sie es
+immer wieder, wie gut und sorgfältig der Alm-Öhi mit dem Kind
+gewesen sei und was er an ihr und der Tochter getan habe, wie
+manchen Nachmittag er an ihrem Häuschen herumgeflickt, das ohne
+seine Hilfe gewiss schon zusammengefallen wäre. So kamen denn auch
+diese Berichte ins Dörfli herunter; aber die meisten, die sie
+vernahmen, sagten dann, die Großmutter sei vielleicht zu alt zum
+Begreifen, sie werde es wohl nicht recht verstanden haben, sie
+werde wohl auch nicht mehr gut hören, weil sie nichts mehr sehe.
+</p>
+
+<p>
+Der Alm-Öhi zeigte sich jetzt nicht mehr bei den Geißenpeters; es
+war gut, dass er die Hütte so fest zusammengenagelt hatte, denn sie
+blieb für lange Zeit ganz unberührt. Jetzt begann die blinde
+Großmutter ihre Tage wieder mit Seufzen, und nicht einer verstrich,
+an dem sie nicht klagend sagte: "Ach, mit dem Kind ist alles Gute
+und alle Freude von uns genommen, und die Tage sind so leer! Wenn
+ich nur noch einmal das Heidi hören könnte, eh ich sterben muss!"
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap06"></a>
+Ein neues Kapitel und lauter neue Dinge
+</h3>
+
+<p>
+Im Hause des Herrn Sesemann in Frankfurt lag das kranke Töchterlein,
+Klara, in dem bequemen Rollstuhl, in welchem es den ganzen Tag
+sich aufhielt und von einem Zimmer ins andere gestoßen wurde.
+Jetzt saß es im so genannten Studierzimmer, das neben der großen
+Essstube lag und wo vielerlei Gerätschaften herumstanden und <span style="white-space: nowrap;">-lagen,</span>
+die das Zimmer wohnlich machten und zeigten, dass man hier
+gewöhnlich sich aufhielt. An dem großen, schönen Bücherschrank mit
+den Glastüren konnte man sehen, woher das Zimmer seinen Namen hatte
+und dass es wohl der Raum war, wo dem lahmen Töchterchen der
+tägliche Unterricht erteilt wurde.
+</p>
+
+<p>
+Klara hatte ein blasses, schmales Gesichtchen, aus dem zwei milde,
+blaue Augen herausschauten, die in diesem Augenblick auf die große
+Wanduhr gerichtet waren, die heute besonders langsam zu gehen
+schien, denn Klara, die sonst kaum ungeduldig wurde, sagte jetzt
+mit ziemlicher Ungeduld in der Stimme: "Ist es denn immer noch
+nicht Zeit, Fräulein Rottenmeier?"
+</p>
+
+<p>
+Die Letztere saß sehr aufrecht an einem kleinen Arbeitstisch und
+stickte. Sie hatte eine geheimnisvolle Hülle um sich, einen großen
+Kragen oder Halbmantel, welcher der Persönlichkeit einen
+feierlichen Anstrich verlieh, der noch erhöht wurde durch eine Art
+von hoch gebauter Kuppel, die sie auf dem Kopf trug. Fräulein
+Rottenmeier war schon seit mehreren Jahren, seitdem die Dame des
+Hauses gestorben war, im Hause Sesemann, führte die Wirtschaft und
+hatte die Oberaufsicht über das ganze Dienstpersonal.
+</p>
+
+<p>
+Herr Sesemann war meistens auf Reisen, überließ daher dem Fräulein
+Rottenmeier das ganze Haus, nur mit der Bedingung, dass sein
+Töchterlein in allem eine Stimme haben solle und nichts gegen
+dessen Wunsch geschehen dürfe.
+</p>
+
+<p>
+Während oben Klara zum zweiten Mal mit Zeichen der Ungeduld
+Fräulein Rottenmeier befragte, ob die Zeit noch nicht da sei, da
+die Erwarteten erscheinen konnten, stand unten vor der Haustür die
+Dete mit Heidi an der Hand und fragte den Kutscher Johann, der eben
+vom Wagen gestiegen war, ob sie wohl Fräulein Rottenmeier so spät
+noch stören dürfe.
+</p>
+
+<p>
+"Das ist nicht meine Sache", brummte der Kutscher; "klingeln Sie
+den Sebastian herunter, drinnen im Korridor."
+</p>
+
+<p>
+Dete tat, wie ihr geheißen war, und der Bediente des Hauses kam die
+Treppe herunter mit großen, runden Knöpfen auf seinem Aufwärterrock
+und fast ebenso großen runden Augen im Kopfe.
+</p>
+
+<p>
+"Ich wollte fragen, ob ich um diese Zeit Fräulein Rottenmeier noch
+stören dürfe", brachte die Dete wieder an.
+</p>
+
+<p>
+"Das ist nicht meine Sache", gab der Bediente zurück; "klingeln Sie
+die Jungfer Tinette herunter an der anderen Klingel", und ohne
+weitere Auskunft verschwand der Sebastian.
+</p>
+
+<p>
+Dete klingelte wieder. Jetzt erschien auf der Treppe die Jungfer
+Tinette mit einem blendend weißen Deckelchen auf der Mitte des
+Kopfes und einer spöttischen Miene auf dem Gesicht.
+</p>
+
+<p>
+"Was ist?", fragte sie auf der Treppe, ohne herunterzukommen. Dete
+wiederholte ihr Gesuch. Jungfer Tinette verschwand, kam aber bald
+wieder und rief von der Treppe herunter: "Sie sind erwartet!"
+</p>
+
+<p>
+Jetzt stieg Dete mit Heidi die Treppe hinauf und trat, der Jungfer
+Tinette folgend, in das Studierzimmer ein. Hier blieb Dete höflich
+an der Tür stehen, Heidi immer fest an der Hand haltend, denn sie
+war gar nicht sicher, was dem Kinde etwa begegnen konnte auf diesem
+so fremden Boden.
+</p>
+
+<p>
+Fräulein Rottenmeier erhob sich langsam von ihrem Sitz und kam
+näher, um die angekommene Gespielin der Tochter des Hauses zu
+betrachten. Der Anblick schien sie nicht zu befriedigen. Heidi
+hatte sein einfaches Baumwollröckchen an und sein altes,
+zerdrücktes Strohhütchen auf dem Kopf. Das Kind guckte sehr
+harmlos darunter hervor und betrachtete mit unverhehlter
+Verwunderung den Turmbau auf dem Kopf der Dame.
+</p>
+
+<p>
+"Wie heißest du?", fragte Fräulein Rottenmeier, nachdem auch sie
+einige Minuten lang forschend das Kind angesehen hatte, das kein
+Auge von ihr verwandte.
+</p>
+
+<p>
+"Heidi", antwortete es deutlich und mit klangvoller Stimme.
+</p>
+
+<p>
+"Wie? Wie? Das soll doch wohl kein christlicher Name sein? So
+bist du doch nicht getauft worden. Welchen Namen hast du in der
+Taufe erhalten?", fragte Fräulein Rottenmeier weiter.
+</p>
+
+<p>
+"Das weiß ich jetzt nicht mehr", entgegnete Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"Ist das eine Antwort!", bemerkte die Dame mit Kopfschütteln.
+"Jungfer Dete, ist das Kind einfältig oder schnippisch?"
+</p>
+
+<p>
+"Mit Erlaubnis und wenn es die Dame gestattet, so will ich gern
+reden für das Kind, denn es ist sehr unerfahren", sagte die Dete,
+nachdem sie dem Heidi heimlich einen kleinen Stoß gegeben hatte für
+die unpassende Antwort. "Es ist aber nicht einfältig und auch
+nicht schnippisch, davon weiß es gar nichts; es meint alles so, wie
+es redet. Aber es ist heut zum ersten Mal in einem Herrenhaus und
+kennt die gute Manier nicht; aber es ist willig und nicht
+ungelehrig, wenn die Dame wollte gütige Nachsicht haben. Es ist
+Adelheid getauft worden, wie seine Mutter, meine Schwester selig."
+</p>
+
+<p>
+"Nun wohl, dies ist doch ein Name, den man sagen kann", bemerkte
+Fräulein Rottenmeier. "Aber, Jungfer Dete, ich muss Ihnen doch
+sagen, dass mir das Kind für sein Alter sonderbar vorkommt. Ich
+habe Ihnen mitgeteilt, die Gespielin für Fräulein Klara müsste in
+ihrem Alter sein, um denselben Unterricht mit ihr zu verfolgen und
+überhaupt ihre Beschäftigungen zu teilen. Fräulein Klara hat das
+zwölfte Jahr zurückgelegt; wie alt ist das Kind?"
+</p>
+
+<p>
+"Mit Erlaubnis der Dame", fing die Dete wieder beredt an, "es war
+mir eben selber nicht mehr so ganz gegenwärtig, wie alt es sei; es
+ist wirklich ein wenig jünger, viel trifft es nicht an, ich kann's
+so ganz genau nicht sagen, es wird so um das zehnte Jahr, oder so
+noch etwas dazu sein, nehm ich an."
+</p>
+
+<p>
+"Jetzt bin ich acht, der Großvater hat's gesagt", erklärte Heidi.
+Die Base stieß es wieder an, aber Heidi hatte keine Ahnung, warum,
+und wurde keineswegs verlegen.
+</p>
+
+<p>
+"Was, erst acht Jahre alt?", rief Fräulein Rottenmeier mit einiger
+Entrüstung aus. "Vier Jahre zu wenig! Was soll das geben! Und
+was hast du denn gelernt? Was hast du für Bücher gehabt bei deinem
+Unterricht?"
+</p>
+
+<p>
+"Keine", sagte Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"Wie? Was? Wie hast du denn lesen gelernt?", fragte die Dame
+weiter.
+</p>
+
+<p>
+"Das hab ich nicht gelernt und der Peter auch nicht", berichtete
+Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"Barmherzigkeit! Du kannst nicht lesen? Du kannst wirklich nicht
+lesen!", rief Fräulein Rottenmeier im höchsten Schrecken aus. "Ist
+es die Möglichkeit, nicht lesen! Was hast du denn aber gelernt?"
+</p>
+
+<p>
+"Nichts", sagte Heidi der Wahrheit gemäß.
+</p>
+
+<p>
+"Jungfer Dete", sagte Fräulein Rottenmeier nach einigen Minuten, in
+denen sie nach Fassung rang, "es ist alles nicht nach Abrede, wie
+konnten Sie mir dieses Wesen zuführen?" Aber die Dete ließ sich
+nicht so bald einschüchtern; sie antwortete herzhaft: "Mit
+Erlaubnis der Dame, das Kind ist gerade, was ich dachte, dass sie
+haben wolle; die Dame hat mir beschrieben, wie es sein müsse, so
+ganz apart und nicht wie die anderen, und so musste ich das Kleine
+nehmen, denn die Größeren sind bei uns dann nicht mehr so apart,
+und ich dachte, dieses passe wie gemacht auf die Beschreibung.
+Jetzt muss ich aber gehen, denn meine Herrschaft erwartet mich; ich
+will, wenn's meine Herrschaft erlaubt, bald wieder kommen und
+nachsehen, wie es geht mit ihm." Mit einem Knicks war die Dete zur
+Tür hinaus und die Treppe hinunter mit schnellen Schritten.
+Fräulein Rottenmeier stand einen Augenblick noch da, dann lief sie
+der Dete nach; es war ihr wohl in den Sinn gekommen, dass sie noch
+eine Menge von Dingen mit der Base besprechen wollte, wenn das Kind
+wirklich dableiben sollte, und da war es doch nun einmal und, wie
+sie bemerkte, hatte die Base fest im Sinn, es dazulassen.
+</p>
+
+<p>
+Heidi stand noch auf demselben Platz an der Tür, wo es von Anfang
+an gestanden hatte. Bis dahin hatte Klara von ihrem Sessel aus
+schweigend allem zugesehen. Jetzt winkte sie Heidi: "Komm hierher!"
+</p>
+
+<p>
+Heidi trat an den Rollstuhl heran.
+</p>
+
+<p>
+"Willst du lieber Heidi heißen oder Adelheid?", fragte Klara.
+</p>
+
+<p>
+"Ich heiße nur Heidi und sonst nichts", war Heidis Antwort.
+</p>
+
+<p>
+"So will ich dich immer so nennen", sagte Klara; "der Name gefällt
+mir für dich, ich habe ihn aber nie gehört, ich habe aber auch nie
+ein Kind gesehen, das so aussieht wie du. Hast du immer nur so
+kurzes, krauses Haar gehabt?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja, ich denk's", gab Heidi zur Antwort.
+</p>
+
+<p>
+"Bist du gern nach Frankfurt gekommen?", fragte Klara weiter.
+</p>
+
+<p>
+"Nein, aber morgen geh ich dann wieder heim und bringe der
+Großmutter weiße Brötchen!", erklärte Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"Du bist aber ein kurioses Kind!", fuhr jetzt Klara auf. "Man hat
+dich ja express nach Frankfurt kommen lassen, dass du bei mir
+bleibest und die Stunden mit mir nehmest, und siehst du, es wird
+nun ganz lustig, weil du gar nicht lesen kannst, nun kommt etwas
+ganz Neues in den Stunden vor. Sonst ist es manchmal so
+schrecklich langweilig und der Morgen will gar nicht zu Ende kommen.
+Denn siehst du, alle Morgen um zehn Uhr kommt der Herr Kandidat,
+und dann fangen die Stunden an und dauern bis um zwei Uhr, das ist
+so lange. Der Herr Kandidat nimmt auch manchmal das Buch ganz nahe
+ans Gesicht heran, so, als wäre er auf einmal ganz kurzsichtig
+geworden, aber er gähnt nur furchtbar hinter dem Buch, und Fräulein
+Rottenmeier nimmt auch von Zeit zu Zeit ihr großes Taschentuch
+hervor und hält es vor das ganze Gesicht hin, so, als sei sie ganz
+ergriffen von etwas, das wir lesen; aber ich weiß recht gut, dass
+sie nur ganz schrecklich gähnt dahinter, und dann sollte ich auch
+so stark gähnen und muss es immer hinunterschlucken, denn wenn ich
+nur ein einziges Mal herausgähne, so holt Fräulein Rottenmeier
+gleich den Fischtran und sagt, ich sei wieder schwach, und
+Fischtran nehmen ist das Allerschrecklichste, da will ich doch
+lieber Gähnen schlucken. Aber nun wird's viel kurzweiliger, da
+kann ich dann zuhören, wie du lesen lernst."
+</p>
+
+<p>
+Heidi schüttelte ganz bedenklich mit dem Kopf, als es vom
+Lesenlernen hörte.
+</p>
+
+<p>
+"Doch, doch, Heidi, natürlich musst du lesen lernen, alle Menschen
+müssen, und der Herr Kandidat ist sehr gut, er wird niemals böse,
+und er erklärt dir dann schon alles. Aber siehst du, wenn er etwas
+erklärt, dann verstehst du nichts davon; dann musst du nur warten
+und gar nichts sagen, sonst erklärt er dir noch viel mehr und du
+verstehst es noch weniger. Aber dann nachher, wenn du etwas
+gelernt hast und es weißt, dann verstehst du schon, was er gemeint
+hat."
+</p>
+
+<p>
+Jetzt kam Fräulein Rottenmeier wieder ins Zimmer zurück; sie hatte
+Dete nicht mehr zurückrufen können und war sichtlich aufgeregt
+davon, denn sie hatte dieser eigentlich gar nicht einlässlich sagen
+können, was alles nicht nach Abrede sei bei dem Kinde, und da sie
+nicht wusste, was nun zu tun sei, um ihren Schritt rückgängig zu
+machen, war sie umso aufgeregter, denn sie selbst hatte die ganze
+Sache angestiftet. Sie lief nun vom Studierzimmer ins Esszimmer
+hinüber, und von da wieder zurück, und kehrte dann unmittelbar
+wieder um und fuhr hier den Sebastian an, der seine runden Augen
+eben nachdenklich über den gedeckten Tisch gleiten ließ, um zu
+sehen, ob sein Werk keinen Mangel habe.
+</p>
+
+<p>
+"Denk Er morgen Seine großen Gedanken fertig und mach Er, dass man
+heut noch zu Tische komme."
+</p>
+
+<p>
+Mit diesen Worten fuhr Fräulein Rottenmeier an Sebastian vorbei und
+rief nach der Tinette mit so wenig einladendem Ton, dass die
+Jungfer Tinette mit noch viel kleineren Schritten herantrippelte
+als sonst gewöhnlich--und sich mit so spöttischem Gesicht
+hinstellte, dass selbst Fräulein Rottenmeier nicht wagte, sie
+anzufahren; umso mehr schlug ihr die Aufregung nach innen.
+</p>
+
+<p>
+"Das Zimmer der Angekommenen ist in Ordnung zu bringen, Tinette",
+sagte die Dame mit schwer errungener Ruhe; "es liegt alles bereit,
+nehmen Sie noch den Staub von den Möbeln weg."
+</p>
+
+<p>
+"Es ist der Mühe wert", spöttelte Tinette und ging.
+</p>
+
+<p>
+Unterdessen hatte Sebastian die Doppeltüren zum Studierzimmer mit
+ziemlichem Knall aufgeschlagen, denn er war sehr ergrimmt, aber
+sich in Antworten Luft zu machen durfte er nicht wagen Fräulein
+Rottenmeier gegenüber; dann trat er ganz gelassen ins Studierzimmer,
+um den Rollstuhl hinüberzustoßen. Während er den Griff hinten am
+Stuhl, der sich verschoben hatte, zurechtdrehte, stellte sich Heidi
+vor ihn hin und schaute ihn unverwandt an, was er bemerkte. Auf
+einmal fuhr er auf. "Na, was ist denn da Besonderes dran?",
+schnurrte er Heidi an in einer Weise, wie er es wohl nicht getan,
+hätte er Fräulein Rottenmeier gesehen, die eben wieder auf der
+Schwelle stand und gerade hereintrat, als Heidi entgegnete: "Du
+siehst dem Geißenpeter gleich."
+</p>
+
+<p>
+Entsetzt schlug die Dame ihre Hände zusammen. "Ist es die
+Möglichkeit!", stöhnte sie halblaut. "Nun duzt sie mir den
+Bedienten! Dem Wesen fehlen alle Urbegriffe!"
+</p>
+
+<p>
+Der Stuhl kam herangerollt und Klara wurde von Sebastian
+hinausgeschoben und auf ihren Sessel an den Tisch gesetzt.
+</p>
+
+<p>
+Fräulein Rottenmeier setzte sich neben sie und winkte Heidi, es
+sollte den Platz ihr gegenüber einnehmen. Sonst kam niemand zu
+Tische, und es war viel Platz da; die drei saßen auch weit
+auseinander, so dass Sebastian mit seiner Schüssel zum Anbieten
+guten Raum fand. Neben Heidis Teller lag ein schönes, weißes
+Brötchen; das Kind schaute mit erfreuten Blicken darauf. Die
+Ähnlichkeit, die Heidi entdeckt hatte, musste sein ganzes Vertrauen
+für den Sebastian erweckt haben, denn es saß mäuschenstill und
+rührte sich nicht, bis er mit der großen Schüssel zu ihm herantrat
+und ihm die gebratenen Fischchen hinhielt, dann zeigte es auf das
+Brötchen und fragte: "Kann ich das haben?" Sebastian nickte und
+warf dabei einen Seitenblick auf Fräulein Rottenmeier, denn es
+wunderte ihn, was die Frage für einen Eindruck auf sie mache.
+Augenblicklich ergriff Heidi sein Brötchen und steckte es in die
+Tasche. Sebastian machte eine Grimasse, denn das Lachen kam ihn an;
+er wusste aber wohl, dass ihm das nicht erlaubt war. Stumm und
+unbeweglich blieb er immer noch vor Heidi stehen, denn reden durfte
+er nicht, und weggehen durfte er wieder nicht, bis man sich bedient
+hatte. Heidi schaute ihm eine Zeit lang verwundert zu, dann fragte
+es: "Soll ich auch von dem essen?" Sebastian nickte wieder. "So
+gib mir", sagte es und schaute ruhig auf seinen Teller. Sebastians
+Grimasse wurde sehr bedenklich, und die Schüssel in seinen Händen
+fing an gefährlich zu zittern.
+</p>
+
+<p>
+"Er kann die Schüssel auf den Tisch setzen und nachher
+wiederkommen", sagte jetzt Fräulein Rottenmeier mit strengem
+Gesicht. Sebastian verschwand sogleich. "Dir, Adelheid, muss ich
+überall die ersten Begriffe beibringen, das sehe ich", fuhr
+Fräulein Rottenmeier mit tiefem Seufzer fort. "Vor allem will ich
+dir zeigen, wie man sich am Tische bedient", und nun machte die
+Dame deutlich und eingehend alles vor, was Heidi zu tun hatte.
+"Dann", fuhr sie weiter, "muss ich dir hauptsächlich bemerken, dass
+du am Tisch nicht mit Sebastian zu sprechen hast, auch sonst nur
+dann, wenn du einen Auftrag oder eine notwendige Frage an ihn zu
+richten hast; dann aber nennst du ihn nie mehr anders als _Sie_
+oder _Er_, hörst du? Dass ich dich niemals mehr ihn anders nennen
+höre. Auch Tinette nennst du _Sie_, Jungfer Tinette. Mich nennst
+du so, wie du mich von allen nennen hörst; wie du Klara nennen
+sollst, wird sie selbst bestimmen."
+</p>
+
+<p>
+"Natürlich Klara", sagte diese. Nun folgte aber noch eine Menge
+von Verhaltungsmaßregeln, über Aufstehen und Zubettegehen, über
+Hereintreten und Hinausgehen, über Ordnunghalten, Türenschließen,
+und über alledem fielen dem Heidi die Augen zu, denn es war heute
+vor fünf Uhr aufgestanden und hatte eine lange Reise gemacht. Es
+lehnte sich an den Sesselrücken und schlief ein. Als dann nach
+längerer Zeit Fräulein Rottenmeier zu Ende gekommen war mit ihrer
+Unterweisung, sagte sie: "Nun denke daran, Adelheid! Hast du alles
+recht begriffen?"
+</p>
+
+<p>
+"Heidi schläft schon lange", sagte Klara mit ganz belustigtem
+Gesicht, denn das Abendessen war für sie seit langer Zeit nie so
+kurzweilig verflossen.
+</p>
+
+<p>
+"Es ist doch völlig unerhört, was man mit diesem Kind erlebt!",
+rief Fräulein Rottenmeier in großem Ärger und klingelte so heftig,
+dass Tinette und Sebastian miteinander herbeigestürzt kamen; aber
+trotz allen Lärms erwachte Heidi nicht, und man hatte die größte
+Mühe, es so weit zu erwecken, dass es nach seinem Schlafgemach
+gebracht werden konnte; erst durch das Studierzimmer, dann durch
+Klaras Schlafstube, dann durch die Stube von Fräulein Rottenmeier
+zu dem Eckzimmer, das nun für Heidi eingerichtet war.
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap07"></a>
+Fräulein Rottenmeier hat einen unruhigen Tag
+</h3>
+
+<p>
+Als Heidi am ersten Morgen in Frankfurt seine Augen aufschlug,
+konnte es durchaus nicht begreifen, was es erblickte. Es rieb ganz
+gewaltig seine Augen, guckte dann wieder auf und sah dasselbe. Es
+saß auf einem hohen, weißen Bett und vor sich sah es einen großen,
+weiten Raum, und wo die Helle herkam, hingen lange, lange weiße
+Vorhänge, und dabei standen zwei Sessel mit großen Blumen darauf,
+und dann kam ein Sofa an der Wand mit denselben Blumen und ein
+runder Tisch davor, und in der Ecke stand ein Waschtisch mit Sachen
+darauf, wie Heidi sie noch gar nie gesehen hatte. Aber nun kam ihm
+auf einmal in den Sinn, dass es in Frankfurt sei, und der ganze
+gestrige Tag kam ihm in Erinnerung und zuletzt noch ganz klar die
+Unterweisungen der Dame, soweit es sie gehört hatte. Heidi sprang
+nun von seinem Bett herunter und machte sich fertig. Dann ging es
+an ein Fenster und dann an das andere; es musste den Himmel sehen
+und die Erde draußen, es fühlte sich wie im Käfig hinter den großen
+Vorhängen. Es konnte diese nicht wegschieben; so kroch es dahinter,
+um an ein Fenster zu kommen. Aber dieses war so hoch, dass Heidi
+nur gerade mit dem Kopf so weit hinaufreichte, dass es durchsehen
+konnte. Aber Heidi fand nicht, was es suchte. Es lief von einem
+Fenster zum anderen und dann wieder zum ersten zurück; aber immer
+war dasselbe vor seinen Augen, Mauern und Fenster und wieder Mauern
+und dann wieder Fenster. Es wurde Heidi ganz bange. Noch war es
+früh am Morgen, denn Heidi war gewöhnt, früh aufzustehen auf der
+Alm und dann sogleich hinauszulaufen vor die Tür und zu sehen,
+wie's draußen sei, ob der Himmel blau und die Sonne schon droben
+sei, ob die Tannen rauschen und die kleinen Blumen schon die Augen
+offen haben. Wie das Vögelein, das zum ersten Mal in seinem schön
+glänzenden Gefängnis sitzt, hin und her schießt und bei allen
+Stäben probiert, ob es nicht dazwischen durchschlüpfen und in die
+Freiheit hinausfliegen könne, so lief Heidi immer von dem einen
+Fenster zum anderen, um zu probieren, ob es nicht aufgemacht werden
+könne, denn dann musste man doch etwas anderes sehen als Mauern und
+Fenster, da musste doch unten der Erdboden, das grüne Gras und der
+letzte schmelzende Schnee an den Abhängen zum Vorschein kommen, und
+Heidi sehnte sich, das zu sehen. Aber die Fenster blieben fest
+verschlossen, wie sehr auch das Kind drehte und zog und von unten
+suchte, die kleinen Finger unter die Rahmen einzutreiben, damit es
+Kraft hätte, sie aufzudrücken; es blieb alles eisenfest aufeinander
+sitzen. Nach langer Zeit, als Heidi einsah, dass alle
+Anstrengungen nichts halfen, gab es seinen Plan auf und überdachte
+nun, wie es wäre, wenn es vor das Haus hinausginge und hintenherum,
+bis es auf den Grasboden käme, denn es erinnerte sich, dass es
+gestern Abend vorn am Haus nur über Steine gekommen war. Jetzt
+klopfte es an seiner Tür und unmittelbar darauf steckte Tinette den
+Kopf herein und sagte kurz: "Frühstück bereit!"
+</p>
+
+<p>
+Heidi verstand keineswegs eine Einladung unter diesen Worten; auf
+dem spöttischen Gesicht der Tinette stand viel mehr eine Warnung,
+ihr nicht zu nah zu kommen, als eine freundliche Einladung
+geschrieben, und das las Heidi deutlich von dem Gesicht und
+richtete sich danach. Es nahm den kleinen Schemel unter dem Tisch
+empor, stellte ihn in eine Ecke, setzte sich darauf und wartete so
+ganz still ab, was nun kommen würde. Nach einiger Zeit kam etwas
+mit ziemlichem Geräusch, es war Fräulein Rottenmeier, die schon
+wieder in Aufregung geraten war und in Heidis Stube hineinrief:
+"Was ist mit dir, Adelheid? Begreifst du nicht, was ein Frühstück
+ist? Komm herüber!"
+</p>
+
+<p>
+Das verstand nun Heidi und folgte sogleich nach. Im Esszimmer saß
+Klara schon lang an ihrem Platz und begrüßte Heidi freundlich,
+machte auch ein viel vergnügteres Gesicht als sonst gewöhnlich,
+denn sie sah voraus, dass heute wieder allerlei Neues geschehen
+würde. Das Frühstück ging nun ohne Störung vor sich; Heidi aß ganz
+anständig sein Butterbrot, und wie alles zu Ende war, wurde Klara
+wieder ins Studierzimmer hinübergerollt und Heidi wurde von
+Fräulein Rottenmeier angewiesen, nachzufolgen und bei Klara zu
+bleiben, bis der Herr Kandidat kommen würde, um die
+Unterrichtsstunden zu beginnen. Als die beiden Kinder allein waren,
+sagte Heidi sogleich: "Wie kann man hinaussehen hier und ganz
+hinunter auf den Boden?"
+</p>
+
+<p>
+"Man macht ein Fenster auf und guckt hinaus", antwortete Klara
+belustigt.
+</p>
+
+<p>
+"Man kann diese Fenster nicht aufmachen", versetzte Heidi traurig.
+</p>
+
+<p>
+"Doch, doch", versicherte Klara, "nur du noch nicht, und ich kann
+dir auch nicht helfen; aber wenn du einmal den Sebastian siehst, so
+macht er dir schon eines auf."
+</p>
+
+<p>
+Das war eine große Erleichterung für Heidi zu wissen, dass man doch
+die Fenster öffnen und hinausschauen könne, denn noch war es ganz
+unter dem Druck des Gefangenseins von seinem Zimmer her. Klara
+fing nun an, Heidi zu fragen, wie es bei ihm zu Hause sei, und
+Heidi erzählte mit Freuden von der Alm und den Geißen und der Weide
+und allem, was ihm lieb war.
+</p>
+
+<p>
+Unterdessen war der Herr Kandidat angekommen; aber Fräulein
+Rottenmeier führte ihn nicht, wie gewöhnlich, ins Studierzimmer,
+denn sie musste sich erst aussprechen und geleitete ihn zu diesem
+Zweck ins Esszimmer, wo sie sich vor ihn hinsetzte und ihm in
+großer Aufregung ihre bedrängte Lage schilderte und wie sie in
+diese hineingekommen war.
+</p>
+
+<p>
+Sie hatte nämlich vor einiger Zeit Herrn Sesemann nach Paris
+geschrieben, wo er eben verweilte, seine Tochter habe längst
+gewünscht, es möchte eine Gespielin für sie ins Haus aufgenommen
+werden, und auch sie selbst glaube, dass eine solche in den
+Unterrichtsstunden ein Sporn, in der übrigen Zeit eine anregende
+Gesellschaft für Klara sein würde. Eigentlich war die Sache für
+Fräulein Rottenmeier selbst sehr wünschbar, denn sie wollte gern,
+dass jemand da sei, der ihr die Unterhaltung der kranken Klara
+abnehme, wenn es ihr zu viel war, was öfters geschah. Herr
+Sesemann hatte geantwortet, er erfülle gern den Wunsch seiner
+Tochter, doch mit der Bedingung, dass eine solche Gespielin in
+allem ganz gehalten werde wie jene, er wolle keine Kinderquälerei
+in seinem Hause--"was freilich eine sehr unnütze Bemerkung von dem
+Herrn war", setzte Fräulein Rottenmeier hinzu, "denn wer wollte
+Kinder quälen!" Nun aber erzählte sie weiter, wie ganz
+erschrecklich sie hineingefallen sei mit dem Kinde, und führte alle
+Beispiele von seinem völlig begriffslosen Dasein an, die es bis
+jetzt geliefert hatte, dass nicht nur der Unterricht des Herrn
+Kandidaten buchstäblich beim Abc anfangen müsse, sondern dass auch
+sie auf jedem Punkte der menschlichen Erziehung mit dem Uranfang zu
+beginnen hätte. Aus dieser unheilvollen Lage sehe sie nur ein
+Rettungsmittel: Wenn der Herr Kandidat erklären werde, zwei so
+verschiedene Wesen könnten nicht miteinander unterrichtet werden
+ohne großen Schaden des vorgerückteren Teiles; das wäre für Herrn
+Sesemann ein triftiger Grund, die Sache rückgängig zu machen, und
+so würde er zugeben, dass das Kind gleich wieder dahin
+zurückgeschickt würde, woher es gekommen war; ohne seine Zustimmung
+aber dürfte sie das nicht unternehmen, nun der Hausherr wisse, dass
+das Kind angekommen sei. Aber der Herr Kandidat war behutsam und
+niemals einseitig im Urteilen. Er tröstete Fräulein Rottenmeier
+mit vielen Worten und der Ansicht, wenn die junge Tochter auf der
+einen Seite so zurück sei, so möchte sie auf der anderen umso
+geförderter sein, was bei einem geregelten Unterricht bald ins
+Gleichgewicht kommen werde. Als Fräulein Rottenmeier sah, dass der
+Herr Kandidat sie nicht unterstützen, sondern seinen Abc-Unterricht
+übernehmen wollte, machte sie ihm die Tür zum Studierzimmer auf,
+und nachdem er hereingetreten war, schloss sie schnell hinter ihm
+zu und blieb auf der anderen Seite, denn vor dem Abc hatte sie
+einen Schrecken. Sie ging jetzt mit großen Schritten im Zimmer auf
+und nieder, denn sie hatte zu überlegen, wie die Dienstboten
+Adelheid zu benennen hätten. Herr Sesemann hatte ja geschrieben,
+sie müsste wie seine Tochter gehalten werden, und dieses Wort
+musste sich hauptsächlich auf das Verhältnis zu den Dienstboten
+beziehen, dachte Fräulein Rottenmeier. Sie konnte aber nicht lange
+ungestört überlegen, denn auf einmal ertönte drinnen im
+Studierzimmer ein erschreckliches Gekrache fallender Gegenstände
+und dann ein Hilferuf nach Sebastian. Sie stürzte hinein. Da lag
+auf dem Boden alles übereinander, die sämtlichen Studien-Hilfsmittel,
+Bücher, Hefte, Tintenfass und obendrauf der
+Tischteppich, unter dem ein schwarzes Tintenbächlein hervorfloss,
+die ganze Stube entlang. Heidi war verschwunden.
+</p>
+
+<p>
+"Da haben wir's", rief Fräulein Rottenmeier händeringend aus.
+"Teppich, Bücher, Arbeitskorb, alles in der Tinte! Das ist noch
+nie geschehen! Das ist das Unglückswesen, da ist kein Zweifel!"
+</p>
+
+<p>
+Der Herr Kandidat stand sehr erschrocken da und schaute auf die
+Verwüstung, die allerdings nur _eine_ Seite hatte und eine recht
+bestürzende. Klara dagegen verfolgte mit vergnügtem Gesicht die
+ungewöhnlichen Ereignisse und deren Wirkungen und sagte nun
+erklärend: "Ja, Heidi hat's gemacht, aber nicht mit Absicht, es
+muss gewiss nicht gestraft werden, es war nur so schrecklich eilig,
+fortzukommen, und riss den Teppich mit, und so fiel alles
+hintereinander auf den Boden. Es fuhren viele Wagen hintereinander
+vorbei, darum ist es so fortgeschossen; es hat vielleicht noch nie
+eine Kutsche gesehen."
+</p>
+
+<p>
+"Da, ist's nicht, wie ich sagte, Herr Kandidat? Nicht _einen_
+Urbegriff hat das Wesen! Keine Ahnung davon, was eine
+Unterrichtsstunde ist, dass man dabei zuzuhören und still zu sitzen
+hat. Aber wo ist das Unheil bringende Ding hin? Wenn es
+fortgelaufen wäre! Was würde mir Herr Sesemann--"
+</p>
+
+<p>
+Fräulein Rottenmeier lief hinaus und die Treppe hinunter. Hier,
+unter der geöffneten Haustür, stand Heidi und guckte ganz verblüfft
+die Straße auf und ab.
+</p>
+
+<p>
+"Was ist denn? Was fällt dir denn ein? Wie kannst du so
+davonlaufen!", fuhr Fräulein Rottenmeier das Kind an.
+</p>
+
+<p>
+"Ich habe die Tannen rauschen gehört, aber ich weiß nicht, wo sie
+stehen, und höre sie nicht mehr", antwortete Heidi und schaute
+enttäuscht nach der Seite hin, wo das Rollen der Wagen verhallt war,
+das in Heidis Ohren dem Tosen des Föhns in den Tannen ähnlich
+geklungen hatte, so dass es in höchster Freude dem Ton nachgerannt
+war.
+</p>
+
+<p>
+"Tannen! Sind wir im Wald? Was sind das für Einfälle! Komm
+herauf und sieh, was du angerichtet hast!" Damit stieg Fräulein
+Rottenmeier wieder die Treppe hinan; Heidi folgte ihr und stand nun
+sehr verwundert vor der großen Verheerung, denn es hatte nicht
+gemerkt, was es alles mitriss vor Freude und Eile, die Tannen zu
+hören.
+</p>
+
+<p>
+"Das hast du einmal getan, ein zweites Mal tust du's nicht wieder",
+sagte Fräulein Rottenmeier, auf den Boden zeigend; "zum Lernen
+sitzt man still auf seinem Sessel und gibt Acht. Kannst du das
+nicht selbst fertig bringen, so muss ich dich an deinen Stuhl
+festbinden. Kannst du das verstehen?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja", entgegnete Heidi, "aber ich will schon festsitzen." Denn
+jetzt hatte es begriffen, dass es eine Regel ist, in einer
+Unterrichtsstunde still zu sitzen.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt mussten Sebastian und Tinette hereinkommen, um die Ordnung
+wiederherzustellen. Der Herr Kandidat entfernte sich, denn der
+weitere Unterricht musste nun aufgegeben werden. Zum Gähnen war
+heute gar keine Zeit gewesen.
+</p>
+
+<p>
+Am Nachmittag musste Klara immer eine Zeit lang ruhen und Heidi
+hatte alsdann seine Beschäftigung selbst zu wählen; so hatte
+Fräulein Rottenmeier ihm am Morgen erklärt. Als nun nach Tisch
+Klara sich in ihrem Sessel zur Ruhe gelegt hatte, ging Fräulein
+Rottenmeier nach ihrem Zimmer, und Heidi sah, dass nun die Zeit da
+war, da es seine Beschäftigung selbst wählen konnte. Das war dem
+Heidi sehr erwünscht, denn es hatte schon immer im Sinn, etwas zu
+unternehmen; es musste aber Hilfe dazu haben und stellte sich darum
+vor das Esszimmer mitten auf den Korridor, damit die Persönlichkeit,
+die es zu beraten gedachte, ihm nicht entgehen könne. Richtig,
+nach kurzer Zeit kam Sebastian die Treppe herauf mit dem großen
+Teebrett auf den Armen, denn er brachte das Silberzeug aus der
+Küche herauf, um es im Schrank des Esszimmers zu verwahren. Als er
+auf der letzten Stufe der Treppe angekommen war, trat Heidi vor ihn
+hin und sagte mit großer Deutlichkeit: "Sie oder Er!"
+</p>
+
+<p>
+Sebastian riss die Augen so weit auf, als es nur möglich war, und
+sagte ziemlich barsch: "Was soll das heißen, Mamsell?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich möchte nur gern etwas fragen, aber es ist gewiss nichts Böses
+wie heute Morgen", fügte Heidi beschwichtigend hinzu, denn es
+merkte, dass Sebastian ein wenig erbittert war, und dachte, es
+komme noch von der Tinte am Boden her.
+</p>
+
+<p>
+"So, und warum muss es denn heißen Sie oder Er, das möcht ich
+zuerst wissen", gab Sebastian im gleichen barschen Ton zurück.
+</p>
+
+<p>
+"Ja, so muss ich jetzt immer sagen", versicherte Heidi; "Fräulein
+Rottenmeier hat es befohlen."
+</p>
+
+<p>
+Jetzt lachte Sebastian so laut auf, dass Heidi ihn ganz verwundert
+ansehen musste, denn es hatte nichts Lustiges bemerkt; aber
+Sebastian hatte auf einmal begriffen, was Fräulein Rottenmeier
+befohlen hatte, und sagte nun sehr erlustigt: "Schon recht, so
+fahre die Mamsell nur zu."
+</p>
+
+<p>
+"Ich heiße gar nicht Mamsell", sagte nun Heidi seinerseits ein
+wenig geärgert; "ich heiße Heidi."
+</p>
+
+<p>
+"Ist schon recht; die gleiche Dame hat aber befohlen, dass ich
+Mamsell sage", erklärte Sebastian.
+</p>
+
+<p>
+"Hat sie? Ja, dann muss ich schon so heißen", sagte Heidi mit
+Ergebung, denn es hatte wohl gemerkt, dass alles so geschehen
+musste, wie Fräulein Rottenmeier befahl.
+</p>
+
+<p>
+"Jetzt habe ich schon drei Namen", setzte es mit einem Seufzer
+hinzu.
+</p>
+
+<p>
+"Was wollte die kleine Mamsell denn fragen?", fragte Sebastian
+jetzt, indem er, ins Esszimmer eingetreten, sein Silberzeug im
+Schrank zurechtlegte.
+</p>
+
+<p>
+"Wie kann man ein Fenster aufmachen, Sebastian?"
+</p>
+
+<p>
+"So, gerade so", und er machte den großen Fensterflügel auf.
+</p>
+
+<p>
+Heidi trat heran, aber es war zu klein, um etwas sehen zu können;
+es langte nur bis zum Gesims hinauf.
+</p>
+
+<p>
+"Da, so kann das Mamsellchen einmal hinausgucken und sehen, was
+unten ist", sagte Sebastian, indem er einen hohen hölzernen Schemel
+herbeigeholt hatte und hinstellte. Hoch erfreut stieg Heidi hinauf
+und konnte endlich den ersehnten Blick durch das Fenster tun. Aber
+mit dem Ausdruck der größten Enttäuschung zog es sogleich den Kopf
+wieder zurück.
+</p>
+
+<p>
+"Man sieht nur die steinerne Straße hier, sonst gar nichts", sagte
+das Kind bedauerlich; "aber wenn man um das ganze Haus herumgeht,
+was sieht man dann auf der anderen Seite, Sebastian?"
+</p>
+
+<p>
+"Gerade dasselbe", gab dieser zur Antwort.
+</p>
+
+<p>
+"Aber wohin kann man denn gehen, dass man weit, weit hinuntersehen
+kann über das ganze Tal hinab?"
+</p>
+
+<p>
+"Da muss man auf einen hohen Turm hinaufsteigen, einen Kirchturm,
+so einen, wie der dort ist mit der goldenen Kugel oben drauf. Da
+guckt man von oben herunter und sieht weit über alles weg."
+</p>
+
+<p>
+Jetzt stieg Heidi eilig von seinem Schemel herunter, rannte zur Tür
+hinaus, die Treppe hinunter und trat auf die Straße hinaus. Aber
+die Sache ging nicht, wie Heidi sich vorgestellt hatte. Als es aus
+dem Fenster den Turm gesehen hatte, kam es ihm vor, es könne nur
+über die Straße gehen, so müsste er gleich vor ihm stehen. Nun
+ging Heidi die ganze Straße hinunter, aber es kam nicht an den Turm,
+konnte ihn auch nirgends mehr entdecken und kam nun in eine andere
+Straße hinein und weiter und weiter, aber immer noch sah es den
+Turm nicht. Es gingen viele Leute an ihm vorbei, aber die waren
+alle so eilig, dass Heidi dachte, sie hätten nicht Zeit, ihm
+Bescheid zu geben. Jetzt sah es an der nächsten Straßenecke einen
+Jungen stehen, der eine kleine Drehorgel auf dem Rücken und ein
+ganz kurioses Tier auf dem Arme trug. Heidi lief zu ihm hin und
+fragte: "Wo ist der Turm mit der goldenen Kugel zuoberst?"
+</p>
+
+<p>
+"Weiß nicht", war die Antwort.
+</p>
+
+<p>
+"Wen kann ich denn fragen, wo er sei?", fragte Heidi weiter.
+</p>
+
+<p>
+"Weiß nicht."
+</p>
+
+<p>
+"Weißt du keine andere Kirche mit einem hohen Turm?"
+</p>
+
+<p>
+"Freilich weiß ich eine."
+</p>
+
+<p>
+"So komm und zeige mir sie."
+</p>
+
+<p>
+"Zeig du zuerst, was du mir dafür gibst." Der Junge hielt seine
+Hand hin. Heidi suchte in seiner Tasche herum. Jetzt zog es ein
+Bildchen hervor, darauf ein schönes Kränzchen von roten Rosen
+gemalt war; erst sah es noch eine kleine Weile darauf hin, denn es
+reute Heidi ein wenig. Erst heute Morgen hatte Klara es ihm
+geschenkt; aber hinuntersehen ins Tal, über die grünen Abhänge!
+"Da", sagte Heidi und hielt das Bildchen hin, "willst du das?"
+</p>
+
+<p>
+Der Junge zog die Hand zurück und schüttelte den Kopf.
+</p>
+
+<p>
+"Was willst du denn?", fragte Heidi und steckte vergnügt sein
+Bildchen wieder ein.
+</p>
+
+<p>
+"Geld."
+</p>
+
+<p>
+"Ich habe keins, aber Klara hat, sie gibt mir dann schon; wie viel
+willst du?"
+</p>
+
+<p>
+"Zwanzig Pfennige."
+</p>
+
+<p>
+"So komm jetzt."
+</p>
+
+<p>
+Nun wanderten die beiden eine lange Straße hin, und auf dem Wege
+fragte Heidi den Begleiter, was er auf dem Rücken trage, und er
+erklärte ihm, es sei eine schöne Orgel unter dem Tuch, die mache
+eine prachtvolle Musik, wenn er daran drehe.
+</p>
+
+<p>
+Auf einmal standen sie vor einer alten Kirche mit hohem Turm; der
+Junge stand still und sagte: "Da."
+</p>
+
+<p>
+"Aber wie komm ich da hinein?", fragte Heidi, als es die fest
+verschlossenen Türen sah.
+</p>
+
+<p>
+"Weiß nicht", war wieder die Antwort.
+</p>
+
+<p>
+"Glaubst du, man könne hier klingeln, so wie man dem Sebastian tut?"
+</p>
+
+<p>
+"Weiß nicht."
+</p>
+
+<p>
+Heidi hatte eine Klingel entdeckt an der Mauer und zog jetzt aus
+allen Kräften daran.
+</p>
+
+<p>
+"Wenn ich dann hinaufgehe, so musst du warten hier unten, ich weiß
+jetzt den Weg nicht mehr zurück, du musst mir ihn dann zeigen."
+</p>
+
+<p>
+"Was gibst du mir dann?"
+</p>
+
+<p>
+"Was muss ich dir dann wieder geben?"
+</p>
+
+<p>
+"Wieder zwanzig Pfennige."
+</p>
+
+<p>
+Jetzt wurde das alte Schloss inwendig umgedreht und die knarrende
+Tür geöffnet; ein alter Mann trat heraus und schaute erst
+verwundert, dann ziemlich erzürnt auf die Kinder und fuhr sie an:
+"Was untersteht ihr euch, mich da herunterzuklingeln? Könnt ihr
+nicht lesen, was über der Klingel steht: 'Für solche, die den
+Turm besteigen wollen'?"
+</p>
+
+<p>
+Der Junge wies mit dem Zeigefinger auf Heidi und sagte kein Wort.
+Heidi antwortete: "Eben auf den Turm wollt ich."
+</p>
+
+<p>
+"Was hast du droben zu tun?", fragte der Türmer; "hat dich jemand
+geschickt?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein", entgegnete Heidi, "ich möchte nur hinaufgehen, dass ich
+hinuntersehen kann."
+</p>
+
+<p>
+"Macht, dass ihr heimkommt, und probiert den Spaß nicht wieder,
+oder ihr kommt nicht gut weg zum zweiten Mal!" Damit kehrte sich
+der Türmer um und wollte die Tür zumachen.
+</p>
+
+<p>
+Aber Heidi hielt ihn ein wenig am Rockschoß und sagte bittend: "Nur
+ein einziges Mal!"
+</p>
+
+<p>
+Er sah sich um, und Heidis Augen schauten so flehentlich zu ihm auf,
+dass es ihn ganz umstimmte; er nahm das Kind bei der Hand und
+sagte freundlich: "Wenn dir so viel daran gelegen ist, so komm mit
+mir!"
+</p>
+
+<p>
+Der Junge setzte sich auf die steinernen Stufen vor der Tür nieder
+und zeigte, dass er nicht mitwollte.
+</p>
+
+<p>
+Heidi stieg an der Hand des Türmers viele, viele Treppen hinauf;
+dann wurden diese immer schmäler, und endlich ging es noch ein ganz
+enges Treppchen hinauf, und nun waren sie oben. Der Türmer hob
+Heidi vom Boden auf und hielt es an das offene Fenster.
+</p>
+
+<p>
+"Da, jetzt guck hinunter", sagte er.
+</p>
+
+<p>
+Heidi sah auf ein Meer von Dächern, Türmen und Schornsteinen nieder;
+es zog bald seinen Kopf zurück und sagte niedergeschlagen: "Es ist
+gar nicht, wie ich gemeint habe."
+</p>
+
+<p>
+"Siehst du wohl? Was versteht so ein Kleines von Aussicht! So,
+komm nun wieder herunter und läute nie mehr an einem Turm!"
+</p>
+
+<p>
+Der Türmer stellte Heidi wieder auf den Boden und stieg ihm voran
+die schmalen Stufen hinab. Wo diese breiter wurden, kam links die
+Tür, die in des Türmers Stübchen führte, und nebenan ging der Boden
+bis unter das schräge Dach hin. Dort hinten stand ein großer Korb
+und davor saß eine dicke graue Katze und knurrte, denn in dem Korb
+wohnte ihre Familie und sie wollte jeden Vorübergehenden davor
+warnen, sich in ihre Familienangelegenheiten zu mischen. Heidi
+stand still und schaute verwundert hinüber, eine so mächtige Katze
+hatte es noch nie gesehen; in dem alten Turm wohnten aber ganze
+Herden von Mäusen, so holte sich die Katze ohne Mühe jeden Tag ein
+halbes Dutzend Mäusebraten. Der Türmer sah Heidis Bewunderung und
+sagte: "Komm, sie tut dir nichts, wenn ich dabei bin; du kannst die
+Jungen ansehen."
+</p>
+
+<p>
+Heidi trat an den Korb heran und brach in ein großes Entzücken aus.
+</p>
+
+<p>
+"Oh, die netten Tierlein! Die schönen Kätzchen!", rief es ein Mal
+ums andere und sprang hin und her um den Korb herum, um auch recht
+alle komischen Gebärden und Sprünge zu sehen, welche die sieben
+oder acht jungen Kätzchen vollführten, die in dem Korb rastlos
+übereinanderhin krabbelten, sprangen, fielen.
+</p>
+
+<p>
+"Willst du eins haben?", fragte der Türmer, der Heidis
+Freudensprüngen vergnügt zuschaute.
+</p>
+
+<p>
+"Selbst für mich? Für immer?", fragte Heidi gespannt und konnte
+das große Glück fast nicht glauben.
+</p>
+
+<p>
+"Ja, gewiss, du kannst auch noch mehr haben, du kannst sie alle
+zusammen haben, wenn du Platz hast", sagte der Mann, dem es gerade
+recht war, seine kleinen Katzen loszuwerden, ohne dass er ihnen ein
+Leid antun musste.
+</p>
+
+<p>
+Heidi war im höchsten Glück. In dem großen Hause hatten ja die
+Kätzchen so viel Platz, und wie musste Klara erstaunt und erfreut
+sein, wenn die niedlichen Tierchen ankamen!
+</p>
+
+<p>
+"Aber wie kann ich sie mitnehmen?", fragte nun Heidi und wollte
+schnell einige fangen mit seinen Händen, aber die dicke Katze
+sprang ihm auf den Arm und fauchte es so grimmig an, dass es sehr
+erschrocken zurückfuhr.
+</p>
+
+<p>
+"Ich will sie dir bringen, sag nur, wohin", sagte der Türmer, der
+die alte Katze nun streichelte, um sie wieder gut zu machen, denn
+sie war seine Freundin und hatte schon viele Jahre mit ihm auf dem
+Turm gelebt.
+</p>
+
+<p>
+"Zum Herrn Sesemann in dem großen Haus, wo an der Haustür ein
+goldener Hundskopf ist mit einem dicken Ring im Maul", erklärte
+Heidi.
+</p>
+
+<p>
+Es hätte nicht einmal so viel gebraucht für den Türmer, der schon
+seit langen Jahren auf dem Turm saß und jedes Haus weithin kannte,
+und dazu war der Sebastian noch ein alter Bekannter von ihm.
+</p>
+
+<p>
+"Ich weiß schon", bemerkte er; "aber wem muss ich die Dinger
+bringen, bei wem muss ich nachfragen, du gehörst doch nicht Herrn
+Sesemann?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, aber die Klara, sie hat eine so große Freude, wenn die
+Kätzchen kommen!"
+</p>
+
+<p>
+Der Türmer wollte nun weitergehen, aber Heidi konnte sich von dem
+unterhaltenden Schauspiel fast nicht trennen.
+</p>
+
+<p>
+"Wenn ich nur schon eins oder zwei mitnehmen könnte! Eins für mich
+und eins für Klara, kann ich nicht?"
+</p>
+
+<p>
+"So wart ein wenig", sagte der Türmer, trug dann die alte Katze
+behutsam in sein Stübchen hinein und stellte sie an das
+Essschüsselchen hin, schloss die Tür vor ihr zu und kam zurück: "So,
+nun nimm zwei!"
+</p>
+
+<p>
+Heidis Augen leuchteten vor Wonne. Es las ein weißes und dann ein
+gelb und weiß gestreiftes aus und steckte eins in die rechte und
+eins in die linke Tasche. Nun ging's die Treppe hinunter.
+</p>
+
+<p>
+Der Junge saß noch auf den Stufen draußen, und als nun der Türmer
+hinter Heidi die Tür zugeschlossen hatte, sagte das Kind: "Welchen
+Weg müssen wir nun zu Herrn Sesemanns Haus?"
+</p>
+
+<p>
+"Weiß nicht", war die Antwort.
+</p>
+
+<p>
+Heidi fing nun an zu beschreiben, was es wusste, die Haustür und
+die Fenster und die Treppen, aber der Junge schüttelte zu allem den
+Kopf, es war ihm alles unbekannt.
+</p>
+
+<p>
+"Siehst du", fuhr dann Heidi im Beschreiben fort, "aus einem
+Fenster sieht man ein großes, großes, graues Haus und das Dach geht
+so"--Heidi zeichnete hier mit dem Zeigefinger große Zacken in die
+Luft hinaus.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt sprang der Junge auf, er mochte ähnliche Merkmale haben,
+seine Wege zu finden. Er lief nun in einem Zug drauflos und Heidi
+hinter ihm drein, und in kurzer Zeit standen sie richtig vor der
+Haustür mit dem großen Messing-Tierkopf. Heidi zog die Glocke.
+Bald erschien Sebastian, und wie er Heidi erblickte, rief er
+drängend: "Schnell! Schnell!"
+</p>
+
+<p>
+Heidi sprang eilig herein, und Sebastian schlug die Tür zu; den
+Jungen, der verblüfft draußen stand, hatte er gar nicht bemerkt.
+</p>
+
+<p>
+"Schnell, Mamsellchen", drängte Sebastian weiter, "gleich ins
+Esszimmer hinein, sie sitzen schon am Tisch. Fräulein Rottenmeier
+sieht aus wie eine geladene Kanone; was stellt aber auch die kleine
+Mamsell an, so fortzulaufen?"
+</p>
+
+<p>
+Heidi war ins Zimmer getreten. Fräulein Rottenmeier blickte nicht
+auf; Klara sagte auch nichts, es war eine etwas unheimliche Stille.
+Sebastian rückte Heidi den Sessel zurecht. Jetzt, wie es auf
+seinem Stuhl saß, begann Fräulein Rottenmeier mit strengem Gesicht
+und einem ganz feierlich-ernsten Ton: "Adelheid, ich werde nachher
+mit dir sprechen, jetzt nur so viel: Du hast dich sehr ungezogen,
+wirklich strafbar benommen, dass du das Haus verlässt, ohne zu
+fragen, ohne dass jemand ein Wort davon wusste, und herumstreichst
+bis zum späten Abend; es ist eine völlig beispiellose Aufführung."
+</p>
+
+<p>
+"Miau", tönte es wie als Antwort zurück.
+</p>
+
+<p>
+Aber jetzt stieg der Zorn der Dame. "Wie, Adelheid", rief sie in
+immer höheren Tönen, "du unterstehst dich noch, nach aller
+Ungezogenheit einen schlechten Spaß zu machen? Hüte dich wohl, sag
+ich dir!"
+</p>
+
+<p>
+"Ich mache", fing Heidi an--"Miau! Miau!"
+</p>
+
+<p>
+Sebastian warf fast seine Schüssel auf den Tisch und stürzte hinaus.
+</p>
+
+<p>
+"Es ist genug", wollte Fräulein Rottenmeier rufen; aber vor
+Aufregung tönte ihre Stimme gar nicht mehr. "Steh auf und verlass
+das Zimmer."
+</p>
+
+<p>
+Heidi stand erschrocken von seinem Sessel auf und wollte noch
+einmal erklären: "Ich mache gewiss"--"Miau! Miau! Miau!"
+</p>
+
+<p>
+"Aber Heidi", sagte jetzt Klara, "wenn du doch siehst, dass du
+Fräulein Rottenmeier so böse machst, warum machst du immer wieder
+'miau'?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich mache nicht, die Kätzlein machen", konnte Heidi endlich
+ungestört hervorbringen.
+</p>
+
+<p>
+"Wie? Was? Katzen? junge Katzen?", schrie Fräulein Rottenmeier
+auf. "Sebastian! Tinette! Sucht die greulichen Tiere! Schafft
+sie fort!" Damit stürzte die Dame ins Studierzimmer hinein und
+riegelte die Türen zu, um sicherer zu sein, denn junge Katzen waren
+für Fräulein Rottenmeier das Schrecklichste in der Schöpfung.
+Sebastian stand draußen vor der Tür und musste erst fertig lachen,
+eh er wieder eintreten konnte. Er hatte, als er Heidi bediente,
+einen kleinen Katzenkopf aus dessen Tasche herausgucken gesehen und
+sah dem Spektakel entgegen, und wie er nun ausbrach, konnte er sich
+nicht mehr halten, kaum noch seine Schüssel auf den Tisch setzen.
+Endlich trat er denn wieder gefasst ins Zimmer herein, nachdem die
+Hilferufe der geängsteten Dame schon längere Zeit verklungen waren.
+Jetzt sah es ganz still und friedlich aus drinnen; Klara hielt die
+Kätzchen auf ihrem Schoß, Heidi kniete neben ihr und beide spielten
+mit großer Wonne mit den zwei winzigen, graziösen Tierchen.
+</p>
+
+<p>
+"Sebastian", sagte Klara zu dem Eintretenden, "Sie müssen uns
+helfen; Sie müssen ein Nest finden für die Kätzchen, wo Fräulein
+Rottenmeier sie nicht sieht, denn sie fürchtet sich vor ihnen und
+will sie forthaben; aber wir wollen die niedlichen Tierchen
+behalten und sie immer hervorholen, sobald wir allein sind. Wo
+kann man sie hintun?"
+</p>
+
+<p>
+"Das will ich schon besorgen, Fräulein Klara", entgegnete Sebastian
+bereitwillig; "ich mache ein schönes Bettchen in einem Korb und
+stelle den an einen Ort, wo mir die furchtsame Dame nicht dahinter
+kommt, verlassen Sie sich auf mich." Sebastian ging gleich an die
+Arbeit und kicherte beständig vor sich hin, denn er dachte: "Das
+wird noch was absetzen!", und der Sebastian sah es nicht ungern,
+wenn Fräulein Rottenmeier ein wenig in Aufregung geriet.
+</p>
+
+<p>
+Nach längerer Zeit erst, als der Augenblick des Schlafengehens
+nahte, machte Fräulein Rottenmeier ein ganz klein wenig die Tür auf
+und rief durch das Spältchen heraus: "Sind die abscheulichen Tiere
+fortgeschafft?"
+</p>
+
+<p>
+"Jawohl! Jawohl!", gab Sebastian zurück, der sich im Zimmer zu
+schaffen gemacht hatte in Erwartung dieser Frage. Schnell und
+leise fasste er die beiden Kätzchen auf Klaras Schoß und verschwand
+damit.
+</p>
+
+<p>
+Die besondere Strafrede, die Fräulein Rottenmeier Heidi noch zu
+halten gedachte, verschob sie auf den folgenden Tag, denn heute
+fühlte sie sich zu erschöpft nach all den vorhergegangenen
+Gemütsbewegungen von Ärger, Zorn und Schrecken, die ihr Heidi ganz
+unwissentlich nacheinander verursacht hatte. Sie zog sich
+schweigend zurück, und Klara und Heidi folgten vergnügt nach, denn
+sie wussten ihre Kätzchen in einem guten Bett.
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap08"></a>
+Im Hause Sesemann geht's unruhig zu
+</h3>
+
+<p>
+Als Sebastian am folgenden Morgen dem Herrn Kandidaten die Haustür
+geöffnet und ihn zum Studierzimmer geführt hatte, zog schon wieder
+jemand die Hausglocke an, aber mit solcher Gewalt, dass Sebastian
+die Treppe völlig hinunterschoss, denn er dachte: "So schellt nur
+der Herr Sesemann selbst, er muss unerwartet nach Hause gekommen
+sein." Er riss die Tür auf--ein zerlumpter Junge mit einer
+Drehorgel auf dem Rücken stand vor ihm.
+</p>
+
+<p>
+"Was soll das heißen?", fuhr ihn Sebastian an. "Ich will dich
+lehren, Glocken herunterzureißen! Was hast du hier zu tun?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich muss zur Klara", war die Antwort.
+</p>
+
+<p>
+"Du ungewaschener Straßenkäfer du; kannst du nicht sagen
+'Fräulein Klara', wie unsereins tut? Was hast du bei Fräulein
+Klara zu tun?", fragte Sebastian barsch.
+</p>
+
+<p>
+"Sie ist mir vierzig Pfennige schuldig", erklärte der Junge.
+</p>
+
+<p>
+"Du bist, denk ich, nicht recht im Kopf! Wie weißt du überhaupt,
+dass ein Fräulein Klara hier ist?"
+</p>
+
+<p>
+"Gestern habe ich ihr den Weg gezeigt, macht zwanzig, und dann
+wieder zurück den Weg gezeigt, macht vierzig."
+</p>
+
+<p>
+"Da siehst du, was für Zeug du zusammenflunkerst; Fräulein Klara
+geht niemals aus, kann gar nicht gehen, mach, dass du dahin kommst,
+wo du hingehörst, bevor ich dir dazu verhelfe!"
+</p>
+
+<p>
+Aber der Junge ließ sich nicht einschüchtern; er blieb unbeweglich
+stehen und sagte trocken: "Ich habe sie doch gesehen auf der Straße,
+ich kann sie beschreiben: Sie hat kurzes, krauses Haar, das ist
+schwarz, und die Augen sind schwarz und der Rock ist braun, und sie
+kann nicht reden wie wir."
+</p>
+
+<p>
+"Oho", dachte jetzt Sebastian und kicherte in sich hinein, "das ist
+die kleine Mamsell, die hat wieder etwas angestellt." Dann sagte er,
+den Jungen hereinziehend: "'s ist schon recht, komm mir nur nach
+und warte vor der Tür, bis ich wieder herauskomme. Wenn ich dich
+dann einlasse, kannst du gleich etwas spielen; das Fräulein hört es
+gern."
+</p>
+
+<p>
+Oben klopfte er am Studierzimmer und wurde hereingerufen.
+</p>
+
+<p>
+"Es ist ein Junge da, der durchaus an Fräulein Klara selbst etwas
+zu bestellen hat", berichtete Sebastian.
+</p>
+
+<p>
+Klara war sehr erfreut über das außergewöhnliche Ereignis.
+</p>
+
+<p>
+"Er soll nur gleich hereinkommen", sagte sie, "nicht wahr, Herr
+Kandidat, wenn er doch mit mir selbst sprechen muss."
+</p>
+
+<p>
+Der Junge war schon eingetreten, und nach Anweisung fing er sofort
+seine Orgel zu drehen an. Fräulein Rottenmeier hatte, um dem Abc
+auszuweichen, sich im Esszimmer allerlei zu schaffen gemacht. Auf
+einmal horchte sie auf.--Kamen die Töne von der Straße her? Aber
+so nahe? Wie konnte vom Studierzimmer her eine Drehorgel ertönen?
+Und dennoch--wahrhaftig--sie stürzte durch das lange Esszimmer
+und riss die Tür auf. Da--unglaublich--da stand mitten im
+Studierzimmer ein zerlumpter Orgelspieler und drehte sein
+Instrument mit größter Emsigkeit. Der Herr Kandidat schien
+immerfort etwas sagen zu wollen, aber es wurde nichts vernommen.
+Klara und Heidi hörten mit ganz erfreuten Gesichtern der Musik zu.
+</p>
+
+<p>
+"Aufhören! Sofort aufhören!", rief Fräulein Rottenmeier ins Zimmer
+hinein. Ihre Stimme wurde übertönt von der Musik. Jetzt lief sie
+auf den Jungen zu--aber auf einmal hatte sie etwas zwischen den
+Füßen, sie sah auf den Boden: ein grausiges, schwarzes Tier kroch
+ihr zwischen den Füßen durch--eine Schildkröte. Jetzt tat
+Fräulein Rottenmeier einen Sprung in die Höhe, wie sie seit vielen
+Jahren keinen getan hatte, dann schrie sie aus Leibeskräften:
+"Sebastian! Sebastian!"
+</p>
+
+<p>
+Plötzlich hielt der Orgelspieler inne, denn diesmal hatte die
+Stimme die Musik übertönt. Sebastian stand draußen vor der halb
+offenen Tür und krümmte sich vor Lachen, denn er hatte zugesehen,
+wie der Sprung vor sich ging. Endlich kam er herein. Fräulein
+Rottenmeier war auf einen Stuhl niedergesunken.
+</p>
+
+<p>
+"Fort mit allem, Mensch und Tier! Schaffen Sie sie weg, Sebastian,
+sofort!", rief sie ihm entgegen. Sebastian gehorchte bereitwillig,
+zog den Jungen hinaus, der schnell seine Schildkröte erfasst hatte,
+drückte ihm draußen etwas in die Hand und sagte: "Vierzig für
+Fräulein Klara, und vierzig fürs Spielen, das hast du gut gemacht";
+damit schloss er hinter ihm die Haustür. Im Studierzimmer war es
+wieder ruhig geworden; die Studien wurden wieder fortgesetzt, und
+Fräulein Rottenmeier hatte sich nun auch festgesetzt in dem Zimmer,
+um durch ihre Gegenwart ähnliche Gräuel zu verhüten. Den Vorfall
+wollte sie nach den Unterrichtsstunden untersuchen und den
+Schuldigen so bestrafen, dass er daran denken würde.
+</p>
+
+<p>
+Schon wieder klopfte es an die Tür, und herein trat abermals
+Sebastian mit der Nachricht, es sei ein großer Korb gebracht worden,
+der sogleich an Fräulein Klara selbst abzugeben sei.
+</p>
+
+<p>
+"An mich?", fragte Klara erstaunt und äußerst neugierig, was das
+sein möchte; "zeigen Sie doch gleich einmal her, wie er aussieht."
+</p>
+
+<p>
+Sebastian brachte einen bedeckten Korb herein und entfernte sich
+dann eilig wieder.
+</p>
+
+<p>
+"Ich denke, erst wird der Unterricht beendet, dann der Korb
+ausgepackt", bemerkte Fräulein Rottenmeier.
+</p>
+
+<p>
+Klara konnte sich nicht vorstellen, was man ihr gebracht hatte; sie
+schaute sehr verlangend nach dem Korb.
+</p>
+
+<p>
+"Herr Kandidat", sagte sie, sich selbst in ihrem Deklinieren
+unterbrechend, "könnte ich nicht nur einmal schnell hineinsehen, um
+zu wissen, was drin ist, und dann gleich wieder fortfahren?"
+</p>
+
+<p>
+"In einer Hinsicht könnte man dafür, in einer anderen dawider sein",
+entgegnete der Herr Kandidat; "_dafür_ spräche der Grund, dass,
+wenn nun Ihre ganze Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand gerichtet
+ist--"; die Rede konnte nicht beendigt werden. Der Deckel des
+Korbes saß nur lose darauf, und nun sprangen mit einem Mal ein,
+zwei drei und wieder zwei und immer noch mehr junge Kätzchen
+darunter hervor und ins Zimmer hinaus, und mit einer so
+unbegreiflichen Schnelligkeit fuhren sie überall herum, dass es war,
+als wäre das ganze Zimmer voll solcher Tierchen. Sie sprangen
+über die Stiefel des Herrn Kandidaten, bissen an seinen
+Beinkleidern, kletterten am Kleid von Fräulein Rottenmeier empor,
+krabbelten um ihre Füße herum, sprangen an Klaras Sessel hinauf,
+kratzten, krabbelten, miauten; es war ein arges Gewirre. Klara
+rief immerfort voller Entzücken: "Oh, die niedlichen Tierchen! Die
+lustigen Sprünge! Sieh! Sieh! Heidi, hier, dort, sieh dieses!"
+Heidi schoss ihnen vor Freude in alle Winkel nach. Der Herr
+Kandidat stand sehr verlegen am Tisch und zog bald den einen, bald
+den andern Fuß in die Höhe, um ihn dem unheimlichen Gekrabbel zu
+entziehen. Fräulein Rottenmeier saß erst sprachlos vor Entsetzen
+in ihrem Sessel, dann fing sie an aus Leibeskräften zu schreien:
+"Tinette! Tinette! Sebastian! Sebastian!", denn vom Sessel
+aufzustehen konnte sie unmöglich wagen, da konnten ja mit einem Mal
+alle die kleinen Scheusale an ihr emporspringen.
+</p>
+
+<p>
+Endlich kamen Sebastian und Tinette auf die wiederholten Hilferufe
+herbei, und jener packte gleich eins nach dem andern der kleinen
+Geschöpfe in den Korb hinein und trug sie auf den Estrich zu dem
+Katzenlager, das er für die zwei von gestern bereitet hatte.
+</p>
+
+<p>
+Auch am heutigen Tage hatte kein Gähnen während der
+Unterrichtsstunden stattgefunden. Am späten Abend, als Fräulein
+Rottenmeier sich von den Aufregungen des Morgens wieder hinlänglich
+erholt hatte, berief sie Sebastian und Tinette ins Studierzimmer
+herauf, um hier eine gründliche Untersuchung über die strafwürdigen
+Vorgänge anzustellen. Nun kam es denn heraus, dass Heidi auf
+seinem gestrigen Ausflug die sämtlichen Ereignisse vorbereitet und
+herbeigeführt hatte. Fräulein Rottenmeier saß weiß vor Entrüstung
+da und konnte erst keine Worte für ihre Empfindungen finden. Sie
+winkte mit der Hand, dass Sebastian und Tinette sich entfernen
+sollten. Jetzt wandte sie sich an Heidi, das neben Klaras Sessel
+stand und nicht recht begriff, was es verbrochen hatte.
+</p>
+
+<p>
+"Adelheid", begann sie mit strengem Ton, "ich weiß nur _eine_
+Strafe, die dir empfindlich sein könnte, denn du bist eine Barbarin;
+aber wir wollen sehen, ob du unten im dunklen Keller bei Molchen
+und Ratten nicht zahm wirst, dass du dir keine solchen Dinge mehr
+einfallen lässt."
+</p>
+
+<p>
+Heidi hörte still und verwundert sein Urteil an, denn in einem
+schreckhaften Keller war es noch nie gewesen, der anstoßende Raum
+in der Almhütte, den der Großvater Keller nannte, wo immer die
+fertigen Käse lagen und die frische Milch stand, war eher ein
+anmutiger und einladender Ort, und Ratten und Molche hatte es noch
+keine gesehen.
+</p>
+
+<p>
+Aber Klara erhob einen lauten Jammer: "Nein, nein, Fräulein
+Rottenmeier, man muss warten, bis der Papa da ist; er hat ja
+geschrieben, er komme nun bald, und dann will ich ihm alles
+erzählen, und er sagt dann schon, was mit Heidi geschehen soll."
+</p>
+
+<p>
+Gegen diesen Oberrichter durfte Fräulein Rottenmeier nichts
+einwenden, umso weniger, da er wirklich in Bälde zu erwarten war.
+Sie stand auf und sagte etwas grimmig: "Gut, Klara, aber auch ich
+werde ein Wort mit Herrn Sesemann sprechen." Damit verließ sie das
+Zimmer.
+</p>
+
+<p>
+Es verflossen nun ein paar ungestörte Tage, aber Fräulein
+Rottenmeier kam nicht mehr aus der Aufregung heraus, stündlich trat
+ihr die Täuschung vor Augen, die sie in Heidis Persönlichkeit
+erlebt hatte, und es war ihr, als sei seit seiner Erscheinung im
+Hause Sesemann alles aus den Fugen gekommen und komme nicht wieder
+hinein. Klara war sehr vergnügt; sie langweilte sich nie mehr,
+denn in den Unterrichtsstunden machte Heidi die kurzweiligsten
+Sachen; die Buchstaben machte es immer alle durcheinander und
+konnte sie nie kennen lernen, und wenn der Herr Kandidat mitten im
+Erklären und Beschreiben ihrer Formen war, um sie ihm anschaulicher
+zu machen und als Vergleichung etwa von einem Hörnchen oder einem
+Schnabel sprach dabei, rief es auf einmal in aller Freude aus: "Es
+ist eine Geiß!", oder: "Es ist ein Raubvogel!" Denn die
+Beschreibungen weckten in seinem Gehirn allerlei Vorstellungen, nur
+keine Buchstaben. In den späteren Nachmittagsstunden saß Heidi
+wieder bei Klara und erzählte ihr immer wieder von der Alm und dem
+Leben dort, so viel und so lange, bis das Verlangen darnach in ihm
+so brennend wurde, dass es immer zum Schluss versicherte: "Nun muss
+ich gewiss wieder heim! Morgen muss ich gewiss gehen!" Aber Klara
+beschwichtigte immer wieder diese Anfälle und bewies Heidi, dass es
+doch sicher dableiben müsse, bis der Papa komme; dann werde man
+schon sehen, wie es weitergehe. Wenn Heidi alsdann immer wieder
+nachgab und gleich wieder zufrieden war, so half ihm eine fröhliche
+Aussicht dazu, die es im Stillen hatte, dass mit jedem Tage, den es
+noch dablieb, sein Häuflein Brötchen für die Großmutter wieder um
+zwei größer würde, denn mittags und abends lag immer ein schönes
+Weißbrötchen bei seinem Teller; das steckte es gleich ein, denn es
+hätte das Brötchen nie essen können beim Gedanken, dass die
+Großmutter nie eines habe und das harte, schwarze Brot fast nicht
+mehr essen konnte. Nach Tisch saß Heidi jeden Tag ein paar Stunden
+lang ganz allein in seinem Zimmer und regte sich nicht, denn dass
+es in Frankfurt verboten war, nur so hinauszulaufen, wie es auf der
+Alm getan, das hatte es nun begriffen und tat es nie mehr. Mit
+Sebastian drüben im Esszimmer ein Gespräch führen durfte es auch
+nicht, das hatte Fräulein Rottenmeier auch verboten, und mit
+Tinette eine Unterhaltung zu probieren, daran kam ihm kein Sinn; es
+ging ihr immer scheu aus dem Wege, denn sie redete nur in
+höhnischem Ton mit ihm und spöttelte es fortwährend an, und Heidi
+verstand ihre Art ganz gut, und dass sie es nur immer ausspottete.
+So saß Heidi täglich da und hatte alle Zeit, sich auszudenken, wie
+nun die Alm wieder grün war und wie die gelben Blümchen im
+Sonnenschein glitzerten und wie alles leuchtete rings um die Sonne,
+der Schnee und die Berge und das ganze weite Tal, und Heidi konnte
+es manchmal fast nicht mehr aushalten vor Verlangen, wieder dort zu
+sein. Die Base hatte ja auch gesagt, es könne wieder heimgehen,
+wann es wolle. So kam es, dass Heidi eines Tages es nicht mehr
+aushielt; es packte in aller Eile seine Brötchen in das große rote
+Halstuch zusammen, setzte sein Strohhütchen auf und zog aus. Aber
+schon unter der Haustür traf es auf ein großes Reisehindernis, auf
+Fräulein Rottenmeier selbst, die eben von einem Ausgang
+zurückkehrte. Sie stand still und schaute in starrem Erstaunen
+Heidi von oben bis unten an, und ihr Blick blieb vorzüglich auf dem
+gefüllten roten Halstuch haften. Jetzt brach sie los.
+</p>
+
+<p>
+"Was ist das für ein Aufzug? Was heißt das überhaupt? Habe ich
+dir nicht streng verboten, je wieder herumzustreichen? Nun
+probierst du's doch wieder und dazu noch völlig aussehend wie eine
+Landstreicherin."
+</p>
+
+<p>
+"Ich wollte nicht herumstreichen, ich wollte nur heimgehen",
+entgegnete Heidi erschrocken.
+</p>
+
+<p>
+"Wie? Was? Heimgehen? Heimgehen wolltest du?" Fräulein
+Rottenmeier schlug die Hände zusammen vor Aufregung. "Fortlaufen!
+Wenn das Herr Sesemann wüsste! Fortlaufen aus seinem Hause! Mach
+nicht, dass er das je erfährt! Und was ist dir denn nicht recht in
+seinem Hause? Wirst du nicht viel besser behandelt, als du
+verdienst? Fehlt es dir an irgendetwas? Hast du je in deinem
+ganzen Leben eine Wohnung oder einen Tisch oder eine Bedienung
+gehabt, wie du hier hast? Sag!"
+</p>
+
+<p>
+"Nein", entgegnete Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"Das weiß ich wohl!", fuhr die Dame eifrig fort. "Nichts fehlt dir,
+gar nichts, du bist ein ganz unglaublich undankbares Kind, und vor
+lauter Wohlsein weißt du nicht, was du noch alles anstellen willst!"
+</p>
+
+<p>
+Aber jetzt kam dem Heidi alles obenauf, was in ihm war, und brach
+hervor: "Ich will ja nur heim, und wenn ich so lang nicht komme, so
+muss das Schneehöppli immer klagen, und die Großmutter erwartet
+mich, und der Distelfink bekommt die Rute, wenn der Geißenpeter
+keinen Käse bekommt, und hier kann man gar nie sehen, wie die Sonne
+gute Nacht sagt zu den Bergen; und wenn der Raubvogel in Frankfurt
+obenüber fliegen würde, so würde er noch viel lauter krächzen, dass
+so viele Menschen beieinander sitzen und einander bös machen und
+nicht auf den Felsen gehen, wo es einem wohl ist."
+</p>
+
+<p>
+"Barmherzigkeit, das Kind ist übergeschnappt!", rief Fräulein
+Rottenmeier aus und stürzte mit Schrecken die Treppe hinauf, wo sie
+sehr unsanft gegen den Sebastian rannte, der eben hinunter wollte.
+"Holen Sie auf der Stelle das unglückliche Wesen herauf!", rief sie
+ihm zu, indem sie sich den Kopf rieb, denn sie war hart angestoßen.
+</p>
+
+<p>
+"Ja, ja, schon recht, danke schön", gab Sebastian zurück und rieb
+sich den seinen, denn er war noch härter angefahren.
+</p>
+
+<p>
+Heidi stand mit flammenden Augen noch auf derselben Stelle fest und
+zitterte vor innerer Erregung am ganzen Körper.
+</p>
+
+<p>
+"Na, schon wieder was angestellt?", fragte Sebastian lustig; als er
+aber Heidi, das sich nicht rührte, recht ansah, klopfte er ihm
+freundlich auf die Schulter und sagte tröstend: "Pah! Pah! Das
+muss sich das Mamsellchen nicht so zu Herzen nehmen, nur lustig,
+das ist die Hauptsache! Sie hat mir eben jetzt auch fast ein Loch
+in den Kopf gerannt; aber nur nicht einschüchtern lassen! Na?
+Immer noch auf demselben Fleck? Wir müssen hinauf, sie hat's
+befohlen."
+</p>
+
+<p>
+Heidi ging nun die Treppe hinauf, aber langsam und leise und gar
+nicht, wie sonst seine Art war. Das tat dem Sebastian Leid zu
+sehen; er ging hinter dem Heidi her und sprach ermutigende Worte zu
+ihm: "Nur nicht abgeben! Nur nicht traurig werden! Nur immer
+tapfer darauf zu! Wir haben ja ein ganz vernünftiges Mamsellchen,
+hat noch gar nie geweint, seit es bei uns ist; sonst weinen sie ja
+zwölfmal im Tag in dem Alter, das kennt man. Die Kätzchen sind
+auch lustig droben, die springen auf dem ganzen Estrich herum und
+tun wie närrisch. Nachher gehen wir mal zusammen hinauf und
+schauen ihnen zu, wenn die Dame drinnen weg ist, ja?"
+</p>
+
+<p>
+Heidi nickte ein wenig mit dem Kopf, aber so freudlos, dass es dem
+Sebastian recht zu Herzen ging und er ganz teilnehmend dem Heidi
+nachschaute, wie es nach seinem Zimmer hin schlich.
+</p>
+
+<p>
+Am Abendessen heute sagte Fräulein Rottenmeier kein Wort, aber
+fortwährend warf sie sonderbar wachsame Blicke zu Heidi hinüber, so
+als erwartete sie, es könnte plötzlich etwas Unerhörtes unternehmen;
+aber Heidi saß mäuschenstill am Tisch und rührte sich nicht, es aß
+nicht und trank nicht; nur sein Brötchen hatte es schnell in die
+Tasche gesteckt.
+</p>
+
+<p>
+Am folgenden Morgen, als der Herr Kandidat die Treppe heraufkam,
+winkte ihn Fräulein Rottenmeier geheimnisvoll ins Esszimmer herein,
+und hier teilte sie ihm in großer Aufregung ihre Besorgnis mit, die
+Luftveränderung, die neue Lebensart und die ungewohnten Eindrücke
+hätten das Kind um den Verstand gebracht, und sie erzählte ihm von
+Heidis Fluchtversuch und wiederholte ihm von seinen sonderbaren
+Reden, was sie noch wusste. Aber der Herr Kandidat besänftigte und
+beruhigte Fräulein Rottenmeier, indem er sie versicherte, dass er
+die Wahrnehmung gemacht habe, die Adelheid sei zwar einerseits
+allerdings eher exzentrisch, aber anderseits doch wieder bei
+richtigem Verstand, so dass sich nach und nach bei einer allseitig
+erwogenen Behandlung das nötige Gleichgewicht einstellen könne, was
+er im Auge habe; er finde den Umstand wichtiger, dass er durchaus
+nicht über das Abc hinauskomme mit ihr, indem sie die Buchstaben
+nicht zu fassen imstande sei.
+</p>
+
+<p>
+Fräulein Rottenmeier fühlte sich beruhigter und entließ den Herrn
+Kandidaten zu seiner Arbeit. Am späteren Nachmittag stieg ihr die
+Erinnerung an Heidis Aufzug bei seiner vorgehabten Abreise auf, und
+sie beschloss, die Gewandung des Kindes durch verschiedene
+Kleidungsstücke der Klara in den nötigen Stand zu setzen, bevor
+Herr Sesemann erscheinen würde. Sie teilte ihre Gedanken darüber
+an Klara mit, und da diese mit allem einverstanden war und dem
+Heidi eine Menge Kleider und Tücher und Hüte schenken wollte,
+verfügte sich die Dame in Heidis Zimmer, um seinen Kleiderschrank
+zu besehen und zu untersuchen, was da von dem Vorhandenen bleiben
+und was entfernt werden solle. Aber in wenig Minuten kam sie
+wieder zurück mit Gebärden des Abscheus. "Was muss ich entdecken,
+Adelheid!", rief sie aus. "Es ist nie dagewesen! In deinem
+Kleiderschrank, einem Schrank für Kleider, Adelheid, im Fuß dieses
+Schrankes, was finde ich? Einen Haufen kleiner Brote! Brot, sage
+ich, Klara, im Kleiderschrank! Und einen solchen Haufen
+aufspeichern!"--"Tinette", rief sie jetzt ins Esszimmer hinaus,
+"schaffen Sie mir das alte Brot fort aus dem Schrank der Adelheid
+und den zerdrückten Strohhut auf dem Tisch!"
+</p>
+
+<p>
+"Nein! Nein!", schrie Heidi auf; "ich muss den Hut haben, und die
+Brötchen sind für die Großmutter", und Heidi wollte der Tinette
+nachstürzen, aber es wurde von Fräulein Rottenmeier festgehalten.
+</p>
+
+<p>
+"Du bleibst hier und der Kram wird hingebracht, wo er hingehört",
+sagte sie bestimmt und hielt das Kind zurück. Aber nun warf sich
+Heidi an Klaras Sessel nieder und fing ganz verzweiflungsvoll zu
+weinen an, immer lauter und schmerzlicher, und schluchzte ein Mal
+ums andere in seinem Jammer auf: "Nun hat die Großmutter keine
+Brötchen mehr. Sie waren für die Großmutter, nun sind sie alle
+fort und die Großmutter bekommt keine!", und Heidi weinte auf, als
+wollte ihm das Herz zerspringen. Fräulein Rottenmeier lief hinaus.
+Klara wurde es angst und bange bei dem Jammer. "Heidi, Heidi,
+weine nur nicht so", sagte sie bittend, "hör mich nur! Jammere nur
+nicht so, sieh, ich verspreche dir, ich gebe dir gerade so viel
+Brötchen für die Großmutter, oder noch mehr, wenn du einmal
+heimgehst, und dann sind diese frisch und weich, und die deinen
+wären ja ganz hart geworden und waren es schon. Komm, Heidi, weine
+nur nicht mehr so!"
+</p>
+
+<p>
+Heidi konnte noch lange nicht aus seinem Schluchzen herauskommen;
+aber es verstand Klaras Trost und hielt sich daran, sonst hätte es
+gar nicht mehr zu weinen aufhören können. Es musste auch noch
+mehrere Male seiner Hoffnung gewiss werden und Klara, durch die
+letzten Anfälle von Schluchzen unterbrochen, fragen: "Gibst du mir
+so viele, viele, wie ich hatte, für die Großmutter?"
+</p>
+
+<p>
+Und Klara versicherte immer wieder: "Gewiss, ganz gewiss, noch mehr,
+sei nur wieder froh!"
+</p>
+
+<p>
+Noch zum Abendtisch kam Heidi mit den rot verweinten Augen, und als
+es sein Brötchen erblickte, musste es gleich noch einmal
+aufschluchzen. Aber es bezwang sich jetzt mit Gewalt, denn es
+verstand, dass es sich am Tisch ruhig verhalten musste. Sebastian
+machte heute jedes Mal die merkwürdigsten Gebärden, wenn er in
+Heidis Nähe kam; er deutete bald auf seinen, bald auf Heidis Kopf,
+dann nickte er wieder und kniff die Augen zu, so als wollte er
+sagen: "Nur getrost! Ich hab's schon gemerkt und besorgt."
+</p>
+
+<p>
+Als Heidi später in sein Zimmer kam und in sein Bett steigen wollte,
+lag sein zerdrücktes Strohhütchen unter der Decke versteckt. Mit
+Entzücken zog es den alten Hut hervor, zerdrückte ihn vor lauter
+Freude noch ein wenig mehr und versteckte ihn dann, in ein
+Taschentüchlein eingewickelt, in die allerhinterste Ecke seines
+Schrankes. Das Hütchen hatte der Sebastian unter die Decke
+gesteckt; er war zu gleicher Zeit mit Tinette im Esszimmer gewesen,
+als diese gerufen wurde, und hatte Heidis Jammerruf vernommen.
+Dann war er Tinette nachgegangen, und als sie aus Heidis Zimmer
+heraustrat mit ihrer Brotlast und dem Hütchen oben darauf, hatte er
+schnell dieses weggenommen und ihr zugerufen: "Das will ich schon
+forttun." Darauf hatte er es in aller Freude für Heidi gerettet,
+was er ihm beim Abendessen zur Erheiterung andeuten wollte.
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap09"></a>
+Der Hausherr hört allerlei in seinem Hause,<br />
+das er noch nicht gehört hat
+</h3>
+
+<p>
+Einige Tage nach diesen Ereignissen war im Hause Sesemann große
+Lebendigkeit und ein eifriges Treppauf- und Treppabrennen, denn
+eben war der Hausherr von seiner Reise zurückgekehrt, und aus dem
+bepackten Wagen wurde von Sebastian und Tinette eine Last nach der
+anderen hinaufgetragen, denn Herr Sesemann brachte immer eine Menge
+schöner Sachen mit nach Hause.
+</p>
+
+<p>
+Er selbst war vor allem in das Zimmer seiner Tochter eingetreten,
+um sie zu begrüßen. Heidi saß bei ihr, denn es war die Zeit des
+späten Nachmittags, da die beiden immer zusammen waren. Klara
+begrüßte ihren Vater mit großer Zärtlichkeit, denn sie liebte ihn
+sehr, und der gute Papa grüßte sein Klärchen nicht weniger
+liebevoll. Dann streckte er seine Hand dem Heidi entgegen, das
+sich leise in eine Ecke zurückgezogen hatte, und sagte freundlich:
+"Und das ist unsre kleine Schweizerin; komm her, gib mir mal eine
+Hand! So ist's recht! Nun sag mir mal, seid ihr auch gute Freunde
+zusammen, Klara und du? Nicht zanken und böse werden, und dann
+weinen und dann versöhnen, und dann wieder von vorn anfangen, nun?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, Klara ist immer gut mit mir", entgegnete Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"Und Heidi hat auch noch gar nie versucht zu zanken, Papa", warf
+Klara schnell ein.
+</p>
+
+<p>
+"So ist's gut, das hör ich gern", sagte der Papa, indem er aufstand.
+"Nun musst du aber erlauben, Klärchen, dass ich etwas genieße;
+heute habe ich noch nichts bekommen. Nachher komm ich wieder zu
+dir und du sollst sehen, was ich mitgebracht habe!"
+</p>
+
+<p>
+Herr Sesemann trat ins Esszimmer ein, wo Fräulein Rottenmeier den
+Tisch überschaute, der für sein Mittagsmahl gerüstet war. Nachdem
+Herr Sesemann sich niedergelassen und die Dame ihm gegenüber Platz
+genommen hatte und aussah wie ein lebendiges Missgeschick, wandte
+sich der Hausherr zu ihr: "Aber Fräulein Rottenmeier, was muss ich
+denken? Sie haben zu meinem Empfang ein wahrhaft erschreckendes
+Gesicht aufgesetzt. Wo fehlt es denn? Klärchen ist ganz munter."
+</p>
+
+<p>
+"Herr Sesemann", begann die Dame mit gewichtigem Ernst, "Klara ist
+mit betroffen, wir sind fürchterlich getäuscht worden."
+</p>
+
+<p>
+"Wieso?", fragte Herr Sesemann und trank in aller Ruhe einen
+Schluck Wein.
+</p>
+
+<p>
+"Wir hatten ja beschlossen, wie Sie wissen, Herr Sesemann, eine
+Gespielin für Klara ins Haus zu nehmen, und da ich ja weiß, wie
+sehr Sie darauf halten, dass nur Gutes und Edles Ihre Tochter
+umgebe, hatte ich meinen Sinn auf ein junges Schweizermädchen
+gerichtet, indem ich hoffte, eines jener Wesen bei uns eintreten zu
+sehen, von denen ich schon so oft gelesen, welche, der reinen
+Bergluft entsprossen, sozusagen, ohne die Erde zu berühren, durch
+das Leben gehen."
+</p>
+
+<p>
+"Ich glaube zwar", bemerkte hier Herr Sesemann, "dass auch die
+Schweizerkinder den Erdboden berühren, wenn sie vorwärts kommen
+wollen; sonst wären ihnen wohl Flügel gewachsen statt der Füße."
+</p>
+
+<p>
+"Ach, Herr Sesemann, Sie verstehen mich wohl", fuhr das Fräulein
+fort; "Ich meinte eine jener so bekannten, in den hohen, reinen
+Bergregionen lebenden Gestalten, die nur wie ein idealer Hauch an
+uns vorüberziehen."
+</p>
+
+<p>
+"Was sollte aber meine Klara mit einem idealen Hauch anfangen,
+Fräulein Rottenmeier?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, Herr Sesemann, ich scherze nicht, die Sache ist mir ernster,
+als Sie denken; ich bin schrecklich, wirklich ganz schrecklich
+getäuscht worden."
+</p>
+
+<p>
+"Aber worin liegt denn das Schreckliche? So gar erschrecklich
+sieht mir das Kind nicht aus", bemerkte ruhig Herr Sesemann.
+</p>
+
+<p>
+"Sie sollten nur _eines_ wissen, Herr Sesemann, nur das _eine_, mit
+was für Menschen und Tieren dieses Wesen Ihr Haus in Ihrer
+Abwesenheit bevölkert hat; davon könnte der Herr Kandidat erzählen."
+</p>
+
+<p>
+"Mit Tieren? Wie muss ich das verstehen, Fräulein Rottenmeier?"
+</p>
+
+<p>
+"Es ist eben nicht zu verstehen; die ganze Aufführung dieses Wesens
+wäre nicht zu verstehen, wenn nicht aus dem _einen_ Punkte, dass es
+Anfälle von völliger Verstandesgestörtheit hat."
+</p>
+
+<p>
+Bis hierher hatte Herr Sesemann die Sache nicht für wichtig
+gehalten; aber Gestörtheit des Verstandes? Eine solche konnte ja
+für seine Tochter die bedenklichsten Folgen haben. Herr Sesemann
+schaute Fräulein Rottenmeier sehr genau an, so, als wollte er sich
+erst versichern, ob nicht etwa bei ihr eine derartige Störung zu
+bemerken sei. In diesem Augenblick wurde die Tür aufgetan und der
+Herr Kandidat angemeldet.
+</p>
+
+<p>
+"Ah, da kommt unser Herr Kandidat, der wird uns Aufschluss geben!",
+rief ihm Herr Sesemann entgegen. "Kommen Sie, kommen Sie, setzen
+Sie sich zu mir!" Herr Sesemann streckte dem Eintretenden die Hand
+entgegen. "Der Herr Kandidat trinkt eine Tasse schwarzen Kaffee
+mit mir, Fräulein Rottenmeier! Setzen Sie sich, setzen Sie sich--
+keine Komplimente! Und nun sagen Sie mir, Herr Kandidat, was ist
+mit dem Kinde, das als Gespielin meiner Tochter ins Haus gekommen
+ist und das Sie unterrichten. Was hat es für eine Bewandtnis mit
+den Tieren, die es ins Haus gebracht, und wie steht es mit seinem
+Verstand?"
+</p>
+
+<p>
+Der Herr Kandidat musste erst seine Freude über Herrn Sesemanns
+glückliche Rückkehr aussprechen und ihn willkommen heißen, weswegen
+er ja gekommen war; aber Herr Sesemann drängte ihn, dass er ihm
+Aufschluss gebe über die fraglichen Punkte. So begann denn der
+Herr Kandidat: "Wenn ich mich über das Wesen dieses jungen Mädchens
+aussprechen soll, Herr Sesemann, so möchte ich vor allem darauf
+aufmerksam machen, dass, wenn auch auf der einen Seite sich ein
+Mangel der Entwicklung, welcher durch eine mehr oder weniger
+vernachlässigte Erziehung, oder besser gesagt, etwas verspäteten
+Unterricht verursacht und durch die mehr oder weniger, jedoch
+durchaus nicht in jeder Beziehung zu verurteilende, im Gegenteil
+ihre guten Seiten unstreitig dartuende Abgeschiedenheit eines
+längeren Alpenaufenthalts, welcher, wenn er nicht eine gewisse
+Dauer überschreitet, ja ohne Zweifel seine gute Seite--"
+</p>
+
+<p>
+"Mein lieber Herr Kandidat", unterbrach hier Herr Sesemann, "Sie
+geben sich wirklich zu viel Mühe; sagen Sie mir, hat auch Ihnen das
+Kind einen Schrecken beigebracht durch eingeschleppte Tiere, und
+was halten Sie überhaupt von diesem Umgang für mein Töchterchen?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich möchte dem jungen Mädchen in keiner Art zu nahe treten",
+begann der Herr Kandidat wieder, "denn wenn es auch auf der einen
+Seite in einer Art von gesellschaftlicher Unerfahrenheit, welche
+mit dem mehr oder weniger unkultivierten Leben, in welchem das
+junge Mädchen bis zu dem Augenblick seiner Versetzung nach
+Frankfurt sich bewegte, welche Versetzung allerdings in die
+Entwicklung dieses, ich möchte sagen noch völlig, wenigstens
+teilweise unentwickelten, aber anderseits mit nicht zu verachtenden
+Anlagen begabten und wenn allseitig umsichtig geleitet--"
+</p>
+
+<p>
+"Entschuldigen Sie, Herr Kandidat, bitte, lassen Sie sich nicht
+stören, ich werde--ich muss schnell einmal nach meiner Tochter
+sehen." Damit lief Herr Sesemann zur Tür hinaus und kam nicht
+wieder. Drüben im Studierzimmer setzte er sich zu seinem
+Töchterchen hin; Heidi war aufgestanden. Herr Sesemann wandte sich
+nach dem Kinde um: "Hör mal, Kleine, hol mir doch schnell--wart
+einmal--hol mir mal"--(Herr Sesemann wusste nicht recht, was er
+bedurfte, Heidi sollte aber ein wenig ausgeschickt werden)--"hol
+mir doch mal ein Glas Wasser."
+</p>
+
+<p>
+"Frisches?", fragte Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"Jawohl! Jawohl! Recht frisches!", gab Herr Sesemann zurück.
+Heidi verschwand.
+</p>
+
+<p>
+"Nun, mein liebes Klärchen", sagte der Papa, indem er ganz nah an
+sein Töchterchen heranrückte und dessen Hand in die seinige legte,
+"sag du mir klar und fasslich: Was für Tiere hat diese deine
+Gespielin ins Haus gebracht und warum muss Fräulein Rottenmeier
+denken, sie sei zeitweise nicht ganz recht im Kopf; kannst du mir
+das sagen?"
+</p>
+
+<p>
+Das konnte Klara, denn die erschrockene Dame hatte auch ihr von
+Heidis sich verwirrenden Reden gesprochen, die aber für Klara alle
+einen Sinn hatten. Sie erzählte erst dem Vater die Geschichten von
+der Schildkröte und den jungen Katzen und erklärte ihm dann Heidis
+Reden, welche die Dame so erschreckt hatten. Jetzt lachte Herr
+Sesemann herzlich. "So willst du nicht, dass ich das Kind nach
+Haus schicke, Klärchen, du bist seiner nicht müde?", fragte der
+Vater.
+</p>
+
+<p>
+"Nein, nein, Papa, tu nur das nicht!", rief Klara abwehrend aus.
+"Seit Heidi da ist, begegnet immer etwas, jeden Tag, und es ist so
+kurzweilig, ganz anders als vorher, da begegnete nie etwas, und
+Heidi erzählt mir auch so viel."
+</p>
+
+<p>
+"Schon gut, schon gut, Klärchen, da kommt ja auch deine Freundin
+schon wieder. Na, schönes, frisches Wasser geholt?", fragte Herr
+Sesemann, da ihm Heidi nun ein Glas Wasser hinstreckte.
+</p>
+
+<p>
+"Ja, frisch vom Brunnen", antwortete Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"Du bist doch nicht selbst zum Brunnen gelaufen, Heidi?", sagte
+Klara.
+</p>
+
+<p>
+"Doch gewiss, es ist ganz frisch, aber ich musste weit gehen, denn
+am ersten Brunnen waren so viele Leute. Da ging ich die Straße
+ganz hinab, aber beim zweiten waren wieder so viele Leute; da ging
+ich in die andere Straße hinein und dort nahm ich Wasser, und der
+Herr mit den weißen Haaren lässt Herrn Sesemann freundlich grüßen."
+</p>
+
+<p>
+"Na, die Expedition ist gut", lachte Herr Sesemann, "und wer ist
+denn der Herr?"
+</p>
+
+<p>
+"Er kam beim Brunnen vorbei und dann stand er still und sagte:
+'Weil du doch ein Glas hast, so gib mir auch einmal zu
+trinken; wem bringst du dein Glas Wasser?' Und ich sagte:
+'Herrn Sesemann.' Da lachte er sehr stark, und dann
+sagte er den Gruß und auch noch, Herr Sesemann solle sich's
+schmecken lassen."
+</p>
+
+<p>
+"So, und wer lässt mir denn wohl den guten Wunsch sagen? Wie sah
+der Herr denn weiter aus?", fragte Herr Sesemann.
+</p>
+
+<p>
+"Er lacht freundlich und hat eine dicke goldene Kette und ein
+goldenes Ding hängt daran mit einem großen roten Stein und auf
+seinem Stock ist ein Rosskopf."
+</p>
+
+<p>
+"Das ist der Herr Doktor"--"Das ist mein alter Doktor", sagten
+Klara und ihr Vater wie aus einem Munde, und Herr Sesemann lachte
+noch ein wenig in sich hinein im Gedanken an seinen Freund und
+dessen Betrachtungen über diese neue Weise, seinen Wasserbedarf
+sich zuführen zu lassen.
+</p>
+
+<p>
+Noch an demselben Abend erklärte Herr Sesemann, als er allein mit
+Fräulein Rottenmeier im Esszimmer saß, um allerlei häusliche
+Angelegenheiten mit ihr zu besprechen, die Gespielin seiner Tochter
+werde im Hause bleiben; er finde, das Kind sei in einem normalen
+Zustand, und seine Gesellschaft sei seiner Tochter sehr lieb und
+angenehmer als jede andere. "Ich wünsche daher", setzte Herr
+Sesemann sehr bestimmt hinzu, "dass dieses Kind jederzeit durchaus
+freundlich behandelt und seine Eigentümlichkeiten nicht als
+Vergehen betrachtet werden. Sollten Sie übrigens mit dem Kinde
+nicht allein fertig werden, Fräulein Rottenmeier, so ist ja eine
+gute Hilfe für Sie in Aussicht, da in nächster Zeit meine Mutter zu
+ihrem längeren Aufenthalt in mein Haus kommt, und meine Mutter wird
+mit jedem Menschen fertig, wie er sich auch anstelle, das wissen
+Sie ja wohl, Fräulein Rottenmeier?"
+</p>
+
+<p>
+"Jawohl, das weiß ich, Herr Sesemann", entgegnete die Dame, aber
+nicht mit dem Ausdruck der Erleichterung im Hinblick auf die
+angezeigte Hilfe.--
+</p>
+
+<p>
+Herr Sesemann hatte diesmal nur eine kurze Zeit Ruhe zu Hause,
+schon nach vierzehn Tagen riefen ihn seine Geschäfte wieder nach
+Paris, und er tröstete sein Töchterchen, das mit der nahen Abreise
+nicht einverstanden war, mit der Aussicht auf die baldige Ankunft
+der Großmama, die schon nach einigen Tagen erwartet werden konnte.
+</p>
+
+<p>
+Kaum war auch Herr Sesemann abgereist, als schon der Brief anlangte,
+der die Abreise der Frau Sesemann aus Holstein, wo sie auf einem
+alten Gute wohnte, anzeigte und die bestimmte Zeit ihrer Ankunft
+auf den folgenden Tag meldete, damit der Wagen nach dem Bahnhof
+geschickt würde, um sie abzuholen.
+</p>
+
+<p>
+Klara war voller Freude über die Nachricht und erzählte noch an
+demselben Abend dem Heidi so viel und so lange von der Großmama,
+dass Heidi auch anfing, von der 'Großmama' zu reden,
+worauf Fräulein Rottenmeier Heidi mit Missbilligung anblickte, was
+aber das Kind auf nichts Besonderes bezog, denn es fühlte sich
+unter fortdauernder Missbilligung der Dame. Als es sich dann
+später entfernte, um in sein Schlafzimmer zu gehen, berief Fräulein
+Rottenmeier es erst in das ihrige herein und erklärte ihm hier, es
+habe niemals den Namen 'Großmama' anzuwenden, sondern
+wenn Frau Sesemann nun da sei, habe es sie stets 'gnädige
+Frau' anzureden. "Verstehst du das?", fragte die Dame, als
+Heidi sie etwas zweifelhaft ansah; sie gab ihm aber einen so
+abschließenden Blick zurück, dass Heidi sich keine Erklärung mehr
+erbat, obschon es den Titel nicht verstanden hatte.
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap10"></a>
+Eine Großmama
+</h3>
+
+<p>
+Am folgenden Abend waren große Erwartungen und lebhafte
+Vorbereitungen im Hause Sesemann sichtbar, man konnte deutlich
+bemerken, dass die erwartete Dame ein bedeutendes Wort im Hause
+mitzusprechen hatte und dass jedermann großen Respekt vor ihr
+empfand. Tinette hatte ein ganz neues, weißes Deckelchen auf den
+Kopf gesetzt, und Sebastian raffte eine Menge von Schemeln zusammen
+und stellte sie an alle passenden Stellen hin, damit die Dame
+gleich einen Schemel unter den Füßen finde, wohin sie sich auch
+setzen möge. Fräulein Rottenmeier ging zur Musterung der Dinge
+sehr aufrecht durch die Zimmer, so wie um anzudeuten, dass, wenn
+auch eine zweite Herrschermacht herannahe, die ihrige dennoch nicht
+am Erlöschen sei.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt rollte der Wagen vor das Haus, und Sebastian und Tinette
+stürzten die Treppe hinunter; langsam und würdevoll folgte Fräulein
+Rottenmeier nach, denn sie wusste, dass auch sie zum Empfang der
+Frau Sesemann zu erscheinen hatte. Heidi war beordert worden, sich
+in sein Zimmer zurückzuziehen und da zu warten, bis es gerufen
+würde, denn die Großmutter würde zuerst bei Klara eintreten und
+diese wohl allein sehen wollen. Heidi setzte sich in einen Winkel
+und repetierte seine Anrede. Es währte gar nicht lange, so steckte
+die Tinette den Kopf ein klein wenig unter Heidis Zimmertür und
+sagte kurz angebunden wie immer: "Hinübergehen ins Studierzimmer!"
+</p>
+
+<p>
+Heidi hatte Fräulein Rottenmeier nicht fragen dürfen, wie es mit
+der Anrede sei, aber es dachte, die Dame habe sich nur versprochen,
+denn es hatte bis jetzt immer erst den Titel nennen gehört und
+nachher den Namen; so hatte es sich nun die Sache zurechtgelegt.
+Wie es die Tür zum Studierzimmer aufmachte, rief ihm die Großmutter
+mit freundlicher Stimme entgegen: "Ah, da kommt ja das Kind! Komm
+mal her zu mir und lass dich recht ansehen."
+</p>
+
+<p>
+Heidi trat heran, und mit seiner klaren Stimme sagte es sehr
+deutlich: "Guten Tag, Frau Gnädige."
+</p>
+
+<p>
+"Warum nicht gar!", lachte die Großmama. "Sagt man so bei euch?
+Hast du das daheim auf der Alp gehört?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, bei uns heißt niemand so", erklärte Heidi ernsthaft.
+</p>
+
+<p>
+"So, bei uns auch nicht", lachte die Großmama wieder und klopfte
+Heidi freundlich auf die Wange. "Das ist nichts! In der
+Kinderstube bin ich die Großmama; so sollst du mich nennen, das
+kannst du wohl behalten, wie?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja, das kann ich gut", versicherte Heidi, "vorher hab ich schon
+immer so gesagt."
+</p>
+
+<p>
+"So, so, verstehe schon!", sagte die Großmama und nickte ganz
+lustig mit dem Kopfe. Dann schaute sie Heidi genau an und nickte
+von Zeit zu Zeit wieder mit dem Kopf, und Heidi guckte ihr auch
+ganz ernsthaft in die Augen, denn da kam etwas so Herzliches heraus,
+dass es dem Heidi ganz wohl machte, und die ganze Großmama gefiel
+dem Heidi so, dass es sie unverwandt anschauen musste. Sie hatte
+so schöne weiße Haare, und um den Kopf ging eine schöne
+Spitzenkrause, und zwei breite Bänder flatterten von der Haube weg
+und bewegten sich immer irgendwie, so als ob stets ein leichter
+Wind um die Großmama wehe, was das Heidi ganz besonders anmutete.
+</p>
+
+<p>
+"Und wie heißt du, Kind?", fragte jetzt die Großmama.
+</p>
+
+<p>
+"Ich heiße nur Heidi; aber weil ich soll Adelheid heißen, so will
+ich schon Acht geben--"; Heidi stockte, denn es fühlte sich ein
+wenig schuldig, da es noch immer keine Antwort gab, wenn Fräulein
+Rottenmeier unversehens rief: "Adelheid!", indem es ihm noch immer
+nicht recht gegenwärtig war, dass dies sein Name sei, und Fräulein
+Rottenmeier war eben ins Zimmer getreten.
+</p>
+
+<p>
+"Frau Sesemann wird unstreitig billigen", fiel hier die eben
+Eingetretene ein, "dass ich einen Namen wählen musste, den man doch
+aussprechen kann, ohne sich selbst genieren zu müssen, schon um der
+Dienstboten willen."
+</p>
+
+<p>
+"Werteste Rottenmeier", entgegnete Frau Sesemann, "wenn ein Mensch
+einmal 'Heidi' heißt und an den Namen gewöhnt ist, so
+nenn ich ihn so, und dabei bleibt's!"
+</p>
+
+<p>
+Es war Fräulein Rottenmeier sehr genierlich, dass die alte Dame sie
+beständig nur bei ihrem Namen nannte, ohne weitere Titulatur; aber
+da war nichts zu machen; die Großmama hatte einmal ihre eigenen
+Wege, und diese ging sie, da half kein Mittel dagegen. Auch ihre
+fünf Sinne hatte die Großmama noch ganz scharf und gesund, und sie
+bemerkte, was im Hause vorging, sobald sie es betreten hatte.
+</p>
+
+<p>
+Als am Tage nach ihrer Ankunft Klara sich zur gewohnten Zeit nach
+Tisch niederlegte, setzte die Großmama sich neben sie auf einen
+Lehnstuhl und schloss ihre Augen für einige Minuten; dann stand sie
+schon wieder auf--denn sie war gleich wieder munter--und trat ins
+Esszimmer hinaus; da war niemand. "Die schläft", sagte sie vor
+sich hin, ging dann nach dem Zimmer der Dame Rottenmeier und
+klopfte kräftig an die Tür. Nach einiger Zeit erschien diese und
+fuhr erschrocken ein wenig zurück bei dem unerwarteten Besuch.
+</p>
+
+<p>
+"Wo hält sich das Kind auf um diese Zeit, und was tut es? Das
+wollte ich wissen", sagte Frau Sesemann.
+</p>
+
+<p>
+"In seinem Zimmer sitzt es, wo es sich nützlich beschäftigen könnte,
+wenn es den leisesten Tätigkeitstrieb hätte; aber Frau Sesemann
+sollte nur wissen, was für verkehrtes Zeug sich dieses Wesen oft
+ausdenkt und wirklich ausführt, Dinge, die ich in gebildeter
+Gesellschaft kaum erzählen könnte."
+</p>
+
+<p>
+"Das würde ich gerade auch tun, wenn ich so da drinnen säße wie
+dieses Kind, das kann ich Ihnen sagen, und Sie könnten zusehen, wie
+Sie mein Zeug in gebildeter Gesellschaft erzählen wollten! Jetzt
+holen Sie mir das Kind heraus und bringen Sie mir's in meine Stube,
+ich will ihm einige hübsche Bücher geben, die ich mitgebracht habe."
+</p>
+
+<p>
+"Das ist ja gerade das Unglück, das ist es ja eben!", rief Fräulein
+Rottenmeier aus und schlug die Hände zusammen. "Was sollte das
+Kind mit Büchern tun? In all dieser Zeit hat es noch nicht einmal
+das Abc erlernt; es ist völlig unmöglich, diesem Wesen auch nur
+_einen_ Begriff beizubringen, davon kann der Herr Kandidat reden!
+Wenn dieser treffliche Mensch nicht die Geduld eines himmlischen
+Engels besäße, er hätte diesen Unterricht längst aufgegeben."
+</p>
+
+<p>
+"So, das ist merkwürdig, das Kind sieht nicht aus wie eines, das
+das Abc nicht erlernen kann", sagte Frau Sesemann. "Jetzt holen
+Sie mir's herüber, es kann vorläufig die Bilder in den Büchern
+ansehen."
+</p>
+
+<p>
+Fräulein Rottenmeier wollte noch einiges bemerken, aber Frau
+Sesemann hatte sich schon umgewandt und ging rasch ihrem Zimmer zu.
+Sie musste sich sehr verwundern über die Nachricht von Heidis
+Beschränktheit und gedachte, die Sache zu untersuchen, jedoch nicht
+mit dem Herrn Kandidaten, den sie zwar um seines guten Charakters
+willen sehr schätzte; sie grüßte ihn auch immer, wenn sie mit ihm
+zusammentraf, überaus freundlich, lief dann aber sehr schnell auf
+eine andere Seite, um nicht in ein Gespräch mit ihm verwickelt zu
+werden, denn seine Ausdrucksweise war ihr ein wenig beschwerlich.
+</p>
+
+<p>
+Heidi erschien im Zimmer der Großmama und machte die Augen weit auf,
+als es die prächtigen bunten Bilder in den großen Büchern sah,
+welche die Großmama mitgebracht hatte. Auf einmal schrie Heidi
+laut auf, als die Großmama wieder ein Blatt umgewandt hatte; mit
+glühendem Blick schaute es auf die Figuren, dann stürzten ihm
+plötzlich die hellen Tränen aus den Augen, und es fing gewaltig zu
+schluchzen an. Die Großmama schaute das Bild an. Es war eine
+schöne, grüne Weide, wo allerlei Tierlein herumweideten und an den
+grünen Gebüschen nagten. In der Mitte stand der Hirt, auf einen
+langen Stab gestützt, der schaute den fröhlichen Tierchen zu.
+Alles war wie in Goldschimmer gemalt, denn hinten am Horizont war
+eben die Sonne im Untergehen.
+</p>
+
+<p>
+Die Großmama nahm Heidi bei der Hand. "Komm, komm, Kind", sagte
+sie in freundlichster Weise, "nicht weinen, nicht weinen. Das hat
+dich wohl an etwas erinnert; aber sieh, da ist auch eine schöne
+Geschichte dazu, die erzähl ich heut Abend. Und da sind noch so
+viele schöne Geschichten in dem Buch, die kann man alle lesen und
+wieder erzählen. Komm, nun müssen wir etwas besprechen zusammen,
+trockne schön deine Tränen, so, und nun stell dich hier vor mich
+hin, dass ich dich recht ansehen kann; so ist's recht, nun sind wir
+wieder fröhlich."
+</p>
+
+<p>
+Aber noch verging einige Zeit, bevor Heidi zu schluchzen aufhören
+konnte. Die Großmama ließ ihm auch eine gute Weile zur Erholung,
+nur sagte sie von Zeit zu Zeit ermunternd: "So, nun ist's gut, nun
+sind wir wieder froh zusammen."
+</p>
+
+<p>
+Als sie endlich das Kind beruhigt sah, sagte sie: "Nun musst du mir
+was erzählen, Kind! Wie geht es denn beim Herrn Kandidaten in den
+Unterrichtsstunden, lernst du auch gut und kannst du was?"
+</p>
+
+<p>
+"O nein", antwortete Heidi seufzend; "aber ich wusste schon, dass
+man es nicht lernen kann."
+</p>
+
+<p>
+"Was kann man denn nicht lernen, Heidi, was meinst du?"
+</p>
+
+<p>
+"Lesen kann man nicht lernen, es ist zu schwer."
+</p>
+
+<p>
+"Das wäre! Und woher weißt du denn diese Neuigkeit?"
+</p>
+
+<p>
+"Der Peter hat es mir gesagt und er weiß es schon, der muss immer
+wieder probieren, aber er kann es nie lernen, es ist zu schwer."
+</p>
+
+<p>
+"So, das ist mir ein eigener Peter, der! Aber sieh, Heidi, man
+muss nicht alles nur so hinnehmen, was einem ein Peter sagt, man
+muss selbst probieren. Gewiss hast du nicht recht mit all deinen
+Gedanken dem Herrn Kandidaten zugehört und seine Buchstaben
+angesehen."
+</p>
+
+<p>
+"Es nützt nichts", versicherte Heidi mit dem Ton der vollen
+Ergebung in das Unabänderliche.
+</p>
+
+<p>
+"Heidi", sagte nun die Großmama, "jetzt will ich dir etwas sagen:
+Du hast noch nie lesen gelernt, weil du deinem Peter geglaubt hast;
+nun aber sollst du mir glauben, und ich sage dir fest und sicher,
+dass du in kurzer Zeit lesen lernen kannst, wie eine große Menge
+von Kindern, die geartet sind wie du und nicht wie der Peter. Und
+nun musst du wissen, was nachher kommt, wenn du dann lesen kannst--
+du hast den Hirten gesehen auf der schönen, grünen Weide--; sobald
+du nun lesen kannst, bekommst du das Buch, da kannst du seine ganze
+Geschichte vernehmen, ganz so, als ob sie dir jemand erzählte,
+alles, was er macht mit seinen Schafen und Ziegen und was ihm für
+merkwürdige Dinge begegnen. Das möchtest du schon wissen, Heidi,
+nicht?"
+</p>
+
+<p>
+Heidi hatte mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört, und mit
+leuchtenden Augen sagte es jetzt, tief Atem holend: "Oh, wenn ich
+nur schon lesen könnte!"
+</p>
+
+<p>
+"Jetzt wird's kommen, und gar nicht lange wird's währen, das kann
+ich schon sehen, Heidi, und nun müssen wir mal nach der Klara sehen;
+komm, die schönen Bücher nehmen wir mit." Damit nahm die Großmama
+Heidi bei der Hand und ging mit ihm nach dem Studierzimmer.
+</p>
+
+<p>
+Seit dem Tage, da Heidi hatte heimgehen wollen und Fräulein
+Rottenmeier es auf der Treppe ausgescholten und ihm gesagt hatte,
+wie schlecht und undankbar es sich erweise durch sein
+Fortlaufenwollen und wie gut es sei, dass Herr Sesemann nichts
+davon wisse, war mit dem Kinde eine Veränderung vorgegangen. Es
+hatte begriffen, dass es nicht heimgehen könne, wenn es wolle, wie
+ihm die Base gesagt hatte, sondern dass es in Frankfurt zu bleiben
+habe, lange, lange, vielleicht für immer. Es hatte auch verstanden,
+dass Herr Sesemann es sehr undankbar von ihm finden würde, wenn es
+heimgehen wollte, und es dachte sich aus, dass die Großmama und
+Klara auch so denken würden. So durfte es keinem Menschen sagen,
+dass es heimgehen möchte, denn dass die Großmama, die so freundlich
+mit ihm war, auch böse würde, wie Fräulein Rottenmeier geworden war,
+das wollte Heidi nicht verursachen. Aber in seinem Herzen wurde
+die Last, die darinnen lag, immer schwerer; es konnte nicht mehr
+essen, und jeden Tag wurde es ein wenig bleicher. Am Abend konnte
+es oft lange, lange nicht einschlafen, denn sobald es allein war
+und alles still ringsumher, kam ihm alles so lebendig vor die Augen,
+die Alm und der Sonnenschein darauf und die Blumen; und schlief es
+endlich doch ein, so sah es im Traum die roten Felsenspitzen am
+Falknis und das feurige Schneefeld an der Schesaplana, und erwachte
+dann Heidi am Morgen und wollte voller Freude hinausspringen aus
+der Hütte--da war es auf einmal in seinem großen Bett in Frankfurt,
+so weit, weit weg, und konnte nicht mehr heim. Dann drückte Heidi
+oft seinen Kopf in das Kissen und weinte lang, ganz leise, dass
+niemand es höre.
+</p>
+
+<p>
+Heidis freudloser Zustand entging der Großmama nicht. Sie ließ
+einige Tage vorübergehen und sah zu, ob die Sache sich ändere und
+das Kind sein niedergeschlagenes Wesen verlieren würde. Als es
+aber gleich blieb und die Großmama manchmal am frühen Morgen schon
+sehen konnte, dass Heidi geweint hatte, da nahm sie eines Tages das
+Kind wieder in ihre Stube, stellte es vor sich hin und sagte mit
+großer Freundlichkeit: "Jetzt sag mir, was dir fehlt, Heidi; hast
+du einen Kummer?"
+</p>
+
+<p>
+Aber gerade dieser freundlichen Großmama wollte Heidi nicht sich so
+undankbar zeigen, dass sie vielleicht nachher gar nicht mehr so
+freundlich wäre; so sagte Heidi traurig: "Man kann es nicht sagen."
+</p>
+
+<p>
+"Nicht? Kann man es etwa der Klara sagen?", fragte die Großmama.
+</p>
+
+<p>
+"O nein, keinem Menschen", versicherte Heidi und sah dabei so
+unglücklich aus, dass es die Großmama erbarmte.
+</p>
+
+<p>
+"Komm, Kind", sagte sie, "ich will dir was sagen: Wenn man einen
+Kummer hat, den man keinem Menschen sagen kann, so klagt man ihn
+dem lieben Gott im Himmel und bittet ihn, dass er helfe, denn er
+kann allem Leid abhelfen, das uns drückt. Das verstehst du, nicht
+wahr? Du betest doch jeden Abend zum lieben Gott im Himmel und
+dankst ihm für alles Gute und bittest ihn, dass er dich vor allem
+Bösen behüte?"
+</p>
+
+<p>
+"O nein, das tu ich nie", antwortete das Kind.
+</p>
+
+<p>
+"Hast du denn gar nie gebetet, Heidi, weißt du nicht, was das ist?"
+</p>
+
+<p>
+"Nur mit der ersten Großmutter habe ich gebetet, aber es ist schon
+lang, und jetzt habe ich es vergessen."
+</p>
+
+<p>
+"Siehst du, Heidi, darum musst du so traurig sein, weil du jetzt
+gar niemanden kennst, der dir helfen kann. Denk einmal nach, wie
+wohl das tun muss, wenn einen im Herzen etwas immerfort drückt und
+quält und man kann so jeden Augenblick zum lieben Gott hingehen und
+ihm alles sagen und ihn bitten, dass er helfe, wo uns sonst gar
+niemand helfen kann! Und er kann überall helfen und uns geben, was
+uns wieder froh macht."
+</p>
+
+<p>
+Durch Heidis Augen fuhr ein Freudenstrahl: "Darf man ihm alles,
+alles sagen?"
+</p>
+
+<p>
+"Alles, Heidi, alles."
+</p>
+
+<p>
+Das Kind zog seine Hand aus den Händen der Großmama und sagte eilig:
+"Kann ich gehen?"
+</p>
+
+<p>
+"Gewiss! Gewiss!", gab diese zur Antwort, und Heidi lief davon und
+hinüber in sein Zimmer, und hier setzte es sich auf seinen Schemel
+nieder und faltete seine Hände und sagte dem lieben Gott alles, was
+in seinem Herzen war und es so traurig machte, und bat ihn dringend
+und herzlich, dass er ihm helfe und es wieder heimkommen lasse zum
+Großvater.--
+</p>
+
+<p>
+Es mochte etwas mehr als eine Woche verflossen sein seit diesem
+Tage, als der Herr Kandidat begehrte, der Frau Sesemann seine
+Aufwartung zu machen, indem er eine Besprechung über einen
+merkwürdigen Gegenstand mit der Dame abzuhalten gedachte. Er wurde
+auf ihre Stube berufen, und hier, wie er eintrat, streckte ihm Frau
+Sesemann sogleich freundlich die Hand entgegen: "Mein lieber Herr
+Kandidat, seien Sie mir willkommen! Setzen Sie sich her zu mir,
+hier"--sie rückte ihm den Stuhl zurecht. "So, nun sagen Sie mir,
+was bringt Sie zu mir; doch nichts Schlimmes, keine Klagen?"
+</p>
+
+<p>
+"Im Gegenteil, gnädige Frau", begann der Herr Kandidat; "es ist
+etwas vorgefallen, das ich nicht mehr erwarten konnte und keiner,
+der einen Blick in alles Vorhergegangene hätte werfen können, denn
+nach allen Voraussetzungen musste angenommen werden, dass es eine
+völlige Unmöglichkeit sein müsse, was dennoch jetzt wirklich
+geschehen ist und in der wunderbarsten Weise stattgefunden hat,
+gleichsam im Gegensatz zu allem folgerichtig zu Erwartenden--"
+</p>
+
+<p>
+"Sollte das Kind Heidi etwa lesen gelernt haben, Herr Kandidat?",
+setzte hier Frau Sesemann ein.
+</p>
+
+<p>
+In sprachlosem Erstaunen schaute der überraschte Herr die Dame an.
+</p>
+
+<p>
+"Es ist ja wirklich völlig wunderbar", sagte er endlich, "nicht nur,
+dass das junge Mädchen nach all meinen gründlichen Erklärungen,
+und ungewöhnlichen Bemühungen das Abc nicht erlernt hat, sondern
+auch und besonders, dass es jetzt in kürzester Zeit, nachdem ich
+mich entschlossen hatte, das Unerreichbare aus den Augen zu lassen
+und ohne alle weiter greifenden Erläuterungen nur noch sozusagen
+die nackten Buchstaben vor die Augen des jungen Mädchens zu bringen,
+sozusagen über Nacht das Lesen erfasst hat, und dann sogleich mit
+einer Korrektheit die Worte liest, wie mir bei Anfängern noch
+selten vorgekommen ist. Fast ebenso wunderbar ist mir die
+Wahrnehmung, dass die gnädige Frau gerade diese fern liegende
+Tatsache als Möglichkeit vermutete."
+</p>
+
+<p>
+"Es geschehen viele wunderbare Dinge im Menschenleben", bestätigte
+Frau Sesemann und lächelte vergnüglich; "es können auch einmal zwei
+Dinge glücklich zusammentreffen, wie ein neuer Lerneifer und eine
+neue Lehrmethode, und beide können nichts schaden, Herr Kandidat.
+Jetzt wollen wir uns freuen, dass das Kind so weit ist, und auf
+guten Fortgang hoffen."
+</p>
+
+<p>
+Damit begleitete sie den Herrn Kandidaten zur Tür hinaus und ging
+rasch nach dem Studierzimmer, um sich selbst der erfreulichen
+Nachricht zu versichern. Richtig saß hier Heidi neben Klara und
+las dieser eine Geschichte vor, sichtlich selbst mit dem größten
+Erstaunen und mit einem wachsenden Eifer in die neue Welt
+eindringend, die ihm aufgegangen war, nun ihm mit einem Mal aus den
+schwarzen Buchstaben Menschen und Dinge entgegentraten und Leben
+gewannen und zu herzbewegenden Geschichten wurden. Noch am selben
+Abend, als man sich zu Tische setzte, fand Heidi auf seinem Teller
+das große Buch liegen mit den schönen Bildern, und als es fragend
+nach der Großmama blickte, sagte diese freundlich nickend: "Ja, ja,
+nun gehört es dir."
+</p>
+
+<p>
+"Für immer? Auch wenn ich heimgehe?", fragte Heidi ganz rot vor
+Freude.
+</p>
+
+<p>
+"Gewiss, für immer!", versicherte die Großmama; "morgen fangen wir
+an zu lesen."
+</p>
+
+<p>
+"Aber du gehst nicht heim, noch viele Jahre nicht, Heidi", warf
+Klara hier ein; "wenn nun die Großmama wieder fortgeht, dann musst
+du erst recht bei mir bleiben."
+</p>
+
+<p>
+Noch vor dem Schlafengehen musste Heidi in seinem Zimmer sein
+schönes Buch ansehen, und von dem Tage an war es sein Liebstes,
+über seinem Buch zu sitzen und immer wieder die Geschichten zu
+lesen, zu denen die schönen bunten Bilder gehörten. Sagte am Abend
+die Großmama: "Nun liest uns Heidi vor", so war das Kind sehr
+beglückt, denn das Lesen ging ihm nun ganz leicht, und wenn es die
+Geschichten laut vorlas, so kamen sie ihm noch viel schöner und
+verständlicher vor, und die Großmama erklärte dann noch so vieles
+und erzählte immer noch mehr dazu. Am liebsten beschaute Heidi
+immer wieder seine grüne Weide und den Hirten mitten unter der
+Herde, wie er so vergnüglich, auf seinen langen Stab gelehnt,
+dastand, denn da war er noch bei der schönen Herde des Vaters und
+ging nur den lustigen Schäfchen und Ziegen nach, weil es ihn freute.
+Aber dann kam das Bild, wo er, vom Vaterhaus weggelaufen, nun in
+der Fremde war und die Schweinchen hüten musste und ganz mager
+geworden war bei den Trebern, die er allein noch zu essen bekam.
+Und auf dem Bilde schien auch die Sonne nicht mehr so golden, da
+war das Land grau und nebelig. Aber dann kam noch ein Bild zu der
+Geschichte: Da kam der alte Vater mit ausgebreiteten Armen aus dem
+Hause heraus und lief dem heimkehrenden reuigen Sohn entgegen, um
+ihn zu empfangen, der ganz furchtsam und abgemagert in einem
+zerrissenen Wams daherkam. Das war Heidis Lieblingsgeschichte, die
+es immer wieder las, laut und leise, und es konnte nie genug der
+Erklärungen bekommen, welche die Großmama den Kindern dazu machte.
+Da waren aber noch so viele schöne Geschichten in dem Buch, und bei
+dem Lesen derselben und dem Bilderbesehen gingen die Tage sehr
+schnell dahin, und schon nahte die Zeit heran, welche die Großmama
+zu ihrer Abreise bestimmt hatte.
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap11"></a>
+Heidi nimmt auf einer Seite zu und auf der anderen ab
+</h3>
+
+<p>
+Die Großmama hatte während der ganzen Zeit ihres Aufenthalts jeden
+Nachmittag, wenn Klara sich hinlegte und Fräulein Rottenmeier,
+wahrscheinlich der Ruhe bedürftig, geheimnisvoll verschwand, sich
+einen Augenblick neben Klara hingesetzt; aber schon nach fünf
+Minuten war sie wieder auf den Füßen und hatte dann immer Heidi auf
+ihre Stube berufen, sich mit ihm besprochen und es auf allerlei
+Weise beschäftigt und unterhalten. Die Großmama hatte hübsche
+kleine Puppen und zeigte dem Heidi, wie man ihnen Kleider und
+Schürzchen macht, und ganz unvermerkt hatte Heidi das Nähen erlernt
+und machte den kleinen Frauenzimmern die schönsten Röcke und
+Mäntelchen, denn die Großmama hatte immer Zeugstücke von den
+prächtigsten Farben. Nun Heidi lesen konnte, durfte es auch immer
+wieder der Großmama seine Geschichten vorlesen; das machte ihm die
+größte Freude, denn je mehr es seine Geschichten las, desto lieber
+wurden sie ihm, denn Heidi lebte alles ganz mit durch, was die
+Leute alle zu erleben hatten, und so hatte es zu ihnen allen ein
+sehr nahes Verhältnis und freute sich immer wieder, bei ihnen zu
+sein. Aber so recht froh sah Heidi nie aus, und seine lustigen
+Augen waren nie mehr zu sehen.
+</p>
+
+<p>
+Es war die letzte Woche, welche die Großmama in Frankfurt zubringen
+wollte. Sie hatte eben nach Heidi gerufen, dass es auf ihre Stube
+komme; es war die Zeit, da Klara schlief. Als Heidi eintrat mit
+seinem großen Buch unter dem Arm, winkte ihm die Großmama, dass es
+ganz nahe zu ihr herankomme, legte das Buch weg und sagte: "Nun
+komm, Kind, und sag mir, warum bist du nicht fröhlich? Hast du
+immer noch denselben Kummer im Herzen?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja", nickte Heidi.
+</p>
+
+<p>
+"Hast du ihn dem lieben Gott geklagt?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja."
+</p>
+
+<p>
+"Und betest du nun alle Tage, dass alles gut werde und er dich froh
+mache?"
+</p>
+
+<p>
+"O nein, ich bete jetzt gar nie mehr."
+</p>
+
+<p>
+"Was sagst du mir, Heidi? Was muss ich hören? Warum betest du
+denn nicht mehr?"
+</p>
+
+<p>
+"Es nützt nichts, der liebe Gott hat nicht zugehört, und ich glaube
+es auch wohl", fuhr Heidi in einiger Aufregung weiter, "wenn nun am
+Abend so viele, viele Leute in Frankfurt alle miteinander beten, so
+kann der liebe Gott ja nicht auf alle Acht geben, und mich hat er
+gewiss gar nicht gehört."
+</p>
+
+<p>
+"So, wie weißt du denn das so sicher, Heidi?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich habe alle Tage das Gleiche gebetet, manche Woche lang, und der
+liebe Gott hat es nie getan."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, so geht's nicht zu, Heidi! Das musst du nicht meinen! Siehst
+du, der liebe Gott ist für uns alle ein guter Vater, der immer weiß,
+was gut für uns ist, wenn wir es gar nicht wissen. Wenn wir aber
+nun etwas von ihm haben wollen, das nicht gut für uns ist, so gibt
+er uns das nicht, sondern etwas viel Besseres, wenn wir fortfahren,
+so recht herzlich zu ihm zu beten, aber nicht gleich weglaufen und
+alles Vertrauen zu ihm verlieren. Siehst du, was du nun von ihm
+erbitten wolltest, das war in diesem Augenblick nicht gut für dich;
+der liebe Gott hat dich schon gehört, er kann alle Menschen auf
+einmal anhören und übersehen, siehst du, dafür ist er der liebe
+Gott und nicht ein Mensch wie du und ich. Und weil er nun wohl
+wusste, was für dich gut ist, dachte er bei sich: 'Ja, das
+Heidi soll schon einmal haben, wofür es bittet, aber erst dann,
+wenn es ihm gut ist, und so wie es darüber recht froh werden kann.
+Denn wenn ich jetzt tue, was es will, und es merkt nachher, dass es
+doch besser gewesen wäre, ich hätte ihm seinen Willen nicht getan,
+dann weint es nachher und sagt: Hätte mir doch der liebe Gott nur
+nicht gegeben, wofür ich bat, es ist gar nicht so gut, wie ich
+gemeint habe.' Und während nun der liebe Gott auf dich
+niedersah, ob du ihm auch recht vertrautest und täglich zu ihm
+kommest und betest und immer zu ihm aufsehest, wenn dir etwas fehlt,
+da bist du weggelaufen ohne alles Vertrauen, hast nie mehr gebetet
+und hast den lieben Gott ganz vergessen. Aber siehst du, wenn
+einer es so macht und der liebe Gott hört seine Stimme gar nie mehr
+unter den Betenden, so vergisst er ihn auch und lässt ihn gehen,
+wohin er will. Wenn es ihm dabei aber schlecht geht und er jammert:
+'Mir hilft aber auch gar niemand!', dann hat keiner
+Mitleiden mit ihm, sondern jeder sagt zu ihm: 'Du bist ja
+selbst vom lieben Gott weggelaufen, der dir helfen konnte!'
+Willst du's so haben, Heidi, oder willst du gleich wieder zum
+lieben Gott gehen und ihn um Verzeihung bitten, dass du so von ihm
+weggelaufen bist, und dann alle Tage zu ihm beten und ihm vertrauen,
+dass er alles gut für dich machen werde, so dass du auch wieder
+ein frohes Herz bekommen kannst?"
+</p>
+
+<p>
+Heidi hatte sehr aufmerksam zugehört; jedes Wort der Großmama fiel
+in sein Herz, denn zu ihr hatte das Kind ein unbedingtes Vertrauen.
+</p>
+
+<p>
+"Ich will jetzt gleich auf der Stelle gehen und den lieben Gott um
+Verzeihung bitten, und ich will ihn nie mehr vergessen", sagte
+Heidi reumütig.
+</p>
+
+<p>
+"So ist's recht, Kind, er wird dir auch helfen zur rechten Zeit,
+sei nur getrost!", ermunterte die Großmama, und Heidi lief sofort
+in sein Zimmer hinüber und betete ernstlich und reuig zum lieben
+Gott und bat ihn, dass er es doch nicht vergessen und auch wieder
+zu ihm niederschauen möge.--
+</p>
+
+<p>
+Der Tag der Abreise war gekommen, es war für Klara und Heidi ein
+trauriger Tag; aber die Großmama wusste es so einzurichten, dass
+sie gar nicht zum Bewusstsein kamen, dass es eigentlich ein
+trauriger Tag sei, sondern es war eher wie ein Festtag, bis die
+gute Großmama im Wagen davonfuhr. Da trat eine Leere und Stille im
+Hause ein, als wäre alles vorüber, und solange noch der Tag währte,
+saßen Klara und Heidi wie verloren da und wussten gar nicht, wie es
+nun weiter kommen sollte.
+</p>
+
+<p>
+Am folgenden Tag, als die Unterrichtsstunden vorbei und die Zeit da
+war, da die Kinder gewöhnlich zusammensaßen, trat Heidi mit seinem
+Buch unter dem Arm herein und sagte: "Ich will dir nun immer, immer
+vorlesen; willst du, Klara?"
+</p>
+
+<p>
+Der Klara war der Vorschlag recht für einmal, und Heidi machte sich
+mit Eifer an seine Tätigkeit. Aber es ging nicht lange, so hörte
+schon wieder alles auf, denn kaum hatte Heidi eine Geschichte zu
+lesen begonnen, die von einer sterbenden Großmutter handelte, als
+es auf einmal laut aufschrie: "Oh, nun ist die Großmutter tot!",
+und in ein jammervolles Weinen ausbrach, denn alles, was es las,
+war dem Heidi volle Gegenwart, und es glaubte nicht anders, als nun
+sei die Großmutter auf der Alm gestorben, und es klagte in immer
+lauterem Weinen: "Nun ist die Großmutter tot, und ich kann nie mehr
+zu ihr gehen, und sie hat nicht ein einziges Brötchen mehr bekommen!"
+</p>
+
+<p>
+Klara suchte immerfort dem Heidi zu erklären, dass es ja nicht die
+Großmutter auf der Alm sei, sondern eine ganz andere, von der diese
+Geschichte handle; aber auch, als sie endlich dazu gekommen war,
+dem aufgeregten Heidi diese Verwechslung klar zu machen, konnte es
+sich doch nicht beruhigen und weinte immer noch untröstlich weiter,
+denn der Gedanke war ihm nun im Herzen erwacht, die Großmutter
+könne ja sterben, während es so weit weg sei, und der Großvater
+auch noch, und wenn es dann nach einiger Zeit wieder heimkomme, so
+sei alles still und tot auf der Alm und es stehe ganz allein da und
+könne niemals mehr die sehen, die ihm lieb waren.
+</p>
+
+<p>
+Währenddessen war Fräulein Rottenmeier ins Zimmer getreten und
+hatte noch Klaras Bemühungen, Heidi über seinen Irrtum aufzuklären,
+mit angehört. Als das Kind aber immer noch nicht aufhören konnte
+zu schluchzen, trat sie mit sichtlichen Zeichen der Ungeduld zu den
+Kindern heran und sagte mit bestimmtem Ton: "Adelheid, nun ist des
+grundlosen Geschreis genug! Ich will dir eines sagen: Wenn du noch
+ein einziges Mal beim Lesen deiner Geschichten solchen Ausbrüchen
+den Lauf lässt, so nehme ich das Buch aus deinen Händen und für
+immer!"
+</p>
+
+<p>
+Das machte Eindruck. Heidi wurde ganz weiß vor Schrecken, das Buch
+war sein höchster Schatz. Es trocknete in größter Eile seine
+Tränen und schluckte und würgte sein Schluchzen mit Gewalt hinunter,
+so dass kein Tönchen mehr laut wurde. Das Mittel hatte geholfen,
+Heidi weinte nie mehr, was es auch lesen mochte; aber manchmal
+hatte es solche Anstrengungen zu machen, um sich zu überwinden und
+nicht aufzuschreien, dass Klara öfter ganz erstaunt sagte: "Heidi,
+du machst so schreckliche Grimassen, wie ich noch nie gesehen habe."
+Aber die Grimassen machten keinen Lärm und fielen der Dame
+Rottenmeier nicht auf, und wenn Heidi seinen Anfall von
+verzweiflungsvoller Traurigkeit niedergerungen hatte, kam alles
+wieder ins Geleise für einige Zeit und war tonlos vorübergegangen.
+Aber seinen Appetit verlor Heidi so sehr und sah so mager und
+bleich aus, dass der Sebastian fast nicht ertragen konnte, das so
+mit anzusehen und Zeuge sein zu müssen, wie Heidi bei Tisch die
+schönsten Gerichte an sich vorübergehen ließ und nichts essen
+wollte. Er flüsterte ihm auch öfter ermunternd zu, wenn er ihm
+eine Schüssel hinhielt: "Nehmen von dem, Mamsellchen, 's ist
+vortrefflich. Nicht so! Einen rechten Löffel voll, noch einen!",
+und dergleichen väterlicher Räte mehr; aber es half nichts: Heidi
+aß fast gar nicht mehr, und wenn es sich am Abend auf sein Kissen
+legte, so hatte es augenblicklich alles vor Augen, was daheim war,
+und nur ganz leise weinte es dann vor Sehnsucht in sein Kissen
+hinein, so dass es gar niemand hören konnte.
+</p>
+
+<p>
+So ging eine lange Zeit dahin. Heidi wusste gar nie, ob es Sommer
+oder Winter sei, denn die Mauern und Fenster, die es aus allen
+Fenstern des Hauses Sesemann erblickte, sahen immer gleich aus, und
+hinaus kam es nur, wenn es Klara besonders gut ging und eine
+Ausfahrt im Wagen mit ihr gemacht werden konnte, die aber immer
+sehr kurz war, denn Klara konnte nicht vertragen, lang zu fahren.
+So kam man kaum aus den Mauern und Steinstraßen heraus, sondern
+kehrte gewöhnlich vorher wieder um und fuhr immerfort durch große,
+schöne Straßen, wo Häuser und Menschen in Fülle zu sehen waren,
+aber nicht Gras und Blumen, keine Tannen und keine Berge, und
+Heidis Verlangen nach dem Anblick der schönen gewohnten Dinge
+steigerte sich mit jedem Tage mehr, so dass es jetzt nur den Namen
+eines dieser Erinnerung weckenden Worte zu lesen brauchte, so war
+schon ein Ausbruch des Schmerzes nahe, und Heidi hatte mit aller
+Gewalt dagegen zu ringen. So waren Herbst und Winter vergangen,
+und schon blendete die Sonne wieder so stark auf die weißen Mauern
+am Hause gegenüber, dass Heidi ahnte, nun sei die Zeit nahe, da der
+Peter wieder zur Alm führe mit den Geißen, da die goldenen
+Cystusröschen glitzerten droben im Sonnenschein und allabendlich
+ringsum alle Berge im Feuer ständen. Heidi setzte sich in seinem
+einsamen Zimmer in einen Winkel und hielt sich mit beiden Händen
+die Augen zu, dass es den Sonnenschein drüben an der Mauer nicht
+sehe; und so saß es regungslos, sein brennendes Heimweh lautlos
+niederkämpfend, bis Klara wieder nach ihm rief.
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap12"></a>
+Im Hause Sesemann spukt's
+</h3>
+
+<p>
+Seit einigen Tagen wanderte Fräulein Rottenmeier meistens
+schweigend und in sich gekehrt im Haus herum. Wenn sie um die Zeit
+der Dämmerung von einem Zimmer ins andere oder über den langen
+Korridor ging, schaute sie öfters um sich, gegen die Ecken hin und
+auch schnell einmal hinter sich, so, als denke sie, es könnte
+jemand leise hinter ihr herkommen und sie unversehens am Rock
+zupfen. So allein ging sie aber nur noch in den bewohnten Räumen
+herum. Hatte sie auf dem oberen Boden, wo die feierlich
+aufgerüsteten Gastzimmer lagen, oder gar in den unteren Räumen
+etwas zu besorgen, wo der große geheimnisvolle Saal war, in dem
+jeder Tritt einen weithin schallenden Widerhall gab und die alten
+Ratsherren mit den großen, weißen Kragen so ernsthaft und
+unverwandt auf einen niederschauten, da rief sie nun regelmäßig die
+Tinette herbei und sagte ihr, sie habe mitzukommen, im Fall etwas
+von dort herauf- oder von oben herunterzutragen wäre. Tinette
+ihrerseits machte es pünktlich ebenso; hatte sie oben oder unten
+irgendein Geschäft abzutun, so rief sie den Sebastian herbei und
+sagte ihm, er habe sie zu begleiten, es möchte etwas
+herbeizubringen sein, das sie nicht allein tragen könnte.
+Wunderbarerweise tat auch Sebastian akkurat dasselbe; wurde er in
+die abgelegenen Räume geschickt, so holte er den Johann herauf und
+wies ihn an, ihn zu begleiten, im Fall er nicht herbeischaffen
+könnte, was erforderlich sei. Und jedes folgte immer ganz willig
+dem Ruf, obschon eigentlich nie etwas herbeizutragen war, so dass
+jedes gut hätte allein gehen können; aber es war so, als denke der
+Herbeigerufene immer bei sich, er könne den anderen auch bald für
+denselben Dienst nötig haben. Während sich solches oben zutrug,
+stand unten die langjährige Köchin tiefsinnig bei ihren Töpfen und
+schüttelte den Kopf und seufzte: "Dass ich das noch erleben musste!"
+</p>
+
+<p>
+Es ging im Hause Sesemann seit einiger Zeit etwas ganz Seltsames
+und Unheimliches vor. Jeden Morgen, wenn die Dienerschaft
+herunterkam, stand die Haustür weit offen; aber weit und breit war
+niemand zu sehen, der mit dieser Erscheinung im Zusammenhang stehen
+konnte. In den ersten Tagen, da dies geschehen war, wurden gleich
+mit Schrecken alle Zimmer und Räume des Hauses durchsucht, um zu
+sehen, was alles gestohlen sei, denn man dachte, ein Dieb habe sich
+im Hause verstecken können und sei in der Nacht mit dem Gestohlenen
+entflohen; aber da war gar nichts fortgekommen, es fehlte im ganzen
+Hause nicht ein einziges Ding. Abends wurde nicht nur die Tür
+doppelt zugeriegelt, sondern es wurde noch der hölzerne Balken
+vorgeschoben--es half nichts: Am Morgen stand die Tür weit offen;
+und so früh nun auch die ganze Dienerschaft in ihrer Aufregung am
+Morgen herunterkommen mochte--die Tür stand offen, wenn auch
+ringsum alles noch im tiefen Schlaf lag und Fenster und Türen an
+allen anderen Häusern noch fest verrammelt waren. Endlich fassten
+sich der Johann und der Sebastian ein Herz und machten sich auf die
+dringenden Zureden der Dame Rottenmeier bereit, die Nacht unten in
+dem Zimmer, das an den großen Saal stieß, zuzubringen und zu
+erwarten, was geschehe. Fräulein Rottenmeier suchte mehrere Waffen
+des Herrn Sesemann hervor und übergab dem Sebastian eine große
+Liqueurflasche, damit Stärkung vorausgehen und gute Wehr nachfolgen
+könne, wo sie nötig sei.
+</p>
+
+<p>
+Die beiden setzten sich an dem festgesetzten Abend hin und fingen
+gleich an, sich Stärkung zuzutrinken, was sie erst sehr gesprächig
+und dann ziemlich schläfrig machte, worauf sie beide sich an die
+Sesselrücken lehnten und verstummten. Als die alte Turmuhr drüben
+zwölf schlug, ermannte sich Sebastian und rief seinen Kameraden an;
+der war aber nicht leicht zu erwecken; sooft ihn Sebastian anrief,
+legte er seinen Kopf von einer Seite der Sessellehne auf die andere
+und schlief weiter. Sebastian lauschte nunmehr gespannt, er war
+nun wieder ganz munter geworden. Es war alles mäuschenstill, auch
+von der Straße war kein Laut mehr zu hören. Sebastian entschlief
+nicht wieder, denn jetzt wurde es ihm sehr unheimlich in der großen
+Stille, und er rief den Johann nur noch mit gedämpfter Stimme an
+und rüttelte ihn von Zeit zu Zeit ein wenig. Endlich, als es
+droben schon ein Uhr geschlagen hatte, war der Johann wach geworden
+und wieder zum klaren Bewusstsein gekommen, warum er auf dem Stuhl
+sitze und nicht in seinem Bett liege. Jetzt fuhr er auf einmal
+sehr tapfer empor und rief: "Nun, Sebastian, wir müssen doch einmal
+hinaus und sehen, wie's steht; du wirst dich ja nicht fürchten.
+Nur mir nach."
+</p>
+
+<p>
+Johann machte die leicht angelehnte Zimmertür weit auf und trat
+hinaus. Im gleichen Augenblick blies aus der offenen Haustür ein
+scharfer Luftzug her und löschte das Licht aus, das der Johann in
+der Hand hielt. Dieser stürzte zurück, warf den hinter ihm
+stehenden Sebastian beinah rücklings ins Zimmer hinein, riss ihn
+dann mit, schlug die Tür zu und drehte in fieberhafter Eile den
+Schlüssel um, solang er nur umging. Dann riss er seine
+Streichhölzer hervor und zündete sein Licht wieder an. Sebastian
+wusste gar nicht recht, was vorgefallen war, denn hinter dem
+breiten Johann stehend, hatte er den Luftzug nicht so deutlich
+empfunden. Wie er aber jenen nun bei Licht besah, tat er einen
+Schreckensruf, denn der Johann war kreideweiß und zitterte wie
+Espenlaub. "Was ist's denn? Was war denn draußen?", fragte der
+Sebastian teilnehmend.
+</p>
+
+<p>
+"Sperrangelweit offen die Tür", keuchte Johann, "und auf der Treppe
+eine weiße Gestalt, siehst du, Sebastian, nur so die Treppe hinauf--
+husch und verschwunden."
+</p>
+
+<p>
+Dem Sebastian gruselte es den ganzen Rücken hinauf. Jetzt setzten
+sich die beiden ganz nah zusammen und regten sich nicht mehr, bis
+dass der neue Morgen da war und es auf der Straße anfing, lebendig
+zu werden. Dann traten sie zusammen hinaus, machten die weit offen
+stehende Haustür zu und stiegen dann hinauf, um Fräulein
+Rottenmeier Bericht zu erstatten über das Erlebte. Die Dame war
+auch schon zu sprechen, denn die Erwartung der zu vernehmenden
+Dinge hatte sie nicht mehr schlafen lassen. Sobald sie nun
+vernommen hatte, was vorgefallen war, setzte sie sich hin und
+schrieb einen Brief an Herrn Sesemann, wie er noch keinen erhalten
+hatte; er möge sich nur sogleich, ohne Verzug, aufmachen und nach
+Hause zurückkehren, denn da geschähen unerhörte Dinge. Dann wurde
+ihm das Vorgefallene mitgeteilt sowie auch die Nachricht, dass
+fortgesetzt die Tür jeden Morgen offen stehe; dass also keiner im
+Hause seines Lebens mehr sicher sei bei dergestalt allnächtlich
+offen stehender Hauspforte und dass man überhaupt nicht absehen
+könne, was für dunkle Folgen dieser unheimliche Vorgang noch nach
+sich ziehen könne. Herr Sesemann antwortete umgehend, es sei ihm
+unmöglich, so plötzlich alles liegen zu lassen und nach Hause zu
+kommen. Die Gespenstergeschichte sei ihm sehr befremdend, er hoffe
+auch, sie sei vorübergehend; sollte es indessen keine Ruhe geben,
+so möge Fräulein Rottenmeier an Frau Sesemann schreiben und sie
+fragen, ob sie nicht nach Frankfurt zu Hilfe kommen wollte; gewiss
+würde seine Mutter in kürzester Zeit mit den Gespenstern fertig,
+und diese trauten sich nachher sicher so bald nicht wieder, sein
+Haus zu beunruhigen. Fräulein Rottenmeier war nicht zufrieden mit
+dem Ton dieses Briefes; die Sache war ihr zu wenig ernst aufgefasst.
+Sie schrieb unverzüglich an Frau Sesemann, aber von dieser Seite
+her tönte es nicht eben befriedigender, und die Antwort enthielt
+einige ganz anzügliche Bemerkungen. Frau Sesemann schrieb, sie
+gedenke nicht, extra von Holstein nach Frankfurt hinunterzureisen,
+weil die Rottenmeier Gespenster sehe. Übrigens sei niemals ein
+Gespenst gesehen worden im Hause Sesemann, und wenn jetzt eines
+darin herumfahre, so könne es nur ein lebendiges sein, mit dem die
+Rottenmeier sich sollte verständigen können; wo nicht, so solle sie
+die Nachtwächter zu Hilfe rufen.
+</p>
+
+<p>
+Aber Fräulein Rottenmeier war entschlossen, ihre Tage nicht mehr in
+Schrecken zuzubringen, und sie wusste sich zu helfen. Bis dahin
+hatte sie den beiden Kindern nichts von der Geistererscheinung
+gesagt, denn sie befürchtete, die Kinder würden vor Furcht Tag und
+Nacht keinen Augenblick mehr allein bleiben wollen, und das konnte
+sehr unbequeme Folgen für sie haben. Jetzt ging sie stracks ins
+Studierzimmer hinüber, wo die beiden zusammensaßen, und erzählte
+mit gedämpfter Stimme von den nächtlichen Erscheinungen eines
+Unbekannten. Sofort schrie Klara auf, sie bleibe keinen Augenblick
+mehr allein, der Papa müsse nach Hause kommen und Fräulein
+Rottenmeier müsse zum Schlafen in ihr Zimmer hinüberziehen, und
+Heidi dürfe auch nicht mehr allein sein, sonst könne das Gespenst
+einmal zu ihm kommen und ihm etwas tun; sie wollten alle in _einem_
+Zimmer schlafen und die ganze Nacht das Licht brennen lassen, und
+Tinette müsste nebenan schlafen und der Sebastian und der Johann
+müssten auch herunterkommen und auf dem Korridor schlafen, dass sie
+gleich schreien und das Gespenst erschrecken könnten, wenn es etwa
+die Treppe heraufkommen wollte. Klara war sehr aufgeregt und
+Fräulein Rottenmeier hatte nun die größte Mühe, sie etwas zu
+beschwichtigen. Sie versprach ihr, sogleich an den Papa zu
+schreiben und auch ihr Bett in Klaras Zimmer stellen und sie nie
+mehr allein lassen zu wollen. Alle konnten sie nicht in demselben
+Raume schlafen, aber wenn Adelheid sich auch fürchten sollte, so
+müsste Tinette ihr Nachtlager bei ihr aufschlagen. Aber Heidi
+fürchtete sich mehr vor der Tinette als vor Gespenstern, von denen
+das Kind noch gar nie etwas gehört hatte, und es erklärte gleich,
+es fürchte das Gespenst nicht und wolle schon allein in seinem
+Zimmer bleiben. Hierauf eilte Fräulein Rottenmeier an ihren
+Schreibtisch und schrieb an Herrn Sesemann, die unheimlichen
+Vorgänge im Hause, die allnächtlich sich wiederholten, hätten die
+zarte Konstitution seiner Tochter dergestalt erschüttert, dass die
+schlimmsten Folgen zu befürchten seien; man habe Beispiele von
+plötzlich eintretenden epileptischen Zufällen oder Veitstanz in
+solchen Verhältnissen, und seine Tochter sei allem ausgesetzt, wenn
+dieser Zustand des Schreckens im Hause nicht gehoben werde.
+</p>
+
+<p>
+Das half. Zwei Tage darauf stand Herr Sesemann vor seiner Tür und
+schellte dergestalt an seiner Hausglocke, dass alles zusammenlief
+und einer den anderen anstarrte, denn man glaubte nicht anders, als
+nun lasse der Geist frecherweise noch vor Nacht seine boshaften
+Stücke aus. Sebastian guckte ganz behutsam durch einen halb
+geöffneten Laden von oben herunter; in dem Augenblick schellte es
+noch einmal so nachdrücklich, dass jeder unwillkürlich eine
+Menschenhand hinter dem tüchtigen Ruck vermutete. Sebastian hatte
+die Hand erkannt, stürzte durchs Zimmer, kopfüber die Treppe
+hinunter, kam aber unten wieder auf die Füße und riss die Haustür
+auf. Herr Sesemann grüßte kurz und stieg ohne weiteres nach dem
+Zimmer seiner Tochter hinauf. Klara empfing den Papa mit einem
+lauten Freudenruf, und als er sie so munter und völlig unverändert
+sah, glättete sich seine Stirn, die er vorher sehr zusammengezogen
+hatte, und immer mehr, als er nun von ihr selbst hörte, sie sei so
+wohl wie immer und sie sei so froh, dass er gekommen sei, dass es
+ihr jetzt ganz recht sei, dass ein Geist im Haus herumfahre, weil
+er doch daran schuld sei, dass der Papa heimkommen musste.
+</p>
+
+<p>
+"Und wie führt sich das Gespenst weiter auf, Fräulein Rottenmeier?",
+fragte nun Herr Sesemann mit einem lustigen Ausdruck in den
+Mundwinkeln.
+</p>
+
+<p>
+"Nein, Herr Sesemann", entgegnete die Dame ernst, "es ist kein
+Scherz. Ich zweifle nicht daran, dass morgen Herr Sesemann nicht
+mehr lachen wird; denn was in dem Hause vorgeht, deutet auf
+Fürchterliches, das hier in vergangener Zeit muss vorgegangen und
+verheimlicht worden sein."
+</p>
+
+<p>
+"So, davon weiß ich nichts", bemerkte Herr Sesemann, "muss aber
+bitten, meine völlig ehrenwerten Ahnen nicht verdächtigen zu wollen.
+Und nun rufen Sie mir den Sebastian ins Esszimmer, ich will
+allein mit ihm reden."
+</p>
+
+<p>
+Herr Sesemann ging hinüber und Sebastian erschien. Es war Herrn
+Sesemann nicht entgangen, dass Sebastian und Fräulein Rottenmeier
+sich nicht eben mit Zuneigung betrachteten; so hatte er seine
+Gedanken.
+</p>
+
+<p>
+"Komm Er her, Bursche", winkte er dem Eintretenden entgegen, "und
+sag Er mir nun ganz ehrlich: Hat Er nicht etwa selbst ein wenig
+Gespenst gespielt, so um Fräulein Rottenmeier etwas Kurzweil zu
+machen, he?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, meiner Treu, das muss der gnädige Herr nicht glauben; es ist
+mir selbst nicht ganz gemütlich bei der Sache", entgegnete
+Sebastian mit unverkennbarer Ehrlichkeit.
+</p>
+
+<p>
+"Nun, wenn es so steht, so will ich morgen Ihm und dem tapferen
+Johann zeigen, wie Gespenster beim Licht aussehen. Schäme Er sich,
+Sebastian, ein junger, kräftiger Bursch, wie Er ist, vor
+Gespenstern davonzulaufen! Nun geh Er unverzüglich zu meinem alten
+Freund, Doktor Classen: meine Empfehlung und er möchte unfehlbar
+heut Abend neun Uhr bei mir erscheinen; ich sei extra von Paris
+hergereist, um ihn zu konsultieren. Er müsse die Nacht bei mir
+wachen, so schlimm sei's; er solle sich richten! Verstanden,
+Sebastian?"
+</p>
+
+<p>
+"Jawohl, jawohl! Der gnädige Herr kann sicher sein, dass ich's gut
+mache." Damit entfernte sich Sebastian, und Herr Sesemann kehrte zu
+seinem Töchterchen zurück, um ihr alle Furcht vor einer Erscheinung
+zu benehmen, die er noch heute ins nötige Licht stellen wollte.
+</p>
+
+<p>
+Punkt neun Uhr, als die Kinder zur Ruhe gegangen und auch Fräulein
+Rottenmeier sich zurückgezogen hatte, erschien der Doktor, der
+unter seinen grauen Haaren noch ein recht frisches Gesicht und zwei
+lebhaft und freundlich blickende Augen zeigte. Er sah etwas
+ängstlich aus, brach aber gleich nach seiner Begrüßung in ein
+helles Lachen aus und sagte, seinem Freunde auf die Schulter
+klopfend: "Nun, nun, für einen, bei dem man wachen soll, siehst du
+noch leidlich aus, Alter."
+</p>
+
+<p>
+"Nur Geduld, Alter", gab Herr Sesemann zurück; "derjenige, für den
+du wachen musst, wird schon schlimmer aussehen, wenn wir ihn erst
+abgefangen haben."
+</p>
+
+<p>
+"Also doch ein Kranker im Haus und dazu einer, der eingefangen
+werden muss?"
+</p>
+
+<p>
+"Weit schlimmer, Doktor, weit schlimmer. Ein Gespenst im Hause,
+bei mir spukt's!"
+</p>
+
+<p>
+Der Doktor lachte laut auf.
+</p>
+
+<p>
+"Schöne Teilnahme das, Doktor!", fuhr Herr Sesemann fort; "schade,
+dass meine Freundin Rottenmeier sie nicht genießen kann. Sie ist
+fest überzeugt, dass ein alter Sesemann hier herumrumort und
+Schauertaten abbüßt."
+</p>
+
+<p>
+"Wie hat sie ihn aber nur kennen gelernt?", fragte der Doktor noch
+immer sehr erheitert.
+</p>
+
+<p>
+Herr Sesemann erzählte nun seinem Freunde den ganzen Vorgang und
+wie noch jetzt allnächtlich die Haustür geöffnet werde, nach der
+Angabe der sämtlichen Hausbewohner, und fügte hinzu, um für alle
+Fälle vorbereitet zu sein, habe er zwei gut geladene Revolver in
+das Wachtlokal legen lassen; denn entweder sei die Sache ein sehr
+unerwünschter Scherz, den sich vielleicht irgendein Bekannter der
+Dienerschaft mache, um die Leute des Hauses in Abwesenheit des
+Hausherrn zu erschrecken--dann könnte ein kleiner Schrecken, wie
+ein guter Schuss ins Leere, ihm nicht unheilsam sein--; oder auch
+es handle sich um Diebe, die auf diese Weise erst den Gedanken an
+Gespenster aufkommen lassen wollten, um nachher umso sicherer zu
+sein, dass niemand sich herauswage--in diesem Falle könnte eine
+gute Waffe auch nicht schaden.
+</p>
+
+<p>
+Während dieser Erklärungen waren die Herren die Treppe
+hinuntergestiegen und traten in dasselbe Zimmer ein, wo Johann und
+Sebastian auch gewacht hatten. Auf dem Tische standen einige
+Flaschen schönen Weines, denn eine kleine Stärkung von Zeit zu Zeit
+konnte nicht unerwünscht sein, wenn die Nacht da zugebracht werden
+musste. Daneben lagen die beiden Revolver, und zwei, ein helles
+Licht verbreitende Armleuchter standen mitten auf dem Tisch, denn
+so im Halbdunkel wollte Herr Sesemann das Gespenst denn doch nicht
+erwarten.
+</p>
+
+<p>
+Nun wurde die Tür ans Schloss gelehnt, denn zu viel Licht durfte
+nicht in den Korridor hinausfließen, es konnte das Gespenst
+verscheuchen. Jetzt setzten sich die Herren gemütlich in ihre
+Lehnstühle und fingen an, sich allerlei zu erzählen, nahmen auch
+hier und da dazwischen einen guten Schluck, und so schlug es zwölf
+Uhr, eh sie sich's versahen.
+</p>
+
+<p>
+"Das Gespenst hat uns gewittert und kommt wohl heut gar nicht",
+sagte der Doktor jetzt.
+</p>
+
+<p>
+"Nur Geduld, es soll erst um ein Uhr kommen", entgegnete der Freund.
+</p>
+
+<p>
+Das Gespräch wurde wieder aufgenommen. Es schlug ein Uhr. Ringsum
+war es völlig still, auch auf den Straßen war aller Lärm verklungen.
+Auf einmal hob der Doktor den Finger empor.
+</p>
+
+<p>
+"Pst, Sesemann, hörst du nichts?"
+</p>
+
+<p>
+Sie lauschten beide. Leise, aber ganz deutlich hörten sie, wie der
+Balken zurückgeschoben, dann der Schlüssel zweimal im Schloss
+umgedreht, jetzt die Tür geöffnet wurde. Herr Sesemann fuhr mit
+der Hand nach seinem Revolver.
+</p>
+
+<p>
+"Du fürchtest dich doch nicht?", sagte der Doktor und stand auf.
+</p>
+
+<p>
+"Behutsam ist besser", flüsterte Herr Sesemann, erfasste mit der
+Linken den Armleuchter mit drei Kerzen, mit der Rechten den
+Revolver und folgte dem Doktor, der, gleichermaßen mit Leuchter und
+Schießgewehr bewaffnet, voranging. Sie traten auf den Korridor
+hinaus.
+</p>
+
+<p>
+Durch die weit geöffnete Tür floss ein bleicher Mondschein herein
+und beleuchtete eine weiße Gestalt, die regungslos auf der Schwelle
+stand.
+</p>
+
+<p>
+"Wer da?", donnerte jetzt der Doktor heraus, dass es durch den
+ganzen Korridor hallte, und beide Herren traten nun mit Lichtern
+und Waffen an die Gestalt heran. Sie kehrte sich um und tat einen
+leisen Schrei. Mit bloßen Füßen im weißen Nachtkleidchen stand
+Heidi da, schaute mit verwirrten Blicken in die hellen Flammen und
+auf die Waffen und zitterte und bebte wie ein Blättlein im Winde
+von oben bis unten. Die Herren schauten einander in großem
+Erstaunen an.
+</p>
+
+<p>
+"Ich glaube wahrhaftig, Sesemann, es ist deine kleine
+Wasserträgerin", sagte der Doktor.
+</p>
+
+<p>
+"Kind, was soll das heißen?", fragte nun Herr Sesemann. "Was
+wolltest du tun? Warum bist du hier heruntergekommen?"
+</p>
+
+<p>
+Schneeweiß vor Schrecken stand Heidi vor ihm und sagte fast tonlos:
+"Ich weiß nicht."
+</p>
+
+<p>
+Jetzt trat der Doktor vor: "Sesemann, der Fall gehört in mein
+Gebiet; geh, setz dich einstweilen in deinen Lehnstuhl drinnen, ich
+will vor allem das Kind hinbringen, wo es hingehört."
+</p>
+
+<p>
+Damit legte er seinen Revolver auf den Boden, nahm das zitternde
+Kind ganz väterlich bei der Hand und ging mit ihm der Treppe zu.
+</p>
+
+<p>
+"Nicht fürchten, nicht fürchten", sagte er freundlich im
+Hinaufsteigen, "nur ganz ruhig sein, da ist gar nichts Schlimmes
+dabei, nur getrost sein."
+</p>
+
+<p>
+In Heidis Zimmer eingetreten, stellte der Doktor seinen Leuchter
+auf den Tisch, nahm Heidi auf den Arm, legte es in sein Bett hinein
+und deckte es sorgfältig zu. Dann setzte er sich auf den Sessel am
+Bett und wartete, bis Heidi ein wenig beruhigt war und nicht mehr
+an allen Gliedern bebte. Dann nahm er das Kind bei der Hand und
+sagte begütigend: "So, nun ist alles in Ordnung, nun sag mir auch
+noch, wo wolltest du denn hin?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich wollte gewiss nirgends hin", versicherte Heidi; "ich bin auch
+gar nicht selbst hinuntergegangen, ich war nur auf einmal da."
+</p>
+
+<p>
+"So, so, und hast du etwa geträumt in der Nacht, weißt du, so, dass
+du deutlich etwas sahst und hörtest?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja, jede Nacht träumt es mir und immer gleich. Dann mein ich, ich
+sei beim Großvater, und draußen hör ich's in den Tannen sausen und
+denke: Jetzt glitzern so schön die Sterne am Himmel, und ich laufe
+geschwind und mache die Tür auf an der Hütte und da ist's so schön!
+Aber wenn ich erwache, bin ich immer noch in Frankfurt." Heidi
+fing schon an zu kämpfen und zu schlucken an dem Gewicht, das den
+Hals hinaufstieg.
+</p>
+
+<p>
+"Hm, und tut dir denn auch nichts weh, nirgends? Nicht im Kopf
+oder im Rücken?"
+</p>
+
+<p>
+"O nein, nur hier drückt es so wie ein großer Stein immerfort."
+</p>
+
+<p>
+"Hm, etwa so, wie wenn man etwas gegessen hat und wollte es nachher
+lieber wieder zurückgeben?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, so nicht, aber so schwer, wie wenn man stark weinen sollte."
+</p>
+
+<p>
+"So, so, und weinst du denn so recht heraus?"
+</p>
+
+<p>
+"O nein, das darf man nicht, Fräulein Rottenmeier hat es verboten."
+</p>
+
+<p>
+"Dann schluckst du's herunter zum andern, nicht wahr, so? Richtig!
+Nun, du bist doch recht gern in Frankfurt, nicht?"
+</p>
+
+<p>
+"O ja", war die leise Antwort; sie klang aber so, als bedeute sie
+eher das Gegenteil.
+</p>
+
+<p>
+"Hm, und wo hast du mit deinem Großvater gelebt?"
+</p>
+
+<p>
+"Immer auf der Alm."
+</p>
+
+<p>
+"So, da ist's doch nicht so besonders kurzweilig, eher ein wenig
+langweilig, nicht?"
+</p>
+
+<p>
+"O nein, da ist's so schön, so schön!" Heidi konnte nicht weiter;
+die Erinnerung, die eben durchgemachte Aufregung, das lang
+verhaltene Weinen überwältigten die Kräfte des Kindes; gewaltsam
+stürzten ihm die Tränen aus den Augen und es brach in ein lautes,
+heftiges Schluchzen aus.
+</p>
+
+<p>
+Der Doktor stand auf; er legte freundlich Heidis Kopf auf das
+Kissen nieder und sagte: "So, noch ein klein wenig weinen, das kann
+nichts schaden, und dann schlafen, ganz fröhlich einschlafen;
+morgen wird alles gut." Dann verließ er das Zimmer.
+</p>
+
+<p>
+Wieder unten in die Wachtstube eingetreten, ließ er sich dem
+harrenden Freunde gegenüber in den Lehnstuhl nieder und erklärte
+dem mit gespannter Erwartung Lauschenden: "Sesemann, dein kleiner
+Schützling ist erstens mondsüchtig; völlig unbewusst hat er dir
+allnächtlich als Gespenst die Haustür aufgemacht und deiner ganzen
+Mannschaft die Fieber des Schreckens ins Gebein gejagt. Zweitens
+wird das Kind vom Heimweh verzehrt, so dass es schon jetzt fast zum
+Geripplein abgemagert ist und es noch völlig werden würde; also
+schnelle Hilfe! Für das erste Übel und die in hohem Grade
+stattfindende Nervenaufregung gibt es nur ein Heilmittel, nämlich,
+dass du sofort das Kind in die heimatliche Bergluft
+zurückversetzest; für das zweite gibt's ebenfalls nur _eine_
+Medizin, nämlich ganz dieselbe. Demnach reist das Kind morgen ab,
+das ist mein Rezept."
+</p>
+
+<p>
+Herr Sesemann war aufgestanden. In größter Aufregung lief er das
+Zimmer auf und ab; jetzt brach er aus: "Mondsüchtig! Krank!
+Heimweh! Abgemagert in meinem Hause! Das alles in meinem Hause!
+Und niemand sieht zu und weiß etwas davon! Und du, Doktor, du
+meinst, das Kind, das frisch und gesund in mein Haus gekommen ist,
+schicke ich elend und abgemagert seinem Großvater zurück? Nein,
+Doktor, das kannst du nicht verlangen, das tu ich nicht, das werde
+ich nie tun. Jetzt nimm das Kind in die Hand, mach Kuren mit ihm,
+mach, was du willst, aber mach es mir heil und gesund, dann will
+ich es heimschicken, wenn es will; aber erst hilf du!"
+</p>
+
+<p>
+"Sesemann", entgegnete der Doktor ernsthaft, "bedenke, was du tust!
+Dieser Zustand ist keine Krankheit, die man mit Pulvern und Pillen
+heilt. Das Kind hat keine zähe Natur, indessen, wenn du es jetzt
+gleich wieder in die kräftige Bergluft hinaufschickst, an die es
+gewöhnt ist, so kann es wieder völlig gesunden; wenn nicht--du
+willst nicht, dass das Kind dem Großvater unheilbar oder gar nicht
+mehr zurückkomme?"
+</p>
+
+<p>
+Herr Sesemann war erschrocken stehen geblieben: "Ja, wenn du so
+redest, Doktor, dann ist nur _ein_ Weg, dann muss sofort gehandelt
+werden." Mit diesen Worten nahm Herr Sesemann den Arm seines
+Freundes und wanderte mit ihm hin und her, um die Sache noch weiter
+zu besprechen. Dann brach der Doktor auf, um nach Hause zu gehen,
+denn es war unterdessen viel Zeit vergangen, und durch die Haustür,
+die diesmal vom Herrn des Hauses aufgeschlossen wurde, drang schon
+der helle Morgenschimmer herein.
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap13"></a>
+Am Sommerabend die Alm hinan
+</h3>
+
+<p>
+Herr Sesemann stieg in großer Erregtheit die Treppe hinauf und
+wanderte mit festem Schritt zum Schlafgemach der Dame Rottenmeier.
+Hier klopfte er so ungewöhnlich kräftig an die Tür, dass die
+Bewohnerin mit einem Schreckensruf aus dem Schlaf auffuhr. Sie
+hörte die Stimme des Hausherrn draußen: "Bitte sich zu beeilen und
+im Esszimmer zu erscheinen, es muss sofort eine Abreise vorbereitet
+werden."
+</p>
+
+<p>
+Fräulein Rottenmeier schaute auf ihre Uhr, es war halb fünf des
+Morgens; zu solcher Stunde war sie in ihrem Leben noch nie
+aufgestanden. Was konnte nur vorgefallen sein? Vor Neugierde und
+angstvoller Erwartung nahm sie alles verkehrt in die Hand und kam
+durchaus nicht vorwärts, denn was sie einmal auf den Leib gebracht
+hatte, suchte sie nachher rastlos im Zimmer herum.
+</p>
+
+<p>
+Unterdessen ging Herr Sesemann den Korridor entlang und zog mit
+aller Kraft an jedem Glockenzug, der je für die verschiedenen
+Glieder der Dienerschaft angebracht war, so dass in jedem der
+betreffenden Zimmer eine Schreckensgestalt aus dem Bett sprang und
+verkehrt in die Kleider fuhr, denn einer wie der andere dachte
+sogleich, das Gespenst habe irgendwie den Hausherrn gepackt und
+dies sei sein Hilferuf. So kamen sie nach und nach, einer
+schauerlicher aussehend als der andere, herunter und stellten sich
+mit Erstaunen vor den Hausherrn hin, denn dieser ging frisch und
+munter im Esszimmer auf und ab und sah keineswegs aus, als habe ihn
+ein Gespenst erschreckt. Johann wurde sofort hingeschickt, Pferde
+und Wagen in Ordnung zu bringen und sie nachher vorzuführen.
+Tinette erhielt den Auftrag, sogleich Heidi aufzuwecken und es in
+den Stand zu stellen, eine Reise anzutreten. Sebastian erhielt den
+Auftrag, nach dem Hause zu eilen, wo Heidis Base im Dienst stand,
+und diese herbeizuholen. Fräulein Rottenmeier war unterdessen
+zurechtgekommen mit ihrem Anzug, und alles saß, wie es musste, nur
+die Haube saß verkehrt auf dem Kopf, so dass es von weitem aussah,
+als sitze ihr das Gesicht auf dem Rücken. Herr Sesemann schrieb
+den rätselhaften Anblick dem frühen Schlafbrechen zu und ging
+unverweilt an die Geschäftsverhandlungen. Er erklärte der Dame,
+sie habe ohne Zögern einen Koffer zur Stelle zu schaffen, die
+sämtliche Habe des Schweizerkindes hineinzupacken--so nannte Herr
+Sesemann gewöhnlich das Heidi, dessen Name ihm etwas ungewohnt war--,
+dazu noch einen guten Teil von Klaras Zeug, damit das Kind was
+Rechtes mitbringe; es müsse aber alles schnell und ohne langes
+Besinnen vor sich gehen.
+</p>
+
+<p>
+Fräulein Rottenmeier blieb vor Überraschung wie in den Boden
+eingewurzelt stehen und starrte Herrn Sesemann an. Sie hatte
+erwartet, er wolle ihr im Vertrauen die Mitteilung einer
+schauerlichen Geistergeschichte machen, die er in der Nacht erlebt
+und die sie eben jetzt bei dem hellen Morgenlicht nicht ungern
+gehört hätte; stattdessen diese völlig prosaischen und dazu noch
+sehr unbequemen Aufträge. So schnell konnte sie das Unerwartete
+nicht bewältigen. Sprachlos stand sie immer noch da und erwartete
+ein Weiteres.
+</p>
+
+<p>
+Aber Herr Sesemann hatte keine Erklärungen im Sinn; er ließ die
+Dame stehen, wo sie stand, und ging nach dem Zimmer seiner Tochter.
+Wie er vermutet hatte, war diese durch die ungewöhnliche Bewegung
+im Hause wach geworden und lauschte nach allen Seiten hin, was wohl
+vorgehe. Der Vater setzte sich nun an ihr Bett und erzählte ihr
+den ganzen Verlauf der Geistererscheinung und dass Heidi nach des
+Doktors Ausspruch sehr angegriffen sei und wohl nach und nach seine
+nächtlichen Wanderungen ausdehnen, vielleicht gar das Dach
+besteigen würde, was dann mit den höchsten Gefahren verbunden wäre.
+Er habe also beschlossen, das Kind sofort heimzuschicken, denn
+solche Verantwortung könne er nicht auf sich nehmen, und Klara
+müsse sich dareinfinden, sie sehe ja ein, dass es nicht anders sein
+könne.
+</p>
+
+<p>
+Klara war sehr schmerzlich überrascht von der Mitteilung und wollte
+erst allerlei Auswege finden, aber es half nichts, der Vater blieb
+fest bei seinem Entschluss, versprach aber, im nächsten Jahre mit
+Klara nach der Schweiz zu reisen, wenn sie nun recht vernünftig sei
+und keinen Jammer erhebe. So ergab sich Klara in das
+Unvermeidliche, begehrte aber zum Ersatz, dass der Koffer für Heidi
+in ihr Zimmer gebracht und da gepackt werde, damit sie
+hineinstecken könne, was ihr Freude mache, was der Papa sehr gern
+bewilligte, ja er ermunterte Klara noch, dem Kinde eine schöne
+Aussteuer zurechtzumachen. Unterdessen war die Base Dete angelangt
+und stand in großer Erwartung im Vorzimmer, denn dass sie um diese
+ungewöhnliche Zeit einberufen worden war, musste etwas
+Außerordentliches bedeuten. Herr Sesemann trat zu ihr heraus und
+erklärte ihr, wie es mit Heidi stehe und dass er wünsche, sie
+möchte das Kind sofort, gleich heute noch, nach Hause bringen. Die
+Base sah sehr enttäuscht aus; diese Nachricht hatte sie nicht
+erwartet. Sie erinnerte sich auch noch recht wohl der Worte, die
+ihr der Öhi mit auf den Weg gegeben hatte, dass sie ihm nie mehr
+vor die Augen kommen solle, und so das Kind dem Alten einmal
+bringen und dann nehmen und dann wiederbringen, das schien ihr
+nicht ganz geraten zu sein. Sie besann sich also nicht lange,
+sondern sagte mit großer Beredsamkeit, heute wäre es ihr leider
+völlig unmöglich, die Reise anzutreten, und morgen könnte sie noch
+weniger daran denken, und die Tage darauf wäre es am
+allerunmöglichsten, um der darauf folgenden Geschäfte willen, und
+nachher könnte sie dann gar nicht mehr. Herr Sesemann verstand die
+Sprache und entließ die Base ohne weiteres. Nun ließ er den
+Sebastian vortreten und erklärte ihm, er habe sich unverzüglich zur
+Reise zu rüsten; heute habe er mit dem Kinde bis nach Basel zu
+fahren, morgen bringe er es heim. Dann könne er sogleich wieder
+umkehren, zu berichten habe er nichts, ein Brief an den Großvater
+werde diesem alles erklären.
+</p>
+
+<p>
+"Nun aber noch eine Hauptsache, Sebastian", schloss Herr Sesemann,
+"und dass Er mir das pünktlich besorgt! Den Gasthof in Basel, den
+ich Ihm hier auf meine Karte geschrieben, kenne ich. Er weist
+meine Karte vor, dann wird Ihm ein gutes Zimmer angewiesen werden
+für das Kind; für sich selbst wird Er schon sorgen. Dann geht Er
+erst in des Kindes Zimmer hinein und verrammelt alle Fenster so
+vollständig, dass nur große Gewalt sie aufzubringen vermöchte. Ist
+das Kind zu Bett, so geht Er und schließt von außen die Tür ab,
+denn das Kind wandert herum in der Nacht und könnte Gefahr laufen
+in dem fremden Haus, wenn es etwa hinausginge und die Haustür
+aufmachen wollte; versteht Er das?"
+</p>
+
+<p>
+"Ah! Ah! Ah! Das war's? So war's?", stieß Sebastian jetzt in
+größter Verwunderung aus, denn es war ihm eben ein großes Licht
+aufgegangen über die Geistererscheinung.
+</p>
+
+<p>
+"Ja, so war's! Das war's! Und Er ist ein Hasenfuß, und dem Johann
+kann Er sagen, er sei desgleichen und alle miteinander eine
+lächerliche Mannschaft." Damit ging Herr Sesemann nach seiner Stube,
+setzte sich hin und schrieb einen Brief an den Alm-Öhi.
+</p>
+
+<p>
+Sebastian war verdutzt mitten im Zimmer stehen geblieben und
+wiederholte jetzt zu öfteren Malen in seinem Innern: "Hätt ich mich
+doch von dem Feigling von einem Johann nicht in die Wachtstube
+hineinreißen lassen, sondern wäre dem weißen Figürchen nachgegangen,
+was ich doch jetzt unzweifelhaft tun würde!", denn jetzt
+beleuchtete die helle Sonne jeden Winkel der hellgrauen Stube mit
+voller Klarheit.
+</p>
+
+<p>
+Unterdessen stand Heidi völlig ahnungslos in seinem
+Sonntagsröckchen und wartete ab, was geschehen sollte, denn die
+Tinette hatte es nur aus dem Schlafe aufgerüttelt, die Kleider aus
+dem Schrank genommen und das Anziehen gefördert, ohne ein Wort zu
+sagen. Sie sprach niemals mit dem ungebildeten Heidi, denn das war
+ihr zu gering.
+</p>
+
+<p>
+Herr Sesemann trat mit seinem Brief ins Esszimmer ein, wo das
+Frühstück bereitstand, und rief: "Wo ist das Kind?"
+</p>
+
+<p>
+Heidi wurde gerufen. Als es zu Herrn Sesemann herantrat, um ihm
+'guten Morgen' zu sagen, schaute er ihm fragend ins
+Gesicht: "Nun, was sagst du denn dazu, Kleine?"
+</p>
+
+<p>
+Heidi blickte verwundert zu ihm auf.
+</p>
+
+<p>
+"Du weißt am Ende noch gar nichts", lachte Herr Sesemann. "Nun,
+heut gehst du heim, jetzt gleich."
+</p>
+
+<p>
+"Heim?", wiederholte Heidi tonlos und wurde schneeweiß, und eine
+kleine Weile konnte es gar keinen Atem mehr holen, so stark wurde
+sein Herz von dem Eindruck gepackt.
+</p>
+
+<p>
+"Nun, willst du etwa nichts wissen davon?", fragte Herr Sesemann
+lächelnd.
+</p>
+
+<p>
+"O ja, ich will schon", kam jetzt heraus, und nun war Heidi
+dunkelrot geworden.
+</p>
+
+<p>
+"Gut, gut", sagte Herr Sesemann ermunternd, indem er sich setzte
+und Heidi winkte, dasselbe zu tun. "Und nun tüchtig frühstücken
+und hernach in den Wagen und fort."
+</p>
+
+<p>
+Aber Heidi konnte keinen Bissen herunterbringen, wie es sich auch
+zwingen wollte aus Gehorsam; es war in einem Zustand von Aufregung,
+dass es gar nicht wusste, ob es wache oder träume und ob es
+vielleicht wieder auf einmal erwachen und im Nachthemdchen an der
+Haustür stehen werde.
+</p>
+
+<p>
+"Sebastian soll reichlich Proviant mitnehmen", rief Herr Sesemann
+Fräulein Rottenmeier zu, die eben eintrat; "das Kind kann nicht
+essen, begreiflicherweise.--Geh hinüber zu Klara, bis der Wagen
+vorfährt", setzte er freundlich, zu Heidi gewandt, hinzu.
+</p>
+
+<p>
+Das war Heidis Wunsch: Es sprang hinüber. Mitten in Klaras Zimmer
+war ein ungeheurer Koffer zu sehen, noch stand dessen Deckel weit
+offen.
+</p>
+
+<p>
+"Komm, Heidi, komm", rief ihm Klara entgegen. "Sieh, was ich dir
+habe einpacken lassen, komm, freut's dich?"
+</p>
+
+<p>
+Und sie nannte ihm eine ganze Menge von Dingen, Kleider und
+Schürzen, Tücher und Nähgerät, "und sieh hier, Heidi", und Klara
+hob triumphierend einen Korb in die Höhe. Heidi guckte hinein und
+sprang hoch auf vor Freude, denn drinnen lagen wohl zwölf schöne,
+weiße, runde Brötchen, alle für die Großmutter. Die Kinder
+vergaßen in ihrem Jubel ganz, dass nun der Augenblick komme, da sie
+sich trennen mussten, und als mit einem Mal der Ruf erschallte:
+"Der Wagen ist bereit!"--da war keine Zeit mehr zum Traurigwerden.
+Heidi lief in sein Zimmer, da musste noch ein schönes Buch von der
+Großmama liegen, niemand konnte es eingepackt haben, denn es lag
+unter dem Kopfkissen, weil Heidi Tag und Nacht sich nicht davon
+trennen konnte. Das wurde in den Korb auf die Brötchen gelegt.
+Dann machte es seinen Schrank auf; noch suchte es nach einem Gute,
+das man vielleicht auch nicht eingepackt hatte. Richtig--auch das
+alte rote Tuch lag noch da, Fräulein Rottenmeier hatte es zu gering
+erachtet, um mit eingepackt zu werden. Heidi wickelte es um einen
+anderen Gegenstand und legte es zuoberst auf den Korb, so dass das
+rote Paket sehr sichtbar zur Erscheinung kam. Dann setzte es sein
+schönes Hütchen auf und verließ sein Zimmer.
+</p>
+
+<p>
+Die beiden Kinder mussten sich schnell Lebewohl sagen, denn Herr
+Sesemann stand schon da, um Heidi nach dem Wagen zu bringen.
+Fräulein Rottenmeier stand oben an der Treppe, um hier Heidi zu
+verabschieden. Als sie das seltsame rote Bündelchen erblickte,
+nahm sie es schnell aus dem Korb heraus und warf es auf den Boden.
+</p>
+
+<p>
+"Nein, Adelheid", sagte sie tadelnd, "so kannst du nicht reisen von
+diesem Hause aus; solches Zeug brauchst du überhaupt nicht
+mitzuschleppen. Nun lebe wohl."
+</p>
+
+<p>
+Auf dieses Verbot hin durfte Heidi sein Bündelchen nicht wieder
+aufnehmen, aber es schaute mit einem flehentlichen Blick zu dem
+Hausherrn auf, so, als wollte man ihm seinen größten Schatz nehmen.
+</p>
+
+<p>
+"Nein, nein", sagte Herr Sesemann in sehr bestimmtem Tone, "das
+Kind soll mit heimtragen, was ihm Freude macht, und sollte es auch
+junge Katzen oder Schildkröten mit fortschleppen, so wollen wir uns
+darüber nicht aufregen, Fräulein Rottenmeier."
+</p>
+
+<p>
+Heidi hob eilig sein Bündelchen wieder vom Boden auf, und Dank und
+Freude leuchteten ihm aus den Augen. Unten am Wagen reichte Herr
+Sesemann dem Kinde die Hand und sagte ihm mit freundlichen Worten,
+sie würden seiner gedenken, er und seine Tochter Klara; er wünschte
+ihm alles Gute auf den Weg, und Heidi dankte recht schön für alle
+Guttaten, die ihm zuteil geworden waren, und zum Schluss sagte es:
+"Und den Herrn Doktor lasse ich tausendmal grüßen und ihm auch
+vielmals danken." Denn es hatte sich wohl gemerkt, wie er gestern
+Abend gesagt hatte: "Und morgen wird alles gut." Nun war es so
+gekommen, und Heidi dachte, er habe dazu geholfen.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt wurde das Kind in den Wagen gehoben und der Korb und die
+Provianttasche und der Sebastian kamen nach. Herr Sesemann rief
+noch einmal freundlich: "Glückliche Reise!", und der Wagen rollte
+davon.
+</p>
+
+<p>
+Bald nachher saß Heidi in der Eisenbahn und hielt unbeweglich
+seinen Korb auf dem Schoße fest, denn es wollte ihn nicht einen
+Augenblick aus den Händen lassen, seine kostbaren Brötchen für die
+Großmutter waren ja darin, die musste es sorgfältig hüten und von
+Zeit zu Zeit einmal wieder ansehen und sich freuen darüber. Heidi
+saß mäuschenstille während mehrerer Stunden, denn erst jetzt kam es
+recht zum Bewusstsein, dass es auf dem Wege sei heim zum Großvater,
+auf die Alm, zur Großmutter, zum Geißenpeter, und nun kam ihm alles
+vor Augen, eins nach dem anderen, was es wieder sehen werde und wie
+alles aussehen werde daheim, und dabei stiegen ihm wieder neue
+Gedanken auf, und auf einmal sagte es ängstlich: "Sebastian, ist
+auch sicher die Großmutter auf der Alm nicht gestorben?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, nein", beruhigte dieser, "wollen's nicht hoffen, wird schon
+noch am Leben sein."
+</p>
+
+<p>
+Dann fiel Heidi wieder in sein Sinnen zurück; nur hier und da
+guckte es einmal in seinen Korb hinein, denn alle die Brötchen der
+Großmutter auf den Tisch legen war sein Hauptgedanke. Nach
+längerer Zeit sagte es wieder: "Sebastian, wenn man nur auch ganz
+sicher wissen könnte, dass die Großmutter noch am Leben ist."
+</p>
+
+<p>
+"Jawohl! Jawohl!", entgegnete der Begleiter halb schlafend; "Wird
+schon noch leben, wüsste auch gar nicht, warum nicht."
+</p>
+
+<p>
+Nach einiger Zeit drückte der Schlaf auch Heidis Augen zu, und nach
+der vergangenen unruhigen Nacht und dem frühen Aufstehen war es so
+schlafbedürftig, dass es erst wieder erwachte, als Sebastian es
+tüchtig am Arm schüttelte und ihm zurief: "Erwachen! Erwachen!
+Gleich aussteigen, in Basel angekommen!"
+</p>
+
+<p>
+Am folgenden Morgen ging's weiter, viele Stunden lang. Heidi saß
+wieder mit seinem Korb auf dem Schoß, den es um keinen Preis dem
+Sebastian übergeben wollte; aber heute sagte es gar nichts mehr,
+denn nun wurde mit jeder Stunde die Erwartung gespannter. Dann auf
+einmal, als Heidi gar nicht daran dachte, ertönte laut der Ruf:
+"Maienfeld!" Es sprang von seinem Sitz auf, und dasselbe tat
+Sebastian, der auch überrascht worden war. Jetzt standen sie
+draußen, der Koffer mit ihnen, und der Bahnzug pfiff weiter ins Tal
+hinein. Sebastian sah ihm wehmütig nach, denn er wäre viel lieber
+so sicher und ohne Mühe weitergereist, als dass er nun eine
+Fußpartie unternehmen sollte, die dazu noch mit einer
+Bergbesteigung enden musste, die sehr beschwerlich und dazu
+gefahrvoll sein konnte in diesem Lande, wo doch alles noch halb
+wild war, wie Sebastian annahm. Er schaute daher sehr vorsichtig
+um sich, wen er etwa beraten könnte über den sichersten Weg nach
+dem 'Dörfli'. Unweit des kleinen Stationsgebäudes
+stand ein kleiner Leiterwagen mit einem mageren Rösslein davor; auf
+diesen wurden von einem breitschultrigen Manne ein paar große Säcke
+aufgeladen, die mit der Bahn hergebracht worden waren. Sebastian
+trat zu ihm heran und brachte seine Frage nach dem sichersten Weg
+zum Dörfli vor.
+</p>
+
+<p>
+"Hier sind alle Wege sicher", war die kurze Antwort.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt fragte Sebastian nach dem besten Wege, auf dem man gehen
+könne, ohne in die Abgründe zu stürzen, und auch wie man einen
+Koffer nach dem betreffenden Dörfli befördern könnte. Der Mann
+schaute nach dem Koffer hin und maß ihn ein wenig mit den Augen;
+dann erklärte er, wenn das Ding nicht zu schwer sei, so wolle er es
+auf seinen Wagen nehmen, da er selbst nach dem Dörfli fahre, und so
+gab noch ein Wort das andere, und endlich kamen die beiden überein,
+der Mann solle Kind und Koffer mit auf seinen Wagen nehmen, und
+nachher vom Dörfli aus könne das Kind am Abend mit irgendjemand auf
+die Alm geschickt werden.
+</p>
+
+<p>
+"Ich kann allein gehen, ich weiß schon den Weg vom Dörfli auf die
+Alm", sagte hier Heidi, das mit Aufmerksamkeit der Verhandlung
+zugehört hatte. Dem Sebastian fiel eine schwere Last vom Herzen,
+als er sich so auf einmal seiner Aussicht auf das Bergklettern
+entledigt sah. Er winkte nun Heidi geheimnisvoll auf die Seite und
+überreichte ihm hier eine schwere Rolle und einen Brief an den
+Großvater und erklärte ihm, die Rolle sei ein Geschenk von Herrn
+Sesemann, die müsse aber zuunterst in den Korb gesteckt werden,
+noch unter die Brötchen, und darauf müsse genau Acht gegeben werden,
+dass sie nicht verloren gehe, denn darüber würde Herr Sesemann
+ganz fürchterlich böse und sein Leben lang nie mehr gut werden; das
+sollte das Mamsellchen nur ja bedenken.
+</p>
+
+<p>
+"Ich verliere sie schon nicht", sagte Heidi zuversichtlich und
+steckte die Rolle samt dem Brief zuallerunterst in den Korb hinein.
+Nun wurde der Koffer aufgeladen, und nachher hob Sebastian Heidi
+samt seinem Korb auf den hohen Sitz empor, reichte ihm seine Hand
+hinauf zum Abschied und ermahnte es noch einmal mit allerlei
+Zeichen, auf den Inhalt des Korbes ein Auge zu haben; denn der
+Führer war noch in der Nähe, und Sebastian war vorsichtig,
+besonders jetzt, da er wusste, er hätte eigentlich selbst das Kind
+an Ort und Stelle bringen sollen. Der Führer schwang sich jetzt
+neben Heidi auf den Sitz hinauf, und der Wagen rollte den Bergen zu,
+während Sebastian, froh über seine Befreiung von der gefürchteten
+Bergreise, sich am Stationshäuschen niedersetzte, um den
+zurückgehenden Bahnzug abzuwarten.
+</p>
+
+<p>
+Der Mann auf dem Wagen war der Bäcker vom Dörfli, welcher seine
+Mehlsäcke nach Hause fuhr. Er hatte Heidi nie gesehen, aber wie
+jedermann im Dörfli wusste er von dem Kinde, das man dem Alm-Öhi
+gebracht hatte; auch hatte er Heidis Eltern gekannt und sich gleich
+vorgestellt, er werde es mit dem viel besprochenen Kinde hier zu
+tun haben. Es wunderte ihn nun ein wenig, warum das Kind schon
+wieder heimkommen und während der Fahrt fing er nun mit Heidi ein
+Gespräch an: "Du wirst das Kind sein, das oben beim Alm-Öhi war,
+beim Großvater?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja."
+</p>
+
+<p>
+"So ist es dir schlecht gegangen, dass du schon wieder von so weit
+her heimkommst?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, das ist es mir nicht; kein Mensch kann es so gut haben, wie
+man es in Frankfurt hat."
+</p>
+
+<p>
+"Warum läufst du denn heim?"
+</p>
+
+<p>
+"Nur weil es mir der Herr Sesemann erlaubt hat, sonst wär ich nicht
+heimgelaufen."
+</p>
+
+<p>
+"Pah, warum bist du denn aber nicht lieber dort geblieben, wenn man
+dir's erlaubt hat, heimzugehen?"
+</p>
+
+<p>
+"Weil ich tausendmal lieber heimwill zum Großvater auf die Alm als
+sonst alles auf der Welt."
+</p>
+
+<p>
+"Denkst vielleicht anders, wenn du hinaufkommst", brummte der
+Bäcker; "nimmt mich aber doch wunder", sagte er dann zu sich selbst,
+"es kann wissen, wie's ist."
+</p>
+
+<p>
+Nun fing er an zu pfeifen und sagte nichts mehr, und Heidi schaute
+um sich und fing an innerlich zu zittern vor Erregung, denn es
+erkannte die Bäume am Wege, und drüben standen die hohen Zacken des
+Falknis-Berges und schauten zu ihm herüber, so als grüßten sie es
+wie gute alte Freunde; und Heidi grüßte wieder, und mit jedem
+Schritt vorwärts wurde Heidis Erwartung gespannter, und es meinte,
+es müsse vom Wagen herunterspringen und aus allen Kräften laufen,
+bis es ganz oben wäre. Aber es blieb doch still sitzen und rührte
+sich nicht, aber alles zitterte an ihm. Jetzt fuhren sie im Dörfli
+ein, eben schlug die Glocke fünf Uhr. Augenblicklich sammelte sich
+eine Gesellschaft von Kindern und Frauen um den Wagen herum, und
+ein paar Nachbarn traten auch noch herzu, denn der Koffer und das
+Kind auf des Bäckers Wagen hatten die Aufmerksamkeit aller
+Umwohnenden auf sich gezogen, und jeder wollte wissen, woher und
+wohin und wem beide zugehörten. Als der Bäcker Heidi
+heruntergehoben hatte, sagte es eilig: "Danke, der Großvater holt
+dann schon den Koffer", und wollte davonrennen. Aber von allen
+Seiten wurde es festgehalten, und eine Menge von Stimmen fragten
+alle auf einmal, jede etwas Eigenes. Heidi drängte sich mit einer
+solchen Angst auf dem Gesichte durch die Leute, dass man ihm
+unwillkürlich Platz machte und es laufen ließ, und einer sagte zum
+anderen: "Du siehst ja, wie es sich fürchtet, es hat auch alle
+Ursache." Und dann fingen sie noch an, sich zu erzählen, wie der
+Alm-Öhi seit einem Jahr noch viel ärger geworden sei als vorher und
+mit keinem Menschen mehr ein Wort rede und ein Gesicht mache, als
+wolle er am liebsten jeden umbringen, der ihm in den Weg komme, und
+wenn das Kind auf der ganzen Welt noch wüsste wohin, so liefe es
+nicht in das alte Drachennest hinauf. Aber hier fiel der Bäcker in
+das Gespräch ein und sagte, er werde wohl mehr wissen als sie alle,
+und erzählte dann sehr geheimnisvoll, wie ein Herr das Kind bis
+nach Maienfeld gebracht und es ganz freundlich entlassen habe und
+auch gleich ohne Markten ihm den geforderten Fahrpreis und dazu
+noch ein Trinkgeld gegeben habe, und überhaupt könne er sicher
+sagen, dass es dem Kind wohl genug gewesen sei, wo es war, und es
+selbst begehrt habe, zum Großvater zurückzugehen. Diese Nachricht
+brachte eine große Verwunderung hervor und wurde nun gleich im
+ganzen Dörfli so verbreitet, dass noch am gleichen Abend kein Haus
+daselbst war, in dem man nicht davon redete, dass das Heidi aus
+allem Wohlleben zum Großvater zurückbegehrt habe.
+</p>
+
+<p>
+Heidi lief vom Dörfli bergan, so schnell es nur konnte; von Zeit zu
+Zeit musste es aber plötzlich stille stehen, denn es hatte ganz den
+Atem verloren; sein Korb am Arm war doch ziemlich schwer, und dazu
+ging es nun immer steiler, je höher hinauf es ging. Heidi hatte
+nur noch einen Gedanken: "Wird auch die Großmutter noch auf ihrem
+Plätzchen sitzen am Spinnrad in der Ecke, ist sie auch nicht
+gestorben unterdessen?" Jetzt erblickte Heidi die Hütte oben in der
+Vertiefung an der Alm, sein Herz fing an zu klopfen, Heidi rannte
+noch mehr, immer mehr und immer lauter schlug ihm das Herz. Jetzt
+war es oben--vor Zittern konnte es fast die Tür nicht aufmachen--
+doch jetzt--es sprang hinein bis mitten in die kleine Stube und
+stand da, völlig außer Atem, und brachte keinen Ton hervor.
+</p>
+
+<p>
+"Ach du mein Gott", tönte es aus der Ecke hervor, "so sprang unser
+Heidi herein, ach, wenn ich es noch ein Mal im Leben bei mir haben
+könnte! Wer ist hereingekommen?"
+</p>
+
+<p>
+"Da bin ich ja, Großmutter, da bin ich ja", rief Heidi jetzt und
+stürzte nach der Ecke und gleich auf seine Knie zu der Großmutter
+heran, fasste ihren Arm und ihre Hände und legte sich an sie und
+konnte vor Freude gar nichts mehr sagen. Erst war die Großmutter
+so überrascht, dass auch sie kein Wort hervorbringen konnte; dann
+fuhr sie mit der Hand streichelnd über Heidis Kraushaare hin, und
+nun sagte sie ein Mal über das andere: "Ja, ja, das sind seine
+Haare und es ist ja seine Stimme, ach du lieber Gott, dass du mich
+das noch erleben lässt!" Und aus den blinden Augen fielen ein paar
+große Freudentränen auf Heidis Hand nieder. "Bist du's auch, Heidi,
+bist du auch sicher wieder da?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja, ja, sicher, Großmutter", rief Heidi nun mit aller Zuversicht,
+"weine nur nicht, ich bin ganz gewiss wieder da und komme alle Tage
+zu dir und gehe nie wieder fort, und du musst auch manchen Tag kein
+hartes Brot mehr essen, siehst du, Großmutter, siehst du?"
+</p>
+
+<p>
+Und Heidi packte nun aus seinem Korb ein Brötchen nach dem andern
+aus, bis es alle zwölf auf dem Schoß der Großmutter aufgehäuft
+hatte.
+</p>
+
+<p>
+"Ach Kind! Ach Kind! Was bringst du denn für einen Segen mit!",
+rief die Großmutter aus, als es nicht enden wollte mit den Brötchen
+und immer noch eines folgte. "Aber der größte Segen bist du mir
+doch selber, Kind!" Dann griff sie wieder in Heidis krause Haare
+und strich über seine heißen Wangen und sagte wieder: "Sag noch ein
+Wort, Kind, sag noch etwas, dass ich dich hören kann."
+</p>
+
+<p>
+Heidi erzählte nun der Großmutter, welche große Angst es habe
+ausstehen müssen, sie sei vielleicht gestorben unterdessen und habe
+nun gar nie die weißen Brötchen bekommen, und es könne nie, nie
+mehr zu ihr gehen.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt trat Peters Mutter herein und blieb einen Augenblick
+unbeweglich stehen vor Erstaunen. Dann rief sie: "Sicher, es ist
+das Heidi, wie kann auch das sein!"
+</p>
+
+<p>
+Heidi stand auf und gab ihr die Hand, und die Brigitte konnte sich
+gar nicht genug verwundern darüber, wie Heidi aussehe, und ging um
+das Kind herum und sagte: "Großmutter, wenn du doch nur sehen
+könntest, was für ein schönes Röcklein das Heidi hat und wie es
+aussieht; man kennt es fast nicht mehr. Und das Federnhütlein auf
+dem Tisch gehört dir auch noch? Setz es doch einmal auf, so kann
+ich sehen, wie du drin aussiehst."
+</p>
+
+<p>
+"Nein, ich will nicht", erklärte Heidi, "du kannst es haben, ich
+brauche es nicht mehr, ich habe schon noch mein eigenes." Damit
+machte Heidi sein rotes Bündelchen auf und nahm sein altes Hütchen
+daraus hervor, das auf der Reise zu den Knicken, die es schon
+vorher gehabt, noch einige bekommen hatte. Aber das kümmerte das
+Heidi wenig; es hatte ja nicht vergessen, wie der Großvater beim
+Abschied nachgerufen hatte, in einem Federnhut wolle er es niemals
+sehen; darum hatte Heidi sein Hütchen so sorgfältig aufgehoben,
+denn es dachte ja immer ans Heimgehen zum Großvater. Aber die
+Brigitte sagte, so einfältig müsse es nicht sein, es sei ja ein
+prächtiges Hütchen, das nehme sie nicht; man könnte es ja etwa dem
+Töchterlein vom Lehrer im Dörfli verkaufen und noch viel Geld
+bekommen, wenn es das Hütlein nicht tragen wolle. Aber Heidi blieb
+bei seinem Vorhaben und legte das Hütchen leise hinter die
+Großmutter in den Winkel, wo es ganz verborgen war. Dann zog Heidi
+auf einmal sein schönes Röcklein aus, und über das Unterröckchen,
+in dem es nun mit bloßen Armen dastand, band es das rote Halstuch,
+und nun fasste es die Hand der Großmutter und sagte: "Jetzt muss
+ich heim zum Großvater, aber morgen komm ich wieder zu dir; gute
+Nacht, Großmutter."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, komm auch wieder, Heidi, komm auch morgen wieder", bat die
+Großmutter und drückte seine Hand zwischen den ihrigen und konnte
+das Kind fast nicht loslassen.
+</p>
+
+<p>
+"Warum hast du denn dein schönes Röcklein ausgezogen?", fragte die
+Brigitte.
+</p>
+
+<p>
+"Weil ich lieber so zum Großvater will, sonst kennt er mich
+vielleicht nicht mehr, du hast mich ja auch fast nicht gekannt
+darin."
+</p>
+
+<p>
+Die Brigitte ging noch mit Heidi vor die Tür hinaus, und hier sagte
+sie ein wenig geheimnisvoll zu ihm: "Den Rock hättest du schon
+anbehalten können, er hätte dich doch gekannt; aber sonst musst du
+dich in Acht nehmen; der Peterli sagt, der Alm-Öhi sei jetzt immer
+bös und rede kein Wort mehr."
+</p>
+
+<p>
+Heidi sagte 'gute Nacht' und stieg die Alm hinan mit
+seinem Korb am Arm. Die Abendsonne leuchtete ringsum auf die grüne
+Alm, und jetzt war auch drüben das große Schneefeld an der
+Schesaplana sichtbar geworden und strahlte herüber. Heidi musste
+alle paar Schritte wieder stille stehen und sich umkehren, denn die
+hohen Berge hatte es im Rücken beim Hinaufsteigen. Jetzt fiel ein
+roter Schimmer vor seinen Füßen auf das Gras, es kehrte sich um, da
+--so hatte es die Herrlichkeit nicht mehr im Sinn gehabt und auch
+nie so im Traum gesehen--die Felshörner am Falknis flammten zum
+Himmel auf, das weite Schneefeld glühte und rosenrote Wolken zogen
+darüber hin; das Gras rings auf der Alm war golden, von allen
+Felsen flimmerte und leuchtete es nieder und unten schwamm weithin
+das ganze Tal in Duft und Gold. Heidi stand mitten in der
+Herrlichkeit, und vor Freude und Wonne liefen ihm die hellen Tränen
+die Wangen herunter, und es musste die Hände falten und in den
+Himmel hinaufschauen und ganz laut dem lieben Gott danken, dass er
+es wieder heimgebracht hatte und dass alles, alles noch so schön
+sei und noch viel schöner, als es gewusst hatte, und dass alles
+wieder ihm gehöre; und Heidi war so glücklich und so reich in all
+der großen Herrlichkeit, dass es gar nicht Worte fand, dem lieben
+Gott genug zu danken. Erst als das Licht ringsum verglühte, konnte
+Heidi wieder von der Stelle weg; nun rannte es aber so den Berg
+hinan, dass es gar nicht lange dauerte, so erblickte es oben die
+Tannenwipfel über dem Dache und jetzt das Dach und die ganze Hütte,
+und auf der Bank an der Hütte saß der Großvater und rauchte sein
+Pfeifchen, und über die Hütte her wogten die alten Tannenwipfel und
+raschelten im Abendwind. Jetzt rannte das Heidi noch mehr, und
+bevor der Alm-Öhi nur recht sehen konnte, was da herankam, stürzte
+das Kind schon auf ihn hin, warf seinen Korb auf den Boden und
+umklammerte den Alten, und vor Aufregung des Wiedersehens konnte es
+nichts sagen, als nur immer ausrufen: "Großvater! Großvater!
+Großvater!"
+</p>
+
+<p>
+Der Großvater sagte auch nichts. Seit vielen Jahren waren ihm zum
+erstenmal wieder die Augen nass geworden, und er musste mit der
+Hand darüber fahren. Dann löste er Heidis Arme von seinem Hals,
+setzte das Kind auf seine Knie und betrachtete es einen Augenblick.
+"So, bist du wieder heimgekommen, Heidi", sagte er dann; "wie ist
+das? Besonders hoffärtig siehst du nicht aus, haben sie dich
+fortgeschickt?"
+</p>
+
+<p>
+"O nein, Großvater", fing Heidi nun mit Eifer an, "das musst du
+nicht glauben, sie waren alle so gut, die Klara und die Großmama
+und der Herr Sesemann; aber siehst du, Großvater, ich konnte es
+fast gar nicht mehr aushalten, bis ich wieder bei dir daheim sein
+könnte, und ich habe manchmal gemeint, ich müsse ganz ersticken, so
+hat es mich gewürgt; aber ich habe gewiss nichts gesagt, weil es
+undankbar war. Aber dann auf einmal an einem Morgen rief mich der
+Herr Sesemann ganz früh--aber ich glaube, der Herr Doktor war
+schuld daran--aber es steht vielleicht alles in dem Brief"--damit
+sprang Heidi auf den Boden und holte seinen Brief und seine Rolle
+aus dem Korb herbei und legte beide in die Hand des Großvaters.
+</p>
+
+<p>
+"Das gehört dir", sagte dieser und legte die Rolle neben sich auf
+die Bank. Dann nahm er den Brief und las ihn durch: Ohne ein Wort
+zu sagen, steckte er dann das Blatt in die Tasche.
+</p>
+
+<p>
+"Meinst, du könntest auch noch Milch trinken mit mir, Heidi?",
+fragte er nun, indem er das Kind bei der Hand nahm, um in die Hütte
+einzutreten. "Aber nimm dort dein Geld mit dir, da kannst du ein
+ganzes Bett daraus kaufen und Kleider für ein paar Jahre."
+</p>
+
+<p>
+"Ich brauch es gewiss nicht, Großvater", versicherte Heidi; "ein
+Bett hab ich schon, und Kleider hat mir Klara so viele eingepackt,
+dass ich gewiss nie mehr andere brauche."
+</p>
+
+<p>
+"Nimm's, nimm's, und leg's in den Schrank, du wirst's schon einmal
+brauchen können."
+</p>
+
+<p>
+Heidi gehorchte und hüpfte nun dem Großvater nach in die Hütte
+hinein, wo es vor Freude über das Wiedersehen in alle Winkel sprang
+und die Leiter hinauf--aber da stand es plötzlich still und rief
+in Betroffenheit von oben herunter: "Oh, Großvater, ich habe kein
+Bett mehr!"
+</p>
+
+<p>
+"Kommt schon wieder", tönte es von unten herauf, "wusste ja nicht,
+dass du wieder heimkommst; jetzt komm zur Milch!"
+</p>
+
+<p>
+Heidi kam herunter und setzte sich auf seinen hohen Stuhl am alten
+Platze, und nun erfasste es sein Schüsselchen und trank mit einer
+Begierde, als wäre etwas so Köstliches noch nie in seinen Bereich
+gekommen, und als es mit einem tiefen Atemzug das Schüsselchen
+hinstellte, sagte es: "So gut wie unsere Milch ist doch gar nichts
+auf der Welt, Großvater."
+</p>
+
+<p>
+Jetzt ertönte draußen ein schriller Pfiff; wie der Blitz schoss
+Heidi zur Tür hinaus. Da kam die ganze Schar der Geißen hüpfend,
+springend, Sätze machend von der Höhe herunter, mittendrin der
+Peter. Als er Heidi ansichtig wurde, blieb er auf der Stelle
+völlig wie angewurzelt stehen und starrte es sprachlos an. Heidi
+rief: "Guten Abend, Peter!", und stürzte mitten in die Geißen
+hinein: "Schwänli! Bärli! Kennt ihr mich noch?", und die Geißlein
+mussten seine Stimme gleich erkannt haben, denn sie rieben ihre
+Köpfe an Heidi und fingen an leidenschaftlich zu meckern vor Freude,
+und Heidi rief alle nacheinander beim Namen, und alle rannten wie
+wild durcheinander und drängten sich zu ihm heran; der ungeduldige
+Distelfink sprang hoch auf und über zwei Geißen weg, um gleich in
+die Nähe zu kommen, und sogar das schüchterne Schneehöppli drängte
+mit einem ziemlich eigensinnigen Bohren den großen Türk auf die
+Seite, der nun ganz verwundert über die Frechheit dastand und
+seinen Bart in die Luft hob, um zu zeigen, dass er es sei.
+</p>
+
+<p>
+Heidi war außer sich vor Freude, alle die alten Gefährten wieder zu
+haben; es umarmte das kleine, zärtliche Schneehöppli wieder und
+wieder und streichelte den stürmischen Distelfink und wurde vor
+großer Liebe und Zutraulichkeit der Geißen hin und her gedrängt und
+geschoben, bis es nun ganz in Peters Nähe kam, der noch immer auf
+demselben Platze stand.
+</p>
+
+<p>
+"Komm herunter, Peter, und sag mir einmal guten Abend!", rief ihm
+Heidi jetzt zu.
+</p>
+
+<p>
+"Bist denn wieder da?", brachte er nun endlich in seinem Erstaunen
+heraus, und nun kam er herzu und nahm Heidis Hand, die dieses ihm
+schon lange hingehalten hatte, und nun fragte er, so wie er immer
+getan hatte bei der Heimkehr am Abend: "Kommst morgen wieder mit?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, morgen nicht, aber übermorgen vielleicht, denn morgen muss
+ich zur Großmutter."
+</p>
+
+<p>
+"Es ist recht, dass du wieder da bist", sagte der Peter und verzog
+sein Gesicht auf alle Seiten vor ungeheurem Vergnügen, dann
+schickte er sich zur Heimfahrt an; aber heute wurde es ihm so
+schwer wie noch nie mit seinen Geißen, denn als er sie endlich mit
+Locken und Drohen so weit gebracht hatte, dass sie sich um ihn
+sammelten, und Heidi, den einen Arm um Schwänlis und den andern um
+Bärlis Kopf gelegt, davonspazierte, da kehrten mit einem Male alle
+wieder um und liefen den dreien nach. Heidi musste mit seinen zwei
+Geißen in den Stall eintreten und die Tür zumachen, sonst wäre der
+Peter niemals mit seiner Herde fortgekommen. Als das Kind dann in
+die Hütte zurückkam, da sah es sein Bett schon wieder aufgerichtet,
+prächtig hoch und duftend, denn das Heu war noch nicht lange
+hereingeholt, und darüber hatte der Großvater ganz sorgfältig die
+sauberen Leintücher gebreitet. Heidi legte sich mit großer Lust
+hinein und schlief so herrlich, wie es ein ganzes Jahr lang nicht
+geschlafen hatte. Während der Nacht verließ der Großvater wohl
+zehnmal sein Lager und stieg die Leiter hinauf und lauschte sorgsam,
+ob Heidi auch schlafe und nicht unruhig werde, und suchte am Loch
+nach, wo sonst der Mond hereinkam auf Heidis Lager, ob auch das Heu
+noch fest drinnen sitze, das er hineingestopft hatte, denn von nun
+an durfte der Mondschein nicht mehr hereinkommen. Aber Heidi
+schlief in einem Zuge fort und wanderte keinen Schritt herum, denn
+sein großes, brennendes Verlangen war gestillt worden: Es hatte
+alle Berge und Felsen wieder im Abendglühen gesehen, es hatte die
+Tannen rauschen gehört, es war wieder daheim auf der Alm.
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /></p>
+
+<h3>
+<a id="chap14"></a>
+Am Sonntag, wenn's läutet
+</h3>
+
+<p>
+Heidi stand unter den wogenden Tannen und wartete auf den Großvater,
+der mitgehen und den Koffer vom Dörfli heraufholen wollte, während
+es bei der Großmutter wäre. Das Kind konnte es fast nicht erwarten,
+die Großmutter wieder zu sehen und zu hören, wie ihr die Brötchen
+geschmeckt hatten, und doch wurde ihm wieder die Zeit nicht lang,
+denn es konnte ja nicht genug die heimatlichen Töne von dem
+Tannenrauschen über ihm und das Duften und Leuchten der grünen
+Weiden und der goldenen Blumen darauf eintrinken.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt trat der Großvater aus der Hütte, schaute noch einmal rings
+um sich und sagte dann mit zufriedenem Ton: "So, nun können wir
+gehen."
+</p>
+
+<p>
+Denn es war Sonnabend heut, und an dem Tage machte der Alm-Öhi
+alles sauber und in Ordnung in der Hütte, im Stall und ringsherum,
+das war seine Gewohnheit, und heut hatte er den Morgen dazu
+genommen, um gleich nachmittags mit Heidi ausziehen zu können, und
+so sah nun alles ringsherum gut und zu seiner Zufriedenheit aus.
+Bei der Geißenpeter-Hütte trennten sie sich, und Heidi sprang
+hinein. Schon hatte die Großmutter seinen Schritt gehört und rief
+ihm liebevoll entgegen: "Kommst du, Kind? Kommst du wieder?"
+</p>
+
+<p>
+Dann erfasste sie Heidis Hand und hielt sie ganz fest, denn immer
+noch fürchtete sie, das Kind könnte ihr wieder entrissen werden.
+Und nun musste die Großmutter erzählen, wie die Brötchen geschmeckt
+hätten, und sie sagte, sie habe sich so daran erlabt, dass sie
+meine, sie sei heute viel kräftiger als lang nicht mehr, und Peters
+Mutter fügte hinzu, die Großmutter habe vor lauter Sorge, sie werde
+zu bald fertig damit, nur ein einziges Brötchen essen wollen,
+gestern und heut zusammen, und sie käme gewiss noch ziemlich zu
+Kräften, wenn sie so acht Tage lang hintereinander jeden Tage eines
+essen wollte. Heidi hörte der Brigitte mit Aufmerksamkeit zu und
+blieb jetzt noch eine Zeit lang nachdenklich. Nun hatte es seinen
+Weg gefunden. "Ich weiß schon, was ich mache, Großmutter", sagte
+es in freudigem Eifer; "ich schreibe der Klara einen Brief und dann
+schickt sie mir gewiss noch einmal so viel Brötchen, wie da sind,
+oder zweimal, denn ich hatte schon einen großen Haufen ganz gleiche
+im Kasten, und als man mir sie weggenommen hatte, sagte Klara, sie
+gebe mir gerade so viele wieder, und das tut sie schon."
+</p>
+
+<p>
+"Ach Gott", sagte die Brigitte, "das ist eine gute Meinung; aber
+denk, sie werden auch hart. Wenn man nur hier und da einen übrigen
+Batzen hätte, der Bäcker unten im Dörfli macht auch solche, aber
+ich vermag kaum das schwarze Brot zu bezahlen."
+</p>
+
+<p>
+Jetzt schoss ein heller Freudenstrahl über Heidis Gesicht: "Oh, ich
+habe furchtbar viel Geld, Großmutter", rief es jubelnd aus und
+hüpfte vor Freuden in die Höhe, "jetzt weiß ich, was ich damit
+mache! Alle, alle Tage musst du ein neues Brötchen haben und am
+Sonntage zwei, und der Peter kann sie heraufbringen vom Dörfli."
+</p>
+
+<p>
+"Nein, nein, Kind!", wehrte die Großmutter; "das kann nicht sein,
+das Geld hast du nicht dazu bekommen, du musst es dem Großvater
+geben, er sagt dir dann schon, was du damit machen musst."
+</p>
+
+<p>
+Aber Heidi ließ sich nicht stören in seiner Freude, es jauchzte und
+hüpfte in der Stube herum und rief ein Mal übers andere: "Jetzt
+kann die Großmutter jeden Tag ein Brötchen essen und wird wieder
+ganz kräftig, und--oh, Großmutter", rief es mit neuem Jubel, "wenn
+du dann so gesund wirst, so wird es dir gewiss auch wieder hell, es
+ist vielleicht nur, weil du so schwach bist."
+</p>
+
+<p>
+Die Großmutter schwieg still, sie wollte des Kindes Freude nicht
+trüben. Bei seinem Herumhüpfen fiel dem Heidi auf einmal das alte
+Liederbuch der Großmutter in die Augen, und es kam ihm ein neuer
+freudiger Gedanke: "Großmutter, jetzt kann ich auch ganz gut lesen;
+soll ich dir einmal ein Lied lesen aus deinem alten Buch?"
+</p>
+
+<p>
+"O ja", bat die Großmutter freudig überrascht; "kannst du das auch
+wirklich, Kind, kannst du das?"
+</p>
+
+<p>
+Heidi war auf einen Stuhl geklettert und hatte das Buch mit einer
+dicken Staubwolke heruntergezogen, denn es hatte lange unberührt
+gelegen da oben; nun wischte es Heidi sauber ab, setzte sich damit
+auf seinen Schemel zur Großmutter hin und fragte, was es nun lesen
+solle.
+</p>
+
+<p>
+"Was du willst, Kind, was du willst", und mit gespannter Erwartung
+saß die Großmutter da und hatte ihr Spinnrad ein wenig von sich
+geschoben.
+</p>
+
+<p>
+Heidi blätterte und las leise hier und da eine Linie: "jetzt kommt
+etwas von der Sonne, das will ich dir lesen, Großmutter." Und Heidi
+begann und wurde selbst immer eifriger und immer wärmer, während es
+las:
+</p>
+
+<p class="poem">
+ "Die güldne Sonne Voll<br />
+ Freud und Wonne<br />
+ Bringt unsern Grenzen<br />
+ Mit ihrem Glänzen<br />
+ Ein herzerquickendes, liebliches Licht.<br />
+</p>
+
+<p class="poem">
+ Mein Haupt und Glieder<br />
+ Die lagen darnieder;<br />
+ Aber nun steh ich,<br />
+ Bin munter und fröhlich,<br />
+ Schaue den Himmel mit meinem Gesicht.<br />
+</p>
+
+<p class="poem">
+ Mein Auge schauet,<br />
+ Was Gott gebauet<br />
+ Zu seinen Ehren,<br />
+ Und uns zu lehren,<br />
+ Wie sein Vermögen sei mächtig und groß.<br />
+</p>
+
+<p class="poem">
+ Und wo die Frommen<br />
+ Dann sollen hinkommen,<br />
+ Wenn sie mit Frieden<br />
+ Von hinnen geschieden<br />
+ Aus dieser Erde vergänglichem Schoß.<br />
+</p>
+
+<p class="poem">
+ Alles vergehet,<br />
+ Gott aber stehet<br />
+ Ohn alles Wanken,<br />
+ Seine Gedanken,<br />
+ Sein Wort und Wille hat ewigen Grund.<br />
+</p>
+
+<p class="poem">
+ Sein Heil und Gnaden<br />
+ Die nehmen nicht Schaden,<br />
+ Heilen im Herzen,<br />
+ Die tödlichen Schmerzen,<br />
+ Halten uns zeitlich und ewig gesund.<br />
+</p>
+
+<p class="poem">
+ Kreuz und Elende--<br />
+ Das nimmt ein Ende,<br />
+ Nach Meeresbrausen<br />
+ Und Windessausen<br />
+ Leuchtet der Sonne erwünschtes Gesicht.<br />
+</p>
+
+<p class="poem">
+ Freude die Fülle<br />
+ Und selige Stille<br />
+ Darf ich erwarten<br />
+ Im himmlischen Garten,<br />
+ Dahin sind meine Gedanken gericht'."<br />
+</p>
+
+<p><br /></p>
+
+<p>
+Die Großmutter saß still da mit gefalteten Händen, und ein Ausdruck
+unbeschreiblicher Freude, so wie ihn Heidi nie an ihr gesehen hatte,
+lag auf ihrem Gesicht, obschon ihr die Tränen die Wangen
+herabliefen. Als Heidi schwieg, bat sie mit Verlangen: "Oh, noch
+einmal, Heidi, lass es mich noch einmal hören:
+</p>
+
+<p class="poem">
+ 'Kreuz und Elende<br />
+ Das nimmt ein Ende'--"<br />
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Und das Kind fing noch einmal an und las in eigener Freude und
+Verlangen:
+</p>
+
+<p class="poem">
+ "Kreuz und Elende--<br />
+ Das nimmt ein Ende,<br />
+ Nach Meeresbrausen<br />
+ Und Windessausen<br />
+ Leuchtet der Sonne erwünschtes Gesicht.<br />
+</p>
+
+<p class="poem">
+ Freude die Fülle<br />
+ Und selige Stille<br />
+ Darf ich erwarten<br />
+ Im himmlischen Garten,<br />
+ Dahin sind meine Gedanken gericht'."<br />
+</p>
+
+<p><br /></p>
+
+<p>
+"O Heidi, das macht hell! Das macht so hell im Herzen! Oh, wie
+hast du mir wohl gemacht, Heidi!"
+</p>
+
+<p>
+Ein Mal ums andere sagte die Großmutter die Worte der Freude, und
+Heidi strahlte vor Glück und musste sie nur immer ansehen, denn so
+hatte es die Großmutter nie gesehen. Sie hatte gar nicht mehr das
+alte trübselige Gesicht, sondern schaute so freudig und dankend auf,
+als sähe sie schon mit neuen, hellen Augen in den schönen
+himmlischen Garten hinein.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt klopfte es am Fenster, und Heidi sah den Großvater draußen,
+der ihm winkte, mit heimzukommen. Es folgte schnell, aber nicht
+ohne die Großmutter zu versichern, morgen komme es wieder, und auch
+wenn es mit Peter auf die Weide gehe, so komme es doch im halben
+Tag zurück; denn dass es der Großmutter wieder hell machen konnte
+und sie wieder fröhlich wurde, das war nun für Heidi das
+allergrößte Glück, das es kannte, noch viel größer, als auf der
+sonnigen Weide und bei den Blumen und Geißen zu sein. Die Brigitte
+lief dem Heidi unter die Tür nach mit Rock und Hut, dass es seine
+Habe mitnehme. Den Rock nahm es auf den Arm, denn der Großvater
+kenne es jetzt schon, dachte es bei sich; aber den Hut wies es
+hartnäckig zurück, die Brigitte sollte ihn nur behalten, es setze
+ihn nie, nie mehr auf den Kopf. Heidi war so erfüllt von seinen
+Erlebnissen, dass es gleich dem Großvater alles erzählen musste,
+was ihm das Herz erfreute, dass man die weißen Brötchen auch unten
+im Dörfli für die Großmutter holen könne, wenn man nur Geld habe,
+und dass es der Großmutter auf einmal so hell und wohl geworden war,
+und wie Heidi das alles zu Ende geschildert hatte, kehrte es
+wieder zum Ersten zurück und sagte ganz zuversichtlich: "Gelt,
+Großvater, wenn die Großmuttter schon nicht will, so gibst du mir
+doch alles Geld in der Rolle, dass ich dem Peter jeden Tag ein
+Stück geben kann zu einem Brötchen und am Sonntag zwei?"
+</p>
+
+<p>
+"Aber das Bett, Heidi?", sagte der Großvater; "ein rechtes Bett für
+dich wäre gut, und nachher bleibt schon noch für manches Brötchen."
+</p>
+
+<p>
+Aber Heidi ließ dem Großvater keine Ruhe und bewies ihm, dass es
+auf seinem Heubett viel besser schlafe, als es jemals in seinem
+Kissenbett in Frankfurt geschlafen habe, und bat so eindringlich
+und unablässig, dass der Großvater zuletzt sagte: "Das Geld ist
+dein, mach, was dich freut; du kannst der Großmutter manches Jahr
+lang Brot holen dafür."
+</p>
+
+<p>
+Heidi jauchzte auf: "O juhe! Nun muss die Großmutter gar nie mehr
+hartes, schwarzes Brot essen, und, o Großvater! Nun ist doch alles
+so schön wie noch gar nie, seit wir leben!", und Heidi hüpfte hoch
+auf an der Hand des Großvaters und jauchzte in die Luft hinauf wie
+die fröhlichen Vögel des Himmels. Aber auf einmal wurde es ganz
+ernsthaft und sagte: "Oh, wenn nun der liebe Gott gleich auf der
+Stelle getan hätte, was ich so stark erbetete, dann wäre doch alles
+nicht so geworden, ich wäre nur gleich wieder heimgekommen und
+hätte der Großmutter nur wenige Brötchen gebracht und hätte ihr
+nicht lesen können, was ihr wohl macht; aber der liebe Gott hatte
+schon alles ausgedacht, so viel schöner, als ich es wusste; die
+Großmama hat es mir gesagt, und nun ist alles so gekommen. Oh, wie
+bin ich froh, dass der liebe Gott nicht nachgab, wie ich so bat und
+jammerte! Aber jetzt will ich immer so beten, wie die Großmama
+sagte, und dem lieben Gott immer danken, und wenn er etwas nicht
+tut, das ich erbeten will, dann will ich gleich denken: Es geht
+gewiss wieder wie in Frankfurt, der liebe Gott denkt gewiss etwas
+viel Besseres aus. Aber wir wollen auch alle Tage beten, gelt
+Großvater, und wir wollen es nie mehr vergessen, damit der liebe
+Gott uns auch nicht vergisst."
+</p>
+
+<p>
+"Und wenn's einer doch täte?", murmelte der Großvater.
+</p>
+
+<p>
+"Oh, dem geht's nicht gut, denn der liebe Gott vergisst ihn dann
+auch und lässt ihn ganz laufen, und wenn es ihm einmal schlecht
+geht und er jammert, so hat kein Mensch Mitleid mit ihm, sondern
+alle sagen nur: Er ist ja zuerst vom lieben Gott weggelaufen, nun
+lässt ihn der liebe Gott auch gehen, der ihm helfen könnte."
+</p>
+
+<p>
+"Das ist wahr, Heidi, woher weißt du das?"
+</p>
+
+<p>
+"Von der Großmama, sie hat mir alles erklärt."
+</p>
+
+<p>
+Der Großvater ging eine Weile schweigend weiter. Dann sagte er,
+seine Gedanken verfolgend, vor sich hin: "Und wenn's einmal so ist,
+dann ist es so; zurück kann keiner, und wen der Herrgott vergessen
+hat, den hat er vergessen."
+</p>
+
+<p>
+"O nein, Großvater, zurück kann einer, das weiß ich auch von der
+Großmama, und dann geht es so wie in der schönen Geschichte in
+meinem Buch, aber die weißt du nicht; jetzt sind wir aber gleich
+daheim, und dann wirst du schon erfahren, wie schön die Geschichte
+ist."
+</p>
+
+<p>
+Heidi strebte in seinem Eifer rascher und rascher die letzte
+Steigung hinan, und kaum waren sie oben angelangt, als es des
+Großvaters Hand losließ und in die Hütte hineinrannte. Der
+Großvater nahm den Korb von seinem Rücken, in den er die Hälfte der
+Sachen aus dem Koffer hineingestoßen hatte, denn den ganzen Koffer
+heraufzubringen wäre ihm zu schwer gewesen. Dann setzte er sich
+nachdenklich auf die Bank nieder. Heidi kam wieder herbeigerannt,
+sein großes Buch unter dem Arm: "Oh, das ist recht, Großvater, dass
+du schon dasitzt", und mit einem Satz war Heidi an seiner Seite und
+hatte schon seine Geschichte aufgeschlagen, denn die hatte es schon
+so oft und immer wieder gelesen, dass das Buch von selbst aufging
+an dieser Stelle. Jetzt las Heidi mit großer Teilnahme von dem
+Sohne, der es gut hatte daheim, wo draußen auf des Vaters Feldern
+die schönen Kühe und Schäflein weideten und er in einem schönen
+Mäntelchen, auf seinen Hirtenstab gestützt, bei ihnen auf der Weide
+stehen und dem Sonnenuntergang zusehen konnte, wie es alles auf dem
+Bilde zu sehen war. "Aber auf einmal wollte er sein Hab und Gut
+für sich haben und sein eigener Meister sein und forderte es dem
+Vater ab und lief fort damit und verprasste alles. Und als er gar
+nichts mehr hatte, musste er hingehen und Knecht sein bei einem
+Bauer, der hatte aber nicht so schöne Tiere, wie auf seines Vaters
+Feldern waren, sondern nur Schweinlein; diese musste er hüten, und
+er hatte nur noch Fetzen auf sich und bekam nur von den Trebern,
+welche die Schweinchen aßen, ein klein wenig. Da dachte er daran,
+wie er es daheim beim Vater gehabt und wie gut der Vater mit ihm
+gewesen war und wie undankbar er gegen den Vater gehandelt hatte,
+und er musste weinen vor Reue und Heimweh. Und er dachte: 'Ich
+will zu meinem Vater gehen und ihn um Verzeihung bitten und ihm
+sagen, ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen, aber lass mich
+nur dein Tagelöhner bei dir sein.' Und wie er von ferne gegen
+das Haus seines Vaters kam, da sah ihn der Vater und kam
+herausgelaufen--was meinst du jetzt, Großvater?", unterbrach sich
+Heidi in seinem Vorlesen; "jetzt meinst du, der Vater sei noch böse
+und sage zu ihm: 'Ich habe dir's ja gesagt!'? Jetzt
+hör nur, was kommt: Und sein Vater sah ihn und es jammerte ihn und
+lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn, und der Sohn sprach
+zu ihm: 'Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor
+dir und bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen.' Aber der
+Vater sprach zu seinen Knechten: 'Bringt das beste Kleid her
+und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und
+Schuhe an die Füße, und bringt das gemästete Kalb her und
+schlachtet es und lasst uns essen und fröhlich sein, denn dieser
+mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, und er war
+verloren und ist wieder gefunden worden.' Und sie fingen an,
+fröhlich zu sein."
+</p>
+
+<p>
+"Ist denn das nicht eine schöne Geschichte, Großvater?", fragte
+Heidi, als dieser immer noch schweigend dasaß und es doch erwartet
+hatte, er werde sich freuen und verwundern.
+</p>
+
+<p>
+"Doch, Heidi, die Geschichte ist schön", sagte der Großvater; aber
+sein Gesicht war so ernsthaft, dass Heidi ganz stille wurde und
+seine Bilder ansah. Leise schob es noch einmal sein Buch vor den
+Großvater hin und sagte: "Sieh, wie es ihm wohl ist", und zeigte
+mit seinem Finger auf das Bild des Heimgekehrten, wie er im
+frischen Kleid neben dem Vater steht und wieder zu ihm gehört als
+sein Sohn.
+</p>
+
+<p>
+Ein paar Stunden später, als Heidi längst im tiefen Schlafe lag,
+stieg der Großvater die kleine Leiter hinauf; er stellte sein
+Lämpchen neben Heidis Lager hin, so dass das Licht auf das
+schlafende Kind fiel. Es lag da mit gefalteten Händen, denn zu
+beten hatte Heidi nicht vergessen. Auf seinem rosigen Gesichtchen
+lag ein Ausdruck des Friedens und seligen Vertrauens, der zu dem
+Großvater reden musste, denn lange, lange stand er da und rührte
+sich nicht und wandte kein Auge von dem schlafenden Kinde ab.
+Jetzt faltete auch er die Hände, und halblaut sagte er mit
+gesenktem Haupte: "Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und
+vor dir und bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen!" Und ein paar
+große Tränen rollten dem Alten die Wangen herab.--
+</p>
+
+<p>
+Wenige Stunden nachher in der ersten Frühe des Tages stand der
+Alm-Öhi vor seiner Hütte und schaute mit hellen Augen um sich. Der
+Sonntagmorgen flimmerte und leuchtete über Berg und Tal. Einzelne
+Frühglocken tönten aus den Tälern herauf, und oben in den Tannen
+sangen die Vögel ihre Morgenlieder.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt trat der Großvater in die Hütte zurück. "Komm, Heidi!", rief
+er auf den Boden hinauf. "Die Sonne ist da! Zieh ein gutes
+Röcklein an, wir wollen in die Kirche miteinander!"
+</p>
+
+<p>
+Heidi machte nicht lange; das war ein ganz neuer Ruf vom Großvater,
+dem musste es schnell folgen. In kurzer Zeit kam es
+heruntergesprungen in seinem schmucken Frankfurter Röckchen. Aber
+voller Erstaunen blieb Heidi vor seinem Großvater stehen und
+schaute ihn an. "O Großvater, so hab ich dich nie gesehen", brach
+es endlich aus, "und den Rock mit den silbernen Knöpfen hast du
+noch gar nicht getragen, oh, du bist so schön in deinem schönen
+Sonntagsrock."
+</p>
+
+<p>
+Der Alte blickte vergnüglich lächelnd auf das Kind und sagte: "Und
+du in dem deinen; jetzt komm!" Er nahm Heidis Hand in die seine,
+und so wanderten sie miteinander den Berg hinunter. Von allen
+Seiten tönten jetzt die hellen Glocken ihnen entgegen, immer voller
+und reicher, je weiter sie kamen, und Heidi lauschte mit Entzücken
+und sagte: "Hörst du's, Großvater? Es ist wie ein großes, großes
+Fest."
+</p>
+
+<p>
+Unten im Dörfli waren schon alle Leute in der Kirche und fingen
+eben zu singen an, als der Großvater mit Heidi eintrat und ganz
+hinten auf der letzten Bank sich niedersetzte. Aber mitten im
+Singen stieß der zunächst Sitzende seinen Nachbar mit dem
+Ellenbogen an und sagte: "Hast du das gesehen? Der Alm-Öhi ist in
+der Kirche!"
+</p>
+
+<p>
+Und der Angestoßene stieß den Zweiten an und so fort, und in
+kürzester Zeit flüsterte es an allen Ecken: "Der Alm-Öhi! Der
+Alm-Öhi!", und die Frauen mussten fast alle einen Augenblick den Kopf
+umdrehen, und die meisten fielen ein wenig aus der Melodie, so dass
+der Vorsänger die größte Mühe hatte, den Gesang schön
+aufrechtzuerhalten. Aber als dann der Herr Pfarrer anfing zu
+predigen, ging die Zerstreutheit ganz vorüber, denn es war ein so
+warmes Loben und Danken in seinen Worten, dass alle Zuhörer davon
+ergriffen wurden, und es war, als sei ihnen allen eine große Freude
+widerfahren. Als der Gottesdienst zu Ende war, trat der Alm-Öhi
+mit dem Kinde an der Hand heraus und schritt dem Pfarrhaus zu, und
+alle, die mit ihm heraustraten und die schon draußen standen,
+schauten ihm nach, und die meisten gingen hinter ihm her, um zu
+sehen, ob er wirklich ins Pfarrhaus eintrete, was er tat. Dann
+sammelten sie sich in Gruppen zusammen und besprachen in großer
+Aufregung das Unerhörte, dass der Alm-Öhi in der Kirche erschienen
+war, und alle schauten mit Spannung nach der Pfarrhaustür, wie der
+Öhi wohl wieder herauskommen werde, ob in Zorn und Hader oder im
+Frieden mit dem Herrn Pfarrer, denn man wusste ja gar nicht, was
+den Alten heruntergebracht hatte und wie es eigentlich gemeint sei.
+Aber doch war schon bei vielen eine neue Stimmung eingetreten, und
+einer sagte zum andern: "Es wird wohl mit dem Alm-Öhi nicht so bös
+sein, wie man tut; man kann ja nur sehen, wie sorglich er das
+Kleine an der Hand hält." Und der andere sagte: "Das hab ich ja
+immer gesagt, und zum Pfarrer hinein ginge er auch nicht, wenn er
+so bodenschlecht wäre, sonst müsste er sich ja fürchten; man
+übertreibt auch viel." Und der Bäcker sagte: "Hab ich das nicht
+zuallererst gesagt? Seit wann läuft denn ein kleines Kind, das zu
+essen und zu trinken hat, was es will, und sonst alles Gute, aus
+alledem weg und heim zu einem Großvater, wenn der bös und wild ist
+und es sich zu fürchten hat vor ihm?" Und es kam eine ganz
+liebevolle Stimmung gegen den Alm-Öhi auf und nahm überhand, denn
+jetzt nahten sich auch die Frauen herzu, und diese hatten so
+manches von der Geißenpeterin und der Großmutter gehört, das den
+Alm-Öhi ganz anders darstellte, als die allgemeine Meinung war, und
+das ihnen jetzt auf einmal glaublich schien, dass es mehr und mehr
+so wurde, als warteten sie alle da, um einen alten Freund zu
+bewillkommnen, der ihnen lange gemangelt hatte.
+</p>
+
+<p>
+Der Alm-Öhi war unterdessen an die Tür der Studierstube getreten
+und hatte angeklopft. Der Herr Pfarrer machte auf und trat dem
+Eintretenden entgegen, nicht überrascht, wie er wohl hätte sein
+können, sondern so, als habe er ihn erwartet; die ungewohnte
+Erscheinung in der Kirche musste ihm nicht entgangen sein. Er
+ergriff die Hand des Alten und schüttelte sie wiederholt mit der
+größten Herzlichkeit, und der Alm-Öhi stand schweigend da und
+konnte erst kein Wort herausbringen, denn auf solchen herzlichen
+Empfang war er nicht vorbereitet. Jetzt fasste er sich und sagte:
+"Ich komme, um den Herrn Pfarrer zu bitten, dass er mir die Worte
+vergessen möchte, die ich zu ihm auf der Alm geredet habe, und dass
+er mir nicht nachtragen wolle, wenn ich widerspenstig war gegen
+seinen wohlmeinenden Rat. Der Herr Pfarrer hat ja in allem Recht
+gehabt und ich war im Unrecht, aber ich will jetzt seinem Rate
+folgen und auf den Winter wieder ein Quartier im Dörfli beziehen,
+denn die harte Jahreszeit ist nichts für das Kind dort oben, es ist
+zu zart, und wenn auch dann die Leute hier unten mich von der Seite
+ansehen, so wie einen, dem nicht zu trauen ist, so habe ich es
+nicht besser verdient, und der Herr Pfarrer wird es ja nicht tun."
+</p>
+
+<p>
+Die freundlichen Augen des Pfarrers glänzten vor Freude. Er nahm
+noch einmal des Alten Hand und drückte sie in der seinen und sagte
+mit Rührung: "Nachbar, Ihr seid in der rechten Kirche gewesen, noch
+eh Ihr in die meinige herunterkamt; des freu ich mich, und dass Ihr
+wieder zu uns kommen und mit uns leben wollt, soll Euch nicht
+gereuen, bei mir sollt Ihr als ein lieber Freund und Nachbar alle
+Zeit willkommen sein, und ich gedenke manches Winterabendstündchen
+fröhlich mit Euch zu verbringen, denn Eure Gesellschaft ist mir
+lieb und wert, und für das Kleine wollen wir auch gute Freunde
+finden." Und der Herr Pfarrer legte sehr freundlich seine Hand auf
+Heidis Krauskopf und nahm es bei der Hand und führte es hinaus,
+indem er den Großvater fortbegleitete, und erst draußen vor der
+Haustür nahm er Abschied, und nun konnten alle die herumstehenden
+Leute sehen, wie der Herr Pfarrer dem Alm-Öhi die Hand immer noch
+einmal schüttelte, gerade als wäre das sein bester Freund, von dem
+er sich fast nicht trennen könnte. Kaum hatte dann auch die Tür
+sich hinter dem Herrn Pfarrer geschlossen, so drängte die ganze
+Versammlung dem Alm-Öhi entgegen, und jeder wollte der Erste sein,
+und so viele Hände wurden miteinander dem Herankommenden
+entgegengestreckt, dass er gar nicht wusste, welche zuerst
+ergreifen, und einer rief ihm zu: "Das freut mich! Das freut mich,
+Öhi, dass Ihr auch wieder einmal zu uns kommt!", und ein anderer:
+"Ich hätte auch schon lang gern wieder einmal ein Wort mit Euch
+geredet, Öhi!" Und so tönte und drängte es von allen Seiten, und
+wie nun der Öhi auf alle die freundlichen Begrüßungen erwiderte, er
+gedenke, sein altes Quartier im Dörfli wieder zu beziehen und den
+Winter mit den alten Bekannten zu verleben, da gab es erst einen
+rechten Lärm, und es war gerade so, wie wenn der Alm-Öhi die
+beliebteste Persönlichkeit im ganzen Dörfli wäre, die jeder mit
+Nachteil entbehrt hatte. Noch weit an die Alm hinauf wurden
+Großvater und Kind von den meisten begleitet, und beim Abschied
+wollte jeder die Versicherung haben, dass der Alm-Öhi bald einmal
+bei ihm vorspreche, wenn er wieder herunterkomme; und wie nun die
+Leute den Berg hinab zurückkehrten, blieb der Alte stehen und
+schaute ihnen lange nach, und auf seinem Gesichte lag ein so warmes
+Licht, als schiene bei ihm die Sonne von innen heraus. Heidi
+schaute unverwandt zu ihm auf und sagte ganz erfreut: "Großvater,
+heut wirst du immer schöner, so warst du noch gar nie."
+</p>
+
+<p>
+"Meinst du?", lächelte der Großvater. "Ja, und siehst du, Heidi,
+mir geht's auch heut über Verstehen und Verdienen gut, und mit Gott
+und Menschen im Frieden stehen, das macht einem so wohl! Der liebe
+Gott hat's gut mit mir gemeint, dass er dich auf die Alm schickte."
+</p>
+
+<p>
+Bei der Geißenpeter-Hütte angekommen, machte der Großvater gleich
+die Tür auf und trat ein. "Grüß Gott, Großmutter", rief er hinein;
+"ich denke, wir müssen einmal wieder ans Flicken gehen, bevor der
+Herbstwind kommt."
+</p>
+
+<p>
+"Du mein Gott, das ist der Öhi!", rief die Großmutter voll
+freudiger Überraschung aus. "Dass ich das noch erlebe! Dass ich
+Euch noch einmal danken kann für alles, das Ihr für uns getan habt,
+Öhi! Vergelt's Gott! Vergelt's Gott!"
+</p>
+
+<p>
+Und mit zitternder Freude streckte die alte Großmutter ihre Hand
+aus, und als der Angeredete sie herzlich schüttelte, fuhr sie fort,
+indem sie die seinige fest hielt: "Und eine Bitte hab ich auch noch
+auf dem Herzen, Öhi: Wenn ich Euch je etwas zuleid getan habe, so
+straft mich nicht damit, dass Ihr noch einmal das Heidi fortlasst,
+bevor ich unten bei der Kirche liege. Oh, Ihr wisst nicht, was mir
+das Kind ist!", und sie hielt es fest an sich, denn Heidi hatte
+sich schon an sie geschmiegt.
+</p>
+
+<p>
+"Keine Sorge, Großmutter", beruhigte der Öhi; "damit will ich weder
+Euch noch mich strafen. Jetzt bleiben wir alle beieinander und,
+will's Gott, noch lange so."
+</p>
+
+<p>
+Jetzt zog die Brigitte den Öhi ein wenig geheimnisvoll in eine Ecke
+hinein und zeigte ihm das schöne Federnhütchen und erzählte ihm,
+wie es sich damit verhalte, und dass sie ja natürlich so etwas
+einem Kinde nicht abnehme.
+</p>
+
+<p>
+Aber der Großvater sah ganz wohlgefällig auf sein Heidi hin und
+sagte: "Der Hut ist sein, und wenn es ihn nicht mehr auf den Kopf
+tun will, so hat es Recht, und hat es ihn dir gegeben, so nimm ihn
+nur."
+</p>
+
+<p>
+Die Brigitte war höchlich erfreut über das unerwartete Urteil. "Er
+ist gewiss mehr als zehn Franken wert, seht nur!", und in ihrer
+Freude streckte sie das Hütchen hoch auf. "Was aber auch dieses
+Heidi für einen Segen von Frankfurt mit heimgebracht hat! Ich habe
+schon manchmal denken müssen, ob ich nicht den Peterli auch ein
+wenig nach Frankfurt schicken solle; was meint Ihr, Öhi?"
+</p>
+
+<p>
+Dem Öhi schoss es ganz lustig aus den Augen. Er meinte, es könnte
+dem Peterli nichts schaden; aber er würde doch eine gute
+Gelegenheit dazu abwarten.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt fuhr der Besprochene eben zur Tür herein, nachdem er zuerst
+mit dem Kopf so fest dagegen gerannt war, dass alles erklirrte
+davon; er musste pressiert sein. Atemlos und keuchend stand er nun
+mitten in der Stube still und streckte einen Brief aus. Das war
+auch ein Ereignis, das noch nie vorgekommen war, ein Brief mit
+einer Aufschrift an das Heidi, den man ihm auf der Post im Dörfli
+übergeben hatte. Jetzt setzten sich alle voller Erwartung um den
+Tisch herum, und Heidi machte seinen Brief auf und las ihn laut und
+ohne Anstoß vor. Der Brief war von der Klara Sesemann geschrieben.
+Sie erzählte Heidi, dass es seit seiner Abreise so langweilig
+geworden sei in ihrem Hause, sie es nicht lang hintereinander so
+aushalten könne und so lange den Vater gebeten habe, bis er die
+Reise ins Bad Ragaz schon auf den kommenden Herbst festgestellt
+habe, und die Großmama wolle auch mitkommen, denn sie wolle auch
+das Heidi und den Großvater besuchen auf der Alm. Und weiter ließ
+die Großmama noch dem Heidi sagen, es habe Recht getan, dass es der
+alten Großmutter die Brötchen habe mitbringen wollen, und damit sie
+diese nicht trocken essen müsse, komme gleich der Kaffee noch dazu,
+er sei schon auf der Reise, und wenn sie selbst nach der Alm komme,
+so müsse das Heidi sie auch zur Großmutter führen.
+</p>
+
+<p>
+Da gab es nun eine solche Freude und Verwunderung über diese
+Nachrichten und so viel zu reden und zu fragen, da die große
+Erwartung alle gleich betraf, dass selbst der Großvater nicht
+bemerkte, wie spät es schon war, und so vergnügt und fröhlich waren
+sie alle in der Aussicht auf die kommenden Tage und fast noch mehr
+in der Freude über das Zusammensein an dem heutigen, dass die
+Großmutter zuletzt sagte: "Das Schönste ist doch, wenn so ein alter
+Freund kommt und uns wieder die Hand gibt, so wie vor langer Zeit;
+das gibt so ein tröstliches Gefühl ins Herz, dass wir einmal alles
+wieder finden, was uns lieb ist. Ihr kommt doch bald wieder, Öhi,
+und das Kind morgen schon?"
+</p>
+
+<p>
+Das wurde der Großmutter in die Hand hinein versprochen; nun aber
+war es Zeit zum Aufbruch, und der Großvater wanderte mit Heidi die
+Alm hinan, und wie am Morgen die hellen Glocken von nah und fern
+sie heruntergerufen hatten, so begleitete nun aus dem Tale herauf
+das friedliche Geläut der Abendglocken sie bis hinauf zur sonnigen
+Almhütte, die ganz sonntäglich im Abendschimmer ihnen
+entgegenglänzte.
+</p>
+
+<p>
+Wenn aber die Großmama kommt im Herbst, dann gibt es gewiss noch
+manche neue Freude und Überraschung für das Heidi wie für die
+Großmutter, und sicher kommt auch gleich ein richtiges Bett auf den
+Heuboden hinauf, denn wo die Großmama hintritt, da kommen alle
+Dinge bald in die erwünschte Ordnung und Richtigkeit, nach außen
+wie nach innen.
+</p>
+
+<p><br /><br /><br /><br /></p>
+
+
+
+
+
+
+
+
+<pre>
+
+
+
+
+
+End of Project Gutenberg's Heidis Lehr- und Wanderjahre, by Johanna Spyri
+
+*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK HEIDIS LEHR- UND WANDERJAHRE ***
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+remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
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+generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
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+ways including checks, online payments and credit card donations. To
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+Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
+Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be
+freely shared with anyone. For forty years, he produced and
+distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of
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+Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
+the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
+necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
+edition.
+
+Most people start at our Web site which has the main PG search
+facility: www.gutenberg.org
+
+This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
+including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
+subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
+
+
+
+</pre>
+
+</body>
+
+</html>
+
+
diff --git a/old/7heid10.txt b/old/7heid10.txt
new file mode 100644
index 0000000..2e330d3
--- /dev/null
+++ b/old/7heid10.txt
@@ -0,0 +1,6454 @@
+The Project Gutenberg EBook of Heidis Lehr- und Wanderjahre, by Johanna Spyri
+#3 in our series by Johanna Spyri
+
+Copyright laws are changing all over the world. Be sure to check the
+copyright laws for your country before downloading or redistributing
+this or any other Project Gutenberg eBook.
+
+This header should be the first thing seen when viewing this Project
+Gutenberg file. Please do not remove it. Do not change or edit the
+header without written permission.
+
+Please read the "legal small print," and other information about the
+eBook and Project Gutenberg at the bottom of this file. Included is
+important information about your specific rights and restrictions in
+how the file may be used. You can also find out about how to make a
+donation to Project Gutenberg, and how to get involved.
+
+
+**Welcome To The World of Free Plain Vanilla Electronic Texts**
+
+**eBooks Readable By Both Humans and By Computers, Since 1971**
+
+*****These eBooks Were Prepared By Thousands of Volunteers!*****
+
+
+Title: Heidis Lehr- und Wanderjahre
+
+Author: Johanna Spyri
+
+Release Date: February, 2005 [EBook #7500]
+[Yes, we are more than one year ahead of schedule]
+[This file was first posted on May 11, 2003]
+
+Edition: 10
+
+Language: German
+
+Character set encoding: ASCII
+
+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK HEIDIS LEHR- UND WANDERJAHRE ***
+
+
+
+
+Produced by Mike Pullen and Juliet Sunderland
+
+
+
+
+This Etext is in German.
+
+We are releasing two versions of this Etext, one in 7-bit format,
+known as Plain Vanilla ASCII, which can be sent via plain email--
+and one in 8-bit format, which includes higher order characters--
+which requires a binary transfer, or sent as email attachment and
+may require more specialized programs to display the accents.
+This is the 7-bit version.
+
+This book content was graciously contributed by the Gutenberg Projekt-DE.
+That project is reachable at the web site http://gutenberg2000.de.
+
+Dieses Buch wurde uns freundlicherweise vom "Gutenberg Projekt-DE"
+zur Verfuegung gestellt. Das Projekt ist unter der Internet-Adresse
+http://gutenberg2000.de erreichbar.
+
+
+
+
+Heidis Lehr- und Wanderjahre
+
+Johanna Spyri
+
+
+Inhalt
+
+1 Zum Alm-Oehi hinauf
+2 Beim Grossvater
+3 Auf der Weide
+4 Bei der Grossmutter
+5 Es kommt ein Besuch und dann noch einer, der mehr Folgen hat
+6 Ein neues Kapitel und lauter neue Dinge
+7 Fraeulein Rottenmeier hat einen unruhigen Tag
+8 Im Hause Sesemann geht's unruhig zu
+9 Der Hausherr hoert allerlei in seinem Hause, das er noch nicht gehoert hat
+10 Eine Grossmama
+11 Heidi nimmt auf einer Seite zu und auf der anderen ab
+12 Im Hause Sesemann spukt's
+13 Am Sommerabend die Alm hinan
+14 Am Sonntag, wenn's laeutet
+
+
+
+
+Zum Alm-Oehi hinauf
+
+Vom freundlichen Dorfe Maienfeld fuehrt ein Fussweg durch gruene,
+baumreiche Fluren bis zum Fusse der Hoehen, die von dieser Seite gross
+und ernst auf das Tal herniederschauen. Wo der Fussweg anfaengt,
+beginnt bald Heideland mit dem kurzen Gras und den kraeftigen
+Bergkraeutern dem Kommenden entgegenzuduften, denn der Fussweg geht
+steil und direkt zu den Alpen hinauf.
+
+Auf diesem schmalen Bergpfade stieg am hellen, sonnigen Junimorgen
+ein grosses, kraeftig aussehendes Maedchen dieses Berglandes hinan,
+ein Kind an der Hand fuehrend, dessen Wangen so gluehend waren, dass
+sie selbst die sonnverbrannte, voellig braune Haut des Kindes
+flammend rot durchleuchteten. Es war auch kein Wunder: Das Kind
+war trotz der heissen Junisonne so verpackt, als haette es sich eines
+bitteren Frostes zu erwehren. Das kleine Maedchen mochte kaum fuenf
+Jahre zaehlen; was aber seine natuerliche Gestalt war, konnte man
+nicht ersehen, denn es hatte sichtlich zwei, wenn nicht drei
+Kleider uebereinander angezogen und drueberhin ein grosses, rotes
+Baumwolltuch um und um gebunden, so dass die kleine Person eine
+voellig formlose Figur darstellte, die, in zwei schwere, mit Naegeln
+beschlagene Bergschuhe gesteckt, sich heiss und muehsam den Berg
+hinaufarbeitete. Eine Stunde vom Tal aufwaerts mochten die beiden
+gestiegen sein, als sie zu dem Weiler kamen, der auf halber Hoehe
+der Alm liegt und 'im Doerfli' heisst. Hier wurden die
+Wandernden fast von jedem Hause aus angerufen, einmal vom Fenster,
+einmal von einer Haustuer und einmal vom Wege her, denn das Maedchen
+war in seinem Heimatort angelangt. Es machte aber nirgends Halt,
+sondern erwiderte alle zugerufenen Gruesse und Fragen im Vorbeigehen,
+ohne still zu stehen, bis es am Ende des Weilers bei dem letzten
+der zerstreuten Haeuschen angelangt war. Hier rief es aus einer Tuer:
+"Wart einen Augenblick, Dete, ich komme mit, wenn du weiter
+hinaufgehst."
+
+Die Angeredete stand still; sofort machte sich das Kind von ihrer
+Hand los und setzte sich auf den Boden.
+
+"Bist du muede, Heidi?", fragte die Begleiterin.
+
+"Nein, es ist mir heiss", entgegnete das Kind.
+
+"Wir sind jetzt gleich oben, du musst dich nur noch ein wenig
+anstrengen und grosse Schritte nehmen, dann sind wir in einer Stunde
+oben", ermunterte die Gefaehrtin.
+
+Jetzt trat eine breite gutmuetig aussehende Frau aus der Tuer und
+gesellte sich zu den beiden. Das Kind war aufgestanden und
+wanderte nun hinter den zwei alten Bekannten her, die sofort in ein
+lebhaftes Gespraech gerieten ueber allerlei Bewohner des 'Doerfli' und
+vieler umherliegender Behausungen.
+
+"Aber wohin willst du eigentlich mit dem Kinde, Dete?", fragte
+jetzt die neu Hinzugekommene. "Es wird wohl deiner Schwester Kind
+sein, das hinterlassene."
+
+"Das ist es", erwiderte Dete, "ich will mit ihm hinauf zum Oehi, es
+muss dort bleiben."
+
+"Was, beim Alm-Oehi soll das Kind bleiben? Du bist, denk ich, nicht
+recht bei Verstand, Dete! Wie kannst du so etwas tun! Der Alte
+wird dich aber schon heimschicken mit deinem Vorhaben!"
+
+"Das kann er nicht, er ist der Grossvater, er muss etwas tun, ich
+habe das Kind bis jetzt gehabt, und das kann ich dir schon sagen,
+Barbel, dass ich einen Platz, wie ich ihn jetzt haben kann, nicht
+dahinten lasse um des Kindes willen; jetzt soll der Grossvater das
+Seinige tun."
+
+"Ja, wenn der waere wie andere Leute, dann schon", bestaetigte die
+kleine Barbel eifrig; "aber du kennst ja den. Was wird der mit
+einem Kinde anfangen und dann noch einem so kleinen! Das haelt's
+nicht aus bei ihm! Aber wo willst du denn hin?"
+
+"Nach Frankfurt", erklaerte Dete, "da bekomm ich einen extraguten
+Dienst. Die Herrschaft war schon im vorigen Sommer unten im Bad,
+ich habe ihre Zimmer auf meinem Gang gehabt und sie besorgt, und
+schon damals wollten sie mich mitnehmen, aber ich konnte nicht
+fortkommen, und jetzt sind sie wieder da und wollen mich mitnehmen,
+und ich will auch gehen, da kannst du sicher sein."
+
+"Ich moechte nicht das Kind sein!", rief die Barbel mit abwehrender
+Gebaerde aus. "Es weiss ja kein Mensch, was mit dem Alten da oben
+ist! Mit keinem Menschen will er etwas zu tun haben, jahraus,
+jahrein setzt er keinen Fuss in eine Kirche, und wenn er mit seinem
+dicken Stock im Jahr einmal herunterkommt, so weicht ihm alles aus
+und muss sich vor ihm fuerchten. Mit seinen dicken grauen
+Augenbrauen und dem furchtbaren Bart sieht er auch aus wie ein
+alter Heide und Indianer, dass man froh ist, wenn man ihm nicht
+allein begegnet."
+
+"Und wenn auch", sagte Dete trotzig, "er ist der Grossvater und muss
+fuer das Kind sorgen, er wird ihm wohl nichts tun, sonst hat er's zu
+verantworten, nicht ich."
+
+"Ich moechte nur wissen", sagte die Barbel forschend, "was der Alte
+auf dem Gewissen hat, dass er solche Augen macht und so
+mutterseelenallein da droben auf der Alm bleibt und sich fast nie
+blicken laesst. Man sagt allerhand von ihm; du weisst doch gewiss
+auch etwas davon, von deiner Schwester, nicht, Dete?"
+
+"Freilich, aber ich rede nicht; wenn er's hoerte, so kaeme ich schoen
+an!"
+
+Aber die Barbel haette schon lange gern gewusst, wie es sich mit dem
+Alm-Oehi verhalte, dass er so menschenfeindlich aussehe und da oben
+ganz allein wohne und die Leute immer so mit halben Worten von ihm
+redeten, als fuerchteten sie sich, gegen ihn zu sein, und wollten
+doch nicht fuer ihn sein. Auch wusste die Barbel gar nicht, warum
+der Alte von allen Leuten im Doerfli der Alm-Oehi genannt wurde, er
+konnte doch nicht der wirkliche Oheim von den saemtlichen Bewohnern
+sein; da aber alle ihn so nannten, tat sie es auch und nannte den
+Alten nie anders als Oehi, was die Aussprache der Gegend fuer Oheim
+ist. Die Barbel hatte sich erst vor kurzer Zeit nach dem Doerfli
+hinauf verheiratet, vorher hatte sie unten im Praettigau gewohnt,
+und so war sie noch nicht so ganz bekannt mit allen Erlebnissen und
+besonderen Persoenlichkeiten aller Zeiten vom Doerfli und der
+Umgegend. Die Dete, ihre gute Bekannte, war dagegen vom Doerfli
+gebuertig und hatte da gelebt mit ihrer Mutter bis vor einem Jahr;
+da war diese gestorben, und die Dete war nach dem Bade Ragaz
+hinuebergezogen, wo sie im grossen Hotel als Zimmermaedchen einen
+guten Verdienst fand. Sie war auch an diesem Morgen mit dem Kinde
+von Ragaz hergekommen; bis Maienfeld hatte sie auf einem Heuwagen
+fahren koennen, auf dem ein Bekannter von ihr heimfuhr und sie und
+das Kind mitnahm. --Die Barbel wollte also diesmal die gute
+Gelegenheit, etwas zu vernehmen, nicht unbenutzt vorbeigehen lassen;
+sie fasste vertraulich die Dete am Arm und sagte: "Von dir kann
+man doch vernehmen, was wahr ist und was die Leute darueber hinaus
+sagen; du weisst, denk ich, die ganze Geschichte. Sag mir jetzt ein
+wenig, was mit dem Alten ist und ob der immer so gefuerchtet und ein
+solcher Menschenhasser war."
+
+"Ob er immer so war, kann ich, denk ich, nicht praezis wissen, ich
+bin jetzt sechsundzwanzig und er sicher siebzig Jahr alt; so hab
+ich ihn nicht gesehen, wie er jung war, das wirst du nicht erwarten.
+Wenn ich aber wuesste, dass es nachher nicht im ganzen Praettigau
+herumkaeme, so koennte ich dir schon allerhand erzaehlen von ihm;
+meine Mutter war aus dem Domleschg und er auch."
+
+"A bah, Dete, was meinst denn?", gab die Barbel ein wenig beleidigt
+zurueck; "es geht nicht so streng mit dem Schwatzen im Praettigau,
+und dann kann ich schon etwas fuer mich behalten, wenn es sein muss.
+Erzaehl mir's jetzt, es muss dich nicht gereuen."
+
+"Ja nu, so will ich, aber halt Wort!", mahnte die Dete. Erst sah
+sie sich aber um, ob das Kind nicht zu nah sei und alles anhoere,
+was sie sagen wollte; aber das Kind war gar nicht zu sehen, es
+musste schon seit einiger Zeit den beiden Begleiterinnen nicht mehr
+gefolgt sein, diese hatten es aber im Eifer der Unterhaltung nicht
+bemerkt. Dete stand still und schaute sich ueberall um. Der Fussweg
+machte einige Kruemmungen, doch konnte man ihn fast bis zum Doerfli
+hinunter uebersehen, es war aber niemand darauf sichtbar.
+
+"Jetzt seh ich's", erklaerte die Barbel; "siehst du dort?", und sie
+wies mit dem Zeigefinger weitab vom Bergpfad. "Es klettert die
+Abhaenge hinauf mit dem Geissenpeter und seinen Geissen. Warum der
+heut so spaet hinauffaehrt mit seinen Tieren? Es ist aber gerad
+recht, er kann nun zu dem Kinde sehen, und du kannst mir umso
+besser erzaehlen."
+
+"Mit dem Nach-ihm-Sehen muss sich der Peter nicht anstrengen",
+bemerkte die Dete; "es ist nicht dumm fuer seine fuenf Jahre, es tut
+seine Augen auf und sieht, was vorgeht, das hab ich schon bemerkt
+an ihm, und es wird ihm einmal zugut kommen, denn der Alte hat gar
+nichts mehr als seine zwei Geissen und die Almhuette."
+
+"Hat er denn einmal mehr gehabt?", fragte die Barbel.
+
+"Der? Ja, das denk ich, dass er einmal mehr gehabt hat",
+entgegnete eifrig die Dete; "eins der schoensten Bauerngueter im
+Domleschg hat er gehabt. Er war der aeltere Sohn und hatte nur noch
+einen Bruder, der war still und ordentlich. Aber der Aeltere wollte
+nichts tun, als den Herrn spielen und im Lande herumfahren und mit
+boesem Volk zu tun haben, das niemand kannte. Den ganzen Hof hat er
+verspielt und verzecht, und wie es herauskam, da sind sein Vater
+und seine Mutter hintereinander gestorben vor lauter Gram, und der
+Bruder, der nun auch am Bettelstab war, ist vor Verdruss in die
+Welt hinaus, es weiss kein Mensch wohin, und der Oehi selber, als er
+nichts mehr hatte als einen boesen Namen, ist auch verschwunden.
+Erst wusste niemand wohin, dann vernahm man, er sei unter das
+Militaer gegangen nach Neapel, und dann hoerte man nichts mehr von
+ihm zwoelf oder fuenfzehn Jahre lang. Dann auf einmal erschien er
+wieder im Domleschg mit einem halb erwachsenen Buben und wollte
+diesen in der Verwandtschaft unterzubringen suchen. Aber es
+schlossen sich alle Tueren vor ihm, und keiner wollte mehr etwas von
+ihm wissen. Das erbitterte ihn sehr; er sagte, ins Domleschg setze
+er keinen Fuss mehr, und dann kam er hierher ins Doerfli und lebte da
+mit dem Buben. Die Frau muss eine Buendnerin gewesen sein, die er
+dort unten getroffen und dann bald wieder verloren hatte. Er
+musste noch etwas Geld haben, denn er liess den Buben, den Tobias,
+ein Handwerk erlernen, Zimmermann, und der war ein ordentlicher
+Mensch und wohlgelitten bei allen Leuten im Doerfli. Aber dem Alten
+traute keiner, man sagte auch, er sei von Neapel desertiert, es
+waere ihm sonst schlimm gegangen, denn er habe einen erschlagen,
+natuerlich nicht im Krieg, verstehst du, sondern beim Raufhandel.
+Wir anerkannten aber die Verwandtschaft, da meiner Mutter
+Grossmutter mit seiner Grossmutter Geschwisterkind gewesen war. So
+nannten wir ihn Oehi, und da wir fast mit allen Leuten im Doerfli
+wieder verwandt sind vom Vater her, so nannten ihn diese alle auch
+Oehi, und seit er dann auf die Alm hinaufgezogen war, hiess er eben
+nur noch der 'Alm-Oehi'."
+
+"Aber wie ist es dann mit dem Tobias gegangen?", fragte gespannt
+die Barbel.
+
+"Wart nur, das kommt schon, ich kann nicht alles auf einmal sagen",
+erklaerte Dete. "Also der Tobias war in der Lehre draussen in Mels,
+und sowie er fertig war, kam er heim ins Doerfli und nahm meine
+Schwester zur Frau, die Adelheid, denn sie hatten sich schon immer
+gern gehabt, und auch wie sie nun verheiratet waren, konnten sie's
+sehr gut zusammen. Aber es ging nicht lange. Schon zwei Jahre
+nachher, wie er an einem Hausbau mithalf, fiel ein Balken auf ihn
+herunter und schlug ihn tot. Und wie man den Mann so entstellt
+nach Hause brachte, da fiel die Adelheid vor Schrecken und Leid in
+ein heftiges Fieber und konnte sich nicht mehr erholen, sie war
+sonst nicht sehr kraeftig und hatte manchmal so eigene Zustaende
+gehabt, dass man nicht recht wusste, schlief sie oder war sie wach.
+Nur ein paar Wochen, nachdem der Tobias tot war, begrub man auch
+die Adelheid. Da sprachen alle Leute weit und breit von dem
+traurigen Schicksal der beiden, und leise und laut sagten sie, das
+sei die Strafe, die der Oehi verdient habe fuer sein gottloses Leben,
+und ihm selbst wurde es gesagt und auch der Herr Pfarrer redete ihm
+ins Gewissen, er sollte doch jetzt Busse tun, aber er wurde nur
+immer grimmiger und verstockter und redete mit niemandem mehr, es
+ging ihm auch jeder aus dem Wege. Auf einmal hiess es, der Oehi sei
+auf die Alm hinaufgezogen und komme gar nicht mehr herunter, und
+seither ist er dort und lebt mit Gott und Menschen im Unfrieden.
+Das kleine Kind der Adelheid nahmen wir zu uns, die Mutter und ich;
+es war ein Jahr alt. Wie nun im letzten Sommer die Mutter starb
+und ich im Bad drunten etwas verdienen wollte, nahm ich es mit und
+gab es der alten Ursel oben im Pfaefferserdorf in die Kost. Ich
+konnte auch im Winter im Bad bleiben, es gab allerhand Arbeit, weil
+ich zu naehen und flicken verstehe, und frueh im Fruehling kam die
+Herrschaft aus Frankfurt wieder, die ich voriges Jahr bedient hatte
+und die mich mitnehmen will; uebermorgen reisen wir ab, und der
+Dienst ist gut, das kann ich dir sagen."
+
+"Und dem Alten da droben willst du nun das Kind uebergeben? Es
+nimmt mich nur wunder, was du denkst, Dete", sagte die Barbel
+vorwurfsvoll.
+
+"Was meinst du denn?", gab Dete zurueck. "Ich habe das Meinige an
+dem Kinde getan, und was sollte ich denn mit ihm machen? Ich denke,
+ich kann eines, das erst fuenf Jahre alt wird, nicht mit nach
+Frankfurt nehmen. Aber wohin gehst du eigentlich, Barbel, wir sind
+ja schon halbwegs auf der Alm?"
+
+"Ich bin auch gleich da, wo ich hinmuss", entgegnete die Barbel;
+"ich habe mit der Geissenpeterin zu reden, sie spinnt mir im Winter.
+So leb wohl, Dete, mit Glueck!"
+
+Dete reichte der Begleiterin die Hand und blieb stehen, waehrend
+diese der kleinen, dunkelbraunen Almhuette zuging, die einige
+Schritte seitwaerts vom Pfad in einer Mulde stand, wo sie vor dem
+Bergwind ziemlich geschuetzt war. Die Huette stand auf der halben
+Hoehe der Alm, vom Doerfli aus gerechnet, und dass sie in einer
+kleinen Vertiefung des Berges stand, war gut, denn sie sah so
+baufaellig und verfallen aus, dass es auch so noch ein gefaehrliches
+Darinwohnen sein musste, wenn der Foehnwind so maechtig ueber die
+Berge strich, dass alles an der Huette klapperte, Tueren und Fenster,
+und alle die morschen Balken zitterten und krachten. Haette die
+Huette an solchen Tagen oben auf der Alm gestanden, sie waere
+unverzueglich ins Tal hinabgeweht worden.
+
+Hier wohnte der Geissenpeter, der elfjaehrige Bube, der jeden Morgen
+unten im Doerfli die Geissen holte, um sie hoch auf die Alm
+hinaufzutreiben, um sie da die kurzen kraeftigen Kraeuter fressen zu
+lassen bis zum Abend; dann sprang der Peter mit den leichtfuessigen
+Tierchen wieder herunter, tat, im Doerfli angekommen, einen
+schrillen Pfiff durch die Finger, und jeder Besitzer holte seine
+Geiss auf dem Platz. Meistens kamen kleine Buben und Maedchen, denn
+die friedlichen Geissen waren nicht zu fuerchten, und das war denn
+den ganzen Sommer durch die einzige Zeit am Tage, da der Peter mit
+seinesgleichen verkehrte; sonst lebte er nur mit den Geissen. Er
+hatte zwar daheim seine Mutter und die blinde Grossmutter; aber da
+er immer am Morgen sehr frueh fortmusste und am Abend vom Doerfli
+spaet heimkam, weil er sich da noch so lange als moeglich mit den
+Kindern unterhalten musste, so verbrachte er daheim nur gerade so
+viel Zeit, um am Morgen seine Milch und Brot und am Abend
+ebendasselbe hinunterzuschlucken und dann sich aufs Ohr zu legen
+und zu schlafen. Sein Vater, der auch schon der Geissenpeter
+genannt worden war, weil er in frueheren Jahren in demselben Berufe
+gestanden hatte, war vor einigen Jahren beim Holzfaellen verunglueckt.
+Seine Mutter, die zwar Brigitte hiess, wurde von jedermann um des
+Zusammenhangs willen die Geissenpeterin genannt, und die blinde
+Grossmutter kannten weit und breit Alt und Jung nur unter dem Namen
+Grossmutter.
+
+Die Dete hatte wohl zehn Minuten gewartet und sich nach allen
+Seiten umgesehen, ob die Kinder mit den Geissen noch nirgends zu
+sehen seien; als dies aber nicht der Fall war, so stieg sie noch
+ein wenig hoeher, wo sie besser die ganze Alm bis hinunter uebersehen
+konnte, und guckte nun von hier aus bald dahin, bald dorthin mit
+Zeichen grosser Ungeduld auf dem Gesicht und in den Bewegungen.
+Unterdessen rueckten die Kinder auf einem grossen Umwege heran, denn
+der Peter wusste viele Stellen, wo allerhand Gutes an Straeuchern
+und Gebueschen fuer seine Geissen zu nagen war; darum machte er mit
+seiner Herde vielerlei Wendungen auf dem Wege. Erst war das Kind
+muehsam nachgeklettert, in seiner schweren Ruestung vor Hitze und
+Unbequemlichkeit keuchend und alle Kraefte anstrengend. Es sagte
+kein Wort, blickte aber unverwandt bald auf den Peter, der mit
+seinen nackten Fuessen und leichten Hoeschen ohne alle Muehe hin und
+her sprang, bald auf die Geissen, die mit den duennen, schlanken
+Beinchen noch leichter ueber Busch und Stein und steile Abhaenge
+hinaufkletterten. Auf einmal setzte das Kind sich auf den Boden
+nieder, zog mit grosser Schnelligkeit Schuhe und Struempfe aus, stand
+wieder auf, zog sein rotes, dickes Halstuch weg, machte sein
+Roeckchen auf, zog es schnell aus und hatte gleich noch eins
+auszuhaekeln, denn die Base Dete hatte ihm das Sonntagskleidchen
+ueber das Alltagszeug angezogen, um der Kuerze willen, damit niemand
+es tragen muesse. Blitzschnell war auch das Alltagsroecklein weg,
+und nun stand das Kind im leichten Unterroeckchen, die blossen Arme
+aus den kurzen Hemdaermelchen vergnueglich in die Luft
+hinausstreckend. Dann legte es schoen alles auf ein Haeufchen, und
+nun sprang und kletterte es hinter den Geissen und neben dem Peter
+her, so leicht als nur eines aus der ganzen Gesellschaft. Der
+Peter hatte nicht Acht gegeben, was das Kind mache, als es
+zurueckgeblieben war. Wie es nun in der neuen Bekleidung
+nachgesprungen kam, zog er lustig grinsend das ganze Gesicht
+auseinander und schaute zurueck, und wie er unten das Haeuflein
+Kleider liegen sah, ging sein Gesicht noch ein wenig mehr
+auseinander, und sein Mund kam fast von einem Ohr bis zum anderen;
+er sagte aber nichts. Wie nun das Kind sich so frei und leicht
+fuehlte, fing es ein Gespraech mit dem Peter an, und er fing auch an
+zu reden und musste auf vielerlei antworten, denn das Kind wollte
+wissen, wie viele Geissen er habe und wohin er mit ihnen gehe und
+was er dort tue, wo er hinkomme. So langten endlich die Kinder
+samt den Geissen oben bei der Huette an und kamen der Base Dete zu
+Gesicht. Kaum aber hatte diese die herankletternde Gesellschaft
+erblickt, als sie laut aufschrie: "Heidi, was machst du? Wie
+siehst du aus? Wo hast du deinen Rock und den zweiten und das
+Halstuch? Und ganz neue Schuhe habe ich dir gekauft auf den Berg
+und dir neue Struempfe gemacht, und alles fort! Alles fort! Heidi,
+was machst du, wo hast du alles?"
+
+Das Kind zeigte ruhig den Berg hinunter und sagte: "Dort!" Die Base
+folgte seinem Finger. Richtig, dort lag etwas und obenauf war ein
+roter Punkt, das musste das Halstuch sein.
+
+"Du Unglueckstropf!", rief die Base in grosser Aufregung. "Was kommt
+dir denn in den Sinn, warum hast du alles ausgezogen? Was soll das
+sein?"
+
+"Ich brauch es nicht", sagte das Kind und sah gar nicht reuevoll
+aus ueber seine Tat.
+
+"Ach du unglueckseliges, vernunftloses Heidi, hast du denn auch noch
+gar keine Begriffe?", jammerte und schalt die Base weiter. "Wer
+sollte nun wieder da hinunter, es ist ja eine halbe Stunde! Komm,
+Peter, lauf du mir schnell zurueck und hol das Zeug, komm schnell
+und steh nicht dort und glotze mich an, als waerst du am Boden
+festgenagelt."
+
+"Ich bin schon zu spaet", sagte Peter langsam und blieb, ohne sich
+zu ruehren, auf demselben Fleck stehen, von dem aus er, beide Haende
+in die Taschen gesteckt, dem Schreckensausbruch der Base zugehoert
+hatte.
+
+"Du stehst ja doch nur und reissest deine Augen auf und kommst, denk
+ich, nicht weit auf die Art!", rief ihm die Base Dete zu. "Komm
+her, du musst etwas Schoenes haben, siehst du?" Sie hielt ihm ein
+neues Fuenferchen hin, das glaenzte ihm in die Augen. Ploetzlich
+sprang er auf und davon auf dem geradesten Weg die Alm hinunter und
+kam in ungeheuren Saetzen in kurzer Zeit bei dem Haeuflein Kleider an,
+packte sie auf und erschien damit so schnell, dass ihn die Base
+ruehmen musste und ihm sogleich sein Fuenfrappenstueck ueberreichte.
+Peter steckte es schnell tief in seine Tasche, und sein Gesicht
+glaenzte und lachte in voller Breite, denn ein solcher Schatz wurde
+ihm nicht oft zuteil.
+
+"Du kannst mir das Zeug noch tragen bis zum Oehi hinauf, du gehst ja
+auch den Weg", sagte die Base Dete jetzt, indem sie sich anschickte,
+den steilen Abhang zu erklimmen, der gleich hinter der Huette des
+Geissenpeter emporragte. Willig uebernahm dieser den Auftrag und
+folgte der Voranschreitenden auf dem Fusse nach, den linken Arm um
+sein Buendel geschlungen, in der Rechten die Geissenrute schwingend.
+Das Heidi und die Geissen huepften und sprangen froehlich neben ihm
+her. So gelangte der Zug nach drei Viertelstunden auf die Almhoehe,
+wo frei auf dem Vorsprung des Berges die Huette des alten Oehi stand,
+allen Winden ausgesetzt, aber auch jedem Sonnenblick zugaenglich und
+mit der vollen Aussicht weit ins Tal hinab. Hinter der Huette
+standen drei alte Tannen mit dichten, langen, unbeschnittenen Aesten.
+Weiter hinten ging es nochmals bergan bis hoch hinauf in die
+alten, grauen Felsen, erst noch ueber schoene, kraeuterreiche Hoehen,
+dann in steiniges Gestruepp und endlich zu den kahlen, steilen
+Felsen hinan.
+
+An die Huette festgemacht, der Talseite zu, hatte sich der Oehi eine
+Bank gezimmert. Hier sass er, eine Pfeife im Mund, beide Haende auf
+seine Knie gelegt, und schaute ruhig zu, wie die Kinder, die Geissen
+und die Base Dete herankletterten, denn die Letztere war nach und
+nach von den anderen ueberholt worden. Heidi war zuerst oben; es
+ging geradeaus auf den Alten zu, streckte ihm die Hand entgegen und
+sagte: "Guten Abend, Grossvater!"
+
+"So, so, wie ist das gemeint?", fragte der Alte barsch, gab dem
+Kinde kurz die Hand und schaute es mit einem langen,
+durchdringenden Blick an, unter seinen buschigen Augenbrauen hervor.
+Heidi gab den langen Blick ausdauernd zurueck, ohne nur einmal mit
+den Augen zu zwinkern, denn der Grossvater mit dem langen Bart und
+den dichten, grauen Augenbrauen, die in der Mitte zusammengewachsen
+waren und aussahen wie eine Art Gestraeuch, war so verwunderlich
+anzusehen, dass Heidi ihn recht betrachten musste. Unterdessen war
+auch die Base herangekommen samt dem Peter, der eine Welle stille
+stand und zusah, was sich da ereigne.
+
+"Ich wuensche Euch guten Tag, Oehi", sagte die Dete hinzutretend,
+"und hier bring ich Euch das Kind vom Tobias und der Adelheid. Ihr
+werdet es wohl nicht mehr kennen, denn seit es jaehrig war, habt Ihr
+es nie mehr gesehen."
+
+"So, was muss das Kind bei mir?", fragte der Alte kurz; "und du
+dort", rief er dem Peter zu, "du kannst gehen mit deinen Geissen, du
+bist nicht zu frueh; nimm meine mit!"
+
+Der Peter gehorchte sofort und verschwand, denn der Oehi hatte ihn
+angeschaut, dass er schon genug davon hatte.
+
+"Es muss eben bei Euch bleiben, Oehi", gab die Dete auf seine Frage
+zurueck. "Ich habe, denk ich, das Meinige an ihm getan die vier
+Jahre durch, es wird jetzt wohl an Euch sein, das Eurige auch
+einmal zu tun."
+
+"So", sagte der Alte und warf einen blitzenden Blick auf die Dete.
+"Und wenn nun das Kind anfaengt, dir nachzuflennen und zu winseln,
+wie kleine Unvernuenftige tun, was muss ich dann mit ihm anfangen?"
+
+"Das ist dann Eure Sache", warf die Dete zurueck, "ich meine fast,
+es habe mir auch kein Mensch gesagt, wie ich es mit dem Kleinen
+anzufangen habe, als es mir auf den Haenden lag, ein einziges
+Jaehrchen alt, und ich schon fuer mich und die Mutter genug zu tun
+hatte. Jetzt muss ich meinem Verdienst nach, und Ihr seid der
+Naechste am Kind; wenn Ihr's nicht haben koennt, so macht mit ihm,
+was Ihr wollt, dann habt Ihr's zu verantworten, wenn's verdirbt,
+und Ihr werdet wohl nicht noetig haben, noch etwas aufzuladen."
+
+Die Dete hatte kein recht gutes Gewissen bei der Sache, darum war
+sie so hitzig geworden und hatte mehr gesagt, als sie im Sinn
+gehabt hatte. Bei ihren letzten Worten war der Oehi aufgestanden;
+er schaute sie so an, dass sie einige Schritte zurueckwich; dann
+streckte er den Arm aus und sagte befehlend: "Mach, dass du
+hinunterkommst, wo du heraufgekommen bist, und zeig dich nicht so
+bald wieder!" Das liess sich die Dete nicht zweimal sagen. "So lebt
+wohl, und du auch, Heidi", sagte sie schnell und lief den Berg
+hinunter in einem Trab bis ins Doerfli hinab, denn die innere
+Aufregung trieb sie vorwaerts wie eine wirksame Dampfkraft. Im
+Doerfli wurde sie diesmal noch viel mehr angerufen, denn es wunderte
+die Leute, wo das Kind sei; sie kannten ja alle die Dete genau und
+wussten, wem das Kind gehoerte und alles, was mit ihm vorgegangen
+war. Als es nun aus allen Tueren und Fenstern toente: "Wo ist das
+Kind? Dete, wo hast du das Kind gelassen?", rief sie immer
+unwilliger zurueck: "Droben beim Alm-Oehi! Nun, beim Alm-Oehi, ihr
+hoert's ja!"
+
+Sie wurde aber so massleidig, weil die Frauen von allen Seiten ihr
+zuriefen: "Wie kannst du so etwas tun!", und: "Das arme Troepfli!",
+und: "So ein kleines Hilfloses da droben lassen!", und dann wieder
+und wieder: "Das arme Troepfli!" Die Dete lief, so schnell sie
+konnte, weiter und war froh, als sie nichts mehr hoerte, denn es war
+ihr nicht wohl bei der Sache; ihre Mutter hatte ihr beim Sterben
+das Kind noch uebergeben. Aber sie sagte sich zur Beruhigung, sie
+koenne dann ja eher wieder etwas fuer das Kind tun, wenn sie nun viel
+Geld verdiene, und so war sie sehr froh, dass sie bald weit von
+allen Leuten, die ihr dreinredeten, weg- und zu einem schoenen
+Verdienst kommen konnte.
+
+
+
+
+Beim Grossvater
+
+Nachdem die Dete verschwunden war, hatte der Oehi sich wieder auf
+die Bank hingesetzt und blies nun grosse Wolken aus seiner Pfeife;
+dabei starrte er auf den Boden und sagte kein Wort. Derweilen
+schaute das Heidi vergnueglich um sich, entdeckte den Geissenstall,
+der an die Huette angebaut war, und guckte hinein. Es war nichts
+drin. Das Kind setzte seine Untersuchungen fort und kam hinter die
+Huette zu den alten Tannen. Da blies der Wind durch die Aeste so
+stark, dass es sauste und brauste oben in den Wipfeln. Heidi blieb
+stehen und hoerte zu. Als es ein wenig stiller wurde, ging das Kind
+um die kommende Ecke der Huette herum und kam vorn wieder zum
+Grossvater zurueck. Als es diesen noch in derselben Stellung
+erblickte, wie es ihn verlassen hatte, stellte es sich vor ihn hin,
+legte die Haende auf den Ruecken und betrachtete ihn. Der Grossvater
+schaute auf. "Was willst du jetzt tun?", fragte er, als das Kind
+immer noch unbeweglich vor ihm stand.
+
+"Ich will sehen, was du drinnen hast, in der Huette", sagte Heidi.
+
+"So komm!", und der Grossvater stand auf und ging voran in die Huette
+hinein.
+
+"Nimm dort dein Buendel Kleider noch mit", befahl er im Hereintreten.
+
+"Das brauch ich nicht mehr", erklaerte Heidi.
+
+Der Alte kehrte sich um und schaute durchdringend auf das Kind,
+dessen schwarze Augen gluehten in Erwartung der Dinge, die da
+drinnen sein konnten. "Es kann ihm nicht an Verstand fehlen",
+sagte er halblaut. "Warum brauchst du's nicht mehr?", setzte er
+laut hinzu.
+
+"Ich will am liebsten gehen wie die Geissen, die haben ganz leichte
+Beinchen."
+
+"So, das kannst du, aber hol das Zeug", befahl der Grossvater, "es
+kommt in den Kasten." Heidi gehorchte. Jetzt machte der Alte die
+Tuer auf und Heidi trat hinter ihm her in einen ziemlich grossen Raum
+ein, es war der Umfang der ganzen Huette. Da stand ein Tisch und
+ein Stuhl daran; in einer Ecke war des Grossvaters Schlaflager, in
+einer anderen hing der grosse Kessel ueber dem Herd; auf der anderen
+Seite war eine grosse Tuer in der Wand, die machte der Grossvater auf,
+es war der Schrank. Da hingen seine Kleider drin und auf einem
+Gestell lagen ein paar Hemden, Struempfe und Tuecher und auf einem
+anderen einige Teller und Tassen und Glaeser und auf dem obersten
+ein rundes Brot und geraeuchertes Fleisch und Kaese, denn in dem
+Kasten war alles enthalten, was der Alm-Oehi besass und zu seinem
+Lebensunterhalt gebrauchte. Wie er nun den Schrank aufgemacht
+hatte, kam das Heidi schnell heran und stiess sein Zeug hinein, so
+weit hinter des Grossvaters Kleider als moeglich, damit es nicht so
+leicht wieder zu finden sei. Nun sah es sich aufmerksam um in dem
+Raum und sagte dann: "Wo muss ich schlafen, Grossvater?"
+
+"Wo du willst", gab dieser zur Antwort.
+
+Das war dem Heidi eben recht. Nun fuhr es in alle Winkel hinein
+und schaute jedes Plaetzchen aus, wo am schoensten zu schlafen waere.
+In der Ecke vorueber des Grossvaters Lagerstaette war eine kleine
+Leiter aufgerichtet; Heidi kletterte hinauf und langte auf dem
+Heuboden an. Da lag ein frischer, duftender Heuhaufen oben, und
+durch eine runde Luke sah man weit ins Tal hinab.
+
+"Hier will ich schlafen", rief Heidi hinunter, "hier ist's schoen!
+Komm und sieh einmal, wie schoen es hier ist, Grossvater!"
+
+"Weiss schon", toente es von unten herauf.
+
+"Ich mache jetzt das Bett!", rief das Kind wieder, indem es oben
+geschaeftig hin und her fuhr; "aber du musst heraufkommen und mir
+ein Leintuch mitbringen, denn auf ein Bett kommt auch ein Leintuch,
+und darauf liegt man."
+
+"So, so", sagte unten der Grossvater, und nach einer Weile ging er
+an den Schrank und kramte ein wenig darin herum; dann zog er unter
+seinen Hemden ein langes, grobes Tuch hervor, das musste so etwas
+sein wie ein Leintuch. Er kam damit die Leiter herauf. Da war auf
+dem Heuboden ein ganz artiges Bettlein zugerichtet; oben, wo der
+Kopf liegen musste, war das Heu hoch aufgeschichtet, und das
+Gesicht kam so zu liegen, dass es gerade auf das offene, runde Loch
+traf.
+
+"Das ist recht gemacht", sagte der Grossvater, "jetzt wird das Tuch
+kommen, aber wart noch"--damit nahm er einen guten Wisch Heu von
+dem Haufen und machte das Lager doppelt so dick, damit der harte
+Boden nicht durchgefuehlt werden konnte--; "so, jetzt komm her
+damit." Heidi hatte das Leintuch schnell zuhanden genommen, konnte
+es aber fast nicht tragen, so schwer war's; aber das war sehr gut,
+denn durch das feste Zeug konnten die spitzen Heuhalme nicht
+durchstechen. Jetzt breiteten die beiden miteinander das Tuch ueber
+das Heu, und wo es zu breit und zu lang war, stopfte Heidi die
+Enden eilfertig unter das Lager. Nun sah es recht gut und reinlich
+aus, und Heidi stellte sich davor und betrachtete es nachdenklich.
+
+"Wir haben noch etwas vergessen, Grossvater", sagte es dann.
+
+"Was denn?", fragte er.
+
+"Eine Decke; denn wenn man ins Bett geht, kriecht man zwischen das
+Leintuch und die Decke hinein."
+
+"So, meinst du? Wenn ich aber keine habe?", sagte der Alte.
+
+"Oh, dann ist's gleich, Grossvater", beruhigte Heidi, "dann nimmt
+man wieder Heu zur Decke", und eilfertig wollte es gleich wieder an
+den Heustock gehen, aber der Grossvater wehrte es ihm.
+
+"Wart einen Augenblick", sagte er, stieg die Leiter hinab und ging
+an sein Lager hin. Dann kam er wieder und legte einen grossen,
+schweren, leinenen Sack auf den Boden.
+
+"Ist das nicht besser als Heu?", fragte er. Heidi zog aus
+Leibeskraeften an dem Sacke hin und her, um ihn auseinander zu legen,
+aber die kleinen Haende konnten das schwere Zeug nicht bewaeltigen.
+Der Grossvater half, und wie es nun ausgebreitet auf dem Bette lag,
+da sah alles sehr gut und haltbar aus, und Heidi stand staunend vor
+seinem neuen Lager und sagte: "Das ist eine praechtige Decke und das
+ganze Bett! Jetzt wollt ich, es waere schon Nacht, so koennte ich
+hineinliegen."
+
+"Ich meine, wir koennten erst einmal etwas essen", sagte der
+Grossvater, "oder was meinst du?" Heidi hatte ueber dem Eifer des
+Bettens alles andere vergessen; nun ihm aber der Gedanke ans Essen
+kam, stieg ein grosser Hunger in ihm auf, denn es hatte auch heute
+noch gar nichts bekommen als frueh am Morgen sein Stueck Brot und ein
+paar Schlucke duennen Kaffees, und nachher hatte es die lange Reise
+gemacht. So sagte Heidi ganz zustimmend: "Ja, ich mein es auch."
+
+"So geh hinunter, wenn wir denn einig sind", sagte der Alte und
+folgte dem Kind auf dem Fuss nach. Dann ging er zum Kessel hin,
+schob den grossen weg und drehte den kleinen heran, der an der Kette
+hing, setzte sich auf den hoelzernen Dreifuss mit dem runden Sitz
+davor hin und blies ein helles Feuer an. Im Kessel fing es an zu
+sieden, und unten hielt der Alte an einer langen Eisengabel ein
+grosses Stueck Kaese ueber das Feuer und drehte es hin und her, bis es
+auf allen Seiten goldgelb war. Heidi hatte mit gespannter
+Aufmerksamkeit zugesehen; jetzt musste ihm etwas Neues in den Sinn
+gekommen sein; auf einmal sprang es weg und an den Schrank und von
+da hin und her. Jetzt kam der Grossvater mit einem Topf und dem
+Kaesebraten an der Gabel zum Tisch heran; da lag schon das runde
+Brot darauf und zwei Teller und zwei Messer, alles schoen geordnet,
+denn das Heidi hatte alles im Schrank gut wahrgenommen und wusste,
+dass man das alles nun gleich zum Essen brauchen werde.
+
+"So, das ist recht, dass du selbst etwas ausdenkst", sagte der
+Grossvater und legte den Braten auf das Brot als Unterlage; "aber es
+fehlt noch etwas auf dem Tisch."
+
+Heidi sah, wie einladend es aus dem Topf hervordampfte, und sprang
+schnell wieder an den Schrank. Da stand aber nur ein einziges
+Schuesselchen. Heidi war nicht lang in Verlegenheit, dort hinten
+standen zwei Glaeser; augenblicklich kam das Kind zurueck und stellte
+Schuesselchen und Glas auf den Tisch.
+
+"Recht so; du weisst dir zu helfen; aber wo willst du sitzen?" Auf
+dem einzigen Stuhl sass der Grossvater selbst. Heidi schoss
+pfeilschnell zum Herd hin, brachte den kleinen Dreifuss zurueck und
+setzte sich drauf.
+
+"Einen Sitz hast du wenigstens, das ist wahr, nur ein wenig weit
+unten", sagte der Grossvater; "aber von meinem Stuhl waerst auch zu
+kurz, auf den Tisch zu langen; jetzt musst aber einmal etwas haben,
+so komm!" Damit stand er auf, fuellte das Schuesselchen mit Milch,
+stellte es auf den Stuhl und rueckte den ganz nah an den Dreifuss hin,
+so dass das Heidi nun einen Tisch vor sich hatte. Der Grossvater
+legte ein grosses Stueck Brot und ein Stueck von dem goldenen Kaese
+darauf und sagte: "Jetzt iss!" Er selbst setzte sich nun auf die
+Ecke des Tisches und begann sein Mittagsmahl. Heidi ergriff sein
+Schuesselchen und trank und trank ohne Aufenthalt, denn der ganze
+Durst seiner langen Reise war ihm wieder aufgestiegen. Jetzt tat
+es einen langen Atemzug--denn im Eifer des Trinkens hatte es lange
+den Atem nicht holen koennen--und stellte sein Schuesselchen hin.
+
+"Gefaellt dir die Milch?", fragte der Grossvater.
+
+"Ich habe noch gar nie so gute Milch getrunken", antwortete Heidi.
+
+"So musst du mehr haben", und der Grossvater fuellte das Schuesselchen
+noch einmal bis oben hin und stellte es vor das Kind, das
+vergnueglich in sein Brot biss, nachdem es von dem weichen Kaese
+darauf gestrichen, denn der war, so gebraten, weich wie Butter, und
+das schmeckte ganz kraeftig zusammen, und zwischendurch trank es
+seine Milch und sah sehr vergnueglich aus. Als nun das Essen zu
+Ende war, ging der Grossvater in den Geissenstall hinaus und hatte da
+allerhand in Ordnung zu bringen, und Heidi sah ihm aufmerksam zu,
+wie er erst mit dem Besen saeuberte, dann frische Streu legte, dass
+die Tierchen darauf schlafen konnten; wie er dann nach dem
+Schoepfchen ging nebenan und hier runde Stoecke zurechtschnitt und an
+einem Brett herumhackte und Loecher hineinbohrte und dann die runden
+Stoecke hineinsteckte und aufstellte; da war es auf einmal ein Stuhl,
+wie der vom Grossvater, nur viel hoeher, und Heidi staunte das Werk
+an, sprachlos vor Verwunderung.
+
+"Was ist das, Heidi?", fragte der Grossvater.
+
+"Das ist mein Stuhl, weil er so hoch ist; auf einmal war er fertig",
+sagte das Kind, noch in tiefem Erstaunen und Bewunderung.
+
+"Es weiss, was es sieht, es hat die Augen am rechten Ort", bemerkte
+der Grossvater vor sich hin, als er nun um die Huette herumging und
+hier einen Nagel einschlug und dort einen und dann an der Tuer etwas
+zu befestigen hatte und so mit Hammer und Naegeln und Holzstuecken
+von einem Ort zum anderen wanderte und immer etwas ausbesserte oder
+wegschlug, je nach dem Beduerfnis. Heidi ging Schritt fuer Schritt
+hinter ihm her und schaute ihm unverwandt mit der groessten
+Aufmerksamkeit zu, und alles, was da vorging, war ihm sehr
+kurzweilig anzusehen.
+
+So kam der Abend heran. Es fing staerker an zu rauschen in den
+alten Tannen, ein maechtiger Wind fuhr daher und sauste und brauste
+durch die dichten Wipfel. Das toente dem Heidi so schoen in die
+Ohren und ins Herz hinein, dass es ganz froehlich darueber wurde und
+huepfte und sprang unter den Tannen umher, als haette es eine
+unerhoerte Freude erlebt. Der Grossvater stand unter der Schopftuer
+und schaute dem Kind zu. Jetzt ertoente ein schriller Pfiff. Heidi
+hielt an in seinen Spruengen, der Grossvater trat heraus. Von oben
+herunter kam es gesprungen, Geiss um Geiss, wie eine Jagd, und
+mittendrin der Peter. Mit einem Freudenruf schoss Heidi mitten in
+das Rudel hinein und begruesste die alten Freunde von heute Morgen
+einen um den anderen. Bei der Huette angekommen, stand alles still,
+und aus der Herde heraus kamen zwei schoene, schlanke Geissen, eine
+weisse und eine braune, auf den Grossvater zu und leckten seine Haende,
+denn er hielt ein wenig Salz darin, wie er jeden Abend zum Empfang
+seiner zwei Tierlein tat. Der Peter verschwand mit seiner Schar.
+Heidi streichelte zaertlich die eine und dann die andere von den
+Geissen und sprang um sie herum, um sie von der anderen Seite auch
+zu streicheln, und war ganz Glueck und Freude ueber die Tierchen.
+"Sind sie unser, Grossvater? Sind sie beide unser? Kommen sie in
+den Stall? Bleiben sie immer bei uns?", so fragte Heidi
+hintereinander in seinem Vergnuegen, und der Grossvater konnte kaum
+sein stetiges "Ja, ja!" zwischen die eine und die andere Frage
+hineinbringen. Als die Geissen ihr Salz aufgeleckt hatten, sagte
+der Alte: "Geh und hol dein Schuesselchen heraus und das Brot."
+
+Heidi gehorchte und kam gleich wieder. Nun melkte der Grossvater
+gleich von der Weissen das Schuesselchen voll und schnitt ein Stueck
+Brot ab und sagte: "Nun iss und dann geh hinauf und schlaf! Die
+Base Dete hat noch ein Buendelchen abgelegt fuer dich, da seien
+Hemdlein und so etwas darin, das liegt unten im Kasten, wenn du's
+brauchst; ich muss nun mit den Geissen hinein, so schlaf wohl!"
+
+"Gut Nacht, Grossvater! Gut Nacht--wie heissen sie, Grossvater, wie
+heissen sie?", rief das Kind und lief dem verschwindenden Alten und
+den Geissen nach.
+
+"Die Weisse heisst Schwaenli und die Braune Baerli", gab der Grossvater
+zurueck.
+
+"Gut Nacht, Schwaenli, gut Nacht, Baerli!", rief nun Heidi noch mit
+Macht, denn eben verschwanden beide in den Stall hinein. Nun
+setzte sich Heidi noch auf die Bank und ass sein Brot und trank
+seine Milch; aber der starke Wind wehte es fast von seinem Sitz
+herunter; so machte es schnell fertig, ging dann hinein und stieg
+zu seinem Bett hinauf, in dem es auch gleich nachher so fest und
+herrlich schlief, als nur einer im schoensten Fuerstenbett schlafen
+konnte. Nicht lange nachher, noch eh es voellig dunkel war, legte
+auch der Grossvater sich auf sein Lager, denn am Morgen war er immer
+schon mit der Sonne wieder draussen, und die kam sehr frueh ueber die
+Berge hereingestiegen in dieser Sommerszeit. In der Nacht kam der
+Wind so gewaltig, dass bei seinen Stoessen die ganze Huette erzitterte
+und es in allen Balken krachte; durch den Schornstein heulte und
+aechzte es wie Jammerstimmen, und in den alten Tannen draussen tobte
+es mit solcher Wut, dass hier und da ein Ast niederkrachte. Mitten
+in der Nacht stand der Grossvater auf und sagte halblaut vor sich
+hin: "Es wird sich wohl fuerchten." Er stieg die Leiter hinauf und
+trat an Heidis Lager heran. Der Mond draussen stand einmal hell
+leuchtend am Himmel, dann fuhren wieder die jagenden Wolken darueber
+hin und alles wurde dunkel. Jetzt kam der Mondschein eben
+leuchtend durch die runde Oeffnung herein und fiel gerade auf Heidis
+Lager. Es hatte sich feuerrote Backen erschlafen unter seiner
+schweren Decke, und ruhig und friedlich lag es auf seinem runden
+Aermchen und traeumte von etwas Erfreulichem, denn sein Gesichtchen
+sah ganz wohlgemut aus. Der Grossvater schaute so lange auf das
+friedlich schlafende Kind, bis der Mond wieder hinter die Wolken
+trat und es dunkel wurde, dann kehrte er auf sein Lager zurueck.
+
+
+
+
+Auf der Weide
+
+Heidi erwachte am fruehen Morgen an einem lauten Pfiff, und als es
+die Augen aufschlug, kam ein goldener Schein durch das runde Loch
+hereingeflossen auf sein Lager und auf das Heu daneben, dass alles
+golden leuchtete ringsherum. Heidi schaute erstaunt um sich und
+wusste durchaus nicht, wo es war. Aber nun hoerte es draussen des
+Grossvaters tiefe Stimme, und jetzt kam ihm alles in den Sinn: Woher
+es gekommen war und dass es nun auf der Alm beim Grossvater sei,
+nicht mehr bei der alten Ursel, die fast nichts mehr hoerte und
+meistens fror, so dass sie immer am Kuechenfenster oder am
+Stubenofen gesessen hatte, wo dann auch Heidi hatte verweilen
+muessen oder doch ganz in der Naehe, damit die Alte sehen konnte, wo
+es war, weil sie es nicht hoeren konnte. Da war es dem Heidi
+manchmal zu eng drinnen, und es waere lieber hinausgelaufen. So war
+es sehr froh, als es in der neuen Behausung erwachte und sich
+erinnerte, wie viel Neues es gestern gesehen hatte und was es heute
+wieder alles sehen koennte, vor allem das Schwaenli und das Baerli.
+Heidi sprang eilig aus seinem Bett und hatte in wenig Minuten alles
+wieder angelegt, was es gestern getragen hatte, denn es war sehr
+wenig. Nun stieg es die Leiter hinunter und sprang vor die Huette
+hinaus. Da stand schon der Geissenpeter mit seiner Schar, und der
+Grossvater brachte eben Schwaenli und Baerli aus dem Stall herbei,
+dass sie sich der Gesellschaft anschlossen. Heidi lief ihm
+entgegen, um ihm und den Geissen guten Tag zu sagen.
+
+"Willst mit auf die Weide?", fragte der Grossvater. Das war dem
+Heidi eben recht, es huepfte hoch auf vor Freude.
+
+"Aber erst waschen und sauber sein, sonst lacht einen die Sonne aus,
+wenn sie so schoen glaenzt da droben und sieht, dass du schwarz bist;
+sieh, dort ist's fuer dich gerichtet." Der Grossvater zeigte auf
+einen grossen Zuber voll Wasser, der vor der Tuer in der Sonne stand.
+Heidi sprang hin und patschte und rieb, bis es ganz glaenzend war.
+Unterdessen ging der Grossvater in die Huette hinein und rief dem
+Peter zu: "Komm hierher, Geissengeneral, und bring deinen Habersack
+mit." Verwundert folgte Peter dem Ruf und streckte sein Saecklein
+hin, in dem er sein mageres Mittagessen bei sich trug.
+
+"Mach auf", befahl der Alte und steckte nun ein grosses Stueck Brot
+und ein ebenso grosses Stueck Kaese hinein. Der Peter machte vor
+Erstaunen seine runden Augen so weit auf als nur moeglich, denn die
+beiden Stuecke waren wohl doppelt so gross wie die zwei, die er als
+eignes Mittagsmahl drinnen hatte.
+
+"So, nun kommt noch das Schuesselchen hinein", fuhr der Oehi fort,
+"denn das Kind kann nicht trinken wie du, nur so von der Geiss weg,
+es kennt das nicht. Du melkst ihm zwei Schuesselchen voll zu Mittag,
+denn das Kind geht mit dir und bleibt bei dir, bis du wieder
+herunterkommst; gib Acht, dass es nicht ueber die Felsen
+hinunterfaellt, hoerst du?"--
+
+Nun kam Heidi hereingelaufen. "Kann mich die Sonne jetzt nicht
+auslachen, Grossvater?", fragte es angelegentlich. Es hatte sich
+mit dem groben Tuch, das der Grossvater neben dem Wasserzuber
+aufgehaengt hatte, Gesicht, Hals und Arme in seinem Schrecken vor
+der Sonne so erstaunlich gerieben, dass es krebsrot vor dem
+Grossvater stand. Er lachte ein wenig.
+
+"Nein, nun hat sie nichts zu lachen", bestaetigte er. "Aber weisst
+was? Am Abend, wenn du heimkommst, da gehst du noch ganz hinein in
+den Zuber, wie ein Fisch; denn wenn man geht wie die Geissen, da
+bekommt man schwarze Fuesse. Jetzt koennt ihr ausziehen."
+
+Nun ging es lustig die Alm hinan. Der Wind hatte in der Nacht das
+letzte Woelkchen weggeblasen; dunkelblau schaute der Himmel von
+allen Seiten hernieder, und mittendrauf stand die leuchtende Sonne
+und schimmerte auf die gruene Alp, und alle die blauen und gelben
+Bluemchen darauf machten ihre Kelche auf und schauten ihr froehlich
+entgegen. Heidi sprang hierhin und dorthin und jauchzte vor Freude,
+denn da waren ganze Trueppchen feiner, roter Himmelsschluesselchen
+beieinander, und dort schimmerte es ganz blau von den schoenen
+Enzianen, und ueberall lachten und nickten die zartblaetterigen,
+goldenen Cystusroeschen in der Sonne. Vor Entzuecken ueber all die
+flimmernden winkenden Bluemchen vergass Heidi sogar die Geissen und
+auch den Peter. Es sprang ganze Strecken voran und dann auf die
+Seite, denn dort funkelte es rot und da gelb und lockte Heidi auf
+alle Seiten. Und ueberall brach Heidi ganze Scharen von den Blumen
+und packte sie in sein Schuerzchen ein, denn es wollte sie alle mit
+heimnehmen und ins Heu stecken in seiner Schlafkammer, dass es dort
+werde wie hier draussen. --So hatte der Peter heut nach allen
+Seiten zu gucken, und seine kugelrunden Augen, die nicht besonders
+schnell hin und her gingen, hatten mehr Arbeit, als der Peter gut
+bewaeltigen konnte, denn die Geissen machten es wie das Heidi: Sie
+liefen auch dahin und dorthin, und er musste ueberallhin pfeifen und
+rufen und seine Rute schwingen, um wieder alle die Verlaufenen
+zusammenzutreiben.
+
+"Wo bist du schon wieder, Heidi?", rief er jetzt mit ziemlich
+grimmiger Stimme.
+
+"Da", toente es von irgendwoher zurueck. Sehen konnte Peter niemand,
+denn Heidi sass am Boden hinter einem Huegelchen, das dicht mit
+duftenden Pruenellen besaet war; da war die ganze Luft umher so mit
+Wohlgeruch erfuellt, dass Heidi noch nie so Liebliches eingeatmet
+hatte. Es setzte sich in die Blumen hinein und zog den Duft in
+vollen Zuegen ein.
+
+"Komm nach!", rief der Peter wieder. "Du musst nicht ueber die
+Felsen hinunterfallen, der Oehi hat's verboten."
+
+"Wo sind die Felsen?", fragte Heidi zurueck, bewegte sich aber nicht
+von der Stelle, denn der suesse Duft stroemte mit jedem Windhauch dem
+Kinde lieblicher entgegen.
+
+"Dort oben, ganz oben, wir haben noch weit, drum komm jetzt! Und
+oben am hoechsten sitzt der alte Raubvogel und kraechzt."
+
+Das half. Augenblicklich sprang Heidi in die Hoehe und rannte mit
+seiner Schuerze voller Blumen dem Peter zu.
+
+"Jetzt hast genug", sagte dieser, als sie wieder zusammen
+weiterkletterten; "sonst bleibst du immer stecken, und wenn du alle
+nimmst, hat's morgen keine mehr." Der letzte Grund leuchtete Heidi
+ein, und dann hatte es die Schuerze schon so angefuellt, dass da
+wenig Platz mehr gewesen waere, und morgen mussten auch noch da sein.
+So zog es nun mit dem Peter weiter, und die Geissen gingen nun
+alle geregelter, denn sie rochen die guten Kraeuter von dem hohen
+Weideplatz schon von fern und strebten nun ohne Aufenthalt dahin.
+Der Weideplatz, wo Peter gewoehnlich Halt machte mit seinen Geissen
+und sein Quartier fuer den Tag aufschlug, lag am Fusse der hohen
+Felsen, die, erst noch von Gebuesch und Tannen bedeckt, zuletzt ganz
+kahl und schroff zum Himmel hinaufragen. An der einen Seite der
+Alp ziehen sich Felsenkluefte weit hinunter und der Grossvater hatte
+Recht, davor zu warnen. Als nun dieser Punkt der Hoehe erreicht war,
+nahm Peter seinen Sack ab und legte ihn sorgfaeltig in eine kleine
+Vertiefung des Bodens hinein, denn der Wind kam manchmal in starken
+Stoessen dahergefahren, und den kannte Peter und wollte seine
+kostbare Habe nicht den Berg hinunterrollen sehen; dann streckte er
+sich lang und breit auf den sonnigen Weideboden hin, denn er musste
+sich nun von der Anstrengung des Steigens erholen.
+
+Heidi hatte unterdessen sein Schuerzchen losgemacht und schoen fest
+zusammengerollt mit den Blumen darin zum Proviantsack in die
+Vertiefung hineingelegt, und nun setzte es sich neben den
+ausgestreckten Peter hin und schaute um sich. Das Tal lag weit
+unten im vollen Morgenglanz; vor sich sah Heidi ein grosses, weites
+Schneefeld sich erheben, hoch in den dunkelblauen Himmel hinauf,
+und links davon stand eine ungeheure Felsenmasse, und zu jeder
+Seite derselben ragte ein hoher Felsenturm kahl und zackig in die
+Blaeue hinauf und schaute von dort oben ganz ernsthaft auf das Heidi
+nieder. Das Kind sass maeuschenstill da und schaute ringsum, und
+weit umher war eine grosse, tiefe Stille; nur ganz sanft und leise
+ging der Wind ueber die zarten, blauen Glockenbluemchen und die
+goldnen, strahlenden Cystusroeschen, die ueberall herumstanden auf
+ihren duennen Staengelchen und leise und froehlich hin und her nickten.
+Der Peter war entschlafen nach seiner Anstrengung, und die Geissen
+kletterten oben an den Bueschen umher. Dem Heidi war es so schoen
+zumute, wie in seinem Leben noch nie. Es trank das goldene
+Sonnenlicht, die frischen Luefte, den zarten Blumenduft in sich ein
+und begehrte gar nichts mehr, als so dazubleiben immerzu. So
+verging eine gute Zeit und Heidi hatte so oft und so lange zu den
+hohen Bergstoecken drueben aufgeschaut, dass es nun war, als haetten
+sie alle auch Gesichter bekommen und schauten ganz bekannt zu ihm
+hernieder, so wie gute Freunde.
+
+Jetzt hoerte Heidi ueber sich ein lautes, scharfes Geschrei und
+Kraechzen ertoenen, und wie es aufschaute, kreiste ueber ihm ein so
+grosser Vogel, wie es nie in seinem Leben gesehen hatte, mit weit
+ausgebreiteten Schwingen in der Luft umher, und in grossen Bogen
+kehrte er immer wieder zurueck und kraechzte laut und durchdringend
+ueber Heidis Kopf.
+
+"Peter! Peter! Erwache!", rief Heidi laut. "Sich, der Raubvogel
+ist da, sieh! Sieh!"
+
+Peter erhob sich auf den Ruf und schaute mit Heidi dem Vogel nach,
+der sich nun hoeher und hoeher hinaufschwang ins Himmelsblau und
+endlich ueber grauen Felsen verschwand.
+
+"Wo ist er jetzt hin?", fragte Heidi, das mit gespannter
+Aufmerksamkeit den Vogel verfolgt hatte.
+
+"Heim ins Nest", war Peters Antwort.
+
+"Ist er dort oben daheim? Oh, wie schoen so hoch oben! Warum
+schreit er so?", fragte Heidi weiter.
+
+"Weil er muss", erklaerte Peter.
+
+"Wir wollen doch dort hinaufklettern und sehen, wo er daheim ist",
+schlug Heidi vor.
+
+"Oh! oh! oh!", brach der Peter aus, jeden Ausruf mit verstaerkter
+Missbilligung hervorstossend; "wenn keine Geiss mehr dorthin kann und
+der Oehi gesagt hat, du duerfest nicht ueber die Felsen hinunterfallen."
+
+Jetzt begann der Peter mit einem Mal ein so gewaltiges Pfeifen und
+Rufen anzustimmen, dass Heidi gar nicht wusste, was begegnen sollte;
+aber die Geissen mussten die Toene verstehen, denn eine nach der
+anderen kam heruntergesprungen, und nun war die ganze Schar auf der
+gruenen Halde versammelt, die einen fortnagend an den wuerzigen
+Halmen, die anderen hin und her rennend und die Dritten ein wenig
+gegeneinander stossend mit ihren Hoernern zum Zeitvertreib. Heidi
+war aufgesprungen und rannte mitten unter den Geissen umher, denn
+das war ihm ein neuer, unbeschreiblich vergnueglicher Anblick, wie
+die Tierlein durcheinander sprangen und sich lustig machten, und
+Heidi sprang von einem zum anderen und machte mit jedem ganz
+persoenliche Bekanntschaft, denn jedes war eine ganz besondere
+Erscheinung fuer sich und hatte seine eigenen Manieren. Unterdessen
+hatte Peter den Sack herbeigeholt und alle vier Stuecke, die drin
+waren, schoen auf den Boden hingelegt in ein Viereck, die grossen
+Stuecke auf Heidis Seite und die kleinen auf die seinige hin, denn
+er wusste genau, wie er sie erhalten hatte. Dann nahm er das
+Schuesselchen und melkte schoene, frische Milch hinein vom Schwaenli
+und stellte das Schuesselchen mitten ins Viereck. Dann rief er
+Heidi herbei, musste aber laenger rufen als nach den Geissen, denn
+das Kind war so in Eifer und Freude ueber die mannigfaltigen Spruenge
+und Erlustigungen seiner neuen Spielkameraden, dass es nichts sah
+und nichts hoerte ausser diesen. Aber Peter wusste sich verstaendlich
+zu machen, er rief, dass es bis in die Felsen hinaufdroehnte, und
+nun erschien Heidi und die gedeckte Tafel sah so einladend aus,
+dass es um sie herumhuepfte vor Wohlgefallen.
+
+"Hoer auf zu hopsen, es ist Zeit zum Essen", sagte Peter, "jetzt
+sitz und fang an."
+
+Heidi setzte sich hin. "Ist die Milch mein?", fragte es, nochmals
+das schoene Viereck und den Hauptpunkt in der Mitte mit Wohlgefallen
+betrachtend.
+
+"Ja", erwiderte Peter, "und die zwei grossen Stuecke zum Essen sind
+auch dein, und wenn du ausgetrunken hast, bekommst du noch ein
+Schuesselchen vom Schwaenli und dann komm ich."
+
+"Und von wem bekommst du die Milch?", wollte Heidi wissen.
+
+"Von meiner Geiss, von der Schnecke. Fang einmal zu essen an",
+mahnte Peter wieder. Heidi fing bei seiner Milch an, und sowie es
+sein leeres Schuesselchen hinstellte, stand Peter auf und holte ein
+zweites herbei. Dazu brach Heidi ein Stueck von seinem Brot ab, und
+das ganze uebrige Stueck, das immer noch groesser war, als Peters
+eigenes Stueck gewesen, das nun schon samt Zubehoer fast zu Ende war,
+reichte es diesem hinueber mit dem ganzen grossen Brocken Kaese und
+sagte: "Das kannst du haben, ich habe nun genug."
+
+Peter schaute das Heidi mit sprachloser Verwunderung an, denn noch
+nie in seinem Leben haette er so sagen und etwas weggeben koennen.
+Er zoegerte noch ein wenig, denn er konnte nicht recht glauben, dass
+es dem Heidi ernst sei; aber dieses hielt erst fest seine Stuecke
+hin, und da Peter nicht zugriff, legte sie es ihm aufs Knie. Nun
+sah er, dass es ernst gemeint sei; er erfasste sein Geschenk,
+nickte in Dank und Zustimmung und hielt nun ein so reichliches
+Mittagsmahl wie noch nie in seinem Leben als Geissbub. Heidi
+schaute derweilen nach den Geissen aus. "Wie heissen sie alle,
+Peter?", fragte es.
+
+Das wusste dieser nun ganz genau und konnte es umso besser in
+seinem Kopf behalten, da er daneben wenig darin aufzubewahren hatte.
+Er fing also an und nannte ohne Anstoss eine nach der anderen,
+immer je mit dem Finger die betreffende bezeichnend. Heidi hoerte
+mit gespannter Aufmerksamkeit der Unterweisung zu, und es waehrte
+gar nicht lange, so konnte es sie alle voneinander unterscheiden
+und jede bei ihrem Namen nennen, denn es hatte eine jede ihre
+Besonderheiten, die einem gleich im Sinne bleiben mussten; man
+musste nur allen genau zusehen, und das tat Heidi. Da war der
+grosse Tuerk mit den starken Hoernern, der wollte mit diesen immer
+gegen alle anderen stossen, und die meisten liefen davon, wenn er
+kam, und wollten nichts von dem groben Kameraden wissen. Nur der
+kecke Distelfink, das schlanke, behaende Geisschen, wich ihm nicht
+aus, sondern rannte von sich aus manchmal drei-, viermal
+hintereinander so rasch und tuechtig gegen ihn an, dass der grosse
+Tuerk oefters ganz erstaunt dastand und nicht mehr angriff, denn der
+Distelfink stand ganz kriegslustig vor ihm und hatte scharfe
+Hoernchen. Da war das kleine, weisse Schneehoeppli, das immer so
+eindringlich und flehentlich meckerte, dass Heidi schon mehrmals zu
+ihm hingelaufen war und es troestend beim Kopf genommen hatte. Auch
+jetzt sprang das Kind wieder hin, denn die junge, jammernde Stimme
+hatte eben wieder flehentlich gerufen. Heidi legte seinen Arm um
+den Hals des Geissleins und fragte ganz teilnehmend: "Was hast du,
+Schneehoeppli? Warum rufst du so um Hilfe?" Das Geisslein schmiegte
+sich nahe und vertrauensvoll an Heidi an und war jetzt ganz still.
+Peter rief von seinem Sitz aus, mit einigen Unterbrechungen, denn
+er hatte immer noch zu beissen und zu schlucken: "Es tut so, weil
+die Alte nicht mehr mitkommt, sie haben sie verkauft nach Maienfeld
+vorgestern, nun kommt sie nicht mehr auf die Alm."
+
+"Wer ist die Alte?", fragte Heidi zurueck.
+
+"Pah, seine Mutter", war die Antwort.
+
+"Wo ist die Grossmutter?", rief Heidi wieder.
+
+"Hat keine."
+
+"Und der Grossvater?"
+
+"Hat keinen."
+
+"Du armes Schneehoeppli du", sagte Heidi und drueckte das Tierlein
+zaertlich an sich. "Aber jammere jetzt nur nicht mehr so; siehst du,
+ich komme nun jeden Tag mit dir, dann bist du nicht mehr so
+verlassen, und wenn dir etwas fehlt, kannst du nur zu mir kommen."
+
+Das Schneehoeppli rieb ganz vergnuegt seinen Kopf an Heidis Schulter
+und meckerte nicht mehr klaeglich. Unterdessen hatte Peter sein
+Mittagsmahl beendet und kam nun auch wieder zu seiner Herde und zu
+Heidi heran, das schon wieder allerlei Betrachtungen angestellt
+hatte.
+
+Weitaus die zwei schoensten und saubersten Geissen der ganzen Schar
+waren Schwaenli und Baerli, die sich auch mit einer gewissen
+Vornehmheit betrugen, meistens ihre eigenen Wege gingen und
+besonders dem zudringlichen Tuerk abweisend und veraechtlich
+begegneten.--
+
+Die Tierchen hatten nun wieder begonnen, nach den Bueschen
+hinaufzuklettern, und jedes hatte seine eigene Weise dabei, die
+einen leichtfertig ueber alles weg huepfend, die anderen bedaechtlich
+die guten Kraeutlein suchend unterwegs, der Tuerk hier und da seine
+Angriffe probierend. Schwaenli und Baerli kletterten huebsch und
+leicht hinan und fanden oben sogleich die schoensten Buesche,
+stellten sich geschickt daran auf und nagten sie zierlich ab.
+Heidi stand mit den Haenden auf dem Ruecken und schaute dem allen mit
+der groessten Aufmerksamkeit zu.
+
+"Peter", bemerkte es jetzt zu dem wieder auf dem Boden Liegenden,
+"die schoensten von allen sind das Schwaenli und das Baerli."
+
+"Weiss schon", war die Antwort. "Der Alm-Oehi putzt und waescht sie
+und gibt ihnen Salz und hat den schoensten Stall."
+
+Aber auf einmal sprang Peter auf und setzte in grossen Spruengen den
+Geissen nach, und das Heidi lief hintendrein; da musste etwas
+begegnet sein, es konnte da nicht zurueckbleiben. Der Peter sprang
+durch den Geissenrudel durch der Seite der Alm zu, wo die Felsen
+schroff und kahl weit hinabstiegen und ein unbesonnenes Geisslein,
+wenn es dorthin ging, leicht hinunterstuerzen und alle Beine brechen
+konnte. Er hatte gesehen, wie der vorwitzige Distelfink nach jener
+Seite hin gehuepft war, und kam noch gerade recht, denn eben sprang
+das Geisslein dem Rande des Abgrundes zu. Peter wollte es eben
+packen, da stuerzte er auf den Boden und konnte nur noch im Sturze
+ein Bein des Tierleins erwischen und es daran festhalten. Der
+Distelfink meckerte voller Zorn und Ueberraschung, dass er so am
+Bein festgehalten und am Fortsetzen seines froehlichen Streifzuges
+gehindert war, und strebte eigensinnig vorwaerts. Der Peter schrie
+nach Heidi, dass es ihm beistehe, denn er konnte nicht aufstehen
+und riss dem Distelfink fast das Bein aus. Heidi war schon da und
+erkannte gleich die schlimme Lage der beiden. Es riss schnell
+einige wohlduftende Kraeuter aus dem Boden und hielt sie dem
+Distelfink unter die Nase und sagte beguetigend:
+
+"Komm, komm, Distelfink, du musst auch vernuenftig sein! Sieh, da
+kannst du hinabfallen und ein Bein brechen, das tut dir furchtbar
+weh."
+
+Das Geisslein hatte sich schnell umgewandt und dem Heidi vergnueglich
+die Kraeuter aus der Hand gefressen. Derweilen war der Peter auf
+seine Fuesse gekommen und hatte den Distelfink an der Schnur erfasst,
+an welcher sein Gloeckchen um den Hals gebunden war, und Heidi
+erfasste diese von der anderen Seite, und so fuehrten die beiden den
+Ausreisser zu der friedlich weidenden Herde zurueck. Als ihn aber
+Peter hier in Sicherheit hatte, erhob er seine Rute und wollte ihn
+zur Strafe tuechtig durchpruegeln, und der Distelfink wich scheu
+zurueck, denn er merkte, was begegnen sollte. Aber Heidi schrie
+laut auf: "Nein, Peter, nein, du musst ihn nicht schlagen, sieh,
+wie er sich fuerchtet!"
+
+"Er verdient's", schnurrte Peter und wollte zuschlagen. Aber Heidi
+fiel ihm in den Arm und rief ganz entruestet: "Du darfst ihm nichts
+tun, es tut ihm weh, lass ihn los!"
+
+Peter schaute erstaunt auf das gebietende Heidi, dessen schwarze
+Augen ihn so anfunkelten, dass er unwillkuerlich seine Rute
+niederhielt. "So kann er gehen, wenn du mir morgen wieder von
+deinem Kaese gibst", sagte dann der Peter nachgebend, denn eine
+Entschaedigung wollte er haben fuer den Schrecken.
+
+"Allen kannst du haben, das ganze Stueck morgen und alle Tage, ich
+brauche ihn gar nicht", sagte Heidi zustimmend, "und Brot gebe ich
+dir auch ganz viel, wie heute; aber dann darfst du den Distelfink
+nie, gar nie schlagen und auch das Schneehoeppli nie und gar keine
+Geiss."
+
+"Es ist mir gleich", bemerkte Peter, und das war bei ihm soviel als
+eine Zusage. Jetzt liess er den Schuldigen los, und der froehliche
+Distelfink sprang in hohen Spruengen auf und davon in die Herde
+hinein.--
+
+So war unvermerkt der Tag vergangen, und schon war die Sonne im
+Begriff, weit drueben hinter den Bergen hinabzugehen. Heidi sass
+wieder am Boden und schaute ganz still auf die Blaugloeckchen und
+die Cystusroeschen, die im goldenen Abendschein leuchteten, und
+alles Gras wurde wie golden angehaucht und die Felsen droben fingen
+an zu schimmern und zu funkeln, und auf einmal sprang Heidi auf und
+schrie: "Peter! Peter! Es brennt! Es brennt! Alle Berge brennen
+und der grosse Schnee drueben brennt und der Himmel. O sieh! Sieh!
+Der hohe Felsenberg ist ganz gluehend! Oh, der schoene, feurige
+Schnee! Peter, sieh auf, sieh, das Feuer ist auch beim Raubvogel!
+Sieh doch die Felsen! Sieh die Tannen! Alles, alles ist im Feuer!"
+
+"Es war immer so", sagte jetzt der Peter gemuetlich und schaelte an
+seiner Rute fort, "aber es ist kein Feuer."
+
+"Was ist es denn?", rief Heidi und sprang hierhin und dorthin, dass
+es ueberallhin sehe, denn es konnte gar nicht genug bekommen, so
+schoen war's auf allen Seiten. "Was ist es, Peter, was ist es?",
+rief Heidi wieder.
+
+"Es kommt von selbst so", erklaerte Peter.
+
+"O sieh, sieh", rief Heidi in grosser Aufregung, "auf einmal werden
+sie rosenrot! Sieh den mit dem Schnee und den mit den hohen,
+spitzigen Felsen! Wie heissen sie, Peter?"
+
+"Berge heissen nicht", erwiderte dieser.
+
+"O wie schoen, sieh den rosenroten Schnee! Oh, und an den Felsen
+oben sind viele, viele Rosen! Oh, nun werden sie grau! Oh! Oh!
+Nun ist alles ausgeloescht! Nun ist alles aus, Peter!" Und Heidi
+setzte sich auf den Boden und sah so verstoert aus, als ginge
+wirklich alles zu Ende.
+
+"Es ist morgen wieder so", erklaerte Peter. "Steh auf, nun muessen
+wir heim."
+
+Die Geissen wurden herbeigepfiffen und--gerufen und die Heimfahrt
+angetreten.
+
+"Ist's alle Tage wieder so, alle Tage, wenn wir auf der Weide
+sind?", fragte Heidi, begierig nach einer bejahenden Versicherung
+horchend, als es nun neben dem Peter die Alm hinunterstieg.
+
+"Meistens", gab dieser zur Antwort.
+
+"Aber gewiss morgen wieder?", wollte es noch wissen.
+
+"Ja, ja, morgen schon!", versicherte Peter.
+
+Nun war Heidi wieder froh und es hatte so viele Eindruecke in sich
+aufgenommen und so viele Dinge gingen ihm im Sinn herum, dass es
+nun ganz stillschwieg, bis es bei der Almhuette ankam und den
+Grossvater unter den Tannen sitzen sah, wo er auch eine Bank
+angebracht hatte und am Abend seine Geissen erwartete, die von
+dieser Seite herunterkaemen. Heidi sprang gleich auf ihn zu und
+Schwaenli und Baerli hinter ihm drein, denn die Geissen kannten ihren
+Herrn und ihren Stall. Der Peter rief dem Heidi nach: "Komm dann
+morgen wieder! Gute Nacht!" Denn es war ihm sehr daran gelegen,
+dass das Heidi wiederkomme.
+
+Da rannte das Heidi schnell wieder zurueck und gab dem Peter die
+Hand und versicherte ihm, dass es wieder mitkomme, und dann sprang
+es mitten in die davonziehende Herde hinein und fasste noch einmal
+das Schneehoeppli um den Hals und sagte vertraulich: "Schlaf wohl,
+Schneehoeppli, und denk dran, dass ich morgen wiederkomme und dass
+du nie mehr so jaemmerlich meckern musst."
+
+Das Schneehoeppli schaute ganz freundlich und dankbar zu Heidi auf
+und sprang dann froehlich der Herde nach.
+
+Heidi kam unter die Tannen zurueck.
+
+"O Grossvater, das war so schoen!", rief es, noch bevor es bei ihm
+war. "Das Feuer und die Rosen am Felsen und die blauen und gelben
+Blumen, und sieh, was ich hier bringe!" Und damit schuettete Heidi
+seinen ganzen Blumenreichtum aus dem gefalteten Schuerzchen vor den
+Grossvater hin. Aber wie sahen die armen Bluemchen aus! Heidi
+erkannte sie nicht mehr. Es war alles wie Heu, und kein einziges
+Kelchlein stand mehr offen.
+
+"O Grossvater, was haben sie?", rief Heidi ganz erschrocken aus.
+"So waren sie nicht, warum sehen sie so aus?"
+
+"Die wollen draussen stehen in der Sonne und nicht ins Schuerzchen
+hinein", sagte der Grossvater.
+
+"Dann will ich gar keine mehr mitnehmen. Aber, Grossvater, warum
+hat der Raubvogel so gekraechzt?", fragte Heidi nun angelegentlich.
+
+"Jetzt gehst du ins Wasser und ich in den Stall und hole Milch, und
+nachher kommen wir hinein zusammen in die Huette und essen zu Nacht,
+dann sag ich dir's."
+
+So wurde getan, und wie nun spaeter Heidi auf seinem hohen Stuhl sass
+vor seinem Milchschuesselchen und der Grossvater neben ihm, da kam
+das Kind gleich wieder mit seiner Frage: "Warum kraechzt der
+Raubvogel so und schreit immer so herunter, Grossvater?"
+
+"Der hoehnt die Leute aus dort unten, dass sie so viele
+zusammensitzen in den Doerfern und einander boes machen. Da hoehnt er
+hinunter: 'Wuerdet ihr auseinander gehen und jedes seinen Weg
+und auf eine Hoehe steigen wie ich, so waer's euch wohler!'"
+Der Grossvater sagte diese Worte fast wild, so dass dem Heidi das
+Gekraechz des Raubvogels dadurch noch eindruecklicher wurde in der
+Erinnerung.
+
+"Warum haben die Berge keinen Namen, Grossvater?", fragte Heidi
+wieder.
+
+"Die haben Namen", erwiderte dieser, "und wenn du mir einen so
+beschreiben kannst, dass ich ihn kenne, so sage ich dir, wie er
+heisst."
+
+Nun beschrieb Heidi den Felsenberg mit den zwei hohen Tuermen genau
+so, wie es ihn gesehen hatte, und der Grossvater sagte wohlgefaellig:
+"Recht so, den kenn ich, der heisst Falknis. Hast du noch einen
+gesehen?"
+
+Nun beschrieb Heidi den Berg mit dem grossen Schneefeld, auf dem der
+ganze Schnee im Feuer gestanden hatte und dann rosenrot geworden
+war und dann auf einmal ganz bleich und erloschen dastand.
+
+"Den erkenn ich auch", sagte der Grossvater, "das ist die
+Schesaplana; so hat es dir gefallen auf der Weide?"
+
+Nun erzaehlte Heidi alles vom ganzen Tage, wie schoen es gewesen, und
+besonders von dem Feuer am Abend, und nun sollte der Grossvater auch
+sagen, woher es gekommen war, denn der Peter haette nichts davon
+gewusst.
+
+"Siehst du", erklaerte der Grossvater, "das macht die Sonne, wenn sie
+den Bergen gute Nacht sagt, dann wirft sie ihnen noch ihre
+schoensten Strahlen zu, dass sie sie nicht vergessen, bis sie am
+Morgen wiederkommt."
+
+Das gefiel dem Heidi und es konnte fast nicht erwarten, dass wieder
+ein Tag komme, da es hinaufkonnte auf die Weide und wieder sehen,
+wie die Sonne den Bergen gute Nacht sagte. Aber erst musste es nun
+schlafen gehen, und es schlief auch die ganze Nacht herrlich auf
+seinem Heulager, und traeumte von lauter schimmernden Bergen und
+roten Rosen darauf und mittendrin das Schneehoeppli in froehlichen
+Spruengen.
+
+
+
+
+Bei der Grossmutter
+
+Am andern Morgen kam wieder die helle Sonne, und dann kam der Peter
+und die Geissen, und wieder zogen sie alle miteinander nach der
+Weide hinauf, und so ging es Tag fuer Tag, und Heidi wurde bei
+diesem Weideleben ganz gebraeunt und so kraeftig und gesund, dass ihm
+gar nie etwas fehlte, und so froh und gluecklich lebte Heidi von
+einem Tag zum anderen, wie nur die lustigen Voegelein leben auf
+allen Baeumen im gruenen Wald. Wie es nun Herbst wurde und der Wind
+lauter zu sausen anfing ueber die Berge hin, dann sagte etwa der
+Grossvater: "Heut bleibst du da, Heidi; ein Kleines, wie du bist,
+kann der Wind mit einem Ruck ueber alle Felsen ins Tal hinabwehen."
+
+Wenn aber das am Morgen der Peter vernahm, sah er sehr ungluecklich
+aus, denn er sah lauter Missgeschick vor sich: Einmal wusste er vor
+Langeweile nun gar nicht mehr, was anfangen, wenn Heidi nicht bei
+ihm war; dann kam er um sein reichliches Mittagsmahl, und dann
+waren die Geissen so stoerrig an diesen Tagen, dass er die doppelte
+Muehe mit ihnen hatte; denn die waren nun auch so an Heidis
+Gesellschaft gewoehnt, dass sie nicht vorwaerts wollten, wenn es
+nicht dabei war, und auf alle Seiten rannten. Heidi wurde niemals
+ungluecklich, denn es sah immer irgendetwas Erfreuliches vor sich.
+Am liebsten ging es schon mit Hirt und Geissen auf die Weide zu den
+Blumen und zum Raubvogel hinauf, wo so mannigfaltige Dinge zu
+erleben waren mit all den verschieden gearteten Geissen; aber auch
+das Haemmern und Saegen und Zimmern des Grossvaters war sehr
+unterhaltend fuer Heidi; und traf es sich, dass er gerade die
+schoenen runden Geisskaeschen zubereitete, wenn es daheim bleiben
+musste, so war das ein ganz besonderes Vergnuegen, dieser
+merkwuerdigen Taetigkeit zuzuschauen, wobei der Grossvater beide Arme
+bloss machte und damit in dem grossen Kessel herumruehrte. Aber vor
+allem anziehend war fuer das Heidi an solchen Windtagen das Wogen
+und Rauschen in den drei alten Tannen hinter der Huette. Da musste
+es immer von Zeit zu Zeit hinlaufen von allem anderen weg, was es
+auch sein mochte, denn so schoen und wunderbar war gar nichts wie
+dieses tiefe, geheimnisvolle Tosen in den Wipfeln da droben; da
+stand Heidi unten und lauschte hinauf und konnte niemals genug
+bekommen, zu sehen und zu hoeren, wie das wehte und wogte und
+rauschte in den Baeumen mit grosser Macht. Jetzt gab die Sonne nicht
+mehr heiss wie im Sommer, und Heidi suchte seine Struempfe und Schuhe
+hervor und auch den Rock, denn nun wurde es immer frischer, und
+wenn das Heidi unter den Tannen stand, wurde es durchblasen wie ein
+duennes Blaettlein, aber es lief doch immer wieder hin und konnte
+nicht in der Huette bleiben, wenn es das Windeswehen vernahm.
+
+Dann wurde es kalt, und der Peter hauchte in die Haende, wenn er
+frueh am Morgen heraufkam, aber nicht lange; denn auf einmal fiel
+ueber Nacht ein tiefer Schnee, und am Morgen war die ganze Alm
+schneeweiss und kein einziges gruenes Blaettlein mehr zu sehen ringsum
+und um. Da kam der Geissenpeter nicht mehr mit seiner Herde, und
+Heidi schaute ganz verwundert durch das kleine Fenster, denn nun
+fing es wieder zu schneien an, und die dicken Flocken fielen fort
+und fort, bis der Schnee so hoch wurde, dass er bis ans Fenster
+hinaufreichte, und dann noch hoeher, dass man das Fenster gar nicht
+mehr aufmachen konnte und man ganz verpackt war in dem Haeuschen.
+Das kam dem Heidi so lustig vor, dass es immer von einem Fenster
+zum anderen rannte, um zu sehen, wie es denn noch werden wollte und
+ob der Schnee noch die ganze Huette zudecken wollte, dass man muesste
+ein Licht anzuenden am hellen Tag. Es kam aber nicht so weit, und
+am anderen Tag ging der Grossvater hinaus--denn nun schneite es
+nicht mehr--und schaufelte ums ganze Haus herum und warf grosse,
+grosse Schneehaufen aufeinander, dass es war wie hier ein Berg und
+dort ein Berg und dort ein Berg um die Huette herum; aber nun waren
+die Fenster wieder frei und auch die Tuer, und das war gut, denn als
+am Nachmittag Heidi und der Grossvater am Feuer sassen, jedes auf
+seinem Dreifuss--denn der Grossvater hatte laengst auch einen fuer das
+Kind gezimmert--, da polterte auf einmal etwas heran und schlug
+immerzu gegen die Holzschwelle und machte endlich die Tuer auf. Es
+war der Geissenpeter; er hatte aber nicht aus Unart so gegen die Tuer
+gepoltert, sondern um seinen Schnee von den Schuhen abzuschlagen,
+die hoch hinauf davon bedeckt waren; eigentlich der ganze Peter war
+von Schnee bedeckt, denn er hatte sich durch die hohen Schichten so
+durchkaempfen muessen, dass ganze Massen an ihm haengen geblieben und
+auf ihm festgefroren waren, denn es war sehr kalt. Aber er hatte
+nicht nachgegeben, denn er wollte zu Heidi hinauf, er hatte es
+jetzt acht Tage lang nicht gesehen.
+
+"Guten Abend", sagte er im Eintreten, stellte sich gleich so nah
+als moeglich ans Feuer heran und sagte weiter nichts mehr; aber sein
+ganzes Gesicht lachte vor Vergnuegen, dass er da war. Heidi schaute
+ihn sehr verwundert an, denn nun er so nah am Feuer war, fing es
+ueberall an ihm zu tauen an, so dass der ganze Peter anzusehen war
+wie ein gelinder Wasserfall.
+
+"Nun, General, wie steht's?", sagte jetzt der Grossvater. "Nun bist
+du ohne Armee und musst am Griffel nagen."
+
+"Warum muss er am Griffel nagen, Grossvater?", fragte Heidi sogleich
+mit Wissbegierde.
+
+"Im Winter muss er in die Schule gehen", erklaerte der Grossvater;
+"da lernt man lesen und schreiben, und das geht manchmal schwer, da
+hilft's ein wenig nach, wenn man am Griffel nagt; ist's nicht wahr,
+General?"
+
+"Ja, 's ist wahr", bestaetigte Peter.
+
+Jetzt war Heidis Teilnahme an der Sache wach geworden und es hatte
+sehr viele Fragen ueber die Schule und alles, was da begegnete und
+zu hoeren und zu sehen war, an den Peter zu richten, und da immer
+viel Zeit verfloss ueber einer Unterhaltung, an der Peter teilnehmen
+musste, so konnte er derweilen schoen trocknen von oben bis unten.
+Es war immer eine grosse Anstrengung fuer ihn, seine Vorstellungen in
+die Worte zu bringen, die bedeuteten, was er meinte; aber diesmal
+hatte er's besonders streng, denn kaum hatte er eine Antwort
+zustande gebracht, so hatte ihm Heidi schon wieder zwei oder drei
+unerwartete Fragen zugeworfen und meistens solche, die einen ganzen
+Satz als Antwort erforderten.
+
+Der Grossvater hatte sich ganz still verhalten waehrend dieser
+Unterhaltung, aber es hatte ihm oefter ganz lustig um die Mundwinkel
+gezuckt, was ein Zeichen war, dass er zuhoerte.
+
+"So, General, nun warst du im Feuer und brauchst Staerkung, komm,
+halt mit!" Damit stand der Grossvater auf und holte das Abendessen
+aus dem Schrank hervor, und Heidi rueckte die Stuehle zum Tisch.
+Unterdessen war auch eine Bank an die Wand gezimmert worden vom
+Grossvater; nun er nicht mehr allein war, hatte er da und dort
+allerlei Sitze zu zweien eingerichtet, denn Heidi hatte die Art,
+dass es sich ueberall nah zum Grossvater hielt, wo er ging und stand
+und sass. So hatten sie alle drei gut Platz zum Sitzen und der
+Peter tat seine runden Augen ganz weit auf, als er sah, welch ein
+maechtiges Stueck von dem schoenen getrockneten Fleisch der Alm-Oehi
+ihm auf seine dicke Brotschnitte legte. So gut hatte es der Peter
+lange nicht gehabt. Als nun das vergnuegte Mahl zu Ende war, fing
+es an zu dunkeln, und Peter schickte sich zur Heimkehr an. Als er
+nun "Gute Nacht" und "Dank Euch Gott" gesagt hatte und schon unter
+der Tuer war, kehrte er sich noch einmal um und sagte: "Am Sonntag
+komm ich wieder, heut ueber acht Tag, und du solltest auch einmal
+zur Grossmutter kommen, hat sie gesagt."
+
+Das war ein ganz neuer Gedanke fuer Heidi, dass es zu jemandem gehen
+sollte, aber er fasste auf der Stelle Boden bei ihm, und gleich am
+folgenden Morgen war sein Erstes, dass es erklaerte: "Grossvater,
+jetzt muss ich gewiss zu der Grossmutter hinunter, sie erwartet mich.
+"
+
+"Es hat zu viel Schnee", erwiderte der Grossvater abwehrend.
+
+Aber das Vorhaben sass fest in Heidis Sinn, denn die Grossmutter
+hatte es ja sagen lassen; so musste es sein. So verging kein Tag
+mehr, an dem das Kind nicht fuenf- und sechsmal sagte: "Grossvater,
+jetzt muss ich gewiss gehen, die Grossmutter wartet ja immer auf
+mich."
+
+Am vierten Tag, als es draussen knisterte und knarrte vor Kaelte bei
+jedem Schritt und die ganze grosse Schneedecke ringsum hart gefroren
+war, aber eine schoene Sonne ins Fenster guckte, gerade auf Heidis
+hohen Stuhl hin, wo es am Mittagsmahl sass, da begann es wieder sein
+Spruechlein: "Heut muss ich aber gewiss zur Grossmutter gehen, es
+waehrt ihr sonst zu lange." Da stand der Grossvater auf vom
+Mittagstisch, stieg auf den Heuboden hinauf, brachte den dicken
+Sack herunter, der Heidis Bettdecke war, und sagte: "So komm!" In
+grosser Freude huepfte das Kind ihm nach in die glitzernde Schneewelt
+hinaus. In den alten Tannen war es nun ganz still und auf allen
+Aesten lag der weisse Schnee und in dem Sonnenschein schimmerte und
+funkelte es ueberall von den Baeumen in solcher Pracht, dass Heidi
+hoch aufsprang vor Entzuecken und ein Mal uebers andere ausrief:
+"Komm heraus, Grossvater, komm heraus! Es ist lauter Silber und
+Gold an den Tannen!" Denn der Grossvater war in den Schopf
+hineingegangen und kam nun heraus mit einem breiten Stossschlitten:
+Da war vorn eine Stange angebracht, und von dem flachen Sitz konnte
+man die Fuesse nach vorn hinunterhalten und gegen den Schneeboden
+stemmen und der Fahrt die Weisung geben. Hier setzte sich der
+Grossvater hin, nachdem er erst die Tannen ringsum mit Heidi hatte
+beschauen muessen, nahm das Kind auf seinen Schoss, wickelte es um
+und um in den Sack ein, damit es huebsch warm bleibe, und drueckte es
+fest mit dem linken Arm an sich, denn das war noetig bei der
+kommenden Fahrt. Dann umfasste er mit der rechten Hand die Stange
+und gab einen Ruck mit beiden Fuessen. Da schoss der Schlitten davon
+die Alm hinab mit einer solchen Schnelligkeit, dass das Heidi
+meinte, es fliege in der Luft wie ein Vogel, und laut aufjauchzte.
+Auf einmal stand der Schlitten still, gerade bei der Huette vom
+Geissenpeter. Der Grossvater stellte das Kind auf den Boden,
+wickelte es aus seiner Decke heraus und sagte:
+
+"So, nun geh hinein, und wenn es anfaengt dunkel zu werden, dann
+komm wieder heraus und mach dich auf den Weg." Dann kehrte er um
+mit seinem Schlitten und zog ihn den Berg hinauf.
+
+Heidi machte die Tuer auf und kam in einen kleinen Raum hinein, da
+sah es schwarz aus, und ein Herd war da und einige Schuesselchen auf
+einem Gestell, das war die kleine Kueche; dann kam gleich wieder
+eine Tuer, die machte Heidi wieder auf und kam in eine enge Stube
+hinein, denn das Ganze war nicht eine Sennhuette, wie beim Grossvater,
+wo ein einziger, grosser Raum war und oben ein Heuboden, sondern es
+war ein kleines, uraltes Haeuschen, wo alles eng war und schmal und
+duerftig. Als Heidi in das Stuebchen trat, stand es gleich vor dem
+Tisch, daran sass eine Frau und flickte an Peters Wams, denn dieses
+erkannte Heidi sogleich. In der Ecke sass ein altes, gekruemmtes
+Muetterchen und spann. Heidi wusste gleich, woran es war; es ging
+geradaus auf das Spinnrad zu und sagte: "Guten Tag, Grossmutter,
+jetzt komme ich zu dir; hast du gedacht, es waehre lang, bis ich
+komme?"
+
+Die Grossmutter erhob den Kopf und suchte die Hand, die gegen sie
+ausgestreckt war, und als sie diese erfasst hatte, befuehlte sie
+dieselbe erst eine Weile nachdenklich in der ihrigen, dann sagte
+sie: "Bist du das Kind droben beim Alm-Oehi, bist du das Heidi?"
+
+"Ja, ja", bestaetigte das Kind, "jetzt gerade bin ich mit dem
+Grossvater im Schlitten heruntergefahren."
+
+"Wie ist das moeglich! Du hast ja eine so warme Hand! Sag,
+Brigitte, ist der Alm-Oehi selber mit dem Kind heruntergekommen?"
+
+Peters Mutter, die Brigitte, die am Tisch geflickt hatte, war
+aufgestanden und betrachtete nun mit Neugierde das Kind von oben
+bis unten; dann sagte sie: "Ich weiss nicht, Mutter, ob der Oehi
+selber heruntergekommen ist mit ihm; es ist nicht glaublich, das
+Kind wird's nicht recht wissen."
+
+Aber das Heidi sah die Frau sehr bestimmt an und gar nicht, als sei
+es im Ungewissen, und sagte: "Ich weiss ganz gut, wer mich in die
+Bettdecke gewickelt hat und mit mir heruntergeschlittelt ist; das
+ist der Grossvater."
+
+"Es muss doch etwas daran sein, was der Peter so gesagt hat den
+Sommer durch vom Alm-Oehi, wenn wir dachten, er wisse es nicht
+recht", sagte die Grossmutter; "wer haette freilich auch glauben
+koennen, dass so etwas moeglich sei; ich dachte, das Kind lebte keine
+drei Wochen da oben. Wie sieht es auch aus, Brigitte!" Diese hatte
+das Kind unterdessen so von allen Seiten angesehen, dass sie nun
+wohl berichten konnte, wie es aussah.
+
+"Es ist so fein gegliedert, wie die Adelheid war", gab sie zur
+Antwort; "aber es hat die schwarzen Augen und das krause Haar, wie
+es der Tobias hatte und auch der Alte droben; ich glaube, es sieht
+den zweien gleich."
+
+Unterdessen war Heidi muessig geblieben; es hatte ringsum geguckt und
+alles genau betrachtet, was da zu sehen war. Jetzt sagte es: "Sieh,
+Grossmutter, dort schlaegt es einen Laden immer hin und her, und der
+Grossvater wuerde auf der Stelle einen Nagel einschlagen, dass er
+wieder fest haelt, sonst schlaegt er auch einmal eine Scheibe ein;
+sieh, sieh, wie er tut!"
+
+"Ach, du gutes Kind", sagte die Grossmutter, "sehen kann ich es
+nicht, aber hoeren kann ich es wohl und noch viel mehr, nicht nur
+den Laden; da kracht und klappert es ueberall, wenn der Wind kommt,
+und er kann ueberall hereinblasen; es haelt nichts mehr zusammen, und
+in der Nacht, wenn sie beide schlafen, ist es mir manchmal so angst
+und bang, es falle alles ueber uns zusammen und schlage uns alle
+drei tot; ach, und da ist kein Mensch, der etwas ausbessern koennte
+an der Huette, der Peter versteht's nicht."
+
+"Aber warum kannst du denn nicht sehen, wie der Laden tut,
+Grossmutter? Sieh jetzt wieder, dort, gerade dort." Und Heidi
+zeigte die Stelle deutlich mit dem Finger.
+
+"Ach Kind, ich kann ja gar nichts sehen, gar nichts, nicht nur den
+Laden nicht", klagte die Grossmutter.
+
+"Aber wenn ich hinausgehe und den Laden ganz aufmache, dass es
+recht hell wird, kannst du dann sehen, Grossmutter?"
+
+"Nein, nein, auch dann nicht, es kann mir niemand mehr hell machen."
+
+"Aber wenn du hinausgehst in den ganz weissen Schnee, dann wird es
+dir gewiss hell; komm nur mit mir, Grossmutter, ich will dir's
+zeigen." Heidi nahm die Grossmutter bei der Hand und wollte sie
+fortziehen, denn es fing an, ihm ganz aengstlich zumute zu werden,
+dass es ihr nirgends hell wurde.
+
+"Lass mich nur sitzen, du gutes Kind; es bleibt doch dunkel bei mir,
+auch im Schnee und in der Helle, sie dringt nicht mehr in meine
+Augen."
+
+"Aber dann doch im Sommer, Grossmutter", sagte Heidi, immer
+aengstlicher nach einem guten Ausweg suchend; "weisst, wenn dann
+wieder die Sonne ganz heiss herunterbrennt und dann 'gute
+Nacht' sagt und die Berge alle feuerrot schimmern und alle
+gelben Bluemlein glitzern, dann wird es dir wieder schoen hell?"
+
+"Ach, Kind, ich kann sie nie mehr sehen, die feurigen Berge und die
+goldenen Bluemlein droben, es wird mir nie mehr hell auf Erden, nie
+mehr."
+
+Jetzt brach Heidi in lautes Weinen aus. Voller Jammer schluchzte
+es fortwaehrend: "Wer kann dir denn wieder hell machen? Kann es
+niemand? Kann es gar niemand?"
+
+Die Grossmutter suchte nun das Kind zu troesten, aber es gelang ihr
+nicht so bald. Heidi weinte fast nie; wenn es aber einmal anfing,
+dann konnte es auch fast nicht mehr aus der Betruebnis herauskommen.
+Die Grossmutter hatte schon allerhand probiert, um das Kind zu
+beschwichtigen, denn es ging ihr zu Herzen, dass es so jaemmerlich
+schluchzen musste. Jetzt sagte sie: "Komm, du gutes Heidi, komm
+hier heran, ich will dir etwas sagen. Siehst du, wenn man nichts
+sehen kann, dann hoert man so gern ein freundliches Wort, und ich
+hoere es gern, wenn du redest; komm, setz dich da nahe zu mir und
+erzaehl mir etwas, was du machst da droben und was der Grossvater
+macht, ich habe ihn frueher gut gekannt; aber jetzt hab ich seit
+manchem Jahr nichts mehr gehoert von ihm als durch den Peter, aber
+der sagt nicht viel."
+
+Jetzt kam dem Heidi ein neuer Gedanke; es wischte rasch seine
+Traenen weg und sagte troestlich: "Wart nur, Grossmutter, ich will
+alles dem Grossvater sagen, er macht dir schon wieder hell und macht,
+dass die Huette nicht zusammenfaellt, er kann alles wieder in
+Ordnung machen."
+
+Die Grossmutter schwieg stille, und nun fing Heidi an, ihr mit
+grosser Lebendigkeit zu erzaehlen von seinem Leben mit dem Grossvater
+und von den Tagen auf der Weide und von dem jetzigen Winterleben
+mit dem Grossvater, was er alles aus Holz machen koenne, Baenke und
+Stuehle und schoene Krippen, wo man fuer das Schwaenli und Baerli das
+Heu hineinlegen koennte, und einen neuen grossen Wassertrog zum Baden
+im Sommer, und ein neues Milchschuesselchen und Loeffel, und Heidi
+wurde immer eifriger im Beschreiben all der schoenen Sachen, die so
+auf einmal aus einem Stueck Holz herauskommen, und wie es dann neben
+dem Grossvater stehe und ihm zuschaue und wie es das alles auch
+einmal machen wolle. Die Grossmutter hoerte mit grosser
+Aufmerksamkeit zu, und von Zeit zu Zeit sagte sie dazwischen:
+"Hoerst du's auch, Brigitte? Hoerst du, was es vom Oehi sagt?"
+
+Mit einem Mal wurde die Erzaehlung unterbrochen durch ein grosses
+Gepolter an der Tuer, und herein stampfte der Peter, blieb aber
+sogleich stille stehen und sperrte seine runden Augen ganz
+erstaunlich weit auf, als er das Heidi erblickte, und schnitt die
+allerfreundlichste Grimasse, als es ihm sogleich zurief: "Guten
+Abend, Peter!"
+
+"Ist denn das moeglich, dass der schon aus der Schule kommt", rief
+die Grossmutter ganz verwundert aus. "So geschwind ist mir seit
+manchem Jahr kein Nachmittag vergangen! Guten Abend, Peterli, wie
+geht es mit dem Lesen?"
+
+"Gleich", gab der Peter zur Antwort.
+
+"So, so", sagte die Grossmutter ein wenig seufzend, "ich habe
+gedacht, es gaebe vielleicht eine Aenderung auf die Zeit, wenn du
+dann zwoelf Jahre alt wirst gegen den Hornung hin."
+
+"Warum muss es eine Aenderung geben, Grossmutter?", fragte Heidi
+gleich mit Interesse.
+
+"Ich meine nur, dass er es etwa noch haette lernen koennen", sagte
+die Grossmutter, "das Lesen mein ich. Ich habe dort oben auf dem
+Gestell ein altes Gebetbuch, da sind schoene Lieder drin, die habe
+ich so lange nicht mehr gehoert, und im Gedaechtnis habe ich sie auch
+nicht mehr; da habe ich gehofft, wenn der Peterli nun lesen lerne,
+so koenne er mir etwa ein gutes Lied lesen; aber er kann es nicht
+lernen, es ist ihm zu schwer."
+
+"Ich denke, ich muss Licht machen, es wird ja schon ganz dunkel",
+sagte jetzt Peters Mutter, die immer emsig am Wams fortgeflickt
+hatte; "der Nachmittag ist mir auch vergangen, ohne dass ich's
+merkte."
+
+Nun sprang Heidi von seinem Stuehlchen auf, streckte eilig seine
+Hand aus und sagte: "Gut Nacht, Grossmutter, ich muss auf der Stelle
+heim, wenn es dunkel wird", und hintereinander bot es dem Peter und
+seiner Mutter die Hand und ging der Tuer zu. Aber die Grossmutter
+rief besorgt: "Wart, wart, Heidi; so allein musst du nicht fort,
+der Peter muss mit dir, hoerst du? Und gib Acht auf das Kind,
+Peterli, dass es nicht umfaellt, und steh nicht still mit ihm, dass
+es nicht friert, hoerst du? Hat es auch ein dickes Halstuch an?"
+
+"Ich habe gar kein Halstuch an", rief Heidi zurueck, "aber ich will
+schon nicht frieren"; damit war es zur Tuer hinaus und huschte so
+behend weiter, dass der Peter kaum nachkam. Aber die Grossmutter
+rief jammernd: "Lauf ihm nach, Brigitte, lauf, das Kind muss ja
+erfrieren, so bei der Nacht, nimm mein Halstuch mit, lauf schnell!"
+Die Brigitte gehorchte. Die Kinder hatten aber kaum ein paar
+Schritte den Berg hinan getan, so sahen sie von oben herunter den
+Grossvater kommen, und mit wenigen ruestigen Schritten stand er vor
+ihnen.
+
+"Recht so, Heidi, Wort gehalten!", sagte er, packte das Kind wieder
+fest in seine Decke ein, nahm es auf seinen Arm und stieg den Berg
+hinauf. Eben hatte die Brigitte noch gesehen, wie der Alte das
+Kind wohl verpackt auf seinen Arm genommen und den Rueckweg
+angetreten hatte. Sie trat mit dem Peter wieder in die Huette ein
+und erzaehlte der Grossmutter mit Verwunderung, was sie gesehen hatte.
+Auch diese musste sich sehr verwundern und ein Mal ueber das
+andere sagen: "Gott Lob und Dank, dass er so ist mit dem Kind, Gott
+Lob und Dank! Wenn er es nur auch wieder zu mir laesst, das Kind
+hat mir so wohl gemacht! Was hat es fuer ein gutes Herz und wie
+kann es so kurzweilig erzaehlen!" Und immer wieder freute sich die
+Grossmutter, und bis sie ins Bett ging, sagte sie immer wieder:
+"Wenn es nur auch wiederkommt! Jetzt habe ich doch noch etwas auf
+der Welt, auf das ich mich freuen kann!" Und die Brigitte stimmte
+jedes Mal ein, wenn die Grossmutter wieder dasselbe sagte, und auch
+der Peter nickte jedes Mal zustimmend mit dem Kopf und zog seinen
+Mund weit auseinander vor Vergnueglichkeit und sagte: "Hab's schon
+gewusst."
+
+Unterdessen redete das Heidi in seinem Sack drinnen immerzu an den
+Grossvater heran; da die Stimme aber nicht durch den achtfachen
+Umschlag dringen konnte und er daher kein Wort verstand, sagte er:
+"Wart ein wenig, bis wir daheim sind, dann sag's."
+
+Sobald er nun, oben angekommen, in seine Huette eingetreten war und
+Heidi aus seiner Huelle herausgeschaelt hatte, sagte es: "Grossvater,
+morgen muessen wir den Hammer und die grossen Naegel mitnehmen und den
+Laden festschlagen bei der Grossmutter und sonst noch viele Naegel
+einschlagen, denn es kracht und klappert alles bei ihr."
+
+"Muessen wir? So, das muessen wir? Wer hat dir das gesagt?", fragte
+der Grossvater.
+
+"Das hat mir kein Mensch gesagt, ich weiss es sonst", entgegnete
+Heidi, "denn es haelt alles nicht mehr fest und es ist der
+Grossmutter angst und bang, wenn sie nicht schlafen kann und es so
+tut, und sie denkt: 'Jetzt faellt alles ein und gerade auf
+unsere Koepfe'; und der Grossmutter kann man gar nicht mehr
+hell machen, sie weiss gar nicht, wie man es koennte, aber du kannst
+es schon, Grossvater; denk nur, wie traurig es ist, wenn sie immer
+im Dunkeln ist und es ihr dann noch angst und bang ist und es kann
+ihr kein Mensch helfen als du! Morgen wollen wir gehen und ihr
+helfen; gelt, Grossvater, wir wollen?"
+
+Heidi hatte sich an den Grossvater angeklammert und schaute mit
+zweifellosem Vertrauen zu ihm auf. Der Alte schaute eine kleine
+Welle auf das Kind nieder, dann sagte er: "Ja, Heidi, wir wollen
+machen, dass es nicht mehr so klappert bei der Grossmutter, das
+koennen wir; morgen tun wir's."
+
+Nun huepfte das Kind vor Freude im ganzen Huettenraum herum und rief
+ein Mal ums andere: "Morgen tun wir's! Morgen tun wir's!"
+
+Der Grossvater hielt Wort. Am folgenden Nachmittag wurde dieselbe
+Schlittenfahrt ausgefuehrt. Wie am vorhergehenden Tag stellte der
+Alte das Kind vor der Tuer der Geissenpeter-Huette nieder und sagte:
+"Nun geh hinein, und wenn's Nacht wird, komm wieder." Dann legte er
+den Sack auf den Schlitten und ging um das Haeuschen herum.
+
+Kaum hatte Heidi die Tuer aufgemacht und war in die Stube
+hineingesprungen, so rief schon die Grossmutter aus der Ecke: "Da
+kommt das Kind! Das ist das Kind!", und liess vor Freude den Faden
+los und das Raedchen stehen und streckte beide Haende nach dem Kinde
+aus. Heidi lief zu ihr, rueckte gleich das niedere Stuehlchen ganz
+nahe an sie heran, setzte sich darauf und hatte der Grossmutter
+schon wieder eine grosse Menge von Dingen zu erzaehlen und von ihr zu
+erfragen. Aber auf einmal ertoenten so gewaltige Schlaege an das
+Haus, dass die Grossmutter vor Schrecken so zusammenfuhr, dass sie
+fast das Spinnrad umwarf, und zitternd ausrief: "Ach du mein Gott,
+jetzt kommt's, es faellt alles zusammen!" Aber Heidi hielt sie fest
+um den Arm und sagte troestend: "Nein, nein, Grossmutter, erschrick
+du nur nicht, das ist der Grossvater mit dem Hammer, jetzt macht er
+alles fest, dass es dir nicht mehr angst und bang wird."
+
+"Ach, ist auch das moeglich! Ist auch so etwas moeglich! So hat uns
+doch der liebe Gott nicht ganz vergessen!", rief die Grossmutter aus.
+"Hast du's gehoert, Brigitte, was es ist, hoerst du's? Wahrhaftig,
+es ist ein Hammer! Geh hinaus, Brigitte, und wenn es der Alm-Oehi
+ist, so sag ihm, er soll doch dann auch einen Augenblick
+hereinkommen, dass ich ihm auch danken kann."
+
+Die Brigitte ging hinaus. Eben schlug der Alm-Oehi mit grosser
+Gewalt neue Kloben in die Mauer; Brigitte trat an ihn heran und
+sagte: "Ich wuensche Euch guten Abend, Oehi, und die Mutter auch, und
+wir haben Euch zu danken, dass Ihr uns einen solchen Dienst tut,
+und die Mutter moechte Euch noch gern eigens danken drinnen; sicher,
+es haette uns das nicht gerad einer getan, wir wollen Euch auch dran
+denken, denn sicher--"
+
+"Macht's kurz", unterbrach sie der Alte hier; "was Ihr vom Alm-Oehi
+haltet, weiss ich schon. Geht nur wieder hinein; wo's fehlt, find
+ich selber."
+
+Brigitte gehorchte sogleich, denn der Oehi hatte eine Art, der man
+sich nicht leicht widersetzte. Er klopfte und haemmerte um das
+ganze Haeuschen herum, stieg dann das schmale Treppchen hinauf bis
+unter das Dach, haemmerte weiter und weiter, bis er auch den letzten
+Nagel eingeschlagen, den er mitgebracht hatte. Unterdessen war
+auch schon die Dunkelheit hereingebrochen, und kaum war er
+heruntergestiegen und hatte seinen Schlitten hinter dem Geissenstall
+hervorgezogen, als auch schon Heidi aus der Tuer trat und vom
+Grossvater wie gestern verpackt auf den Arm genommen und der
+Schlitten nachgezogen wurde, denn allein da drauf sitzend, waere die
+ganze Umhuellung vom Heidi abgefallen, und es waere fast oder ganz
+erfroren. Das wusste der Grossvater wohl und hielt das Kind ganz
+warm in seinem Arm.
+
+So ging der Winter dahin. In das freudlose Leben der blinden
+Grossmutter war nach langen Jahren eine Freude gefallen und ihre
+Tage waren nicht mehr lang und dunkel, einer wie der andere, denn
+nun hatte sie immer etwas in Aussicht, nach dem sie verlangen
+konnte. Vom fruehen Morgen an lauschte sie auch schon auf den
+trippelnden Schritt, und ging dann die Tuer auf und das Kind kam
+wirklich dahergesprungen, dann rief sie jedes Mal in lauter Freude:
+"Gottlob! Da kommt's wieder!" Und Heidi setzte sich zu ihr und
+plauderte und erzaehlte so lustig von allem, was es wusste, dass es
+der Grossmutter ganz wohl machte und ihr die Stunden dahingingen,
+sie merkte es nicht, und kein einziges Mal fragte sie mehr so wie
+frueher: "Brigitte, ist der Tag noch nicht um?", sondern jedes Mal,
+wenn Heidi die Tuer hinter sich schloss, sagte sie: "Wie war doch
+der Nachmittag so kurz; ist es nicht wahr, Brigitte?" Und diese
+sagte: "Doch sicher, es ist mir, wir haben erst die Teller vom
+Essen weggestellt." Und die Grossmutter sagte wieder: "Wenn mir nur
+der Herrgott das Kind erhaelt und dem Alm-Oehi den guten Willen!
+Sieht es auch gesund aus, Brigitte?" Und jedes Mal erwiderte diese:
+"Es sieht aus wie ein Erdbeerapfel."
+
+Heidi hatte auch eine grosse Anhaenglichkeit an die alte Grossmutter,
+und wenn es ihm wieder in den Sinn kam, dass ihr gar niemand, auch
+der Grossvater nicht mehr hell machen konnte, ueberkam es immer
+wieder eine grosse Betruebnis; aber die Grossmutter sagte ihm immer
+wieder, dass sie am wenigsten davon leide, wenn es bei ihr sei, und
+Heidi kam auch an jedem schoenen Wintertag heruntergefahren auf
+seinem Schlitten. Der Grossvater hatte, ohne weitere Worte, so
+fortgefahren, hatte jedes Mal den Hammer und allerlei andere Sachen
+mit aufgeladen und manchen Nachmittag durch an dem Geissenpeter-
+Haeuschen herumgeklopft. Das hatte aber auch seine gute Wirkung; es
+krachte und klapperte nicht mehr die ganzen Naechte durch, und die
+Grossmutter sagte, so habe sie manchen Winter lang nicht mehr
+schlafen koennen, das wolle sie auch dem Oehi nie vergessen.
+
+
+
+
+Es kommt ein Besuch und dann noch einer, der mehr Folgen hat
+
+Schnell war der Winter und noch schneller der froehliche Sommer
+darauf vergangen, und ein neuer Winter neigte sich schon wieder dem
+Ende zu. Heidi war gluecklich und froh wie die Voeglein des Himmels
+und freute sich jeden Tag mehr auf die herannahenden Fruehlingstage,
+da der warme Foehn durch die Tannen brausen und den Schnee wegfegen
+wuerde und dann die helle Sonne die blauen und gelben Bluemlein
+hervorlocken und die Tage der Weide kommen wuerden, die fuer Heidi
+das Schoenste mit sich brachten, was es auf Erden geben konnte.
+Heidi stand nun in seinem achten Jahre; es hatte vom Grossvater
+allerlei Kunstgriffe erlernt: Mit den Geissen wusste es so gut
+umzugehen als nur einer, und Schwaenli und Baerli liefen ihm nach wie
+treue Huendlein und meckerten gleich laut vor Freude, wenn sie nur
+seine Stimme hoerten. In diesem Winter hatte Peter schon zweimal
+vom Schullehrer im Doerfli den Bericht gebracht, der Alm-Oehi solle
+das Kind, das bei ihm sei, nun in die Schule schicken, es habe
+schon mehr als das Alter und haette schon im letzten Winter kommen
+sollen. Der Oehi hatte beide Male dem Schullehrer sagen lassen,
+wenn er etwas mit ihm wolle, so sei er daheim, das Kind schicke er
+nicht in die Schule. Diesen Bericht hatte der Peter richtig
+ueberbracht.
+
+Als die Maerzsonne den Schnee an den Abhaengen geschmolzen hatte und
+ueberall die weissen Schneegloeckchen hervorguckten im Tal und auf der
+Alm die Tannen ihre Schneelast abgeschuettelt hatten und die Aeste
+wieder lustig wehten, da rannte Heidi vor Wonne immer hin und her
+von der Haustuer zum Geissenstall und von da unter die Tannen und
+dann wieder hinein zum Grossvater, um ihm zu berichten, wie viel
+groesser das Stueck gruener Boden unter den Baeumen wieder geworden sei,
+und gleich nachher kam es wieder nachzusehen, denn es konnte nicht
+erwarten, dass alles wieder gruen wurde und der ganze schoene Sommer
+mit Gruen und Blumen wieder auf die Alm gezogen kam.
+
+Als Heidi so am sonnigen Maerzmorgen hin und her rannte und jetzt
+wohl zum zehnten Mal ueber die Tuerschwelle sprang, waere es vor
+Schrecken fast rueckwaerts wieder hineingefallen, denn auf einmal
+stand es vor einem schwarzen alten Herrn, der es ganz ernsthaft
+anblickte. Als er aber seinen Schrecken sah, sagte er freundlich:
+"Du musst nicht erschrecken vor mir, die Kinder sind mir lieb. Gib
+mir die Hand! Du wirst das Heidi sein; wo ist der Grossvater?"
+
+"Er sitzt am Tisch und schnitzt runde Loeffel von Holz", erklaerte
+Heidi und machte nun die Tuer wieder auf.
+
+Es war der alte Herr Pfarrer aus dem Doerfli, der den Oehi vor Jahren
+gut gekannt hatte, als er noch unten wohnte und sein Nachbar war.
+Er trat in die Huette ein, ging auf den Alten zu, der sich ueber sein
+Schnitzwerk hinbeugte, und sagte: "Guten Morgen, Nachbar."
+
+Verwundert schaute dieser in die Hoehe, stand dann auf und
+entgegnete: "Guten Morgen dem Herrn Pfarrer." Dann stellte er
+seinen Stuhl vor den Herrn hin und fuhr fort: "Wenn der Herr
+Pfarrer einen Holzsitz nicht scheut, hier ist einer."
+
+Der Herr Pfarrer setzte sich. "Ich habe Euch lange nicht gesehen,
+Nachbar", sagte er dann.
+
+"Ich den Herrn Pfarrer auch nicht", war die Antwort.
+
+"Ich komme heut, um etwas mit Euch zu besprechen", fing der Herr
+Pfarrer wieder an; "ich denke, Ihr koennt schon wissen, was meine
+Angelegenheit ist, worueber ich mich mit Euch verstaendigen und hoeren
+will, was Ihr im Sinne habt."
+
+Der Herr Pfarrer schwieg und schaute auf Heidi, das an der Tuer
+stand und die neue Erscheinung aufmerksam betrachtete.
+
+"Heidi, geh zu den Geissen", sagte der Grossvater. "Kannst ein wenig
+Salz mitnehmen und bei ihnen bleiben, bis ich auch komme."
+
+Heidi verschwand sofort.
+
+"Das Kind haette schon vor dem Jahr und noch sicherer diesen Winter
+die Schule besuchen sollen", sagte nun der Herr Pfarrer; "der
+Lehrer hat Euch mahnen lassen, Ihr habt keine Antwort darauf
+gegeben; was habt Ihr mit dem Kind im Sinn, Nachbar?"
+
+"Ich habe im Sinn, es nicht in die Schule zu schicken", war die
+Antwort.
+
+Verwundert schaute der Herr Pfarrer auf den Alten, der mit
+gekreuzten Armen auf seiner Bank sass und gar nicht nachgiebig
+aussah.
+
+"Was wollt Ihr aus dem Kinde machen?", fragte jetzt der Herr
+Pfarrer.
+
+"Nichts, es waechst und gedeiht mit den Geissen und den Voegeln; bei
+denen ist es ihm wohl und es lernt nichts Boeses von ihnen."
+
+"Aber das Kind ist keine Geiss und kein Vogel, es ist ein
+Menschenkind. Wenn es nichts Boeses lernt von diesen seinen
+Kameraden, so lernt es auch sonst nichts von ihnen; es soll aber
+etwas lernen, und die Zeit dazu ist da. Ich bin gekommen, es Euch
+zeitig zu sagen, Nachbar, damit Ihr Euch besinnen und einrichten
+koennt den Sommer durch. Dies war der letzte Winter, den das Kind
+so ohne allen Unterricht zugebracht hat; naechsten Winter kommt es
+zur Schule, und zwar jeden Tag."
+
+"Ich tu's nicht, Herr Pfarrer", sagte der Alte unentwegt.
+
+"Meint Ihr denn wirklich, es gebe kein Mittel, Euch zur Vernunft zu
+bringen, wenn Ihr so eigensinnig bei Eurem unvernuenftigen Tun
+beharren wollt?", sagte der Herr Pfarrer jetzt ein wenig eifrig.
+"Ihr seid weit in der Welt herumgekommen und habt viel gesehen und
+vieles lernen koennen, ich haette Euch mehr Einsicht zugetraut,
+Nachbar."
+
+"So", sagte jetzt der Alte und seine Stimme verriet, dass es auch
+in seinem Innern nicht mehr so ganz ruhig war; "und meint denn der
+Herr Pfarrer, ich werde wirklich im naechsten Winter am eisigen
+Morgen durch Sturm und Schnee ein zartgliedriges Kind den Berg
+hinunterschicken, zwei Stunden weit, und zur Nacht wieder
+heraufkommen lassen, wenn's manchmal tobt und tut, dass unsereiner
+fast in Wind und Schnee ersticken muesste, und dann ein Kind wie
+dieses? Und vielleicht kann sich der Herr Pfarrer auch noch der
+Mutter erinnern, der Adelheid; sie war mondsuechtig und hatte
+Zufaelle, soll das Kind auch so etwas holen mit der Anstrengung? Es
+soll mir einer kommen und mich zwingen wollen! Ich gehe vor alle
+Gerichte mit ihm, und dann wollen wir sehen, wer mich zwingt!"
+
+"Ihr habt ganz Recht, Nachbar", sagte der Herr Pfarrer mit
+Freundlichkeit; "es waere nicht moeglich, das Kind von hier aus zur
+Schule zu schicken. Aber ich kann sehen, das Kind ist Euch lieb;
+tut um seinetwillen etwas, das Ihr schon lange haettet tun sollen,
+kommt wieder ins Doerfli herunter und lebt wieder mit den Menschen.
+Was ist das fuer ein Leben hier oben, allein und verbittert gegen
+Gott und Menschen! Wenn Euch einmal etwas zustossen wuerde hier oben,
+wer wuerde Euch beistehen? Ich kann auch gar nicht begreifen, dass
+Ihr den Winter durch nicht halb erfriert in Eurer Huette, und wie
+das zarte Kind es nur aushalten kann!"
+
+"Das Kind hat junges Blut und eine gute Decke, das moechte ich dem
+Herrn Pfarrer sagen, und dann noch eins: Ich weiss, wo es Holz gibt,
+und auch, wann die gute Zeit ist, es zu holen; der Herr Pfarrer
+darf in meinen Schopf hineingehen, es ist etwas drin, in meiner
+Huette geht das Feuer nie aus den Winter durch. Was der Herr
+Pfarrer mit dem Herunterkommen meint, ist nicht fuer mich; die
+Menschen da unten verachten mich und ich sie auch, wir bleiben
+voneinander, so ist's beiden wohl."
+
+"Nein, nein, es ist Euch nicht wohl; ich weiss, was Euch fehlt",
+sagte der Herr Pfarrer mit herzlichem Ton. "Mit der Verachtung der
+Menschen dort unten ist es so schlimm nicht. Glaubt mir, Nachbar:
+Sucht Frieden mit Eurem Gott zu machen, bittet um seine Verzeihung,
+wo Ihr sie noetig habt, und dann kommt und seht, wie anders Euch die
+Menschen ansehen und wie wohl es Euch noch werden kann."
+
+Der Herr Pfarrer war aufgestanden, er hielt dem Alten die Hand hin
+und sagte nochmals mit Herzlichkeit: "Ich zaehle darauf, Nachbar, im
+naechsten Winter seid Ihr wieder unten bei uns und wir sind die
+alten, guten Nachbarn. Es wuerde mir grossen Kummer machen, wenn ein
+Zwang gegen Euch muesste angewandt werden; gebt mir jetzt die Hand
+darauf, dass ihr herunterkommt und wieder unter uns leben wollt,
+ausgesoehnt mit Gott und den Menschen."
+
+Der Alm-Oehi gab dem Herrn Pfarrer die Hand und sagte fest und
+bestimmt: "Der Herr Pfarrer meint es recht mit mir; aber was er
+erwartet, das tu ich nicht, ich sag es sicher und ohne Wandel: Das
+Kind schick ich nicht, und herunter komm ich nicht."
+
+"So helf Euch Gott!", sagte der Herr Pfarrer und ging traurig zur
+Tuer hinaus und den Berg hinunter.
+
+Der Alm-Oehi war verstimmt. Als Heidi am Nachmittag sagte: "Jetzt
+wollen wir zur Grossmutter", erwiderte er kurz: "Heut nicht." Den
+ganzen Tag sprach er nicht mehr, und am folgenden Morgen, als Heidi
+fragte: "Gehen wir heut zur Grossmutter?", war er noch gleich kurz
+von Worten wie im Ton und sagte nur: "Wollen sehen." Aber noch
+bevor die Schuesselchen vom Mittagessen weggestellt waren, trat
+schon wieder ein Besuch zur Tuer herein, es war die Base Dete. Sie
+hatte einen schoenen Hut auf dem Kopf mit einer Feder darauf und ein
+Kleid, das alles mitfegte, was am Boden lag, und in der Sennhuette
+lag da allerlei, das nicht an ein Kleid gehoerte. Der Oehi schaute
+sie an von oben bis unten und sagte kein Wort. Aber die Base Dete
+hatte im Sinn, ein sehr freundliches Gespraech zu fuehren, denn sie
+fing an zu ruehmen und sagte, das Heidi sehe so gut aus, sie habe es
+fast nicht mehr gekannt und man koenne schon sehen, dass es ihm
+nicht schlecht gegangen sei beim Grossvater. Sie habe aber gewiss
+auch immer darauf gedacht, es ihm wieder abzunehmen, denn sie habe
+ja schon begreifen koennen, dass ihm das Kleine im Weg sein muesse,
+aber in jenem Augenblick habe sie es ja nirgends sonst hintun
+koennen; seitdem aber habe sie Tag und Nacht nachgesonnen, wo sie
+das Kind etwa unterbringen koennte, und deswegen komme sie auch
+heute, denn auf einmal habe sie etwas vernommen, da koenne das Heidi
+zu einem solchen Glueck kommen, dass sie es gar nicht habe glauben
+wollen. Dann sei sie aber auf der Stelle der Sache nachgegangen,
+und nun koenne sie sagen, es sei alles so gut wie in Richtigkeit,
+das Heidi komme zu einem Glueck wie unter Hunderttausenden nicht
+eines. Furchtbar reiche Verwandte von ihrer Herrschaft, die fast
+im schoensten Haus in ganz Frankfurt wohnen, die haben ein einziges
+Toechterlein, das muesse immer im Rollstuhl sitzen, denn es sei auf
+einer Seite lahm und sonst nicht gesund, und so sei es fast immer
+allein und muesse auch allen Unterricht allein nehmen bei einem
+Lehrer, und das sei ihm so langweilig, und auch sonst haette es gern
+eine Gespielin im Haus, und da haben sie so davon geredet bei ihrer
+Herrschaft, und wenn man nur so ein Kind finden koennte, wie die
+Dame beschrieb, die in dem Haus die Wirtschaft fuehrte, denn ihre
+Herrschaft habe viel Mitgefuehl und moechte dem kranken Toechterlein
+eine gute Gespielin goennen. Die Wirtschaftsdame hatte nun gesagt,
+sie wolle so ein recht unverdorbenes, so ein eigenartiges, das
+nicht sei wie alle, die man so alle Tage sehe. Da habe sie selbst
+denn auf der Stelle an das Heidi gedacht und sei gleich hingelaufen
+und habe der Dame alles so beschrieben vom Heidi und so von seinem
+Charakter, und die Dame habe sogleich zugesagt. Nun koenne gar kein
+Mensch wissen, was dem Heidi alles an Glueck und Wohlfahrt
+bevorstehe, denn wenn es dann einmal dort sei und die Leute es gern
+moegen und es etwa mit dem eigenen Toechterchen etwas geben sollte--
+man koenne ja nie wissen, es sei doch so schwaechlich--, und wenn
+eben die Leute doch nicht ohne ein Kind bleiben wollten, so koennte
+ja das unerhoerteste Glueck--
+
+"Bist du bald fertig?", unterbrach hier der Oehi, der bis dahin kein
+Wort dazwischengeredet hatte.
+
+"Pah", gab die Dete zurueck und warf den Kopf auf, "Ihr tut gerade,
+wie wenn ich Euch das ordinaerste Zeug gesagt haette, und ist doch
+durchs ganze Praettigau auf und ab nicht einer, der nicht Gott im
+Himmel dankte, wenn ich ihm die Nachricht braechte, die ich Euch
+gebracht habe."
+
+"Bring sie, wem du willst, ich will nichts davon", sagte der Oehi
+trocken.
+
+Aber jetzt fuhr die Dete auf wie eine Rakete und rief: "Ja, wenn
+Ihr es so meint, dann will ich Euch denn schon auch sagen, wie ich
+es meine: Das Kind ist jetzt acht Jahre alt und kann nichts und
+weiss nichts, und Ihr wollt es nichts lernen lassen; Ihr wollt es in
+keine Schule und in keine Kirche schicken, das haben sie mir gesagt
+unten im Doerfli, und es ist meiner einzigen Schwester Kind; ich hab
+es zu verantworten, wie's mit ihm geht, und wenn ein Kind ein Glueck
+erlangen kann wie jetzt das Heidi, so kann ihm nur einer davor sein,
+dem es um alle Leute gleich ist und der keinem etwas Gutes wuenscht.
+Aber ich gebe nicht nach, das sag ich Euch, und die Leute habe
+ich alle fuer mich, es ist kein Einziger unten im Doerfli, der nicht
+mir hilft und gegen Euch ist, und wenn Ihr's etwa wollt vor Gericht
+kommen lassen, so besinnt Euch wohl, Oehi; es gibt noch Sachen, die
+Euch dann koennten aufgewaermt werden, die Ihr nicht gern hoertet,
+denn wenn man's einmal mit dem Gericht zu tun hat, so wird noch
+manches aufgespuert, an das keiner mehr denkt."
+
+"Schweig!", donnerte der Oehi heraus, und seine Augen flammten wie
+Feuer. "Nimm's und verdirb's! Komm mir nie mehr vor Augen mit ihm,
+ich will's nie sehen mit dem Federhut auf dem Kopf und Worten im
+Mund wie dich heut!"
+
+Der Oehi ging mit grossen Schritten zur Tuer hinaus.
+
+"Du hast den Grossvater boes gemacht", sagte Heidi und blitzte mit
+seinen schwarzen Augen die Base wenig freundlich an.
+
+"Er wird schon wieder gut, komm jetzt", draengte die Base; "wo sind
+deine Kleider?"
+
+"Ich komme nicht", sagte Heidi.
+
+"Was sagst du?", fuhr die Base auf; dann aenderte sie den Ton ein
+wenig und fuhr halb freundlich, halb aergerlich weiter: "Komm, komm,
+du verstehst's nicht besser, du wirst es so gut haben, wie du gar
+nicht weisst." Dann ging sie an den Schrank, nahm Heidis Sachen
+hervor und packte sie zusammen: "So, komm jetzt, nimm dort dein
+Huetchen, es sieht nicht schoen aus, aber es ist gleich fuer einmal,
+setz es auf und mach, dass wir fortkommen."
+
+"Ich komme nicht", wiederholte Heidi.
+
+"Sei doch nicht so dumm und stoerrig wie eine Geiss; denen hast du's
+abgesehen. Begreif doch nur, jetzt ist der Grossvater boes, du
+hast's ja gehoert, dass er gesagt hat, wir sollen ihm nicht mehr vor
+Augen kommen, er will es nun haben, dass du mit mir gehst, und
+jetzt musst du ihn nicht noch boeser machen. Du weisst gar nicht,
+wie schoen es ist in Frankfurt und was du alles sehen wirst, und
+gefaellt es dir dann nicht, so kannst du wieder heimgehen; bis dahin
+ist der Grossvater dann wieder gut."
+
+"Kann ich gerad wieder umkehren und heimkommen heut Abend?", fragte
+Heidi.
+
+"Ach was, komm jetzt! Ich sag dir's ja, du kannst wieder heim,
+wann du willst. Heut gehen wir bis nach Maienfeld hinunter und
+morgen frueh sitzen wir in der Eisenbahn, mit der bist du nachher im
+Augenblick wieder daheim, das geht wie geflogen."
+
+Die Base Dete hatte das Buendelchen Kleider auf den Arm und Heidi an
+die Hand genommen; so gingen sie den Berg hinunter.
+
+Da es noch nicht Weidezeit war, ging der Peter noch zur Schule ins
+Doerfli hinunter, oder sollte doch dahin gehen; aber er machte hier
+und da einen Tag Ferien, denn er dachte, es nuetze nichts, dahin zu
+gehen, das Lesen brauche man auch nicht, und ein wenig herumfahren
+und grosse Ruten suchen nuetze etwas, denn diese koenne man brauchen.
+So kam er eben in der Naehe seiner Huette von der Seite her mit
+sichtlichem Erfolg seiner heutigen Bestrebungen, denn er trug ein
+ungeheures Buendel langer, dicker Haselruten auf der Achsel. Er
+stand still und starrte die zwei Entgegenkommenden an, bis sie bei
+ihm ankamen; dann sagte er: "Wo willst du hin?"
+
+"Ich muss nur geschwind nach Frankfurt mit der Base", antwortete
+Heidi, "aber ich will zuerst noch zur Grossmutter hinein, sie wartet
+auf mich."
+
+"Nein, nein, keine Rede, es ist schon viel zu spaet", sagte die Base
+eilig und hielt das fortstrebende Heidi fest bei der Hand; "du
+kannst dann gehen, wenn du wieder heimkommst, komm jetzt!" Damit
+zog die Base das Heidi fest weiter und liess es nicht mehr los, denn
+sie fuerchtete, es koenne drinnen dem Kinde wieder in den Sinn kommen,
+es wolle nicht fort, und die Grossmutter koenne ihm helfen wollen.
+Der Peter sprang in die Huette hinein und schlug mit seinem ganzen
+Buendel Ruten so furchtbar auf den Tisch los, dass alles erzitterte
+und die Grossmutter vor Schrecken vom Spinnrad aufsprang und laut
+aufjammerte. Der Peter hatte sich Luft machen muessen.
+
+"Was ist's denn? Was ist's denn?", rief angstvoll die Grossmutter,
+und die Mutter, die am Tisch gesessen hatte und fast aufgeflogen
+war bei dem Knall, sagte in angeborener Langmut: "Was hast, Peterli;
+warum tust so wuest?"
+
+"Weil sie das Heidi mitgenommen hat", erklaerte Peter.
+
+"Wer? Wer? Wohin, Peterli, wohin?", fragte die Grossmutter jetzt
+mit neuer Angst; sie musste aber schnell erraten haben, was vorging,
+die Tochter hatte ihr ja vor kurzem berichtet, sie habe die Dete
+gesehen zum Alm-Oehi hinaufgehen. Ganz zitternd vor Eile machte die
+Grossmutter das Fenster auf und rief flehentlich hinaus: "Dete, Dete,
+nimm uns das Kind nicht weg! Nimm uns das Heidi nicht!"
+
+Die beiden Laufenden hoerten die Stimme, und die Dete mochte wohl
+ahnen, was sie rief, denn sie fasste das Kind noch fester und lief,
+was sie konnte. Heidi widerstrebte und sagte: "Die Grossmutter hat
+gerufen, ich will zu ihr."
+
+Aber das wollte die Base gerade nicht und beschwichtigte das Kind,
+es solle nur schnell kommen jetzt, dass sie nicht noch zu spaet
+kaemen, sondern dass sie morgen weiterreisen koennten, es koennte ja
+dann sehen, wie es ihm gefallen werde in Frankfurt, dass es gar nie
+mehr fortwolle dort; und wenn es doch heim wolle, so koenne es ja
+gleich gehen und dann erst noch der Grossmutter etwas mit
+heimbringen, was sie freue. Das war eine Aussicht fuer Heidi, die
+ihm gefiel. Es fing an zu laufen ohne Widerstreben.
+
+"Was kann ich der Grossmutter heimbringen?", fragte es nach einer
+Welle.
+
+"Etwas Gutes", sagte die Base, "so schoene, weiche Weissbroetchen, da
+wird sie Freud haben daran, sie kann ja doch das harte, schwarze
+Brot fast nicht mehr essen."
+
+"Ja, sie gibt es immer wieder dem Peter und sagt: 'Es ist mir
+zu hart'; das habe ich selbst gesehen", bestaetigte das Heidi.
+"So wollen wir geschwind gehen, Base Dete; dann kommen wir
+vielleicht heut noch nach Frankfurt, dass ich bald wieder da bin
+mit den Broetchen."
+
+Heidi fing nun so zu rennen an, dass die Base mit ihrem Buendel auf
+dem Arm fast nicht mehr nachkam. Aber sie war sehr froh, dass es
+so rasch ging, denn nun kamen sie gleich zu den ersten Haeusern vom
+Doerfli, und da konnte es wieder allerhand Reden und Fragen geben,
+die das Heidi wieder auf andere Gedanken bringen konnten. So lief
+sie stracks durch, und das Kind zog dabei noch so stark an ihrer
+Hand, dass alle Leute es sehen konnten, wie sie um des Kindes
+willen so pressieren musste. So rief sie auf alle die Fragen und
+Anrufungen, die ihr aus allen Fenstern und Tueren entgegentoenten,
+nur immer zurueck: "Ihr seht's ja, ich kann jetzt nicht still stehen,
+das Kind pressiert und wir haben noch weit."
+
+"Nimmst's mit?"--"Laeuft's dem Alm-Oehi fort?"--"Es ist nur ein
+Wunder, dass es noch am Leben ist!"--"Und dazu noch so rotbackig!"
+So toente es von allen Seiten, und die Dete war froh, dass sie ohne
+Verzug durchkam und keinen Bescheid geben musste und auch Heidi
+kein Wort sagte, sondern nur immer vorwaerts strebte in grossem Eifer.
+--
+
+Von dem Tage an machte der Alm-Oehi, wenn er herunterkam und durchs
+Doerfli ging, ein boeseres Gesicht als je zuvor. Er gruesste keinen
+Menschen und sah mit seinem Kaesereff auf dem Ruecken, mit dem
+ungeheuren Stock in der Hand und den zusammengezogenen dicken
+Brauen so drohend aus, dass die Frauen zu den kleinen Kindern
+sagten: "Gib Acht! Geh dem Alm-Oehi aus dem Weg, er koennte dir noch
+etwas tun!"
+
+Der Alte verkehrte mit keinem Menschen im Doerfli, er ging nur durch
+und weit ins Tal hinab, wo er seinen Kaese verhandelte und seine
+Vorraete an Brot und Fleisch einnahm. Wenn er so vorbeigegangen war
+im Doerfli, dann standen hinter ihm die Leute alle in Trueppchen
+zusammen, und jeder wusste etwas Besonderes, was er am Alm-Oehi
+gesehen hatte, wie er immer wilder aussehe und dass er jetzt keinem
+Menschen mehr auch nur einen Gruss abnehme, und alle kamen darin
+ueberein, dass es ein grosses Glueck sei, dass das Kind habe
+entweichen koennen, und man habe auch wohl gesehen, wie es
+fortgedraengt habe, so, als fuerchte es, der Alte sei schon hinter
+ihm drein, um es zurueckzuholen. Nur die blinde Grossmutter hielt
+unverrueckt zum Alm-Oehi, und wer zu ihr heraufkam, um bei ihr
+spinnen zu lassen oder das Gesponnene zu holen, dem erzaehlte sie es
+immer wieder, wie gut und sorgfaeltig der Alm-Oehi mit dem Kind
+gewesen sei und was er an ihr und der Tochter getan habe, wie
+manchen Nachmittag er an ihrem Haeuschen herumgeflickt, das ohne
+seine Hilfe gewiss schon zusammengefallen waere. So kamen denn auch
+diese Berichte ins Doerfli herunter; aber die meisten, die sie
+vernahmen, sagten dann, die Grossmutter sei vielleicht zu alt zum
+Begreifen, sie werde es wohl nicht recht verstanden haben, sie
+werde wohl auch nicht mehr gut hoeren, weil sie nichts mehr sehe.
+
+Der Alm-Oehi zeigte sich jetzt nicht mehr bei den Geissenpeters; es
+war gut, dass er die Huette so fest zusammengenagelt hatte, denn sie
+blieb fuer lange Zeit ganz unberuehrt. Jetzt begann die blinde
+Grossmutter ihre Tage wieder mit Seufzen, und nicht einer verstrich,
+an dem sie nicht klagend sagte: "Ach, mit dem Kind ist alles Gute
+und alle Freude von uns genommen, und die Tage sind so leer! Wenn
+ich nur noch einmal das Heidi hoeren koennte, eh ich sterben muss!"
+
+
+
+
+Ein neues Kapitel und lauter neue Dinge
+
+Im Hause des Herrn Sesemann in Frankfurt lag das kranke Toechterlein,
+Klara, in dem bequemen Rollstuhl, in welchem es den ganzen Tag
+sich aufhielt und von einem Zimmer ins andere gestossen wurde.
+Jetzt sass es im so genannten Studierzimmer, das neben der grossen
+Essstube lag und wo vielerlei Geraetschaften herumstanden und--lagen,
+die das Zimmer wohnlich machten und zeigten, dass man hier
+gewoehnlich sich aufhielt. An dem grossen, schoenen Buecherschrank mit
+den Glastueren konnte man sehen, woher das Zimmer seinen Namen hatte
+und dass es wohl der Raum war, wo dem lahmen Toechterchen der
+taegliche Unterricht erteilt wurde.
+
+Klara hatte ein blasses, schmales Gesichtchen, aus dem zwei milde,
+blaue Augen herausschauten, die in diesem Augenblick auf die grosse
+Wanduhr gerichtet waren, die heute besonders langsam zu gehen
+schien, denn Klara, die sonst kaum ungeduldig wurde, sagte jetzt
+mit ziemlicher Ungeduld in der Stimme: "Ist es denn immer noch
+nicht Zeit, Fraeulein Rottenmeier?"
+
+Die Letztere sass sehr aufrecht an einem kleinen Arbeitstisch und
+stickte. Sie hatte eine geheimnisvolle Huelle um sich, einen grossen
+Kragen oder Halbmantel, welcher der Persoenlichkeit einen
+feierlichen Anstrich verlieh, der noch erhoeht wurde durch eine Art
+von hoch gebauter Kuppel, die sie auf dem Kopf trug. Fraeulein
+Rottenmeier war schon seit mehreren Jahren, seitdem die Dame des
+Hauses gestorben war, im Hause Sesemann, fuehrte die Wirtschaft und
+hatte die Oberaufsicht ueber das ganze Dienstpersonal.
+
+Herr Sesemann war meistens auf Reisen, ueberliess daher dem Fraeulein
+Rottenmeier das ganze Haus, nur mit der Bedingung, dass sein
+Toechterlein in allem eine Stimme haben solle und nichts gegen
+dessen Wunsch geschehen duerfe.
+
+Waehrend oben Klara zum zweiten Mal mit Zeichen der Ungeduld
+Fraeulein Rottenmeier befragte, ob die Zeit noch nicht da sei, da
+die Erwarteten erscheinen konnten, stand unten vor der Haustuer die
+Dete mit Heidi an der Hand und fragte den Kutscher Johann, der eben
+vom Wagen gestiegen war, ob sie wohl Fraeulein Rottenmeier so spaet
+noch stoeren duerfe.
+
+"Das ist nicht meine Sache", brummte der Kutscher; "klingeln Sie
+den Sebastian herunter, drinnen im Korridor."
+
+Dete tat, wie ihr geheissen war, und der Bediente des Hauses kam die
+Treppe herunter mit grossen, runden Knoepfen auf seinem Aufwaerterrock
+und fast ebenso grossen runden Augen im Kopfe.
+
+"Ich wollte fragen, ob ich um diese Zeit Fraeulein Rottenmeier noch
+stoeren duerfe", brachte die Dete wieder an.
+
+"Das ist nicht meine Sache", gab der Bediente zurueck; "klingeln Sie
+die Jungfer Tinette herunter an der anderen Klingel", und ohne
+weitere Auskunft verschwand der Sebastian.
+
+Dete klingelte wieder. Jetzt erschien auf der Treppe die Jungfer
+Tinette mit einem blendend weissen Deckelchen auf der Mitte des
+Kopfes und einer spoettischen Miene auf dem Gesicht.
+
+"Was ist?", fragte sie auf der Treppe, ohne herunterzukommen. Dete
+wiederholte ihr Gesuch. Jungfer Tinette verschwand, kam aber bald
+wieder und rief von der Treppe herunter: "Sie sind erwartet!"
+
+Jetzt stieg Dete mit Heidi die Treppe hinauf und trat, der Jungfer
+Tinette folgend, in das Studierzimmer ein. Hier blieb Dete hoeflich
+an der Tuer stehen, Heidi immer fest an der Hand haltend, denn sie
+war gar nicht sicher, was dem Kinde etwa begegnen konnte auf diesem
+so fremden Boden.
+
+Fraeulein Rottenmeier erhob sich langsam von ihrem Sitz und kam
+naeher, um die angekommene Gespielin der Tochter des Hauses zu
+betrachten. Der Anblick schien sie nicht zu befriedigen. Heidi
+hatte sein einfaches Baumwollroeckchen an und sein altes,
+zerdruecktes Strohhuetchen auf dem Kopf. Das Kind guckte sehr
+harmlos darunter hervor und betrachtete mit unverhehlter
+Verwunderung den Turmbau auf dem Kopf der Dame.
+
+"Wie heissest du?", fragte Fraeulein Rottenmeier, nachdem auch sie
+einige Minuten lang forschend das Kind angesehen hatte, das kein
+Auge von ihr verwandte.
+
+"Heidi", antwortete es deutlich und mit klangvoller Stimme.
+
+"Wie? Wie? Das soll doch wohl kein christlicher Name sein? So
+bist du doch nicht getauft worden. Welchen Namen hast du in der
+Taufe erhalten?", fragte Fraeulein Rottenmeier weiter.
+
+"Das weiss ich jetzt nicht mehr", entgegnete Heidi.
+
+"Ist das eine Antwort!", bemerkte die Dame mit Kopfschuetteln.
+"Jungfer Dete, ist das Kind einfaeltig oder schnippisch?"
+
+"Mit Erlaubnis und wenn es die Dame gestattet, so will ich gern
+reden fuer das Kind, denn es ist sehr unerfahren", sagte die Dete,
+nachdem sie dem Heidi heimlich einen kleinen Stoss gegeben hatte fuer
+die unpassende Antwort. "Es ist aber nicht einfaeltig und auch
+nicht schnippisch, davon weiss es gar nichts; es meint alles so, wie
+es redet. Aber es ist heut zum ersten Mal in einem Herrenhaus und
+kennt die gute Manier nicht; aber es ist willig und nicht
+ungelehrig, wenn die Dame wollte guetige Nachsicht haben. Es ist
+Adelheid getauft worden, wie seine Mutter, meine Schwester selig."
+
+"Nun wohl, dies ist doch ein Name, den man sagen kann", bemerkte
+Fraeulein Rottenmeier. "Aber, Jungfer Dete, ich muss Ihnen doch
+sagen, dass mir das Kind fuer sein Alter sonderbar vorkommt. Ich
+habe Ihnen mitgeteilt, die Gespielin fuer Fraeulein Klara muesste in
+ihrem Alter sein, um denselben Unterricht mit ihr zu verfolgen und
+ueberhaupt ihre Beschaeftigungen zu teilen. Fraeulein Klara hat das
+zwoelfte Jahr zurueckgelegt; wie alt ist das Kind?"
+
+"Mit Erlaubnis der Dame", fing die Dete wieder beredt an, "es war
+mir eben selber nicht mehr so ganz gegenwaertig, wie alt es sei; es
+ist wirklich ein wenig juenger, viel trifft es nicht an, ich kann's
+so ganz genau nicht sagen, es wird so um das zehnte Jahr, oder so
+noch etwas dazu sein, nehm ich an."
+
+"Jetzt bin ich acht, der Grossvater hat's gesagt", erklaerte Heidi.
+Die Base stiess es wieder an, aber Heidi hatte keine Ahnung, warum,
+und wurde keineswegs verlegen.
+
+"Was, erst acht Jahre alt?", rief Fraeulein Rottenmeier mit einiger
+Entruestung aus. "Vier Jahre zu wenig! Was soll das geben! Und
+was hast du denn gelernt? Was hast du fuer Buecher gehabt bei deinem
+Unterricht?"
+
+"Keine", sagte Heidi.
+
+"Wie? Was? Wie hast du denn lesen gelernt?", fragte die Dame
+weiter.
+
+"Das hab ich nicht gelernt und der Peter auch nicht", berichtete
+Heidi.
+
+"Barmherzigkeit! Du kannst nicht lesen? Du kannst wirklich nicht
+lesen!", rief Fraeulein Rottenmeier im hoechsten Schrecken aus. "Ist
+es die Moeglichkeit, nicht lesen! Was hast du denn aber gelernt?"
+
+"Nichts", sagte Heidi der Wahrheit gemaess.
+
+"Jungfer Dete", sagte Fraeulein Rottenmeier nach einigen Minuten, in
+denen sie nach Fassung rang, "es ist alles nicht nach Abrede, wie
+konnten Sie mir dieses Wesen zufuehren?" Aber die Dete liess sich
+nicht so bald einschuechtern; sie antwortete herzhaft: "Mit
+Erlaubnis der Dame, das Kind ist gerade, was ich dachte, dass sie
+haben wolle; die Dame hat mir beschrieben, wie es sein muesse, so
+ganz apart und nicht wie die anderen, und so musste ich das Kleine
+nehmen, denn die Groesseren sind bei uns dann nicht mehr so apart,
+und ich dachte, dieses passe wie gemacht auf die Beschreibung.
+Jetzt muss ich aber gehen, denn meine Herrschaft erwartet mich; ich
+will, wenn's meine Herrschaft erlaubt, bald wieder kommen und
+nachsehen, wie es geht mit ihm." Mit einem Knicks war die Dete zur
+Tuer hinaus und die Treppe hinunter mit schnellen Schritten.
+Fraeulein Rottenmeier stand einen Augenblick noch da, dann lief sie
+der Dete nach; es war ihr wohl in den Sinn gekommen, dass sie noch
+eine Menge von Dingen mit der Base besprechen wollte, wenn das Kind
+wirklich dableiben sollte, und da war es doch nun einmal und, wie
+sie bemerkte, hatte die Base fest im Sinn, es dazulassen.
+
+Heidi stand noch auf demselben Platz an der Tuer, wo es von Anfang
+an gestanden hatte. Bis dahin hatte Klara von ihrem Sessel aus
+schweigend allem zugesehen. Jetzt winkte sie Heidi: "Komm hierher!"
+
+Heidi trat an den Rollstuhl heran.
+
+"Willst du lieber Heidi heissen oder Adelheid?", fragte Klara.
+
+"Ich heisse nur Heidi und sonst nichts", war Heidis Antwort.
+
+"So will ich dich immer so nennen", sagte Klara; "der Name gefaellt
+mir fuer dich, ich habe ihn aber nie gehoert, ich habe aber auch nie
+ein Kind gesehen, das so aussieht wie du. Hast du immer nur so
+kurzes, krauses Haar gehabt?"
+
+"Ja, ich denk's", gab Heidi zur Antwort.
+
+"Bist du gern nach Frankfurt gekommen?", fragte Klara weiter.
+
+"Nein, aber morgen geh ich dann wieder heim und bringe der
+Grossmutter weisse Broetchen!", erklaerte Heidi.
+
+"Du bist aber ein kurioses Kind!", fuhr jetzt Klara auf. "Man hat
+dich ja express nach Frankfurt kommen lassen, dass du bei mir
+bleibest und die Stunden mit mir nehmest, und siehst du, es wird
+nun ganz lustig, weil du gar nicht lesen kannst, nun kommt etwas
+ganz Neues in den Stunden vor. Sonst ist es manchmal so
+schrecklich langweilig und der Morgen will gar nicht zu Ende kommen.
+Denn siehst du, alle Morgen um zehn Uhr kommt der Herr Kandidat,
+und dann fangen die Stunden an und dauern bis um zwei Uhr, das ist
+so lange. Der Herr Kandidat nimmt auch manchmal das Buch ganz nahe
+ans Gesicht heran, so, als waere er auf einmal ganz kurzsichtig
+geworden, aber er gaehnt nur furchtbar hinter dem Buch, und Fraeulein
+Rottenmeier nimmt auch von Zeit zu Zeit ihr grosses Taschentuch
+hervor und haelt es vor das ganze Gesicht hin, so, als sei sie ganz
+ergriffen von etwas, das wir lesen; aber ich weiss recht gut, dass
+sie nur ganz schrecklich gaehnt dahinter, und dann sollte ich auch
+so stark gaehnen und muss es immer hinunterschlucken, denn wenn ich
+nur ein einziges Mal herausgaehne, so holt Fraeulein Rottenmeier
+gleich den Fischtran und sagt, ich sei wieder schwach, und
+Fischtran nehmen ist das Allerschrecklichste, da will ich doch
+lieber Gaehnen schlucken. Aber nun wird's viel kurzweiliger, da
+kann ich dann zuhoeren, wie du lesen lernst."
+
+Heidi schuettelte ganz bedenklich mit dem Kopf, als es vom
+Lesenlernen hoerte.
+
+"Doch, doch, Heidi, natuerlich musst du lesen lernen, alle Menschen
+muessen, und der Herr Kandidat ist sehr gut, er wird niemals boese,
+und er erklaert dir dann schon alles. Aber siehst du, wenn er etwas
+erklaert, dann verstehst du nichts davon; dann musst du nur warten
+und gar nichts sagen, sonst erklaert er dir noch viel mehr und du
+verstehst es noch weniger. Aber dann nachher, wenn du etwas
+gelernt hast und es weisst, dann verstehst du schon, was er gemeint
+hat."
+
+Jetzt kam Fraeulein Rottenmeier wieder ins Zimmer zurueck; sie hatte
+Dete nicht mehr zurueckrufen koennen und war sichtlich aufgeregt
+davon, denn sie hatte dieser eigentlich gar nicht einlaesslich sagen
+koennen, was alles nicht nach Abrede sei bei dem Kinde, und da sie
+nicht wusste, was nun zu tun sei, um ihren Schritt rueckgaengig zu
+machen, war sie umso aufgeregter, denn sie selbst hatte die ganze
+Sache angestiftet. Sie lief nun vom Studierzimmer ins Esszimmer
+hinueber, und von da wieder zurueck, und kehrte dann unmittelbar
+wieder um und fuhr hier den Sebastian an, der seine runden Augen
+eben nachdenklich ueber den gedeckten Tisch gleiten liess, um zu
+sehen, ob sein Werk keinen Mangel habe.
+
+"Denk Er morgen Seine grossen Gedanken fertig und mach Er, dass man
+heut noch zu Tische komme."
+
+Mit diesen Worten fuhr Fraeulein Rottenmeier an Sebastian vorbei und
+rief nach der Tinette mit so wenig einladendem Ton, dass die
+Jungfer Tinette mit noch viel kleineren Schritten herantrippelte
+als sonst gewoehnlich--und sich mit so spoettischem Gesicht
+hinstellte, dass selbst Fraeulein Rottenmeier nicht wagte, sie
+anzufahren; umso mehr schlug ihr die Aufregung nach innen.
+
+"Das Zimmer der Angekommenen ist in Ordnung zu bringen, Tinette",
+sagte die Dame mit schwer errungener Ruhe; "es liegt alles bereit,
+nehmen Sie noch den Staub von den Moebeln weg."
+
+"Es ist der Muehe wert", spoettelte Tinette und ging.
+
+Unterdessen hatte Sebastian die Doppeltueren zum Studierzimmer mit
+ziemlichem Knall aufgeschlagen, denn er war sehr ergrimmt, aber
+sich in Antworten Luft zu machen durfte er nicht wagen Fraeulein
+Rottenmeier gegenueber; dann trat er ganz gelassen ins Studierzimmer,
+um den Rollstuhl hinueberzustossen. Waehrend er den Griff hinten am
+Stuhl, der sich verschoben hatte, zurechtdrehte, stellte sich Heidi
+vor ihn hin und schaute ihn unverwandt an, was er bemerkte. Auf
+einmal fuhr er auf. "Na, was ist denn da Besonderes dran?",
+schnurrte er Heidi an in einer Weise, wie er es wohl nicht getan,
+haette er Fraeulein Rottenmeier gesehen, die eben wieder auf der
+Schwelle stand und gerade hereintrat, als Heidi entgegnete: "Du
+siehst dem Geissenpeter gleich."
+
+Entsetzt schlug die Dame ihre Haende zusammen. "Ist es die
+Moeglichkeit!", stoehnte sie halblaut. "Nun duzt sie mir den
+Bedienten! Dem Wesen fehlen alle Urbegriffe!"
+
+Der Stuhl kam herangerollt und Klara wurde von Sebastian
+hinausgeschoben und auf ihren Sessel an den Tisch gesetzt.
+
+Fraeulein Rottenmeier setzte sich neben sie und winkte Heidi, es
+sollte den Platz ihr gegenueber einnehmen. Sonst kam niemand zu
+Tische, und es war viel Platz da; die drei sassen auch weit
+auseinander, so dass Sebastian mit seiner Schuessel zum Anbieten
+guten Raum fand. Neben Heidis Teller lag ein schoenes, weisses
+Broetchen; das Kind schaute mit erfreuten Blicken darauf. Die
+Aehnlichkeit, die Heidi entdeckt hatte, musste sein ganzes Vertrauen
+fuer den Sebastian erweckt haben, denn es sass maeuschenstill und
+ruehrte sich nicht, bis er mit der grossen Schuessel zu ihm herantrat
+und ihm die gebratenen Fischchen hinhielt, dann zeigte es auf das
+Broetchen und fragte: "Kann ich das haben?" Sebastian nickte und
+warf dabei einen Seitenblick auf Fraeulein Rottenmeier, denn es
+wunderte ihn, was die Frage fuer einen Eindruck auf sie mache.
+Augenblicklich ergriff Heidi sein Broetchen und steckte es in die
+Tasche. Sebastian machte eine Grimasse, denn das Lachen kam ihn an;
+er wusste aber wohl, dass ihm das nicht erlaubt war. Stumm und
+unbeweglich blieb er immer noch vor Heidi stehen, denn reden durfte
+er nicht, und weggehen durfte er wieder nicht, bis man sich bedient
+hatte. Heidi schaute ihm eine Zeit lang verwundert zu, dann fragte
+es: "Soll ich auch von dem essen?" Sebastian nickte wieder. "So
+gib mir", sagte es und schaute ruhig auf seinen Teller. Sebastians
+Grimasse wurde sehr bedenklich, und die Schuessel in seinen Haenden
+fing an gefaehrlich zu zittern.
+
+"Er kann die Schuessel auf den Tisch setzen und nachher
+wiederkommen", sagte jetzt Fraeulein Rottenmeier mit strengem
+Gesicht. Sebastian verschwand sogleich. "Dir, Adelheid, muss ich
+ueberall die ersten Begriffe beibringen, das sehe ich", fuhr
+Fraeulein Rottenmeier mit tiefem Seufzer fort. "Vor allem will ich
+dir zeigen, wie man sich am Tische bedient", und nun machte die
+Dame deutlich und eingehend alles vor, was Heidi zu tun hatte.
+"Dann", fuhr sie weiter, "muss ich dir hauptsaechlich bemerken, dass
+du am Tisch nicht mit Sebastian zu sprechen hast, auch sonst nur
+dann, wenn du einen Auftrag oder eine notwendige Frage an ihn zu
+richten hast; dann aber nennst du ihn nie mehr anders als (Sie)
+oder (Er), hoerst du? Dass ich dich niemals mehr ihn anders nennen
+hoere. Auch Tinette nennst du (Sie), Jungfer Tinette. Mich nennst
+du so, wie du mich von allen nennen hoerst; wie du Klara nennen
+sollst, wird sie selbst bestimmen."
+
+"Natuerlich Klara", sagte diese. Nun folgte aber noch eine Menge
+von Verhaltungsmassregeln, ueber Aufstehen und Zubettegehen, ueber
+Hereintreten und Hinausgehen, ueber Ordnunghalten, Tuerenschliessen,
+und ueber alledem fielen dem Heidi die Augen zu, denn es war heute
+vor fuenf Uhr aufgestanden und hatte eine lange Reise gemacht. Es
+lehnte sich an den Sesselruecken und schlief ein. Als dann nach
+laengerer Zeit Fraeulein Rottenmeier zu Ende gekommen war mit ihrer
+Unterweisung, sagte sie: "Nun denke daran, Adelheid! Hast du alles
+recht begriffen?"
+
+"Heidi schlaeft schon lange", sagte Klara mit ganz belustigtem
+Gesicht, denn das Abendessen war fuer sie seit langer Zeit nie so
+kurzweilig verflossen.
+
+"Es ist doch voellig unerhoert, was man mit diesem Kind erlebt!",
+rief Fraeulein Rottenmeier in grossem Aerger und klingelte so heftig,
+dass Tinette und Sebastian miteinander herbeigestuerzt kamen; aber
+trotz allen Laerms erwachte Heidi nicht, und man hatte die groesste
+Muehe, es so weit zu erwecken, dass es nach seinem Schlafgemach
+gebracht werden konnte; erst durch das Studierzimmer, dann durch
+Klaras Schlafstube, dann durch die Stube von Fraeulein Rottenmeier
+zu dem Eckzimmer, das nun fuer Heidi eingerichtet war.
+
+
+
+
+Fraeulein Rottenmeier hat einen unruhigen Tag
+
+Als Heidi am ersten Morgen in Frankfurt seine Augen aufschlug,
+konnte es durchaus nicht begreifen, was es erblickte. Es rieb ganz
+gewaltig seine Augen, guckte dann wieder auf und sah dasselbe. Es
+sass auf einem hohen, weissen Bett und vor sich sah es einen grossen,
+weiten Raum, und wo die Helle herkam, hingen lange, lange weisse
+Vorhaenge, und dabei standen zwei Sessel mit grossen Blumen darauf,
+und dann kam ein Sofa an der Wand mit denselben Blumen und ein
+runder Tisch davor, und in der Ecke stand ein Waschtisch mit Sachen
+darauf, wie Heidi sie noch gar nie gesehen hatte. Aber nun kam ihm
+auf einmal in den Sinn, dass es in Frankfurt sei, und der ganze
+gestrige Tag kam ihm in Erinnerung und zuletzt noch ganz klar die
+Unterweisungen der Dame, soweit es sie gehoert hatte. Heidi sprang
+nun von seinem Bett herunter und machte sich fertig. Dann ging es
+an ein Fenster und dann an das andere; es musste den Himmel sehen
+und die Erde draussen, es fuehlte sich wie im Kaefig hinter den grossen
+Vorhaengen. Es konnte diese nicht wegschieben; so kroch es dahinter,
+um an ein Fenster zu kommen. Aber dieses war so hoch, dass Heidi
+nur gerade mit dem Kopf so weit hinaufreichte, dass es durchsehen
+konnte. Aber Heidi fand nicht, was es suchte. Es lief von einem
+Fenster zum anderen und dann wieder zum ersten zurueck; aber immer
+war dasselbe vor seinen Augen, Mauern und Fenster und wieder Mauern
+und dann wieder Fenster. Es wurde Heidi ganz bange. Noch war es
+frueh am Morgen, denn Heidi war gewoehnt, frueh aufzustehen auf der
+Alm und dann sogleich hinauszulaufen vor die Tuer und zu sehen,
+wie's draussen sei, ob der Himmel blau und die Sonne schon droben
+sei, ob die Tannen rauschen und die kleinen Blumen schon die Augen
+offen haben. Wie das Voegelein, das zum ersten Mal in seinem schoen
+glaenzenden Gefaengnis sitzt, hin und her schiesst und bei allen
+Staeben probiert, ob es nicht dazwischen durchschluepfen und in die
+Freiheit hinausfliegen koenne, so lief Heidi immer von dem einen
+Fenster zum anderen, um zu probieren, ob es nicht aufgemacht werden
+koenne, denn dann musste man doch etwas anderes sehen als Mauern und
+Fenster, da musste doch unten der Erdboden, das gruene Gras und der
+letzte schmelzende Schnee an den Abhaengen zum Vorschein kommen, und
+Heidi sehnte sich, das zu sehen. Aber die Fenster blieben fest
+verschlossen, wie sehr auch das Kind drehte und zog und von unten
+suchte, die kleinen Finger unter die Rahmen einzutreiben, damit es
+Kraft haette, sie aufzudruecken; es blieb alles eisenfest aufeinander
+sitzen. Nach langer Zeit, als Heidi einsah, dass alle
+Anstrengungen nichts halfen, gab es seinen Plan auf und ueberdachte
+nun, wie es waere, wenn es vor das Haus hinausginge und hintenherum,
+bis es auf den Grasboden kaeme, denn es erinnerte sich, dass es
+gestern Abend vorn am Haus nur ueber Steine gekommen war. Jetzt
+klopfte es an seiner Tuer und unmittelbar darauf steckte Tinette den
+Kopf herein und sagte kurz: "Fruehstueck bereit!"
+
+Heidi verstand keineswegs eine Einladung unter diesen Worten; auf
+dem spoettischen Gesicht der Tinette stand viel mehr eine Warnung,
+ihr nicht zu nah zu kommen, als eine freundliche Einladung
+geschrieben, und das las Heidi deutlich von dem Gesicht und
+richtete sich danach. Es nahm den kleinen Schemel unter dem Tisch
+empor, stellte ihn in eine Ecke, setzte sich darauf und wartete so
+ganz still ab, was nun kommen wuerde. Nach einiger Zeit kam etwas
+mit ziemlichem Geraeusch, es war Fraeulein Rottenmeier, die schon
+wieder in Aufregung geraten war und in Heidis Stube hineinrief:
+"Was ist mit dir, Adelheid? Begreifst du nicht, was ein Fruehstueck
+ist? Komm herueber!"
+
+Das verstand nun Heidi und folgte sogleich nach. Im Esszimmer sass
+Klara schon lang an ihrem Platz und begruesste Heidi freundlich,
+machte auch ein viel vergnuegteres Gesicht als sonst gewoehnlich,
+denn sie sah voraus, dass heute wieder allerlei Neues geschehen
+wuerde. Das Fruehstueck ging nun ohne Stoerung vor sich; Heidi ass ganz
+anstaendig sein Butterbrot, und wie alles zu Ende war, wurde Klara
+wieder ins Studierzimmer hinuebergerollt und Heidi wurde von
+Fraeulein Rottenmeier angewiesen, nachzufolgen und bei Klara zu
+bleiben, bis der Herr Kandidat kommen wuerde, um die
+Unterrichtsstunden zu beginnen. Als die beiden Kinder allein waren,
+sagte Heidi sogleich: "Wie kann man hinaussehen hier und ganz
+hinunter auf den Boden?"
+
+"Man macht ein Fenster auf und guckt hinaus", antwortete Klara
+belustigt.
+
+"Man kann diese Fenster nicht aufmachen", versetzte Heidi traurig.
+
+"Doch, doch", versicherte Klara, "nur du noch nicht, und ich kann
+dir auch nicht helfen; aber wenn du einmal den Sebastian siehst, so
+macht er dir schon eines auf."
+
+Das war eine grosse Erleichterung fuer Heidi zu wissen, dass man doch
+die Fenster oeffnen und hinausschauen koenne, denn noch war es ganz
+unter dem Druck des Gefangenseins von seinem Zimmer her. Klara
+fing nun an, Heidi zu fragen, wie es bei ihm zu Hause sei, und
+Heidi erzaehlte mit Freuden von der Alm und den Geissen und der Weide
+und allem, was ihm lieb war.
+
+Unterdessen war der Herr Kandidat angekommen; aber Fraeulein
+Rottenmeier fuehrte ihn nicht, wie gewoehnlich, ins Studierzimmer,
+denn sie musste sich erst aussprechen und geleitete ihn zu diesem
+Zweck ins Esszimmer, wo sie sich vor ihn hinsetzte und ihm in
+grosser Aufregung ihre bedraengte Lage schilderte und wie sie in
+diese hineingekommen war.
+
+Sie hatte naemlich vor einiger Zeit Herrn Sesemann nach Paris
+geschrieben, wo er eben verweilte, seine Tochter habe laengst
+gewuenscht, es moechte eine Gespielin fuer sie ins Haus aufgenommen
+werden, und auch sie selbst glaube, dass eine solche in den
+Unterrichtsstunden ein Sporn, in der uebrigen Zeit eine anregende
+Gesellschaft fuer Klara sein wuerde. Eigentlich war die Sache fuer
+Fraeulein Rottenmeier selbst sehr wuenschbar, denn sie wollte gern,
+dass jemand da sei, der ihr die Unterhaltung der kranken Klara
+abnehme, wenn es ihr zu viel war, was oefters geschah. Herr
+Sesemann hatte geantwortet, er erfuelle gern den Wunsch seiner
+Tochter, doch mit der Bedingung, dass eine solche Gespielin in
+allem ganz gehalten werde wie jene, er wolle keine Kinderquaelerei
+in seinem Hause--"was freilich eine sehr unnuetze Bemerkung von dem
+Herrn war", setzte Fraeulein Rottenmeier hinzu, "denn wer wollte
+Kinder quaelen!" Nun aber erzaehlte sie weiter, wie ganz
+erschrecklich sie hineingefallen sei mit dem Kinde, und fuehrte alle
+Beispiele von seinem voellig begriffslosen Dasein an, die es bis
+jetzt geliefert hatte, dass nicht nur der Unterricht des Herrn
+Kandidaten buchstaeblich beim Abc anfangen muesse, sondern dass auch
+sie auf jedem Punkte der menschlichen Erziehung mit dem Uranfang zu
+beginnen haette. Aus dieser unheilvollen Lage sehe sie nur ein
+Rettungsmittel: Wenn der Herr Kandidat erklaeren werde, zwei so
+verschiedene Wesen koennten nicht miteinander unterrichtet werden
+ohne grossen Schaden des vorgerueckteren Teiles; das waere fuer Herrn
+Sesemann ein triftiger Grund, die Sache rueckgaengig zu machen, und
+so wuerde er zugeben, dass das Kind gleich wieder dahin
+zurueckgeschickt wuerde, woher es gekommen war; ohne seine Zustimmung
+aber duerfte sie das nicht unternehmen, nun der Hausherr wisse, dass
+das Kind angekommen sei. Aber der Herr Kandidat war behutsam und
+niemals einseitig im Urteilen. Er troestete Fraeulein Rottenmeier
+mit vielen Worten und der Ansicht, wenn die junge Tochter auf der
+einen Seite so zurueck sei, so moechte sie auf der anderen umso
+gefoerderter sein, was bei einem geregelten Unterricht bald ins
+Gleichgewicht kommen werde. Als Fraeulein Rottenmeier sah, dass der
+Herr Kandidat sie nicht unterstuetzen, sondern seinen Abc-Unterricht
+uebernehmen wollte, machte sie ihm die Tuer zum Studierzimmer auf,
+und nachdem er hereingetreten war, schloss sie schnell hinter ihm
+zu und blieb auf der anderen Seite, denn vor dem Abc hatte sie
+einen Schrecken. Sie ging jetzt mit grossen Schritten im Zimmer auf
+und nieder, denn sie hatte zu ueberlegen, wie die Dienstboten
+Adelheid zu benennen haetten. Herr Sesemann hatte ja geschrieben,
+sie muesste wie seine Tochter gehalten werden, und dieses Wort
+musste sich hauptsaechlich auf das Verhaeltnis zu den Dienstboten
+beziehen, dachte Fraeulein Rottenmeier. Sie konnte aber nicht lange
+ungestoert ueberlegen, denn auf einmal ertoente drinnen im
+Studierzimmer ein erschreckliches Gekrache fallender Gegenstaende
+und dann ein Hilferuf nach Sebastian. Sie stuerzte hinein. Da lag
+auf dem Boden alles uebereinander, die saemtlichen Studien-
+Hilfsmittel, Buecher, Hefte, Tintenfass und obendrauf der
+Tischteppich, unter dem ein schwarzes Tintenbaechlein hervorfloss,
+die ganze Stube entlang. Heidi war verschwunden.
+
+"Da haben wir's", rief Fraeulein Rottenmeier haenderingend aus.
+"Teppich, Buecher, Arbeitskorb, alles in der Tinte! Das ist noch
+nie geschehen! Das ist das Unglueckswesen, da ist kein Zweifel!"
+
+Der Herr Kandidat stand sehr erschrocken da und schaute auf die
+Verwuestung, die allerdings nur (eine) Seite hatte und eine recht
+bestuerzende. Klara dagegen verfolgte mit vergnuegtem Gesicht die
+ungewoehnlichen Ereignisse und deren Wirkungen und sagte nun
+erklaerend: "Ja, Heidi hat's gemacht, aber nicht mit Absicht, es
+muss gewiss nicht gestraft werden, es war nur so schrecklich eilig,
+fortzukommen, und riss den Teppich mit, und so fiel alles
+hintereinander auf den Boden. Es fuhren viele Wagen hintereinander
+vorbei, darum ist es so fortgeschossen; es hat vielleicht noch nie
+eine Kutsche gesehen."
+
+"Da, ist's nicht, wie ich sagte, Herr Kandidat? Nicht (einen)
+Urbegriff hat das Wesen! Keine Ahnung davon, was eine
+Unterrichtsstunde ist, dass man dabei zuzuhoeren und still zu sitzen
+hat. Aber wo ist das Unheil bringende Ding hin? Wenn es
+fortgelaufen waere! Was wuerde mir Herr Sesemann--"
+
+Fraeulein Rottenmeier lief hinaus und die Treppe hinunter. Hier,
+unter der geoeffneten Haustuer, stand Heidi und guckte ganz verbluefft
+die Strasse auf und ab.
+
+"Was ist denn? Was faellt dir denn ein? Wie kannst du so
+davonlaufen!", fuhr Fraeulein Rottenmeier das Kind an.
+
+"Ich habe die Tannen rauschen gehoert, aber ich weiss nicht, wo sie
+stehen, und hoere sie nicht mehr", antwortete Heidi und schaute
+enttaeuscht nach der Seite hin, wo das Rollen der Wagen verhallt war,
+das in Heidis Ohren dem Tosen des Foehns in den Tannen aehnlich
+geklungen hatte, so dass es in hoechster Freude dem Ton nachgerannt
+war.
+
+"Tannen! Sind wir im Wald? Was sind das fuer Einfaelle! Komm
+herauf und sieh, was du angerichtet hast!" Damit stieg Fraeulein
+Rottenmeier wieder die Treppe hinan; Heidi folgte ihr und stand nun
+sehr verwundert vor der grossen Verheerung, denn es hatte nicht
+gemerkt, was es alles mitriss vor Freude und Eile, die Tannen zu
+hoeren.
+
+"Das hast du einmal getan, ein zweites Mal tust du's nicht wieder",
+sagte Fraeulein Rottenmeier, auf den Boden zeigend; "zum Lernen
+sitzt man still auf seinem Sessel und gibt Acht. Kannst du das
+nicht selbst fertig bringen, so muss ich dich an deinen Stuhl
+festbinden. Kannst du das verstehen?"
+
+"Ja", entgegnete Heidi, "aber ich will schon festsitzen." Denn
+jetzt hatte es begriffen, dass es eine Regel ist, in einer
+Unterrichtsstunde still zu sitzen.
+
+Jetzt mussten Sebastian und Tinette hereinkommen, um die Ordnung
+wiederherzustellen. Der Herr Kandidat entfernte sich, denn der
+weitere Unterricht musste nun aufgegeben werden. Zum Gaehnen war
+heute gar keine Zeit gewesen.
+
+Am Nachmittag musste Klara immer eine Zeit lang ruhen und Heidi
+hatte alsdann seine Beschaeftigung selbst zu waehlen; so hatte
+Fraeulein Rottenmeier ihm am Morgen erklaert. Als nun nach Tisch
+Klara sich in ihrem Sessel zur Ruhe gelegt hatte, ging Fraeulein
+Rottenmeier nach ihrem Zimmer, und Heidi sah, dass nun die Zeit da
+war, da es seine Beschaeftigung selbst waehlen konnte. Das war dem
+Heidi sehr erwuenscht, denn es hatte schon immer im Sinn, etwas zu
+unternehmen; es musste aber Hilfe dazu haben und stellte sich darum
+vor das Esszimmer mitten auf den Korridor, damit die Persoenlichkeit,
+die es zu beraten gedachte, ihm nicht entgehen koenne. Richtig,
+nach kurzer Zeit kam Sebastian die Treppe herauf mit dem grossen
+Teebrett auf den Armen, denn er brachte das Silberzeug aus der
+Kueche herauf, um es im Schrank des Esszimmers zu verwahren. Als er
+auf der letzten Stufe der Treppe angekommen war, trat Heidi vor ihn
+hin und sagte mit grosser Deutlichkeit: "Sie oder Er!"
+
+Sebastian riss die Augen so weit auf, als es nur moeglich war, und
+sagte ziemlich barsch: "Was soll das heissen, Mamsell?"
+
+"Ich moechte nur gern etwas fragen, aber es ist gewiss nichts Boeses
+wie heute Morgen", fuegte Heidi beschwichtigend hinzu, denn es
+merkte, dass Sebastian ein wenig erbittert war, und dachte, es
+komme noch von der Tinte am Boden her.
+
+"So, und warum muss es denn heissen Sie oder Er, das moecht ich
+zuerst wissen", gab Sebastian im gleichen barschen Ton zurueck.
+
+"Ja, so muss ich jetzt immer sagen", versicherte Heidi; "Fraeulein
+Rottenmeier hat es befohlen."
+
+Jetzt lachte Sebastian so laut auf, dass Heidi ihn ganz verwundert
+ansehen musste, denn es hatte nichts Lustiges bemerkt; aber
+Sebastian hatte auf einmal begriffen, was Fraeulein Rottenmeier
+befohlen hatte, und sagte nun sehr erlustigt: "Schon recht, so
+fahre die Mamsell nur zu."
+
+"Ich heisse gar nicht Mamsell", sagte nun Heidi seinerseits ein
+wenig geaergert; "ich heisse Heidi."
+
+"Ist schon recht; die gleiche Dame hat aber befohlen, dass ich
+Mamsell sage", erklaerte Sebastian.
+
+"Hat sie? Ja, dann muss ich schon so heissen", sagte Heidi mit
+Ergebung, denn es hatte wohl gemerkt, dass alles so geschehen
+musste, wie Fraeulein Rottenmeier befahl.
+
+"Jetzt habe ich schon drei Namen", setzte es mit einem Seufzer
+hinzu.
+
+"Was wollte die kleine Mamsell denn fragen?", fragte Sebastian
+jetzt, indem er, ins Esszimmer eingetreten, sein Silberzeug im
+Schrank zurechtlegte.
+
+"Wie kann man ein Fenster aufmachen, Sebastian?"
+
+"So, gerade so", und er machte den grossen Fensterfluegel auf.
+
+Heidi trat heran, aber es war zu klein, um etwas sehen zu koennen;
+es langte nur bis zum Gesims hinauf.
+
+"Da, so kann das Mamsellchen einmal hinausgucken und sehen, was
+unten ist", sagte Sebastian, indem er einen hohen hoelzernen Schemel
+herbeigeholt hatte und hinstellte. Hoch erfreut stieg Heidi hinauf
+und konnte endlich den ersehnten Blick durch das Fenster tun. Aber
+mit dem Ausdruck der groessten Enttaeuschung zog es sogleich den Kopf
+wieder zurueck.
+
+"Man sieht nur die steinerne Strasse hier, sonst gar nichts", sagte
+das Kind bedauerlich; "aber wenn man um das ganze Haus herumgeht,
+was sieht man dann auf der anderen Seite, Sebastian?"
+
+"Gerade dasselbe", gab dieser zur Antwort.
+
+"Aber wohin kann man denn gehen, dass man weit, weit hinuntersehen
+kann ueber das ganze Tal hinab?"
+
+"Da muss man auf einen hohen Turm hinaufsteigen, einen Kirchturm,
+so einen, wie der dort ist mit der goldenen Kugel oben drauf. Da
+guckt man von oben herunter und sieht weit ueber alles weg."
+
+Jetzt stieg Heidi eilig von seinem Schemel herunter, rannte zur Tuer
+hinaus, die Treppe hinunter und trat auf die Strasse hinaus. Aber
+die Sache ging nicht, wie Heidi sich vorgestellt hatte. Als es aus
+dem Fenster den Turm gesehen hatte, kam es ihm vor, es koenne nur
+ueber die Strasse gehen, so muesste er gleich vor ihm stehen. Nun
+ging Heidi die ganze Strasse hinunter, aber es kam nicht an den Turm,
+konnte ihn auch nirgends mehr entdecken und kam nun in eine andere
+Strasse hinein und weiter und weiter, aber immer noch sah es den
+Turm nicht. Es gingen viele Leute an ihm vorbei, aber die waren
+alle so eilig, dass Heidi dachte, sie haetten nicht Zeit, ihm
+Bescheid zu geben. Jetzt sah es an der naechsten Strassenecke einen
+Jungen stehen, der eine kleine Drehorgel auf dem Ruecken und ein
+ganz kurioses Tier auf dem Arme trug. Heidi lief zu ihm hin und
+fragte: "Wo ist der Turm mit der goldenen Kugel zuoberst?"
+
+"Weiss nicht", war die Antwort.
+
+"Wen kann ich denn fragen, wo er sei?", fragte Heidi weiter.
+
+"Weiss nicht."
+
+"Weisst du keine andere Kirche mit einem hohen Turm?"
+
+"Freilich weiss ich eine."
+
+"So komm und zeige mir sie."
+
+"Zeig du zuerst, was du mir dafuer gibst." Der Junge hielt seine
+Hand hin. Heidi suchte in seiner Tasche herum. Jetzt zog es ein
+Bildchen hervor, darauf ein schoenes Kraenzchen von roten Rosen
+gemalt war; erst sah es noch eine kleine Weile darauf hin, denn es
+reute Heidi ein wenig. Erst heute Morgen hatte Klara es ihm
+geschenkt; aber hinuntersehen ins Tal, ueber die gruenen Abhaenge!
+"Da", sagte Heidi und hielt das Bildchen hin, "willst du das?"
+
+Der Junge zog die Hand zurueck und schuettelte den Kopf.
+
+"Was willst du denn?", fragte Heidi und steckte vergnuegt sein
+Bildchen wieder ein.
+
+"Geld."
+
+"Ich habe keins, aber Klara hat, sie gibt mir dann schon; wie viel
+willst du?"
+
+"Zwanzig Pfennige."
+
+"So komm jetzt."
+
+Nun wanderten die beiden eine lange Strasse hin, und auf dem Wege
+fragte Heidi den Begleiter, was er auf dem Ruecken trage, und er
+erklaerte ihm, es sei eine schoene Orgel unter dem Tuch, die mache
+eine prachtvolle Musik, wenn er daran drehe.
+
+Auf einmal standen sie vor einer alten Kirche mit hohem Turm; der
+Junge stand still und sagte: "Da."
+
+"Aber wie komm ich da hinein?", fragte Heidi, als es die fest
+verschlossenen Tueren sah.
+
+"Weiss nicht", war wieder die Antwort.
+
+"Glaubst du, man koenne hier klingeln, so wie man dem Sebastian tut?"
+
+"Weiss nicht."
+
+Heidi hatte eine Klingel entdeckt an der Mauer und zog jetzt aus
+allen Kraeften daran.
+
+"Wenn ich dann hinaufgehe, so musst du warten hier unten, ich weiss
+jetzt den Weg nicht mehr zurueck, du musst mir ihn dann zeigen."
+
+"Was gibst du mir dann?"
+
+"Was muss ich dir dann wieder geben?"
+
+"Wieder zwanzig Pfennige."
+
+Jetzt wurde das alte Schloss inwendig umgedreht und die knarrende
+Tuer geoeffnet; ein alter Mann trat heraus und schaute erst
+verwundert, dann ziemlich erzuernt auf die Kinder und fuhr sie an:
+"Was untersteht ihr euch, mich da herunterzuklingeln? Koennt ihr
+nicht lesen, was ueber der Klingel steht: 'Fuer solche, die den
+Turm besteigen wollen'?"
+
+Der Junge wies mit dem Zeigefinger auf Heidi und sagte kein Wort.
+Heidi antwortete: "Eben auf den Turm wollt ich."
+
+"Was hast du droben zu tun?", fragte der Tuermer; "hat dich jemand
+geschickt?"
+
+"Nein", entgegnete Heidi, "ich moechte nur hinaufgehen, dass ich
+hinuntersehen kann."
+
+"Macht, dass ihr heimkommt, und probiert den Spass nicht wieder,
+oder ihr kommt nicht gut weg zum zweiten Mal!" Damit kehrte sich
+der Tuermer um und wollte die Tuer zumachen.
+
+Aber Heidi hielt ihn ein wenig am Rockschoss und sagte bittend: "Nur
+ein einziges Mal!"
+
+Er sah sich um, und Heidis Augen schauten so flehentlich zu ihm auf,
+dass es ihn ganz umstimmte; er nahm das Kind bei der Hand und
+sagte freundlich: "Wenn dir so viel daran gelegen ist, so komm mit
+mir!"
+
+Der Junge setzte sich auf die steinernen Stufen vor der Tuer nieder
+und zeigte, dass er nicht mitwollte.
+
+Heidi stieg an der Hand des Tuermers viele, viele Treppen hinauf;
+dann wurden diese immer schmaeler, und endlich ging es noch ein ganz
+enges Treppchen hinauf, und nun waren sie oben. Der Tuermer hob
+Heidi vom Boden auf und hielt es an das offene Fenster.
+
+"Da, jetzt guck hinunter", sagte er.
+
+Heidi sah auf ein Meer von Daechern, Tuermen und Schornsteinen nieder;
+es zog bald seinen Kopf zurueck und sagte niedergeschlagen: "Es ist
+gar nicht, wie ich gemeint habe."
+
+"Siehst du wohl? Was versteht so ein Kleines von Aussicht! So,
+komm nun wieder herunter und laeute nie mehr an einem Turm!"
+
+Der Tuermer stellte Heidi wieder auf den Boden und stieg ihm voran
+die schmalen Stufen hinab. Wo diese breiter wurden, kam links die
+Tuer, die in des Tuermers Stuebchen fuehrte, und nebenan ging der Boden
+bis unter das schraege Dach hin. Dort hinten stand ein grosser Korb
+und davor sass eine dicke graue Katze und knurrte, denn in dem Korb
+wohnte ihre Familie und sie wollte jeden Voruebergehenden davor
+warnen, sich in ihre Familienangelegenheiten zu mischen. Heidi
+stand still und schaute verwundert hinueber, eine so maechtige Katze
+hatte es noch nie gesehen; in dem alten Turm wohnten aber ganze
+Herden von Maeusen, so holte sich die Katze ohne Muehe jeden Tag ein
+halbes Dutzend Maeusebraten. Der Tuermer sah Heidis Bewunderung und
+sagte: "Komm, sie tut dir nichts, wenn ich dabei bin; du kannst die
+Jungen ansehen."
+
+Heidi trat an den Korb heran und brach in ein grosses Entzuecken aus.
+
+"Oh, die netten Tierlein! Die schoenen Kaetzchen!", rief es ein Mal
+ums andere und sprang hin und her um den Korb herum, um auch recht
+alle komischen Gebaerden und Spruenge zu sehen, welche die sieben
+oder acht jungen Kaetzchen vollfuehrten, die in dem Korb rastlos
+uebereinanderhin krabbelten, sprangen, fielen.
+
+"Willst du eins haben?", fragte der Tuermer, der Heidis
+Freudenspruengen vergnuegt zuschaute.
+
+"Selbst fuer mich? Fuer immer?", fragte Heidi gespannt und konnte
+das grosse Glueck fast nicht glauben.
+
+"Ja, gewiss, du kannst auch noch mehr haben, du kannst sie alle
+zusammen haben, wenn du Platz hast", sagte der Mann, dem es gerade
+recht war, seine kleinen Katzen loszuwerden, ohne dass er ihnen ein
+Leid antun musste.
+
+Heidi war im hoechsten Glueck. In dem grossen Hause hatten ja die
+Kaetzchen so viel Platz, und wie musste Klara erstaunt und erfreut
+sein, wenn die niedlichen Tierchen ankamen!
+
+"Aber wie kann ich sie mitnehmen?", fragte nun Heidi und wollte
+schnell einige fangen mit seinen Haenden, aber die dicke Katze
+sprang ihm auf den Arm und fauchte es so grimmig an, dass es sehr
+erschrocken zurueckfuhr.
+
+"Ich will sie dir bringen, sag nur, wohin", sagte der Tuermer, der
+die alte Katze nun streichelte, um sie wieder gut zu machen, denn
+sie war seine Freundin und hatte schon viele Jahre mit ihm auf dem
+Turm gelebt.
+
+"Zum Herrn Sesemann in dem grossen Haus, wo an der Haustuer ein
+goldener Hundskopf ist mit einem dicken Ring im Maul", erklaerte
+Heidi.
+
+Es haette nicht einmal so viel gebraucht fuer den Tuermer, der schon
+seit langen Jahren auf dem Turm sass und jedes Haus weithin kannte,
+und dazu war der Sebastian noch ein alter Bekannter von ihm.
+
+"Ich weiss schon", bemerkte er; "aber wem muss ich die Dinger
+bringen, bei wem muss ich nachfragen, du gehoerst doch nicht Herrn
+Sesemann?"
+
+"Nein, aber die Klara, sie hat eine so grosse Freude, wenn die
+Kaetzchen kommen!"
+
+Der Tuermer wollte nun weitergehen, aber Heidi konnte sich von dem
+unterhaltenden Schauspiel fast nicht trennen.
+
+"Wenn ich nur schon eins oder zwei mitnehmen koennte! Eins fuer mich
+und eins fuer Klara, kann ich nicht?"
+
+"So wart ein wenig", sagte der Tuermer, trug dann die alte Katze
+behutsam in sein Stuebchen hinein und stellte sie an das
+Essschuesselchen hin, schloss die Tuer vor ihr zu und kam zurueck: "So,
+nun nimm zwei!"
+
+Heidis Augen leuchteten vor Wonne. Es las ein weisses und dann ein
+gelb und weiss gestreiftes aus und steckte eins in die rechte und
+eins in die linke Tasche. Nun ging's die Treppe hinunter.
+
+Der Junge sass noch auf den Stufen draussen, und als nun der Tuermer
+hinter Heidi die Tuer zugeschlossen hatte, sagte das Kind: "Welchen
+Weg muessen wir nun zu Herrn Sesemanns Haus?"
+
+"Weiss nicht", war die Antwort.
+
+Heidi fing nun an zu beschreiben, was es wusste, die Haustuer und
+die Fenster und die Treppen, aber der Junge schuettelte zu allem den
+Kopf, es war ihm alles unbekannt.
+
+"Siehst du", fuhr dann Heidi im Beschreiben fort, "aus einem
+Fenster sieht man ein grosses, grosses, graues Haus und das Dach geht
+so"--Heidi zeichnete hier mit dem Zeigefinger grosse Zacken in die
+Luft hinaus.
+
+Jetzt sprang der Junge auf, er mochte aehnliche Merkmale haben,
+seine Wege zu finden. Er lief nun in einem Zug drauflos und Heidi
+hinter ihm drein, und in kurzer Zeit standen sie richtig vor der
+Haustuer mit dem grossen Messing-Tierkopf. Heidi zog die Glocke.
+Bald erschien Sebastian, und wie er Heidi erblickte, rief er
+draengend: "Schnell! Schnell!"
+
+Heidi sprang eilig herein, und Sebastian schlug die Tuer zu; den
+Jungen, der verbluefft draussen stand, hatte er gar nicht bemerkt.
+
+"Schnell, Mamsellchen", draengte Sebastian weiter, "gleich ins
+Esszimmer hinein, sie sitzen schon am Tisch. Fraeulein Rottenmeier
+sieht aus wie eine geladene Kanone; was stellt aber auch die kleine
+Mamsell an, so fortzulaufen?"
+
+Heidi war ins Zimmer getreten. Fraeulein Rottenmeier blickte nicht
+auf; Klara sagte auch nichts, es war eine etwas unheimliche Stille.
+Sebastian rueckte Heidi den Sessel zurecht. Jetzt, wie es auf
+seinem Stuhl sass, begann Fraeulein Rottenmeier mit strengem Gesicht
+und einem ganz feierlich-ernsten Ton: "Adelheid, ich werde nachher
+mit dir sprechen, jetzt nur so viel: Du hast dich sehr ungezogen,
+wirklich strafbar benommen, dass du das Haus verlaesst, ohne zu
+fragen, ohne dass jemand ein Wort davon wusste, und herumstreichst
+bis zum spaeten Abend; es ist eine voellig beispiellose Auffuehrung."
+
+"Miau", toente es wie als Antwort zurueck.
+
+Aber jetzt stieg der Zorn der Dame. "Wie, Adelheid", rief sie in
+immer hoeheren Toenen, "du unterstehst dich noch, nach aller
+Ungezogenheit einen schlechten Spass zu machen? Huete dich wohl, sag
+ich dir!"
+
+"Ich mache", fing Heidi an--"Miau! Miau!"
+
+Sebastian warf fast seine Schuessel auf den Tisch und stuerzte hinaus.
+
+"Es ist genug", wollte Fraeulein Rottenmeier rufen; aber vor
+Aufregung toente ihre Stimme gar nicht mehr. "Steh auf und verlass
+das Zimmer."
+
+Heidi stand erschrocken von seinem Sessel auf und wollte noch
+einmal erklaeren: "Ich mache gewiss"--"Miau! Miau! Miau!"
+
+"Aber Heidi", sagte jetzt Klara, "wenn du doch siehst, dass du
+Fraeulein Rottenmeier so boese machst, warum machst du immer wieder
+'miau'?"
+
+"Ich mache nicht, die Kaetzlein machen", konnte Heidi endlich
+ungestoert hervorbringen.
+
+"Wie? Was? Katzen? junge Katzen?", schrie Fraeulein Rottenmeier
+auf. "Sebastian! Tinette! Sucht die greulichen Tiere! Schafft
+sie fort!" Damit stuerzte die Dame ins Studierzimmer hinein und
+riegelte die Tueren zu, um sicherer zu sein, denn junge Katzen waren
+fuer Fraeulein Rottenmeier das Schrecklichste in der Schoepfung.
+Sebastian stand draussen vor der Tuer und musste erst fertig lachen,
+eh er wieder eintreten konnte. Er hatte, als er Heidi bediente,
+einen kleinen Katzenkopf aus dessen Tasche herausgucken gesehen und
+sah dem Spektakel entgegen, und wie er nun ausbrach, konnte er sich
+nicht mehr halten, kaum noch seine Schuessel auf den Tisch setzen.
+Endlich trat er denn wieder gefasst ins Zimmer herein, nachdem die
+Hilferufe der geaengsteten Dame schon laengere Zeit verklungen waren.
+Jetzt sah es ganz still und friedlich aus drinnen; Klara hielt die
+Kaetzchen auf ihrem Schoss, Heidi kniete neben ihr und beide spielten
+mit grosser Wonne mit den zwei winzigen, grazioesen Tierchen.
+
+"Sebastian", sagte Klara zu dem Eintretenden, "Sie muessen uns
+helfen; Sie muessen ein Nest finden fuer die Kaetzchen, wo Fraeulein
+Rottenmeier sie nicht sieht, denn sie fuerchtet sich vor ihnen und
+will sie forthaben; aber wir wollen die niedlichen Tierchen
+behalten und sie immer hervorholen, sobald wir allein sind. Wo
+kann man sie hintun?"
+
+"Das will ich schon besorgen, Fraeulein Klara", entgegnete Sebastian
+bereitwillig; "ich mache ein schoenes Bettchen in einem Korb und
+stelle den an einen Ort, wo mir die furchtsame Dame nicht dahinter
+kommt, verlassen Sie sich auf mich." Sebastian ging gleich an die
+Arbeit und kicherte bestaendig vor sich hin, denn er dachte: "Das
+wird noch was absetzen!", und der Sebastian sah es nicht ungern,
+wenn Fraeulein Rottenmeier ein wenig in Aufregung geriet.
+
+Nach laengerer Zeit erst, als der Augenblick des Schlafengehens
+nahte, machte Fraeulein Rottenmeier ein ganz klein wenig die Tuer auf
+und rief durch das Spaeltchen heraus: "Sind die abscheulichen Tiere
+fortgeschafft?"
+
+"Jawohl! Jawohl!", gab Sebastian zurueck, der sich im Zimmer zu
+schaffen gemacht hatte in Erwartung dieser Frage. Schnell und
+leise fasste er die beiden Kaetzchen auf Klaras Schoss und verschwand
+damit.
+
+Die besondere Strafrede, die Fraeulein Rottenmeier Heidi noch zu
+halten gedachte, verschob sie auf den folgenden Tag, denn heute
+fuehlte sie sich zu erschoepft nach all den vorhergegangenen
+Gemuetsbewegungen von Aerger, Zorn und Schrecken, die ihr Heidi ganz
+unwissentlich nacheinander verursacht hatte. Sie zog sich
+schweigend zurueck, und Klara und Heidi folgten vergnuegt nach, denn
+sie wussten ihre Kaetzchen in einem guten Bett.
+
+
+
+
+Im Hause Sesemann geht's unruhig zu
+
+Als Sebastian am folgenden Morgen dem Herrn Kandidaten die Haustuer
+geoeffnet und ihn zum Studierzimmer gefuehrt hatte, zog schon wieder
+jemand die Hausglocke an, aber mit solcher Gewalt, dass Sebastian
+die Treppe voellig hinunterschoss, denn er dachte: "So schellt nur
+der Herr Sesemann selbst, er muss unerwartet nach Hause gekommen
+sein." Er riss die Tuer auf--ein zerlumpter Junge mit einer
+Drehorgel auf dem Ruecken stand vor ihm.
+
+"Was soll das heissen?", fuhr ihn Sebastian an. "Ich will dich
+lehren, Glocken herunterzureissen! Was hast du hier zu tun?"
+
+"Ich muss zur Klara", war die Antwort.
+
+"Du ungewaschener Strassenkaefer du; kannst du nicht sagen '
+Fraeulein Klara', wie unsereins tut? Was hast du bei Fraeulein
+Klara zu tun?", fragte Sebastian barsch.
+
+"Sie ist mir vierzig Pfennige schuldig", erklaerte der Junge.
+
+"Du bist, denk ich, nicht recht im Kopf! Wie weisst du ueberhaupt,
+dass ein Fraeulein Klara hier ist?"
+
+"Gestern habe ich ihr den Weg gezeigt, macht zwanzig, und dann
+wieder zurueck den Weg gezeigt, macht vierzig."
+
+"Da siehst du, was fuer Zeug du zusammenflunkerst; Fraeulein Klara
+geht niemals aus, kann gar nicht gehen, mach, dass du dahin kommst,
+wo du hingehoerst, bevor ich dir dazu verhelfe!"
+
+Aber der Junge liess sich nicht einschuechtern; er blieb unbeweglich
+stehen und sagte trocken: "Ich habe sie doch gesehen auf der Strasse,
+ich kann sie beschreiben: Sie hat kurzes, krauses Haar, das ist
+schwarz, und die Augen sind schwarz und der Rock ist braun, und sie
+kann nicht reden wie wir."
+
+"Oho", dachte jetzt Sebastian und kicherte in sich hinein, "das ist
+die kleine Mamsell, die hat wieder etwas angestellt." Dann sagte er,
+den Jungen hereinziehend: "'s ist schon recht, komm mir nur nach
+und warte vor der Tuer, bis ich wieder herauskomme. Wenn ich dich
+dann einlasse, kannst du gleich etwas spielen; das Fraeulein hoert es
+gern."
+
+Oben klopfte er am Studierzimmer und wurde hereingerufen.
+
+"Es ist ein Junge da, der durchaus an Fraeulein Klara selbst etwas
+zu bestellen hat", berichtete Sebastian.
+
+Klara war sehr erfreut ueber das aussergewoehnliche Ereignis.
+
+"Er soll nur gleich hereinkommen", sagte sie, "nicht wahr, Herr
+Kandidat, wenn er doch mit mir selbst sprechen muss."
+
+Der Junge war schon eingetreten, und nach Anweisung fing er sofort
+seine Orgel zu drehen an. Fraeulein Rottenmeier hatte, um dem Abc
+auszuweichen, sich im Esszimmer allerlei zu schaffen gemacht. Auf
+einmal horchte sie auf.--Kamen die Toene von der Strasse her? Aber
+so nahe? Wie konnte vom Studierzimmer her eine Drehorgel ertoenen?
+Und dennoch--wahrhaftig--sie stuerzte durch das lange Esszimmer
+und riss die Tuer auf. Da--unglaublich--da stand mitten im
+Studierzimmer ein zerlumpter Orgelspieler und drehte sein
+Instrument mit groesster Emsigkeit. Der Herr Kandidat schien
+immerfort etwas sagen zu wollen, aber es wurde nichts vernommen.
+Klara und Heidi hoerten mit ganz erfreuten Gesichtern der Musik zu.
+
+"Aufhoeren! Sofort aufhoeren!", rief Fraeulein Rottenmeier ins Zimmer
+hinein. Ihre Stimme wurde uebertoent von der Musik. Jetzt lief sie
+auf den Jungen zu--aber auf einmal hatte sie etwas zwischen den
+Fuessen, sie sah auf den Boden: ein grausiges, schwarzes Tier kroch
+ihr zwischen den Fuessen durch--eine Schildkroete. Jetzt tat
+Fraeulein Rottenmeier einen Sprung in die Hoehe, wie sie seit vielen
+Jahren keinen getan hatte, dann schrie sie aus Leibeskraeften:
+"Sebastian! Sebastian!"
+
+Ploetzlich hielt der Orgelspieler inne, denn diesmal hatte die
+Stimme die Musik uebertoent. Sebastian stand draussen vor der halb
+offenen Tuer und kruemmte sich vor Lachen, denn er hatte zugesehen,
+wie der Sprung vor sich ging. Endlich kam er herein. Fraeulein
+Rottenmeier war auf einen Stuhl niedergesunken.
+
+"Fort mit allem, Mensch und Tier! Schaffen Sie sie weg, Sebastian,
+sofort!", rief sie ihm entgegen. Sebastian gehorchte bereitwillig,
+zog den Jungen hinaus, der schnell seine Schildkroete erfasst hatte,
+drueckte ihm draussen etwas in die Hand und sagte: "Vierzig fuer
+Fraeulein Klara, und vierzig fuers Spielen, das hast du gut gemacht";
+damit schloss er hinter ihm die Haustuer. Im Studierzimmer war es
+wieder ruhig geworden; die Studien wurden wieder fortgesetzt, und
+Fraeulein Rottenmeier hatte sich nun auch festgesetzt in dem Zimmer,
+um durch ihre Gegenwart aehnliche Graeuel zu verhueten. Den Vorfall
+wollte sie nach den Unterrichtsstunden untersuchen und den
+Schuldigen so bestrafen, dass er daran denken wuerde.
+
+Schon wieder klopfte es an die Tuer, und herein trat abermals
+Sebastian mit der Nachricht, es sei ein grosser Korb gebracht worden,
+der sogleich an Fraeulein Klara selbst abzugeben sei.
+
+"An mich?", fragte Klara erstaunt und aeusserst neugierig, was das
+sein moechte; "zeigen Sie doch gleich einmal her, wie er aussieht."
+
+Sebastian brachte einen bedeckten Korb herein und entfernte sich
+dann eilig wieder.
+
+"Ich denke, erst wird der Unterricht beendet, dann der Korb
+ausgepackt", bemerkte Fraeulein Rottenmeier.
+
+Klara konnte sich nicht vorstellen, was man ihr gebracht hatte; sie
+schaute sehr verlangend nach dem Korb.
+
+"Herr Kandidat", sagte sie, sich selbst in ihrem Deklinieren
+unterbrechend, "koennte ich nicht nur einmal schnell hineinsehen, um
+zu wissen, was drin ist, und dann gleich wieder fortfahren?"
+
+"In einer Hinsicht koennte man dafuer, in einer anderen dawider sein",
+entgegnete der Herr Kandidat; "(dafuer) spraeche der Grund, dass,
+wenn nun Ihre ganze Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand gerichtet
+ist--"; die Rede konnte nicht beendigt werden. Der Deckel des
+Korbes sass nur lose darauf, und nun sprangen mit einem Mal ein,
+zwei drei und wieder zwei und immer noch mehr junge Kaetzchen
+darunter hervor und ins Zimmer hinaus, und mit einer so
+unbegreiflichen Schnelligkeit fuhren sie ueberall herum, dass es war,
+als waere das ganze Zimmer voll solcher Tierchen. Sie sprangen
+ueber die Stiefel des Herrn Kandidaten, bissen an seinen
+Beinkleidern, kletterten am Kleid von Fraeulein Rottenmeier empor,
+krabbelten um ihre Fuesse herum, sprangen an Klaras Sessel hinauf,
+kratzten, krabbelten, miauten; es war ein arges Gewirre. Klara
+rief immerfort voller Entzuecken: "Oh, die niedlichen Tierchen! Die
+lustigen Spruenge! Sieh! Sieh! Heidi, hier, dort, sieh dieses!"
+Heidi schoss ihnen vor Freude in alle Winkel nach. Der Herr
+Kandidat stand sehr verlegen am Tisch und zog bald den einen, bald
+den andern Fuss in die Hoehe, um ihn dem unheimlichen Gekrabbel zu
+entziehen. Fraeulein Rottenmeier sass erst sprachlos vor Entsetzen
+in ihrem Sessel, dann fing sie an aus Leibeskraeften zu schreien:
+"Tinette! Tinette! Sebastian! Sebastian!", denn vom Sessel
+aufzustehen konnte sie unmoeglich wagen, da konnten ja mit einem Mal
+alle die kleinen Scheusale an ihr emporspringen.
+
+Endlich kamen Sebastian und Tinette auf die wiederholten Hilferufe
+herbei, und jener packte gleich eins nach dem andern der kleinen
+Geschoepfe in den Korb hinein und trug sie auf den Estrich zu dem
+Katzenlager, das er fuer die zwei von gestern bereitet hatte.
+
+Auch am heutigen Tage hatte kein Gaehnen waehrend der
+Unterrichtsstunden stattgefunden. Am spaeten Abend, als Fraeulein
+Rottenmeier sich von den Aufregungen des Morgens wieder hinlaenglich
+erholt hatte, berief sie Sebastian und Tinette ins Studierzimmer
+herauf, um hier eine gruendliche Untersuchung ueber die strafwuerdigen
+Vorgaenge anzustellen. Nun kam es denn heraus, dass Heidi auf
+seinem gestrigen Ausflug die saemtlichen Ereignisse vorbereitet und
+herbeigefuehrt hatte. Fraeulein Rottenmeier sass weiss vor Entruestung
+da und konnte erst keine Worte fuer ihre Empfindungen finden. Sie
+winkte mit der Hand, dass Sebastian und Tinette sich entfernen
+sollten. Jetzt wandte sie sich an Heidi, das neben Klaras Sessel
+stand und nicht recht begriff, was es verbrochen hatte.
+
+"Adelheid", begann sie mit strengem Ton, "ich weiss nur (eine)
+Strafe, die dir empfindlich sein koennte, denn du bist eine Barbarin;
+aber wir wollen sehen, ob du unten im dunklen Keller bei Molchen
+und Ratten nicht zahm wirst, dass du dir keine solchen Dinge mehr
+einfallen laesst."
+
+Heidi hoerte still und verwundert sein Urteil an, denn in einem
+schreckhaften Keller war es noch nie gewesen, der anstossende Raum
+in der Almhuette, den der Grossvater Keller nannte, wo immer die
+fertigen Kaese lagen und die frische Milch stand, war eher ein
+anmutiger und einladender Ort, und Ratten und Molche hatte es noch
+keine gesehen.
+
+Aber Klara erhob einen lauten Jammer: "Nein, nein, Fraeulein
+Rottenmeier, man muss warten, bis der Papa da ist; er hat ja
+geschrieben, er komme nun bald, und dann will ich ihm alles
+erzaehlen, und er sagt dann schon, was mit Heidi geschehen soll."
+
+Gegen diesen Oberrichter durfte Fraeulein Rottenmeier nichts
+einwenden, umso weniger, da er wirklich in Baelde zu erwarten war.
+Sie stand auf und sagte etwas grimmig: "Gut, Klara, aber auch ich
+werde ein Wort mit Herrn Sesemann sprechen." Damit verliess sie das
+Zimmer.
+
+Es verflossen nun ein paar ungestoerte Tage, aber Fraeulein
+Rottenmeier kam nicht mehr aus der Aufregung heraus, stuendlich trat
+ihr die Taeuschung vor Augen, die sie in Heidis Persoenlichkeit
+erlebt hatte, und es war ihr, als sei seit seiner Erscheinung im
+Hause Sesemann alles aus den Fugen gekommen und komme nicht wieder
+hinein. Klara war sehr vergnuegt; sie langweilte sich nie mehr,
+denn in den Unterrichtsstunden machte Heidi die kurzweiligsten
+Sachen; die Buchstaben machte es immer alle durcheinander und
+konnte sie nie kennen lernen, und wenn der Herr Kandidat mitten im
+Erklaeren und Beschreiben ihrer Formen war, um sie ihm anschaulicher
+zu machen und als Vergleichung etwa von einem Hoernchen oder einem
+Schnabel sprach dabei, rief es auf einmal in aller Freude aus: "Es
+ist eine Geiss!", oder: "Es ist ein Raubvogel!" Denn die
+Beschreibungen weckten in seinem Gehirn allerlei Vorstellungen, nur
+keine Buchstaben. In den spaeteren Nachmittagsstunden sass Heidi
+wieder bei Klara und erzaehlte ihr immer wieder von der Alm und dem
+Leben dort, so viel und so lange, bis das Verlangen darnach in ihm
+so brennend wurde, dass es immer zum Schluss versicherte: "Nun muss
+ich gewiss wieder heim! Morgen muss ich gewiss gehen!" Aber Klara
+beschwichtigte immer wieder diese Anfaelle und bewies Heidi, dass es
+doch sicher dableiben muesse, bis der Papa komme; dann werde man
+schon sehen, wie es weitergehe. Wenn Heidi alsdann immer wieder
+nachgab und gleich wieder zufrieden war, so half ihm eine froehliche
+Aussicht dazu, die es im Stillen hatte, dass mit jedem Tage, den es
+noch dablieb, sein Haeuflein Broetchen fuer die Grossmutter wieder um
+zwei groesser wuerde, denn mittags und abends lag immer ein schoenes
+Weissbroetchen bei seinem Teller; das steckte es gleich ein, denn es
+haette das Broetchen nie essen koennen beim Gedanken, dass die
+Grossmutter nie eines habe und das harte, schwarze Brot fast nicht
+mehr essen konnte. Nach Tisch sass Heidi jeden Tag ein paar Stunden
+lang ganz allein in seinem Zimmer und regte sich nicht, denn dass
+es in Frankfurt verboten war, nur so hinauszulaufen, wie es auf der
+Alm getan, das hatte es nun begriffen und tat es nie mehr. Mit
+Sebastian drueben im Esszimmer ein Gespraech fuehren durfte es auch
+nicht, das hatte Fraeulein Rottenmeier auch verboten, und mit
+Tinette eine Unterhaltung zu probieren, daran kam ihm kein Sinn; es
+ging ihr immer scheu aus dem Wege, denn sie redete nur in
+hoehnischem Ton mit ihm und spoettelte es fortwaehrend an, und Heidi
+verstand ihre Art ganz gut, und dass sie es nur immer ausspottete.
+So sass Heidi taeglich da und hatte alle Zeit, sich auszudenken, wie
+nun die Alm wieder gruen war und wie die gelben Bluemchen im
+Sonnenschein glitzerten und wie alles leuchtete rings um die Sonne,
+der Schnee und die Berge und das ganze weite Tal, und Heidi konnte
+es manchmal fast nicht mehr aushalten vor Verlangen, wieder dort zu
+sein. Die Base hatte ja auch gesagt, es koenne wieder heimgehen,
+wann es wolle. So kam es, dass Heidi eines Tages es nicht mehr
+aushielt; es packte in aller Eile seine Broetchen in das grosse rote
+Halstuch zusammen, setzte sein Strohhuetchen auf und zog aus. Aber
+schon unter der Haustuer traf es auf ein grosses Reisehindernis, auf
+Fraeulein Rottenmeier selbst, die eben von einem Ausgang
+zurueckkehrte. Sie stand still und schaute in starrem Erstaunen
+Heidi von oben bis unten an, und ihr Blick blieb vorzueglich auf dem
+gefuellten roten Halstuch haften. Jetzt brach sie los.
+
+"Was ist das fuer ein Aufzug? Was heisst das ueberhaupt? Habe ich
+dir nicht streng verboten, je wieder herumzustreichen? Nun
+probierst du's doch wieder und dazu noch voellig aussehend wie eine
+Landstreicherin."
+
+"Ich wollte nicht herumstreichen, ich wollte nur heimgehen",
+entgegnete Heidi erschrocken.
+
+"Wie? Was? Heimgehen? Heimgehen wolltest du?" Fraeulein
+Rottenmeier schlug die Haende zusammen vor Aufregung. "Fortlaufen!
+Wenn das Herr Sesemann wuesste! Fortlaufen aus seinem Hause! Mach
+nicht, dass er das je erfaehrt! Und was ist dir denn nicht recht in
+seinem Hause? Wirst du nicht viel besser behandelt, als du
+verdienst? Fehlt es dir an irgendetwas? Hast du je in deinem
+ganzen Leben eine Wohnung oder einen Tisch oder eine Bedienung
+gehabt, wie du hier hast? Sag!"
+
+"Nein", entgegnete Heidi.
+
+"Das weiss ich wohl!", fuhr die Dame eifrig fort. "Nichts fehlt dir,
+gar nichts, du bist ein ganz unglaublich undankbares Kind, und vor
+lauter Wohlsein weisst du nicht, was du noch alles anstellen willst!"
+
+Aber jetzt kam dem Heidi alles obenauf, was in ihm war, und brach
+hervor: "Ich will ja nur heim, und wenn ich so lang nicht komme, so
+muss das Schneehoeppli immer klagen, und die Grossmutter erwartet
+mich, und der Distelfink bekommt die Rute, wenn der Geissenpeter
+keinen Kaese bekommt, und hier kann man gar nie sehen, wie die Sonne
+gute Nacht sagt zu den Bergen; und wenn der Raubvogel in Frankfurt
+obenueber fliegen wuerde, so wuerde er noch viel lauter kraechzen, dass
+so viele Menschen beieinander sitzen und einander boes machen und
+nicht auf den Felsen gehen, wo es einem wohl ist."
+
+"Barmherzigkeit, das Kind ist uebergeschnappt!", rief Fraeulein
+Rottenmeier aus und stuerzte mit Schrecken die Treppe hinauf, wo sie
+sehr unsanft gegen den Sebastian rannte, der eben hinunter wollte.
+"Holen Sie auf der Stelle das unglueckliche Wesen herauf!", rief sie
+ihm zu, indem sie sich den Kopf rieb, denn sie war hart angestossen.
+
+"Ja, ja, schon recht, danke schoen", gab Sebastian zurueck und rieb
+sich den seinen, denn er war noch haerter angefahren.
+
+Heidi stand mit flammenden Augen noch auf derselben Stelle fest und
+zitterte vor innerer Erregung am ganzen Koerper.
+
+"Na, schon wieder was angestellt?", fragte Sebastian lustig; als er
+aber Heidi, das sich nicht ruehrte, recht ansah, klopfte er ihm
+freundlich auf die Schulter und sagte troestend: "Pah! Pah! Das
+muss sich das Mamsellchen nicht so zu Herzen nehmen, nur lustig,
+das ist die Hauptsache! Sie hat mir eben jetzt auch fast ein Loch
+in den Kopf gerannt; aber nur nicht einschuechtern lassen! Na?
+Immer noch auf demselben Fleck? Wir muessen hinauf, sie hat's
+befohlen."
+
+Heidi ging nun die Treppe hinauf, aber langsam und leise und gar
+nicht, wie sonst seine Art war. Das tat dem Sebastian Leid zu
+sehen; er ging hinter dem Heidi her und sprach ermutigende Worte zu
+ihm: "Nur nicht abgeben! Nur nicht traurig werden! Nur immer
+tapfer darauf zu! Wir haben ja ein ganz vernuenftiges Mamsellchen,
+hat noch gar nie geweint, seit es bei uns ist; sonst weinen sie ja
+zwoelfmal im Tag in dem Alter, das kennt man. Die Kaetzchen sind
+auch lustig droben, die springen auf dem ganzen Estrich herum und
+tun wie naerrisch. Nachher gehen wir mal zusammen hinauf und
+schauen ihnen zu, wenn die Dame drinnen weg ist, ja?"
+
+Heidi nickte ein wenig mit dem Kopf, aber so freudlos, dass es dem
+Sebastian recht zu Herzen ging und er ganz teilnehmend dem Heidi
+nachschaute, wie es nach seinem Zimmer hin schlich.
+
+Am Abendessen heute sagte Fraeulein Rottenmeier kein Wort, aber
+fortwaehrend warf sie sonderbar wachsame Blicke zu Heidi hinueber, so
+als erwartete sie, es koennte ploetzlich etwas Unerhoertes unternehmen;
+aber Heidi sass maeuschenstill am Tisch und ruehrte sich nicht, es ass
+nicht und trank nicht; nur sein Broetchen hatte es schnell in die
+Tasche gesteckt.
+
+Am folgenden Morgen, als der Herr Kandidat die Treppe heraufkam,
+winkte ihn Fraeulein Rottenmeier geheimnisvoll ins Esszimmer herein,
+und hier teilte sie ihm in grosser Aufregung ihre Besorgnis mit, die
+Luftveraenderung, die neue Lebensart und die ungewohnten Eindruecke
+haetten das Kind um den Verstand gebracht, und sie erzaehlte ihm von
+Heidis Fluchtversuch und wiederholte ihm von seinen sonderbaren
+Reden, was sie noch wusste. Aber der Herr Kandidat besaenftigte und
+beruhigte Fraeulein Rottenmeier, indem er sie versicherte, dass er
+die Wahrnehmung gemacht habe, die Adelheid sei zwar einerseits
+allerdings eher exzentrisch, aber anderseits doch wieder bei
+richtigem Verstand, so dass sich nach und nach bei einer allseitig
+erwogenen Behandlung das noetige Gleichgewicht einstellen koenne, was
+er im Auge habe; er finde den Umstand wichtiger, dass er durchaus
+nicht ueber das Abc hinauskomme mit ihr, indem sie die Buchstaben
+nicht zu fassen imstande sei.
+
+Fraeulein Rottenmeier fuehlte sich beruhigter und entliess den Herrn
+Kandidaten zu seiner Arbeit. Am spaeteren Nachmittag stieg ihr die
+Erinnerung an Heidis Aufzug bei seiner vorgehabten Abreise auf, und
+sie beschloss, die Gewandung des Kindes durch verschiedene
+Kleidungsstuecke der Klara in den noetigen Stand zu setzen, bevor
+Herr Sesemann erscheinen wuerde. Sie teilte ihre Gedanken darueber
+an Klara mit, und da diese mit allem einverstanden war und dem
+Heidi eine Menge Kleider und Tuecher und Huete schenken wollte,
+verfuegte sich die Dame in Heidis Zimmer, um seinen Kleiderschrank
+zu besehen und zu untersuchen, was da von dem Vorhandenen bleiben
+und was entfernt werden solle. Aber in wenig Minuten kam sie
+wieder zurueck mit Gebaerden des Abscheus. "Was muss ich entdecken,
+Adelheid!", rief sie aus. "Es ist nie dagewesen! In deinem
+Kleiderschrank, einem Schrank fuer Kleider, Adelheid, im Fuss dieses
+Schrankes, was finde ich? Einen Haufen kleiner Brote! Brot, sage
+ich, Klara, im Kleiderschrank! Und einen solchen Haufen
+aufspeichern!"--"Tinette", rief sie jetzt ins Esszimmer hinaus,
+"schaffen Sie mir das alte Brot fort aus dem Schrank der Adelheid
+und den zerdrueckten Strohhut auf dem Tisch!"
+
+"Nein! Nein!", schrie Heidi auf; "ich muss den Hut haben, und die
+Broetchen sind fuer die Grossmutter", und Heidi wollte der Tinette
+nachstuerzen, aber es wurde von Fraeulein Rottenmeier festgehalten.
+
+"Du bleibst hier und der Kram wird hingebracht, wo er hingehoert",
+sagte sie bestimmt und hielt das Kind zurueck. Aber nun warf sich
+Heidi an Klaras Sessel nieder und fing ganz verzweiflungsvoll zu
+weinen an, immer lauter und schmerzlicher, und schluchzte ein Mal
+ums andere in seinem Jammer auf: "Nun hat die Grossmutter keine
+Broetchen mehr. Sie waren fuer die Grossmutter, nun sind sie alle
+fort und die Grossmutter bekommt keine!", und Heidi weinte auf, als
+wollte ihm das Herz zerspringen. Fraeulein Rottenmeier lief hinaus.
+Klara wurde es angst und bange bei dem Jammer. "Heidi, Heidi,
+weine nur nicht so", sagte sie bittend, "hoer mich nur! Jammere nur
+nicht so, sieh, ich verspreche dir, ich gebe dir gerade so viel
+Broetchen fuer die Grossmutter, oder noch mehr, wenn du einmal
+heimgehst, und dann sind diese frisch und weich, und die deinen
+waeren ja ganz hart geworden und waren es schon. Komm, Heidi, weine
+nur nicht mehr so!"
+
+Heidi konnte noch lange nicht aus seinem Schluchzen herauskommen;
+aber es verstand Klaras Trost und hielt sich daran, sonst haette es
+gar nicht mehr zu weinen aufhoeren koennen. Es musste auch noch
+mehrere Male seiner Hoffnung gewiss werden und Klara, durch die
+letzten Anfaelle von Schluchzen unterbrochen, fragen: "Gibst du mir
+so viele, viele, wie ich hatte, fuer die Grossmutter?"
+
+Und Klara versicherte immer wieder: "Gewiss, ganz gewiss, noch mehr,
+sei nur wieder froh!"
+
+Noch zum Abendtisch kam Heidi mit den rot verweinten Augen, und als
+es sein Broetchen erblickte, musste es gleich noch einmal
+aufschluchzen. Aber es bezwang sich jetzt mit Gewalt, denn es
+verstand, dass es sich am Tisch ruhig verhalten musste. Sebastian
+machte heute jedes Mal die merkwuerdigsten Gebaerden, wenn er in
+Heidis Naehe kam; er deutete bald auf seinen, bald auf Heidis Kopf,
+dann nickte er wieder und kniff die Augen zu, so als wollte er
+sagen: "Nur getrost! Ich hab's schon gemerkt und besorgt."
+
+Als Heidi spaeter in sein Zimmer kam und in sein Bett steigen wollte,
+lag sein zerdruecktes Strohhuetchen unter der Decke versteckt. Mit
+Entzuecken zog es den alten Hut hervor, zerdrueckte ihn vor lauter
+Freude noch ein wenig mehr und versteckte ihn dann, in ein
+Taschentuechlein eingewickelt, in die allerhinterste Ecke seines
+Schrankes. Das Huetchen hatte der Sebastian unter die Decke
+gesteckt; er war zu gleicher Zeit mit Tinette im Esszimmer gewesen,
+als diese gerufen wurde, und hatte Heidis Jammerruf vernommen.
+Dann war er Tinette nachgegangen, und als sie aus Heidis Zimmer
+heraustrat mit ihrer Brotlast und dem Huetchen oben darauf, hatte er
+schnell dieses weggenommen und ihr zugerufen: "Das will ich schon
+forttun." Darauf hatte er es in aller Freude fuer Heidi gerettet,
+was er ihm beim Abendessen zur Erheiterung andeuten wollte.
+
+
+
+
+Der Hausherr hoert allerlei in seinem Hause, das er noch nicht
+gehoert hat
+
+Einige Tage nach diesen Ereignissen war im Hause Sesemann grosse
+Lebendigkeit und ein eifriges Treppauf- und Treppabrennen, denn
+eben war der Hausherr von seiner Reise zurueckgekehrt, und aus dem
+bepackten Wagen wurde von Sebastian und Tinette eine Last nach der
+anderen hinaufgetragen, denn Herr Sesemann brachte immer eine Menge
+schoener Sachen mit nach Hause.
+
+Er selbst war vor allem in das Zimmer seiner Tochter eingetreten,
+um sie zu begruessen. Heidi sass bei ihr, denn es war die Zeit des
+spaeten Nachmittags, da die beiden immer zusammen waren. Klara
+begruesste ihren Vater mit grosser Zaertlichkeit, denn sie liebte ihn
+sehr, und der gute Papa gruesste sein Klaerchen nicht weniger
+liebevoll. Dann streckte er seine Hand dem Heidi entgegen, das
+sich leise in eine Ecke zurueckgezogen hatte, und sagte freundlich:
+"Und das ist unsre kleine Schweizerin; komm her, gib mir mal eine
+Hand! So ist's recht! Nun sag mir mal, seid ihr auch gute Freunde
+zusammen, Klara und du? Nicht zanken und boese werden, und dann
+weinen und dann versoehnen, und dann wieder von vorn anfangen, nun?"
+
+"Nein, Klara ist immer gut mit mir", entgegnete Heidi.
+
+"Und Heidi hat auch noch gar nie versucht zu zanken, Papa", warf
+Klara schnell ein.
+
+"So ist's gut, das hoer ich gern", sagte der Papa, indem er aufstand.
+"Nun musst du aber erlauben, Klaerchen, dass ich etwas geniesse;
+heute habe ich noch nichts bekommen. Nachher komm ich wieder zu
+dir und du sollst sehen, was ich mitgebracht habe!"
+
+Herr Sesemann trat ins Esszimmer ein, wo Fraeulein Rottenmeier den
+Tisch ueberschaute, der fuer sein Mittagsmahl geruestet war. Nachdem
+Herr Sesemann sich niedergelassen und die Dame ihm gegenueber Platz
+genommen hatte und aussah wie ein lebendiges Missgeschick, wandte
+sich der Hausherr zu ihr: "Aber Fraeulein Rottenmeier, was muss ich
+denken? Sie haben zu meinem Empfang ein wahrhaft erschreckendes
+Gesicht aufgesetzt. Wo fehlt es denn? Klaerchen ist ganz munter."
+
+"Herr Sesemann", begann die Dame mit gewichtigem Ernst, "Klara ist
+mit betroffen, wir sind fuerchterlich getaeuscht worden."
+
+"Wieso?", fragte Herr Sesemann und trank in aller Ruhe einen
+Schluck Wein.
+
+"Wir hatten ja beschlossen, wie Sie wissen, Herr Sesemann, eine
+Gespielin fuer Klara ins Haus zu nehmen, und da ich ja weiss, wie
+sehr Sie darauf halten, dass nur Gutes und Edles Ihre Tochter
+umgebe, hatte ich meinen Sinn auf ein junges Schweizermaedchen
+gerichtet, indem ich hoffte, eines jener Wesen bei uns eintreten zu
+sehen, von denen ich schon so oft gelesen, welche, der reinen
+Bergluft entsprossen, sozusagen, ohne die Erde zu beruehren, durch
+das Leben gehen."
+
+"Ich glaube zwar", bemerkte hier Herr Sesemann, "dass auch die
+Schweizerkinder den Erdboden beruehren, wenn sie vorwaerts kommen
+wollen; sonst waeren ihnen wohl Fluegel gewachsen statt der Fuesse."
+
+"Ach, Herr Sesemann, Sie verstehen mich wohl", fuhr das Fraeulein
+fort; "Ich meinte eine jener so bekannten, in den hohen, reinen
+Bergregionen lebenden Gestalten, die nur wie ein idealer Hauch an
+uns vorueberziehen."
+
+"Was sollte aber meine Klara mit einem idealen Hauch anfangen,
+Fraeulein Rottenmeier?"
+
+"Nein, Herr Sesemann, ich scherze nicht, die Sache ist mir ernster,
+als Sie denken; ich bin schrecklich, wirklich ganz schrecklich
+getaeuscht worden."
+
+"Aber worin liegt denn das Schreckliche? So gar erschrecklich
+sieht mir das Kind nicht aus", bemerkte ruhig Herr Sesemann.
+
+"Sie sollten nur (eines) wissen, Herr Sesemann, nur das (eine), mit
+was fuer Menschen und Tieren dieses Wesen Ihr Haus in Ihrer
+Abwesenheit bevoelkert hat; davon koennte der Herr Kandidat erzaehlen."
+
+"Mit Tieren? Wie muss ich das verstehen, Fraeulein Rottenmeier?"
+
+"Es ist eben nicht zu verstehen; die ganze Auffuehrung dieses Wesens
+waere nicht zu verstehen, wenn nicht aus dem (einen) Punkte, dass es
+Anfaelle von voelliger Verstandesgestoertheit hat."
+
+Bis hierher hatte Herr Sesemann die Sache nicht fuer wichtig
+gehalten; aber Gestoertheit des Verstandes? Eine solche konnte ja
+fuer seine Tochter die bedenklichsten Folgen haben. Herr Sesemann
+schaute Fraeulein Rottenmeier sehr genau an, so, als wollte er sich
+erst versichern, ob nicht etwa bei ihr eine derartige Stoerung zu
+bemerken sei. In diesem Augenblick wurde die Tuer aufgetan und der
+Herr Kandidat angemeldet.
+
+"Ah, da kommt unser Herr Kandidat, der wird uns Aufschluss geben!",
+rief ihm Herr Sesemann entgegen. "Kommen Sie, kommen Sie, setzen
+Sie sich zu mir!" Herr Sesemann streckte dem Eintretenden die Hand
+entgegen. "Der Herr Kandidat trinkt eine Tasse schwarzen Kaffee
+mit mir, Fraeulein Rottenmeier! Setzen Sie sich, setzen Sie sich--
+keine Komplimente! Und nun sagen Sie mir, Herr Kandidat, was ist
+mit dem Kinde, das als Gespielin meiner Tochter ins Haus gekommen
+ist und das Sie unterrichten. Was hat es fuer eine Bewandtnis mit
+den Tieren, die es ins Haus gebracht, und wie steht es mit seinem
+Verstand?"
+
+Der Herr Kandidat musste erst seine Freude ueber Herrn Sesemanns
+glueckliche Rueckkehr aussprechen und ihn willkommen heissen, weswegen
+er ja gekommen war; aber Herr Sesemann draengte ihn, dass er ihm
+Aufschluss gebe ueber die fraglichen Punkte. So begann denn der
+Herr Kandidat: "Wenn ich mich ueber das Wesen dieses jungen Maedchens
+aussprechen soll, Herr Sesemann, so moechte ich vor allem darauf
+aufmerksam machen, dass, wenn auch auf der einen Seite sich ein
+Mangel der Entwicklung, welcher durch eine mehr oder weniger
+vernachlaessigte Erziehung, oder besser gesagt, etwas verspaeteten
+Unterricht verursacht und durch die mehr oder weniger, jedoch
+durchaus nicht in jeder Beziehung zu verurteilende, im Gegenteil
+ihre guten Seiten unstreitig dartuende Abgeschiedenheit eines
+laengeren Alpenaufenthalts, welcher, wenn er nicht eine gewisse
+Dauer ueberschreitet, ja ohne Zweifel seine gute Seite--"
+
+"Mein lieber Herr Kandidat", unterbrach hier Herr Sesemann, "Sie
+geben sich wirklich zu viel Muehe; sagen Sie mir, hat auch Ihnen das
+Kind einen Schrecken beigebracht durch eingeschleppte Tiere, und
+was halten Sie ueberhaupt von diesem Umgang fuer mein Toechterchen?"
+
+"Ich moechte dem jungen Maedchen in keiner Art zu nahe treten",
+begann der Herr Kandidat wieder, "denn wenn es auch auf der einen
+Seite in einer Art von gesellschaftlicher Unerfahrenheit, welche
+mit dem mehr oder weniger unkultivierten Leben, in welchem das
+junge Maedchen bis zu dem Augenblick seiner Versetzung nach
+Frankfurt sich bewegte, welche Versetzung allerdings in die
+Entwicklung dieses, ich moechte sagen noch voellig, wenigstens
+teilweise unentwickelten, aber anderseits mit nicht zu verachtenden
+Anlagen begabten und wenn allseitig umsichtig geleitet--"
+
+"Entschuldigen Sie, Herr Kandidat, bitte, lassen Sie sich nicht
+stoeren, ich werde--ich muss schnell einmal nach meiner Tochter
+sehen." Damit lief Herr Sesemann zur Tuer hinaus und kam nicht
+wieder. Drueben im Studierzimmer setzte er sich zu seinem
+Toechterchen hin; Heidi war aufgestanden. Herr Sesemann wandte sich
+nach dem Kinde um: "Hoer mal, Kleine, hol mir doch schnell--wart
+einmal--hol mir mal"--(Herr Sesemann wusste nicht recht, was er
+bedurfte, Heidi sollte aber ein wenig ausgeschickt werden)--"hol
+mir doch mal ein Glas Wasser."
+
+"Frisches?", fragte Heidi.
+
+"Jawohl! Jawohl! Recht frisches!", gab Herr Sesemann zurueck.
+Heidi verschwand.
+
+"Nun, mein liebes Klaerchen", sagte der Papa, indem er ganz nah an
+sein Toechterchen heranrueckte und dessen Hand in die seinige legte,
+"sag du mir klar und fasslich: Was fuer Tiere hat diese deine
+Gespielin ins Haus gebracht und warum muss Fraeulein Rottenmeier
+denken, sie sei zeitweise nicht ganz recht im Kopf; kannst du mir
+das sagen?"
+
+Das konnte Klara, denn die erschrockene Dame hatte auch ihr von
+Heidis sich verwirrenden Reden gesprochen, die aber fuer Klara alle
+einen Sinn hatten. Sie erzaehlte erst dem Vater die Geschichten von
+der Schildkroete und den jungen Katzen und erklaerte ihm dann Heidis
+Reden, welche die Dame so erschreckt hatten. Jetzt lachte Herr
+Sesemann herzlich. "So willst du nicht, dass ich das Kind nach
+Haus schicke, Klaerchen, du bist seiner nicht muede?", fragte der
+Vater.
+
+"Nein, nein, Papa, tu nur das nicht!", rief Klara abwehrend aus.
+"Seit Heidi da ist, begegnet immer etwas, jeden Tag, und es ist so
+kurzweilig, ganz anders als vorher, da begegnete nie etwas, und
+Heidi erzaehlt mir auch so viel."
+
+"Schon gut, schon gut, Klaerchen, da kommt ja auch deine Freundin
+schon wieder. Na, schoenes, frisches Wasser geholt?", fragte Herr
+Sesemann, da ihm Heidi nun ein Glas Wasser hinstreckte.
+
+"Ja, frisch vom Brunnen", antwortete Heidi.
+
+"Du bist doch nicht selbst zum Brunnen gelaufen, Heidi?", sagte
+Klara.
+
+"Doch gewiss, es ist ganz frisch, aber ich musste weit gehen, denn
+am ersten Brunnen waren so viele Leute. Da ging ich die Strasse
+ganz hinab, aber beim zweiten waren wieder so viele Leute; da ging
+ich in die andere Strasse hinein und dort nahm ich Wasser, und der
+Herr mit den weissen Haaren laesst Herrn Sesemann freundlich gruessen."
+
+"Na, die Expedition ist gut", lachte Herr Sesemann, "und wer ist
+denn der Herr?"
+
+"Er kam beim Brunnen vorbei und dann stand er still und sagte:
+'Weil du doch ein Glas hast, so gib mir auch einmal zu
+trinken; wem bringst du dein Glas Wasser?' Und ich sagte:
+'Herrn Sesemann.' Da lachte er sehr stark, und dann
+sagte er den Gruss und auch noch, Herr Sesemann solle sich's
+schmecken lassen."
+
+"So, und wer laesst mir denn wohl den guten Wunsch sagen? Wie sah
+der Herr denn weiter aus?", fragte Herr Sesemann.
+
+"Er lacht freundlich und hat eine dicke goldene Kette und ein
+goldenes Ding haengt daran mit einem grossen roten Stein und auf
+seinem Stock ist ein Rosskopf."
+
+"Das ist der Herr Doktor"--"Das ist mein alter Doktor", sagten
+Klara und ihr Vater wie aus einem Munde, und Herr Sesemann lachte
+noch ein wenig in sich hinein im Gedanken an seinen Freund und
+dessen Betrachtungen ueber diese neue Weise, seinen Wasserbedarf
+sich zufuehren zu lassen.
+
+Noch an demselben Abend erklaerte Herr Sesemann, als er allein mit
+Fraeulein Rottenmeier im Esszimmer sass, um allerlei haeusliche
+Angelegenheiten mit ihr zu besprechen, die Gespielin seiner Tochter
+werde im Hause bleiben; er finde, das Kind sei in einem normalen
+Zustand, und seine Gesellschaft sei seiner Tochter sehr lieb und
+angenehmer als jede andere. "Ich wuensche daher", setzte Herr
+Sesemann sehr bestimmt hinzu, "dass dieses Kind jederzeit durchaus
+freundlich behandelt und seine Eigentuemlichkeiten nicht als
+Vergehen betrachtet werden. Sollten Sie uebrigens mit dem Kinde
+nicht allein fertig werden, Fraeulein Rottenmeier, so ist ja eine
+gute Hilfe fuer Sie in Aussicht, da in naechster Zeit meine Mutter zu
+ihrem laengeren Aufenthalt in mein Haus kommt, und meine Mutter wird
+mit jedem Menschen fertig, wie er sich auch anstelle, das wissen
+Sie ja wohl, Fraeulein Rottenmeier?"
+
+"Jawohl, das weiss ich, Herr Sesemann", entgegnete die Dame, aber
+nicht mit dem Ausdruck der Erleichterung im Hinblick auf die
+angezeigte Hilfe.--
+
+Herr Sesemann hatte diesmal nur eine kurze Zeit Ruhe zu Hause,
+schon nach vierzehn Tagen riefen ihn seine Geschaefte wieder nach
+Paris, und er troestete sein Toechterchen, das mit der nahen Abreise
+nicht einverstanden war, mit der Aussicht auf die baldige Ankunft
+der Grossmama, die schon nach einigen Tagen erwartet werden konnte.
+
+Kaum war auch Herr Sesemann abgereist, als schon der Brief anlangte,
+der die Abreise der Frau Sesemann aus Holstein, wo sie auf einem
+alten Gute wohnte, anzeigte und die bestimmte Zeit ihrer Ankunft
+auf den folgenden Tag meldete, damit der Wagen nach dem Bahnhof
+geschickt wuerde, um sie abzuholen.
+
+Klara war voller Freude ueber die Nachricht und erzaehlte noch an
+demselben Abend dem Heidi so viel und so lange von der Grossmama,
+dass Heidi auch anfing, von der 'Grossmama' zu reden,
+worauf Fraeulein Rottenmeier Heidi mit Missbilligung anblickte, was
+aber das Kind auf nichts Besonderes bezog, denn es fuehlte sich
+unter fortdauernder Missbilligung der Dame. Als es sich dann
+spaeter entfernte, um in sein Schlafzimmer zu gehen, berief Fraeulein
+Rottenmeier es erst in das ihrige herein und erklaerte ihm hier, es
+habe niemals den Namen 'Grossmama' anzuwenden, sondern
+wenn Frau Sesemann nun da sei, habe es sie stets 'gnaedige
+Frau' anzureden. "Verstehst du das?", fragte die Dame, als
+Heidi sie etwas zweifelhaft ansah; sie gab ihm aber einen so
+abschliessenden Blick zurueck, dass Heidi sich keine Erklaerung mehr
+erbat, obschon es den Titel nicht verstanden hatte.
+
+
+
+
+Eine Grossmama
+
+Am folgenden Abend waren grosse Erwartungen und lebhafte
+Vorbereitungen im Hause Sesemann sichtbar, man konnte deutlich
+bemerken, dass die erwartete Dame ein bedeutendes Wort im Hause
+mitzusprechen hatte und dass jedermann grossen Respekt vor ihr
+empfand. Tinette hatte ein ganz neues, weisses Deckelchen auf den
+Kopf gesetzt, und Sebastian raffte eine Menge von Schemeln zusammen
+und stellte sie an alle passenden Stellen hin, damit die Dame
+gleich einen Schemel unter den Fuessen finde, wohin sie sich auch
+setzen moege. Fraeulein Rottenmeier ging zur Musterung der Dinge
+sehr aufrecht durch die Zimmer, so wie um anzudeuten, dass, wenn
+auch eine zweite Herrschermacht herannahe, die ihrige dennoch nicht
+am Erloeschen sei.
+
+Jetzt rollte der Wagen vor das Haus, und Sebastian und Tinette
+stuerzten die Treppe hinunter; langsam und wuerdevoll folgte Fraeulein
+Rottenmeier nach, denn sie wusste, dass auch sie zum Empfang der
+Frau Sesemann zu erscheinen hatte. Heidi war beordert worden, sich
+in sein Zimmer zurueckzuziehen und da zu warten, bis es gerufen
+wuerde, denn die Grossmutter wuerde zuerst bei Klara eintreten und
+diese wohl allein sehen wollen. Heidi setzte sich in einen Winkel
+und repetierte seine Anrede. Es waehrte gar nicht lange, so steckte
+die Tinette den Kopf ein klein wenig unter Heidis Zimmertuer und
+sagte kurz angebunden wie immer: "Hinuebergehen ins Studierzimmer!"
+
+Heidi hatte Fraeulein Rottenmeier nicht fragen duerfen, wie es mit
+der Anrede sei, aber es dachte, die Dame habe sich nur versprochen,
+denn es hatte bis jetzt immer erst den Titel nennen gehoert und
+nachher den Namen; so hatte es sich nun die Sache zurechtgelegt.
+Wie es die Tuer zum Studierzimmer aufmachte, rief ihm die Grossmutter
+mit freundlicher Stimme entgegen: "Ah, da kommt ja das Kind! Komm
+mal her zu mir und lass dich recht ansehen."
+
+Heidi trat heran, und mit seiner klaren Stimme sagte es sehr
+deutlich: "Guten Tag, Frau Gnaedige."
+
+"Warum nicht gar!", lachte die Grossmama. "Sagt man so bei euch?
+Hast du das daheim auf der Alp gehoert?"
+
+"Nein, bei uns heisst niemand so", erklaerte Heidi ernsthaft.
+
+"So, bei uns auch nicht", lachte die Grossmama wieder und klopfte
+Heidi freundlich auf die Wange. "Das ist nichts! In der
+Kinderstube bin ich die Grossmama; so sollst du mich nennen, das
+kannst du wohl behalten, wie?"
+
+"Ja, das kann ich gut", versicherte Heidi, "vorher hab ich schon
+immer so gesagt."
+
+"So, so, verstehe schon!", sagte die Grossmama und nickte ganz
+lustig mit dem Kopfe. Dann schaute sie Heidi genau an und nickte
+von Zeit zu Zeit wieder mit dem Kopf, und Heidi guckte ihr auch
+ganz ernsthaft in die Augen, denn da kam etwas so Herzliches heraus,
+dass es dem Heidi ganz wohl machte, und die ganze Grossmama gefiel
+dem Heidi so, dass es sie unverwandt anschauen musste. Sie hatte
+so schoene weisse Haare, und um den Kopf ging eine schoene
+Spitzenkrause, und zwei breite Baender flatterten von der Haube weg
+und bewegten sich immer irgendwie, so als ob stets ein leichter
+Wind um die Grossmama wehe, was das Heidi ganz besonders anmutete.
+
+"Und wie heisst du, Kind?", fragte jetzt die Grossmama.
+
+"Ich heisse nur Heidi; aber weil ich soll Adelheid heissen, so will
+ich schon Acht geben--"; Heidi stockte, denn es fuehlte sich ein
+wenig schuldig, da es noch immer keine Antwort gab, wenn Fraeulein
+Rottenmeier unversehens rief: "Adelheid!", indem es ihm noch immer
+nicht recht gegenwaertig war, dass dies sein Name sei, und Fraeulein
+Rottenmeier war eben ins Zimmer getreten.
+
+"Frau Sesemann wird unstreitig billigen", fiel hier die eben
+Eingetretene ein, "dass ich einen Namen waehlen musste, den man doch
+aussprechen kann, ohne sich selbst genieren zu muessen, schon um der
+Dienstboten willen."
+
+"Werteste Rottenmeier", entgegnete Frau Sesemann, "wenn ein Mensch
+einmal 'Heidi' heisst und an den Namen gewoehnt ist, so
+nenn ich ihn so, und dabei bleibt's!"
+
+Es war Fraeulein Rottenmeier sehr genierlich, dass die alte Dame sie
+bestaendig nur bei ihrem Namen nannte, ohne weitere Titulatur; aber
+da war nichts zu machen; die Grossmama hatte einmal ihre eigenen
+Wege, und diese ging sie, da half kein Mittel dagegen. Auch ihre
+fuenf Sinne hatte die Grossmama noch ganz scharf und gesund, und sie
+bemerkte, was im Hause vorging, sobald sie es betreten hatte.
+
+Als am Tage nach ihrer Ankunft Klara sich zur gewohnten Zeit nach
+Tisch niederlegte, setzte die Grossmama sich neben sie auf einen
+Lehnstuhl und schloss ihre Augen fuer einige Minuten; dann stand sie
+schon wieder auf--denn sie war gleich wieder munter--und trat ins
+Esszimmer hinaus; da war niemand. "Die schlaeft", sagte sie vor
+sich hin, ging dann nach dem Zimmer der Dame Rottenmeier und
+klopfte kraeftig an die Tuer. Nach einiger Zeit erschien diese und
+fuhr erschrocken ein wenig zurueck bei dem unerwarteten Besuch.
+
+"Wo haelt sich das Kind auf um diese Zeit, und was tut es? Das
+wollte ich wissen", sagte Frau Sesemann.
+
+"In seinem Zimmer sitzt es, wo es sich nuetzlich beschaeftigen koennte,
+wenn es den leisesten Taetigkeitstrieb haette; aber Frau Sesemann
+sollte nur wissen, was fuer verkehrtes Zeug sich dieses Wesen oft
+ausdenkt und wirklich ausfuehrt, Dinge, die ich in gebildeter
+Gesellschaft kaum erzaehlen koennte."
+
+"Das wuerde ich gerade auch tun, wenn ich so da drinnen saesse wie
+dieses Kind, das kann ich Ihnen sagen, und Sie koennten zusehen, wie
+Sie mein Zeug in gebildeter Gesellschaft erzaehlen wollten! Jetzt
+holen Sie mir das Kind heraus und bringen Sie mir's in meine Stube,
+ich will ihm einige huebsche Buecher geben, die ich mitgebracht habe."
+
+"Das ist ja gerade das Unglueck, das ist es ja eben!", rief Fraeulein
+Rottenmeier aus und schlug die Haende zusammen. "Was sollte das
+Kind mit Buechern tun? In all dieser Zeit hat es noch nicht einmal
+das Abc erlernt; es ist voellig unmoeglich, diesem Wesen auch nur
+(einen) Begriff beizubringen, davon kann der Herr Kandidat reden!
+Wenn dieser treffliche Mensch nicht die Geduld eines himmlischen
+Engels besaesse, er haette diesen Unterricht laengst aufgegeben."
+
+"So, das ist merkwuerdig, das Kind sieht nicht aus wie eines, das
+das Abc nicht erlernen kann", sagte Frau Sesemann. "Jetzt holen
+Sie mir's herueber, es kann vorlaeufig die Bilder in den Buechern
+ansehen."
+
+Fraeulein Rottenmeier wollte noch einiges bemerken, aber Frau
+Sesemann hatte sich schon umgewandt und ging rasch ihrem Zimmer zu.
+Sie musste sich sehr verwundern ueber die Nachricht von Heidis
+Beschraenktheit und gedachte, die Sache zu untersuchen, jedoch nicht
+mit dem Herrn Kandidaten, den sie zwar um seines guten Charakters
+willen sehr schaetzte; sie gruesste ihn auch immer, wenn sie mit ihm
+zusammentraf, ueberaus freundlich, lief dann aber sehr schnell auf
+eine andere Seite, um nicht in ein Gespraech mit ihm verwickelt zu
+werden, denn seine Ausdrucksweise war ihr ein wenig beschwerlich.
+
+Heidi erschien im Zimmer der Grossmama und machte die Augen weit auf,
+als es die praechtigen bunten Bilder in den grossen Buechern sah,
+welche die Grossmama mitgebracht hatte. Auf einmal schrie Heidi
+laut auf, als die Grossmama wieder ein Blatt umgewandt hatte; mit
+gluehendem Blick schaute es auf die Figuren, dann stuerzten ihm
+ploetzlich die hellen Traenen aus den Augen, und es fing gewaltig zu
+schluchzen an. Die Grossmama schaute das Bild an. Es war eine
+schoene, gruene Weide, wo allerlei Tierlein herumweideten und an den
+gruenen Gebueschen nagten. In der Mitte stand der Hirt, auf einen
+langen Stab gestuetzt, der schaute den froehlichen Tierchen zu.
+Alles war wie in Goldschimmer gemalt, denn hinten am Horizont war
+eben die Sonne im Untergehen.
+
+Die Grossmama nahm Heidi bei der Hand. "Komm, komm, Kind", sagte
+sie in freundlichster Weise, "nicht weinen, nicht weinen. Das hat
+dich wohl an etwas erinnert; aber sieh, da ist auch eine schoene
+Geschichte dazu, die erzaehl ich heut Abend. Und da sind noch so
+viele schoene Geschichten in dem Buch, die kann man alle lesen und
+wieder erzaehlen. Komm, nun muessen wir etwas besprechen zusammen,
+trockne schoen deine Traenen, so, und nun stell dich hier vor mich
+hin, dass ich dich recht ansehen kann; so ist's recht, nun sind wir
+wieder froehlich."
+
+Aber noch verging einige Zeit, bevor Heidi zu schluchzen aufhoeren
+konnte. Die Grossmama liess ihm auch eine gute Weile zur Erholung,
+nur sagte sie von Zeit zu Zeit ermunternd: "So, nun ist's gut, nun
+sind wir wieder froh zusammen."
+
+Als sie endlich das Kind beruhigt sah, sagte sie: "Nun musst du mir
+was erzaehlen, Kind! Wie geht es denn beim Herrn Kandidaten in den
+Unterrichtsstunden, lernst du auch gut und kannst du was?"
+
+"O nein", antwortete Heidi seufzend; "aber ich wusste schon, dass
+man es nicht lernen kann."
+
+"Was kann man denn nicht lernen, Heidi, was meinst du?"
+
+"Lesen kann man nicht lernen, es ist zu schwer."
+
+"Das waere! Und woher weisst du denn diese Neuigkeit?"
+
+"Der Peter hat es mir gesagt und er weiss es schon, der muss immer
+wieder probieren, aber er kann es nie lernen, es ist zu schwer."
+
+"So, das ist mir ein eigener Peter, der! Aber sieh, Heidi, man
+muss nicht alles nur so hinnehmen, was einem ein Peter sagt, man
+muss selbst probieren. Gewiss hast du nicht recht mit all deinen
+Gedanken dem Herrn Kandidaten zugehoert und seine Buchstaben
+angesehen."
+
+"Es nuetzt nichts", versicherte Heidi mit dem Ton der vollen
+Ergebung in das Unabaenderliche.
+
+"Heidi", sagte nun die Grossmama, "jetzt will ich dir etwas sagen:
+Du hast noch nie lesen gelernt, weil du deinem Peter geglaubt hast;
+nun aber sollst du mir glauben, und ich sage dir fest und sicher,
+dass du in kurzer Zeit lesen lernen kannst, wie eine grosse Menge
+von Kindern, die geartet sind wie du und nicht wie der Peter. Und
+nun musst du wissen, was nachher kommt, wenn du dann lesen kannst--
+du hast den Hirten gesehen auf der schoenen, gruenen Weide--; sobald
+du nun lesen kannst, bekommst du das Buch, da kannst du seine ganze
+Geschichte vernehmen, ganz so, als ob sie dir jemand erzaehlte,
+alles, was er macht mit seinen Schafen und Ziegen und was ihm fuer
+merkwuerdige Dinge begegnen. Das moechtest du schon wissen, Heidi,
+nicht?"
+
+Heidi hatte mit gespannter Aufmerksamkeit zugehoert, und mit
+leuchtenden Augen sagte es jetzt, tief Atem holend: "Oh, wenn ich
+nur schon lesen koennte!"
+
+"Jetzt wird's kommen, und gar nicht lange wird's waehren, das kann
+ich schon sehen, Heidi, und nun muessen wir mal nach der Klara sehen;
+komm, die schoenen Buecher nehmen wir mit." Damit nahm die Grossmama
+Heidi bei der Hand und ging mit ihm nach dem Studierzimmer.
+
+Seit dem Tage, da Heidi hatte heimgehen wollen und Fraeulein
+Rottenmeier es auf der Treppe ausgescholten und ihm gesagt hatte,
+wie schlecht und undankbar es sich erweise durch sein
+Fortlaufenwollen und wie gut es sei, dass Herr Sesemann nichts
+davon wisse, war mit dem Kinde eine Veraenderung vorgegangen. Es
+hatte begriffen, dass es nicht heimgehen koenne, wenn es wolle, wie
+ihm die Base gesagt hatte, sondern dass es in Frankfurt zu bleiben
+habe, lange, lange, vielleicht fuer immer. Es hatte auch verstanden,
+dass Herr Sesemann es sehr undankbar von ihm finden wuerde, wenn es
+heimgehen wollte, und es dachte sich aus, dass die Grossmama und
+Klara auch so denken wuerden. So durfte es keinem Menschen sagen,
+dass es heimgehen moechte, denn dass die Grossmama, die so freundlich
+mit ihm war, auch boese wuerde, wie Fraeulein Rottenmeier geworden war,
+das wollte Heidi nicht verursachen. Aber in seinem Herzen wurde
+die Last, die darinnen lag, immer schwerer; es konnte nicht mehr
+essen, und jeden Tag wurde es ein wenig bleicher. Am Abend konnte
+es oft lange, lange nicht einschlafen, denn sobald es allein war
+und alles still ringsumher, kam ihm alles so lebendig vor die Augen,
+die Alm und der Sonnenschein darauf und die Blumen; und schlief es
+endlich doch ein, so sah es im Traum die roten Felsenspitzen am
+Falknis und das feurige Schneefeld an der Schesaplana, und erwachte
+dann Heidi am Morgen und wollte voller Freude hinausspringen aus
+der Huette--da war es auf einmal in seinem grossen Bett in Frankfurt,
+so weit, weit weg, und konnte nicht mehr heim. Dann drueckte Heidi
+oft seinen Kopf in das Kissen und weinte lang, ganz leise, dass
+niemand es hoere.
+
+Heidis freudloser Zustand entging der Grossmama nicht. Sie liess
+einige Tage voruebergehen und sah zu, ob die Sache sich aendere und
+das Kind sein niedergeschlagenes Wesen verlieren wuerde. Als es
+aber gleich blieb und die Grossmama manchmal am fruehen Morgen schon
+sehen konnte, dass Heidi geweint hatte, da nahm sie eines Tages das
+Kind wieder in ihre Stube, stellte es vor sich hin und sagte mit
+grosser Freundlichkeit: "Jetzt sag mir, was dir fehlt, Heidi; hast
+du einen Kummer?"
+
+Aber gerade dieser freundlichen Grossmama wollte Heidi nicht sich so
+undankbar zeigen, dass sie vielleicht nachher gar nicht mehr so
+freundlich waere; so sagte Heidi traurig: "Man kann es nicht sagen."
+
+"Nicht? Kann man es etwa der Klara sagen?", fragte die Grossmama.
+
+"O nein, keinem Menschen", versicherte Heidi und sah dabei so
+ungluecklich aus, dass es die Grossmama erbarmte.
+
+"Komm, Kind", sagte sie, "ich will dir was sagen: Wenn man einen
+Kummer hat, den man keinem Menschen sagen kann, so klagt man ihn
+dem lieben Gott im Himmel und bittet ihn, dass er helfe, denn er
+kann allem Leid abhelfen, das uns drueckt. Das verstehst du, nicht
+wahr? Du betest doch jeden Abend zum lieben Gott im Himmel und
+dankst ihm fuer alles Gute und bittest ihn, dass er dich vor allem
+Boesen behuete?"
+
+"O nein, das tu ich nie", antwortete das Kind.
+
+"Hast du denn gar nie gebetet, Heidi, weisst du nicht, was das ist?"
+
+"Nur mit der ersten Grossmutter habe ich gebetet, aber es ist schon
+lang, und jetzt habe ich es vergessen."
+
+"Siehst du, Heidi, darum musst du so traurig sein, weil du jetzt
+gar niemanden kennst, der dir helfen kann. Denk einmal nach, wie
+wohl das tun muss, wenn einen im Herzen etwas immerfort drueckt und
+quaelt und man kann so jeden Augenblick zum lieben Gott hingehen und
+ihm alles sagen und ihn bitten, dass er helfe, wo uns sonst gar
+niemand helfen kann! Und er kann ueberall helfen und uns geben, was
+uns wieder froh macht."
+
+Durch Heidis Augen fuhr ein Freudenstrahl: "Darf man ihm alles,
+alles sagen?"
+
+"Alles, Heidi, alles."
+
+Das Kind zog seine Hand aus den Haenden der Grossmama und sagte eilig:
+"Kann ich gehen?"
+
+"Gewiss! Gewiss!", gab diese zur Antwort, und Heidi lief davon und
+hinueber in sein Zimmer, und hier setzte es sich auf seinen Schemel
+nieder und faltete seine Haende und sagte dem lieben Gott alles, was
+in seinem Herzen war und es so traurig machte, und bat ihn dringend
+und herzlich, dass er ihm helfe und es wieder heimkommen lasse zum
+Grossvater.--
+
+Es mochte etwas mehr als eine Woche verflossen sein seit diesem
+Tage, als der Herr Kandidat begehrte, der Frau Sesemann seine
+Aufwartung zu machen, indem er eine Besprechung ueber einen
+merkwuerdigen Gegenstand mit der Dame abzuhalten gedachte. Er wurde
+auf ihre Stube berufen, und hier, wie er eintrat, streckte ihm Frau
+Sesemann sogleich freundlich die Hand entgegen: "Mein lieber Herr
+Kandidat, seien Sie mir willkommen! Setzen Sie sich her zu mir,
+hier"--sie rueckte ihm den Stuhl zurecht. "So, nun sagen Sie mir,
+was bringt Sie zu mir; doch nichts Schlimmes, keine Klagen?"
+
+"Im Gegenteil, gnaedige Frau", begann der Herr Kandidat; "es ist
+etwas vorgefallen, das ich nicht mehr erwarten konnte und keiner,
+der einen Blick in alles Vorhergegangene haette werfen koennen, denn
+nach allen Voraussetzungen musste angenommen werden, dass es eine
+voellige Unmoeglichkeit sein muesse, was dennoch jetzt wirklich
+geschehen ist und in der wunderbarsten Weise stattgefunden hat,
+gleichsam im Gegensatz zu allem folgerichtig zu Erwartenden--"
+
+"Sollte das Kind Heidi etwa lesen gelernt haben, Herr Kandidat?",
+setzte hier Frau Sesemann ein.
+
+In sprachlosem Erstaunen schaute der ueberraschte Herr die Dame an.
+
+"Es ist ja wirklich voellig wunderbar", sagte er endlich, "nicht nur,
+dass das junge Maedchen nach all meinen gruendlichen Erklaerungen,
+und ungewoehnlichen Bemuehungen das Abc nicht erlernt hat, sondern
+auch und besonders, dass es jetzt in kuerzester Zeit, nachdem ich
+mich entschlossen hatte, das Unerreichbare aus den Augen zu lassen
+und ohne alle weiter greifenden Erlaeuterungen nur noch sozusagen
+die nackten Buchstaben vor die Augen des jungen Maedchens zu bringen,
+sozusagen ueber Nacht das Lesen erfasst hat, und dann sogleich mit
+einer Korrektheit die Worte liest, wie mir bei Anfaengern noch
+selten vorgekommen ist. Fast ebenso wunderbar ist mir die
+Wahrnehmung, dass die gnaedige Frau gerade diese fern liegende
+Tatsache als Moeglichkeit vermutete."
+
+"Es geschehen viele wunderbare Dinge im Menschenleben", bestaetigte
+Frau Sesemann und laechelte vergnueglich; "es koennen auch einmal zwei
+Dinge gluecklich zusammentreffen, wie ein neuer Lerneifer und eine
+neue Lehrmethode, und beide koennen nichts schaden, Herr Kandidat.
+Jetzt wollen wir uns freuen, dass das Kind so weit ist, und auf
+guten Fortgang hoffen."
+
+Damit begleitete sie den Herrn Kandidaten zur Tuer hinaus und ging
+rasch nach dem Studierzimmer, um sich selbst der erfreulichen
+Nachricht zu versichern. Richtig sass hier Heidi neben Klara und
+las dieser eine Geschichte vor, sichtlich selbst mit dem groessten
+Erstaunen und mit einem wachsenden Eifer in die neue Welt
+eindringend, die ihm aufgegangen war, nun ihm mit einem Mal aus den
+schwarzen Buchstaben Menschen und Dinge entgegentraten und Leben
+gewannen und zu herzbewegenden Geschichten wurden. Noch am selben
+Abend, als man sich zu Tische setzte, fand Heidi auf seinem Teller
+das grosse Buch liegen mit den schoenen Bildern, und als es fragend
+nach der Grossmama blickte, sagte diese freundlich nickend: "Ja, ja,
+nun gehoert es dir."
+
+"Fuer immer? Auch wenn ich heimgehe?", fragte Heidi ganz rot vor
+Freude.
+
+"Gewiss, fuer immer!", versicherte die Grossmama; "morgen fangen wir
+an zu lesen."
+
+"Aber du gehst nicht heim, noch viele Jahre nicht, Heidi", warf
+Klara hier ein; "wenn nun die Grossmama wieder fortgeht, dann musst
+du erst recht bei mir bleiben."
+
+Noch vor dem Schlafengehen musste Heidi in seinem Zimmer sein
+schoenes Buch ansehen, und von dem Tage an war es sein Liebstes,
+ueber seinem Buch zu sitzen und immer wieder die Geschichten zu
+lesen, zu denen die schoenen bunten Bilder gehoerten. Sagte am Abend
+die Grossmama: "Nun liest uns Heidi vor", so war das Kind sehr
+beglueckt, denn das Lesen ging ihm nun ganz leicht, und wenn es die
+Geschichten laut vorlas, so kamen sie ihm noch viel schoener und
+verstaendlicher vor, und die Grossmama erklaerte dann noch so vieles
+und erzaehlte immer noch mehr dazu. Am liebsten beschaute Heidi
+immer wieder seine gruene Weide und den Hirten mitten unter der
+Herde, wie er so vergnueglich, auf seinen langen Stab gelehnt,
+dastand, denn da war er noch bei der schoenen Herde des Vaters und
+ging nur den lustigen Schaefchen und Ziegen nach, weil es ihn freute.
+Aber dann kam das Bild, wo er, vom Vaterhaus weggelaufen, nun in
+der Fremde war und die Schweinchen hueten musste und ganz mager
+geworden war bei den Trebern, die er allein noch zu essen bekam.
+Und auf dem Bilde schien auch die Sonne nicht mehr so golden, da
+war das Land grau und nebelig. Aber dann kam noch ein Bild zu der
+Geschichte: Da kam der alte Vater mit ausgebreiteten Armen aus dem
+Hause heraus und lief dem heimkehrenden reuigen Sohn entgegen, um
+ihn zu empfangen, der ganz furchtsam und abgemagert in einem
+zerrissenen Wams daherkam. Das war Heidis Lieblingsgeschichte, die
+es immer wieder las, laut und leise, und es konnte nie genug der
+Erklaerungen bekommen, welche die Grossmama den Kindern dazu machte.
+Da waren aber noch so viele schoene Geschichten in dem Buch, und bei
+dem Lesen derselben und dem Bilderbesehen gingen die Tage sehr
+schnell dahin, und schon nahte die Zeit heran, welche die Grossmama
+zu ihrer Abreise bestimmt hatte.
+
+
+
+
+Heidi nimmt auf einer Seite zu und auf der anderen ab
+
+Die Grossmama hatte waehrend der ganzen Zeit ihres Aufenthalts jeden
+Nachmittag, wenn Klara sich hinlegte und Fraeulein Rottenmeier,
+wahrscheinlich der Ruhe beduerftig, geheimnisvoll verschwand, sich
+einen Augenblick neben Klara hingesetzt; aber schon nach fuenf
+Minuten war sie wieder auf den Fuessen und hatte dann immer Heidi auf
+ihre Stube berufen, sich mit ihm besprochen und es auf allerlei
+Weise beschaeftigt und unterhalten. Die Grossmama hatte huebsche
+kleine Puppen und zeigte dem Heidi, wie man ihnen Kleider und
+Schuerzchen macht, und ganz unvermerkt hatte Heidi das Naehen erlernt
+und machte den kleinen Frauenzimmern die schoensten Roecke und
+Maentelchen, denn die Grossmama hatte immer Zeugstuecke von den
+praechtigsten Farben. Nun Heidi lesen konnte, durfte es auch immer
+wieder der Grossmama seine Geschichten vorlesen; das machte ihm die
+groesste Freude, denn je mehr es seine Geschichten las, desto lieber
+wurden sie ihm, denn Heidi lebte alles ganz mit durch, was die
+Leute alle zu erleben hatten, und so hatte es zu ihnen allen ein
+sehr nahes Verhaeltnis und freute sich immer wieder, bei ihnen zu
+sein. Aber so recht froh sah Heidi nie aus, und seine lustigen
+Augen waren nie mehr zu sehen.
+
+Es war die letzte Woche, welche die Grossmama in Frankfurt zubringen
+wollte. Sie hatte eben nach Heidi gerufen, dass es auf ihre Stube
+komme; es war die Zeit, da Klara schlief. Als Heidi eintrat mit
+seinem grossen Buch unter dem Arm, winkte ihm die Grossmama, dass es
+ganz nahe zu ihr herankomme, legte das Buch weg und sagte: "Nun
+komm, Kind, und sag mir, warum bist du nicht froehlich? Hast du
+immer noch denselben Kummer im Herzen?"
+
+"Ja", nickte Heidi.
+
+"Hast du ihn dem lieben Gott geklagt?"
+
+"Ja."
+
+"Und betest du nun alle Tage, dass alles gut werde und er dich froh
+mache?"
+
+"O nein, ich bete jetzt gar nie mehr."
+
+"Was sagst du mir, Heidi? Was muss ich hoeren? Warum betest du
+denn nicht mehr?"
+
+"Es nuetzt nichts, der liebe Gott hat nicht zugehoert, und ich glaube
+es auch wohl", fuhr Heidi in einiger Aufregung weiter, "wenn nun am
+Abend so viele, viele Leute in Frankfurt alle miteinander beten, so
+kann der liebe Gott ja nicht auf alle Acht geben, und mich hat er
+gewiss gar nicht gehoert."
+
+"So, wie weisst du denn das so sicher, Heidi?"
+
+"Ich habe alle Tage das Gleiche gebetet, manche Woche lang, und der
+liebe Gott hat es nie getan."
+
+"Ja, so geht's nicht zu, Heidi! Das musst du nicht meinen! Siehst
+du, der liebe Gott ist fuer uns alle ein guter Vater, der immer weiss,
+was gut fuer uns ist, wenn wir es gar nicht wissen. Wenn wir aber
+nun etwas von ihm haben wollen, das nicht gut fuer uns ist, so gibt
+er uns das nicht, sondern etwas viel Besseres, wenn wir fortfahren,
+so recht herzlich zu ihm zu beten, aber nicht gleich weglaufen und
+alles Vertrauen zu ihm verlieren. Siehst du, was du nun von ihm
+erbitten wolltest, das war in diesem Augenblick nicht gut fuer dich;
+der liebe Gott hat dich schon gehoert, er kann alle Menschen auf
+einmal anhoeren und uebersehen, siehst du, dafuer ist er der liebe
+Gott und nicht ein Mensch wie du und ich. Und weil er nun wohl
+wusste, was fuer dich gut ist, dachte er bei sich: 'Ja, das
+Heidi soll schon einmal haben, wofuer es bittet, aber erst dann,
+wenn es ihm gut ist, und so wie es darueber recht froh werden kann.
+Denn wenn ich jetzt tue, was es will, und es merkt nachher, dass es
+doch besser gewesen waere, ich haette ihm seinen Willen nicht getan,
+dann weint es nachher und sagt: Haette mir doch der liebe Gott nur
+nicht gegeben, wofuer ich bat, es ist gar nicht so gut, wie ich
+gemeint habe.' Und waehrend nun der liebe Gott auf dich
+niedersah, ob du ihm auch recht vertrautest und taeglich zu ihm
+kommest und betest und immer zu ihm aufsehest, wenn dir etwas fehlt,
+da bist du weggelaufen ohne alles Vertrauen, hast nie mehr gebetet
+und hast den lieben Gott ganz vergessen. Aber siehst du, wenn
+einer es so macht und der liebe Gott hoert seine Stimme gar nie mehr
+unter den Betenden, so vergisst er ihn auch und laesst ihn gehen,
+wohin er will. Wenn es ihm dabei aber schlecht geht und er jammert:
+'Mir hilft aber auch gar niemand!', dann hat keiner
+Mitleiden mit ihm, sondern jeder sagt zu ihm: 'Du bist ja
+selbst vom lieben Gott weggelaufen, der dir helfen konnte!'
+Willst du's so haben, Heidi, oder willst du gleich wieder zum
+lieben Gott gehen und ihn um Verzeihung bitten, dass du so von ihm
+weggelaufen bist, und dann alle Tage zu ihm beten und ihm vertrauen,
+dass er alles gut fuer dich machen werde, so dass du auch wieder
+ein frohes Herz bekommen kannst?"
+
+Heidi hatte sehr aufmerksam zugehoert; jedes Wort der Grossmama fiel
+in sein Herz, denn zu ihr hatte das Kind ein unbedingtes Vertrauen.
+
+"Ich will jetzt gleich auf der Stelle gehen und den lieben Gott um
+Verzeihung bitten, und ich will ihn nie mehr vergessen", sagte
+Heidi reumuetig.
+
+"So ist's recht, Kind, er wird dir auch helfen zur rechten Zeit,
+sei nur getrost!", ermunterte die Grossmama, und Heidi lief sofort
+in sein Zimmer hinueber und betete ernstlich und reuig zum lieben
+Gott und bat ihn, dass er es doch nicht vergessen und auch wieder
+zu ihm niederschauen moege.--
+
+Der Tag der Abreise war gekommen, es war fuer Klara und Heidi ein
+trauriger Tag; aber die Grossmama wusste es so einzurichten, dass
+sie gar nicht zum Bewusstsein kamen, dass es eigentlich ein
+trauriger Tag sei, sondern es war eher wie ein Festtag, bis die
+gute Grossmama im Wagen davonfuhr. Da trat eine Leere und Stille im
+Hause ein, als waere alles vorueber, und solange noch der Tag waehrte,
+sassen Klara und Heidi wie verloren da und wussten gar nicht, wie es
+nun weiter kommen sollte.
+
+Am folgenden Tag, als die Unterrichtsstunden vorbei und die Zeit da
+war, da die Kinder gewoehnlich zusammensassen, trat Heidi mit seinem
+Buch unter dem Arm herein und sagte: "Ich will dir nun immer, immer
+vorlesen; willst du, Klara?"
+
+Der Klara war der Vorschlag recht fuer einmal, und Heidi machte sich
+mit Eifer an seine Taetigkeit. Aber es ging nicht lange, so hoerte
+schon wieder alles auf, denn kaum hatte Heidi eine Geschichte zu
+lesen begonnen, die von einer sterbenden Grossmutter handelte, als
+es auf einmal laut aufschrie: "Oh, nun ist die Grossmutter tot!",
+und in ein jammervolles Weinen ausbrach, denn alles, was es las,
+war dem Heidi volle Gegenwart, und es glaubte nicht anders, als nun
+sei die Grossmutter auf der Alm gestorben, und es klagte in immer
+lauterem Weinen: "Nun ist die Grossmutter tot, und ich kann nie mehr
+zu ihr gehen, und sie hat nicht ein einziges Broetchen mehr bekommen!
+"
+
+Klara suchte immerfort dem Heidi zu erklaeren, dass es ja nicht die
+Grossmutter auf der Alm sei, sondern eine ganz andere, von der diese
+Geschichte handle; aber auch, als sie endlich dazu gekommen war,
+dem aufgeregten Heidi diese Verwechslung klar zu machen, konnte es
+sich doch nicht beruhigen und weinte immer noch untroestlich weiter,
+denn der Gedanke war ihm nun im Herzen erwacht, die Grossmutter
+koenne ja sterben, waehrend es so weit weg sei, und der Grossvater
+auch noch, und wenn es dann nach einiger Zeit wieder heimkomme, so
+sei alles still und tot auf der Alm und es stehe ganz allein da und
+koenne niemals mehr die sehen, die ihm lieb waren.
+
+Waehrenddessen war Fraeulein Rottenmeier ins Zimmer getreten und
+hatte noch Klaras Bemuehungen, Heidi ueber seinen Irrtum aufzuklaeren,
+mit angehoert. Als das Kind aber immer noch nicht aufhoeren konnte
+zu schluchzen, trat sie mit sichtlichen Zeichen der Ungeduld zu den
+Kindern heran und sagte mit bestimmtem Ton: "Adelheid, nun ist des
+grundlosen Geschreis genug! Ich will dir eines sagen: Wenn du noch
+ein einziges Mal beim Lesen deiner Geschichten solchen Ausbruechen
+den Lauf laesst, so nehme ich das Buch aus deinen Haenden und fuer
+immer!"
+
+Das machte Eindruck. Heidi wurde ganz weiss vor Schrecken, das Buch
+war sein hoechster Schatz. Es trocknete in groesster Eile seine
+Traenen und schluckte und wuergte sein Schluchzen mit Gewalt hinunter,
+so dass kein Toenchen mehr laut wurde. Das Mittel hatte geholfen,
+Heidi weinte nie mehr, was es auch lesen mochte; aber manchmal
+hatte es solche Anstrengungen zu machen, um sich zu ueberwinden und
+nicht aufzuschreien, dass Klara oefter ganz erstaunt sagte: "Heidi,
+du machst so schreckliche Grimassen, wie ich noch nie gesehen habe.
+" Aber die Grimassen machten keinen Laerm und fielen der Dame
+Rottenmeier nicht auf, und wenn Heidi seinen Anfall von
+verzweiflungsvoller Traurigkeit niedergerungen hatte, kam alles
+wieder ins Geleise fuer einige Zeit und war tonlos voruebergegangen.
+Aber seinen Appetit verlor Heidi so sehr und sah so mager und
+bleich aus, dass der Sebastian fast nicht ertragen konnte, das so
+mit anzusehen und Zeuge sein zu muessen, wie Heidi bei Tisch die
+schoensten Gerichte an sich voruebergehen liess und nichts essen
+wollte. Er fluesterte ihm auch oefter ermunternd zu, wenn er ihm
+eine Schuessel hinhielt: "Nehmen von dem, Mamsellchen, 's ist
+vortrefflich. Nicht so! Einen rechten Loeffel voll, noch einen!",
+und dergleichen vaeterlicher Raete mehr; aber es half nichts: Heidi
+ass fast gar nicht mehr, und wenn es sich am Abend auf sein Kissen
+legte, so hatte es augenblicklich alles vor Augen, was daheim war,
+und nur ganz leise weinte es dann vor Sehnsucht in sein Kissen
+hinein, so dass es gar niemand hoeren konnte.
+
+So ging eine lange Zeit dahin. Heidi wusste gar nie, ob es Sommer
+oder Winter sei, denn die Mauern und Fenster, die es aus allen
+Fenstern des Hauses Sesemann erblickte, sahen immer gleich aus, und
+hinaus kam es nur, wenn es Klara besonders gut ging und eine
+Ausfahrt im Wagen mit ihr gemacht werden konnte, die aber immer
+sehr kurz war, denn Klara konnte nicht vertragen, lang zu fahren.
+So kam man kaum aus den Mauern und Steinstrassen heraus, sondern
+kehrte gewoehnlich vorher wieder um und fuhr immerfort durch grosse,
+schoene Strassen, wo Haeuser und Menschen in Fuelle zu sehen waren,
+aber nicht Gras und Blumen, keine Tannen und keine Berge, und
+Heidis Verlangen nach dem Anblick der schoenen gewohnten Dinge
+steigerte sich mit jedem Tage mehr, so dass es jetzt nur den Namen
+eines dieser Erinnerung weckenden Worte zu lesen brauchte, so war
+schon ein Ausbruch des Schmerzes nahe, und Heidi hatte mit aller
+Gewalt dagegen zu ringen. So waren Herbst und Winter vergangen,
+und schon blendete die Sonne wieder so stark auf die weissen Mauern
+am Hause gegenueber, dass Heidi ahnte, nun sei die Zeit nahe, da der
+Peter wieder zur Alm fuehre mit den Geissen, da die goldenen
+Cystusroeschen glitzerten droben im Sonnenschein und allabendlich
+ringsum alle Berge im Feuer staenden. Heidi setzte sich in seinem
+einsamen Zimmer in einen Winkel und hielt sich mit beiden Haenden
+die Augen zu, dass es den Sonnenschein drueben an der Mauer nicht
+sehe; und so sass es regungslos, sein brennendes Heimweh lautlos
+niederkaempfend, bis Klara wieder nach ihm rief.
+
+
+
+
+Im Hause Sesemann spukt's
+
+Seit einigen Tagen wanderte Fraeulein Rottenmeier meistens
+schweigend und in sich gekehrt im Haus herum. Wenn sie um die Zeit
+der Daemmerung von einem Zimmer ins andere oder ueber den langen
+Korridor ging, schaute sie oefters um sich, gegen die Ecken hin und
+auch schnell einmal hinter sich, so, als denke sie, es koennte
+jemand leise hinter ihr herkommen und sie unversehens am Rock
+zupfen. So allein ging sie aber nur noch in den bewohnten Raeumen
+herum. Hatte sie auf dem oberen Boden, wo die feierlich
+aufgeruesteten Gastzimmer lagen, oder gar in den unteren Raeumen
+etwas zu besorgen, wo der grosse geheimnisvolle Saal war, in dem
+jeder Tritt einen weithin schallenden Widerhall gab und die alten
+Ratsherren mit den grossen, weissen Kragen so ernsthaft und
+unverwandt auf einen niederschauten, da rief sie nun regelmaessig die
+Tinette herbei und sagte ihr, sie habe mitzukommen, im Fall etwas
+von dort herauf- oder von oben herunterzutragen waere. Tinette
+ihrerseits machte es puenktlich ebenso; hatte sie oben oder unten
+irgendein Geschaeft abzutun, so rief sie den Sebastian herbei und
+sagte ihm, er habe sie zu begleiten, es moechte etwas
+herbeizubringen sein, das sie nicht allein tragen koennte.
+Wunderbarerweise tat auch Sebastian akkurat dasselbe; wurde er in
+die abgelegenen Raeume geschickt, so holte er den Johann herauf und
+wies ihn an, ihn zu begleiten, im Fall er nicht herbeischaffen
+koennte, was erforderlich sei. Und jedes folgte immer ganz willig
+dem Ruf, obschon eigentlich nie etwas herbeizutragen war, so dass
+jedes gut haette allein gehen koennen; aber es war so, als denke der
+Herbeigerufene immer bei sich, er koenne den anderen auch bald fuer
+denselben Dienst noetig haben. Waehrend sich solches oben zutrug,
+stand unten die langjaehrige Koechin tiefsinnig bei ihren Toepfen und
+schuettelte den Kopf und seufzte: "Dass ich das noch erleben musste!"
+
+Es ging im Hause Sesemann seit einiger Zeit etwas ganz Seltsames
+und Unheimliches vor. Jeden Morgen, wenn die Dienerschaft
+herunterkam, stand die Haustuer weit offen; aber weit und breit war
+niemand zu sehen, der mit dieser Erscheinung im Zusammenhang stehen
+konnte. In den ersten Tagen, da dies geschehen war, wurden gleich
+mit Schrecken alle Zimmer und Raeume des Hauses durchsucht, um zu
+sehen, was alles gestohlen sei, denn man dachte, ein Dieb habe sich
+im Hause verstecken koennen und sei in der Nacht mit dem Gestohlenen
+entflohen; aber da war gar nichts fortgekommen, es fehlte im ganzen
+Hause nicht ein einziges Ding. Abends wurde nicht nur die Tuer
+doppelt zugeriegelt, sondern es wurde noch der hoelzerne Balken
+vorgeschoben--es half nichts: Am Morgen stand die Tuer weit offen;
+und so frueh nun auch die ganze Dienerschaft in ihrer Aufregung am
+Morgen herunterkommen mochte--die Tuer stand offen, wenn auch
+ringsum alles noch im tiefen Schlaf lag und Fenster und Tueren an
+allen anderen Haeusern noch fest verrammelt waren. Endlich fassten
+sich der Johann und der Sebastian ein Herz und machten sich auf die
+dringenden Zureden der Dame Rottenmeier bereit, die Nacht unten in
+dem Zimmer, das an den grossen Saal stiess, zuzubringen und zu
+erwarten, was geschehe. Fraeulein Rottenmeier suchte mehrere Waffen
+des Herrn Sesemann hervor und uebergab dem Sebastian eine grosse
+Liqueurflasche, damit Staerkung vorausgehen und gute Wehr nachfolgen
+koenne, wo sie noetig sei.
+
+Die beiden setzten sich an dem festgesetzten Abend hin und fingen
+gleich an, sich Staerkung zuzutrinken, was sie erst sehr gespraechig
+und dann ziemlich schlaefrig machte, worauf sie beide sich an die
+Sesselruecken lehnten und verstummten. Als die alte Turmuhr drueben
+zwoelf schlug, ermannte sich Sebastian und rief seinen Kameraden an;
+der war aber nicht leicht zu erwecken; sooft ihn Sebastian anrief,
+legte er seinen Kopf von einer Seite der Sessellehne auf die andere
+und schlief weiter. Sebastian lauschte nunmehr gespannt, er war
+nun wieder ganz munter geworden. Es war alles maeuschenstill, auch
+von der Strasse war kein Laut mehr zu hoeren. Sebastian entschlief
+nicht wieder, denn jetzt wurde es ihm sehr unheimlich in der grossen
+Stille, und er rief den Johann nur noch mit gedaempfter Stimme an
+und ruettelte ihn von Zeit zu Zeit ein wenig. Endlich, als es
+droben schon ein Uhr geschlagen hatte, war der Johann wach geworden
+und wieder zum klaren Bewusstsein gekommen, warum er auf dem Stuhl
+sitze und nicht in seinem Bett liege. Jetzt fuhr er auf einmal
+sehr tapfer empor und rief: "Nun, Sebastian, wir muessen doch einmal
+hinaus und sehen, wie's steht; du wirst dich ja nicht fuerchten.
+Nur mir nach."
+
+Johann machte die leicht angelehnte Zimmertuer weit auf und trat
+hinaus. Im gleichen Augenblick blies aus der offenen Haustuer ein
+scharfer Luftzug her und loeschte das Licht aus, das der Johann in
+der Hand hielt. Dieser stuerzte zurueck, warf den hinter ihm
+stehenden Sebastian beinah ruecklings ins Zimmer hinein, riss ihn
+dann mit, schlug die Tuer zu und drehte in fieberhafter Eile den
+Schluessel um, solang er nur umging. Dann riss er seine
+Streichhoelzer hervor und zuendete sein Licht wieder an. Sebastian
+wusste gar nicht recht, was vorgefallen war, denn hinter dem
+breiten Johann stehend, hatte er den Luftzug nicht so deutlich
+empfunden. Wie er aber jenen nun bei Licht besah, tat er einen
+Schreckensruf, denn der Johann war kreideweiss und zitterte wie
+Espenlaub. "Was ist's denn? Was war denn draussen?", fragte der
+Sebastian teilnehmend.
+
+"Sperrangelweit offen die Tuer", keuchte Johann, "und auf der Treppe
+eine weisse Gestalt, siehst du, Sebastian, nur so die Treppe hinauf--
+husch und verschwunden."
+
+Dem Sebastian gruselte es den ganzen Ruecken hinauf. Jetzt setzten
+sich die beiden ganz nah zusammen und regten sich nicht mehr, bis
+dass der neue Morgen da war und es auf der Strasse anfing, lebendig
+zu werden. Dann traten sie zusammen hinaus, machten die weit offen
+stehende Haustuer zu und stiegen dann hinauf, um Fraeulein
+Rottenmeier Bericht zu erstatten ueber das Erlebte. Die Dame war
+auch schon zu sprechen, denn die Erwartung der zu vernehmenden
+Dinge hatte sie nicht mehr schlafen lassen. Sobald sie nun
+vernommen hatte, was vorgefallen war, setzte sie sich hin und
+schrieb einen Brief an Herrn Sesemann, wie er noch keinen erhalten
+hatte; er moege sich nur sogleich, ohne Verzug, aufmachen und nach
+Hause zurueckkehren, denn da geschaehen unerhoerte Dinge. Dann wurde
+ihm das Vorgefallene mitgeteilt sowie auch die Nachricht, dass
+fortgesetzt die Tuer jeden Morgen offen stehe; dass also keiner im
+Hause seines Lebens mehr sicher sei bei dergestalt allnaechtlich
+offen stehender Hauspforte und dass man ueberhaupt nicht absehen
+koenne, was fuer dunkle Folgen dieser unheimliche Vorgang noch nach
+sich ziehen koenne. Herr Sesemann antwortete umgehend, es sei ihm
+unmoeglich, so ploetzlich alles liegen zu lassen und nach Hause zu
+kommen. Die Gespenstergeschichte sei ihm sehr befremdend, er hoffe
+auch, sie sei voruebergehend; sollte es indessen keine Ruhe geben,
+so moege Fraeulein Rottenmeier an Frau Sesemann schreiben und sie
+fragen, ob sie nicht nach Frankfurt zu Hilfe kommen wollte; gewiss
+wuerde seine Mutter in kuerzester Zeit mit den Gespenstern fertig,
+und diese trauten sich nachher sicher so bald nicht wieder, sein
+Haus zu beunruhigen. Fraeulein Rottenmeier war nicht zufrieden mit
+dem Ton dieses Briefes; die Sache war ihr zu wenig ernst aufgefasst.
+Sie schrieb unverzueglich an Frau Sesemann, aber von dieser Seite
+her toente es nicht eben befriedigender, und die Antwort enthielt
+einige ganz anzuegliche Bemerkungen. Frau Sesemann schrieb, sie
+gedenke nicht, extra von Holstein nach Frankfurt hinunterzureisen,
+weil die Rottenmeier Gespenster sehe. Uebrigens sei niemals ein
+Gespenst gesehen worden im Hause Sesemann, und wenn jetzt eines
+darin herumfahre, so koenne es nur ein lebendiges sein, mit dem die
+Rottenmeier sich sollte verstaendigen koennen; wo nicht, so solle sie
+die Nachtwaechter zu Hilfe rufen.
+
+Aber Fraeulein Rottenmeier war entschlossen, ihre Tage nicht mehr in
+Schrecken zuzubringen, und sie wusste sich zu helfen. Bis dahin
+hatte sie den beiden Kindern nichts von der Geistererscheinung
+gesagt, denn sie befuerchtete, die Kinder wuerden vor Furcht Tag und
+Nacht keinen Augenblick mehr allein bleiben wollen, und das konnte
+sehr unbequeme Folgen fuer sie haben. Jetzt ging sie stracks ins
+Studierzimmer hinueber, wo die beiden zusammensassen, und erzaehlte
+mit gedaempfter Stimme von den naechtlichen Erscheinungen eines
+Unbekannten. Sofort schrie Klara auf, sie bleibe keinen Augenblick
+mehr allein, der Papa muesse nach Hause kommen und Fraeulein
+Rottenmeier muesse zum Schlafen in ihr Zimmer hinueberziehen, und
+Heidi duerfe auch nicht mehr allein sein, sonst koenne das Gespenst
+einmal zu ihm kommen und ihm etwas tun; sie wollten alle in (einem)
+Zimmer schlafen und die ganze Nacht das Licht brennen lassen, und
+Tinette muesste nebenan schlafen und der Sebastian und der Johann
+muessten auch herunterkommen und auf dem Korridor schlafen, dass sie
+gleich schreien und das Gespenst erschrecken koennten, wenn es etwa
+die Treppe heraufkommen wollte. Klara war sehr aufgeregt und
+Fraeulein Rottenmeier hatte nun die groesste Muehe, sie etwas zu
+beschwichtigen. Sie versprach ihr, sogleich an den Papa zu
+schreiben und auch ihr Bett in Klaras Zimmer stellen und sie nie
+mehr allein lassen zu wollen. Alle konnten sie nicht in demselben
+Raume schlafen, aber wenn Adelheid sich auch fuerchten sollte, so
+muesste Tinette ihr Nachtlager bei ihr aufschlagen. Aber Heidi
+fuerchtete sich mehr vor der Tinette als vor Gespenstern, von denen
+das Kind noch gar nie etwas gehoert hatte, und es erklaerte gleich,
+es fuerchte das Gespenst nicht und wolle schon allein in seinem
+Zimmer bleiben. Hierauf eilte Fraeulein Rottenmeier an ihren
+Schreibtisch und schrieb an Herrn Sesemann, die unheimlichen
+Vorgaenge im Hause, die allnaechtlich sich wiederholten, haetten die
+zarte Konstitution seiner Tochter dergestalt erschuettert, dass die
+schlimmsten Folgen zu befuerchten seien; man habe Beispiele von
+ploetzlich eintretenden epileptischen Zufaellen oder Veitstanz in
+solchen Verhaeltnissen, und seine Tochter sei allem ausgesetzt, wenn
+dieser Zustand des Schreckens im Hause nicht gehoben werde.
+
+Das half. Zwei Tage darauf stand Herr Sesemann vor seiner Tuer und
+schellte dergestalt an seiner Hausglocke, dass alles zusammenlief
+und einer den anderen anstarrte, denn man glaubte nicht anders, als
+nun lasse der Geist frecherweise noch vor Nacht seine boshaften
+Stuecke aus. Sebastian guckte ganz behutsam durch einen halb
+geoeffneten Laden von oben herunter; in dem Augenblick schellte es
+noch einmal so nachdruecklich, dass jeder unwillkuerlich eine
+Menschenhand hinter dem tuechtigen Ruck vermutete. Sebastian hatte
+die Hand erkannt, stuerzte durchs Zimmer, kopfueber die Treppe
+hinunter, kam aber unten wieder auf die Fuesse und riss die Haustuer
+auf. Herr Sesemann gruesste kurz und stieg ohne weiteres nach dem
+Zimmer seiner Tochter hinauf. Klara empfing den Papa mit einem
+lauten Freudenruf, und als er sie so munter und voellig unveraendert
+sah, glaettete sich seine Stirn, die er vorher sehr zusammengezogen
+hatte, und immer mehr, als er nun von ihr selbst hoerte, sie sei so
+wohl wie immer und sie sei so froh, dass er gekommen sei, dass es
+ihr jetzt ganz recht sei, dass ein Geist im Haus herumfahre, weil
+er doch daran schuld sei, dass der Papa heimkommen musste.
+
+"Und wie fuehrt sich das Gespenst weiter auf, Fraeulein Rottenmeier?",
+fragte nun Herr Sesemann mit einem lustigen Ausdruck in den
+Mundwinkeln.
+
+"Nein, Herr Sesemann", entgegnete die Dame ernst, "es ist kein
+Scherz. Ich zweifle nicht daran, dass morgen Herr Sesemann nicht
+mehr lachen wird; denn was in dem Hause vorgeht, deutet auf
+Fuerchterliches, das hier in vergangener Zeit muss vorgegangen und
+verheimlicht worden sein."
+
+"So, davon weiss ich nichts", bemerkte Herr Sesemann, "muss aber
+bitten, meine voellig ehrenwerten Ahnen nicht verdaechtigen zu wollen.
+Und nun rufen Sie mir den Sebastian ins Esszimmer, ich will
+allein mit ihm reden."
+
+Herr Sesemann ging hinueber und Sebastian erschien. Es war Herrn
+Sesemann nicht entgangen, dass Sebastian und Fraeulein Rottenmeier
+sich nicht eben mit Zuneigung betrachteten; so hatte er seine
+Gedanken.
+
+"Komm Er her, Bursche", winkte er dem Eintretenden entgegen, "und
+sag Er mir nun ganz ehrlich: Hat Er nicht etwa selbst ein wenig
+Gespenst gespielt, so um Fraeulein Rottenmeier etwas Kurzweil zu
+machen, he?"
+
+"Nein, meiner Treu, das muss der gnaedige Herr nicht glauben; es ist
+mir selbst nicht ganz gemuetlich bei der Sache", entgegnete
+Sebastian mit unverkennbarer Ehrlichkeit.
+
+"Nun, wenn es so steht, so will ich morgen Ihm und dem tapferen
+Johann zeigen, wie Gespenster beim Licht aussehen. Schaeme Er sich,
+Sebastian, ein junger, kraeftiger Bursch, wie Er ist, vor
+Gespenstern davonzulaufen! Nun geh Er unverzueglich zu meinem alten
+Freund, Doktor Classen: meine Empfehlung und er moechte unfehlbar
+heut Abend neun Uhr bei mir erscheinen; ich sei extra von Paris
+hergereist, um ihn zu konsultieren. Er muesse die Nacht bei mir
+wachen, so schlimm sei's; er solle sich richten! Verstanden,
+Sebastian?"
+
+"Jawohl, jawohl! Der gnaedige Herr kann sicher sein, dass ich's gut
+mache." Damit entfernte sich Sebastian, und Herr Sesemann kehrte zu
+seinem Toechterchen zurueck, um ihr alle Furcht vor einer Erscheinung
+zu benehmen, die er noch heute ins noetige Licht stellen wollte.
+
+Punkt neun Uhr, als die Kinder zur Ruhe gegangen und auch Fraeulein
+Rottenmeier sich zurueckgezogen hatte, erschien der Doktor, der
+unter seinen grauen Haaren noch ein recht frisches Gesicht und zwei
+lebhaft und freundlich blickende Augen zeigte. Er sah etwas
+aengstlich aus, brach aber gleich nach seiner Begruessung in ein
+helles Lachen aus und sagte, seinem Freunde auf die Schulter
+klopfend: "Nun, nun, fuer einen, bei dem man wachen soll, siehst du
+noch leidlich aus, Alter."
+
+"Nur Geduld, Alter", gab Herr Sesemann zurueck; "derjenige, fuer den
+du wachen musst, wird schon schlimmer aussehen, wenn wir ihn erst
+abgefangen haben."
+
+"Also doch ein Kranker im Haus und dazu einer, der eingefangen
+werden muss?"
+
+"Weit schlimmer, Doktor, weit schlimmer. Ein Gespenst im Hause,
+bei mir spukt's!"
+
+Der Doktor lachte laut auf.
+
+"Schoene Teilnahme das, Doktor!", fuhr Herr Sesemann fort; "schade,
+dass meine Freundin Rottenmeier sie nicht geniessen kann. Sie ist
+fest ueberzeugt, dass ein alter Sesemann hier herumrumort und
+Schauertaten abbuesst."
+
+"Wie hat sie ihn aber nur kennen gelernt?", fragte der Doktor noch
+immer sehr erheitert.
+
+Herr Sesemann erzaehlte nun seinem Freunde den ganzen Vorgang und
+wie noch jetzt allnaechtlich die Haustuer geoeffnet werde, nach der
+Angabe der saemtlichen Hausbewohner, und fuegte hinzu, um fuer alle
+Faelle vorbereitet zu sein, habe er zwei gut geladene Revolver in
+das Wachtlokal legen lassen; denn entweder sei die Sache ein sehr
+unerwuenschter Scherz, den sich vielleicht irgendein Bekannter der
+Dienerschaft mache, um die Leute des Hauses in Abwesenheit des
+Hausherrn zu erschrecken--dann koennte ein kleiner Schrecken, wie
+ein guter Schuss ins Leere, ihm nicht unheilsam sein--; oder auch
+es handle sich um Diebe, die auf diese Weise erst den Gedanken an
+Gespenster aufkommen lassen wollten, um nachher umso sicherer zu
+sein, dass niemand sich herauswage--in diesem Falle koennte eine
+gute Waffe auch nicht schaden.
+
+Waehrend dieser Erklaerungen waren die Herren die Treppe
+hinuntergestiegen und traten in dasselbe Zimmer ein, wo Johann und
+Sebastian auch gewacht hatten. Auf dem Tische standen einige
+Flaschen schoenen Weines, denn eine kleine Staerkung von Zeit zu Zeit
+konnte nicht unerwuenscht sein, wenn die Nacht da zugebracht werden
+musste. Daneben lagen die beiden Revolver, und zwei, ein helles
+Licht verbreitende Armleuchter standen mitten auf dem Tisch, denn
+so im Halbdunkel wollte Herr Sesemann das Gespenst denn doch nicht
+erwarten.
+
+Nun wurde die Tuer ans Schloss gelehnt, denn zu viel Licht durfte
+nicht in den Korridor hinausfliessen, es konnte das Gespenst
+verscheuchen. Jetzt setzten sich die Herren gemuetlich in ihre
+Lehnstuehle und fingen an, sich allerlei zu erzaehlen, nahmen auch
+hier und da dazwischen einen guten Schluck, und so schlug es zwoelf
+Uhr, eh sie sich's versahen.
+
+"Das Gespenst hat uns gewittert und kommt wohl heut gar nicht",
+sagte der Doktor jetzt.
+
+"Nur Geduld, es soll erst um ein Uhr kommen", entgegnete der Freund.
+
+Das Gespraech wurde wieder aufgenommen. Es schlug ein Uhr. Ringsum
+war es voellig still, auch auf den Strassen war aller Laerm verklungen.
+Auf einmal hob der Doktor den Finger empor.
+
+"Pst, Sesemann, hoerst du nichts?"
+
+Sie lauschten beide. Leise, aber ganz deutlich hoerten sie, wie der
+Balken zurueckgeschoben, dann der Schluessel zweimal im Schloss
+umgedreht, jetzt die Tuer geoeffnet wurde. Herr Sesemann fuhr mit
+der Hand nach seinem Revolver.
+
+"Du fuerchtest dich doch nicht?", sagte der Doktor und stand auf.
+
+"Behutsam ist besser", fluesterte Herr Sesemann, erfasste mit der
+Linken den Armleuchter mit drei Kerzen, mit der Rechten den
+Revolver und folgte dem Doktor, der, gleichermassen mit Leuchter und
+Schiessgewehr bewaffnet, voranging. Sie traten auf den Korridor
+hinaus.
+
+Durch die weit geoeffnete Tuer floss ein bleicher Mondschein herein
+und beleuchtete eine weisse Gestalt, die regungslos auf der Schwelle
+stand.
+
+"Wer da?", donnerte jetzt der Doktor heraus, dass es durch den
+ganzen Korridor hallte, und beide Herren traten nun mit Lichtern
+und Waffen an die Gestalt heran. Sie kehrte sich um und tat einen
+leisen Schrei. Mit blossen Fuessen im weissen Nachtkleidchen stand
+Heidi da, schaute mit verwirrten Blicken in die hellen Flammen und
+auf die Waffen und zitterte und bebte wie ein Blaettlein im Winde
+von oben bis unten. Die Herren schauten einander in grossem
+Erstaunen an.
+
+"Ich glaube wahrhaftig, Sesemann, es ist deine kleine
+Wassertraegerin", sagte der Doktor.
+
+"Kind, was soll das heissen?", fragte nun Herr Sesemann. "Was
+wolltest du tun? Warum bist du hier heruntergekommen?"
+
+Schneeweiss vor Schrecken stand Heidi vor ihm und sagte fast tonlos:
+"Ich weiss nicht."
+
+Jetzt trat der Doktor vor: "Sesemann, der Fall gehoert in mein
+Gebiet; geh, setz dich einstweilen in deinen Lehnstuhl drinnen, ich
+will vor allem das Kind hinbringen, wo es hingehoert."
+
+Damit legte er seinen Revolver auf den Boden, nahm das zitternde
+Kind ganz vaeterlich bei der Hand und ging mit ihm der Treppe zu.
+
+"Nicht fuerchten, nicht fuerchten", sagte er freundlich im
+Hinaufsteigen, "nur ganz ruhig sein, da ist gar nichts Schlimmes
+dabei, nur getrost sein."
+
+In Heidis Zimmer eingetreten, stellte der Doktor seinen Leuchter
+auf den Tisch, nahm Heidi auf den Arm, legte es in sein Bett hinein
+und deckte es sorgfaeltig zu. Dann setzte er sich auf den Sessel am
+Bett und wartete, bis Heidi ein wenig beruhigt war und nicht mehr
+an allen Gliedern bebte. Dann nahm er das Kind bei der Hand und
+sagte beguetigend: "So, nun ist alles in Ordnung, nun sag mir auch
+noch, wo wolltest du denn hin?"
+
+"Ich wollte gewiss nirgends hin", versicherte Heidi; "ich bin auch
+gar nicht selbst hinuntergegangen, ich war nur auf einmal da."
+
+"So, so, und hast du etwa getraeumt in der Nacht, weisst du, so, dass
+du deutlich etwas sahst und hoertest?"
+
+"Ja, jede Nacht traeumt es mir und immer gleich. Dann mein ich, ich
+sei beim Grossvater, und draussen hoer ich's in den Tannen sausen und
+denke: Jetzt glitzern so schoen die Sterne am Himmel, und ich laufe
+geschwind und mache die Tuer auf an der Huette und da ist's so schoen!
+Aber wenn ich erwache, bin ich immer noch in Frankfurt." Heidi
+fing schon an zu kaempfen und zu schlucken an dem Gewicht, das den
+Hals hinaufstieg.
+
+"Hm, und tut dir denn auch nichts weh, nirgends? Nicht im Kopf
+oder im Ruecken?"
+
+"O nein, nur hier drueckt es so wie ein grosser Stein immerfort."
+
+"Hm, etwa so, wie wenn man etwas gegessen hat und wollte es nachher
+lieber wieder zurueckgeben?"
+
+"Nein, so nicht, aber so schwer, wie wenn man stark weinen sollte."
+
+"So, so, und weinst du denn so recht heraus?"
+
+"O nein, das darf man nicht, Fraeulein Rottenmeier hat es verboten."
+
+"Dann schluckst du's herunter zum andern, nicht wahr, so? Richtig!
+Nun, du bist doch recht gern in Frankfurt, nicht?"
+
+"O ja", war die leise Antwort; sie klang aber so, als bedeute sie
+eher das Gegenteil.
+
+"Hm, und wo hast du mit deinem Grossvater gelebt?"
+
+"Immer auf der Alm."
+
+"So, da ist's doch nicht so besonders kurzweilig, eher ein wenig
+langweilig, nicht?"
+
+"O nein, da ist's so schoen, so schoen!" Heidi konnte nicht weiter;
+die Erinnerung, die eben durchgemachte Aufregung, das lang
+verhaltene Weinen ueberwaeltigten die Kraefte des Kindes; gewaltsam
+stuerzten ihm die Traenen aus den Augen und es brach in ein lautes,
+heftiges Schluchzen aus.
+
+Der Doktor stand auf; er legte freundlich Heidis Kopf auf das
+Kissen nieder und sagte: "So, noch ein klein wenig weinen, das kann
+nichts schaden, und dann schlafen, ganz froehlich einschlafen;
+morgen wird alles gut." Dann verliess er das Zimmer.
+
+Wieder unten in die Wachtstube eingetreten, liess er sich dem
+harrenden Freunde gegenueber in den Lehnstuhl nieder und erklaerte
+dem mit gespannter Erwartung Lauschenden: "Sesemann, dein kleiner
+Schuetzling ist erstens mondsuechtig; voellig unbewusst hat er dir
+allnaechtlich als Gespenst die Haustuer aufgemacht und deiner ganzen
+Mannschaft die Fieber des Schreckens ins Gebein gejagt. Zweitens
+wird das Kind vom Heimweh verzehrt, so dass es schon jetzt fast zum
+Geripplein abgemagert ist und es noch voellig werden wuerde; also
+schnelle Hilfe! Fuer das erste Uebel und die in hohem Grade
+stattfindende Nervenaufregung gibt es nur ein Heilmittel, naemlich,
+dass du sofort das Kind in die heimatliche Bergluft
+zurueckversetzest; fuer das zweite gibt's ebenfalls nur (eine)
+Medizin, naemlich ganz dieselbe. Demnach reist das Kind morgen ab,
+das ist mein Rezept."
+
+Herr Sesemann war aufgestanden. In groesster Aufregung lief er das
+Zimmer auf und ab; jetzt brach er aus: "Mondsuechtig! Krank!
+Heimweh! Abgemagert in meinem Hause! Das alles in meinem Hause!
+Und niemand sieht zu und weiss etwas davon! Und du, Doktor, du
+meinst, das Kind, das frisch und gesund in mein Haus gekommen ist,
+schicke ich elend und abgemagert seinem Grossvater zurueck? Nein,
+Doktor, das kannst du nicht verlangen, das tu ich nicht, das werde
+ich nie tun. Jetzt nimm das Kind in die Hand, mach Kuren mit ihm,
+mach, was du willst, aber mach es mir heil und gesund, dann will
+ich es heimschicken, wenn es will; aber erst hilf du!"
+
+"Sesemann", entgegnete der Doktor ernsthaft, "bedenke, was du tust!
+Dieser Zustand ist keine Krankheit, die man mit Pulvern und Pillen
+heilt. Das Kind hat keine zaehe Natur, indessen, wenn du es jetzt
+gleich wieder in die kraeftige Bergluft hinaufschickst, an die es
+gewoehnt ist, so kann es wieder voellig gesunden; wenn nicht--du
+willst nicht, dass das Kind dem Grossvater unheilbar oder gar nicht
+mehr zurueckkomme?"
+
+Herr Sesemann war erschrocken stehen geblieben: "Ja, wenn du so
+redest, Doktor, dann ist nur (ein) Weg, dann muss sofort gehandelt
+werden." Mit diesen Worten nahm Herr Sesemann den Arm seines
+Freundes und wanderte mit ihm hin und her, um die Sache noch weiter
+zu besprechen. Dann brach der Doktor auf, um nach Hause zu gehen,
+denn es war unterdessen viel Zeit vergangen, und durch die Haustuer,
+die diesmal vom Herrn des Hauses aufgeschlossen wurde, drang schon
+der helle Morgenschimmer herein.
+
+
+
+
+Am Sommerabend die Alm hinan
+
+Herr Sesemann stieg in grosser Erregtheit die Treppe hinauf und
+wanderte mit festem Schritt zum Schlafgemach der Dame Rottenmeier.
+Hier klopfte er so ungewoehnlich kraeftig an die Tuer, dass die
+Bewohnerin mit einem Schreckensruf aus dem Schlaf auffuhr. Sie
+hoerte die Stimme des Hausherrn draussen: "Bitte sich zu beeilen und
+im Esszimmer zu erscheinen, es muss sofort eine Abreise vorbereitet
+werden."
+
+Fraeulein Rottenmeier schaute auf ihre Uhr, es war halb fuenf des
+Morgens; zu solcher Stunde war sie in ihrem Leben noch nie
+aufgestanden. Was konnte nur vorgefallen sein? Vor Neugierde und
+angstvoller Erwartung nahm sie alles verkehrt in die Hand und kam
+durchaus nicht vorwaerts, denn was sie einmal auf den Leib gebracht
+hatte, suchte sie nachher rastlos im Zimmer herum.
+
+Unterdessen ging Herr Sesemann den Korridor entlang und zog mit
+aller Kraft an jedem Glockenzug, der je fuer die verschiedenen
+Glieder der Dienerschaft angebracht war, so dass in jedem der
+betreffenden Zimmer eine Schreckensgestalt aus dem Bett sprang und
+verkehrt in die Kleider fuhr, denn einer wie der andere dachte
+sogleich, das Gespenst habe irgendwie den Hausherrn gepackt und
+dies sei sein Hilferuf. So kamen sie nach und nach, einer
+schauerlicher aussehend als der andere, herunter und stellten sich
+mit Erstaunen vor den Hausherrn hin, denn dieser ging frisch und
+munter im Esszimmer auf und ab und sah keineswegs aus, als habe ihn
+ein Gespenst erschreckt. Johann wurde sofort hingeschickt, Pferde
+und Wagen in Ordnung zu bringen und sie nachher vorzufuehren.
+Tinette erhielt den Auftrag, sogleich Heidi aufzuwecken und es in
+den Stand zu stellen, eine Reise anzutreten. Sebastian erhielt den
+Auftrag, nach dem Hause zu eilen, wo Heidis Base im Dienst stand,
+und diese herbeizuholen. Fraeulein Rottenmeier war unterdessen
+zurechtgekommen mit ihrem Anzug, und alles sass, wie es musste, nur
+die Haube sass verkehrt auf dem Kopf, so dass es von weitem aussah,
+als sitze ihr das Gesicht auf dem Ruecken. Herr Sesemann schrieb
+den raetselhaften Anblick dem fruehen Schlafbrechen zu und ging
+unverweilt an die Geschaeftsverhandlungen. Er erklaerte der Dame,
+sie habe ohne Zoegern einen Koffer zur Stelle zu schaffen, die
+saemtliche Habe des Schweizerkindes hineinzupacken--so nannte Herr
+Sesemann gewoehnlich das Heidi, dessen Name ihm etwas ungewohnt war--
+, dazu noch einen guten Teil von Klaras Zeug, damit das Kind was
+Rechtes mitbringe; es muesse aber alles schnell und ohne langes
+Besinnen vor sich gehen.
+
+Fraeulein Rottenmeier blieb vor Ueberraschung wie in den Boden
+eingewurzelt stehen und starrte Herrn Sesemann an. Sie hatte
+erwartet, er wolle ihr im Vertrauen die Mitteilung einer
+schauerlichen Geistergeschichte machen, die er in der Nacht erlebt
+und die sie eben jetzt bei dem hellen Morgenlicht nicht ungern
+gehoert haette; stattdessen diese voellig prosaischen und dazu noch
+sehr unbequemen Auftraege. So schnell konnte sie das Unerwartete
+nicht bewaeltigen. Sprachlos stand sie immer noch da und erwartete
+ein Weiteres.
+
+Aber Herr Sesemann hatte keine Erklaerungen im Sinn; er liess die
+Dame stehen, wo sie stand, und ging nach dem Zimmer seiner Tochter.
+Wie er vermutet hatte, war diese durch die ungewoehnliche Bewegung
+im Hause wach geworden und lauschte nach allen Seiten hin, was wohl
+vorgehe. Der Vater setzte sich nun an ihr Bett und erzaehlte ihr
+den ganzen Verlauf der Geistererscheinung und dass Heidi nach des
+Doktors Ausspruch sehr angegriffen sei und wohl nach und nach seine
+naechtlichen Wanderungen ausdehnen, vielleicht gar das Dach
+besteigen wuerde, was dann mit den hoechsten Gefahren verbunden waere.
+Er habe also beschlossen, das Kind sofort heimzuschicken, denn
+solche Verantwortung koenne er nicht auf sich nehmen, und Klara
+muesse sich dareinfinden, sie sehe ja ein, dass es nicht anders sein
+koenne.
+
+Klara war sehr schmerzlich ueberrascht von der Mitteilung und wollte
+erst allerlei Auswege finden, aber es half nichts, der Vater blieb
+fest bei seinem Entschluss, versprach aber, im naechsten Jahre mit
+Klara nach der Schweiz zu reisen, wenn sie nun recht vernuenftig sei
+und keinen Jammer erhebe. So ergab sich Klara in das
+Unvermeidliche, begehrte aber zum Ersatz, dass der Koffer fuer Heidi
+in ihr Zimmer gebracht und da gepackt werde, damit sie
+hineinstecken koenne, was ihr Freude mache, was der Papa sehr gern
+bewilligte, ja er ermunterte Klara noch, dem Kinde eine schoene
+Aussteuer zurechtzumachen. Unterdessen war die Base Dete angelangt
+und stand in grosser Erwartung im Vorzimmer, denn dass sie um diese
+ungewoehnliche Zeit einberufen worden war, musste etwas
+Ausserordentliches bedeuten. Herr Sesemann trat zu ihr heraus und
+erklaerte ihr, wie es mit Heidi stehe und dass er wuensche, sie
+moechte das Kind sofort, gleich heute noch, nach Hause bringen. Die
+Base sah sehr enttaeuscht aus; diese Nachricht hatte sie nicht
+erwartet. Sie erinnerte sich auch noch recht wohl der Worte, die
+ihr der Oehi mit auf den Weg gegeben hatte, dass sie ihm nie mehr
+vor die Augen kommen solle, und so das Kind dem Alten einmal
+bringen und dann nehmen und dann wiederbringen, das schien ihr
+nicht ganz geraten zu sein. Sie besann sich also nicht lange,
+sondern sagte mit grosser Beredsamkeit, heute waere es ihr leider
+voellig unmoeglich, die Reise anzutreten, und morgen koennte sie noch
+weniger daran denken, und die Tage darauf waere es am
+allerunmoeglichsten, um der darauf folgenden Geschaefte willen, und
+nachher koennte sie dann gar nicht mehr. Herr Sesemann verstand die
+Sprache und entliess die Base ohne weiteres. Nun liess er den
+Sebastian vortreten und erklaerte ihm, er habe sich unverzueglich zur
+Reise zu ruesten; heute habe er mit dem Kinde bis nach Basel zu
+fahren, morgen bringe er es heim. Dann koenne er sogleich wieder
+umkehren, zu berichten habe er nichts, ein Brief an den Grossvater
+werde diesem alles erklaeren.
+
+"Nun aber noch eine Hauptsache, Sebastian", schloss Herr Sesemann,
+"und dass Er mir das puenktlich besorgt! Den Gasthof in Basel, den
+ich Ihm hier auf meine Karte geschrieben, kenne ich. Er weist
+meine Karte vor, dann wird Ihm ein gutes Zimmer angewiesen werden
+fuer das Kind; fuer sich selbst wird Er schon sorgen. Dann geht Er
+erst in des Kindes Zimmer hinein und verrammelt alle Fenster so
+vollstaendig, dass nur grosse Gewalt sie aufzubringen vermoechte. Ist
+das Kind zu Bett, so geht Er und schliesst von aussen die Tuer ab,
+denn das Kind wandert herum in der Nacht und koennte Gefahr laufen
+in dem fremden Haus, wenn es etwa hinausginge und die Haustuer
+aufmachen wollte; versteht Er das?"
+
+"Ah! Ah! Ah! Das war's? So war's?", stiess Sebastian jetzt in
+groesster Verwunderung aus, denn es war ihm eben ein grosses Licht
+aufgegangen ueber die Geistererscheinung.
+
+"Ja, so war's! Das war's! Und Er ist ein Hasenfuss, und dem Johann
+kann Er sagen, er sei desgleichen und alle miteinander eine
+laecherliche Mannschaft." Damit ging Herr Sesemann nach seiner Stube,
+setzte sich hin und schrieb einen Brief an den Alm-Oehi.
+
+Sebastian war verdutzt mitten im Zimmer stehen geblieben und
+wiederholte jetzt zu oefteren Malen in seinem Innern: "Haett ich mich
+doch von dem Feigling von einem Johann nicht in die Wachtstube
+hineinreissen lassen, sondern waere dem weissen Figuerchen nachgegangen,
+was ich doch jetzt unzweifelhaft tun wuerde!", denn jetzt
+beleuchtete die helle Sonne jeden Winkel der hellgrauen Stube mit
+voller Klarheit.
+
+Unterdessen stand Heidi voellig ahnungslos in seinem
+Sonntagsroeckchen und wartete ab, was geschehen sollte, denn die
+Tinette hatte es nur aus dem Schlafe aufgeruettelt, die Kleider aus
+dem Schrank genommen und das Anziehen gefoerdert, ohne ein Wort zu
+sagen. Sie sprach niemals mit dem ungebildeten Heidi, denn das war
+ihr zu gering.
+
+Herr Sesemann trat mit seinem Brief ins Esszimmer ein, wo das
+Fruehstueck bereitstand, und rief: "Wo ist das Kind?"
+
+Heidi wurde gerufen. Als es zu Herrn Sesemann herantrat, um ihm
+'guten Morgen' zu sagen, schaute er ihm fragend ins
+Gesicht: "Nun, was sagst du denn dazu, Kleine?"
+
+Heidi blickte verwundert zu ihm auf.
+
+"Du weisst am Ende noch gar nichts", lachte Herr Sesemann. "Nun,
+heut gehst du heim, jetzt gleich."
+
+"Heim?", wiederholte Heidi tonlos und wurde schneeweiss, und eine
+kleine Weile konnte es gar keinen Atem mehr holen, so stark wurde
+sein Herz von dem Eindruck gepackt.
+
+"Nun, willst du etwa nichts wissen davon?", fragte Herr Sesemann
+laechelnd.
+
+"O ja, ich will schon", kam jetzt heraus, und nun war Heidi
+dunkelrot geworden.
+
+"Gut, gut", sagte Herr Sesemann ermunternd, indem er sich setzte
+und Heidi winkte, dasselbe zu tun. "Und nun tuechtig fruehstuecken
+und hernach in den Wagen und fort."
+
+Aber Heidi konnte keinen Bissen herunterbringen, wie es sich auch
+zwingen wollte aus Gehorsam; es war in einem Zustand von Aufregung,
+dass es gar nicht wusste, ob es wache oder traeume und ob es
+vielleicht wieder auf einmal erwachen und im Nachthemdchen an der
+Haustuer stehen werde.
+
+"Sebastian soll reichlich Proviant mitnehmen", rief Herr Sesemann
+Fraeulein Rottenmeier zu, die eben eintrat; "das Kind kann nicht
+essen, begreiflicherweise.--Geh hinueber zu Klara, bis der Wagen
+vorfaehrt", setzte er freundlich, zu Heidi gewandt, hinzu.
+
+Das war Heidis Wunsch: Es sprang hinueber. Mitten in Klaras Zimmer
+war ein ungeheurer Koffer zu sehen, noch stand dessen Deckel weit
+offen.
+
+"Komm, Heidi, komm", rief ihm Klara entgegen. "Sieh, was ich dir
+habe einpacken lassen, komm, freut's dich?"
+
+Und sie nannte ihm eine ganze Menge von Dingen, Kleider und
+Schuerzen, Tuecher und Naehgeraet, "und sieh hier, Heidi", und Klara
+hob triumphierend einen Korb in die Hoehe. Heidi guckte hinein und
+sprang hoch auf vor Freude, denn drinnen lagen wohl zwoelf schoene,
+weisse, runde Broetchen, alle fuer die Grossmutter. Die Kinder
+vergassen in ihrem Jubel ganz, dass nun der Augenblick komme, da sie
+sich trennen mussten, und als mit einem Mal der Ruf erschallte:
+"Der Wagen ist bereit!"--da war keine Zeit mehr zum Traurigwerden.
+Heidi lief in sein Zimmer, da musste noch ein schoenes Buch von der
+Grossmama liegen, niemand konnte es eingepackt haben, denn es lag
+unter dem Kopfkissen, weil Heidi Tag und Nacht sich nicht davon
+trennen konnte. Das wurde in den Korb auf die Broetchen gelegt.
+Dann machte es seinen Schrank auf; noch suchte es nach einem Gute,
+das man vielleicht auch nicht eingepackt hatte. Richtig--auch das
+alte rote Tuch lag noch da, Fraeulein Rottenmeier hatte es zu gering
+erachtet, um mit eingepackt zu werden. Heidi wickelte es um einen
+anderen Gegenstand und legte es zuoberst auf den Korb, so dass das
+rote Paket sehr sichtbar zur Erscheinung kam. Dann setzte es sein
+schoenes Huetchen auf und verliess sein Zimmer.
+
+Die beiden Kinder mussten sich schnell Lebewohl sagen, denn Herr
+Sesemann stand schon da, um Heidi nach dem Wagen zu bringen.
+Fraeulein Rottenmeier stand oben an der Treppe, um hier Heidi zu
+verabschieden. Als sie das seltsame rote Buendelchen erblickte,
+nahm sie es schnell aus dem Korb heraus und warf es auf den Boden.
+
+"Nein, Adelheid", sagte sie tadelnd, "so kannst du nicht reisen von
+diesem Hause aus; solches Zeug brauchst du ueberhaupt nicht
+mitzuschleppen. Nun lebe wohl."
+
+Auf dieses Verbot hin durfte Heidi sein Buendelchen nicht wieder
+aufnehmen, aber es schaute mit einem flehentlichen Blick zu dem
+Hausherrn auf, so, als wollte man ihm seinen groessten Schatz nehmen.
+
+"Nein, nein", sagte Herr Sesemann in sehr bestimmtem Tone, "das
+Kind soll mit heimtragen, was ihm Freude macht, und sollte es auch
+junge Katzen oder Schildkroeten mit fortschleppen, so wollen wir uns
+darueber nicht aufregen, Fraeulein Rottenmeier."
+
+Heidi hob eilig sein Buendelchen wieder vom Boden auf, und Dank und
+Freude leuchteten ihm aus den Augen. Unten am Wagen reichte Herr
+Sesemann dem Kinde die Hand und sagte ihm mit freundlichen Worten,
+sie wuerden seiner gedenken, er und seine Tochter Klara; er wuenschte
+ihm alles Gute auf den Weg, und Heidi dankte recht schoen fuer alle
+Guttaten, die ihm zuteil geworden waren, und zum Schluss sagte es:
+"Und den Herrn Doktor lasse ich tausendmal gruessen und ihm auch
+vielmals danken." Denn es hatte sich wohl gemerkt, wie er gestern
+Abend gesagt hatte: "Und morgen wird alles gut." Nun war es so
+gekommen, und Heidi dachte, er habe dazu geholfen.
+
+Jetzt wurde das Kind in den Wagen gehoben und der Korb und die
+Provianttasche und der Sebastian kamen nach. Herr Sesemann rief
+noch einmal freundlich: "Glueckliche Reise!", und der Wagen rollte
+davon.
+
+Bald nachher sass Heidi in der Eisenbahn und hielt unbeweglich
+seinen Korb auf dem Schosse fest, denn es wollte ihn nicht einen
+Augenblick aus den Haenden lassen, seine kostbaren Broetchen fuer die
+Grossmutter waren ja darin, die musste es sorgfaeltig hueten und von
+Zeit zu Zeit einmal wieder ansehen und sich freuen darueber. Heidi
+sass maeuschenstille waehrend mehrerer Stunden, denn erst jetzt kam es
+recht zum Bewusstsein, dass es auf dem Wege sei heim zum Grossvater,
+auf die Alm, zur Grossmutter, zum Geissenpeter, und nun kam ihm alles
+vor Augen, eins nach dem anderen, was es wieder sehen werde und wie
+alles aussehen werde daheim, und dabei stiegen ihm wieder neue
+Gedanken auf, und auf einmal sagte es aengstlich: "Sebastian, ist
+auch sicher die Grossmutter auf der Alm nicht gestorben?"
+
+"Nein, nein", beruhigte dieser, "wollen's nicht hoffen, wird schon
+noch am Leben sein."
+
+Dann fiel Heidi wieder in sein Sinnen zurueck; nur hier und da
+guckte es einmal in seinen Korb hinein, denn alle die Broetchen der
+Grossmutter auf den Tisch legen war sein Hauptgedanke. Nach
+laengerer Zeit sagte es wieder: "Sebastian, wenn man nur auch ganz
+sicher wissen koennte, dass die Grossmutter noch am Leben ist."
+
+"Jawohl! Jawohl!", entgegnete der Begleiter halb schlafend; "Wird
+schon noch leben, wuesste auch gar nicht, warum nicht."
+
+Nach einiger Zeit drueckte der Schlaf auch Heidis Augen zu, und nach
+der vergangenen unruhigen Nacht und dem fruehen Aufstehen war es so
+schlafbeduerftig, dass es erst wieder erwachte, als Sebastian es
+tuechtig am Arm schuettelte und ihm zurief: "Erwachen! Erwachen!
+Gleich aussteigen, in Basel angekommen!"
+
+Am folgenden Morgen ging's weiter, viele Stunden lang. Heidi sass
+wieder mit seinem Korb auf dem Schoss, den es um keinen Preis dem
+Sebastian uebergeben wollte; aber heute sagte es gar nichts mehr,
+denn nun wurde mit jeder Stunde die Erwartung gespannter. Dann auf
+einmal, als Heidi gar nicht daran dachte, ertoente laut der Ruf:
+"Maienfeld!" Es sprang von seinem Sitz auf, und dasselbe tat
+Sebastian, der auch ueberrascht worden war. Jetzt standen sie
+draussen, der Koffer mit ihnen, und der Bahnzug pfiff weiter ins Tal
+hinein. Sebastian sah ihm wehmuetig nach, denn er waere viel lieber
+so sicher und ohne Muehe weitergereist, als dass er nun eine
+Fusspartie unternehmen sollte, die dazu noch mit einer
+Bergbesteigung enden musste, die sehr beschwerlich und dazu
+gefahrvoll sein konnte in diesem Lande, wo doch alles noch halb
+wild war, wie Sebastian annahm. Er schaute daher sehr vorsichtig
+um sich, wen er etwa beraten koennte ueber den sichersten Weg nach
+dem 'Doerfli'. Unweit des kleinen Stationsgebaeudes
+stand ein kleiner Leiterwagen mit einem mageren Roesslein davor; auf
+diesen wurden von einem breitschultrigen Manne ein paar grosse Saecke
+aufgeladen, die mit der Bahn hergebracht worden waren. Sebastian
+trat zu ihm heran und brachte seine Frage nach dem sichersten Weg
+zum Doerfli vor.
+
+"Hier sind alle Wege sicher", war die kurze Antwort.
+
+Jetzt fragte Sebastian nach dem besten Wege, auf dem man gehen
+koenne, ohne in die Abgruende zu stuerzen, und auch wie man einen
+Koffer nach dem betreffenden Doerfli befoerdern koennte. Der Mann
+schaute nach dem Koffer hin und mass ihn ein wenig mit den Augen;
+dann erklaerte er, wenn das Ding nicht zu schwer sei, so wolle er es
+auf seinen Wagen nehmen, da er selbst nach dem Doerfli fahre, und so
+gab noch ein Wort das andere, und endlich kamen die beiden ueberein,
+der Mann solle Kind und Koffer mit auf seinen Wagen nehmen, und
+nachher vom Doerfli aus koenne das Kind am Abend mit irgendjemand auf
+die Alm geschickt werden.
+
+"Ich kann allein gehen, ich weiss schon den Weg vom Doerfli auf die
+Alm", sagte hier Heidi, das mit Aufmerksamkeit der Verhandlung
+zugehoert hatte. Dem Sebastian fiel eine schwere Last vom Herzen,
+als er sich so auf einmal seiner Aussicht auf das Bergklettern
+entledigt sah. Er winkte nun Heidi geheimnisvoll auf die Seite und
+ueberreichte ihm hier eine schwere Rolle und einen Brief an den
+Grossvater und erklaerte ihm, die Rolle sei ein Geschenk von Herrn
+Sesemann, die muesse aber zuunterst in den Korb gesteckt werden,
+noch unter die Broetchen, und darauf muesse genau Acht gegeben werden,
+dass sie nicht verloren gehe, denn darueber wuerde Herr Sesemann
+ganz fuerchterlich boese und sein Leben lang nie mehr gut werden; das
+sollte das Mamsellchen nur ja bedenken.
+
+"Ich verliere sie schon nicht", sagte Heidi zuversichtlich und
+steckte die Rolle samt dem Brief zuallerunterst in den Korb hinein.
+Nun wurde der Koffer aufgeladen, und nachher hob Sebastian Heidi
+samt seinem Korb auf den hohen Sitz empor, reichte ihm seine Hand
+hinauf zum Abschied und ermahnte es noch einmal mit allerlei
+Zeichen, auf den Inhalt des Korbes ein Auge zu haben; denn der
+Fuehrer war noch in der Naehe, und Sebastian war vorsichtig,
+besonders jetzt, da er wusste, er haette eigentlich selbst das Kind
+an Ort und Stelle bringen sollen. Der Fuehrer schwang sich jetzt
+neben Heidi auf den Sitz hinauf, und der Wagen rollte den Bergen zu,
+waehrend Sebastian, froh ueber seine Befreiung von der gefuerchteten
+Bergreise, sich am Stationshaeuschen niedersetzte, um den
+zurueckgehenden Bahnzug abzuwarten.
+
+Der Mann auf dem Wagen war der Baecker vom Doerfli, welcher seine
+Mehlsaecke nach Hause fuhr. Er hatte Heidi nie gesehen, aber wie
+jedermann im Doerfli wusste er von dem Kinde, das man dem Alm-Oehi
+gebracht hatte; auch hatte er Heidis Eltern gekannt und sich gleich
+vorgestellt, er werde es mit dem viel besprochenen Kinde hier zu
+tun haben. Es wunderte ihn nun ein wenig, warum das Kind schon
+wieder heimkommen und waehrend der Fahrt fing er nun mit Heidi ein
+Gespraech an: "Du wirst das Kind sein, das oben beim Alm-Oehi war,
+beim Grossvater?"
+
+"Ja."
+
+"So ist es dir schlecht gegangen, dass du schon wieder von so weit
+her heimkommst?"
+
+"Nein, das ist es mir nicht; kein Mensch kann es so gut haben, wie
+man es in Frankfurt hat."
+
+"Warum laeufst du denn heim?"
+
+"Nur weil es mir der Herr Sesemann erlaubt hat, sonst waer ich nicht
+heimgelaufen."
+
+"Pah, warum bist du denn aber nicht lieber dort geblieben, wenn man
+dir's erlaubt hat, heimzugehen?"
+
+"Weil ich tausendmal lieber heimwill zum Grossvater auf die Alm als
+sonst alles auf der Welt."
+
+"Denkst vielleicht anders, wenn du hinaufkommst", brummte der
+Baecker; "nimmt mich aber doch wunder", sagte er dann zu sich selbst,
+"es kann wissen, wie's ist."
+
+Nun fing er an zu pfeifen und sagte nichts mehr, und Heidi schaute
+um sich und fing an innerlich zu zittern vor Erregung, denn es
+erkannte die Baeume am Wege, und drueben standen die hohen Zacken des
+Falknis-Berges und schauten zu ihm herueber, so als gruessten sie es
+wie gute alte Freunde; und Heidi gruesste wieder, und mit jedem
+Schritt vorwaerts wurde Heidis Erwartung gespannter, und es meinte,
+es muesse vom Wagen herunterspringen und aus allen Kraeften laufen,
+bis es ganz oben waere. Aber es blieb doch still sitzen und ruehrte
+sich nicht, aber alles zitterte an ihm. Jetzt fuhren sie im Doerfli
+ein, eben schlug die Glocke fuenf Uhr. Augenblicklich sammelte sich
+eine Gesellschaft von Kindern und Frauen um den Wagen herum, und
+ein paar Nachbarn traten auch noch herzu, denn der Koffer und das
+Kind auf des Baeckers Wagen hatten die Aufmerksamkeit aller
+Umwohnenden auf sich gezogen, und jeder wollte wissen, woher und
+wohin und wem beide zugehoerten. Als der Baecker Heidi
+heruntergehoben hatte, sagte es eilig: "Danke, der Grossvater holt
+dann schon den Koffer", und wollte davonrennen. Aber von allen
+Seiten wurde es festgehalten, und eine Menge von Stimmen fragten
+alle auf einmal, jede etwas Eigenes. Heidi draengte sich mit einer
+solchen Angst auf dem Gesichte durch die Leute, dass man ihm
+unwillkuerlich Platz machte und es laufen liess, und einer sagte zum
+anderen: "Du siehst ja, wie es sich fuerchtet, es hat auch alle
+Ursache." Und dann fingen sie noch an, sich zu erzaehlen, wie der
+Alm-Oehi seit einem Jahr noch viel aerger geworden sei als vorher und
+mit keinem Menschen mehr ein Wort rede und ein Gesicht mache, als
+wolle er am liebsten jeden umbringen, der ihm in den Weg komme, und
+wenn das Kind auf der ganzen Welt noch wuesste wohin, so liefe es
+nicht in das alte Drachennest hinauf. Aber hier fiel der Baecker in
+das Gespraech ein und sagte, er werde wohl mehr wissen als sie alle,
+und erzaehlte dann sehr geheimnisvoll, wie ein Herr das Kind bis
+nach Maienfeld gebracht und es ganz freundlich entlassen habe und
+auch gleich ohne Markten ihm den geforderten Fahrpreis und dazu
+noch ein Trinkgeld gegeben habe, und ueberhaupt koenne er sicher
+sagen, dass es dem Kind wohl genug gewesen sei, wo es war, und es
+selbst begehrt habe, zum Grossvater zurueckzugehen. Diese Nachricht
+brachte eine grosse Verwunderung hervor und wurde nun gleich im
+ganzen Doerfli so verbreitet, dass noch am gleichen Abend kein Haus
+daselbst war, in dem man nicht davon redete, dass das Heidi aus
+allem Wohlleben zum Grossvater zurueckbegehrt habe.
+
+Heidi lief vom Doerfli bergan, so schnell es nur konnte; von Zeit zu
+Zeit musste es aber ploetzlich stille stehen, denn es hatte ganz den
+Atem verloren; sein Korb am Arm war doch ziemlich schwer, und dazu
+ging es nun immer steiler, je hoeher hinauf es ging. Heidi hatte
+nur noch einen Gedanken: "Wird auch die Grossmutter noch auf ihrem
+Plaetzchen sitzen am Spinnrad in der Ecke, ist sie auch nicht
+gestorben unterdessen?" Jetzt erblickte Heidi die Huette oben in der
+Vertiefung an der Alm, sein Herz fing an zu klopfen, Heidi rannte
+noch mehr, immer mehr und immer lauter schlug ihm das Herz. Jetzt
+war es oben--vor Zittern konnte es fast die Tuer nicht aufmachen--
+doch jetzt--es sprang hinein bis mitten in die kleine Stube und
+stand da, voellig ausser Atem, und brachte keinen Ton hervor.
+
+"Ach du mein Gott", toente es aus der Ecke hervor, "so sprang unser
+Heidi herein, ach, wenn ich es noch ein Mal im Leben bei mir haben
+koennte! Wer ist hereingekommen?"
+
+"Da bin ich ja, Grossmutter, da bin ich ja", rief Heidi jetzt und
+stuerzte nach der Ecke und gleich auf seine Knie zu der Grossmutter
+heran, fasste ihren Arm und ihre Haende und legte sich an sie und
+konnte vor Freude gar nichts mehr sagen. Erst war die Grossmutter
+so ueberrascht, dass auch sie kein Wort hervorbringen konnte; dann
+fuhr sie mit der Hand streichelnd ueber Heidis Kraushaare hin, und
+nun sagte sie ein Mal ueber das andere: "Ja, ja, das sind seine
+Haare und es ist ja seine Stimme, ach du lieber Gott, dass du mich
+das noch erleben laesst!" Und aus den blinden Augen fielen ein paar
+grosse Freudentraenen auf Heidis Hand nieder. "Bist du's auch, Heidi,
+bist du auch sicher wieder da?"
+
+"Ja, ja, sicher, Grossmutter", rief Heidi nun mit aller Zuversicht,
+"weine nur nicht, ich bin ganz gewiss wieder da und komme alle Tage
+zu dir und gehe nie wieder fort, und du musst auch manchen Tag kein
+hartes Brot mehr essen, siehst du, Grossmutter, siehst du?"
+
+Und Heidi packte nun aus seinem Korb ein Broetchen nach dem andern
+aus, bis es alle zwoelf auf dem Schoss der Grossmutter aufgehaeuft
+hatte.
+
+"Ach Kind! Ach Kind! Was bringst du denn fuer einen Segen mit!",
+rief die Grossmutter aus, als es nicht enden wollte mit den Broetchen
+und immer noch eines folgte. "Aber der groesste Segen bist du mir
+doch selber, Kind!" Dann griff sie wieder in Heidis krause Haare
+und strich ueber seine heissen Wangen und sagte wieder: "Sag noch ein
+Wort, Kind, sag noch etwas, dass ich dich hoeren kann."
+
+Heidi erzaehlte nun der Grossmutter, welche grosse Angst es habe
+ausstehen muessen, sie sei vielleicht gestorben unterdessen und habe
+nun gar nie die weissen Broetchen bekommen, und es koenne nie, nie
+mehr zu ihr gehen.
+
+Jetzt trat Peters Mutter herein und blieb einen Augenblick
+unbeweglich stehen vor Erstaunen. Dann rief sie: "Sicher, es ist
+das Heidi, wie kann auch das sein!"
+
+Heidi stand auf und gab ihr die Hand, und die Brigitte konnte sich
+gar nicht genug verwundern darueber, wie Heidi aussehe, und ging um
+das Kind herum und sagte: "Grossmutter, wenn du doch nur sehen
+koenntest, was fuer ein schoenes Roecklein das Heidi hat und wie es
+aussieht; man kennt es fast nicht mehr. Und das Federnhuetlein auf
+dem Tisch gehoert dir auch noch? Setz es doch einmal auf, so kann
+ich sehen, wie du drin aussiehst."
+
+"Nein, ich will nicht", erklaerte Heidi, "du kannst es haben, ich
+brauche es nicht mehr, ich habe schon noch mein eigenes." Damit
+machte Heidi sein rotes Buendelchen auf und nahm sein altes Huetchen
+daraus hervor, das auf der Reise zu den Knicken, die es schon
+vorher gehabt, noch einige bekommen hatte. Aber das kuemmerte das
+Heidi wenig; es hatte ja nicht vergessen, wie der Grossvater beim
+Abschied nachgerufen hatte, in einem Federnhut wolle er es niemals
+sehen; darum hatte Heidi sein Huetchen so sorgfaeltig aufgehoben,
+denn es dachte ja immer ans Heimgehen zum Grossvater. Aber die
+Brigitte sagte, so einfaeltig muesse es nicht sein, es sei ja ein
+praechtiges Huetchen, das nehme sie nicht; man koennte es ja etwa dem
+Toechterlein vom Lehrer im Doerfli verkaufen und noch viel Geld
+bekommen, wenn es das Huetlein nicht tragen wolle. Aber Heidi blieb
+bei seinem Vorhaben und legte das Huetchen leise hinter die
+Grossmutter in den Winkel, wo es ganz verborgen war. Dann zog Heidi
+auf einmal sein schoenes Roecklein aus, und ueber das Unterroeckchen,
+in dem es nun mit blossen Armen dastand, band es das rote Halstuch,
+und nun fasste es die Hand der Grossmutter und sagte: "Jetzt muss
+ich heim zum Grossvater, aber morgen komm ich wieder zu dir; gute
+Nacht, Grossmutter."
+
+"Ja, komm auch wieder, Heidi, komm auch morgen wieder", bat die
+Grossmutter und drueckte seine Hand zwischen den ihrigen und konnte
+das Kind fast nicht loslassen.
+
+"Warum hast du denn dein schoenes Roecklein ausgezogen?", fragte die
+Brigitte.
+
+"Weil ich lieber so zum Grossvater will, sonst kennt er mich
+vielleicht nicht mehr, du hast mich ja auch fast nicht gekannt
+darin."
+
+Die Brigitte ging noch mit Heidi vor die Tuer hinaus, und hier sagte
+sie ein wenig geheimnisvoll zu ihm: "Den Rock haettest du schon
+anbehalten koennen, er haette dich doch gekannt; aber sonst musst du
+dich in Acht nehmen; der Peterli sagt, der Alm-Oehi sei jetzt immer
+boes und rede kein Wort mehr."
+
+Heidi sagte 'gute Nacht' und stieg die Alm hinan mit
+seinem Korb am Arm. Die Abendsonne leuchtete ringsum auf die gruene
+Alm, und jetzt war auch drueben das grosse Schneefeld an der
+Schesaplana sichtbar geworden und strahlte herueber. Heidi musste
+alle paar Schritte wieder stille stehen und sich umkehren, denn die
+hohen Berge hatte es im Ruecken beim Hinaufsteigen. Jetzt fiel ein
+roter Schimmer vor seinen Fuessen auf das Gras, es kehrte sich um, da
+--so hatte es die Herrlichkeit nicht mehr im Sinn gehabt und auch
+nie so im Traum gesehen--die Felshoerner am Falknis flammten zum
+Himmel auf, das weite Schneefeld gluehte und rosenrote Wolken zogen
+darueber hin; das Gras rings auf der Alm war golden, von allen
+Felsen flimmerte und leuchtete es nieder und unten schwamm weithin
+das ganze Tal in Duft und Gold. Heidi stand mitten in der
+Herrlichkeit, und vor Freude und Wonne liefen ihm die hellen Traenen
+die Wangen herunter, und es musste die Haende falten und in den
+Himmel hinaufschauen und ganz laut dem lieben Gott danken, dass er
+es wieder heimgebracht hatte und dass alles, alles noch so schoen
+sei und noch viel schoener, als es gewusst hatte, und dass alles
+wieder ihm gehoere; und Heidi war so gluecklich und so reich in all
+der grossen Herrlichkeit, dass es gar nicht Worte fand, dem lieben
+Gott genug zu danken. Erst als das Licht ringsum vergluehte, konnte
+Heidi wieder von der Stelle weg; nun rannte es aber so den Berg
+hinan, dass es gar nicht lange dauerte, so erblickte es oben die
+Tannenwipfel ueber dem Dache und jetzt das Dach und die ganze Huette,
+und auf der Bank an der Huette sass der Grossvater und rauchte sein
+Pfeifchen, und ueber die Huette her wogten die alten Tannenwipfel und
+raschelten im Abendwind. Jetzt rannte das Heidi noch mehr, und
+bevor der Alm-Oehi nur recht sehen konnte, was da herankam, stuerzte
+das Kind schon auf ihn hin, warf seinen Korb auf den Boden und
+umklammerte den Alten, und vor Aufregung des Wiedersehens konnte es
+nichts sagen, als nur immer ausrufen: "Grossvater! Grossvater!
+Grossvater!"
+
+Der Grossvater sagte auch nichts. Seit vielen Jahren waren ihm zum
+erstenmal wieder die Augen nass geworden, und er musste mit der
+Hand darueber fahren. Dann loeste er Heidis Arme von seinem Hals,
+setzte das Kind auf seine Knie und betrachtete es einen Augenblick.
+"So, bist du wieder heimgekommen, Heidi", sagte er dann; "wie ist
+das? Besonders hoffaertig siehst du nicht aus, haben sie dich
+fortgeschickt?"
+
+"O nein, Grossvater", fing Heidi nun mit Eifer an, "das musst du
+nicht glauben, sie waren alle so gut, die Klara und die Grossmama
+und der Herr Sesemann; aber siehst du, Grossvater, ich konnte es
+fast gar nicht mehr aushalten, bis ich wieder bei dir daheim sein
+koennte, und ich habe manchmal gemeint, ich muesse ganz ersticken, so
+hat es mich gewuergt; aber ich habe gewiss nichts gesagt, weil es
+undankbar war. Aber dann auf einmal an einem Morgen rief mich der
+Herr Sesemann ganz frueh--aber ich glaube, der Herr Doktor war
+schuld daran--aber es steht vielleicht alles in dem Brief"--damit
+sprang Heidi auf den Boden und holte seinen Brief und seine Rolle
+aus dem Korb herbei und legte beide in die Hand des Grossvaters.
+
+"Das gehoert dir", sagte dieser und legte die Rolle neben sich auf
+die Bank. Dann nahm er den Brief und las ihn durch: Ohne ein Wort
+zu sagen, steckte er dann das Blatt in die Tasche.
+
+"Meinst, du koenntest auch noch Milch trinken mit mir, Heidi?",
+fragte er nun, indem er das Kind bei der Hand nahm, um in die Huette
+einzutreten. "Aber nimm dort dein Geld mit dir, da kannst du ein
+ganzes Bett daraus kaufen und Kleider fuer ein paar Jahre."
+
+"Ich brauch es gewiss nicht, Grossvater", versicherte Heidi; "ein
+Bett hab ich schon, und Kleider hat mir Klara so viele eingepackt,
+dass ich gewiss nie mehr andere brauche."
+
+"Nimm's, nimm's, und leg's in den Schrank, du wirst's schon einmal
+brauchen koennen."
+
+Heidi gehorchte und huepfte nun dem Grossvater nach in die Huette
+hinein, wo es vor Freude ueber das Wiedersehen in alle Winkel sprang
+und die Leiter hinauf--aber da stand es ploetzlich still und rief
+in Betroffenheit von oben herunter: "Oh, Grossvater, ich habe kein
+Bett mehr!"
+
+"Kommt schon wieder", toente es von unten herauf, "wusste ja nicht,
+dass du wieder heimkommst; jetzt komm zur Milch!"
+
+Heidi kam herunter und setzte sich auf seinen hohen Stuhl am alten
+Platze, und nun erfasste es sein Schuesselchen und trank mit einer
+Begierde, als waere etwas so Koestliches noch nie in seinen Bereich
+gekommen, und als es mit einem tiefen Atemzug das Schuesselchen
+hinstellte, sagte es: "So gut wie unsere Milch ist doch gar nichts
+auf der Welt, Grossvater."
+
+Jetzt ertoente draussen ein schriller Pfiff; wie der Blitz schoss
+Heidi zur Tuer hinaus. Da kam die ganze Schar der Geissen huepfend,
+springend, Saetze machend von der Hoehe herunter, mittendrin der
+Peter. Als er Heidi ansichtig wurde, blieb er auf der Stelle
+voellig wie angewurzelt stehen und starrte es sprachlos an. Heidi
+rief: "Guten Abend, Peter!", und stuerzte mitten in die Geissen
+hinein: "Schwaenli! Baerli! Kennt ihr mich noch?", und die Geisslein
+mussten seine Stimme gleich erkannt haben, denn sie rieben ihre
+Koepfe an Heidi und fingen an leidenschaftlich zu meckern vor Freude,
+und Heidi rief alle nacheinander beim Namen, und alle rannten wie
+wild durcheinander und draengten sich zu ihm heran; der ungeduldige
+Distelfink sprang hoch auf und ueber zwei Geissen weg, um gleich in
+die Naehe zu kommen, und sogar das schuechterne Schneehoeppli draengte
+mit einem ziemlich eigensinnigen Bohren den grossen Tuerk auf die
+Seite, der nun ganz verwundert ueber die Frechheit dastand und
+seinen Bart in die Luft hob, um zu zeigen, dass er es sei.
+
+Heidi war ausser sich vor Freude, alle die alten Gefaehrten wieder zu
+haben; es umarmte das kleine, zaertliche Schneehoeppli wieder und
+wieder und streichelte den stuermischen Distelfink und wurde vor
+grosser Liebe und Zutraulichkeit der Geissen hin und her gedraengt und
+geschoben, bis es nun ganz in Peters Naehe kam, der noch immer auf
+demselben Platze stand.
+
+"Komm herunter, Peter, und sag mir einmal guten Abend!", rief ihm
+Heidi jetzt zu.
+
+"Bist denn wieder da?", brachte er nun endlich in seinem Erstaunen
+heraus, und nun kam er herzu und nahm Heidis Hand, die dieses ihm
+schon lange hingehalten hatte, und nun fragte er, so wie er immer
+getan hatte bei der Heimkehr am Abend: "Kommst morgen wieder mit?"
+
+"Nein, morgen nicht, aber uebermorgen vielleicht, denn morgen muss
+ich zur Grossmutter."
+
+"Es ist recht, dass du wieder da bist", sagte der Peter und verzog
+sein Gesicht auf alle Seiten vor ungeheurem Vergnuegen, dann
+schickte er sich zur Heimfahrt an; aber heute wurde es ihm so
+schwer wie noch nie mit seinen Geissen, denn als er sie endlich mit
+Locken und Drohen so weit gebracht hatte, dass sie sich um ihn
+sammelten, und Heidi, den einen Arm um Schwaenlis und den andern um
+Baerlis Kopf gelegt, davonspazierte, da kehrten mit einem Male alle
+wieder um und liefen den dreien nach. Heidi musste mit seinen zwei
+Geissen in den Stall eintreten und die Tuer zumachen, sonst waere der
+Peter niemals mit seiner Herde fortgekommen. Als das Kind dann in
+die Huette zurueckkam, da sah es sein Bett schon wieder aufgerichtet,
+praechtig hoch und duftend, denn das Heu war noch nicht lange
+hereingeholt, und darueber hatte der Grossvater ganz sorgfaeltig die
+sauberen Leintuecher gebreitet. Heidi legte sich mit grosser Lust
+hinein und schlief so herrlich, wie es ein ganzes Jahr lang nicht
+geschlafen hatte. Waehrend der Nacht verliess der Grossvater wohl
+zehnmal sein Lager und stieg die Leiter hinauf und lauschte sorgsam,
+ob Heidi auch schlafe und nicht unruhig werde, und suchte am Loch
+nach, wo sonst der Mond hereinkam auf Heidis Lager, ob auch das Heu
+noch fest drinnen sitze, das er hineingestopft hatte, denn von nun
+an durfte der Mondschein nicht mehr hereinkommen. Aber Heidi
+schlief in einem Zuge fort und wanderte keinen Schritt herum, denn
+sein grosses, brennendes Verlangen war gestillt worden: Es hatte
+alle Berge und Felsen wieder im Abendgluehen gesehen, es hatte die
+Tannen rauschen gehoert, es war wieder daheim auf der Alm.
+
+
+
+
+Am Sonntag, wenn's laeutet
+
+Heidi stand unter den wogenden Tannen und wartete auf den Grossvater,
+der mitgehen und den Koffer vom Doerfli heraufholen wollte, waehrend
+es bei der Grossmutter waere. Das Kind konnte es fast nicht erwarten,
+die Grossmutter wieder zu sehen und zu hoeren, wie ihr die Broetchen
+geschmeckt hatten, und doch wurde ihm wieder die Zeit nicht lang,
+denn es konnte ja nicht genug die heimatlichen Toene von dem
+Tannenrauschen ueber ihm und das Duften und Leuchten der gruenen
+Weiden und der goldenen Blumen darauf eintrinken.
+
+Jetzt trat der Grossvater aus der Huette, schaute noch einmal rings
+um sich und sagte dann mit zufriedenem Ton: "So, nun koennen wir
+gehen."
+
+Denn es war Sonnabend heut, und an dem Tage machte der Alm-Oehi
+alles sauber und in Ordnung in der Huette, im Stall und ringsherum,
+das war seine Gewohnheit, und heut hatte er den Morgen dazu
+genommen, um gleich nachmittags mit Heidi ausziehen zu koennen, und
+so sah nun alles ringsherum gut und zu seiner Zufriedenheit aus.
+Bei der Geissenpeter-Huette trennten sie sich, und Heidi sprang
+hinein. Schon hatte die Grossmutter seinen Schritt gehoert und rief
+ihm liebevoll entgegen: "Kommst du, Kind? Kommst du wieder?"
+
+Dann erfasste sie Heidis Hand und hielt sie ganz fest, denn immer
+noch fuerchtete sie, das Kind koennte ihr wieder entrissen werden.
+Und nun musste die Grossmutter erzaehlen, wie die Broetchen geschmeckt
+haetten, und sie sagte, sie habe sich so daran erlabt, dass sie
+meine, sie sei heute viel kraeftiger als lang nicht mehr, und Peters
+Mutter fuegte hinzu, die Grossmutter habe vor lauter Sorge, sie werde
+zu bald fertig damit, nur ein einziges Broetchen essen wollen,
+gestern und heut zusammen, und sie kaeme gewiss noch ziemlich zu
+Kraeften, wenn sie so acht Tage lang hintereinander jeden Tage eines
+essen wollte. Heidi hoerte der Brigitte mit Aufmerksamkeit zu und
+blieb jetzt noch eine Zeit lang nachdenklich. Nun hatte es seinen
+Weg gefunden. "Ich weiss schon, was ich mache, Grossmutter", sagte
+es in freudigem Eifer; "ich schreibe der Klara einen Brief und dann
+schickt sie mir gewiss noch einmal so viel Broetchen, wie da sind,
+oder zweimal, denn ich hatte schon einen grossen Haufen ganz gleiche
+im Kasten, und als man mir sie weggenommen hatte, sagte Klara, sie
+gebe mir gerade so viele wieder, und das tut sie schon."
+
+"Ach Gott", sagte die Brigitte, "das ist eine gute Meinung; aber
+denk, sie werden auch hart. Wenn man nur hier und da einen uebrigen
+Batzen haette, der Baecker unten im Doerfli macht auch solche, aber
+ich vermag kaum das schwarze Brot zu bezahlen."
+
+Jetzt schoss ein heller Freudenstrahl ueber Heidis Gesicht: "Oh, ich
+habe furchtbar viel Geld, Grossmutter", rief es jubelnd aus und
+huepfte vor Freuden in die Hoehe, "jetzt weiss ich, was ich damit
+mache! Alle, alle Tage musst du ein neues Broetchen haben und am
+Sonntage zwei, und der Peter kann sie heraufbringen vom Doerfli."
+
+"Nein, nein, Kind!", wehrte die Grossmutter; "das kann nicht sein,
+das Geld hast du nicht dazu bekommen, du musst es dem Grossvater
+geben, er sagt dir dann schon, was du damit machen musst."
+
+Aber Heidi liess sich nicht stoeren in seiner Freude, es jauchzte und
+huepfte in der Stube herum und rief ein Mal uebers andere: "Jetzt
+kann die Grossmutter jeden Tag ein Broetchen essen und wird wieder
+ganz kraeftig, und--oh, Grossmutter", rief es mit neuem Jubel, "wenn
+du dann so gesund wirst, so wird es dir gewiss auch wieder hell, es
+ist vielleicht nur, weil du so schwach bist."
+
+Die Grossmutter schwieg still, sie wollte des Kindes Freude nicht
+trueben. Bei seinem Herumhuepfen fiel dem Heidi auf einmal das alte
+Liederbuch der Grossmutter in die Augen, und es kam ihm ein neuer
+freudiger Gedanke: "Grossmutter, jetzt kann ich auch ganz gut lesen;
+soll ich dir einmal ein Lied lesen aus deinem alten Buch?"
+
+"O ja", bat die Grossmutter freudig ueberrascht; "kannst du das auch
+wirklich, Kind, kannst du das?"
+
+Heidi war auf einen Stuhl geklettert und hatte das Buch mit einer
+dicken Staubwolke heruntergezogen, denn es hatte lange unberuehrt
+gelegen da oben; nun wischte es Heidi sauber ab, setzte sich damit
+auf seinen Schemel zur Grossmutter hin und fragte, was es nun lesen
+solle.
+
+"Was du willst, Kind, was du willst", und mit gespannter Erwartung
+sass die Grossmutter da und hatte ihr Spinnrad ein wenig von sich
+geschoben.
+
+Heidi blaetterte und las leise hier und da eine Linie: "jetzt kommt
+etwas von der Sonne, das will ich dir lesen, Grossmutter." Und Heidi
+begann und wurde selbst immer eifriger und immer waermer, waehrend es
+las:
+"Die gueldne Sonne Voll
+Freud und Wonne
+Bringt unsern Grenzen
+Mit ihrem Glaenzen
+Ein herzerquickendes, liebliches Licht.
+
+Mein Haupt und Glieder
+Die lagen darnieder;
+Aber nun steh ich,
+Bin munter und froehlich,
+Schaue den Himmel mit meinem Gesicht.
+
+Mein Auge schauet,
+Was Gott gebauet
+Zu seinen Ehren,
+Und uns zu lehren,
+Wie sein Vermoegen sei maechtig und gross.
+
+Und wo die Frommen
+Dann sollen hinkommen,
+Wenn sie mit Frieden
+Von hinnen geschieden
+Aus dieser Erde vergaenglichem Schoss.
+
+Alles vergehet,
+Gott aber stehet
+Ohn alles Wanken,
+Seine Gedanken,
+Sein Wort und Wille hat ewigen Grund.
+
+Sein Heil und Gnaden
+Die nehmen nicht Schaden,
+Heilen im Herzen,
+Die toedlichen Schmerzen,
+Halten uns zeitlich und ewig gesund.
+
+Kreuz und Elende--
+Das nimmt ein Ende,
+Nach Meeresbrausen
+Und Windessausen
+Leuchtet der Sonne erwuenschtes Gesicht.
+
+Freude die Fuelle
+Und selige Stille
+Darf ich erwarten
+Im himmlischen Garten,
+Dahin sind meine Gedanken gericht'."
+
+
+Die Grossmutter sass still da mit gefalteten Haenden, und ein Ausdruck
+unbeschreiblicher Freude, so wie ihn Heidi nie an ihr gesehen hatte,
+lag auf ihrem Gesicht, obschon ihr die Traenen die Wangen
+herabliefen. Als Heidi schwieg, bat sie mit Verlangen: "Oh, noch
+einmal, Heidi, lass es mich noch einmal hoeren:
+
+'Kreuz und Elende
+Das nimmt ein Ende'--"
+
+Und das Kind fing noch einmal an und las in eigener Freude und
+Verlangen:
+
+"Kreuz und Elende--
+Das nimmt ein Ende,
+Nach Meeresbrausen
+Und Windessausen
+Leuchtet der Sonne erwuenschtes Gesicht.
+
+Freude die Fuelle
+Und selige Stille
+Darf ich erwarten
+Im himmlischen Garten,
+Dahin sind meine Gedanken gericht'."
+
+
+"O Heidi, das macht hell! Das macht so hell im Herzen! Oh, wie
+hast du mir wohl gemacht, Heidi!"
+
+Ein Mal ums andere sagte die Grossmutter die Worte der Freude, und
+Heidi strahlte vor Glueck und musste sie nur immer ansehen, denn so
+hatte es die Grossmutter nie gesehen. Sie hatte gar nicht mehr das
+alte truebselige Gesicht, sondern schaute so freudig und dankend auf,
+als saehe sie schon mit neuen, hellen Augen in den schoenen
+himmlischen Garten hinein.
+
+Jetzt klopfte es am Fenster, und Heidi sah den Grossvater draussen,
+der ihm winkte, mit heimzukommen. Es folgte schnell, aber nicht
+ohne die Grossmutter zu versichern, morgen komme es wieder, und auch
+wenn es mit Peter auf die Weide gehe, so komme es doch im halben
+Tag zurueck; denn dass es der Grossmutter wieder hell machen konnte
+und sie wieder froehlich wurde, das war nun fuer Heidi das
+allergroesste Glueck, das es kannte, noch viel groesser, als auf der
+sonnigen Weide und bei den Blumen und Geissen zu sein. Die Brigitte
+lief dem Heidi unter die Tuer nach mit Rock und Hut, dass es seine
+Habe mitnehme. Den Rock nahm es auf den Arm, denn der Grossvater
+kenne es jetzt schon, dachte es bei sich; aber den Hut wies es
+hartnaeckig zurueck, die Brigitte sollte ihn nur behalten, es setze
+ihn nie, nie mehr auf den Kopf. Heidi war so erfuellt von seinen
+Erlebnissen, dass es gleich dem Grossvater alles erzaehlen musste,
+was ihm das Herz erfreute, dass man die weissen Broetchen auch unten
+im Doerfli fuer die Grossmutter holen koenne, wenn man nur Geld habe,
+und dass es der Grossmutter auf einmal so hell und wohl geworden war,
+und wie Heidi das alles zu Ende geschildert hatte, kehrte es
+wieder zum Ersten zurueck und sagte ganz zuversichtlich: "Gelt,
+Grossvater, wenn die Grossmuttter schon nicht will, so gibst du mir
+doch alles Geld in der Rolle, dass ich dem Peter jeden Tag ein
+Stueck geben kann zu einem Broetchen und am Sonntag zwei?"
+
+"Aber das Bett, Heidi?", sagte der Grossvater; "ein rechtes Bett fuer
+dich waere gut, und nachher bleibt schon noch fuer manches Broetchen."
+
+Aber Heidi liess dem Grossvater keine Ruhe und bewies ihm, dass es
+auf seinem Heubett viel besser schlafe, als es jemals in seinem
+Kissenbett in Frankfurt geschlafen habe, und bat so eindringlich
+und unablaessig, dass der Grossvater zuletzt sagte: "Das Geld ist
+dein, mach, was dich freut; du kannst der Grossmutter manches Jahr
+lang Brot holen dafuer."
+
+Heidi jauchzte auf: "O juhe! Nun muss die Grossmutter gar nie mehr
+hartes, schwarzes Brot essen, und, o Grossvater! Nun ist doch alles
+so schoen wie noch gar nie, seit wir leben!", und Heidi huepfte hoch
+auf an der Hand des Grossvaters und jauchzte in die Luft hinauf wie
+die froehlichen Voegel des Himmels. Aber auf einmal wurde es ganz
+ernsthaft und sagte: "Oh, wenn nun der liebe Gott gleich auf der
+Stelle getan haette, was ich so stark erbetete, dann waere doch alles
+nicht so geworden, ich waere nur gleich wieder heimgekommen und
+haette der Grossmutter nur wenige Broetchen gebracht und haette ihr
+nicht lesen koennen, was ihr wohl macht; aber der liebe Gott hatte
+schon alles ausgedacht, so viel schoener, als ich es wusste; die
+Grossmama hat es mir gesagt, und nun ist alles so gekommen. Oh, wie
+bin ich froh, dass der liebe Gott nicht nachgab, wie ich so bat und
+jammerte! Aber jetzt will ich immer so beten, wie die Grossmama
+sagte, und dem lieben Gott immer danken, und wenn er etwas nicht
+tut, das ich erbeten will, dann will ich gleich denken: Es geht
+gewiss wieder wie in Frankfurt, der liebe Gott denkt gewiss etwas
+viel Besseres aus. Aber wir wollen auch alle Tage beten, gelt
+Grossvater, und wir wollen es nie mehr vergessen, damit der liebe
+Gott uns auch nicht vergisst."
+
+"Und wenn's einer doch taete?", murmelte der Grossvater.
+
+"Oh, dem geht's nicht gut, denn der liebe Gott vergisst ihn dann
+auch und laesst ihn ganz laufen, und wenn es ihm einmal schlecht
+geht und er jammert, so hat kein Mensch Mitleid mit ihm, sondern
+alle sagen nur: Er ist ja zuerst vom lieben Gott weggelaufen, nun
+laesst ihn der liebe Gott auch gehen, der ihm helfen koennte."
+
+"Das ist wahr, Heidi, woher weisst du das?"
+
+"Von der Grossmama, sie hat mir alles erklaert."
+
+Der Grossvater ging eine Weile schweigend weiter. Dann sagte er,
+seine Gedanken verfolgend, vor sich hin: "Und wenn's einmal so ist,
+dann ist es so; zurueck kann keiner, und wen der Herrgott vergessen
+hat, den hat er vergessen."
+
+"O nein, Grossvater, zurueck kann einer, das weiss ich auch von der
+Grossmama, und dann geht es so wie in der schoenen Geschichte in
+meinem Buch, aber die weisst du nicht; jetzt sind wir aber gleich
+daheim, und dann wirst du schon erfahren, wie schoen die Geschichte
+ist."
+
+Heidi strebte in seinem Eifer rascher und rascher die letzte
+Steigung hinan, und kaum waren sie oben angelangt, als es des
+Grossvaters Hand losliess und in die Huette hineinrannte. Der
+Grossvater nahm den Korb von seinem Ruecken, in den er die Haelfte der
+Sachen aus dem Koffer hineingestossen hatte, denn den ganzen Koffer
+heraufzubringen waere ihm zu schwer gewesen. Dann setzte er sich
+nachdenklich auf die Bank nieder. Heidi kam wieder herbeigerannt,
+sein grosses Buch unter dem Arm: "Oh, das ist recht, Grossvater, dass
+du schon dasitzt", und mit einem Satz war Heidi an seiner Seite und
+hatte schon seine Geschichte aufgeschlagen, denn die hatte es schon
+so oft und immer wieder gelesen, dass das Buch von selbst aufging
+an dieser Stelle. Jetzt las Heidi mit grosser Teilnahme von dem
+Sohne, der es gut hatte daheim, wo draussen auf des Vaters Feldern
+die schoenen Kuehe und Schaeflein weideten und er in einem schoenen
+Maentelchen, auf seinen Hirtenstab gestuetzt, bei ihnen auf der Weide
+stehen und dem Sonnenuntergang zusehen konnte, wie es alles auf dem
+Bilde zu sehen war. "Aber auf einmal wollte er sein Hab und Gut
+fuer sich haben und sein eigener Meister sein und forderte es dem
+Vater ab und lief fort damit und verprasste alles. Und als er gar
+nichts mehr hatte, musste er hingehen und Knecht sein bei einem
+Bauer, der hatte aber nicht so schoene Tiere, wie auf seines Vaters
+Feldern waren, sondern nur Schweinlein; diese musste er hueten, und
+er hatte nur noch Fetzen auf sich und bekam nur von den Trebern,
+welche die Schweinchen assen, ein klein wenig. Da dachte er daran,
+wie er es daheim beim Vater gehabt und wie gut der Vater mit ihm
+gewesen war und wie undankbar er gegen den Vater gehandelt hatte,
+und er musste weinen vor Reue und Heimweh. Und er dachte: '
+Ich will zu meinem Vater gehen und ihn um Verzeihung bitten und ihm
+sagen, ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heissen, aber lass mich
+nur dein Tageloehner bei dir sein.' Und wie er von ferne gegen
+das Haus seines Vaters kam, da sah ihn der Vater und kam
+herausgelaufen--was meinst du jetzt, Grossvater?", unterbrach sich
+Heidi in seinem Vorlesen; "jetzt meinst du, der Vater sei noch boese
+und sage zu ihm: 'Ich habe dir's ja gesagt!'? Jetzt
+hoer nur, was kommt: Und sein Vater sah ihn und es jammerte ihn und
+lief und fiel ihm um den Hals und kuesste ihn, und der Sohn sprach
+zu ihm: 'Vater, ich habe gesuendigt gegen den Himmel und vor
+dir und bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heissen.' Aber der
+Vater sprach zu seinen Knechten: 'Bringt das beste Kleid her
+und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und
+Schuhe an die Fuesse, und bringt das gemaestete Kalb her und
+schlachtet es und lasst uns essen und froehlich sein, denn dieser
+mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, und er war
+verloren und ist wieder gefunden worden.' Und sie fingen an,
+froehlich zu sein."
+
+"Ist denn das nicht eine schoene Geschichte, Grossvater?", fragte
+Heidi, als dieser immer noch schweigend dasass und es doch erwartet
+hatte, er werde sich freuen und verwundern.
+
+"Doch, Heidi, die Geschichte ist schoen", sagte der Grossvater; aber
+sein Gesicht war so ernsthaft, dass Heidi ganz stille wurde und
+seine Bilder ansah. Leise schob es noch einmal sein Buch vor den
+Grossvater hin und sagte: "Sieh, wie es ihm wohl ist", und zeigte
+mit seinem Finger auf das Bild des Heimgekehrten, wie er im
+frischen Kleid neben dem Vater steht und wieder zu ihm gehoert als
+sein Sohn.
+
+Ein paar Stunden spaeter, als Heidi laengst im tiefen Schlafe lag,
+stieg der Grossvater die kleine Leiter hinauf; er stellte sein
+Laempchen neben Heidis Lager hin, so dass das Licht auf das
+schlafende Kind fiel. Es lag da mit gefalteten Haenden, denn zu
+beten hatte Heidi nicht vergessen. Auf seinem rosigen Gesichtchen
+lag ein Ausdruck des Friedens und seligen Vertrauens, der zu dem
+Grossvater reden musste, denn lange, lange stand er da und ruehrte
+sich nicht und wandte kein Auge von dem schlafenden Kinde ab.
+Jetzt faltete auch er die Haende, und halblaut sagte er mit
+gesenktem Haupte: "Vater, ich habe gesuendigt gegen den Himmel und
+vor dir und bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heissen!" Und ein paar
+grosse Traenen rollten dem Alten die Wangen herab.--
+
+Wenige Stunden nachher in der ersten Fruehe des Tages stand der Alm-
+Oehi vor seiner Huette und schaute mit hellen Augen um sich. Der
+Sonntagmorgen flimmerte und leuchtete ueber Berg und Tal. Einzelne
+Fruehglocken toenten aus den Taelern herauf, und oben in den Tannen
+sangen die Voegel ihre Morgenlieder.
+
+Jetzt trat der Grossvater in die Huette zurueck. "Komm, Heidi!", rief
+er auf den Boden hinauf. "Die Sonne ist da! Zieh ein gutes
+Roecklein an, wir wollen in die Kirche miteinander!"
+
+Heidi machte nicht lange; das war ein ganz neuer Ruf vom Grossvater,
+dem musste es schnell folgen. In kurzer Zeit kam es
+heruntergesprungen in seinem schmucken Frankfurter Roeckchen. Aber
+voller Erstaunen blieb Heidi vor seinem Grossvater stehen und
+schaute ihn an. "O Grossvater, so hab ich dich nie gesehen", brach
+es endlich aus, "und den Rock mit den silbernen Knoepfen hast du
+noch gar nicht getragen, oh, du bist so schoen in deinem schoenen
+Sonntagsrock."
+
+Der Alte blickte vergnueglich laechelnd auf das Kind und sagte: "Und
+du in dem deinen; jetzt komm!" Er nahm Heidis Hand in die seine,
+und so wanderten sie miteinander den Berg hinunter. Von allen
+Seiten toenten jetzt die hellen Glocken ihnen entgegen, immer voller
+und reicher, je weiter sie kamen, und Heidi lauschte mit Entzuecken
+und sagte: "Hoerst du's, Grossvater? Es ist wie ein grosses, grosses
+Fest."
+
+Unten im Doerfli waren schon alle Leute in der Kirche und fingen
+eben zu singen an, als der Grossvater mit Heidi eintrat und ganz
+hinten auf der letzten Bank sich niedersetzte. Aber mitten im
+Singen stiess der zunaechst Sitzende seinen Nachbar mit dem
+Ellenbogen an und sagte: "Hast du das gesehen? Der Alm-Oehi ist in
+der Kirche!"
+
+Und der Angestossene stiess den Zweiten an und so fort, und in
+kuerzester Zeit fluesterte es an allen Ecken: "Der Alm-Oehi! Der Alm-
+Oehi!", und die Frauen mussten fast alle einen Augenblick den Kopf
+umdrehen, und die meisten fielen ein wenig aus der Melodie, so dass
+der Vorsaenger die groesste Muehe hatte, den Gesang schoen
+aufrechtzuerhalten. Aber als dann der Herr Pfarrer anfing zu
+predigen, ging die Zerstreutheit ganz vorueber, denn es war ein so
+warmes Loben und Danken in seinen Worten, dass alle Zuhoerer davon
+ergriffen wurden, und es war, als sei ihnen allen eine grosse Freude
+widerfahren. Als der Gottesdienst zu Ende war, trat der Alm-Oehi
+mit dem Kinde an der Hand heraus und schritt dem Pfarrhaus zu, und
+alle, die mit ihm heraustraten und die schon draussen standen,
+schauten ihm nach, und die meisten gingen hinter ihm her, um zu
+sehen, ob er wirklich ins Pfarrhaus eintrete, was er tat. Dann
+sammelten sie sich in Gruppen zusammen und besprachen in grosser
+Aufregung das Unerhoerte, dass der Alm-Oehi in der Kirche erschienen
+war, und alle schauten mit Spannung nach der Pfarrhaustuer, wie der
+Oehi wohl wieder herauskommen werde, ob in Zorn und Hader oder im
+Frieden mit dem Herrn Pfarrer, denn man wusste ja gar nicht, was
+den Alten heruntergebracht hatte und wie es eigentlich gemeint sei.
+Aber doch war schon bei vielen eine neue Stimmung eingetreten, und
+einer sagte zum andern: "Es wird wohl mit dem Alm-Oehi nicht so boes
+sein, wie man tut; man kann ja nur sehen, wie sorglich er das
+Kleine an der Hand haelt." Und der andere sagte: "Das hab ich ja
+immer gesagt, und zum Pfarrer hinein ginge er auch nicht, wenn er
+so bodenschlecht waere, sonst muesste er sich ja fuerchten; man
+uebertreibt auch viel." Und der Baecker sagte: "Hab ich das nicht
+zuallererst gesagt? Seit wann laeuft denn ein kleines Kind, das zu
+essen und zu trinken hat, was es will, und sonst alles Gute, aus
+alledem weg und heim zu einem Grossvater, wenn der boes und wild ist
+und es sich zu fuerchten hat vor ihm?" Und es kam eine ganz
+liebevolle Stimmung gegen den Alm-Oehi auf und nahm ueberhand, denn
+jetzt nahten sich auch die Frauen herzu, und diese hatten so
+manches von der Geissenpeterin und der Grossmutter gehoert, das den
+Alm-Oehi ganz anders darstellte, als die allgemeine Meinung war, und
+das ihnen jetzt auf einmal glaublich schien, dass es mehr und mehr
+so wurde, als warteten sie alle da, um einen alten Freund zu
+bewillkommnen, der ihnen lange gemangelt hatte.
+
+Der Alm-Oehi war unterdessen an die Tuer der Studierstube getreten
+und hatte angeklopft. Der Herr Pfarrer machte auf und trat dem
+Eintretenden entgegen, nicht ueberrascht, wie er wohl haette sein
+koennen, sondern so, als habe er ihn erwartet; die ungewohnte
+Erscheinung in der Kirche musste ihm nicht entgangen sein. Er
+ergriff die Hand des Alten und schuettelte sie wiederholt mit der
+groessten Herzlichkeit, und der Alm-Oehi stand schweigend da und
+konnte erst kein Wort herausbringen, denn auf solchen herzlichen
+Empfang war er nicht vorbereitet. Jetzt fasste er sich und sagte:
+"Ich komme, um den Herrn Pfarrer zu bitten, dass er mir die Worte
+vergessen moechte, die ich zu ihm auf der Alm geredet habe, und dass
+er mir nicht nachtragen wolle, wenn ich widerspenstig war gegen
+seinen wohlmeinenden Rat. Der Herr Pfarrer hat ja in allem Recht
+gehabt und ich war im Unrecht, aber ich will jetzt seinem Rate
+folgen und auf den Winter wieder ein Quartier im Doerfli beziehen,
+denn die harte Jahreszeit ist nichts fuer das Kind dort oben, es ist
+zu zart, und wenn auch dann die Leute hier unten mich von der Seite
+ansehen, so wie einen, dem nicht zu trauen ist, so habe ich es
+nicht besser verdient, und der Herr Pfarrer wird es ja nicht tun."
+
+Die freundlichen Augen des Pfarrers glaenzten vor Freude. Er nahm
+noch einmal des Alten Hand und drueckte sie in der seinen und sagte
+mit Ruehrung: "Nachbar, Ihr seid in der rechten Kirche gewesen, noch
+eh Ihr in die meinige herunterkamt; des freu ich mich, und dass Ihr
+wieder zu uns kommen und mit uns leben wollt, soll Euch nicht
+gereuen, bei mir sollt Ihr als ein lieber Freund und Nachbar alle
+Zeit willkommen sein, und ich gedenke manches Winterabendstuendchen
+froehlich mit Euch zu verbringen, denn Eure Gesellschaft ist mir
+lieb und wert, und fuer das Kleine wollen wir auch gute Freunde
+finden." Und der Herr Pfarrer legte sehr freundlich seine Hand auf
+Heidis Krauskopf und nahm es bei der Hand und fuehrte es hinaus,
+indem er den Grossvater fortbegleitete, und erst draussen vor der
+Haustuer nahm er Abschied, und nun konnten alle die herumstehenden
+Leute sehen, wie der Herr Pfarrer dem Alm-Oehi die Hand immer noch
+einmal schuettelte, gerade als waere das sein bester Freund, von dem
+er sich fast nicht trennen koennte. Kaum hatte dann auch die Tuer
+sich hinter dem Herrn Pfarrer geschlossen, so draengte die ganze
+Versammlung dem Alm-Oehi entgegen, und jeder wollte der Erste sein,
+und so viele Haende wurden miteinander dem Herankommenden
+entgegengestreckt, dass er gar nicht wusste, welche zuerst
+ergreifen, und einer rief ihm zu: "Das freut mich! Das freut mich,
+Oehi, dass Ihr auch wieder einmal zu uns kommt!", und ein anderer:
+"Ich haette auch schon lang gern wieder einmal ein Wort mit Euch
+geredet, Oehi!" Und so toente und draengte es von allen Seiten, und
+wie nun der Oehi auf alle die freundlichen Begruessungen erwiderte, er
+gedenke, sein altes Quartier im Doerfli wieder zu beziehen und den
+Winter mit den alten Bekannten zu verleben, da gab es erst einen
+rechten Laerm, und es war gerade so, wie wenn der Alm-Oehi die
+beliebteste Persoenlichkeit im ganzen Doerfli waere, die jeder mit
+Nachteil entbehrt hatte. Noch weit an die Alm hinauf wurden
+Grossvater und Kind von den meisten begleitet, und beim Abschied
+wollte jeder die Versicherung haben, dass der Alm-Oehi bald einmal
+bei ihm vorspreche, wenn er wieder herunterkomme; und wie nun die
+Leute den Berg hinab zurueckkehrten, blieb der Alte stehen und
+schaute ihnen lange nach, und auf seinem Gesichte lag ein so warmes
+Licht, als schiene bei ihm die Sonne von innen heraus. Heidi
+schaute unverwandt zu ihm auf und sagte ganz erfreut: "Grossvater,
+heut wirst du immer schoener, so warst du noch gar nie."
+
+"Meinst du?", laechelte der Grossvater. "Ja, und siehst du, Heidi,
+mir geht's auch heut ueber Verstehen und Verdienen gut, und mit Gott
+und Menschen im Frieden stehen, das macht einem so wohl! Der liebe
+Gott hat's gut mit mir gemeint, dass er dich auf die Alm schickte."
+
+Bei der Geissenpeter-Huette angekommen, machte der Grossvater gleich
+die Tuer auf und trat ein. "Gruess Gott, Grossmutter", rief er hinein;
+"ich denke, wir muessen einmal wieder ans Flicken gehen, bevor der
+Herbstwind kommt."
+
+"Du mein Gott, das ist der Oehi!", rief die Grossmutter voll
+freudiger Ueberraschung aus. "Dass ich das noch erlebe! Dass ich
+Euch noch einmal danken kann fuer alles, das Ihr fuer uns getan habt,
+Oehi! Vergelt's Gott! Vergelt's Gott!"
+
+Und mit zitternder Freude streckte die alte Grossmutter ihre Hand
+aus, und als der Angeredete sie herzlich schuettelte, fuhr sie fort,
+indem sie die seinige fest hielt: "Und eine Bitte hab ich auch noch
+auf dem Herzen, Oehi: Wenn ich Euch je etwas zuleid getan habe, so
+straft mich nicht damit, dass Ihr noch einmal das Heidi fortlasst,
+bevor ich unten bei der Kirche liege. Oh, Ihr wisst nicht, was mir
+das Kind ist!", und sie hielt es fest an sich, denn Heidi hatte
+sich schon an sie geschmiegt.
+
+"Keine Sorge, Grossmutter", beruhigte der Oehi; "damit will ich weder
+Euch noch mich strafen. Jetzt bleiben wir alle beieinander und,
+will's Gott, noch lange so."
+
+Jetzt zog die Brigitte den Oehi ein wenig geheimnisvoll in eine Ecke
+hinein und zeigte ihm das schoene Federnhuetchen und erzaehlte ihm,
+wie es sich damit verhalte, und dass sie ja natuerlich so etwas
+einem Kinde nicht abnehme.
+
+Aber der Grossvater sah ganz wohlgefaellig auf sein Heidi hin und
+sagte: "Der Hut ist sein, und wenn es ihn nicht mehr auf den Kopf
+tun will, so hat es Recht, und hat es ihn dir gegeben, so nimm ihn
+nur."
+
+Die Brigitte war hoechlich erfreut ueber das unerwartete Urteil. "Er
+ist gewiss mehr als zehn Franken wert, seht nur!", und in ihrer
+Freude streckte sie das Huetchen hoch auf. "Was aber auch dieses
+Heidi fuer einen Segen von Frankfurt mit heimgebracht hat! Ich habe
+schon manchmal denken muessen, ob ich nicht den Peterli auch ein
+wenig nach Frankfurt schicken solle; was meint Ihr, Oehi?"
+
+Dem Oehi schoss es ganz lustig aus den Augen. Er meinte, es koennte
+dem Peterli nichts schaden; aber er wuerde doch eine gute
+Gelegenheit dazu abwarten.
+
+Jetzt fuhr der Besprochene eben zur Tuer herein, nachdem er zuerst
+mit dem Kopf so fest dagegen gerannt war, dass alles erklirrte
+davon; er musste pressiert sein. Atemlos und keuchend stand er nun
+mitten in der Stube still und streckte einen Brief aus. Das war
+auch ein Ereignis, das noch nie vorgekommen war, ein Brief mit
+einer Aufschrift an das Heidi, den man ihm auf der Post im Doerfli
+uebergeben hatte. Jetzt setzten sich alle voller Erwartung um den
+Tisch herum, und Heidi machte seinen Brief auf und las ihn laut und
+ohne Anstoss vor. Der Brief war von der Klara Sesemann geschrieben.
+Sie erzaehlte Heidi, dass es seit seiner Abreise so langweilig
+geworden sei in ihrem Hause, sie es nicht lang hintereinander so
+aushalten koenne und so lange den Vater gebeten habe, bis er die
+Reise ins Bad Ragaz schon auf den kommenden Herbst festgestellt
+habe, und die Grossmama wolle auch mitkommen, denn sie wolle auch
+das Heidi und den Grossvater besuchen auf der Alm. Und weiter liess
+die Grossmama noch dem Heidi sagen, es habe Recht getan, dass es der
+alten Grossmutter die Broetchen habe mitbringen wollen, und damit sie
+diese nicht trocken essen muesse, komme gleich der Kaffee noch dazu,
+er sei schon auf der Reise, und wenn sie selbst nach der Alm komme,
+so muesse das Heidi sie auch zur Grossmutter fuehren.
+
+Da gab es nun eine solche Freude und Verwunderung ueber diese
+Nachrichten und so viel zu reden und zu fragen, da die grosse
+Erwartung alle gleich betraf, dass selbst der Grossvater nicht
+bemerkte, wie spaet es schon war, und so vergnuegt und froehlich waren
+sie alle in der Aussicht auf die kommenden Tage und fast noch mehr
+in der Freude ueber das Zusammensein an dem heutigen, dass die
+Grossmutter zuletzt sagte: "Das Schoenste ist doch, wenn so ein alter
+Freund kommt und uns wieder die Hand gibt, so wie vor langer Zeit;
+das gibt so ein troestliches Gefuehl ins Herz, dass wir einmal alles
+wieder finden, was uns lieb ist. Ihr kommt doch bald wieder, Oehi,
+und das Kind morgen schon?"
+
+Das wurde der Grossmutter in die Hand hinein versprochen; nun aber
+war es Zeit zum Aufbruch, und der Grossvater wanderte mit Heidi die
+Alm hinan, und wie am Morgen die hellen Glocken von nah und fern
+sie heruntergerufen hatten, so begleitete nun aus dem Tale herauf
+das friedliche Gelaeut der Abendglocken sie bis hinauf zur sonnigen
+Almhuette, die ganz sonntaeglich im Abendschimmer ihnen
+entgegenglaenzte.
+
+Wenn aber die Grossmama kommt im Herbst, dann gibt es gewiss noch
+manche neue Freude und Ueberraschung fuer das Heidi wie fuer die
+Grossmutter, und sicher kommt auch gleich ein richtiges Bett auf den
+Heuboden hinauf, denn wo die Grossmama hintritt, da kommen alle
+Dinge bald in die erwuenschte Ordnung und Richtigkeit, nach aussen
+wie nach innen.
+
+
+Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes Heidis Lehr- und Wanderjahre,
+von Johanna Spyri.
+
+
+
+
+
+End of Project Gutenberg's Heidis Lehr- und Wanderjahre, by Johanna Spyri
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK HEIDIS LEHR- UND WANDERJAHRE ***
+
+This file should be named 7heid10.txt or 7heid10.zip
+Corrected EDITIONS of our eBooks get a new NUMBER, 7heid11.txt
+VERSIONS based on separate sources get new LETTER, 7heid10a.txt
+
+Produced by Mike Pullen and Juliet Sunderland
+
+Project Gutenberg eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the US
+unless a copyright notice is included. Thus, we usually do not
+keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
+
+We are now trying to release all our eBooks one year in advance
+of the official release dates, leaving time for better editing.
+Please be encouraged to tell us about any error or corrections,
+even years after the official publication date.
+
+Please note neither this listing nor its contents are final til
+midnight of the last day of the month of any such announcement.
+The official release date of all Project Gutenberg eBooks is at
+Midnight, Central Time, of the last day of the stated month. A
+preliminary version may often be posted for suggestion, comment
+and editing by those who wish to do so.
+
+Most people start at our Web sites at:
+http://gutenberg.net or
+http://promo.net/pg
+
+These Web sites include award-winning information about Project
+Gutenberg, including how to donate, how to help produce our new
+eBooks, and how to subscribe to our email newsletter (free!).
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+
+Those of you who want to download any eBook before announcement
+can get to them as follows, and just download by date. This is
+also a good way to get them instantly upon announcement, as the
+indexes our cataloguers produce obviously take a while after an
+announcement goes out in the Project Gutenberg Newsletter.
+
+http://www.ibiblio.org/gutenberg/etext03 or
+ftp://ftp.ibiblio.org/pub/docs/books/gutenberg/etext03
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+Or /etext02, 01, 00, 99, 98, 97, 96, 95, 94, 93, 92, 92, 91 or 90
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+Just search by the first five letters of the filename you want,
+as it appears in our Newsletters.
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+We produce about two million dollars for each hour we work. The
+time it takes us, a rather conservative estimate, is fifty hours
+to get any eBook selected, entered, proofread, edited, copyright
+searched and analyzed, the copyright letters written, etc. Our
+projected audience is one hundred million readers. If the value
+per text is nominally estimated at one dollar then we produce $2
+million dollars per hour in 2002 as we release over 100 new text
+files per month: 1240 more eBooks in 2001 for a total of 4000+
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+will reach over half a trillion eBooks given away by year's end.
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+This is ten thousand titles each to one hundred million readers,
+which is only about 4% of the present number of computer users.
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+
+eBooks Year Month
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+Michael S. Hart. Project Gutenberg is a TradeMark and may not be
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+express permission.]
+
+*END THE SMALL PRINT! FOR PUBLIC DOMAIN EBOOKS*Ver.02/11/02*END*
diff --git a/old/7heid10.zip b/old/7heid10.zip
new file mode 100644
index 0000000..038f95b
--- /dev/null
+++ b/old/7heid10.zip
Binary files differ
diff --git a/old/8heid10.txt b/old/8heid10.txt
new file mode 100644
index 0000000..c0b7a5c
--- /dev/null
+++ b/old/8heid10.txt
@@ -0,0 +1,6444 @@
+The Project Gutenberg EBook of Heidis Lehr- und Wanderjahre, by Johanna Spyri
+#3 in our series by Johanna Spyri
+
+Copyright laws are changing all over the world. Be sure to check the
+copyright laws for your country before downloading or redistributing
+this or any other Project Gutenberg eBook.
+
+This header should be the first thing seen when viewing this Project
+Gutenberg file. Please do not remove it. Do not change or edit the
+header without written permission.
+
+Please read the "legal small print," and other information about the
+eBook and Project Gutenberg at the bottom of this file. Included is
+important information about your specific rights and restrictions in
+how the file may be used. You can also find out about how to make a
+donation to Project Gutenberg, and how to get involved.
+
+
+**Welcome To The World of Free Plain Vanilla Electronic Texts**
+
+**eBooks Readable By Both Humans and By Computers, Since 1971**
+
+*****These eBooks Were Prepared By Thousands of Volunteers!*****
+
+
+Title: Heidis Lehr- und Wanderjahre
+
+Author: Johanna Spyri
+
+Release Date: February, 2005 [EBook #7500]
+[Yes, we are more than one year ahead of schedule]
+[This file was first posted on May 11, 2003]
+
+Edition: 10
+
+Language: German
+
+Character set encoding: ISO-Latin-1
+
+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK HEIDIS LEHR- UND WANDERJAHRE ***
+
+
+
+
+Produced by Mike Pullen and Juliet Sunderland
+
+
+
+
+This Etext is in German.
+
+This book content was graciously contributed by the Gutenberg Projekt-DE.
+That project is reachable at the web site http://gutenberg2000.de.
+
+Dieses Buch wurde uns freundlicherweise vom "Gutenberg Projekt-DE"
+zur Verfügung gestellt. Das Projekt ist unter der Internet-Adresse
+http://gutenberg2000.de erreichbar.
+
+
+
+
+Heidis Lehr- und Wanderjahre
+
+Johanna Spyri
+
+
+Inhalt
+
+1 Zum Alm-Öhi hinauf
+2 Beim Großvater
+3 Auf der Weide
+4 Bei der Großmutter
+5 Es kommt ein Besuch und dann noch einer, der mehr Folgen hat
+6 Ein neues Kapitel und lauter neue Dinge
+7 Fräulein Rottenmeier hat einen unruhigen Tag
+8 Im Hause Sesemann geht's unruhig zu
+9 Der Hausherr hört allerlei in seinem Hause, das er noch nicht gehört hat
+10 Eine Großmama
+11 Heidi nimmt auf einer Seite zu und auf der anderen ab
+12 Im Hause Sesemann spukt's
+13 Am Sommerabend die Alm hinan
+14 Am Sonntag, wenn's läutet
+
+
+
+
+Zum Alm-Öhi hinauf
+
+Vom freundlichen Dorfe Maienfeld führt ein Fußweg durch grüne,
+baumreiche Fluren bis zum Fuße der Höhen, die von dieser Seite groß
+und ernst auf das Tal herniederschauen. Wo der Fußweg anfängt,
+beginnt bald Heideland mit dem kurzen Gras und den kräftigen
+Bergkräutern dem Kommenden entgegenzuduften, denn der Fußweg geht
+steil und direkt zu den Alpen hinauf.
+
+Auf diesem schmalen Bergpfade stieg am hellen, sonnigen Junimorgen
+ein großes, kräftig aussehendes Mädchen dieses Berglandes hinan,
+ein Kind an der Hand führend, dessen Wangen so glühend waren, dass
+sie selbst die sonnverbrannte, völlig braune Haut des Kindes
+flammend rot durchleuchteten. Es war auch kein Wunder: Das Kind
+war trotz der heißen Junisonne so verpackt, als hätte es sich eines
+bitteren Frostes zu erwehren. Das kleine Mädchen mochte kaum fünf
+Jahre zählen; was aber seine natürliche Gestalt war, konnte man
+nicht ersehen, denn es hatte sichtlich zwei, wenn nicht drei
+Kleider übereinander angezogen und drüberhin ein großes, rotes
+Baumwolltuch um und um gebunden, so dass die kleine Person eine
+völlig formlose Figur darstellte, die, in zwei schwere, mit Nägeln
+beschlagene Bergschuhe gesteckt, sich heiß und mühsam den Berg
+hinaufarbeitete. Eine Stunde vom Tal aufwärts mochten die beiden
+gestiegen sein, als sie zu dem Weiler kamen, der auf halber Höhe
+der Alm liegt und 'im Dörfli' heißt. Hier wurden die
+Wandernden fast von jedem Hause aus angerufen, einmal vom Fenster,
+einmal von einer Haustür und einmal vom Wege her, denn das Mädchen
+war in seinem Heimatort angelangt. Es machte aber nirgends Halt,
+sondern erwiderte alle zugerufenen Grüße und Fragen im Vorbeigehen,
+ohne still zu stehen, bis es am Ende des Weilers bei dem letzten
+der zerstreuten Häuschen angelangt war. Hier rief es aus einer Tür:
+"Wart einen Augenblick, Dete, ich komme mit, wenn du weiter
+hinaufgehst."
+
+Die Angeredete stand still; sofort machte sich das Kind von ihrer
+Hand los und setzte sich auf den Boden.
+
+"Bist du müde, Heidi?", fragte die Begleiterin.
+
+"Nein, es ist mir heiß", entgegnete das Kind.
+
+"Wir sind jetzt gleich oben, du musst dich nur noch ein wenig
+anstrengen und große Schritte nehmen, dann sind wir in einer Stunde
+oben", ermunterte die Gefährtin.
+
+Jetzt trat eine breite gutmütig aussehende Frau aus der Tür und
+gesellte sich zu den beiden. Das Kind war aufgestanden und
+wanderte nun hinter den zwei alten Bekannten her, die sofort in ein
+lebhaftes Gespräch gerieten über allerlei Bewohner des 'Dörfli' und
+vieler umherliegender Behausungen.
+
+"Aber wohin willst du eigentlich mit dem Kinde, Dete?", fragte
+jetzt die neu Hinzugekommene. "Es wird wohl deiner Schwester Kind
+sein, das hinterlassene."
+
+"Das ist es", erwiderte Dete, "ich will mit ihm hinauf zum Öhi, es
+muss dort bleiben."
+
+"Was, beim Alm-Öhi soll das Kind bleiben? Du bist, denk ich, nicht
+recht bei Verstand, Dete! Wie kannst du so etwas tun! Der Alte
+wird dich aber schon heimschicken mit deinem Vorhaben!"
+
+"Das kann er nicht, er ist der Großvater, er muss etwas tun, ich
+habe das Kind bis jetzt gehabt, und das kann ich dir schon sagen,
+Barbel, dass ich einen Platz, wie ich ihn jetzt haben kann, nicht
+dahinten lasse um des Kindes willen; jetzt soll der Großvater das
+Seinige tun."
+
+"Ja, wenn der wäre wie andere Leute, dann schon", bestätigte die
+kleine Barbel eifrig; "aber du kennst ja den. Was wird der mit
+einem Kinde anfangen und dann noch einem so kleinen! Das hält's
+nicht aus bei ihm! Aber wo willst du denn hin?"
+
+"Nach Frankfurt", erklärte Dete, "da bekomm ich einen extraguten
+Dienst. Die Herrschaft war schon im vorigen Sommer unten im Bad,
+ich habe ihre Zimmer auf meinem Gang gehabt und sie besorgt, und
+schon damals wollten sie mich mitnehmen, aber ich konnte nicht
+fortkommen, und jetzt sind sie wieder da und wollen mich mitnehmen,
+und ich will auch gehen, da kannst du sicher sein."
+
+"Ich möchte nicht das Kind sein!", rief die Barbel mit abwehrender
+Gebärde aus. "Es weiß ja kein Mensch, was mit dem Alten da oben
+ist! Mit keinem Menschen will er etwas zu tun haben, jahraus,
+jahrein setzt er keinen Fuß in eine Kirche, und wenn er mit seinem
+dicken Stock im Jahr einmal herunterkommt, so weicht ihm alles aus
+und muss sich vor ihm fürchten. Mit seinen dicken grauen
+Augenbrauen und dem furchtbaren Bart sieht er auch aus wie ein
+alter Heide und Indianer, dass man froh ist, wenn man ihm nicht
+allein begegnet."
+
+"Und wenn auch", sagte Dete trotzig, "er ist der Großvater und muss
+für das Kind sorgen, er wird ihm wohl nichts tun, sonst hat er's zu
+verantworten, nicht ich."
+
+"Ich möchte nur wissen", sagte die Barbel forschend, "was der Alte
+auf dem Gewissen hat, dass er solche Augen macht und so
+mutterseelenallein da droben auf der Alm bleibt und sich fast nie
+blicken lässt. Man sagt allerhand von ihm; du weißt doch gewiss
+auch etwas davon, von deiner Schwester, nicht, Dete?"
+
+"Freilich, aber ich rede nicht; wenn er's hörte, so käme ich schön
+an!"
+
+Aber die Barbel hätte schon lange gern gewusst, wie es sich mit dem
+Alm-Öhi verhalte, dass er so menschenfeindlich aussehe und da oben
+ganz allein wohne und die Leute immer so mit halben Worten von ihm
+redeten, als fürchteten sie sich, gegen ihn zu sein, und wollten
+doch nicht für ihn sein. Auch wusste die Barbel gar nicht, warum
+der Alte von allen Leuten im Dörfli der Alm-Öhi genannt wurde, er
+konnte doch nicht der wirkliche Oheim von den sämtlichen Bewohnern
+sein; da aber alle ihn so nannten, tat sie es auch und nannte den
+Alten nie anders als Öhi, was die Aussprache der Gegend für Oheim
+ist. Die Barbel hatte sich erst vor kurzer Zeit nach dem Dörfli
+hinauf verheiratet, vorher hatte sie unten im Prättigau gewohnt,
+und so war sie noch nicht so ganz bekannt mit allen Erlebnissen und
+besonderen Persönlichkeiten aller Zeiten vom Dörfli und der
+Umgegend. Die Dete, ihre gute Bekannte, war dagegen vom Dörfli
+gebürtig und hatte da gelebt mit ihrer Mutter bis vor einem Jahr;
+da war diese gestorben, und die Dete war nach dem Bade Ragaz
+hinübergezogen, wo sie im großen Hotel als Zimmermädchen einen
+guten Verdienst fand. Sie war auch an diesem Morgen mit dem Kinde
+von Ragaz hergekommen; bis Maienfeld hatte sie auf einem Heuwagen
+fahren können, auf dem ein Bekannter von ihr heimfuhr und sie und
+das Kind mitnahm. --Die Barbel wollte also diesmal die gute
+Gelegenheit, etwas zu vernehmen, nicht unbenutzt vorbeigehen lassen;
+sie fasste vertraulich die Dete am Arm und sagte: "Von dir kann
+man doch vernehmen, was wahr ist und was die Leute darüber hinaus
+sagen; du weißt, denk ich, die ganze Geschichte. Sag mir jetzt ein
+wenig, was mit dem Alten ist und ob der immer so gefürchtet und ein
+solcher Menschenhasser war."
+
+"Ob er immer so war, kann ich, denk ich, nicht präzis wissen, ich
+bin jetzt sechsundzwanzig und er sicher siebzig Jahr alt; so hab
+ich ihn nicht gesehen, wie er jung war, das wirst du nicht erwarten.
+Wenn ich aber wüsste, dass es nachher nicht im ganzen Prättigau
+herumkäme, so könnte ich dir schon allerhand erzählen von ihm;
+meine Mutter war aus dem Domleschg und er auch."
+
+"A bah, Dete, was meinst denn?", gab die Barbel ein wenig beleidigt
+zurück; "es geht nicht so streng mit dem Schwatzen im Prättigau,
+und dann kann ich schon etwas für mich behalten, wenn es sein muss.
+Erzähl mir's jetzt, es muss dich nicht gereuen."
+
+"Ja nu, so will ich, aber halt Wort!", mahnte die Dete. Erst sah
+sie sich aber um, ob das Kind nicht zu nah sei und alles anhöre,
+was sie sagen wollte; aber das Kind war gar nicht zu sehen, es
+musste schon seit einiger Zeit den beiden Begleiterinnen nicht mehr
+gefolgt sein, diese hatten es aber im Eifer der Unterhaltung nicht
+bemerkt. Dete stand still und schaute sich überall um. Der Fußweg
+machte einige Krümmungen, doch konnte man ihn fast bis zum Dörfli
+hinunter übersehen, es war aber niemand darauf sichtbar.
+
+"Jetzt seh ich's", erklärte die Barbel; "siehst du dort?", und sie
+wies mit dem Zeigefinger weitab vom Bergpfad. "Es klettert die
+Abhänge hinauf mit dem Geißenpeter und seinen Geißen. Warum der
+heut so spät hinauffährt mit seinen Tieren? Es ist aber gerad
+recht, er kann nun zu dem Kinde sehen, und du kannst mir umso
+besser erzählen."
+
+"Mit dem Nach-ihm-Sehen muss sich der Peter nicht anstrengen",
+bemerkte die Dete; "es ist nicht dumm für seine fünf Jahre, es tut
+seine Augen auf und sieht, was vorgeht, das hab ich schon bemerkt
+an ihm, und es wird ihm einmal zugut kommen, denn der Alte hat gar
+nichts mehr als seine zwei Geißen und die Almhütte."
+
+"Hat er denn einmal mehr gehabt?", fragte die Barbel.
+
+"Der? Ja, das denk ich, dass er einmal mehr gehabt hat",
+entgegnete eifrig die Dete; "eins der schönsten Bauerngüter im
+Domleschg hat er gehabt. Er war der ältere Sohn und hatte nur noch
+einen Bruder, der war still und ordentlich. Aber der Ältere wollte
+nichts tun, als den Herrn spielen und im Lande herumfahren und mit
+bösem Volk zu tun haben, das niemand kannte. Den ganzen Hof hat er
+verspielt und verzecht, und wie es herauskam, da sind sein Vater
+und seine Mutter hintereinander gestorben vor lauter Gram, und der
+Bruder, der nun auch am Bettelstab war, ist vor Verdruss in die
+Welt hinaus, es weiß kein Mensch wohin, und der Öhi selber, als er
+nichts mehr hatte als einen bösen Namen, ist auch verschwunden.
+Erst wusste niemand wohin, dann vernahm man, er sei unter das
+Militär gegangen nach Neapel, und dann hörte man nichts mehr von
+ihm zwölf oder fünfzehn Jahre lang. Dann auf einmal erschien er
+wieder im Domleschg mit einem halb erwachsenen Buben und wollte
+diesen in der Verwandtschaft unterzubringen suchen. Aber es
+schlossen sich alle Türen vor ihm, und keiner wollte mehr etwas von
+ihm wissen. Das erbitterte ihn sehr; er sagte, ins Domleschg setze
+er keinen Fuß mehr, und dann kam er hierher ins Dörfli und lebte da
+mit dem Buben. Die Frau muss eine Bündnerin gewesen sein, die er
+dort unten getroffen und dann bald wieder verloren hatte. Er
+musste noch etwas Geld haben, denn er ließ den Buben, den Tobias,
+ein Handwerk erlernen, Zimmermann, und der war ein ordentlicher
+Mensch und wohlgelitten bei allen Leuten im Dörfli. Aber dem Alten
+traute keiner, man sagte auch, er sei von Neapel desertiert, es
+wäre ihm sonst schlimm gegangen, denn er habe einen erschlagen,
+natürlich nicht im Krieg, verstehst du, sondern beim Raufhandel.
+Wir anerkannten aber die Verwandtschaft, da meiner Mutter
+Großmutter mit seiner Großmutter Geschwisterkind gewesen war. So
+nannten wir ihn Öhi, und da wir fast mit allen Leuten im Dörfli
+wieder verwandt sind vom Vater her, so nannten ihn diese alle auch
+Öhi, und seit er dann auf die Alm hinaufgezogen war, hieß er eben
+nur noch der 'Alm-Öhi'."
+
+"Aber wie ist es dann mit dem Tobias gegangen?", fragte gespannt
+die Barbel.
+
+"Wart nur, das kommt schon, ich kann nicht alles auf einmal sagen",
+erklärte Dete. "Also der Tobias war in der Lehre draußen in Mels,
+und sowie er fertig war, kam er heim ins Dörfli und nahm meine
+Schwester zur Frau, die Adelheid, denn sie hatten sich schon immer
+gern gehabt, und auch wie sie nun verheiratet waren, konnten sie's
+sehr gut zusammen. Aber es ging nicht lange. Schon zwei Jahre
+nachher, wie er an einem Hausbau mithalf, fiel ein Balken auf ihn
+herunter und schlug ihn tot. Und wie man den Mann so entstellt
+nach Hause brachte, da fiel die Adelheid vor Schrecken und Leid in
+ein heftiges Fieber und konnte sich nicht mehr erholen, sie war
+sonst nicht sehr kräftig und hatte manchmal so eigene Zustände
+gehabt, dass man nicht recht wusste, schlief sie oder war sie wach.
+Nur ein paar Wochen, nachdem der Tobias tot war, begrub man auch
+die Adelheid. Da sprachen alle Leute weit und breit von dem
+traurigen Schicksal der beiden, und leise und laut sagten sie, das
+sei die Strafe, die der Öhi verdient habe für sein gottloses Leben,
+und ihm selbst wurde es gesagt und auch der Herr Pfarrer redete ihm
+ins Gewissen, er sollte doch jetzt Buße tun, aber er wurde nur
+immer grimmiger und verstockter und redete mit niemandem mehr, es
+ging ihm auch jeder aus dem Wege. Auf einmal hieß es, der Öhi sei
+auf die Alm hinaufgezogen und komme gar nicht mehr herunter, und
+seither ist er dort und lebt mit Gott und Menschen im Unfrieden.
+Das kleine Kind der Adelheid nahmen wir zu uns, die Mutter und ich;
+es war ein Jahr alt. Wie nun im letzten Sommer die Mutter starb
+und ich im Bad drunten etwas verdienen wollte, nahm ich es mit und
+gab es der alten Ursel oben im Pfäfferserdorf in die Kost. Ich
+konnte auch im Winter im Bad bleiben, es gab allerhand Arbeit, weil
+ich zu nähen und flicken verstehe, und früh im Frühling kam die
+Herrschaft aus Frankfurt wieder, die ich voriges Jahr bedient hatte
+und die mich mitnehmen will; übermorgen reisen wir ab, und der
+Dienst ist gut, das kann ich dir sagen."
+
+"Und dem Alten da droben willst du nun das Kind übergeben? Es
+nimmt mich nur wunder, was du denkst, Dete", sagte die Barbel
+vorwurfsvoll.
+
+"Was meinst du denn?", gab Dete zurück. "Ich habe das Meinige an
+dem Kinde getan, und was sollte ich denn mit ihm machen? Ich denke,
+ich kann eines, das erst fünf Jahre alt wird, nicht mit nach
+Frankfurt nehmen. Aber wohin gehst du eigentlich, Barbel, wir sind
+ja schon halbwegs auf der Alm?"
+
+"Ich bin auch gleich da, wo ich hinmuss", entgegnete die Barbel;
+"ich habe mit der Geißenpeterin zu reden, sie spinnt mir im Winter.
+So leb wohl, Dete, mit Glück!"
+
+Dete reichte der Begleiterin die Hand und blieb stehen, während
+diese der kleinen, dunkelbraunen Almhütte zuging, die einige
+Schritte seitwärts vom Pfad in einer Mulde stand, wo sie vor dem
+Bergwind ziemlich geschützt war. Die Hütte stand auf der halben
+Höhe der Alm, vom Dörfli aus gerechnet, und dass sie in einer
+kleinen Vertiefung des Berges stand, war gut, denn sie sah so
+baufällig und verfallen aus, dass es auch so noch ein gefährliches
+Darinwohnen sein musste, wenn der Föhnwind so mächtig über die
+Berge strich, dass alles an der Hütte klapperte, Türen und Fenster,
+und alle die morschen Balken zitterten und krachten. Hätte die
+Hütte an solchen Tagen oben auf der Alm gestanden, sie wäre
+unverzüglich ins Tal hinabgeweht worden.
+
+Hier wohnte der Geißenpeter, der elfjährige Bube, der jeden Morgen
+unten im Dörfli die Geißen holte, um sie hoch auf die Alm
+hinaufzutreiben, um sie da die kurzen kräftigen Kräuter fressen zu
+lassen bis zum Abend; dann sprang der Peter mit den leichtfüßigen
+Tierchen wieder herunter, tat, im Dörfli angekommen, einen
+schrillen Pfiff durch die Finger, und jeder Besitzer holte seine
+Geiß auf dem Platz. Meistens kamen kleine Buben und Mädchen, denn
+die friedlichen Geißen waren nicht zu fürchten, und das war denn
+den ganzen Sommer durch die einzige Zeit am Tage, da der Peter mit
+seinesgleichen verkehrte; sonst lebte er nur mit den Geißen. Er
+hatte zwar daheim seine Mutter und die blinde Großmutter; aber da
+er immer am Morgen sehr früh fortmusste und am Abend vom Dörfli
+spät heimkam, weil er sich da noch so lange als möglich mit den
+Kindern unterhalten musste, so verbrachte er daheim nur gerade so
+viel Zeit, um am Morgen seine Milch und Brot und am Abend
+ebendasselbe hinunterzuschlucken und dann sich aufs Ohr zu legen
+und zu schlafen. Sein Vater, der auch schon der Geißenpeter
+genannt worden war, weil er in früheren Jahren in demselben Berufe
+gestanden hatte, war vor einigen Jahren beim Holzfällen verunglückt.
+Seine Mutter, die zwar Brigitte hieß, wurde von jedermann um des
+Zusammenhangs willen die Geißenpeterin genannt, und die blinde
+Großmutter kannten weit und breit Alt und Jung nur unter dem Namen
+Großmutter.
+
+Die Dete hatte wohl zehn Minuten gewartet und sich nach allen
+Seiten umgesehen, ob die Kinder mit den Geißen noch nirgends zu
+sehen seien; als dies aber nicht der Fall war, so stieg sie noch
+ein wenig höher, wo sie besser die ganze Alm bis hinunter übersehen
+konnte, und guckte nun von hier aus bald dahin, bald dorthin mit
+Zeichen großer Ungeduld auf dem Gesicht und in den Bewegungen.
+Unterdessen rückten die Kinder auf einem großen Umwege heran, denn
+der Peter wusste viele Stellen, wo allerhand Gutes an Sträuchern
+und Gebüschen für seine Geißen zu nagen war; darum machte er mit
+seiner Herde vielerlei Wendungen auf dem Wege. Erst war das Kind
+mühsam nachgeklettert, in seiner schweren Rüstung vor Hitze und
+Unbequemlichkeit keuchend und alle Kräfte anstrengend. Es sagte
+kein Wort, blickte aber unverwandt bald auf den Peter, der mit
+seinen nackten Füßen und leichten Höschen ohne alle Mühe hin und
+her sprang, bald auf die Geißen, die mit den dünnen, schlanken
+Beinchen noch leichter über Busch und Stein und steile Abhänge
+hinaufkletterten. Auf einmal setzte das Kind sich auf den Boden
+nieder, zog mit großer Schnelligkeit Schuhe und Strümpfe aus, stand
+wieder auf, zog sein rotes, dickes Halstuch weg, machte sein
+Röckchen auf, zog es schnell aus und hatte gleich noch eins
+auszuhäkeln, denn die Base Dete hatte ihm das Sonntagskleidchen
+über das Alltagszeug angezogen, um der Kürze willen, damit niemand
+es tragen müsse. Blitzschnell war auch das Alltagsröcklein weg,
+und nun stand das Kind im leichten Unterröckchen, die bloßen Arme
+aus den kurzen Hemdärmelchen vergnüglich in die Luft
+hinausstreckend. Dann legte es schön alles auf ein Häufchen, und
+nun sprang und kletterte es hinter den Geißen und neben dem Peter
+her, so leicht als nur eines aus der ganzen Gesellschaft. Der
+Peter hatte nicht Acht gegeben, was das Kind mache, als es
+zurückgeblieben war. Wie es nun in der neuen Bekleidung
+nachgesprungen kam, zog er lustig grinsend das ganze Gesicht
+auseinander und schaute zurück, und wie er unten das Häuflein
+Kleider liegen sah, ging sein Gesicht noch ein wenig mehr
+auseinander, und sein Mund kam fast von einem Ohr bis zum anderen;
+er sagte aber nichts. Wie nun das Kind sich so frei und leicht
+fühlte, fing es ein Gespräch mit dem Peter an, und er fing auch an
+zu reden und musste auf vielerlei antworten, denn das Kind wollte
+wissen, wie viele Geißen er habe und wohin er mit ihnen gehe und
+was er dort tue, wo er hinkomme. So langten endlich die Kinder
+samt den Geißen oben bei der Hütte an und kamen der Base Dete zu
+Gesicht. Kaum aber hatte diese die herankletternde Gesellschaft
+erblickt, als sie laut aufschrie: "Heidi, was machst du? Wie
+siehst du aus? Wo hast du deinen Rock und den zweiten und das
+Halstuch? Und ganz neue Schuhe habe ich dir gekauft auf den Berg
+und dir neue Strümpfe gemacht, und alles fort! Alles fort! Heidi,
+was machst du, wo hast du alles?"
+
+Das Kind zeigte ruhig den Berg hinunter und sagte: "Dort!" Die Base
+folgte seinem Finger. Richtig, dort lag etwas und obenauf war ein
+roter Punkt, das musste das Halstuch sein.
+
+"Du Unglückstropf!", rief die Base in großer Aufregung. "Was kommt
+dir denn in den Sinn, warum hast du alles ausgezogen? Was soll das
+sein?"
+
+"Ich brauch es nicht", sagte das Kind und sah gar nicht reuevoll
+aus über seine Tat.
+
+"Ach du unglückseliges, vernunftloses Heidi, hast du denn auch noch
+gar keine Begriffe?", jammerte und schalt die Base weiter. "Wer
+sollte nun wieder da hinunter, es ist ja eine halbe Stunde! Komm,
+Peter, lauf du mir schnell zurück und hol das Zeug, komm schnell
+und steh nicht dort und glotze mich an, als wärst du am Boden
+festgenagelt."
+
+"Ich bin schon zu spät", sagte Peter langsam und blieb, ohne sich
+zu rühren, auf demselben Fleck stehen, von dem aus er, beide Hände
+in die Taschen gesteckt, dem Schreckensausbruch der Base zugehört
+hatte.
+
+"Du stehst ja doch nur und reißest deine Augen auf und kommst, denk
+ich, nicht weit auf die Art!", rief ihm die Base Dete zu. "Komm
+her, du musst etwas Schönes haben, siehst du?" Sie hielt ihm ein
+neues Fünferchen hin, das glänzte ihm in die Augen. Plötzlich
+sprang er auf und davon auf dem geradesten Weg die Alm hinunter und
+kam in ungeheuren Sätzen in kurzer Zeit bei dem Häuflein Kleider an,
+packte sie auf und erschien damit so schnell, dass ihn die Base
+rühmen musste und ihm sogleich sein Fünfrappenstück überreichte.
+Peter steckte es schnell tief in seine Tasche, und sein Gesicht
+glänzte und lachte in voller Breite, denn ein solcher Schatz wurde
+ihm nicht oft zuteil.
+
+"Du kannst mir das Zeug noch tragen bis zum Öhi hinauf, du gehst ja
+auch den Weg", sagte die Base Dete jetzt, indem sie sich anschickte,
+den steilen Abhang zu erklimmen, der gleich hinter der Hütte des
+Geißenpeter emporragte. Willig übernahm dieser den Auftrag und
+folgte der Voranschreitenden auf dem Fuße nach, den linken Arm um
+sein Bündel geschlungen, in der Rechten die Geißenrute schwingend.
+Das Heidi und die Geißen hüpften und sprangen fröhlich neben ihm
+her. So gelangte der Zug nach drei Viertelstunden auf die Almhöhe,
+wo frei auf dem Vorsprung des Berges die Hütte des alten Öhi stand,
+allen Winden ausgesetzt, aber auch jedem Sonnenblick zugänglich und
+mit der vollen Aussicht weit ins Tal hinab. Hinter der Hütte
+standen drei alte Tannen mit dichten, langen, unbeschnittenen Ästen.
+Weiter hinten ging es nochmals bergan bis hoch hinauf in die
+alten, grauen Felsen, erst noch über schöne, kräuterreiche Höhen,
+dann in steiniges Gestrüpp und endlich zu den kahlen, steilen
+Felsen hinan.
+
+An die Hütte festgemacht, der Talseite zu, hatte sich der Öhi eine
+Bank gezimmert. Hier saß er, eine Pfeife im Mund, beide Hände auf
+seine Knie gelegt, und schaute ruhig zu, wie die Kinder, die Geißen
+und die Base Dete herankletterten, denn die Letztere war nach und
+nach von den anderen überholt worden. Heidi war zuerst oben; es
+ging geradeaus auf den Alten zu, streckte ihm die Hand entgegen und
+sagte: "Guten Abend, Großvater!"
+
+"So, so, wie ist das gemeint?", fragte der Alte barsch, gab dem
+Kinde kurz die Hand und schaute es mit einem langen,
+durchdringenden Blick an, unter seinen buschigen Augenbrauen hervor.
+Heidi gab den langen Blick ausdauernd zurück, ohne nur einmal mit
+den Augen zu zwinkern, denn der Großvater mit dem langen Bart und
+den dichten, grauen Augenbrauen, die in der Mitte zusammengewachsen
+waren und aussahen wie eine Art Gesträuch, war so verwunderlich
+anzusehen, dass Heidi ihn recht betrachten musste. Unterdessen war
+auch die Base herangekommen samt dem Peter, der eine Welle stille
+stand und zusah, was sich da ereigne.
+
+"Ich wünsche Euch guten Tag, Öhi", sagte die Dete hinzutretend,
+"und hier bring ich Euch das Kind vom Tobias und der Adelheid. Ihr
+werdet es wohl nicht mehr kennen, denn seit es jährig war, habt Ihr
+es nie mehr gesehen."
+
+"So, was muss das Kind bei mir?", fragte der Alte kurz; "und du
+dort", rief er dem Peter zu, "du kannst gehen mit deinen Geißen, du
+bist nicht zu früh; nimm meine mit!"
+
+Der Peter gehorchte sofort und verschwand, denn der Öhi hatte ihn
+angeschaut, dass er schon genug davon hatte.
+
+"Es muss eben bei Euch bleiben, Öhi", gab die Dete auf seine Frage
+zurück. "Ich habe, denk ich, das Meinige an ihm getan die vier
+Jahre durch, es wird jetzt wohl an Euch sein, das Eurige auch
+einmal zu tun."
+
+"So", sagte der Alte und warf einen blitzenden Blick auf die Dete.
+"Und wenn nun das Kind anfängt, dir nachzuflennen und zu winseln,
+wie kleine Unvernünftige tun, was muss ich dann mit ihm anfangen?"
+
+"Das ist dann Eure Sache", warf die Dete zurück, "ich meine fast,
+es habe mir auch kein Mensch gesagt, wie ich es mit dem Kleinen
+anzufangen habe, als es mir auf den Händen lag, ein einziges
+Jährchen alt, und ich schon für mich und die Mutter genug zu tun
+hatte. Jetzt muss ich meinem Verdienst nach, und Ihr seid der
+Nächste am Kind; wenn Ihr's nicht haben könnt, so macht mit ihm,
+was Ihr wollt, dann habt Ihr's zu verantworten, wenn's verdirbt,
+und Ihr werdet wohl nicht nötig haben, noch etwas aufzuladen."
+
+Die Dete hatte kein recht gutes Gewissen bei der Sache, darum war
+sie so hitzig geworden und hatte mehr gesagt, als sie im Sinn
+gehabt hatte. Bei ihren letzten Worten war der Öhi aufgestanden;
+er schaute sie so an, dass sie einige Schritte zurückwich; dann
+streckte er den Arm aus und sagte befehlend: "Mach, dass du
+hinunterkommst, wo du heraufgekommen bist, und zeig dich nicht so
+bald wieder!" Das ließ sich die Dete nicht zweimal sagen. "So lebt
+wohl, und du auch, Heidi", sagte sie schnell und lief den Berg
+hinunter in einem Trab bis ins Dörfli hinab, denn die innere
+Aufregung trieb sie vorwärts wie eine wirksame Dampfkraft. Im
+Dörfli wurde sie diesmal noch viel mehr angerufen, denn es wunderte
+die Leute, wo das Kind sei; sie kannten ja alle die Dete genau und
+wussten, wem das Kind gehörte und alles, was mit ihm vorgegangen
+war. Als es nun aus allen Türen und Fenstern tönte: "Wo ist das
+Kind? Dete, wo hast du das Kind gelassen?", rief sie immer
+unwilliger zurück: "Droben beim Alm-Öhi! Nun, beim Alm-Öhi, ihr
+hört's ja!"
+
+Sie wurde aber so maßleidig, weil die Frauen von allen Seiten ihr
+zuriefen: "Wie kannst du so etwas tun!", und: "Das arme Tröpfli!",
+und: "So ein kleines Hilfloses da droben lassen!", und dann wieder
+und wieder: "Das arme Tröpfli!" Die Dete lief, so schnell sie
+konnte, weiter und war froh, als sie nichts mehr hörte, denn es war
+ihr nicht wohl bei der Sache; ihre Mutter hatte ihr beim Sterben
+das Kind noch übergeben. Aber sie sagte sich zur Beruhigung, sie
+könne dann ja eher wieder etwas für das Kind tun, wenn sie nun viel
+Geld verdiene, und so war sie sehr froh, dass sie bald weit von
+allen Leuten, die ihr dreinredeten, weg- und zu einem schönen
+Verdienst kommen konnte.
+
+
+
+
+Beim Großvater
+
+Nachdem die Dete verschwunden war, hatte der Öhi sich wieder auf
+die Bank hingesetzt und blies nun große Wolken aus seiner Pfeife;
+dabei starrte er auf den Boden und sagte kein Wort. Derweilen
+schaute das Heidi vergnüglich um sich, entdeckte den Geißenstall,
+der an die Hütte angebaut war, und guckte hinein. Es war nichts
+drin. Das Kind setzte seine Untersuchungen fort und kam hinter die
+Hütte zu den alten Tannen. Da blies der Wind durch die Äste so
+stark, dass es sauste und brauste oben in den Wipfeln. Heidi blieb
+stehen und hörte zu. Als es ein wenig stiller wurde, ging das Kind
+um die kommende Ecke der Hütte herum und kam vorn wieder zum
+Großvater zurück. Als es diesen noch in derselben Stellung
+erblickte, wie es ihn verlassen hatte, stellte es sich vor ihn hin,
+legte die Hände auf den Rücken und betrachtete ihn. Der Großvater
+schaute auf. "Was willst du jetzt tun?", fragte er, als das Kind
+immer noch unbeweglich vor ihm stand.
+
+"Ich will sehen, was du drinnen hast, in der Hütte", sagte Heidi.
+
+"So komm!", und der Großvater stand auf und ging voran in die Hütte
+hinein.
+
+"Nimm dort dein Bündel Kleider noch mit", befahl er im Hereintreten.
+
+"Das brauch ich nicht mehr", erklärte Heidi.
+
+Der Alte kehrte sich um und schaute durchdringend auf das Kind,
+dessen schwarze Augen glühten in Erwartung der Dinge, die da
+drinnen sein konnten. "Es kann ihm nicht an Verstand fehlen",
+sagte er halblaut. "Warum brauchst du's nicht mehr?", setzte er
+laut hinzu.
+
+"Ich will am liebsten gehen wie die Geißen, die haben ganz leichte
+Beinchen."
+
+"So, das kannst du, aber hol das Zeug", befahl der Großvater, "es
+kommt in den Kasten." Heidi gehorchte. Jetzt machte der Alte die
+Tür auf und Heidi trat hinter ihm her in einen ziemlich großen Raum
+ein, es war der Umfang der ganzen Hütte. Da stand ein Tisch und
+ein Stuhl daran; in einer Ecke war des Großvaters Schlaflager, in
+einer anderen hing der große Kessel über dem Herd; auf der anderen
+Seite war eine große Tür in der Wand, die machte der Großvater auf,
+es war der Schrank. Da hingen seine Kleider drin und auf einem
+Gestell lagen ein paar Hemden, Strümpfe und Tücher und auf einem
+anderen einige Teller und Tassen und Gläser und auf dem obersten
+ein rundes Brot und geräuchertes Fleisch und Käse, denn in dem
+Kasten war alles enthalten, was der Alm-Öhi besaß und zu seinem
+Lebensunterhalt gebrauchte. Wie er nun den Schrank aufgemacht
+hatte, kam das Heidi schnell heran und stieß sein Zeug hinein, so
+weit hinter des Großvaters Kleider als möglich, damit es nicht so
+leicht wieder zu finden sei. Nun sah es sich aufmerksam um in dem
+Raum und sagte dann: "Wo muss ich schlafen, Großvater?"
+
+"Wo du willst", gab dieser zur Antwort.
+
+Das war dem Heidi eben recht. Nun fuhr es in alle Winkel hinein
+und schaute jedes Plätzchen aus, wo am schönsten zu schlafen wäre.
+In der Ecke vorüber des Großvaters Lagerstätte war eine kleine
+Leiter aufgerichtet; Heidi kletterte hinauf und langte auf dem
+Heuboden an. Da lag ein frischer, duftender Heuhaufen oben, und
+durch eine runde Luke sah man weit ins Tal hinab.
+
+"Hier will ich schlafen", rief Heidi hinunter, "hier ist's schön!
+Komm und sieh einmal, wie schön es hier ist, Großvater!"
+
+"Weiß schon", tönte es von unten herauf.
+
+"Ich mache jetzt das Bett!", rief das Kind wieder, indem es oben
+geschäftig hin und her fuhr; "aber du musst heraufkommen und mir
+ein Leintuch mitbringen, denn auf ein Bett kommt auch ein Leintuch,
+und darauf liegt man."
+
+"So, so", sagte unten der Großvater, und nach einer Weile ging er
+an den Schrank und kramte ein wenig darin herum; dann zog er unter
+seinen Hemden ein langes, grobes Tuch hervor, das musste so etwas
+sein wie ein Leintuch. Er kam damit die Leiter herauf. Da war auf
+dem Heuboden ein ganz artiges Bettlein zugerichtet; oben, wo der
+Kopf liegen musste, war das Heu hoch aufgeschichtet, und das
+Gesicht kam so zu liegen, dass es gerade auf das offene, runde Loch
+traf.
+
+"Das ist recht gemacht", sagte der Großvater, "jetzt wird das Tuch
+kommen, aber wart noch"--damit nahm er einen guten Wisch Heu von
+dem Haufen und machte das Lager doppelt so dick, damit der harte
+Boden nicht durchgefühlt werden konnte--; "so, jetzt komm her
+damit." Heidi hatte das Leintuch schnell zuhanden genommen, konnte
+es aber fast nicht tragen, so schwer war's; aber das war sehr gut,
+denn durch das feste Zeug konnten die spitzen Heuhalme nicht
+durchstechen. Jetzt breiteten die beiden miteinander das Tuch über
+das Heu, und wo es zu breit und zu lang war, stopfte Heidi die
+Enden eilfertig unter das Lager. Nun sah es recht gut und reinlich
+aus, und Heidi stellte sich davor und betrachtete es nachdenklich.
+
+"Wir haben noch etwas vergessen, Großvater", sagte es dann.
+
+"Was denn?", fragte er.
+
+"Eine Decke; denn wenn man ins Bett geht, kriecht man zwischen das
+Leintuch und die Decke hinein."
+
+"So, meinst du? Wenn ich aber keine habe?", sagte der Alte.
+
+"Oh, dann ist's gleich, Großvater", beruhigte Heidi, "dann nimmt
+man wieder Heu zur Decke", und eilfertig wollte es gleich wieder an
+den Heustock gehen, aber der Großvater wehrte es ihm.
+
+"Wart einen Augenblick", sagte er, stieg die Leiter hinab und ging
+an sein Lager hin. Dann kam er wieder und legte einen großen,
+schweren, leinenen Sack auf den Boden.
+
+"Ist das nicht besser als Heu?", fragte er. Heidi zog aus
+Leibeskräften an dem Sacke hin und her, um ihn auseinander zu legen,
+aber die kleinen Hände konnten das schwere Zeug nicht bewältigen.
+Der Großvater half, und wie es nun ausgebreitet auf dem Bette lag,
+da sah alles sehr gut und haltbar aus, und Heidi stand staunend vor
+seinem neuen Lager und sagte: "Das ist eine prächtige Decke und das
+ganze Bett! Jetzt wollt ich, es wäre schon Nacht, so könnte ich
+hineinliegen."
+
+"Ich meine, wir könnten erst einmal etwas essen", sagte der
+Großvater, "oder was meinst du?" Heidi hatte über dem Eifer des
+Bettens alles andere vergessen; nun ihm aber der Gedanke ans Essen
+kam, stieg ein großer Hunger in ihm auf, denn es hatte auch heute
+noch gar nichts bekommen als früh am Morgen sein Stück Brot und ein
+paar Schlucke dünnen Kaffees, und nachher hatte es die lange Reise
+gemacht. So sagte Heidi ganz zustimmend: "Ja, ich mein es auch."
+
+"So geh hinunter, wenn wir denn einig sind", sagte der Alte und
+folgte dem Kind auf dem Fuß nach. Dann ging er zum Kessel hin,
+schob den großen weg und drehte den kleinen heran, der an der Kette
+hing, setzte sich auf den hölzernen Dreifuß mit dem runden Sitz
+davor hin und blies ein helles Feuer an. Im Kessel fing es an zu
+sieden, und unten hielt der Alte an einer langen Eisengabel ein
+großes Stück Käse über das Feuer und drehte es hin und her, bis es
+auf allen Seiten goldgelb war. Heidi hatte mit gespannter
+Aufmerksamkeit zugesehen; jetzt musste ihm etwas Neues in den Sinn
+gekommen sein; auf einmal sprang es weg und an den Schrank und von
+da hin und her. Jetzt kam der Großvater mit einem Topf und dem
+Käsebraten an der Gabel zum Tisch heran; da lag schon das runde
+Brot darauf und zwei Teller und zwei Messer, alles schön geordnet,
+denn das Heidi hatte alles im Schrank gut wahrgenommen und wusste,
+dass man das alles nun gleich zum Essen brauchen werde.
+
+"So, das ist recht, dass du selbst etwas ausdenkst", sagte der
+Großvater und legte den Braten auf das Brot als Unterlage; "aber es
+fehlt noch etwas auf dem Tisch."
+
+Heidi sah, wie einladend es aus dem Topf hervordampfte, und sprang
+schnell wieder an den Schrank. Da stand aber nur ein einziges
+Schüsselchen. Heidi war nicht lang in Verlegenheit, dort hinten
+standen zwei Gläser; augenblicklich kam das Kind zurück und stellte
+Schüsselchen und Glas auf den Tisch.
+
+"Recht so; du weißt dir zu helfen; aber wo willst du sitzen?" Auf
+dem einzigen Stuhl saß der Großvater selbst. Heidi schoss
+pfeilschnell zum Herd hin, brachte den kleinen Dreifuß zurück und
+setzte sich drauf.
+
+"Einen Sitz hast du wenigstens, das ist wahr, nur ein wenig weit
+unten", sagte der Großvater; "aber von meinem Stuhl wärst auch zu
+kurz, auf den Tisch zu langen; jetzt musst aber einmal etwas haben,
+so komm!" Damit stand er auf, füllte das Schüsselchen mit Milch,
+stellte es auf den Stuhl und rückte den ganz nah an den Dreifuß hin,
+so dass das Heidi nun einen Tisch vor sich hatte. Der Großvater
+legte ein großes Stück Brot und ein Stück von dem goldenen Käse
+darauf und sagte: "Jetzt iss!" Er selbst setzte sich nun auf die
+Ecke des Tisches und begann sein Mittagsmahl. Heidi ergriff sein
+Schüsselchen und trank und trank ohne Aufenthalt, denn der ganze
+Durst seiner langen Reise war ihm wieder aufgestiegen. Jetzt tat
+es einen langen Atemzug--denn im Eifer des Trinkens hatte es lange
+den Atem nicht holen können--und stellte sein Schüsselchen hin.
+
+"Gefällt dir die Milch?", fragte der Großvater.
+
+"Ich habe noch gar nie so gute Milch getrunken", antwortete Heidi.
+
+"So musst du mehr haben", und der Großvater füllte das Schüsselchen
+noch einmal bis oben hin und stellte es vor das Kind, das
+vergnüglich in sein Brot biss, nachdem es von dem weichen Käse
+darauf gestrichen, denn der war, so gebraten, weich wie Butter, und
+das schmeckte ganz kräftig zusammen, und zwischendurch trank es
+seine Milch und sah sehr vergnüglich aus. Als nun das Essen zu
+Ende war, ging der Großvater in den Geißenstall hinaus und hatte da
+allerhand in Ordnung zu bringen, und Heidi sah ihm aufmerksam zu,
+wie er erst mit dem Besen säuberte, dann frische Streu legte, dass
+die Tierchen darauf schlafen konnten; wie er dann nach dem
+Schöpfchen ging nebenan und hier runde Stöcke zurechtschnitt und an
+einem Brett herumhackte und Löcher hineinbohrte und dann die runden
+Stöcke hineinsteckte und aufstellte; da war es auf einmal ein Stuhl,
+wie der vom Großvater, nur viel höher, und Heidi staunte das Werk
+an, sprachlos vor Verwunderung.
+
+"Was ist das, Heidi?", fragte der Großvater.
+
+"Das ist mein Stuhl, weil er so hoch ist; auf einmal war er fertig",
+sagte das Kind, noch in tiefem Erstaunen und Bewunderung.
+
+"Es weiß, was es sieht, es hat die Augen am rechten Ort", bemerkte
+der Großvater vor sich hin, als er nun um die Hütte herumging und
+hier einen Nagel einschlug und dort einen und dann an der Tür etwas
+zu befestigen hatte und so mit Hammer und Nägeln und Holzstücken
+von einem Ort zum anderen wanderte und immer etwas ausbesserte oder
+wegschlug, je nach dem Bedürfnis. Heidi ging Schritt für Schritt
+hinter ihm her und schaute ihm unverwandt mit der größten
+Aufmerksamkeit zu, und alles, was da vorging, war ihm sehr
+kurzweilig anzusehen.
+
+So kam der Abend heran. Es fing stärker an zu rauschen in den
+alten Tannen, ein mächtiger Wind fuhr daher und sauste und brauste
+durch die dichten Wipfel. Das tönte dem Heidi so schön in die
+Ohren und ins Herz hinein, dass es ganz fröhlich darüber wurde und
+hüpfte und sprang unter den Tannen umher, als hätte es eine
+unerhörte Freude erlebt. Der Großvater stand unter der Schopftür
+und schaute dem Kind zu. Jetzt ertönte ein schriller Pfiff. Heidi
+hielt an in seinen Sprüngen, der Großvater trat heraus. Von oben
+herunter kam es gesprungen, Geiß um Geiß, wie eine Jagd, und
+mittendrin der Peter. Mit einem Freudenruf schoss Heidi mitten in
+das Rudel hinein und begrüßte die alten Freunde von heute Morgen
+einen um den anderen. Bei der Hütte angekommen, stand alles still,
+und aus der Herde heraus kamen zwei schöne, schlanke Geißen, eine
+weiße und eine braune, auf den Großvater zu und leckten seine Hände,
+denn er hielt ein wenig Salz darin, wie er jeden Abend zum Empfang
+seiner zwei Tierlein tat. Der Peter verschwand mit seiner Schar.
+Heidi streichelte zärtlich die eine und dann die andere von den
+Geißen und sprang um sie herum, um sie von der anderen Seite auch
+zu streicheln, und war ganz Glück und Freude über die Tierchen.
+"Sind sie unser, Großvater? Sind sie beide unser? Kommen sie in
+den Stall? Bleiben sie immer bei uns?", so fragte Heidi
+hintereinander in seinem Vergnügen, und der Großvater konnte kaum
+sein stetiges "Ja, ja!" zwischen die eine und die andere Frage
+hineinbringen. Als die Geißen ihr Salz aufgeleckt hatten, sagte
+der Alte: "Geh und hol dein Schüsselchen heraus und das Brot."
+
+Heidi gehorchte und kam gleich wieder. Nun melkte der Großvater
+gleich von der Weißen das Schüsselchen voll und schnitt ein Stück
+Brot ab und sagte: "Nun iss und dann geh hinauf und schlaf! Die
+Base Dete hat noch ein Bündelchen abgelegt für dich, da seien
+Hemdlein und so etwas darin, das liegt unten im Kasten, wenn du's
+brauchst; ich muss nun mit den Geißen hinein, so schlaf wohl!"
+
+"Gut Nacht, Großvater! Gut Nacht--wie heißen sie, Großvater, wie
+heißen sie?", rief das Kind und lief dem verschwindenden Alten und
+den Geißen nach.
+
+"Die Weiße heißt Schwänli und die Braune Bärli", gab der Großvater
+zurück.
+
+"Gut Nacht, Schwänli, gut Nacht, Bärli!", rief nun Heidi noch mit
+Macht, denn eben verschwanden beide in den Stall hinein. Nun
+setzte sich Heidi noch auf die Bank und aß sein Brot und trank
+seine Milch; aber der starke Wind wehte es fast von seinem Sitz
+herunter; so machte es schnell fertig, ging dann hinein und stieg
+zu seinem Bett hinauf, in dem es auch gleich nachher so fest und
+herrlich schlief, als nur einer im schönsten Fürstenbett schlafen
+konnte. Nicht lange nachher, noch eh es völlig dunkel war, legte
+auch der Großvater sich auf sein Lager, denn am Morgen war er immer
+schon mit der Sonne wieder draußen, und die kam sehr früh über die
+Berge hereingestiegen in dieser Sommerszeit. In der Nacht kam der
+Wind so gewaltig, dass bei seinen Stößen die ganze Hütte erzitterte
+und es in allen Balken krachte; durch den Schornstein heulte und
+ächzte es wie Jammerstimmen, und in den alten Tannen draußen tobte
+es mit solcher Wut, dass hier und da ein Ast niederkrachte. Mitten
+in der Nacht stand der Großvater auf und sagte halblaut vor sich
+hin: "Es wird sich wohl fürchten." Er stieg die Leiter hinauf und
+trat an Heidis Lager heran. Der Mond draußen stand einmal hell
+leuchtend am Himmel, dann fuhren wieder die jagenden Wolken darüber
+hin und alles wurde dunkel. Jetzt kam der Mondschein eben
+leuchtend durch die runde Öffnung herein und fiel gerade auf Heidis
+Lager. Es hatte sich feuerrote Backen erschlafen unter seiner
+schweren Decke, und ruhig und friedlich lag es auf seinem runden
+Ärmchen und träumte von etwas Erfreulichem, denn sein Gesichtchen
+sah ganz wohlgemut aus. Der Großvater schaute so lange auf das
+friedlich schlafende Kind, bis der Mond wieder hinter die Wolken
+trat und es dunkel wurde, dann kehrte er auf sein Lager zurück.
+
+
+
+
+Auf der Weide
+
+Heidi erwachte am frühen Morgen an einem lauten Pfiff, und als es
+die Augen aufschlug, kam ein goldener Schein durch das runde Loch
+hereingeflossen auf sein Lager und auf das Heu daneben, dass alles
+golden leuchtete ringsherum. Heidi schaute erstaunt um sich und
+wusste durchaus nicht, wo es war. Aber nun hörte es draußen des
+Großvaters tiefe Stimme, und jetzt kam ihm alles in den Sinn: Woher
+es gekommen war und dass es nun auf der Alm beim Großvater sei,
+nicht mehr bei der alten Ursel, die fast nichts mehr hörte und
+meistens fror, so dass sie immer am Küchenfenster oder am
+Stubenofen gesessen hatte, wo dann auch Heidi hatte verweilen
+müssen oder doch ganz in der Nähe, damit die Alte sehen konnte, wo
+es war, weil sie es nicht hören konnte. Da war es dem Heidi
+manchmal zu eng drinnen, und es wäre lieber hinausgelaufen. So war
+es sehr froh, als es in der neuen Behausung erwachte und sich
+erinnerte, wie viel Neues es gestern gesehen hatte und was es heute
+wieder alles sehen könnte, vor allem das Schwänli und das Bärli.
+Heidi sprang eilig aus seinem Bett und hatte in wenig Minuten alles
+wieder angelegt, was es gestern getragen hatte, denn es war sehr
+wenig. Nun stieg es die Leiter hinunter und sprang vor die Hütte
+hinaus. Da stand schon der Geißenpeter mit seiner Schar, und der
+Großvater brachte eben Schwänli und Bärli aus dem Stall herbei,
+dass sie sich der Gesellschaft anschlossen. Heidi lief ihm
+entgegen, um ihm und den Geißen guten Tag zu sagen.
+
+"Willst mit auf die Weide?", fragte der Großvater. Das war dem
+Heidi eben recht, es hüpfte hoch auf vor Freude.
+
+"Aber erst waschen und sauber sein, sonst lacht einen die Sonne aus,
+wenn sie so schön glänzt da droben und sieht, dass du schwarz bist;
+sieh, dort ist's für dich gerichtet." Der Großvater zeigte auf
+einen großen Zuber voll Wasser, der vor der Tür in der Sonne stand.
+Heidi sprang hin und patschte und rieb, bis es ganz glänzend war.
+Unterdessen ging der Großvater in die Hütte hinein und rief dem
+Peter zu: "Komm hierher, Geißengeneral, und bring deinen Habersack
+mit." Verwundert folgte Peter dem Ruf und streckte sein Säcklein
+hin, in dem er sein mageres Mittagessen bei sich trug.
+
+"Mach auf", befahl der Alte und steckte nun ein großes Stück Brot
+und ein ebenso großes Stück Käse hinein. Der Peter machte vor
+Erstaunen seine runden Augen so weit auf als nur möglich, denn die
+beiden Stücke waren wohl doppelt so groß wie die zwei, die er als
+eignes Mittagsmahl drinnen hatte.
+
+"So, nun kommt noch das Schüsselchen hinein", fuhr der Öhi fort,
+"denn das Kind kann nicht trinken wie du, nur so von der Geiß weg,
+es kennt das nicht. Du melkst ihm zwei Schüsselchen voll zu Mittag,
+denn das Kind geht mit dir und bleibt bei dir, bis du wieder
+herunterkommst; gib Acht, dass es nicht über die Felsen
+hinunterfällt, hörst du?"--
+
+Nun kam Heidi hereingelaufen. "Kann mich die Sonne jetzt nicht
+auslachen, Großvater?", fragte es angelegentlich. Es hatte sich
+mit dem groben Tuch, das der Großvater neben dem Wasserzuber
+aufgehängt hatte, Gesicht, Hals und Arme in seinem Schrecken vor
+der Sonne so erstaunlich gerieben, dass es krebsrot vor dem
+Großvater stand. Er lachte ein wenig.
+
+"Nein, nun hat sie nichts zu lachen", bestätigte er. "Aber weißt
+was? Am Abend, wenn du heimkommst, da gehst du noch ganz hinein in
+den Zuber, wie ein Fisch; denn wenn man geht wie die Geißen, da
+bekommt man schwarze Füße. Jetzt könnt ihr ausziehen."
+
+Nun ging es lustig die Alm hinan. Der Wind hatte in der Nacht das
+letzte Wölkchen weggeblasen; dunkelblau schaute der Himmel von
+allen Seiten hernieder, und mittendrauf stand die leuchtende Sonne
+und schimmerte auf die grüne Alp, und alle die blauen und gelben
+Blümchen darauf machten ihre Kelche auf und schauten ihr fröhlich
+entgegen. Heidi sprang hierhin und dorthin und jauchzte vor Freude,
+denn da waren ganze Trüppchen feiner, roter Himmelsschlüsselchen
+beieinander, und dort schimmerte es ganz blau von den schönen
+Enzianen, und überall lachten und nickten die zartblätterigen,
+goldenen Cystusröschen in der Sonne. Vor Entzücken über all die
+flimmernden winkenden Blümchen vergaß Heidi sogar die Geißen und
+auch den Peter. Es sprang ganze Strecken voran und dann auf die
+Seite, denn dort funkelte es rot und da gelb und lockte Heidi auf
+alle Seiten. Und überall brach Heidi ganze Scharen von den Blumen
+und packte sie in sein Schürzchen ein, denn es wollte sie alle mit
+heimnehmen und ins Heu stecken in seiner Schlafkammer, dass es dort
+werde wie hier draußen. --So hatte der Peter heut nach allen
+Seiten zu gucken, und seine kugelrunden Augen, die nicht besonders
+schnell hin und her gingen, hatten mehr Arbeit, als der Peter gut
+bewältigen konnte, denn die Geißen machten es wie das Heidi: Sie
+liefen auch dahin und dorthin, und er musste überallhin pfeifen und
+rufen und seine Rute schwingen, um wieder alle die Verlaufenen
+zusammenzutreiben.
+
+"Wo bist du schon wieder, Heidi?", rief er jetzt mit ziemlich
+grimmiger Stimme.
+
+"Da", tönte es von irgendwoher zurück. Sehen konnte Peter niemand,
+denn Heidi saß am Boden hinter einem Hügelchen, das dicht mit
+duftenden Prünellen besät war; da war die ganze Luft umher so mit
+Wohlgeruch erfüllt, dass Heidi noch nie so Liebliches eingeatmet
+hatte. Es setzte sich in die Blumen hinein und zog den Duft in
+vollen Zügen ein.
+
+"Komm nach!", rief der Peter wieder. "Du musst nicht über die
+Felsen hinunterfallen, der Öhi hat's verboten."
+
+"Wo sind die Felsen?", fragte Heidi zurück, bewegte sich aber nicht
+von der Stelle, denn der süße Duft strömte mit jedem Windhauch dem
+Kinde lieblicher entgegen.
+
+"Dort oben, ganz oben, wir haben noch weit, drum komm jetzt! Und
+oben am höchsten sitzt der alte Raubvogel und krächzt."
+
+Das half. Augenblicklich sprang Heidi in die Höhe und rannte mit
+seiner Schürze voller Blumen dem Peter zu.
+
+"Jetzt hast genug", sagte dieser, als sie wieder zusammen
+weiterkletterten; "sonst bleibst du immer stecken, und wenn du alle
+nimmst, hat's morgen keine mehr." Der letzte Grund leuchtete Heidi
+ein, und dann hatte es die Schürze schon so angefüllt, dass da
+wenig Platz mehr gewesen wäre, und morgen mussten auch noch da sein.
+So zog es nun mit dem Peter weiter, und die Geißen gingen nun
+alle geregelter, denn sie rochen die guten Kräuter von dem hohen
+Weideplatz schon von fern und strebten nun ohne Aufenthalt dahin.
+Der Weideplatz, wo Peter gewöhnlich Halt machte mit seinen Geißen
+und sein Quartier für den Tag aufschlug, lag am Fuße der hohen
+Felsen, die, erst noch von Gebüsch und Tannen bedeckt, zuletzt ganz
+kahl und schroff zum Himmel hinaufragen. An der einen Seite der
+Alp ziehen sich Felsenklüfte weit hinunter und der Großvater hatte
+Recht, davor zu warnen. Als nun dieser Punkt der Höhe erreicht war,
+nahm Peter seinen Sack ab und legte ihn sorgfältig in eine kleine
+Vertiefung des Bodens hinein, denn der Wind kam manchmal in starken
+Stößen dahergefahren, und den kannte Peter und wollte seine
+kostbare Habe nicht den Berg hinunterrollen sehen; dann streckte er
+sich lang und breit auf den sonnigen Weideboden hin, denn er musste
+sich nun von der Anstrengung des Steigens erholen.
+
+Heidi hatte unterdessen sein Schürzchen losgemacht und schön fest
+zusammengerollt mit den Blumen darin zum Proviantsack in die
+Vertiefung hineingelegt, und nun setzte es sich neben den
+ausgestreckten Peter hin und schaute um sich. Das Tal lag weit
+unten im vollen Morgenglanz; vor sich sah Heidi ein großes, weites
+Schneefeld sich erheben, hoch in den dunkelblauen Himmel hinauf,
+und links davon stand eine ungeheure Felsenmasse, und zu jeder
+Seite derselben ragte ein hoher Felsenturm kahl und zackig in die
+Bläue hinauf und schaute von dort oben ganz ernsthaft auf das Heidi
+nieder. Das Kind saß mäuschenstill da und schaute ringsum, und
+weit umher war eine große, tiefe Stille; nur ganz sanft und leise
+ging der Wind über die zarten, blauen Glockenblümchen und die
+goldnen, strahlenden Cystusröschen, die überall herumstanden auf
+ihren dünnen Stängelchen und leise und fröhlich hin und her nickten.
+Der Peter war entschlafen nach seiner Anstrengung, und die Geißen
+kletterten oben an den Büschen umher. Dem Heidi war es so schön
+zumute, wie in seinem Leben noch nie. Es trank das goldene
+Sonnenlicht, die frischen Lüfte, den zarten Blumenduft in sich ein
+und begehrte gar nichts mehr, als so dazubleiben immerzu. So
+verging eine gute Zeit und Heidi hatte so oft und so lange zu den
+hohen Bergstöcken drüben aufgeschaut, dass es nun war, als hätten
+sie alle auch Gesichter bekommen und schauten ganz bekannt zu ihm
+hernieder, so wie gute Freunde.
+
+Jetzt hörte Heidi über sich ein lautes, scharfes Geschrei und
+Krächzen ertönen, und wie es aufschaute, kreiste über ihm ein so
+großer Vogel, wie es nie in seinem Leben gesehen hatte, mit weit
+ausgebreiteten Schwingen in der Luft umher, und in großen Bogen
+kehrte er immer wieder zurück und krächzte laut und durchdringend
+über Heidis Kopf.
+
+"Peter! Peter! Erwache!", rief Heidi laut. "Sich, der Raubvogel
+ist da, sieh! Sieh!"
+
+Peter erhob sich auf den Ruf und schaute mit Heidi dem Vogel nach,
+der sich nun höher und höher hinaufschwang ins Himmelsblau und
+endlich über grauen Felsen verschwand.
+
+"Wo ist er jetzt hin?", fragte Heidi, das mit gespannter
+Aufmerksamkeit den Vogel verfolgt hatte.
+
+"Heim ins Nest", war Peters Antwort.
+
+"Ist er dort oben daheim? Oh, wie schön so hoch oben! Warum
+schreit er so?", fragte Heidi weiter.
+
+"Weil er muss", erklärte Peter.
+
+"Wir wollen doch dort hinaufklettern und sehen, wo er daheim ist",
+schlug Heidi vor.
+
+"Oh! oh! oh!", brach der Peter aus, jeden Ausruf mit verstärkter
+Missbilligung hervorstoßend; "wenn keine Geiß mehr dorthin kann und
+der Öhi gesagt hat, du dürfest nicht über die Felsen hinunterfallen."
+
+Jetzt begann der Peter mit einem Mal ein so gewaltiges Pfeifen und
+Rufen anzustimmen, dass Heidi gar nicht wusste, was begegnen sollte;
+aber die Geißen mussten die Töne verstehen, denn eine nach der
+anderen kam heruntergesprungen, und nun war die ganze Schar auf der
+grünen Halde versammelt, die einen fortnagend an den würzigen
+Halmen, die anderen hin und her rennend und die Dritten ein wenig
+gegeneinander stoßend mit ihren Hörnern zum Zeitvertreib. Heidi
+war aufgesprungen und rannte mitten unter den Geißen umher, denn
+das war ihm ein neuer, unbeschreiblich vergnüglicher Anblick, wie
+die Tierlein durcheinander sprangen und sich lustig machten, und
+Heidi sprang von einem zum anderen und machte mit jedem ganz
+persönliche Bekanntschaft, denn jedes war eine ganz besondere
+Erscheinung für sich und hatte seine eigenen Manieren. Unterdessen
+hatte Peter den Sack herbeigeholt und alle vier Stücke, die drin
+waren, schön auf den Boden hingelegt in ein Viereck, die großen
+Stücke auf Heidis Seite und die kleinen auf die seinige hin, denn
+er wusste genau, wie er sie erhalten hatte. Dann nahm er das
+Schüsselchen und melkte schöne, frische Milch hinein vom Schwänli
+und stellte das Schüsselchen mitten ins Viereck. Dann rief er
+Heidi herbei, musste aber länger rufen als nach den Geißen, denn
+das Kind war so in Eifer und Freude über die mannigfaltigen Sprünge
+und Erlustigungen seiner neuen Spielkameraden, dass es nichts sah
+und nichts hörte außer diesen. Aber Peter wusste sich verständlich
+zu machen, er rief, dass es bis in die Felsen hinaufdröhnte, und
+nun erschien Heidi und die gedeckte Tafel sah so einladend aus,
+dass es um sie herumhüpfte vor Wohlgefallen.
+
+"Hör auf zu hopsen, es ist Zeit zum Essen", sagte Peter, "jetzt
+sitz und fang an."
+
+Heidi setzte sich hin. "Ist die Milch mein?", fragte es, nochmals
+das schöne Viereck und den Hauptpunkt in der Mitte mit Wohlgefallen
+betrachtend.
+
+"Ja", erwiderte Peter, "und die zwei großen Stücke zum Essen sind
+auch dein, und wenn du ausgetrunken hast, bekommst du noch ein
+Schüsselchen vom Schwänli und dann komm ich."
+
+"Und von wem bekommst du die Milch?", wollte Heidi wissen.
+
+"Von meiner Geiß, von der Schnecke. Fang einmal zu essen an",
+mahnte Peter wieder. Heidi fing bei seiner Milch an, und sowie es
+sein leeres Schüsselchen hinstellte, stand Peter auf und holte ein
+zweites herbei. Dazu brach Heidi ein Stück von seinem Brot ab, und
+das ganze übrige Stück, das immer noch größer war, als Peters
+eigenes Stück gewesen, das nun schon samt Zubehör fast zu Ende war,
+reichte es diesem hinüber mit dem ganzen großen Brocken Käse und
+sagte: "Das kannst du haben, ich habe nun genug."
+
+Peter schaute das Heidi mit sprachloser Verwunderung an, denn noch
+nie in seinem Leben hätte er so sagen und etwas weggeben können.
+Er zögerte noch ein wenig, denn er konnte nicht recht glauben, dass
+es dem Heidi ernst sei; aber dieses hielt erst fest seine Stücke
+hin, und da Peter nicht zugriff, legte sie es ihm aufs Knie. Nun
+sah er, dass es ernst gemeint sei; er erfasste sein Geschenk,
+nickte in Dank und Zustimmung und hielt nun ein so reichliches
+Mittagsmahl wie noch nie in seinem Leben als Geißbub. Heidi
+schaute derweilen nach den Geißen aus. "Wie heißen sie alle,
+Peter?", fragte es.
+
+Das wusste dieser nun ganz genau und konnte es umso besser in
+seinem Kopf behalten, da er daneben wenig darin aufzubewahren hatte.
+Er fing also an und nannte ohne Anstoß eine nach der anderen,
+immer je mit dem Finger die betreffende bezeichnend. Heidi hörte
+mit gespannter Aufmerksamkeit der Unterweisung zu, und es währte
+gar nicht lange, so konnte es sie alle voneinander unterscheiden
+und jede bei ihrem Namen nennen, denn es hatte eine jede ihre
+Besonderheiten, die einem gleich im Sinne bleiben mussten; man
+musste nur allen genau zusehen, und das tat Heidi. Da war der
+große Türk mit den starken Hörnern, der wollte mit diesen immer
+gegen alle anderen stoßen, und die meisten liefen davon, wenn er
+kam, und wollten nichts von dem groben Kameraden wissen. Nur der
+kecke Distelfink, das schlanke, behände Geißchen, wich ihm nicht
+aus, sondern rannte von sich aus manchmal drei-, viermal
+hintereinander so rasch und tüchtig gegen ihn an, dass der große
+Türk öfters ganz erstaunt dastand und nicht mehr angriff, denn der
+Distelfink stand ganz kriegslustig vor ihm und hatte scharfe
+Hörnchen. Da war das kleine, weiße Schneehöppli, das immer so
+eindringlich und flehentlich meckerte, dass Heidi schon mehrmals zu
+ihm hingelaufen war und es tröstend beim Kopf genommen hatte. Auch
+jetzt sprang das Kind wieder hin, denn die junge, jammernde Stimme
+hatte eben wieder flehentlich gerufen. Heidi legte seinen Arm um
+den Hals des Geißleins und fragte ganz teilnehmend: "Was hast du,
+Schneehöppli? Warum rufst du so um Hilfe?" Das Geißlein schmiegte
+sich nahe und vertrauensvoll an Heidi an und war jetzt ganz still.
+Peter rief von seinem Sitz aus, mit einigen Unterbrechungen, denn
+er hatte immer noch zu beißen und zu schlucken: "Es tut so, weil
+die Alte nicht mehr mitkommt, sie haben sie verkauft nach Maienfeld
+vorgestern, nun kommt sie nicht mehr auf die Alm."
+
+"Wer ist die Alte?", fragte Heidi zurück.
+
+"Pah, seine Mutter", war die Antwort.
+
+"Wo ist die Großmutter?", rief Heidi wieder.
+
+"Hat keine."
+
+"Und der Großvater?"
+
+"Hat keinen."
+
+"Du armes Schneehöppli du", sagte Heidi und drückte das Tierlein
+zärtlich an sich. "Aber jammere jetzt nur nicht mehr so; siehst du,
+ich komme nun jeden Tag mit dir, dann bist du nicht mehr so
+verlassen, und wenn dir etwas fehlt, kannst du nur zu mir kommen."
+
+Das Schneehöppli rieb ganz vergnügt seinen Kopf an Heidis Schulter
+und meckerte nicht mehr kläglich. Unterdessen hatte Peter sein
+Mittagsmahl beendet und kam nun auch wieder zu seiner Herde und zu
+Heidi heran, das schon wieder allerlei Betrachtungen angestellt
+hatte.
+
+Weitaus die zwei schönsten und saubersten Geißen der ganzen Schar
+waren Schwänli und Bärli, die sich auch mit einer gewissen
+Vornehmheit betrugen, meistens ihre eigenen Wege gingen und
+besonders dem zudringlichen Türk abweisend und verächtlich
+begegneten.--
+
+Die Tierchen hatten nun wieder begonnen, nach den Büschen
+hinaufzuklettern, und jedes hatte seine eigene Weise dabei, die
+einen leichtfertig über alles weg hüpfend, die anderen bedächtlich
+die guten Kräutlein suchend unterwegs, der Türk hier und da seine
+Angriffe probierend. Schwänli und Bärli kletterten hübsch und
+leicht hinan und fanden oben sogleich die schönsten Büsche,
+stellten sich geschickt daran auf und nagten sie zierlich ab.
+Heidi stand mit den Händen auf dem Rücken und schaute dem allen mit
+der größten Aufmerksamkeit zu.
+
+"Peter", bemerkte es jetzt zu dem wieder auf dem Boden Liegenden,
+"die schönsten von allen sind das Schwänli und das Bärli."
+
+"Weiß schon", war die Antwort. "Der Alm-Öhi putzt und wäscht sie
+und gibt ihnen Salz und hat den schönsten Stall."
+
+Aber auf einmal sprang Peter auf und setzte in großen Sprüngen den
+Geißen nach, und das Heidi lief hintendrein; da musste etwas
+begegnet sein, es konnte da nicht zurückbleiben. Der Peter sprang
+durch den Geißenrudel durch der Seite der Alm zu, wo die Felsen
+schroff und kahl weit hinabstiegen und ein unbesonnenes Geißlein,
+wenn es dorthin ging, leicht hinunterstürzen und alle Beine brechen
+konnte. Er hatte gesehen, wie der vorwitzige Distelfink nach jener
+Seite hin gehüpft war, und kam noch gerade recht, denn eben sprang
+das Geißlein dem Rande des Abgrundes zu. Peter wollte es eben
+packen, da stürzte er auf den Boden und konnte nur noch im Sturze
+ein Bein des Tierleins erwischen und es daran festhalten. Der
+Distelfink meckerte voller Zorn und Überraschung, dass er so am
+Bein festgehalten und am Fortsetzen seines fröhlichen Streifzuges
+gehindert war, und strebte eigensinnig vorwärts. Der Peter schrie
+nach Heidi, dass es ihm beistehe, denn er konnte nicht aufstehen
+und riss dem Distelfink fast das Bein aus. Heidi war schon da und
+erkannte gleich die schlimme Lage der beiden. Es riss schnell
+einige wohlduftende Kräuter aus dem Boden und hielt sie dem
+Distelfink unter die Nase und sagte begütigend:
+
+"Komm, komm, Distelfink, du musst auch vernünftig sein! Sieh, da
+kannst du hinabfallen und ein Bein brechen, das tut dir furchtbar
+weh."
+
+Das Geißlein hatte sich schnell umgewandt und dem Heidi vergnüglich
+die Kräuter aus der Hand gefressen. Derweilen war der Peter auf
+seine Füße gekommen und hatte den Distelfink an der Schnur erfasst,
+an welcher sein Glöckchen um den Hals gebunden war, und Heidi
+erfasste diese von der anderen Seite, und so führten die beiden den
+Ausreißer zu der friedlich weidenden Herde zurück. Als ihn aber
+Peter hier in Sicherheit hatte, erhob er seine Rute und wollte ihn
+zur Strafe tüchtig durchprügeln, und der Distelfink wich scheu
+zurück, denn er merkte, was begegnen sollte. Aber Heidi schrie
+laut auf: "Nein, Peter, nein, du musst ihn nicht schlagen, sieh,
+wie er sich fürchtet!"
+
+"Er verdient's", schnurrte Peter und wollte zuschlagen. Aber Heidi
+fiel ihm in den Arm und rief ganz entrüstet: "Du darfst ihm nichts
+tun, es tut ihm weh, lass ihn los!"
+
+Peter schaute erstaunt auf das gebietende Heidi, dessen schwarze
+Augen ihn so anfunkelten, dass er unwillkürlich seine Rute
+niederhielt. "So kann er gehen, wenn du mir morgen wieder von
+deinem Käse gibst", sagte dann der Peter nachgebend, denn eine
+Entschädigung wollte er haben für den Schrecken.
+
+"Allen kannst du haben, das ganze Stück morgen und alle Tage, ich
+brauche ihn gar nicht", sagte Heidi zustimmend, "und Brot gebe ich
+dir auch ganz viel, wie heute; aber dann darfst du den Distelfink
+nie, gar nie schlagen und auch das Schneehöppli nie und gar keine
+Geiß."
+
+"Es ist mir gleich", bemerkte Peter, und das war bei ihm soviel als
+eine Zusage. Jetzt ließ er den Schuldigen los, und der fröhliche
+Distelfink sprang in hohen Sprüngen auf und davon in die Herde
+hinein.--
+
+So war unvermerkt der Tag vergangen, und schon war die Sonne im
+Begriff, weit drüben hinter den Bergen hinabzugehen. Heidi saß
+wieder am Boden und schaute ganz still auf die Blauglöckchen und
+die Cystusröschen, die im goldenen Abendschein leuchteten, und
+alles Gras wurde wie golden angehaucht und die Felsen droben fingen
+an zu schimmern und zu funkeln, und auf einmal sprang Heidi auf und
+schrie: "Peter! Peter! Es brennt! Es brennt! Alle Berge brennen
+und der große Schnee drüben brennt und der Himmel. O sieh! Sieh!
+Der hohe Felsenberg ist ganz glühend! Oh, der schöne, feurige
+Schnee! Peter, sieh auf, sieh, das Feuer ist auch beim Raubvogel!
+Sieh doch die Felsen! Sieh die Tannen! Alles, alles ist im Feuer!"
+
+"Es war immer so", sagte jetzt der Peter gemütlich und schälte an
+seiner Rute fort, "aber es ist kein Feuer."
+
+"Was ist es denn?", rief Heidi und sprang hierhin und dorthin, dass
+es überallhin sehe, denn es konnte gar nicht genug bekommen, so
+schön war's auf allen Seiten. "Was ist es, Peter, was ist es?",
+rief Heidi wieder.
+
+"Es kommt von selbst so", erklärte Peter.
+
+"O sieh, sieh", rief Heidi in großer Aufregung, "auf einmal werden
+sie rosenrot! Sieh den mit dem Schnee und den mit den hohen,
+spitzigen Felsen! Wie heißen sie, Peter?"
+
+"Berge heißen nicht", erwiderte dieser.
+
+"O wie schön, sieh den rosenroten Schnee! Oh, und an den Felsen
+oben sind viele, viele Rosen! Oh, nun werden sie grau! Oh! Oh!
+Nun ist alles ausgelöscht! Nun ist alles aus, Peter!" Und Heidi
+setzte sich auf den Boden und sah so verstört aus, als ginge
+wirklich alles zu Ende.
+
+"Es ist morgen wieder so", erklärte Peter. "Steh auf, nun müssen
+wir heim."
+
+Die Geißen wurden herbeigepfiffen und--gerufen und die Heimfahrt
+angetreten.
+
+"Ist's alle Tage wieder so, alle Tage, wenn wir auf der Weide
+sind?", fragte Heidi, begierig nach einer bejahenden Versicherung
+horchend, als es nun neben dem Peter die Alm hinunterstieg.
+
+"Meistens", gab dieser zur Antwort.
+
+"Aber gewiss morgen wieder?", wollte es noch wissen.
+
+"Ja, ja, morgen schon!", versicherte Peter.
+
+Nun war Heidi wieder froh und es hatte so viele Eindrücke in sich
+aufgenommen und so viele Dinge gingen ihm im Sinn herum, dass es
+nun ganz stillschwieg, bis es bei der Almhütte ankam und den
+Großvater unter den Tannen sitzen sah, wo er auch eine Bank
+angebracht hatte und am Abend seine Geißen erwartete, die von
+dieser Seite herunterkämen. Heidi sprang gleich auf ihn zu und
+Schwänli und Bärli hinter ihm drein, denn die Geißen kannten ihren
+Herrn und ihren Stall. Der Peter rief dem Heidi nach: "Komm dann
+morgen wieder! Gute Nacht!" Denn es war ihm sehr daran gelegen,
+dass das Heidi wiederkomme.
+
+Da rannte das Heidi schnell wieder zurück und gab dem Peter die
+Hand und versicherte ihm, dass es wieder mitkomme, und dann sprang
+es mitten in die davonziehende Herde hinein und fasste noch einmal
+das Schneehöppli um den Hals und sagte vertraulich: "Schlaf wohl,
+Schneehöppli, und denk dran, dass ich morgen wiederkomme und dass
+du nie mehr so jämmerlich meckern musst."
+
+Das Schneehöppli schaute ganz freundlich und dankbar zu Heidi auf
+und sprang dann fröhlich der Herde nach.
+
+Heidi kam unter die Tannen zurück.
+
+"O Großvater, das war so schön!", rief es, noch bevor es bei ihm
+war. "Das Feuer und die Rosen am Felsen und die blauen und gelben
+Blumen, und sieh, was ich hier bringe!" Und damit schüttete Heidi
+seinen ganzen Blumenreichtum aus dem gefalteten Schürzchen vor den
+Großvater hin. Aber wie sahen die armen Blümchen aus! Heidi
+erkannte sie nicht mehr. Es war alles wie Heu, und kein einziges
+Kelchlein stand mehr offen.
+
+"O Großvater, was haben sie?", rief Heidi ganz erschrocken aus.
+"So waren sie nicht, warum sehen sie so aus?"
+
+"Die wollen draußen stehen in der Sonne und nicht ins Schürzchen
+hinein", sagte der Großvater.
+
+"Dann will ich gar keine mehr mitnehmen. Aber, Großvater, warum
+hat der Raubvogel so gekrächzt?", fragte Heidi nun angelegentlich.
+
+"Jetzt gehst du ins Wasser und ich in den Stall und hole Milch, und
+nachher kommen wir hinein zusammen in die Hütte und essen zu Nacht,
+dann sag ich dir's."
+
+So wurde getan, und wie nun später Heidi auf seinem hohen Stuhl saß
+vor seinem Milchschüsselchen und der Großvater neben ihm, da kam
+das Kind gleich wieder mit seiner Frage: "Warum krächzt der
+Raubvogel so und schreit immer so herunter, Großvater?"
+
+"Der höhnt die Leute aus dort unten, dass sie so viele
+zusammensitzen in den Dörfern und einander bös machen. Da höhnt er
+hinunter: 'Würdet ihr auseinander gehen und jedes seinen Weg
+und auf eine Höhe steigen wie ich, so wär's euch wohler!'"
+Der Großvater sagte diese Worte fast wild, so dass dem Heidi das
+Gekrächz des Raubvogels dadurch noch eindrücklicher wurde in der
+Erinnerung.
+
+"Warum haben die Berge keinen Namen, Großvater?", fragte Heidi
+wieder.
+
+"Die haben Namen", erwiderte dieser, "und wenn du mir einen so
+beschreiben kannst, dass ich ihn kenne, so sage ich dir, wie er
+heißt."
+
+Nun beschrieb Heidi den Felsenberg mit den zwei hohen Türmen genau
+so, wie es ihn gesehen hatte, und der Großvater sagte wohlgefällig:
+"Recht so, den kenn ich, der heißt Falknis. Hast du noch einen
+gesehen?"
+
+Nun beschrieb Heidi den Berg mit dem großen Schneefeld, auf dem der
+ganze Schnee im Feuer gestanden hatte und dann rosenrot geworden
+war und dann auf einmal ganz bleich und erloschen dastand.
+
+"Den erkenn ich auch", sagte der Großvater, "das ist die
+Schesaplana; so hat es dir gefallen auf der Weide?"
+
+Nun erzählte Heidi alles vom ganzen Tage, wie schön es gewesen, und
+besonders von dem Feuer am Abend, und nun sollte der Großvater auch
+sagen, woher es gekommen war, denn der Peter hätte nichts davon
+gewusst.
+
+"Siehst du", erklärte der Großvater, "das macht die Sonne, wenn sie
+den Bergen gute Nacht sagt, dann wirft sie ihnen noch ihre
+schönsten Strahlen zu, dass sie sie nicht vergessen, bis sie am
+Morgen wiederkommt."
+
+Das gefiel dem Heidi und es konnte fast nicht erwarten, dass wieder
+ein Tag komme, da es hinaufkonnte auf die Weide und wieder sehen,
+wie die Sonne den Bergen gute Nacht sagte. Aber erst musste es nun
+schlafen gehen, und es schlief auch die ganze Nacht herrlich auf
+seinem Heulager, und träumte von lauter schimmernden Bergen und
+roten Rosen darauf und mittendrin das Schneehöppli in fröhlichen
+Sprüngen.
+
+
+
+
+Bei der Großmutter
+
+Am andern Morgen kam wieder die helle Sonne, und dann kam der Peter
+und die Geißen, und wieder zogen sie alle miteinander nach der
+Weide hinauf, und so ging es Tag für Tag, und Heidi wurde bei
+diesem Weideleben ganz gebräunt und so kräftig und gesund, dass ihm
+gar nie etwas fehlte, und so froh und glücklich lebte Heidi von
+einem Tag zum anderen, wie nur die lustigen Vögelein leben auf
+allen Bäumen im grünen Wald. Wie es nun Herbst wurde und der Wind
+lauter zu sausen anfing über die Berge hin, dann sagte etwa der
+Großvater: "Heut bleibst du da, Heidi; ein Kleines, wie du bist,
+kann der Wind mit einem Ruck über alle Felsen ins Tal hinabwehen."
+
+Wenn aber das am Morgen der Peter vernahm, sah er sehr unglücklich
+aus, denn er sah lauter Missgeschick vor sich: Einmal wusste er vor
+Langeweile nun gar nicht mehr, was anfangen, wenn Heidi nicht bei
+ihm war; dann kam er um sein reichliches Mittagsmahl, und dann
+waren die Geißen so störrig an diesen Tagen, dass er die doppelte
+Mühe mit ihnen hatte; denn die waren nun auch so an Heidis
+Gesellschaft gewöhnt, dass sie nicht vorwärts wollten, wenn es
+nicht dabei war, und auf alle Seiten rannten. Heidi wurde niemals
+unglücklich, denn es sah immer irgendetwas Erfreuliches vor sich.
+Am liebsten ging es schon mit Hirt und Geißen auf die Weide zu den
+Blumen und zum Raubvogel hinauf, wo so mannigfaltige Dinge zu
+erleben waren mit all den verschieden gearteten Geißen; aber auch
+das Hämmern und Sägen und Zimmern des Großvaters war sehr
+unterhaltend für Heidi; und traf es sich, dass er gerade die
+schönen runden Geißkäschen zubereitete, wenn es daheim bleiben
+musste, so war das ein ganz besonderes Vergnügen, dieser
+merkwürdigen Tätigkeit zuzuschauen, wobei der Großvater beide Arme
+bloß machte und damit in dem großen Kessel herumrührte. Aber vor
+allem anziehend war für das Heidi an solchen Windtagen das Wogen
+und Rauschen in den drei alten Tannen hinter der Hütte. Da musste
+es immer von Zeit zu Zeit hinlaufen von allem anderen weg, was es
+auch sein mochte, denn so schön und wunderbar war gar nichts wie
+dieses tiefe, geheimnisvolle Tosen in den Wipfeln da droben; da
+stand Heidi unten und lauschte hinauf und konnte niemals genug
+bekommen, zu sehen und zu hören, wie das wehte und wogte und
+rauschte in den Bäumen mit großer Macht. Jetzt gab die Sonne nicht
+mehr heiß wie im Sommer, und Heidi suchte seine Strümpfe und Schuhe
+hervor und auch den Rock, denn nun wurde es immer frischer, und
+wenn das Heidi unter den Tannen stand, wurde es durchblasen wie ein
+dünnes Blättlein, aber es lief doch immer wieder hin und konnte
+nicht in der Hütte bleiben, wenn es das Windeswehen vernahm.
+
+Dann wurde es kalt, und der Peter hauchte in die Hände, wenn er
+früh am Morgen heraufkam, aber nicht lange; denn auf einmal fiel
+über Nacht ein tiefer Schnee, und am Morgen war die ganze Alm
+schneeweiß und kein einziges grünes Blättlein mehr zu sehen ringsum
+und um. Da kam der Geißenpeter nicht mehr mit seiner Herde, und
+Heidi schaute ganz verwundert durch das kleine Fenster, denn nun
+fing es wieder zu schneien an, und die dicken Flocken fielen fort
+und fort, bis der Schnee so hoch wurde, dass er bis ans Fenster
+hinaufreichte, und dann noch höher, dass man das Fenster gar nicht
+mehr aufmachen konnte und man ganz verpackt war in dem Häuschen.
+Das kam dem Heidi so lustig vor, dass es immer von einem Fenster
+zum anderen rannte, um zu sehen, wie es denn noch werden wollte und
+ob der Schnee noch die ganze Hütte zudecken wollte, dass man müsste
+ein Licht anzünden am hellen Tag. Es kam aber nicht so weit, und
+am anderen Tag ging der Großvater hinaus--denn nun schneite es
+nicht mehr--und schaufelte ums ganze Haus herum und warf große,
+große Schneehaufen aufeinander, dass es war wie hier ein Berg und
+dort ein Berg und dort ein Berg um die Hütte herum; aber nun waren
+die Fenster wieder frei und auch die Tür, und das war gut, denn als
+am Nachmittag Heidi und der Großvater am Feuer saßen, jedes auf
+seinem Dreifuß--denn der Großvater hatte längst auch einen für das
+Kind gezimmert--, da polterte auf einmal etwas heran und schlug
+immerzu gegen die Holzschwelle und machte endlich die Tür auf. Es
+war der Geißenpeter; er hatte aber nicht aus Unart so gegen die Tür
+gepoltert, sondern um seinen Schnee von den Schuhen abzuschlagen,
+die hoch hinauf davon bedeckt waren; eigentlich der ganze Peter war
+von Schnee bedeckt, denn er hatte sich durch die hohen Schichten so
+durchkämpfen müssen, dass ganze Massen an ihm hängen geblieben und
+auf ihm festgefroren waren, denn es war sehr kalt. Aber er hatte
+nicht nachgegeben, denn er wollte zu Heidi hinauf, er hatte es
+jetzt acht Tage lang nicht gesehen.
+
+"Guten Abend", sagte er im Eintreten, stellte sich gleich so nah
+als möglich ans Feuer heran und sagte weiter nichts mehr; aber sein
+ganzes Gesicht lachte vor Vergnügen, dass er da war. Heidi schaute
+ihn sehr verwundert an, denn nun er so nah am Feuer war, fing es
+überall an ihm zu tauen an, so dass der ganze Peter anzusehen war
+wie ein gelinder Wasserfall.
+
+"Nun, General, wie steht's?", sagte jetzt der Großvater. "Nun bist
+du ohne Armee und musst am Griffel nagen."
+
+"Warum muss er am Griffel nagen, Großvater?", fragte Heidi sogleich
+mit Wissbegierde.
+
+"Im Winter muss er in die Schule gehen", erklärte der Großvater;
+"da lernt man lesen und schreiben, und das geht manchmal schwer, da
+hilft's ein wenig nach, wenn man am Griffel nagt; ist's nicht wahr,
+General?"
+
+"Ja, 's ist wahr", bestätigte Peter.
+
+Jetzt war Heidis Teilnahme an der Sache wach geworden und es hatte
+sehr viele Fragen über die Schule und alles, was da begegnete und
+zu hören und zu sehen war, an den Peter zu richten, und da immer
+viel Zeit verfloss über einer Unterhaltung, an der Peter teilnehmen
+musste, so konnte er derweilen schön trocknen von oben bis unten.
+Es war immer eine große Anstrengung für ihn, seine Vorstellungen in
+die Worte zu bringen, die bedeuteten, was er meinte; aber diesmal
+hatte er's besonders streng, denn kaum hatte er eine Antwort
+zustande gebracht, so hatte ihm Heidi schon wieder zwei oder drei
+unerwartete Fragen zugeworfen und meistens solche, die einen ganzen
+Satz als Antwort erforderten.
+
+Der Großvater hatte sich ganz still verhalten während dieser
+Unterhaltung, aber es hatte ihm öfter ganz lustig um die Mundwinkel
+gezuckt, was ein Zeichen war, dass er zuhörte.
+
+"So, General, nun warst du im Feuer und brauchst Stärkung, komm,
+halt mit!" Damit stand der Großvater auf und holte das Abendessen
+aus dem Schrank hervor, und Heidi rückte die Stühle zum Tisch.
+Unterdessen war auch eine Bank an die Wand gezimmert worden vom
+Großvater; nun er nicht mehr allein war, hatte er da und dort
+allerlei Sitze zu zweien eingerichtet, denn Heidi hatte die Art,
+dass es sich überall nah zum Großvater hielt, wo er ging und stand
+und saß. So hatten sie alle drei gut Platz zum Sitzen und der
+Peter tat seine runden Augen ganz weit auf, als er sah, welch ein
+mächtiges Stück von dem schönen getrockneten Fleisch der Alm-Öhi
+ihm auf seine dicke Brotschnitte legte. So gut hatte es der Peter
+lange nicht gehabt. Als nun das vergnügte Mahl zu Ende war, fing
+es an zu dunkeln, und Peter schickte sich zur Heimkehr an. Als er
+nun "Gute Nacht" und "Dank Euch Gott" gesagt hatte und schon unter
+der Tür war, kehrte er sich noch einmal um und sagte: "Am Sonntag
+komm ich wieder, heut über acht Tag, und du solltest auch einmal
+zur Großmutter kommen, hat sie gesagt."
+
+Das war ein ganz neuer Gedanke für Heidi, dass es zu jemandem gehen
+sollte, aber er fasste auf der Stelle Boden bei ihm, und gleich am
+folgenden Morgen war sein Erstes, dass es erklärte: "Großvater,
+jetzt muss ich gewiss zu der Großmutter hinunter, sie erwartet mich.
+"
+
+"Es hat zu viel Schnee", erwiderte der Großvater abwehrend.
+
+Aber das Vorhaben saß fest in Heidis Sinn, denn die Großmutter
+hatte es ja sagen lassen; so musste es sein. So verging kein Tag
+mehr, an dem das Kind nicht fünf- und sechsmal sagte: "Großvater,
+jetzt muss ich gewiss gehen, die Großmutter wartet ja immer auf
+mich."
+
+Am vierten Tag, als es draußen knisterte und knarrte vor Kälte bei
+jedem Schritt und die ganze große Schneedecke ringsum hart gefroren
+war, aber eine schöne Sonne ins Fenster guckte, gerade auf Heidis
+hohen Stuhl hin, wo es am Mittagsmahl saß, da begann es wieder sein
+Sprüchlein: "Heut muss ich aber gewiss zur Großmutter gehen, es
+währt ihr sonst zu lange." Da stand der Großvater auf vom
+Mittagstisch, stieg auf den Heuboden hinauf, brachte den dicken
+Sack herunter, der Heidis Bettdecke war, und sagte: "So komm!" In
+großer Freude hüpfte das Kind ihm nach in die glitzernde Schneewelt
+hinaus. In den alten Tannen war es nun ganz still und auf allen
+Ästen lag der weiße Schnee und in dem Sonnenschein schimmerte und
+funkelte es überall von den Bäumen in solcher Pracht, dass Heidi
+hoch aufsprang vor Entzücken und ein Mal übers andere ausrief:
+"Komm heraus, Großvater, komm heraus! Es ist lauter Silber und
+Gold an den Tannen!" Denn der Großvater war in den Schopf
+hineingegangen und kam nun heraus mit einem breiten Stoßschlitten:
+Da war vorn eine Stange angebracht, und von dem flachen Sitz konnte
+man die Füße nach vorn hinunterhalten und gegen den Schneeboden
+stemmen und der Fahrt die Weisung geben. Hier setzte sich der
+Großvater hin, nachdem er erst die Tannen ringsum mit Heidi hatte
+beschauen müssen, nahm das Kind auf seinen Schoß, wickelte es um
+und um in den Sack ein, damit es hübsch warm bleibe, und drückte es
+fest mit dem linken Arm an sich, denn das war nötig bei der
+kommenden Fahrt. Dann umfasste er mit der rechten Hand die Stange
+und gab einen Ruck mit beiden Füßen. Da schoss der Schlitten davon
+die Alm hinab mit einer solchen Schnelligkeit, dass das Heidi
+meinte, es fliege in der Luft wie ein Vogel, und laut aufjauchzte.
+Auf einmal stand der Schlitten still, gerade bei der Hütte vom
+Geißenpeter. Der Großvater stellte das Kind auf den Boden,
+wickelte es aus seiner Decke heraus und sagte:
+
+"So, nun geh hinein, und wenn es anfängt dunkel zu werden, dann
+komm wieder heraus und mach dich auf den Weg." Dann kehrte er um
+mit seinem Schlitten und zog ihn den Berg hinauf.
+
+Heidi machte die Tür auf und kam in einen kleinen Raum hinein, da
+sah es schwarz aus, und ein Herd war da und einige Schüsselchen auf
+einem Gestell, das war die kleine Küche; dann kam gleich wieder
+eine Tür, die machte Heidi wieder auf und kam in eine enge Stube
+hinein, denn das Ganze war nicht eine Sennhütte, wie beim Großvater,
+wo ein einziger, großer Raum war und oben ein Heuboden, sondern es
+war ein kleines, uraltes Häuschen, wo alles eng war und schmal und
+dürftig. Als Heidi in das Stübchen trat, stand es gleich vor dem
+Tisch, daran saß eine Frau und flickte an Peters Wams, denn dieses
+erkannte Heidi sogleich. In der Ecke saß ein altes, gekrümmtes
+Mütterchen und spann. Heidi wusste gleich, woran es war; es ging
+geradaus auf das Spinnrad zu und sagte: "Guten Tag, Großmutter,
+jetzt komme ich zu dir; hast du gedacht, es währe lang, bis ich
+komme?"
+
+Die Großmutter erhob den Kopf und suchte die Hand, die gegen sie
+ausgestreckt war, und als sie diese erfasst hatte, befühlte sie
+dieselbe erst eine Weile nachdenklich in der ihrigen, dann sagte
+sie: "Bist du das Kind droben beim Alm-Öhi, bist du das Heidi?"
+
+"Ja, ja", bestätigte das Kind, "jetzt gerade bin ich mit dem
+Großvater im Schlitten heruntergefahren."
+
+"Wie ist das möglich! Du hast ja eine so warme Hand! Sag,
+Brigitte, ist der Alm-Öhi selber mit dem Kind heruntergekommen?"
+
+Peters Mutter, die Brigitte, die am Tisch geflickt hatte, war
+aufgestanden und betrachtete nun mit Neugierde das Kind von oben
+bis unten; dann sagte sie: "Ich weiß nicht, Mutter, ob der Öhi
+selber heruntergekommen ist mit ihm; es ist nicht glaublich, das
+Kind wird's nicht recht wissen."
+
+Aber das Heidi sah die Frau sehr bestimmt an und gar nicht, als sei
+es im Ungewissen, und sagte: "Ich weiß ganz gut, wer mich in die
+Bettdecke gewickelt hat und mit mir heruntergeschlittelt ist; das
+ist der Großvater."
+
+"Es muss doch etwas daran sein, was der Peter so gesagt hat den
+Sommer durch vom Alm-Öhi, wenn wir dachten, er wisse es nicht
+recht", sagte die Großmutter; "wer hätte freilich auch glauben
+können, dass so etwas möglich sei; ich dachte, das Kind lebte keine
+drei Wochen da oben. Wie sieht es auch aus, Brigitte!" Diese hatte
+das Kind unterdessen so von allen Seiten angesehen, dass sie nun
+wohl berichten konnte, wie es aussah.
+
+"Es ist so fein gegliedert, wie die Adelheid war", gab sie zur
+Antwort; "aber es hat die schwarzen Augen und das krause Haar, wie
+es der Tobias hatte und auch der Alte droben; ich glaube, es sieht
+den zweien gleich."
+
+Unterdessen war Heidi müßig geblieben; es hatte ringsum geguckt und
+alles genau betrachtet, was da zu sehen war. Jetzt sagte es: "Sieh,
+Großmutter, dort schlägt es einen Laden immer hin und her, und der
+Großvater würde auf der Stelle einen Nagel einschlagen, dass er
+wieder fest hält, sonst schlägt er auch einmal eine Scheibe ein;
+sieh, sieh, wie er tut!"
+
+"Ach, du gutes Kind", sagte die Großmutter, "sehen kann ich es
+nicht, aber hören kann ich es wohl und noch viel mehr, nicht nur
+den Laden; da kracht und klappert es überall, wenn der Wind kommt,
+und er kann überall hereinblasen; es hält nichts mehr zusammen, und
+in der Nacht, wenn sie beide schlafen, ist es mir manchmal so angst
+und bang, es falle alles über uns zusammen und schlage uns alle
+drei tot; ach, und da ist kein Mensch, der etwas ausbessern könnte
+an der Hütte, der Peter versteht's nicht."
+
+"Aber warum kannst du denn nicht sehen, wie der Laden tut,
+Großmutter? Sieh jetzt wieder, dort, gerade dort." Und Heidi
+zeigte die Stelle deutlich mit dem Finger.
+
+"Ach Kind, ich kann ja gar nichts sehen, gar nichts, nicht nur den
+Laden nicht", klagte die Großmutter.
+
+"Aber wenn ich hinausgehe und den Laden ganz aufmache, dass es
+recht hell wird, kannst du dann sehen, Großmutter?"
+
+"Nein, nein, auch dann nicht, es kann mir niemand mehr hell machen."
+
+"Aber wenn du hinausgehst in den ganz weißen Schnee, dann wird es
+dir gewiss hell; komm nur mit mir, Großmutter, ich will dir's
+zeigen." Heidi nahm die Großmutter bei der Hand und wollte sie
+fortziehen, denn es fing an, ihm ganz ängstlich zumute zu werden,
+dass es ihr nirgends hell wurde.
+
+"Lass mich nur sitzen, du gutes Kind; es bleibt doch dunkel bei mir,
+auch im Schnee und in der Helle, sie dringt nicht mehr in meine
+Augen."
+
+"Aber dann doch im Sommer, Großmutter", sagte Heidi, immer
+ängstlicher nach einem guten Ausweg suchend; "weißt, wenn dann
+wieder die Sonne ganz heiß herunterbrennt und dann 'gute
+Nacht' sagt und die Berge alle feuerrot schimmern und alle
+gelben Blümlein glitzern, dann wird es dir wieder schön hell?"
+
+"Ach, Kind, ich kann sie nie mehr sehen, die feurigen Berge und die
+goldenen Blümlein droben, es wird mir nie mehr hell auf Erden, nie
+mehr."
+
+Jetzt brach Heidi in lautes Weinen aus. Voller Jammer schluchzte
+es fortwährend: "Wer kann dir denn wieder hell machen? Kann es
+niemand? Kann es gar niemand?"
+
+Die Großmutter suchte nun das Kind zu trösten, aber es gelang ihr
+nicht so bald. Heidi weinte fast nie; wenn es aber einmal anfing,
+dann konnte es auch fast nicht mehr aus der Betrübnis herauskommen.
+Die Großmutter hatte schon allerhand probiert, um das Kind zu
+beschwichtigen, denn es ging ihr zu Herzen, dass es so jämmerlich
+schluchzen musste. Jetzt sagte sie: "Komm, du gutes Heidi, komm
+hier heran, ich will dir etwas sagen. Siehst du, wenn man nichts
+sehen kann, dann hört man so gern ein freundliches Wort, und ich
+höre es gern, wenn du redest; komm, setz dich da nahe zu mir und
+erzähl mir etwas, was du machst da droben und was der Großvater
+macht, ich habe ihn früher gut gekannt; aber jetzt hab ich seit
+manchem Jahr nichts mehr gehört von ihm als durch den Peter, aber
+der sagt nicht viel."
+
+Jetzt kam dem Heidi ein neuer Gedanke; es wischte rasch seine
+Tränen weg und sagte tröstlich: "Wart nur, Großmutter, ich will
+alles dem Großvater sagen, er macht dir schon wieder hell und macht,
+dass die Hütte nicht zusammenfällt, er kann alles wieder in
+Ordnung machen."
+
+Die Großmutter schwieg stille, und nun fing Heidi an, ihr mit
+großer Lebendigkeit zu erzählen von seinem Leben mit dem Großvater
+und von den Tagen auf der Weide und von dem jetzigen Winterleben
+mit dem Großvater, was er alles aus Holz machen könne, Bänke und
+Stühle und schöne Krippen, wo man für das Schwänli und Bärli das
+Heu hineinlegen könnte, und einen neuen großen Wassertrog zum Baden
+im Sommer, und ein neues Milchschüsselchen und Löffel, und Heidi
+wurde immer eifriger im Beschreiben all der schönen Sachen, die so
+auf einmal aus einem Stück Holz herauskommen, und wie es dann neben
+dem Großvater stehe und ihm zuschaue und wie es das alles auch
+einmal machen wolle. Die Großmutter hörte mit großer
+Aufmerksamkeit zu, und von Zeit zu Zeit sagte sie dazwischen:
+"Hörst du's auch, Brigitte? Hörst du, was es vom Öhi sagt?"
+
+Mit einem Mal wurde die Erzählung unterbrochen durch ein großes
+Gepolter an der Tür, und herein stampfte der Peter, blieb aber
+sogleich stille stehen und sperrte seine runden Augen ganz
+erstaunlich weit auf, als er das Heidi erblickte, und schnitt die
+allerfreundlichste Grimasse, als es ihm sogleich zurief: "Guten
+Abend, Peter!"
+
+"Ist denn das möglich, dass der schon aus der Schule kommt", rief
+die Großmutter ganz verwundert aus. "So geschwind ist mir seit
+manchem Jahr kein Nachmittag vergangen! Guten Abend, Peterli, wie
+geht es mit dem Lesen?"
+
+"Gleich", gab der Peter zur Antwort.
+
+"So, so", sagte die Großmutter ein wenig seufzend, "ich habe
+gedacht, es gäbe vielleicht eine Änderung auf die Zeit, wenn du
+dann zwölf Jahre alt wirst gegen den Hornung hin."
+
+"Warum muss es eine Änderung geben, Großmutter?", fragte Heidi
+gleich mit Interesse.
+
+"Ich meine nur, dass er es etwa noch hätte lernen können", sagte
+die Großmutter, "das Lesen mein ich. Ich habe dort oben auf dem
+Gestell ein altes Gebetbuch, da sind schöne Lieder drin, die habe
+ich so lange nicht mehr gehört, und im Gedächtnis habe ich sie auch
+nicht mehr; da habe ich gehofft, wenn der Peterli nun lesen lerne,
+so könne er mir etwa ein gutes Lied lesen; aber er kann es nicht
+lernen, es ist ihm zu schwer."
+
+"Ich denke, ich muss Licht machen, es wird ja schon ganz dunkel",
+sagte jetzt Peters Mutter, die immer emsig am Wams fortgeflickt
+hatte; "der Nachmittag ist mir auch vergangen, ohne dass ich's
+merkte."
+
+Nun sprang Heidi von seinem Stühlchen auf, streckte eilig seine
+Hand aus und sagte: "Gut Nacht, Großmutter, ich muss auf der Stelle
+heim, wenn es dunkel wird", und hintereinander bot es dem Peter und
+seiner Mutter die Hand und ging der Tür zu. Aber die Großmutter
+rief besorgt: "Wart, wart, Heidi; so allein musst du nicht fort,
+der Peter muss mit dir, hörst du? Und gib Acht auf das Kind,
+Peterli, dass es nicht umfällt, und steh nicht still mit ihm, dass
+es nicht friert, hörst du? Hat es auch ein dickes Halstuch an?"
+
+"Ich habe gar kein Halstuch an", rief Heidi zurück, "aber ich will
+schon nicht frieren"; damit war es zur Tür hinaus und huschte so
+behend weiter, dass der Peter kaum nachkam. Aber die Großmutter
+rief jammernd: "Lauf ihm nach, Brigitte, lauf, das Kind muss ja
+erfrieren, so bei der Nacht, nimm mein Halstuch mit, lauf schnell!"
+Die Brigitte gehorchte. Die Kinder hatten aber kaum ein paar
+Schritte den Berg hinan getan, so sahen sie von oben herunter den
+Großvater kommen, und mit wenigen rüstigen Schritten stand er vor
+ihnen.
+
+"Recht so, Heidi, Wort gehalten!", sagte er, packte das Kind wieder
+fest in seine Decke ein, nahm es auf seinen Arm und stieg den Berg
+hinauf. Eben hatte die Brigitte noch gesehen, wie der Alte das
+Kind wohl verpackt auf seinen Arm genommen und den Rückweg
+angetreten hatte. Sie trat mit dem Peter wieder in die Hütte ein
+und erzählte der Großmutter mit Verwunderung, was sie gesehen hatte.
+Auch diese musste sich sehr verwundern und ein Mal über das
+andere sagen: "Gott Lob und Dank, dass er so ist mit dem Kind, Gott
+Lob und Dank! Wenn er es nur auch wieder zu mir lässt, das Kind
+hat mir so wohl gemacht! Was hat es für ein gutes Herz und wie
+kann es so kurzweilig erzählen!" Und immer wieder freute sich die
+Großmutter, und bis sie ins Bett ging, sagte sie immer wieder:
+"Wenn es nur auch wiederkommt! Jetzt habe ich doch noch etwas auf
+der Welt, auf das ich mich freuen kann!" Und die Brigitte stimmte
+jedes Mal ein, wenn die Großmutter wieder dasselbe sagte, und auch
+der Peter nickte jedes Mal zustimmend mit dem Kopf und zog seinen
+Mund weit auseinander vor Vergnüglichkeit und sagte: "Hab's schon
+gewusst."
+
+Unterdessen redete das Heidi in seinem Sack drinnen immerzu an den
+Großvater heran; da die Stimme aber nicht durch den achtfachen
+Umschlag dringen konnte und er daher kein Wort verstand, sagte er:
+"Wart ein wenig, bis wir daheim sind, dann sag's."
+
+Sobald er nun, oben angekommen, in seine Hütte eingetreten war und
+Heidi aus seiner Hülle herausgeschält hatte, sagte es: "Großvater,
+morgen müssen wir den Hammer und die großen Nägel mitnehmen und den
+Laden festschlagen bei der Großmutter und sonst noch viele Nägel
+einschlagen, denn es kracht und klappert alles bei ihr."
+
+"Müssen wir? So, das müssen wir? Wer hat dir das gesagt?", fragte
+der Großvater.
+
+"Das hat mir kein Mensch gesagt, ich weiß es sonst", entgegnete
+Heidi, "denn es hält alles nicht mehr fest und es ist der
+Großmutter angst und bang, wenn sie nicht schlafen kann und es so
+tut, und sie denkt: 'Jetzt fällt alles ein und gerade auf
+unsere Köpfe'; und der Großmutter kann man gar nicht mehr
+hell machen, sie weiß gar nicht, wie man es könnte, aber du kannst
+es schon, Großvater; denk nur, wie traurig es ist, wenn sie immer
+im Dunkeln ist und es ihr dann noch angst und bang ist und es kann
+ihr kein Mensch helfen als du! Morgen wollen wir gehen und ihr
+helfen; gelt, Großvater, wir wollen?"
+
+Heidi hatte sich an den Großvater angeklammert und schaute mit
+zweifellosem Vertrauen zu ihm auf. Der Alte schaute eine kleine
+Welle auf das Kind nieder, dann sagte er: "Ja, Heidi, wir wollen
+machen, dass es nicht mehr so klappert bei der Großmutter, das
+können wir; morgen tun wir's."
+
+Nun hüpfte das Kind vor Freude im ganzen Hüttenraum herum und rief
+ein Mal ums andere: "Morgen tun wir's! Morgen tun wir's!"
+
+Der Großvater hielt Wort. Am folgenden Nachmittag wurde dieselbe
+Schlittenfahrt ausgeführt. Wie am vorhergehenden Tag stellte der
+Alte das Kind vor der Tür der Geißenpeter-Hütte nieder und sagte:
+"Nun geh hinein, und wenn's Nacht wird, komm wieder." Dann legte er
+den Sack auf den Schlitten und ging um das Häuschen herum.
+
+Kaum hatte Heidi die Tür aufgemacht und war in die Stube
+hineingesprungen, so rief schon die Großmutter aus der Ecke: "Da
+kommt das Kind! Das ist das Kind!", und ließ vor Freude den Faden
+los und das Rädchen stehen und streckte beide Hände nach dem Kinde
+aus. Heidi lief zu ihr, rückte gleich das niedere Stühlchen ganz
+nahe an sie heran, setzte sich darauf und hatte der Großmutter
+schon wieder eine große Menge von Dingen zu erzählen und von ihr zu
+erfragen. Aber auf einmal ertönten so gewaltige Schläge an das
+Haus, dass die Großmutter vor Schrecken so zusammenfuhr, dass sie
+fast das Spinnrad umwarf, und zitternd ausrief: "Ach du mein Gott,
+jetzt kommt's, es fällt alles zusammen!" Aber Heidi hielt sie fest
+um den Arm und sagte tröstend: "Nein, nein, Großmutter, erschrick
+du nur nicht, das ist der Großvater mit dem Hammer, jetzt macht er
+alles fest, dass es dir nicht mehr angst und bang wird."
+
+"Ach, ist auch das möglich! Ist auch so etwas möglich! So hat uns
+doch der liebe Gott nicht ganz vergessen!", rief die Großmutter aus.
+"Hast du's gehört, Brigitte, was es ist, hörst du's? Wahrhaftig,
+es ist ein Hammer! Geh hinaus, Brigitte, und wenn es der Alm-Öhi
+ist, so sag ihm, er soll doch dann auch einen Augenblick
+hereinkommen, dass ich ihm auch danken kann."
+
+Die Brigitte ging hinaus. Eben schlug der Alm-Öhi mit großer
+Gewalt neue Kloben in die Mauer; Brigitte trat an ihn heran und
+sagte: "Ich wünsche Euch guten Abend, Öhi, und die Mutter auch, und
+wir haben Euch zu danken, dass Ihr uns einen solchen Dienst tut,
+und die Mutter möchte Euch noch gern eigens danken drinnen; sicher,
+es hätte uns das nicht gerad einer getan, wir wollen Euch auch dran
+denken, denn sicher--"
+
+"Macht's kurz", unterbrach sie der Alte hier; "was Ihr vom Alm-Öhi
+haltet, weiß ich schon. Geht nur wieder hinein; wo's fehlt, find
+ich selber."
+
+Brigitte gehorchte sogleich, denn der Öhi hatte eine Art, der man
+sich nicht leicht widersetzte. Er klopfte und hämmerte um das
+ganze Häuschen herum, stieg dann das schmale Treppchen hinauf bis
+unter das Dach, hämmerte weiter und weiter, bis er auch den letzten
+Nagel eingeschlagen, den er mitgebracht hatte. Unterdessen war
+auch schon die Dunkelheit hereingebrochen, und kaum war er
+heruntergestiegen und hatte seinen Schlitten hinter dem Geißenstall
+hervorgezogen, als auch schon Heidi aus der Tür trat und vom
+Großvater wie gestern verpackt auf den Arm genommen und der
+Schlitten nachgezogen wurde, denn allein da drauf sitzend, wäre die
+ganze Umhüllung vom Heidi abgefallen, und es wäre fast oder ganz
+erfroren. Das wusste der Großvater wohl und hielt das Kind ganz
+warm in seinem Arm.
+
+So ging der Winter dahin. In das freudlose Leben der blinden
+Großmutter war nach langen Jahren eine Freude gefallen und ihre
+Tage waren nicht mehr lang und dunkel, einer wie der andere, denn
+nun hatte sie immer etwas in Aussicht, nach dem sie verlangen
+konnte. Vom frühen Morgen an lauschte sie auch schon auf den
+trippelnden Schritt, und ging dann die Tür auf und das Kind kam
+wirklich dahergesprungen, dann rief sie jedes Mal in lauter Freude:
+"Gottlob! Da kommt's wieder!" Und Heidi setzte sich zu ihr und
+plauderte und erzählte so lustig von allem, was es wusste, dass es
+der Großmutter ganz wohl machte und ihr die Stunden dahingingen,
+sie merkte es nicht, und kein einziges Mal fragte sie mehr so wie
+früher: "Brigitte, ist der Tag noch nicht um?", sondern jedes Mal,
+wenn Heidi die Tür hinter sich schloss, sagte sie: "Wie war doch
+der Nachmittag so kurz; ist es nicht wahr, Brigitte?" Und diese
+sagte: "Doch sicher, es ist mir, wir haben erst die Teller vom
+Essen weggestellt." Und die Großmutter sagte wieder: "Wenn mir nur
+der Herrgott das Kind erhält und dem Alm-Öhi den guten Willen!
+Sieht es auch gesund aus, Brigitte?" Und jedes Mal erwiderte diese:
+"Es sieht aus wie ein Erdbeerapfel."
+
+Heidi hatte auch eine große Anhänglichkeit an die alte Großmutter,
+und wenn es ihm wieder in den Sinn kam, dass ihr gar niemand, auch
+der Großvater nicht mehr hell machen konnte, überkam es immer
+wieder eine große Betrübnis; aber die Großmutter sagte ihm immer
+wieder, dass sie am wenigsten davon leide, wenn es bei ihr sei, und
+Heidi kam auch an jedem schönen Wintertag heruntergefahren auf
+seinem Schlitten. Der Großvater hatte, ohne weitere Worte, so
+fortgefahren, hatte jedes Mal den Hammer und allerlei andere Sachen
+mit aufgeladen und manchen Nachmittag durch an dem Geißenpeter-
+Häuschen herumgeklopft. Das hatte aber auch seine gute Wirkung; es
+krachte und klapperte nicht mehr die ganzen Nächte durch, und die
+Großmutter sagte, so habe sie manchen Winter lang nicht mehr
+schlafen können, das wolle sie auch dem Öhi nie vergessen.
+
+
+
+
+Es kommt ein Besuch und dann noch einer, der mehr Folgen hat
+
+Schnell war der Winter und noch schneller der fröhliche Sommer
+darauf vergangen, und ein neuer Winter neigte sich schon wieder dem
+Ende zu. Heidi war glücklich und froh wie die Vöglein des Himmels
+und freute sich jeden Tag mehr auf die herannahenden Frühlingstage,
+da der warme Föhn durch die Tannen brausen und den Schnee wegfegen
+würde und dann die helle Sonne die blauen und gelben Blümlein
+hervorlocken und die Tage der Weide kommen würden, die für Heidi
+das Schönste mit sich brachten, was es auf Erden geben konnte.
+Heidi stand nun in seinem achten Jahre; es hatte vom Großvater
+allerlei Kunstgriffe erlernt: Mit den Geißen wusste es so gut
+umzugehen als nur einer, und Schwänli und Bärli liefen ihm nach wie
+treue Hündlein und meckerten gleich laut vor Freude, wenn sie nur
+seine Stimme hörten. In diesem Winter hatte Peter schon zweimal
+vom Schullehrer im Dörfli den Bericht gebracht, der Alm-Öhi solle
+das Kind, das bei ihm sei, nun in die Schule schicken, es habe
+schon mehr als das Alter und hätte schon im letzten Winter kommen
+sollen. Der Öhi hatte beide Male dem Schullehrer sagen lassen,
+wenn er etwas mit ihm wolle, so sei er daheim, das Kind schicke er
+nicht in die Schule. Diesen Bericht hatte der Peter richtig
+überbracht.
+
+Als die Märzsonne den Schnee an den Abhängen geschmolzen hatte und
+überall die weißen Schneeglöckchen hervorguckten im Tal und auf der
+Alm die Tannen ihre Schneelast abgeschüttelt hatten und die Äste
+wieder lustig wehten, da rannte Heidi vor Wonne immer hin und her
+von der Haustür zum Geißenstall und von da unter die Tannen und
+dann wieder hinein zum Großvater, um ihm zu berichten, wie viel
+größer das Stück grüner Boden unter den Bäumen wieder geworden sei,
+und gleich nachher kam es wieder nachzusehen, denn es konnte nicht
+erwarten, dass alles wieder grün wurde und der ganze schöne Sommer
+mit Grün und Blumen wieder auf die Alm gezogen kam.
+
+Als Heidi so am sonnigen Märzmorgen hin und her rannte und jetzt
+wohl zum zehnten Mal über die Türschwelle sprang, wäre es vor
+Schrecken fast rückwärts wieder hineingefallen, denn auf einmal
+stand es vor einem schwarzen alten Herrn, der es ganz ernsthaft
+anblickte. Als er aber seinen Schrecken sah, sagte er freundlich:
+"Du musst nicht erschrecken vor mir, die Kinder sind mir lieb. Gib
+mir die Hand! Du wirst das Heidi sein; wo ist der Großvater?"
+
+"Er sitzt am Tisch und schnitzt runde Löffel von Holz", erklärte
+Heidi und machte nun die Tür wieder auf.
+
+Es war der alte Herr Pfarrer aus dem Dörfli, der den Öhi vor Jahren
+gut gekannt hatte, als er noch unten wohnte und sein Nachbar war.
+Er trat in die Hütte ein, ging auf den Alten zu, der sich über sein
+Schnitzwerk hinbeugte, und sagte: "Guten Morgen, Nachbar."
+
+Verwundert schaute dieser in die Höhe, stand dann auf und
+entgegnete: "Guten Morgen dem Herrn Pfarrer." Dann stellte er
+seinen Stuhl vor den Herrn hin und fuhr fort: "Wenn der Herr
+Pfarrer einen Holzsitz nicht scheut, hier ist einer."
+
+Der Herr Pfarrer setzte sich. "Ich habe Euch lange nicht gesehen,
+Nachbar", sagte er dann.
+
+"Ich den Herrn Pfarrer auch nicht", war die Antwort.
+
+"Ich komme heut, um etwas mit Euch zu besprechen", fing der Herr
+Pfarrer wieder an; "ich denke, Ihr könnt schon wissen, was meine
+Angelegenheit ist, worüber ich mich mit Euch verständigen und hören
+will, was Ihr im Sinne habt."
+
+Der Herr Pfarrer schwieg und schaute auf Heidi, das an der Tür
+stand und die neue Erscheinung aufmerksam betrachtete.
+
+"Heidi, geh zu den Geißen", sagte der Großvater. "Kannst ein wenig
+Salz mitnehmen und bei ihnen bleiben, bis ich auch komme."
+
+Heidi verschwand sofort.
+
+"Das Kind hätte schon vor dem Jahr und noch sicherer diesen Winter
+die Schule besuchen sollen", sagte nun der Herr Pfarrer; "der
+Lehrer hat Euch mahnen lassen, Ihr habt keine Antwort darauf
+gegeben; was habt Ihr mit dem Kind im Sinn, Nachbar?"
+
+"Ich habe im Sinn, es nicht in die Schule zu schicken", war die
+Antwort.
+
+Verwundert schaute der Herr Pfarrer auf den Alten, der mit
+gekreuzten Armen auf seiner Bank saß und gar nicht nachgiebig
+aussah.
+
+"Was wollt Ihr aus dem Kinde machen?", fragte jetzt der Herr
+Pfarrer.
+
+"Nichts, es wächst und gedeiht mit den Geißen und den Vögeln; bei
+denen ist es ihm wohl und es lernt nichts Böses von ihnen."
+
+"Aber das Kind ist keine Geiß und kein Vogel, es ist ein
+Menschenkind. Wenn es nichts Böses lernt von diesen seinen
+Kameraden, so lernt es auch sonst nichts von ihnen; es soll aber
+etwas lernen, und die Zeit dazu ist da. Ich bin gekommen, es Euch
+zeitig zu sagen, Nachbar, damit Ihr Euch besinnen und einrichten
+könnt den Sommer durch. Dies war der letzte Winter, den das Kind
+so ohne allen Unterricht zugebracht hat; nächsten Winter kommt es
+zur Schule, und zwar jeden Tag."
+
+"Ich tu's nicht, Herr Pfarrer", sagte der Alte unentwegt.
+
+"Meint Ihr denn wirklich, es gebe kein Mittel, Euch zur Vernunft zu
+bringen, wenn Ihr so eigensinnig bei Eurem unvernünftigen Tun
+beharren wollt?", sagte der Herr Pfarrer jetzt ein wenig eifrig.
+"Ihr seid weit in der Welt herumgekommen und habt viel gesehen und
+vieles lernen können, ich hätte Euch mehr Einsicht zugetraut,
+Nachbar."
+
+"So", sagte jetzt der Alte und seine Stimme verriet, dass es auch
+in seinem Innern nicht mehr so ganz ruhig war; "und meint denn der
+Herr Pfarrer, ich werde wirklich im nächsten Winter am eisigen
+Morgen durch Sturm und Schnee ein zartgliedriges Kind den Berg
+hinunterschicken, zwei Stunden weit, und zur Nacht wieder
+heraufkommen lassen, wenn's manchmal tobt und tut, dass unsereiner
+fast in Wind und Schnee ersticken müsste, und dann ein Kind wie
+dieses? Und vielleicht kann sich der Herr Pfarrer auch noch der
+Mutter erinnern, der Adelheid; sie war mondsüchtig und hatte
+Zufälle, soll das Kind auch so etwas holen mit der Anstrengung? Es
+soll mir einer kommen und mich zwingen wollen! Ich gehe vor alle
+Gerichte mit ihm, und dann wollen wir sehen, wer mich zwingt!"
+
+"Ihr habt ganz Recht, Nachbar", sagte der Herr Pfarrer mit
+Freundlichkeit; "es wäre nicht möglich, das Kind von hier aus zur
+Schule zu schicken. Aber ich kann sehen, das Kind ist Euch lieb;
+tut um seinetwillen etwas, das Ihr schon lange hättet tun sollen,
+kommt wieder ins Dörfli herunter und lebt wieder mit den Menschen.
+Was ist das für ein Leben hier oben, allein und verbittert gegen
+Gott und Menschen! Wenn Euch einmal etwas zustoßen würde hier oben,
+wer würde Euch beistehen? Ich kann auch gar nicht begreifen, dass
+Ihr den Winter durch nicht halb erfriert in Eurer Hütte, und wie
+das zarte Kind es nur aushalten kann!"
+
+"Das Kind hat junges Blut und eine gute Decke, das möchte ich dem
+Herrn Pfarrer sagen, und dann noch eins: Ich weiß, wo es Holz gibt,
+und auch, wann die gute Zeit ist, es zu holen; der Herr Pfarrer
+darf in meinen Schopf hineingehen, es ist etwas drin, in meiner
+Hütte geht das Feuer nie aus den Winter durch. Was der Herr
+Pfarrer mit dem Herunterkommen meint, ist nicht für mich; die
+Menschen da unten verachten mich und ich sie auch, wir bleiben
+voneinander, so ist's beiden wohl."
+
+"Nein, nein, es ist Euch nicht wohl; ich weiß, was Euch fehlt",
+sagte der Herr Pfarrer mit herzlichem Ton. "Mit der Verachtung der
+Menschen dort unten ist es so schlimm nicht. Glaubt mir, Nachbar:
+Sucht Frieden mit Eurem Gott zu machen, bittet um seine Verzeihung,
+wo Ihr sie nötig habt, und dann kommt und seht, wie anders Euch die
+Menschen ansehen und wie wohl es Euch noch werden kann."
+
+Der Herr Pfarrer war aufgestanden, er hielt dem Alten die Hand hin
+und sagte nochmals mit Herzlichkeit: "Ich zähle darauf, Nachbar, im
+nächsten Winter seid Ihr wieder unten bei uns und wir sind die
+alten, guten Nachbarn. Es würde mir großen Kummer machen, wenn ein
+Zwang gegen Euch müsste angewandt werden; gebt mir jetzt die Hand
+darauf, dass ihr herunterkommt und wieder unter uns leben wollt,
+ausgesöhnt mit Gott und den Menschen."
+
+Der Alm-Öhi gab dem Herrn Pfarrer die Hand und sagte fest und
+bestimmt: "Der Herr Pfarrer meint es recht mit mir; aber was er
+erwartet, das tu ich nicht, ich sag es sicher und ohne Wandel: Das
+Kind schick ich nicht, und herunter komm ich nicht."
+
+"So helf Euch Gott!", sagte der Herr Pfarrer und ging traurig zur
+Tür hinaus und den Berg hinunter.
+
+Der Alm-Öhi war verstimmt. Als Heidi am Nachmittag sagte: "Jetzt
+wollen wir zur Großmutter", erwiderte er kurz: "Heut nicht." Den
+ganzen Tag sprach er nicht mehr, und am folgenden Morgen, als Heidi
+fragte: "Gehen wir heut zur Großmutter?", war er noch gleich kurz
+von Worten wie im Ton und sagte nur: "Wollen sehen." Aber noch
+bevor die Schüsselchen vom Mittagessen weggestellt waren, trat
+schon wieder ein Besuch zur Tür herein, es war die Base Dete. Sie
+hatte einen schönen Hut auf dem Kopf mit einer Feder darauf und ein
+Kleid, das alles mitfegte, was am Boden lag, und in der Sennhütte
+lag da allerlei, das nicht an ein Kleid gehörte. Der Öhi schaute
+sie an von oben bis unten und sagte kein Wort. Aber die Base Dete
+hatte im Sinn, ein sehr freundliches Gespräch zu führen, denn sie
+fing an zu rühmen und sagte, das Heidi sehe so gut aus, sie habe es
+fast nicht mehr gekannt und man könne schon sehen, dass es ihm
+nicht schlecht gegangen sei beim Großvater. Sie habe aber gewiss
+auch immer darauf gedacht, es ihm wieder abzunehmen, denn sie habe
+ja schon begreifen können, dass ihm das Kleine im Weg sein müsse,
+aber in jenem Augenblick habe sie es ja nirgends sonst hintun
+können; seitdem aber habe sie Tag und Nacht nachgesonnen, wo sie
+das Kind etwa unterbringen könnte, und deswegen komme sie auch
+heute, denn auf einmal habe sie etwas vernommen, da könne das Heidi
+zu einem solchen Glück kommen, dass sie es gar nicht habe glauben
+wollen. Dann sei sie aber auf der Stelle der Sache nachgegangen,
+und nun könne sie sagen, es sei alles so gut wie in Richtigkeit,
+das Heidi komme zu einem Glück wie unter Hunderttausenden nicht
+eines. Furchtbar reiche Verwandte von ihrer Herrschaft, die fast
+im schönsten Haus in ganz Frankfurt wohnen, die haben ein einziges
+Töchterlein, das müsse immer im Rollstuhl sitzen, denn es sei auf
+einer Seite lahm und sonst nicht gesund, und so sei es fast immer
+allein und müsse auch allen Unterricht allein nehmen bei einem
+Lehrer, und das sei ihm so langweilig, und auch sonst hätte es gern
+eine Gespielin im Haus, und da haben sie so davon geredet bei ihrer
+Herrschaft, und wenn man nur so ein Kind finden könnte, wie die
+Dame beschrieb, die in dem Haus die Wirtschaft führte, denn ihre
+Herrschaft habe viel Mitgefühl und möchte dem kranken Töchterlein
+eine gute Gespielin gönnen. Die Wirtschaftsdame hatte nun gesagt,
+sie wolle so ein recht unverdorbenes, so ein eigenartiges, das
+nicht sei wie alle, die man so alle Tage sehe. Da habe sie selbst
+denn auf der Stelle an das Heidi gedacht und sei gleich hingelaufen
+und habe der Dame alles so beschrieben vom Heidi und so von seinem
+Charakter, und die Dame habe sogleich zugesagt. Nun könne gar kein
+Mensch wissen, was dem Heidi alles an Glück und Wohlfahrt
+bevorstehe, denn wenn es dann einmal dort sei und die Leute es gern
+mögen und es etwa mit dem eigenen Töchterchen etwas geben sollte--
+man könne ja nie wissen, es sei doch so schwächlich--, und wenn
+eben die Leute doch nicht ohne ein Kind bleiben wollten, so könnte
+ja das unerhörteste Glück--
+
+"Bist du bald fertig?", unterbrach hier der Öhi, der bis dahin kein
+Wort dazwischengeredet hatte.
+
+"Pah", gab die Dete zurück und warf den Kopf auf, "Ihr tut gerade,
+wie wenn ich Euch das ordinärste Zeug gesagt hätte, und ist doch
+durchs ganze Prättigau auf und ab nicht einer, der nicht Gott im
+Himmel dankte, wenn ich ihm die Nachricht brächte, die ich Euch
+gebracht habe."
+
+"Bring sie, wem du willst, ich will nichts davon", sagte der Öhi
+trocken.
+
+Aber jetzt fuhr die Dete auf wie eine Rakete und rief: "Ja, wenn
+Ihr es so meint, dann will ich Euch denn schon auch sagen, wie ich
+es meine: Das Kind ist jetzt acht Jahre alt und kann nichts und
+weiß nichts, und Ihr wollt es nichts lernen lassen; Ihr wollt es in
+keine Schule und in keine Kirche schicken, das haben sie mir gesagt
+unten im Dörfli, und es ist meiner einzigen Schwester Kind; ich hab
+es zu verantworten, wie's mit ihm geht, und wenn ein Kind ein Glück
+erlangen kann wie jetzt das Heidi, so kann ihm nur einer davor sein,
+dem es um alle Leute gleich ist und der keinem etwas Gutes wünscht.
+Aber ich gebe nicht nach, das sag ich Euch, und die Leute habe
+ich alle für mich, es ist kein Einziger unten im Dörfli, der nicht
+mir hilft und gegen Euch ist, und wenn Ihr's etwa wollt vor Gericht
+kommen lassen, so besinnt Euch wohl, Öhi; es gibt noch Sachen, die
+Euch dann könnten aufgewärmt werden, die Ihr nicht gern hörtet,
+denn wenn man's einmal mit dem Gericht zu tun hat, so wird noch
+manches aufgespürt, an das keiner mehr denkt."
+
+"Schweig!", donnerte der Öhi heraus, und seine Augen flammten wie
+Feuer. "Nimm's und verdirb's! Komm mir nie mehr vor Augen mit ihm,
+ich will's nie sehen mit dem Federhut auf dem Kopf und Worten im
+Mund wie dich heut!"
+
+Der Öhi ging mit großen Schritten zur Tür hinaus.
+
+"Du hast den Großvater bös gemacht", sagte Heidi und blitzte mit
+seinen schwarzen Augen die Base wenig freundlich an.
+
+"Er wird schon wieder gut, komm jetzt", drängte die Base; "wo sind
+deine Kleider?"
+
+"Ich komme nicht", sagte Heidi.
+
+"Was sagst du?", fuhr die Base auf; dann änderte sie den Ton ein
+wenig und fuhr halb freundlich, halb ärgerlich weiter: "Komm, komm,
+du verstehst's nicht besser, du wirst es so gut haben, wie du gar
+nicht weißt." Dann ging sie an den Schrank, nahm Heidis Sachen
+hervor und packte sie zusammen: "So, komm jetzt, nimm dort dein
+Hütchen, es sieht nicht schön aus, aber es ist gleich für einmal,
+setz es auf und mach, dass wir fortkommen."
+
+"Ich komme nicht", wiederholte Heidi.
+
+"Sei doch nicht so dumm und störrig wie eine Geiß; denen hast du's
+abgesehen. Begreif doch nur, jetzt ist der Großvater bös, du
+hast's ja gehört, dass er gesagt hat, wir sollen ihm nicht mehr vor
+Augen kommen, er will es nun haben, dass du mit mir gehst, und
+jetzt musst du ihn nicht noch böser machen. Du weißt gar nicht,
+wie schön es ist in Frankfurt und was du alles sehen wirst, und
+gefällt es dir dann nicht, so kannst du wieder heimgehen; bis dahin
+ist der Großvater dann wieder gut."
+
+"Kann ich gerad wieder umkehren und heimkommen heut Abend?", fragte
+Heidi.
+
+"Ach was, komm jetzt! Ich sag dir's ja, du kannst wieder heim,
+wann du willst. Heut gehen wir bis nach Maienfeld hinunter und
+morgen früh sitzen wir in der Eisenbahn, mit der bist du nachher im
+Augenblick wieder daheim, das geht wie geflogen."
+
+Die Base Dete hatte das Bündelchen Kleider auf den Arm und Heidi an
+die Hand genommen; so gingen sie den Berg hinunter.
+
+Da es noch nicht Weidezeit war, ging der Peter noch zur Schule ins
+Dörfli hinunter, oder sollte doch dahin gehen; aber er machte hier
+und da einen Tag Ferien, denn er dachte, es nütze nichts, dahin zu
+gehen, das Lesen brauche man auch nicht, und ein wenig herumfahren
+und große Ruten suchen nütze etwas, denn diese könne man brauchen.
+So kam er eben in der Nähe seiner Hütte von der Seite her mit
+sichtlichem Erfolg seiner heutigen Bestrebungen, denn er trug ein
+ungeheures Bündel langer, dicker Haselruten auf der Achsel. Er
+stand still und starrte die zwei Entgegenkommenden an, bis sie bei
+ihm ankamen; dann sagte er: "Wo willst du hin?"
+
+"Ich muss nur geschwind nach Frankfurt mit der Base", antwortete
+Heidi, "aber ich will zuerst noch zur Großmutter hinein, sie wartet
+auf mich."
+
+"Nein, nein, keine Rede, es ist schon viel zu spät", sagte die Base
+eilig und hielt das fortstrebende Heidi fest bei der Hand; "du
+kannst dann gehen, wenn du wieder heimkommst, komm jetzt!" Damit
+zog die Base das Heidi fest weiter und ließ es nicht mehr los, denn
+sie fürchtete, es könne drinnen dem Kinde wieder in den Sinn kommen,
+es wolle nicht fort, und die Großmutter könne ihm helfen wollen.
+Der Peter sprang in die Hütte hinein und schlug mit seinem ganzen
+Bündel Ruten so furchtbar auf den Tisch los, dass alles erzitterte
+und die Großmutter vor Schrecken vom Spinnrad aufsprang und laut
+aufjammerte. Der Peter hatte sich Luft machen müssen.
+
+"Was ist's denn? Was ist's denn?", rief angstvoll die Großmutter,
+und die Mutter, die am Tisch gesessen hatte und fast aufgeflogen
+war bei dem Knall, sagte in angeborener Langmut: "Was hast, Peterli;
+warum tust so wüst?"
+
+"Weil sie das Heidi mitgenommen hat", erklärte Peter.
+
+"Wer? Wer? Wohin, Peterli, wohin?", fragte die Großmutter jetzt
+mit neuer Angst; sie musste aber schnell erraten haben, was vorging,
+die Tochter hatte ihr ja vor kurzem berichtet, sie habe die Dete
+gesehen zum Alm-Öhi hinaufgehen. Ganz zitternd vor Eile machte die
+Großmutter das Fenster auf und rief flehentlich hinaus: "Dete, Dete,
+nimm uns das Kind nicht weg! Nimm uns das Heidi nicht!"
+
+Die beiden Laufenden hörten die Stimme, und die Dete mochte wohl
+ahnen, was sie rief, denn sie fasste das Kind noch fester und lief,
+was sie konnte. Heidi widerstrebte und sagte: "Die Großmutter hat
+gerufen, ich will zu ihr."
+
+Aber das wollte die Base gerade nicht und beschwichtigte das Kind,
+es solle nur schnell kommen jetzt, dass sie nicht noch zu spät
+kämen, sondern dass sie morgen weiterreisen könnten, es könnte ja
+dann sehen, wie es ihm gefallen werde in Frankfurt, dass es gar nie
+mehr fortwolle dort; und wenn es doch heim wolle, so könne es ja
+gleich gehen und dann erst noch der Großmutter etwas mit
+heimbringen, was sie freue. Das war eine Aussicht für Heidi, die
+ihm gefiel. Es fing an zu laufen ohne Widerstreben.
+
+"Was kann ich der Großmutter heimbringen?", fragte es nach einer
+Welle.
+
+"Etwas Gutes", sagte die Base, "so schöne, weiche Weißbrötchen, da
+wird sie Freud haben daran, sie kann ja doch das harte, schwarze
+Brot fast nicht mehr essen."
+
+"Ja, sie gibt es immer wieder dem Peter und sagt: 'Es ist mir
+zu hart'; das habe ich selbst gesehen", bestätigte das Heidi.
+"So wollen wir geschwind gehen, Base Dete; dann kommen wir
+vielleicht heut noch nach Frankfurt, dass ich bald wieder da bin
+mit den Brötchen."
+
+Heidi fing nun so zu rennen an, dass die Base mit ihrem Bündel auf
+dem Arm fast nicht mehr nachkam. Aber sie war sehr froh, dass es
+so rasch ging, denn nun kamen sie gleich zu den ersten Häusern vom
+Dörfli, und da konnte es wieder allerhand Reden und Fragen geben,
+die das Heidi wieder auf andere Gedanken bringen konnten. So lief
+sie stracks durch, und das Kind zog dabei noch so stark an ihrer
+Hand, dass alle Leute es sehen konnten, wie sie um des Kindes
+willen so pressieren musste. So rief sie auf alle die Fragen und
+Anrufungen, die ihr aus allen Fenstern und Türen entgegentönten,
+nur immer zurück: "Ihr seht's ja, ich kann jetzt nicht still stehen,
+das Kind pressiert und wir haben noch weit."
+
+"Nimmst's mit?"--"Läuft's dem Alm-Öhi fort?"--"Es ist nur ein
+Wunder, dass es noch am Leben ist!"--"Und dazu noch so rotbackig!"
+So tönte es von allen Seiten, und die Dete war froh, dass sie ohne
+Verzug durchkam und keinen Bescheid geben musste und auch Heidi
+kein Wort sagte, sondern nur immer vorwärts strebte in großem Eifer.
+--
+
+Von dem Tage an machte der Alm-Öhi, wenn er herunterkam und durchs
+Dörfli ging, ein böseres Gesicht als je zuvor. Er grüßte keinen
+Menschen und sah mit seinem Käsereff auf dem Rücken, mit dem
+ungeheuren Stock in der Hand und den zusammengezogenen dicken
+Brauen so drohend aus, dass die Frauen zu den kleinen Kindern
+sagten: "Gib Acht! Geh dem Alm-Öhi aus dem Weg, er könnte dir noch
+etwas tun!"
+
+Der Alte verkehrte mit keinem Menschen im Dörfli, er ging nur durch
+und weit ins Tal hinab, wo er seinen Käse verhandelte und seine
+Vorräte an Brot und Fleisch einnahm. Wenn er so vorbeigegangen war
+im Dörfli, dann standen hinter ihm die Leute alle in Trüppchen
+zusammen, und jeder wusste etwas Besonderes, was er am Alm-Öhi
+gesehen hatte, wie er immer wilder aussehe und dass er jetzt keinem
+Menschen mehr auch nur einen Gruß abnehme, und alle kamen darin
+überein, dass es ein großes Glück sei, dass das Kind habe
+entweichen können, und man habe auch wohl gesehen, wie es
+fortgedrängt habe, so, als fürchte es, der Alte sei schon hinter
+ihm drein, um es zurückzuholen. Nur die blinde Großmutter hielt
+unverrückt zum Alm-Öhi, und wer zu ihr heraufkam, um bei ihr
+spinnen zu lassen oder das Gesponnene zu holen, dem erzählte sie es
+immer wieder, wie gut und sorgfältig der Alm-Öhi mit dem Kind
+gewesen sei und was er an ihr und der Tochter getan habe, wie
+manchen Nachmittag er an ihrem Häuschen herumgeflickt, das ohne
+seine Hilfe gewiss schon zusammengefallen wäre. So kamen denn auch
+diese Berichte ins Dörfli herunter; aber die meisten, die sie
+vernahmen, sagten dann, die Großmutter sei vielleicht zu alt zum
+Begreifen, sie werde es wohl nicht recht verstanden haben, sie
+werde wohl auch nicht mehr gut hören, weil sie nichts mehr sehe.
+
+Der Alm-Öhi zeigte sich jetzt nicht mehr bei den Geißenpeters; es
+war gut, dass er die Hütte so fest zusammengenagelt hatte, denn sie
+blieb für lange Zeit ganz unberührt. Jetzt begann die blinde
+Großmutter ihre Tage wieder mit Seufzen, und nicht einer verstrich,
+an dem sie nicht klagend sagte: "Ach, mit dem Kind ist alles Gute
+und alle Freude von uns genommen, und die Tage sind so leer! Wenn
+ich nur noch einmal das Heidi hören könnte, eh ich sterben muss!"
+
+
+
+
+Ein neues Kapitel und lauter neue Dinge
+
+Im Hause des Herrn Sesemann in Frankfurt lag das kranke Töchterlein,
+Klara, in dem bequemen Rollstuhl, in welchem es den ganzen Tag
+sich aufhielt und von einem Zimmer ins andere gestoßen wurde.
+Jetzt saß es im so genannten Studierzimmer, das neben der großen
+Essstube lag und wo vielerlei Gerätschaften herumstanden und--lagen,
+die das Zimmer wohnlich machten und zeigten, dass man hier
+gewöhnlich sich aufhielt. An dem großen, schönen Bücherschrank mit
+den Glastüren konnte man sehen, woher das Zimmer seinen Namen hatte
+und dass es wohl der Raum war, wo dem lahmen Töchterchen der
+tägliche Unterricht erteilt wurde.
+
+Klara hatte ein blasses, schmales Gesichtchen, aus dem zwei milde,
+blaue Augen herausschauten, die in diesem Augenblick auf die große
+Wanduhr gerichtet waren, die heute besonders langsam zu gehen
+schien, denn Klara, die sonst kaum ungeduldig wurde, sagte jetzt
+mit ziemlicher Ungeduld in der Stimme: "Ist es denn immer noch
+nicht Zeit, Fräulein Rottenmeier?"
+
+Die Letztere saß sehr aufrecht an einem kleinen Arbeitstisch und
+stickte. Sie hatte eine geheimnisvolle Hülle um sich, einen großen
+Kragen oder Halbmantel, welcher der Persönlichkeit einen
+feierlichen Anstrich verlieh, der noch erhöht wurde durch eine Art
+von hoch gebauter Kuppel, die sie auf dem Kopf trug. Fräulein
+Rottenmeier war schon seit mehreren Jahren, seitdem die Dame des
+Hauses gestorben war, im Hause Sesemann, führte die Wirtschaft und
+hatte die Oberaufsicht über das ganze Dienstpersonal.
+
+Herr Sesemann war meistens auf Reisen, überließ daher dem Fräulein
+Rottenmeier das ganze Haus, nur mit der Bedingung, dass sein
+Töchterlein in allem eine Stimme haben solle und nichts gegen
+dessen Wunsch geschehen dürfe.
+
+Während oben Klara zum zweiten Mal mit Zeichen der Ungeduld
+Fräulein Rottenmeier befragte, ob die Zeit noch nicht da sei, da
+die Erwarteten erscheinen konnten, stand unten vor der Haustür die
+Dete mit Heidi an der Hand und fragte den Kutscher Johann, der eben
+vom Wagen gestiegen war, ob sie wohl Fräulein Rottenmeier so spät
+noch stören dürfe.
+
+"Das ist nicht meine Sache", brummte der Kutscher; "klingeln Sie
+den Sebastian herunter, drinnen im Korridor."
+
+Dete tat, wie ihr geheißen war, und der Bediente des Hauses kam die
+Treppe herunter mit großen, runden Knöpfen auf seinem Aufwärterrock
+und fast ebenso großen runden Augen im Kopfe.
+
+"Ich wollte fragen, ob ich um diese Zeit Fräulein Rottenmeier noch
+stören dürfe", brachte die Dete wieder an.
+
+"Das ist nicht meine Sache", gab der Bediente zurück; "klingeln Sie
+die Jungfer Tinette herunter an der anderen Klingel", und ohne
+weitere Auskunft verschwand der Sebastian.
+
+Dete klingelte wieder. Jetzt erschien auf der Treppe die Jungfer
+Tinette mit einem blendend weißen Deckelchen auf der Mitte des
+Kopfes und einer spöttischen Miene auf dem Gesicht.
+
+"Was ist?", fragte sie auf der Treppe, ohne herunterzukommen. Dete
+wiederholte ihr Gesuch. Jungfer Tinette verschwand, kam aber bald
+wieder und rief von der Treppe herunter: "Sie sind erwartet!"
+
+Jetzt stieg Dete mit Heidi die Treppe hinauf und trat, der Jungfer
+Tinette folgend, in das Studierzimmer ein. Hier blieb Dete höflich
+an der Tür stehen, Heidi immer fest an der Hand haltend, denn sie
+war gar nicht sicher, was dem Kinde etwa begegnen konnte auf diesem
+so fremden Boden.
+
+Fräulein Rottenmeier erhob sich langsam von ihrem Sitz und kam
+näher, um die angekommene Gespielin der Tochter des Hauses zu
+betrachten. Der Anblick schien sie nicht zu befriedigen. Heidi
+hatte sein einfaches Baumwollröckchen an und sein altes,
+zerdrücktes Strohhütchen auf dem Kopf. Das Kind guckte sehr
+harmlos darunter hervor und betrachtete mit unverhehlter
+Verwunderung den Turmbau auf dem Kopf der Dame.
+
+"Wie heißest du?", fragte Fräulein Rottenmeier, nachdem auch sie
+einige Minuten lang forschend das Kind angesehen hatte, das kein
+Auge von ihr verwandte.
+
+"Heidi", antwortete es deutlich und mit klangvoller Stimme.
+
+"Wie? Wie? Das soll doch wohl kein christlicher Name sein? So
+bist du doch nicht getauft worden. Welchen Namen hast du in der
+Taufe erhalten?", fragte Fräulein Rottenmeier weiter.
+
+"Das weiß ich jetzt nicht mehr", entgegnete Heidi.
+
+"Ist das eine Antwort!", bemerkte die Dame mit Kopfschütteln.
+"Jungfer Dete, ist das Kind einfältig oder schnippisch?"
+
+"Mit Erlaubnis und wenn es die Dame gestattet, so will ich gern
+reden für das Kind, denn es ist sehr unerfahren", sagte die Dete,
+nachdem sie dem Heidi heimlich einen kleinen Stoß gegeben hatte für
+die unpassende Antwort. "Es ist aber nicht einfältig und auch
+nicht schnippisch, davon weiß es gar nichts; es meint alles so, wie
+es redet. Aber es ist heut zum ersten Mal in einem Herrenhaus und
+kennt die gute Manier nicht; aber es ist willig und nicht
+ungelehrig, wenn die Dame wollte gütige Nachsicht haben. Es ist
+Adelheid getauft worden, wie seine Mutter, meine Schwester selig."
+
+"Nun wohl, dies ist doch ein Name, den man sagen kann", bemerkte
+Fräulein Rottenmeier. "Aber, Jungfer Dete, ich muss Ihnen doch
+sagen, dass mir das Kind für sein Alter sonderbar vorkommt. Ich
+habe Ihnen mitgeteilt, die Gespielin für Fräulein Klara müsste in
+ihrem Alter sein, um denselben Unterricht mit ihr zu verfolgen und
+überhaupt ihre Beschäftigungen zu teilen. Fräulein Klara hat das
+zwölfte Jahr zurückgelegt; wie alt ist das Kind?"
+
+"Mit Erlaubnis der Dame", fing die Dete wieder beredt an, "es war
+mir eben selber nicht mehr so ganz gegenwärtig, wie alt es sei; es
+ist wirklich ein wenig jünger, viel trifft es nicht an, ich kann's
+so ganz genau nicht sagen, es wird so um das zehnte Jahr, oder so
+noch etwas dazu sein, nehm ich an."
+
+"Jetzt bin ich acht, der Großvater hat's gesagt", erklärte Heidi.
+Die Base stieß es wieder an, aber Heidi hatte keine Ahnung, warum,
+und wurde keineswegs verlegen.
+
+"Was, erst acht Jahre alt?", rief Fräulein Rottenmeier mit einiger
+Entrüstung aus. "Vier Jahre zu wenig! Was soll das geben! Und
+was hast du denn gelernt? Was hast du für Bücher gehabt bei deinem
+Unterricht?"
+
+"Keine", sagte Heidi.
+
+"Wie? Was? Wie hast du denn lesen gelernt?", fragte die Dame
+weiter.
+
+"Das hab ich nicht gelernt und der Peter auch nicht", berichtete
+Heidi.
+
+"Barmherzigkeit! Du kannst nicht lesen? Du kannst wirklich nicht
+lesen!", rief Fräulein Rottenmeier im höchsten Schrecken aus. "Ist
+es die Möglichkeit, nicht lesen! Was hast du denn aber gelernt?"
+
+"Nichts", sagte Heidi der Wahrheit gemäß.
+
+"Jungfer Dete", sagte Fräulein Rottenmeier nach einigen Minuten, in
+denen sie nach Fassung rang, "es ist alles nicht nach Abrede, wie
+konnten Sie mir dieses Wesen zuführen?" Aber die Dete ließ sich
+nicht so bald einschüchtern; sie antwortete herzhaft: "Mit
+Erlaubnis der Dame, das Kind ist gerade, was ich dachte, dass sie
+haben wolle; die Dame hat mir beschrieben, wie es sein müsse, so
+ganz apart und nicht wie die anderen, und so musste ich das Kleine
+nehmen, denn die Größeren sind bei uns dann nicht mehr so apart,
+und ich dachte, dieses passe wie gemacht auf die Beschreibung.
+Jetzt muss ich aber gehen, denn meine Herrschaft erwartet mich; ich
+will, wenn's meine Herrschaft erlaubt, bald wieder kommen und
+nachsehen, wie es geht mit ihm." Mit einem Knicks war die Dete zur
+Tür hinaus und die Treppe hinunter mit schnellen Schritten.
+Fräulein Rottenmeier stand einen Augenblick noch da, dann lief sie
+der Dete nach; es war ihr wohl in den Sinn gekommen, dass sie noch
+eine Menge von Dingen mit der Base besprechen wollte, wenn das Kind
+wirklich dableiben sollte, und da war es doch nun einmal und, wie
+sie bemerkte, hatte die Base fest im Sinn, es dazulassen.
+
+Heidi stand noch auf demselben Platz an der Tür, wo es von Anfang
+an gestanden hatte. Bis dahin hatte Klara von ihrem Sessel aus
+schweigend allem zugesehen. Jetzt winkte sie Heidi: "Komm hierher!"
+
+Heidi trat an den Rollstuhl heran.
+
+"Willst du lieber Heidi heißen oder Adelheid?", fragte Klara.
+
+"Ich heiße nur Heidi und sonst nichts", war Heidis Antwort.
+
+"So will ich dich immer so nennen", sagte Klara; "der Name gefällt
+mir für dich, ich habe ihn aber nie gehört, ich habe aber auch nie
+ein Kind gesehen, das so aussieht wie du. Hast du immer nur so
+kurzes, krauses Haar gehabt?"
+
+"Ja, ich denk's", gab Heidi zur Antwort.
+
+"Bist du gern nach Frankfurt gekommen?", fragte Klara weiter.
+
+"Nein, aber morgen geh ich dann wieder heim und bringe der
+Großmutter weiße Brötchen!", erklärte Heidi.
+
+"Du bist aber ein kurioses Kind!", fuhr jetzt Klara auf. "Man hat
+dich ja express nach Frankfurt kommen lassen, dass du bei mir
+bleibest und die Stunden mit mir nehmest, und siehst du, es wird
+nun ganz lustig, weil du gar nicht lesen kannst, nun kommt etwas
+ganz Neues in den Stunden vor. Sonst ist es manchmal so
+schrecklich langweilig und der Morgen will gar nicht zu Ende kommen.
+Denn siehst du, alle Morgen um zehn Uhr kommt der Herr Kandidat,
+und dann fangen die Stunden an und dauern bis um zwei Uhr, das ist
+so lange. Der Herr Kandidat nimmt auch manchmal das Buch ganz nahe
+ans Gesicht heran, so, als wäre er auf einmal ganz kurzsichtig
+geworden, aber er gähnt nur furchtbar hinter dem Buch, und Fräulein
+Rottenmeier nimmt auch von Zeit zu Zeit ihr großes Taschentuch
+hervor und hält es vor das ganze Gesicht hin, so, als sei sie ganz
+ergriffen von etwas, das wir lesen; aber ich weiß recht gut, dass
+sie nur ganz schrecklich gähnt dahinter, und dann sollte ich auch
+so stark gähnen und muss es immer hinunterschlucken, denn wenn ich
+nur ein einziges Mal herausgähne, so holt Fräulein Rottenmeier
+gleich den Fischtran und sagt, ich sei wieder schwach, und
+Fischtran nehmen ist das Allerschrecklichste, da will ich doch
+lieber Gähnen schlucken. Aber nun wird's viel kurzweiliger, da
+kann ich dann zuhören, wie du lesen lernst."
+
+Heidi schüttelte ganz bedenklich mit dem Kopf, als es vom
+Lesenlernen hörte.
+
+"Doch, doch, Heidi, natürlich musst du lesen lernen, alle Menschen
+müssen, und der Herr Kandidat ist sehr gut, er wird niemals böse,
+und er erklärt dir dann schon alles. Aber siehst du, wenn er etwas
+erklärt, dann verstehst du nichts davon; dann musst du nur warten
+und gar nichts sagen, sonst erklärt er dir noch viel mehr und du
+verstehst es noch weniger. Aber dann nachher, wenn du etwas
+gelernt hast und es weißt, dann verstehst du schon, was er gemeint
+hat."
+
+Jetzt kam Fräulein Rottenmeier wieder ins Zimmer zurück; sie hatte
+Dete nicht mehr zurückrufen können und war sichtlich aufgeregt
+davon, denn sie hatte dieser eigentlich gar nicht einlässlich sagen
+können, was alles nicht nach Abrede sei bei dem Kinde, und da sie
+nicht wusste, was nun zu tun sei, um ihren Schritt rückgängig zu
+machen, war sie umso aufgeregter, denn sie selbst hatte die ganze
+Sache angestiftet. Sie lief nun vom Studierzimmer ins Esszimmer
+hinüber, und von da wieder zurück, und kehrte dann unmittelbar
+wieder um und fuhr hier den Sebastian an, der seine runden Augen
+eben nachdenklich über den gedeckten Tisch gleiten ließ, um zu
+sehen, ob sein Werk keinen Mangel habe.
+
+"Denk Er morgen Seine großen Gedanken fertig und mach Er, dass man
+heut noch zu Tische komme."
+
+Mit diesen Worten fuhr Fräulein Rottenmeier an Sebastian vorbei und
+rief nach der Tinette mit so wenig einladendem Ton, dass die
+Jungfer Tinette mit noch viel kleineren Schritten herantrippelte
+als sonst gewöhnlich--und sich mit so spöttischem Gesicht
+hinstellte, dass selbst Fräulein Rottenmeier nicht wagte, sie
+anzufahren; umso mehr schlug ihr die Aufregung nach innen.
+
+"Das Zimmer der Angekommenen ist in Ordnung zu bringen, Tinette",
+sagte die Dame mit schwer errungener Ruhe; "es liegt alles bereit,
+nehmen Sie noch den Staub von den Möbeln weg."
+
+"Es ist der Mühe wert", spöttelte Tinette und ging.
+
+Unterdessen hatte Sebastian die Doppeltüren zum Studierzimmer mit
+ziemlichem Knall aufgeschlagen, denn er war sehr ergrimmt, aber
+sich in Antworten Luft zu machen durfte er nicht wagen Fräulein
+Rottenmeier gegenüber; dann trat er ganz gelassen ins Studierzimmer,
+um den Rollstuhl hinüberzustoßen. Während er den Griff hinten am
+Stuhl, der sich verschoben hatte, zurechtdrehte, stellte sich Heidi
+vor ihn hin und schaute ihn unverwandt an, was er bemerkte. Auf
+einmal fuhr er auf. "Na, was ist denn da Besonderes dran?",
+schnurrte er Heidi an in einer Weise, wie er es wohl nicht getan,
+hätte er Fräulein Rottenmeier gesehen, die eben wieder auf der
+Schwelle stand und gerade hereintrat, als Heidi entgegnete: "Du
+siehst dem Geißenpeter gleich."
+
+Entsetzt schlug die Dame ihre Hände zusammen. "Ist es die
+Möglichkeit!", stöhnte sie halblaut. "Nun duzt sie mir den
+Bedienten! Dem Wesen fehlen alle Urbegriffe!"
+
+Der Stuhl kam herangerollt und Klara wurde von Sebastian
+hinausgeschoben und auf ihren Sessel an den Tisch gesetzt.
+
+Fräulein Rottenmeier setzte sich neben sie und winkte Heidi, es
+sollte den Platz ihr gegenüber einnehmen. Sonst kam niemand zu
+Tische, und es war viel Platz da; die drei saßen auch weit
+auseinander, so dass Sebastian mit seiner Schüssel zum Anbieten
+guten Raum fand. Neben Heidis Teller lag ein schönes, weißes
+Brötchen; das Kind schaute mit erfreuten Blicken darauf. Die
+Ähnlichkeit, die Heidi entdeckt hatte, musste sein ganzes Vertrauen
+für den Sebastian erweckt haben, denn es saß mäuschenstill und
+rührte sich nicht, bis er mit der großen Schüssel zu ihm herantrat
+und ihm die gebratenen Fischchen hinhielt, dann zeigte es auf das
+Brötchen und fragte: "Kann ich das haben?" Sebastian nickte und
+warf dabei einen Seitenblick auf Fräulein Rottenmeier, denn es
+wunderte ihn, was die Frage für einen Eindruck auf sie mache.
+Augenblicklich ergriff Heidi sein Brötchen und steckte es in die
+Tasche. Sebastian machte eine Grimasse, denn das Lachen kam ihn an;
+er wusste aber wohl, dass ihm das nicht erlaubt war. Stumm und
+unbeweglich blieb er immer noch vor Heidi stehen, denn reden durfte
+er nicht, und weggehen durfte er wieder nicht, bis man sich bedient
+hatte. Heidi schaute ihm eine Zeit lang verwundert zu, dann fragte
+es: "Soll ich auch von dem essen?" Sebastian nickte wieder. "So
+gib mir", sagte es und schaute ruhig auf seinen Teller. Sebastians
+Grimasse wurde sehr bedenklich, und die Schüssel in seinen Händen
+fing an gefährlich zu zittern.
+
+"Er kann die Schüssel auf den Tisch setzen und nachher
+wiederkommen", sagte jetzt Fräulein Rottenmeier mit strengem
+Gesicht. Sebastian verschwand sogleich. "Dir, Adelheid, muss ich
+überall die ersten Begriffe beibringen, das sehe ich", fuhr
+Fräulein Rottenmeier mit tiefem Seufzer fort. "Vor allem will ich
+dir zeigen, wie man sich am Tische bedient", und nun machte die
+Dame deutlich und eingehend alles vor, was Heidi zu tun hatte.
+"Dann", fuhr sie weiter, "muss ich dir hauptsächlich bemerken, dass
+du am Tisch nicht mit Sebastian zu sprechen hast, auch sonst nur
+dann, wenn du einen Auftrag oder eine notwendige Frage an ihn zu
+richten hast; dann aber nennst du ihn nie mehr anders als (Sie)
+oder (Er), hörst du? Dass ich dich niemals mehr ihn anders nennen
+höre. Auch Tinette nennst du (Sie), Jungfer Tinette. Mich nennst
+du so, wie du mich von allen nennen hörst; wie du Klara nennen
+sollst, wird sie selbst bestimmen."
+
+"Natürlich Klara", sagte diese. Nun folgte aber noch eine Menge
+von Verhaltungsmaßregeln, über Aufstehen und Zubettegehen, über
+Hereintreten und Hinausgehen, über Ordnunghalten, Türenschließen,
+und über alledem fielen dem Heidi die Augen zu, denn es war heute
+vor fünf Uhr aufgestanden und hatte eine lange Reise gemacht. Es
+lehnte sich an den Sesselrücken und schlief ein. Als dann nach
+längerer Zeit Fräulein Rottenmeier zu Ende gekommen war mit ihrer
+Unterweisung, sagte sie: "Nun denke daran, Adelheid! Hast du alles
+recht begriffen?"
+
+"Heidi schläft schon lange", sagte Klara mit ganz belustigtem
+Gesicht, denn das Abendessen war für sie seit langer Zeit nie so
+kurzweilig verflossen.
+
+"Es ist doch völlig unerhört, was man mit diesem Kind erlebt!",
+rief Fräulein Rottenmeier in großem Ärger und klingelte so heftig,
+dass Tinette und Sebastian miteinander herbeigestürzt kamen; aber
+trotz allen Lärms erwachte Heidi nicht, und man hatte die größte
+Mühe, es so weit zu erwecken, dass es nach seinem Schlafgemach
+gebracht werden konnte; erst durch das Studierzimmer, dann durch
+Klaras Schlafstube, dann durch die Stube von Fräulein Rottenmeier
+zu dem Eckzimmer, das nun für Heidi eingerichtet war.
+
+
+
+
+Fräulein Rottenmeier hat einen unruhigen Tag
+
+Als Heidi am ersten Morgen in Frankfurt seine Augen aufschlug,
+konnte es durchaus nicht begreifen, was es erblickte. Es rieb ganz
+gewaltig seine Augen, guckte dann wieder auf und sah dasselbe. Es
+saß auf einem hohen, weißen Bett und vor sich sah es einen großen,
+weiten Raum, und wo die Helle herkam, hingen lange, lange weiße
+Vorhänge, und dabei standen zwei Sessel mit großen Blumen darauf,
+und dann kam ein Sofa an der Wand mit denselben Blumen und ein
+runder Tisch davor, und in der Ecke stand ein Waschtisch mit Sachen
+darauf, wie Heidi sie noch gar nie gesehen hatte. Aber nun kam ihm
+auf einmal in den Sinn, dass es in Frankfurt sei, und der ganze
+gestrige Tag kam ihm in Erinnerung und zuletzt noch ganz klar die
+Unterweisungen der Dame, soweit es sie gehört hatte. Heidi sprang
+nun von seinem Bett herunter und machte sich fertig. Dann ging es
+an ein Fenster und dann an das andere; es musste den Himmel sehen
+und die Erde draußen, es fühlte sich wie im Käfig hinter den großen
+Vorhängen. Es konnte diese nicht wegschieben; so kroch es dahinter,
+um an ein Fenster zu kommen. Aber dieses war so hoch, dass Heidi
+nur gerade mit dem Kopf so weit hinaufreichte, dass es durchsehen
+konnte. Aber Heidi fand nicht, was es suchte. Es lief von einem
+Fenster zum anderen und dann wieder zum ersten zurück; aber immer
+war dasselbe vor seinen Augen, Mauern und Fenster und wieder Mauern
+und dann wieder Fenster. Es wurde Heidi ganz bange. Noch war es
+früh am Morgen, denn Heidi war gewöhnt, früh aufzustehen auf der
+Alm und dann sogleich hinauszulaufen vor die Tür und zu sehen,
+wie's draußen sei, ob der Himmel blau und die Sonne schon droben
+sei, ob die Tannen rauschen und die kleinen Blumen schon die Augen
+offen haben. Wie das Vögelein, das zum ersten Mal in seinem schön
+glänzenden Gefängnis sitzt, hin und her schießt und bei allen
+Stäben probiert, ob es nicht dazwischen durchschlüpfen und in die
+Freiheit hinausfliegen könne, so lief Heidi immer von dem einen
+Fenster zum anderen, um zu probieren, ob es nicht aufgemacht werden
+könne, denn dann musste man doch etwas anderes sehen als Mauern und
+Fenster, da musste doch unten der Erdboden, das grüne Gras und der
+letzte schmelzende Schnee an den Abhängen zum Vorschein kommen, und
+Heidi sehnte sich, das zu sehen. Aber die Fenster blieben fest
+verschlossen, wie sehr auch das Kind drehte und zog und von unten
+suchte, die kleinen Finger unter die Rahmen einzutreiben, damit es
+Kraft hätte, sie aufzudrücken; es blieb alles eisenfest aufeinander
+sitzen. Nach langer Zeit, als Heidi einsah, dass alle
+Anstrengungen nichts halfen, gab es seinen Plan auf und überdachte
+nun, wie es wäre, wenn es vor das Haus hinausginge und hintenherum,
+bis es auf den Grasboden käme, denn es erinnerte sich, dass es
+gestern Abend vorn am Haus nur über Steine gekommen war. Jetzt
+klopfte es an seiner Tür und unmittelbar darauf steckte Tinette den
+Kopf herein und sagte kurz: "Frühstück bereit!"
+
+Heidi verstand keineswegs eine Einladung unter diesen Worten; auf
+dem spöttischen Gesicht der Tinette stand viel mehr eine Warnung,
+ihr nicht zu nah zu kommen, als eine freundliche Einladung
+geschrieben, und das las Heidi deutlich von dem Gesicht und
+richtete sich danach. Es nahm den kleinen Schemel unter dem Tisch
+empor, stellte ihn in eine Ecke, setzte sich darauf und wartete so
+ganz still ab, was nun kommen würde. Nach einiger Zeit kam etwas
+mit ziemlichem Geräusch, es war Fräulein Rottenmeier, die schon
+wieder in Aufregung geraten war und in Heidis Stube hineinrief:
+"Was ist mit dir, Adelheid? Begreifst du nicht, was ein Frühstück
+ist? Komm herüber!"
+
+Das verstand nun Heidi und folgte sogleich nach. Im Esszimmer saß
+Klara schon lang an ihrem Platz und begrüßte Heidi freundlich,
+machte auch ein viel vergnügteres Gesicht als sonst gewöhnlich,
+denn sie sah voraus, dass heute wieder allerlei Neues geschehen
+würde. Das Frühstück ging nun ohne Störung vor sich; Heidi aß ganz
+anständig sein Butterbrot, und wie alles zu Ende war, wurde Klara
+wieder ins Studierzimmer hinübergerollt und Heidi wurde von
+Fräulein Rottenmeier angewiesen, nachzufolgen und bei Klara zu
+bleiben, bis der Herr Kandidat kommen würde, um die
+Unterrichtsstunden zu beginnen. Als die beiden Kinder allein waren,
+sagte Heidi sogleich: "Wie kann man hinaussehen hier und ganz
+hinunter auf den Boden?"
+
+"Man macht ein Fenster auf und guckt hinaus", antwortete Klara
+belustigt.
+
+"Man kann diese Fenster nicht aufmachen", versetzte Heidi traurig.
+
+"Doch, doch", versicherte Klara, "nur du noch nicht, und ich kann
+dir auch nicht helfen; aber wenn du einmal den Sebastian siehst, so
+macht er dir schon eines auf."
+
+Das war eine große Erleichterung für Heidi zu wissen, dass man doch
+die Fenster öffnen und hinausschauen könne, denn noch war es ganz
+unter dem Druck des Gefangenseins von seinem Zimmer her. Klara
+fing nun an, Heidi zu fragen, wie es bei ihm zu Hause sei, und
+Heidi erzählte mit Freuden von der Alm und den Geißen und der Weide
+und allem, was ihm lieb war.
+
+Unterdessen war der Herr Kandidat angekommen; aber Fräulein
+Rottenmeier führte ihn nicht, wie gewöhnlich, ins Studierzimmer,
+denn sie musste sich erst aussprechen und geleitete ihn zu diesem
+Zweck ins Esszimmer, wo sie sich vor ihn hinsetzte und ihm in
+großer Aufregung ihre bedrängte Lage schilderte und wie sie in
+diese hineingekommen war.
+
+Sie hatte nämlich vor einiger Zeit Herrn Sesemann nach Paris
+geschrieben, wo er eben verweilte, seine Tochter habe längst
+gewünscht, es möchte eine Gespielin für sie ins Haus aufgenommen
+werden, und auch sie selbst glaube, dass eine solche in den
+Unterrichtsstunden ein Sporn, in der übrigen Zeit eine anregende
+Gesellschaft für Klara sein würde. Eigentlich war die Sache für
+Fräulein Rottenmeier selbst sehr wünschbar, denn sie wollte gern,
+dass jemand da sei, der ihr die Unterhaltung der kranken Klara
+abnehme, wenn es ihr zu viel war, was öfters geschah. Herr
+Sesemann hatte geantwortet, er erfülle gern den Wunsch seiner
+Tochter, doch mit der Bedingung, dass eine solche Gespielin in
+allem ganz gehalten werde wie jene, er wolle keine Kinderquälerei
+in seinem Hause--"was freilich eine sehr unnütze Bemerkung von dem
+Herrn war", setzte Fräulein Rottenmeier hinzu, "denn wer wollte
+Kinder quälen!" Nun aber erzählte sie weiter, wie ganz
+erschrecklich sie hineingefallen sei mit dem Kinde, und führte alle
+Beispiele von seinem völlig begriffslosen Dasein an, die es bis
+jetzt geliefert hatte, dass nicht nur der Unterricht des Herrn
+Kandidaten buchstäblich beim Abc anfangen müsse, sondern dass auch
+sie auf jedem Punkte der menschlichen Erziehung mit dem Uranfang zu
+beginnen hätte. Aus dieser unheilvollen Lage sehe sie nur ein
+Rettungsmittel: Wenn der Herr Kandidat erklären werde, zwei so
+verschiedene Wesen könnten nicht miteinander unterrichtet werden
+ohne großen Schaden des vorgerückteren Teiles; das wäre für Herrn
+Sesemann ein triftiger Grund, die Sache rückgängig zu machen, und
+so würde er zugeben, dass das Kind gleich wieder dahin
+zurückgeschickt würde, woher es gekommen war; ohne seine Zustimmung
+aber dürfte sie das nicht unternehmen, nun der Hausherr wisse, dass
+das Kind angekommen sei. Aber der Herr Kandidat war behutsam und
+niemals einseitig im Urteilen. Er tröstete Fräulein Rottenmeier
+mit vielen Worten und der Ansicht, wenn die junge Tochter auf der
+einen Seite so zurück sei, so möchte sie auf der anderen umso
+geförderter sein, was bei einem geregelten Unterricht bald ins
+Gleichgewicht kommen werde. Als Fräulein Rottenmeier sah, dass der
+Herr Kandidat sie nicht unterstützen, sondern seinen Abc-Unterricht
+übernehmen wollte, machte sie ihm die Tür zum Studierzimmer auf,
+und nachdem er hereingetreten war, schloss sie schnell hinter ihm
+zu und blieb auf der anderen Seite, denn vor dem Abc hatte sie
+einen Schrecken. Sie ging jetzt mit großen Schritten im Zimmer auf
+und nieder, denn sie hatte zu überlegen, wie die Dienstboten
+Adelheid zu benennen hätten. Herr Sesemann hatte ja geschrieben,
+sie müsste wie seine Tochter gehalten werden, und dieses Wort
+musste sich hauptsächlich auf das Verhältnis zu den Dienstboten
+beziehen, dachte Fräulein Rottenmeier. Sie konnte aber nicht lange
+ungestört überlegen, denn auf einmal ertönte drinnen im
+Studierzimmer ein erschreckliches Gekrache fallender Gegenstände
+und dann ein Hilferuf nach Sebastian. Sie stürzte hinein. Da lag
+auf dem Boden alles übereinander, die sämtlichen Studien-
+Hilfsmittel, Bücher, Hefte, Tintenfass und obendrauf der
+Tischteppich, unter dem ein schwarzes Tintenbächlein hervorfloss,
+die ganze Stube entlang. Heidi war verschwunden.
+
+"Da haben wir's", rief Fräulein Rottenmeier händeringend aus.
+"Teppich, Bücher, Arbeitskorb, alles in der Tinte! Das ist noch
+nie geschehen! Das ist das Unglückswesen, da ist kein Zweifel!"
+
+Der Herr Kandidat stand sehr erschrocken da und schaute auf die
+Verwüstung, die allerdings nur (eine) Seite hatte und eine recht
+bestürzende. Klara dagegen verfolgte mit vergnügtem Gesicht die
+ungewöhnlichen Ereignisse und deren Wirkungen und sagte nun
+erklärend: "Ja, Heidi hat's gemacht, aber nicht mit Absicht, es
+muss gewiss nicht gestraft werden, es war nur so schrecklich eilig,
+fortzukommen, und riss den Teppich mit, und so fiel alles
+hintereinander auf den Boden. Es fuhren viele Wagen hintereinander
+vorbei, darum ist es so fortgeschossen; es hat vielleicht noch nie
+eine Kutsche gesehen."
+
+"Da, ist's nicht, wie ich sagte, Herr Kandidat? Nicht (einen)
+Urbegriff hat das Wesen! Keine Ahnung davon, was eine
+Unterrichtsstunde ist, dass man dabei zuzuhören und still zu sitzen
+hat. Aber wo ist das Unheil bringende Ding hin? Wenn es
+fortgelaufen wäre! Was würde mir Herr Sesemann--"
+
+Fräulein Rottenmeier lief hinaus und die Treppe hinunter. Hier,
+unter der geöffneten Haustür, stand Heidi und guckte ganz verblüfft
+die Straße auf und ab.
+
+"Was ist denn? Was fällt dir denn ein? Wie kannst du so
+davonlaufen!", fuhr Fräulein Rottenmeier das Kind an.
+
+"Ich habe die Tannen rauschen gehört, aber ich weiß nicht, wo sie
+stehen, und höre sie nicht mehr", antwortete Heidi und schaute
+enttäuscht nach der Seite hin, wo das Rollen der Wagen verhallt war,
+das in Heidis Ohren dem Tosen des Föhns in den Tannen ähnlich
+geklungen hatte, so dass es in höchster Freude dem Ton nachgerannt
+war.
+
+"Tannen! Sind wir im Wald? Was sind das für Einfälle! Komm
+herauf und sieh, was du angerichtet hast!" Damit stieg Fräulein
+Rottenmeier wieder die Treppe hinan; Heidi folgte ihr und stand nun
+sehr verwundert vor der großen Verheerung, denn es hatte nicht
+gemerkt, was es alles mitriss vor Freude und Eile, die Tannen zu
+hören.
+
+"Das hast du einmal getan, ein zweites Mal tust du's nicht wieder",
+sagte Fräulein Rottenmeier, auf den Boden zeigend; "zum Lernen
+sitzt man still auf seinem Sessel und gibt Acht. Kannst du das
+nicht selbst fertig bringen, so muss ich dich an deinen Stuhl
+festbinden. Kannst du das verstehen?"
+
+"Ja", entgegnete Heidi, "aber ich will schon festsitzen." Denn
+jetzt hatte es begriffen, dass es eine Regel ist, in einer
+Unterrichtsstunde still zu sitzen.
+
+Jetzt mussten Sebastian und Tinette hereinkommen, um die Ordnung
+wiederherzustellen. Der Herr Kandidat entfernte sich, denn der
+weitere Unterricht musste nun aufgegeben werden. Zum Gähnen war
+heute gar keine Zeit gewesen.
+
+Am Nachmittag musste Klara immer eine Zeit lang ruhen und Heidi
+hatte alsdann seine Beschäftigung selbst zu wählen; so hatte
+Fräulein Rottenmeier ihm am Morgen erklärt. Als nun nach Tisch
+Klara sich in ihrem Sessel zur Ruhe gelegt hatte, ging Fräulein
+Rottenmeier nach ihrem Zimmer, und Heidi sah, dass nun die Zeit da
+war, da es seine Beschäftigung selbst wählen konnte. Das war dem
+Heidi sehr erwünscht, denn es hatte schon immer im Sinn, etwas zu
+unternehmen; es musste aber Hilfe dazu haben und stellte sich darum
+vor das Esszimmer mitten auf den Korridor, damit die Persönlichkeit,
+die es zu beraten gedachte, ihm nicht entgehen könne. Richtig,
+nach kurzer Zeit kam Sebastian die Treppe herauf mit dem großen
+Teebrett auf den Armen, denn er brachte das Silberzeug aus der
+Küche herauf, um es im Schrank des Esszimmers zu verwahren. Als er
+auf der letzten Stufe der Treppe angekommen war, trat Heidi vor ihn
+hin und sagte mit großer Deutlichkeit: "Sie oder Er!"
+
+Sebastian riss die Augen so weit auf, als es nur möglich war, und
+sagte ziemlich barsch: "Was soll das heißen, Mamsell?"
+
+"Ich möchte nur gern etwas fragen, aber es ist gewiss nichts Böses
+wie heute Morgen", fügte Heidi beschwichtigend hinzu, denn es
+merkte, dass Sebastian ein wenig erbittert war, und dachte, es
+komme noch von der Tinte am Boden her.
+
+"So, und warum muss es denn heißen Sie oder Er, das möcht ich
+zuerst wissen", gab Sebastian im gleichen barschen Ton zurück.
+
+"Ja, so muss ich jetzt immer sagen", versicherte Heidi; "Fräulein
+Rottenmeier hat es befohlen."
+
+Jetzt lachte Sebastian so laut auf, dass Heidi ihn ganz verwundert
+ansehen musste, denn es hatte nichts Lustiges bemerkt; aber
+Sebastian hatte auf einmal begriffen, was Fräulein Rottenmeier
+befohlen hatte, und sagte nun sehr erlustigt: "Schon recht, so
+fahre die Mamsell nur zu."
+
+"Ich heiße gar nicht Mamsell", sagte nun Heidi seinerseits ein
+wenig geärgert; "ich heiße Heidi."
+
+"Ist schon recht; die gleiche Dame hat aber befohlen, dass ich
+Mamsell sage", erklärte Sebastian.
+
+"Hat sie? Ja, dann muss ich schon so heißen", sagte Heidi mit
+Ergebung, denn es hatte wohl gemerkt, dass alles so geschehen
+musste, wie Fräulein Rottenmeier befahl.
+
+"Jetzt habe ich schon drei Namen", setzte es mit einem Seufzer
+hinzu.
+
+"Was wollte die kleine Mamsell denn fragen?", fragte Sebastian
+jetzt, indem er, ins Esszimmer eingetreten, sein Silberzeug im
+Schrank zurechtlegte.
+
+"Wie kann man ein Fenster aufmachen, Sebastian?"
+
+"So, gerade so", und er machte den großen Fensterflügel auf.
+
+Heidi trat heran, aber es war zu klein, um etwas sehen zu können;
+es langte nur bis zum Gesims hinauf.
+
+"Da, so kann das Mamsellchen einmal hinausgucken und sehen, was
+unten ist", sagte Sebastian, indem er einen hohen hölzernen Schemel
+herbeigeholt hatte und hinstellte. Hoch erfreut stieg Heidi hinauf
+und konnte endlich den ersehnten Blick durch das Fenster tun. Aber
+mit dem Ausdruck der größten Enttäuschung zog es sogleich den Kopf
+wieder zurück.
+
+"Man sieht nur die steinerne Straße hier, sonst gar nichts", sagte
+das Kind bedauerlich; "aber wenn man um das ganze Haus herumgeht,
+was sieht man dann auf der anderen Seite, Sebastian?"
+
+"Gerade dasselbe", gab dieser zur Antwort.
+
+"Aber wohin kann man denn gehen, dass man weit, weit hinuntersehen
+kann über das ganze Tal hinab?"
+
+"Da muss man auf einen hohen Turm hinaufsteigen, einen Kirchturm,
+so einen, wie der dort ist mit der goldenen Kugel oben drauf. Da
+guckt man von oben herunter und sieht weit über alles weg."
+
+Jetzt stieg Heidi eilig von seinem Schemel herunter, rannte zur Tür
+hinaus, die Treppe hinunter und trat auf die Straße hinaus. Aber
+die Sache ging nicht, wie Heidi sich vorgestellt hatte. Als es aus
+dem Fenster den Turm gesehen hatte, kam es ihm vor, es könne nur
+über die Straße gehen, so müsste er gleich vor ihm stehen. Nun
+ging Heidi die ganze Straße hinunter, aber es kam nicht an den Turm,
+konnte ihn auch nirgends mehr entdecken und kam nun in eine andere
+Straße hinein und weiter und weiter, aber immer noch sah es den
+Turm nicht. Es gingen viele Leute an ihm vorbei, aber die waren
+alle so eilig, dass Heidi dachte, sie hätten nicht Zeit, ihm
+Bescheid zu geben. Jetzt sah es an der nächsten Straßenecke einen
+Jungen stehen, der eine kleine Drehorgel auf dem Rücken und ein
+ganz kurioses Tier auf dem Arme trug. Heidi lief zu ihm hin und
+fragte: "Wo ist der Turm mit der goldenen Kugel zuoberst?"
+
+"Weiß nicht", war die Antwort.
+
+"Wen kann ich denn fragen, wo er sei?", fragte Heidi weiter.
+
+"Weiß nicht."
+
+"Weißt du keine andere Kirche mit einem hohen Turm?"
+
+"Freilich weiß ich eine."
+
+"So komm und zeige mir sie."
+
+"Zeig du zuerst, was du mir dafür gibst." Der Junge hielt seine
+Hand hin. Heidi suchte in seiner Tasche herum. Jetzt zog es ein
+Bildchen hervor, darauf ein schönes Kränzchen von roten Rosen
+gemalt war; erst sah es noch eine kleine Weile darauf hin, denn es
+reute Heidi ein wenig. Erst heute Morgen hatte Klara es ihm
+geschenkt; aber hinuntersehen ins Tal, über die grünen Abhänge!
+"Da", sagte Heidi und hielt das Bildchen hin, "willst du das?"
+
+Der Junge zog die Hand zurück und schüttelte den Kopf.
+
+"Was willst du denn?", fragte Heidi und steckte vergnügt sein
+Bildchen wieder ein.
+
+"Geld."
+
+"Ich habe keins, aber Klara hat, sie gibt mir dann schon; wie viel
+willst du?"
+
+"Zwanzig Pfennige."
+
+"So komm jetzt."
+
+Nun wanderten die beiden eine lange Straße hin, und auf dem Wege
+fragte Heidi den Begleiter, was er auf dem Rücken trage, und er
+erklärte ihm, es sei eine schöne Orgel unter dem Tuch, die mache
+eine prachtvolle Musik, wenn er daran drehe.
+
+Auf einmal standen sie vor einer alten Kirche mit hohem Turm; der
+Junge stand still und sagte: "Da."
+
+"Aber wie komm ich da hinein?", fragte Heidi, als es die fest
+verschlossenen Türen sah.
+
+"Weiß nicht", war wieder die Antwort.
+
+"Glaubst du, man könne hier klingeln, so wie man dem Sebastian tut?"
+
+"Weiß nicht."
+
+Heidi hatte eine Klingel entdeckt an der Mauer und zog jetzt aus
+allen Kräften daran.
+
+"Wenn ich dann hinaufgehe, so musst du warten hier unten, ich weiß
+jetzt den Weg nicht mehr zurück, du musst mir ihn dann zeigen."
+
+"Was gibst du mir dann?"
+
+"Was muss ich dir dann wieder geben?"
+
+"Wieder zwanzig Pfennige."
+
+Jetzt wurde das alte Schloss inwendig umgedreht und die knarrende
+Tür geöffnet; ein alter Mann trat heraus und schaute erst
+verwundert, dann ziemlich erzürnt auf die Kinder und fuhr sie an:
+"Was untersteht ihr euch, mich da herunterzuklingeln? Könnt ihr
+nicht lesen, was über der Klingel steht: 'Für solche, die den
+Turm besteigen wollen'?"
+
+Der Junge wies mit dem Zeigefinger auf Heidi und sagte kein Wort.
+Heidi antwortete: "Eben auf den Turm wollt ich."
+
+"Was hast du droben zu tun?", fragte der Türmer; "hat dich jemand
+geschickt?"
+
+"Nein", entgegnete Heidi, "ich möchte nur hinaufgehen, dass ich
+hinuntersehen kann."
+
+"Macht, dass ihr heimkommt, und probiert den Spaß nicht wieder,
+oder ihr kommt nicht gut weg zum zweiten Mal!" Damit kehrte sich
+der Türmer um und wollte die Tür zumachen.
+
+Aber Heidi hielt ihn ein wenig am Rockschoß und sagte bittend: "Nur
+ein einziges Mal!"
+
+Er sah sich um, und Heidis Augen schauten so flehentlich zu ihm auf,
+dass es ihn ganz umstimmte; er nahm das Kind bei der Hand und
+sagte freundlich: "Wenn dir so viel daran gelegen ist, so komm mit
+mir!"
+
+Der Junge setzte sich auf die steinernen Stufen vor der Tür nieder
+und zeigte, dass er nicht mitwollte.
+
+Heidi stieg an der Hand des Türmers viele, viele Treppen hinauf;
+dann wurden diese immer schmäler, und endlich ging es noch ein ganz
+enges Treppchen hinauf, und nun waren sie oben. Der Türmer hob
+Heidi vom Boden auf und hielt es an das offene Fenster.
+
+"Da, jetzt guck hinunter", sagte er.
+
+Heidi sah auf ein Meer von Dächern, Türmen und Schornsteinen nieder;
+es zog bald seinen Kopf zurück und sagte niedergeschlagen: "Es ist
+gar nicht, wie ich gemeint habe."
+
+"Siehst du wohl? Was versteht so ein Kleines von Aussicht! So,
+komm nun wieder herunter und läute nie mehr an einem Turm!"
+
+Der Türmer stellte Heidi wieder auf den Boden und stieg ihm voran
+die schmalen Stufen hinab. Wo diese breiter wurden, kam links die
+Tür, die in des Türmers Stübchen führte, und nebenan ging der Boden
+bis unter das schräge Dach hin. Dort hinten stand ein großer Korb
+und davor saß eine dicke graue Katze und knurrte, denn in dem Korb
+wohnte ihre Familie und sie wollte jeden Vorübergehenden davor
+warnen, sich in ihre Familienangelegenheiten zu mischen. Heidi
+stand still und schaute verwundert hinüber, eine so mächtige Katze
+hatte es noch nie gesehen; in dem alten Turm wohnten aber ganze
+Herden von Mäusen, so holte sich die Katze ohne Mühe jeden Tag ein
+halbes Dutzend Mäusebraten. Der Türmer sah Heidis Bewunderung und
+sagte: "Komm, sie tut dir nichts, wenn ich dabei bin; du kannst die
+Jungen ansehen."
+
+Heidi trat an den Korb heran und brach in ein großes Entzücken aus.
+
+"Oh, die netten Tierlein! Die schönen Kätzchen!", rief es ein Mal
+ums andere und sprang hin und her um den Korb herum, um auch recht
+alle komischen Gebärden und Sprünge zu sehen, welche die sieben
+oder acht jungen Kätzchen vollführten, die in dem Korb rastlos
+übereinanderhin krabbelten, sprangen, fielen.
+
+"Willst du eins haben?", fragte der Türmer, der Heidis
+Freudensprüngen vergnügt zuschaute.
+
+"Selbst für mich? Für immer?", fragte Heidi gespannt und konnte
+das große Glück fast nicht glauben.
+
+"Ja, gewiss, du kannst auch noch mehr haben, du kannst sie alle
+zusammen haben, wenn du Platz hast", sagte der Mann, dem es gerade
+recht war, seine kleinen Katzen loszuwerden, ohne dass er ihnen ein
+Leid antun musste.
+
+Heidi war im höchsten Glück. In dem großen Hause hatten ja die
+Kätzchen so viel Platz, und wie musste Klara erstaunt und erfreut
+sein, wenn die niedlichen Tierchen ankamen!
+
+"Aber wie kann ich sie mitnehmen?", fragte nun Heidi und wollte
+schnell einige fangen mit seinen Händen, aber die dicke Katze
+sprang ihm auf den Arm und fauchte es so grimmig an, dass es sehr
+erschrocken zurückfuhr.
+
+"Ich will sie dir bringen, sag nur, wohin", sagte der Türmer, der
+die alte Katze nun streichelte, um sie wieder gut zu machen, denn
+sie war seine Freundin und hatte schon viele Jahre mit ihm auf dem
+Turm gelebt.
+
+"Zum Herrn Sesemann in dem großen Haus, wo an der Haustür ein
+goldener Hundskopf ist mit einem dicken Ring im Maul", erklärte
+Heidi.
+
+Es hätte nicht einmal so viel gebraucht für den Türmer, der schon
+seit langen Jahren auf dem Turm saß und jedes Haus weithin kannte,
+und dazu war der Sebastian noch ein alter Bekannter von ihm.
+
+"Ich weiß schon", bemerkte er; "aber wem muss ich die Dinger
+bringen, bei wem muss ich nachfragen, du gehörst doch nicht Herrn
+Sesemann?"
+
+"Nein, aber die Klara, sie hat eine so große Freude, wenn die
+Kätzchen kommen!"
+
+Der Türmer wollte nun weitergehen, aber Heidi konnte sich von dem
+unterhaltenden Schauspiel fast nicht trennen.
+
+"Wenn ich nur schon eins oder zwei mitnehmen könnte! Eins für mich
+und eins für Klara, kann ich nicht?"
+
+"So wart ein wenig", sagte der Türmer, trug dann die alte Katze
+behutsam in sein Stübchen hinein und stellte sie an das
+Essschüsselchen hin, schloss die Tür vor ihr zu und kam zurück: "So,
+nun nimm zwei!"
+
+Heidis Augen leuchteten vor Wonne. Es las ein weißes und dann ein
+gelb und weiß gestreiftes aus und steckte eins in die rechte und
+eins in die linke Tasche. Nun ging's die Treppe hinunter.
+
+Der Junge saß noch auf den Stufen draußen, und als nun der Türmer
+hinter Heidi die Tür zugeschlossen hatte, sagte das Kind: "Welchen
+Weg müssen wir nun zu Herrn Sesemanns Haus?"
+
+"Weiß nicht", war die Antwort.
+
+Heidi fing nun an zu beschreiben, was es wusste, die Haustür und
+die Fenster und die Treppen, aber der Junge schüttelte zu allem den
+Kopf, es war ihm alles unbekannt.
+
+"Siehst du", fuhr dann Heidi im Beschreiben fort, "aus einem
+Fenster sieht man ein großes, großes, graues Haus und das Dach geht
+so"--Heidi zeichnete hier mit dem Zeigefinger große Zacken in die
+Luft hinaus.
+
+Jetzt sprang der Junge auf, er mochte ähnliche Merkmale haben,
+seine Wege zu finden. Er lief nun in einem Zug drauflos und Heidi
+hinter ihm drein, und in kurzer Zeit standen sie richtig vor der
+Haustür mit dem großen Messing-Tierkopf. Heidi zog die Glocke.
+Bald erschien Sebastian, und wie er Heidi erblickte, rief er
+drängend: "Schnell! Schnell!"
+
+Heidi sprang eilig herein, und Sebastian schlug die Tür zu; den
+Jungen, der verblüfft draußen stand, hatte er gar nicht bemerkt.
+
+"Schnell, Mamsellchen", drängte Sebastian weiter, "gleich ins
+Esszimmer hinein, sie sitzen schon am Tisch. Fräulein Rottenmeier
+sieht aus wie eine geladene Kanone; was stellt aber auch die kleine
+Mamsell an, so fortzulaufen?"
+
+Heidi war ins Zimmer getreten. Fräulein Rottenmeier blickte nicht
+auf; Klara sagte auch nichts, es war eine etwas unheimliche Stille.
+Sebastian rückte Heidi den Sessel zurecht. Jetzt, wie es auf
+seinem Stuhl saß, begann Fräulein Rottenmeier mit strengem Gesicht
+und einem ganz feierlich-ernsten Ton: "Adelheid, ich werde nachher
+mit dir sprechen, jetzt nur so viel: Du hast dich sehr ungezogen,
+wirklich strafbar benommen, dass du das Haus verlässt, ohne zu
+fragen, ohne dass jemand ein Wort davon wusste, und herumstreichst
+bis zum späten Abend; es ist eine völlig beispiellose Aufführung."
+
+"Miau", tönte es wie als Antwort zurück.
+
+Aber jetzt stieg der Zorn der Dame. "Wie, Adelheid", rief sie in
+immer höheren Tönen, "du unterstehst dich noch, nach aller
+Ungezogenheit einen schlechten Spaß zu machen? Hüte dich wohl, sag
+ich dir!"
+
+"Ich mache", fing Heidi an--"Miau! Miau!"
+
+Sebastian warf fast seine Schüssel auf den Tisch und stürzte hinaus.
+
+"Es ist genug", wollte Fräulein Rottenmeier rufen; aber vor
+Aufregung tönte ihre Stimme gar nicht mehr. "Steh auf und verlass
+das Zimmer."
+
+Heidi stand erschrocken von seinem Sessel auf und wollte noch
+einmal erklären: "Ich mache gewiss"--"Miau! Miau! Miau!"
+
+"Aber Heidi", sagte jetzt Klara, "wenn du doch siehst, dass du
+Fräulein Rottenmeier so böse machst, warum machst du immer wieder
+'miau'?"
+
+"Ich mache nicht, die Kätzlein machen", konnte Heidi endlich
+ungestört hervorbringen.
+
+"Wie? Was? Katzen? junge Katzen?", schrie Fräulein Rottenmeier
+auf. "Sebastian! Tinette! Sucht die greulichen Tiere! Schafft
+sie fort!" Damit stürzte die Dame ins Studierzimmer hinein und
+riegelte die Türen zu, um sicherer zu sein, denn junge Katzen waren
+für Fräulein Rottenmeier das Schrecklichste in der Schöpfung.
+Sebastian stand draußen vor der Tür und musste erst fertig lachen,
+eh er wieder eintreten konnte. Er hatte, als er Heidi bediente,
+einen kleinen Katzenkopf aus dessen Tasche herausgucken gesehen und
+sah dem Spektakel entgegen, und wie er nun ausbrach, konnte er sich
+nicht mehr halten, kaum noch seine Schüssel auf den Tisch setzen.
+Endlich trat er denn wieder gefasst ins Zimmer herein, nachdem die
+Hilferufe der geängsteten Dame schon längere Zeit verklungen waren.
+Jetzt sah es ganz still und friedlich aus drinnen; Klara hielt die
+Kätzchen auf ihrem Schoß, Heidi kniete neben ihr und beide spielten
+mit großer Wonne mit den zwei winzigen, graziösen Tierchen.
+
+"Sebastian", sagte Klara zu dem Eintretenden, "Sie müssen uns
+helfen; Sie müssen ein Nest finden für die Kätzchen, wo Fräulein
+Rottenmeier sie nicht sieht, denn sie fürchtet sich vor ihnen und
+will sie forthaben; aber wir wollen die niedlichen Tierchen
+behalten und sie immer hervorholen, sobald wir allein sind. Wo
+kann man sie hintun?"
+
+"Das will ich schon besorgen, Fräulein Klara", entgegnete Sebastian
+bereitwillig; "ich mache ein schönes Bettchen in einem Korb und
+stelle den an einen Ort, wo mir die furchtsame Dame nicht dahinter
+kommt, verlassen Sie sich auf mich." Sebastian ging gleich an die
+Arbeit und kicherte beständig vor sich hin, denn er dachte: "Das
+wird noch was absetzen!", und der Sebastian sah es nicht ungern,
+wenn Fräulein Rottenmeier ein wenig in Aufregung geriet.
+
+Nach längerer Zeit erst, als der Augenblick des Schlafengehens
+nahte, machte Fräulein Rottenmeier ein ganz klein wenig die Tür auf
+und rief durch das Spältchen heraus: "Sind die abscheulichen Tiere
+fortgeschafft?"
+
+"Jawohl! Jawohl!", gab Sebastian zurück, der sich im Zimmer zu
+schaffen gemacht hatte in Erwartung dieser Frage. Schnell und
+leise fasste er die beiden Kätzchen auf Klaras Schoß und verschwand
+damit.
+
+Die besondere Strafrede, die Fräulein Rottenmeier Heidi noch zu
+halten gedachte, verschob sie auf den folgenden Tag, denn heute
+fühlte sie sich zu erschöpft nach all den vorhergegangenen
+Gemütsbewegungen von Ärger, Zorn und Schrecken, die ihr Heidi ganz
+unwissentlich nacheinander verursacht hatte. Sie zog sich
+schweigend zurück, und Klara und Heidi folgten vergnügt nach, denn
+sie wussten ihre Kätzchen in einem guten Bett.
+
+
+
+
+Im Hause Sesemann geht's unruhig zu
+
+Als Sebastian am folgenden Morgen dem Herrn Kandidaten die Haustür
+geöffnet und ihn zum Studierzimmer geführt hatte, zog schon wieder
+jemand die Hausglocke an, aber mit solcher Gewalt, dass Sebastian
+die Treppe völlig hinunterschoss, denn er dachte: "So schellt nur
+der Herr Sesemann selbst, er muss unerwartet nach Hause gekommen
+sein." Er riss die Tür auf--ein zerlumpter Junge mit einer
+Drehorgel auf dem Rücken stand vor ihm.
+
+"Was soll das heißen?", fuhr ihn Sebastian an. "Ich will dich
+lehren, Glocken herunterzureißen! Was hast du hier zu tun?"
+
+"Ich muss zur Klara", war die Antwort.
+
+"Du ungewaschener Straßenkäfer du; kannst du nicht sagen '
+Fräulein Klara', wie unsereins tut? Was hast du bei Fräulein
+Klara zu tun?", fragte Sebastian barsch.
+
+"Sie ist mir vierzig Pfennige schuldig", erklärte der Junge.
+
+"Du bist, denk ich, nicht recht im Kopf! Wie weißt du überhaupt,
+dass ein Fräulein Klara hier ist?"
+
+"Gestern habe ich ihr den Weg gezeigt, macht zwanzig, und dann
+wieder zurück den Weg gezeigt, macht vierzig."
+
+"Da siehst du, was für Zeug du zusammenflunkerst; Fräulein Klara
+geht niemals aus, kann gar nicht gehen, mach, dass du dahin kommst,
+wo du hingehörst, bevor ich dir dazu verhelfe!"
+
+Aber der Junge ließ sich nicht einschüchtern; er blieb unbeweglich
+stehen und sagte trocken: "Ich habe sie doch gesehen auf der Straße,
+ich kann sie beschreiben: Sie hat kurzes, krauses Haar, das ist
+schwarz, und die Augen sind schwarz und der Rock ist braun, und sie
+kann nicht reden wie wir."
+
+"Oho", dachte jetzt Sebastian und kicherte in sich hinein, "das ist
+die kleine Mamsell, die hat wieder etwas angestellt." Dann sagte er,
+den Jungen hereinziehend: "'s ist schon recht, komm mir nur nach
+und warte vor der Tür, bis ich wieder herauskomme. Wenn ich dich
+dann einlasse, kannst du gleich etwas spielen; das Fräulein hört es
+gern."
+
+Oben klopfte er am Studierzimmer und wurde hereingerufen.
+
+"Es ist ein Junge da, der durchaus an Fräulein Klara selbst etwas
+zu bestellen hat", berichtete Sebastian.
+
+Klara war sehr erfreut über das außergewöhnliche Ereignis.
+
+"Er soll nur gleich hereinkommen", sagte sie, "nicht wahr, Herr
+Kandidat, wenn er doch mit mir selbst sprechen muss."
+
+Der Junge war schon eingetreten, und nach Anweisung fing er sofort
+seine Orgel zu drehen an. Fräulein Rottenmeier hatte, um dem Abc
+auszuweichen, sich im Esszimmer allerlei zu schaffen gemacht. Auf
+einmal horchte sie auf.--Kamen die Töne von der Straße her? Aber
+so nahe? Wie konnte vom Studierzimmer her eine Drehorgel ertönen?
+Und dennoch--wahrhaftig--sie stürzte durch das lange Esszimmer
+und riss die Tür auf. Da--unglaublich--da stand mitten im
+Studierzimmer ein zerlumpter Orgelspieler und drehte sein
+Instrument mit größter Emsigkeit. Der Herr Kandidat schien
+immerfort etwas sagen zu wollen, aber es wurde nichts vernommen.
+Klara und Heidi hörten mit ganz erfreuten Gesichtern der Musik zu.
+
+"Aufhören! Sofort aufhören!", rief Fräulein Rottenmeier ins Zimmer
+hinein. Ihre Stimme wurde übertönt von der Musik. Jetzt lief sie
+auf den Jungen zu--aber auf einmal hatte sie etwas zwischen den
+Füßen, sie sah auf den Boden: ein grausiges, schwarzes Tier kroch
+ihr zwischen den Füßen durch--eine Schildkröte. Jetzt tat
+Fräulein Rottenmeier einen Sprung in die Höhe, wie sie seit vielen
+Jahren keinen getan hatte, dann schrie sie aus Leibeskräften:
+"Sebastian! Sebastian!"
+
+Plötzlich hielt der Orgelspieler inne, denn diesmal hatte die
+Stimme die Musik übertönt. Sebastian stand draußen vor der halb
+offenen Tür und krümmte sich vor Lachen, denn er hatte zugesehen,
+wie der Sprung vor sich ging. Endlich kam er herein. Fräulein
+Rottenmeier war auf einen Stuhl niedergesunken.
+
+"Fort mit allem, Mensch und Tier! Schaffen Sie sie weg, Sebastian,
+sofort!", rief sie ihm entgegen. Sebastian gehorchte bereitwillig,
+zog den Jungen hinaus, der schnell seine Schildkröte erfasst hatte,
+drückte ihm draußen etwas in die Hand und sagte: "Vierzig für
+Fräulein Klara, und vierzig fürs Spielen, das hast du gut gemacht";
+damit schloss er hinter ihm die Haustür. Im Studierzimmer war es
+wieder ruhig geworden; die Studien wurden wieder fortgesetzt, und
+Fräulein Rottenmeier hatte sich nun auch festgesetzt in dem Zimmer,
+um durch ihre Gegenwart ähnliche Gräuel zu verhüten. Den Vorfall
+wollte sie nach den Unterrichtsstunden untersuchen und den
+Schuldigen so bestrafen, dass er daran denken würde.
+
+Schon wieder klopfte es an die Tür, und herein trat abermals
+Sebastian mit der Nachricht, es sei ein großer Korb gebracht worden,
+der sogleich an Fräulein Klara selbst abzugeben sei.
+
+"An mich?", fragte Klara erstaunt und äußerst neugierig, was das
+sein möchte; "zeigen Sie doch gleich einmal her, wie er aussieht."
+
+Sebastian brachte einen bedeckten Korb herein und entfernte sich
+dann eilig wieder.
+
+"Ich denke, erst wird der Unterricht beendet, dann der Korb
+ausgepackt", bemerkte Fräulein Rottenmeier.
+
+Klara konnte sich nicht vorstellen, was man ihr gebracht hatte; sie
+schaute sehr verlangend nach dem Korb.
+
+"Herr Kandidat", sagte sie, sich selbst in ihrem Deklinieren
+unterbrechend, "könnte ich nicht nur einmal schnell hineinsehen, um
+zu wissen, was drin ist, und dann gleich wieder fortfahren?"
+
+"In einer Hinsicht könnte man dafür, in einer anderen dawider sein",
+entgegnete der Herr Kandidat; "(dafür) spräche der Grund, dass,
+wenn nun Ihre ganze Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand gerichtet
+ist--"; die Rede konnte nicht beendigt werden. Der Deckel des
+Korbes saß nur lose darauf, und nun sprangen mit einem Mal ein,
+zwei drei und wieder zwei und immer noch mehr junge Kätzchen
+darunter hervor und ins Zimmer hinaus, und mit einer so
+unbegreiflichen Schnelligkeit fuhren sie überall herum, dass es war,
+als wäre das ganze Zimmer voll solcher Tierchen. Sie sprangen
+über die Stiefel des Herrn Kandidaten, bissen an seinen
+Beinkleidern, kletterten am Kleid von Fräulein Rottenmeier empor,
+krabbelten um ihre Füße herum, sprangen an Klaras Sessel hinauf,
+kratzten, krabbelten, miauten; es war ein arges Gewirre. Klara
+rief immerfort voller Entzücken: "Oh, die niedlichen Tierchen! Die
+lustigen Sprünge! Sieh! Sieh! Heidi, hier, dort, sieh dieses!"
+Heidi schoss ihnen vor Freude in alle Winkel nach. Der Herr
+Kandidat stand sehr verlegen am Tisch und zog bald den einen, bald
+den andern Fuß in die Höhe, um ihn dem unheimlichen Gekrabbel zu
+entziehen. Fräulein Rottenmeier saß erst sprachlos vor Entsetzen
+in ihrem Sessel, dann fing sie an aus Leibeskräften zu schreien:
+"Tinette! Tinette! Sebastian! Sebastian!", denn vom Sessel
+aufzustehen konnte sie unmöglich wagen, da konnten ja mit einem Mal
+alle die kleinen Scheusale an ihr emporspringen.
+
+Endlich kamen Sebastian und Tinette auf die wiederholten Hilferufe
+herbei, und jener packte gleich eins nach dem andern der kleinen
+Geschöpfe in den Korb hinein und trug sie auf den Estrich zu dem
+Katzenlager, das er für die zwei von gestern bereitet hatte.
+
+Auch am heutigen Tage hatte kein Gähnen während der
+Unterrichtsstunden stattgefunden. Am späten Abend, als Fräulein
+Rottenmeier sich von den Aufregungen des Morgens wieder hinlänglich
+erholt hatte, berief sie Sebastian und Tinette ins Studierzimmer
+herauf, um hier eine gründliche Untersuchung über die strafwürdigen
+Vorgänge anzustellen. Nun kam es denn heraus, dass Heidi auf
+seinem gestrigen Ausflug die sämtlichen Ereignisse vorbereitet und
+herbeigeführt hatte. Fräulein Rottenmeier saß weiß vor Entrüstung
+da und konnte erst keine Worte für ihre Empfindungen finden. Sie
+winkte mit der Hand, dass Sebastian und Tinette sich entfernen
+sollten. Jetzt wandte sie sich an Heidi, das neben Klaras Sessel
+stand und nicht recht begriff, was es verbrochen hatte.
+
+"Adelheid", begann sie mit strengem Ton, "ich weiß nur (eine)
+Strafe, die dir empfindlich sein könnte, denn du bist eine Barbarin;
+aber wir wollen sehen, ob du unten im dunklen Keller bei Molchen
+und Ratten nicht zahm wirst, dass du dir keine solchen Dinge mehr
+einfallen lässt."
+
+Heidi hörte still und verwundert sein Urteil an, denn in einem
+schreckhaften Keller war es noch nie gewesen, der anstoßende Raum
+in der Almhütte, den der Großvater Keller nannte, wo immer die
+fertigen Käse lagen und die frische Milch stand, war eher ein
+anmutiger und einladender Ort, und Ratten und Molche hatte es noch
+keine gesehen.
+
+Aber Klara erhob einen lauten Jammer: "Nein, nein, Fräulein
+Rottenmeier, man muss warten, bis der Papa da ist; er hat ja
+geschrieben, er komme nun bald, und dann will ich ihm alles
+erzählen, und er sagt dann schon, was mit Heidi geschehen soll."
+
+Gegen diesen Oberrichter durfte Fräulein Rottenmeier nichts
+einwenden, umso weniger, da er wirklich in Bälde zu erwarten war.
+Sie stand auf und sagte etwas grimmig: "Gut, Klara, aber auch ich
+werde ein Wort mit Herrn Sesemann sprechen." Damit verließ sie das
+Zimmer.
+
+Es verflossen nun ein paar ungestörte Tage, aber Fräulein
+Rottenmeier kam nicht mehr aus der Aufregung heraus, stündlich trat
+ihr die Täuschung vor Augen, die sie in Heidis Persönlichkeit
+erlebt hatte, und es war ihr, als sei seit seiner Erscheinung im
+Hause Sesemann alles aus den Fugen gekommen und komme nicht wieder
+hinein. Klara war sehr vergnügt; sie langweilte sich nie mehr,
+denn in den Unterrichtsstunden machte Heidi die kurzweiligsten
+Sachen; die Buchstaben machte es immer alle durcheinander und
+konnte sie nie kennen lernen, und wenn der Herr Kandidat mitten im
+Erklären und Beschreiben ihrer Formen war, um sie ihm anschaulicher
+zu machen und als Vergleichung etwa von einem Hörnchen oder einem
+Schnabel sprach dabei, rief es auf einmal in aller Freude aus: "Es
+ist eine Geiß!", oder: "Es ist ein Raubvogel!" Denn die
+Beschreibungen weckten in seinem Gehirn allerlei Vorstellungen, nur
+keine Buchstaben. In den späteren Nachmittagsstunden saß Heidi
+wieder bei Klara und erzählte ihr immer wieder von der Alm und dem
+Leben dort, so viel und so lange, bis das Verlangen darnach in ihm
+so brennend wurde, dass es immer zum Schluss versicherte: "Nun muss
+ich gewiss wieder heim! Morgen muss ich gewiss gehen!" Aber Klara
+beschwichtigte immer wieder diese Anfälle und bewies Heidi, dass es
+doch sicher dableiben müsse, bis der Papa komme; dann werde man
+schon sehen, wie es weitergehe. Wenn Heidi alsdann immer wieder
+nachgab und gleich wieder zufrieden war, so half ihm eine fröhliche
+Aussicht dazu, die es im Stillen hatte, dass mit jedem Tage, den es
+noch dablieb, sein Häuflein Brötchen für die Großmutter wieder um
+zwei größer würde, denn mittags und abends lag immer ein schönes
+Weißbrötchen bei seinem Teller; das steckte es gleich ein, denn es
+hätte das Brötchen nie essen können beim Gedanken, dass die
+Großmutter nie eines habe und das harte, schwarze Brot fast nicht
+mehr essen konnte. Nach Tisch saß Heidi jeden Tag ein paar Stunden
+lang ganz allein in seinem Zimmer und regte sich nicht, denn dass
+es in Frankfurt verboten war, nur so hinauszulaufen, wie es auf der
+Alm getan, das hatte es nun begriffen und tat es nie mehr. Mit
+Sebastian drüben im Esszimmer ein Gespräch führen durfte es auch
+nicht, das hatte Fräulein Rottenmeier auch verboten, und mit
+Tinette eine Unterhaltung zu probieren, daran kam ihm kein Sinn; es
+ging ihr immer scheu aus dem Wege, denn sie redete nur in
+höhnischem Ton mit ihm und spöttelte es fortwährend an, und Heidi
+verstand ihre Art ganz gut, und dass sie es nur immer ausspottete.
+So saß Heidi täglich da und hatte alle Zeit, sich auszudenken, wie
+nun die Alm wieder grün war und wie die gelben Blümchen im
+Sonnenschein glitzerten und wie alles leuchtete rings um die Sonne,
+der Schnee und die Berge und das ganze weite Tal, und Heidi konnte
+es manchmal fast nicht mehr aushalten vor Verlangen, wieder dort zu
+sein. Die Base hatte ja auch gesagt, es könne wieder heimgehen,
+wann es wolle. So kam es, dass Heidi eines Tages es nicht mehr
+aushielt; es packte in aller Eile seine Brötchen in das große rote
+Halstuch zusammen, setzte sein Strohhütchen auf und zog aus. Aber
+schon unter der Haustür traf es auf ein großes Reisehindernis, auf
+Fräulein Rottenmeier selbst, die eben von einem Ausgang
+zurückkehrte. Sie stand still und schaute in starrem Erstaunen
+Heidi von oben bis unten an, und ihr Blick blieb vorzüglich auf dem
+gefüllten roten Halstuch haften. Jetzt brach sie los.
+
+"Was ist das für ein Aufzug? Was heißt das überhaupt? Habe ich
+dir nicht streng verboten, je wieder herumzustreichen? Nun
+probierst du's doch wieder und dazu noch völlig aussehend wie eine
+Landstreicherin."
+
+"Ich wollte nicht herumstreichen, ich wollte nur heimgehen",
+entgegnete Heidi erschrocken.
+
+"Wie? Was? Heimgehen? Heimgehen wolltest du?" Fräulein
+Rottenmeier schlug die Hände zusammen vor Aufregung. "Fortlaufen!
+Wenn das Herr Sesemann wüsste! Fortlaufen aus seinem Hause! Mach
+nicht, dass er das je erfährt! Und was ist dir denn nicht recht in
+seinem Hause? Wirst du nicht viel besser behandelt, als du
+verdienst? Fehlt es dir an irgendetwas? Hast du je in deinem
+ganzen Leben eine Wohnung oder einen Tisch oder eine Bedienung
+gehabt, wie du hier hast? Sag!"
+
+"Nein", entgegnete Heidi.
+
+"Das weiß ich wohl!", fuhr die Dame eifrig fort. "Nichts fehlt dir,
+gar nichts, du bist ein ganz unglaublich undankbares Kind, und vor
+lauter Wohlsein weißt du nicht, was du noch alles anstellen willst!"
+
+Aber jetzt kam dem Heidi alles obenauf, was in ihm war, und brach
+hervor: "Ich will ja nur heim, und wenn ich so lang nicht komme, so
+muss das Schneehöppli immer klagen, und die Großmutter erwartet
+mich, und der Distelfink bekommt die Rute, wenn der Geißenpeter
+keinen Käse bekommt, und hier kann man gar nie sehen, wie die Sonne
+gute Nacht sagt zu den Bergen; und wenn der Raubvogel in Frankfurt
+obenüber fliegen würde, so würde er noch viel lauter krächzen, dass
+so viele Menschen beieinander sitzen und einander bös machen und
+nicht auf den Felsen gehen, wo es einem wohl ist."
+
+"Barmherzigkeit, das Kind ist übergeschnappt!", rief Fräulein
+Rottenmeier aus und stürzte mit Schrecken die Treppe hinauf, wo sie
+sehr unsanft gegen den Sebastian rannte, der eben hinunter wollte.
+"Holen Sie auf der Stelle das unglückliche Wesen herauf!", rief sie
+ihm zu, indem sie sich den Kopf rieb, denn sie war hart angestoßen.
+
+"Ja, ja, schon recht, danke schön", gab Sebastian zurück und rieb
+sich den seinen, denn er war noch härter angefahren.
+
+Heidi stand mit flammenden Augen noch auf derselben Stelle fest und
+zitterte vor innerer Erregung am ganzen Körper.
+
+"Na, schon wieder was angestellt?", fragte Sebastian lustig; als er
+aber Heidi, das sich nicht rührte, recht ansah, klopfte er ihm
+freundlich auf die Schulter und sagte tröstend: "Pah! Pah! Das
+muss sich das Mamsellchen nicht so zu Herzen nehmen, nur lustig,
+das ist die Hauptsache! Sie hat mir eben jetzt auch fast ein Loch
+in den Kopf gerannt; aber nur nicht einschüchtern lassen! Na?
+Immer noch auf demselben Fleck? Wir müssen hinauf, sie hat's
+befohlen."
+
+Heidi ging nun die Treppe hinauf, aber langsam und leise und gar
+nicht, wie sonst seine Art war. Das tat dem Sebastian Leid zu
+sehen; er ging hinter dem Heidi her und sprach ermutigende Worte zu
+ihm: "Nur nicht abgeben! Nur nicht traurig werden! Nur immer
+tapfer darauf zu! Wir haben ja ein ganz vernünftiges Mamsellchen,
+hat noch gar nie geweint, seit es bei uns ist; sonst weinen sie ja
+zwölfmal im Tag in dem Alter, das kennt man. Die Kätzchen sind
+auch lustig droben, die springen auf dem ganzen Estrich herum und
+tun wie närrisch. Nachher gehen wir mal zusammen hinauf und
+schauen ihnen zu, wenn die Dame drinnen weg ist, ja?"
+
+Heidi nickte ein wenig mit dem Kopf, aber so freudlos, dass es dem
+Sebastian recht zu Herzen ging und er ganz teilnehmend dem Heidi
+nachschaute, wie es nach seinem Zimmer hin schlich.
+
+Am Abendessen heute sagte Fräulein Rottenmeier kein Wort, aber
+fortwährend warf sie sonderbar wachsame Blicke zu Heidi hinüber, so
+als erwartete sie, es könnte plötzlich etwas Unerhörtes unternehmen;
+aber Heidi saß mäuschenstill am Tisch und rührte sich nicht, es aß
+nicht und trank nicht; nur sein Brötchen hatte es schnell in die
+Tasche gesteckt.
+
+Am folgenden Morgen, als der Herr Kandidat die Treppe heraufkam,
+winkte ihn Fräulein Rottenmeier geheimnisvoll ins Esszimmer herein,
+und hier teilte sie ihm in großer Aufregung ihre Besorgnis mit, die
+Luftveränderung, die neue Lebensart und die ungewohnten Eindrücke
+hätten das Kind um den Verstand gebracht, und sie erzählte ihm von
+Heidis Fluchtversuch und wiederholte ihm von seinen sonderbaren
+Reden, was sie noch wusste. Aber der Herr Kandidat besänftigte und
+beruhigte Fräulein Rottenmeier, indem er sie versicherte, dass er
+die Wahrnehmung gemacht habe, die Adelheid sei zwar einerseits
+allerdings eher exzentrisch, aber anderseits doch wieder bei
+richtigem Verstand, so dass sich nach und nach bei einer allseitig
+erwogenen Behandlung das nötige Gleichgewicht einstellen könne, was
+er im Auge habe; er finde den Umstand wichtiger, dass er durchaus
+nicht über das Abc hinauskomme mit ihr, indem sie die Buchstaben
+nicht zu fassen imstande sei.
+
+Fräulein Rottenmeier fühlte sich beruhigter und entließ den Herrn
+Kandidaten zu seiner Arbeit. Am späteren Nachmittag stieg ihr die
+Erinnerung an Heidis Aufzug bei seiner vorgehabten Abreise auf, und
+sie beschloss, die Gewandung des Kindes durch verschiedene
+Kleidungsstücke der Klara in den nötigen Stand zu setzen, bevor
+Herr Sesemann erscheinen würde. Sie teilte ihre Gedanken darüber
+an Klara mit, und da diese mit allem einverstanden war und dem
+Heidi eine Menge Kleider und Tücher und Hüte schenken wollte,
+verfügte sich die Dame in Heidis Zimmer, um seinen Kleiderschrank
+zu besehen und zu untersuchen, was da von dem Vorhandenen bleiben
+und was entfernt werden solle. Aber in wenig Minuten kam sie
+wieder zurück mit Gebärden des Abscheus. "Was muss ich entdecken,
+Adelheid!", rief sie aus. "Es ist nie dagewesen! In deinem
+Kleiderschrank, einem Schrank für Kleider, Adelheid, im Fuß dieses
+Schrankes, was finde ich? Einen Haufen kleiner Brote! Brot, sage
+ich, Klara, im Kleiderschrank! Und einen solchen Haufen
+aufspeichern!"--"Tinette", rief sie jetzt ins Esszimmer hinaus,
+"schaffen Sie mir das alte Brot fort aus dem Schrank der Adelheid
+und den zerdrückten Strohhut auf dem Tisch!"
+
+"Nein! Nein!", schrie Heidi auf; "ich muss den Hut haben, und die
+Brötchen sind für die Großmutter", und Heidi wollte der Tinette
+nachstürzen, aber es wurde von Fräulein Rottenmeier festgehalten.
+
+"Du bleibst hier und der Kram wird hingebracht, wo er hingehört",
+sagte sie bestimmt und hielt das Kind zurück. Aber nun warf sich
+Heidi an Klaras Sessel nieder und fing ganz verzweiflungsvoll zu
+weinen an, immer lauter und schmerzlicher, und schluchzte ein Mal
+ums andere in seinem Jammer auf: "Nun hat die Großmutter keine
+Brötchen mehr. Sie waren für die Großmutter, nun sind sie alle
+fort und die Großmutter bekommt keine!", und Heidi weinte auf, als
+wollte ihm das Herz zerspringen. Fräulein Rottenmeier lief hinaus.
+Klara wurde es angst und bange bei dem Jammer. "Heidi, Heidi,
+weine nur nicht so", sagte sie bittend, "hör mich nur! Jammere nur
+nicht so, sieh, ich verspreche dir, ich gebe dir gerade so viel
+Brötchen für die Großmutter, oder noch mehr, wenn du einmal
+heimgehst, und dann sind diese frisch und weich, und die deinen
+wären ja ganz hart geworden und waren es schon. Komm, Heidi, weine
+nur nicht mehr so!"
+
+Heidi konnte noch lange nicht aus seinem Schluchzen herauskommen;
+aber es verstand Klaras Trost und hielt sich daran, sonst hätte es
+gar nicht mehr zu weinen aufhören können. Es musste auch noch
+mehrere Male seiner Hoffnung gewiss werden und Klara, durch die
+letzten Anfälle von Schluchzen unterbrochen, fragen: "Gibst du mir
+so viele, viele, wie ich hatte, für die Großmutter?"
+
+Und Klara versicherte immer wieder: "Gewiss, ganz gewiss, noch mehr,
+sei nur wieder froh!"
+
+Noch zum Abendtisch kam Heidi mit den rot verweinten Augen, und als
+es sein Brötchen erblickte, musste es gleich noch einmal
+aufschluchzen. Aber es bezwang sich jetzt mit Gewalt, denn es
+verstand, dass es sich am Tisch ruhig verhalten musste. Sebastian
+machte heute jedes Mal die merkwürdigsten Gebärden, wenn er in
+Heidis Nähe kam; er deutete bald auf seinen, bald auf Heidis Kopf,
+dann nickte er wieder und kniff die Augen zu, so als wollte er
+sagen: "Nur getrost! Ich hab's schon gemerkt und besorgt."
+
+Als Heidi später in sein Zimmer kam und in sein Bett steigen wollte,
+lag sein zerdrücktes Strohhütchen unter der Decke versteckt. Mit
+Entzücken zog es den alten Hut hervor, zerdrückte ihn vor lauter
+Freude noch ein wenig mehr und versteckte ihn dann, in ein
+Taschentüchlein eingewickelt, in die allerhinterste Ecke seines
+Schrankes. Das Hütchen hatte der Sebastian unter die Decke
+gesteckt; er war zu gleicher Zeit mit Tinette im Esszimmer gewesen,
+als diese gerufen wurde, und hatte Heidis Jammerruf vernommen.
+Dann war er Tinette nachgegangen, und als sie aus Heidis Zimmer
+heraustrat mit ihrer Brotlast und dem Hütchen oben darauf, hatte er
+schnell dieses weggenommen und ihr zugerufen: "Das will ich schon
+forttun." Darauf hatte er es in aller Freude für Heidi gerettet,
+was er ihm beim Abendessen zur Erheiterung andeuten wollte.
+
+
+
+
+Der Hausherr hört allerlei in seinem Hause, das er noch nicht
+gehört hat
+
+Einige Tage nach diesen Ereignissen war im Hause Sesemann große
+Lebendigkeit und ein eifriges Treppauf- und Treppabrennen, denn
+eben war der Hausherr von seiner Reise zurückgekehrt, und aus dem
+bepackten Wagen wurde von Sebastian und Tinette eine Last nach der
+anderen hinaufgetragen, denn Herr Sesemann brachte immer eine Menge
+schöner Sachen mit nach Hause.
+
+Er selbst war vor allem in das Zimmer seiner Tochter eingetreten,
+um sie zu begrüßen. Heidi saß bei ihr, denn es war die Zeit des
+späten Nachmittags, da die beiden immer zusammen waren. Klara
+begrüßte ihren Vater mit großer Zärtlichkeit, denn sie liebte ihn
+sehr, und der gute Papa grüßte sein Klärchen nicht weniger
+liebevoll. Dann streckte er seine Hand dem Heidi entgegen, das
+sich leise in eine Ecke zurückgezogen hatte, und sagte freundlich:
+"Und das ist unsre kleine Schweizerin; komm her, gib mir mal eine
+Hand! So ist's recht! Nun sag mir mal, seid ihr auch gute Freunde
+zusammen, Klara und du? Nicht zanken und böse werden, und dann
+weinen und dann versöhnen, und dann wieder von vorn anfangen, nun?"
+
+"Nein, Klara ist immer gut mit mir", entgegnete Heidi.
+
+"Und Heidi hat auch noch gar nie versucht zu zanken, Papa", warf
+Klara schnell ein.
+
+"So ist's gut, das hör ich gern", sagte der Papa, indem er aufstand.
+"Nun musst du aber erlauben, Klärchen, dass ich etwas genieße;
+heute habe ich noch nichts bekommen. Nachher komm ich wieder zu
+dir und du sollst sehen, was ich mitgebracht habe!"
+
+Herr Sesemann trat ins Esszimmer ein, wo Fräulein Rottenmeier den
+Tisch überschaute, der für sein Mittagsmahl gerüstet war. Nachdem
+Herr Sesemann sich niedergelassen und die Dame ihm gegenüber Platz
+genommen hatte und aussah wie ein lebendiges Missgeschick, wandte
+sich der Hausherr zu ihr: "Aber Fräulein Rottenmeier, was muss ich
+denken? Sie haben zu meinem Empfang ein wahrhaft erschreckendes
+Gesicht aufgesetzt. Wo fehlt es denn? Klärchen ist ganz munter."
+
+"Herr Sesemann", begann die Dame mit gewichtigem Ernst, "Klara ist
+mit betroffen, wir sind fürchterlich getäuscht worden."
+
+"Wieso?", fragte Herr Sesemann und trank in aller Ruhe einen
+Schluck Wein.
+
+"Wir hatten ja beschlossen, wie Sie wissen, Herr Sesemann, eine
+Gespielin für Klara ins Haus zu nehmen, und da ich ja weiß, wie
+sehr Sie darauf halten, dass nur Gutes und Edles Ihre Tochter
+umgebe, hatte ich meinen Sinn auf ein junges Schweizermädchen
+gerichtet, indem ich hoffte, eines jener Wesen bei uns eintreten zu
+sehen, von denen ich schon so oft gelesen, welche, der reinen
+Bergluft entsprossen, sozusagen, ohne die Erde zu berühren, durch
+das Leben gehen."
+
+"Ich glaube zwar", bemerkte hier Herr Sesemann, "dass auch die
+Schweizerkinder den Erdboden berühren, wenn sie vorwärts kommen
+wollen; sonst wären ihnen wohl Flügel gewachsen statt der Füße."
+
+"Ach, Herr Sesemann, Sie verstehen mich wohl", fuhr das Fräulein
+fort; "Ich meinte eine jener so bekannten, in den hohen, reinen
+Bergregionen lebenden Gestalten, die nur wie ein idealer Hauch an
+uns vorüberziehen."
+
+"Was sollte aber meine Klara mit einem idealen Hauch anfangen,
+Fräulein Rottenmeier?"
+
+"Nein, Herr Sesemann, ich scherze nicht, die Sache ist mir ernster,
+als Sie denken; ich bin schrecklich, wirklich ganz schrecklich
+getäuscht worden."
+
+"Aber worin liegt denn das Schreckliche? So gar erschrecklich
+sieht mir das Kind nicht aus", bemerkte ruhig Herr Sesemann.
+
+"Sie sollten nur (eines) wissen, Herr Sesemann, nur das (eine), mit
+was für Menschen und Tieren dieses Wesen Ihr Haus in Ihrer
+Abwesenheit bevölkert hat; davon könnte der Herr Kandidat erzählen."
+
+"Mit Tieren? Wie muss ich das verstehen, Fräulein Rottenmeier?"
+
+"Es ist eben nicht zu verstehen; die ganze Aufführung dieses Wesens
+wäre nicht zu verstehen, wenn nicht aus dem (einen) Punkte, dass es
+Anfälle von völliger Verstandesgestörtheit hat."
+
+Bis hierher hatte Herr Sesemann die Sache nicht für wichtig
+gehalten; aber Gestörtheit des Verstandes? Eine solche konnte ja
+für seine Tochter die bedenklichsten Folgen haben. Herr Sesemann
+schaute Fräulein Rottenmeier sehr genau an, so, als wollte er sich
+erst versichern, ob nicht etwa bei ihr eine derartige Störung zu
+bemerken sei. In diesem Augenblick wurde die Tür aufgetan und der
+Herr Kandidat angemeldet.
+
+"Ah, da kommt unser Herr Kandidat, der wird uns Aufschluss geben!",
+rief ihm Herr Sesemann entgegen. "Kommen Sie, kommen Sie, setzen
+Sie sich zu mir!" Herr Sesemann streckte dem Eintretenden die Hand
+entgegen. "Der Herr Kandidat trinkt eine Tasse schwarzen Kaffee
+mit mir, Fräulein Rottenmeier! Setzen Sie sich, setzen Sie sich--
+keine Komplimente! Und nun sagen Sie mir, Herr Kandidat, was ist
+mit dem Kinde, das als Gespielin meiner Tochter ins Haus gekommen
+ist und das Sie unterrichten. Was hat es für eine Bewandtnis mit
+den Tieren, die es ins Haus gebracht, und wie steht es mit seinem
+Verstand?"
+
+Der Herr Kandidat musste erst seine Freude über Herrn Sesemanns
+glückliche Rückkehr aussprechen und ihn willkommen heißen, weswegen
+er ja gekommen war; aber Herr Sesemann drängte ihn, dass er ihm
+Aufschluss gebe über die fraglichen Punkte. So begann denn der
+Herr Kandidat: "Wenn ich mich über das Wesen dieses jungen Mädchens
+aussprechen soll, Herr Sesemann, so möchte ich vor allem darauf
+aufmerksam machen, dass, wenn auch auf der einen Seite sich ein
+Mangel der Entwicklung, welcher durch eine mehr oder weniger
+vernachlässigte Erziehung, oder besser gesagt, etwas verspäteten
+Unterricht verursacht und durch die mehr oder weniger, jedoch
+durchaus nicht in jeder Beziehung zu verurteilende, im Gegenteil
+ihre guten Seiten unstreitig dartuende Abgeschiedenheit eines
+längeren Alpenaufenthalts, welcher, wenn er nicht eine gewisse
+Dauer überschreitet, ja ohne Zweifel seine gute Seite--"
+
+"Mein lieber Herr Kandidat", unterbrach hier Herr Sesemann, "Sie
+geben sich wirklich zu viel Mühe; sagen Sie mir, hat auch Ihnen das
+Kind einen Schrecken beigebracht durch eingeschleppte Tiere, und
+was halten Sie überhaupt von diesem Umgang für mein Töchterchen?"
+
+"Ich möchte dem jungen Mädchen in keiner Art zu nahe treten",
+begann der Herr Kandidat wieder, "denn wenn es auch auf der einen
+Seite in einer Art von gesellschaftlicher Unerfahrenheit, welche
+mit dem mehr oder weniger unkultivierten Leben, in welchem das
+junge Mädchen bis zu dem Augenblick seiner Versetzung nach
+Frankfurt sich bewegte, welche Versetzung allerdings in die
+Entwicklung dieses, ich möchte sagen noch völlig, wenigstens
+teilweise unentwickelten, aber anderseits mit nicht zu verachtenden
+Anlagen begabten und wenn allseitig umsichtig geleitet--"
+
+"Entschuldigen Sie, Herr Kandidat, bitte, lassen Sie sich nicht
+stören, ich werde--ich muss schnell einmal nach meiner Tochter
+sehen." Damit lief Herr Sesemann zur Tür hinaus und kam nicht
+wieder. Drüben im Studierzimmer setzte er sich zu seinem
+Töchterchen hin; Heidi war aufgestanden. Herr Sesemann wandte sich
+nach dem Kinde um: "Hör mal, Kleine, hol mir doch schnell--wart
+einmal--hol mir mal"--(Herr Sesemann wusste nicht recht, was er
+bedurfte, Heidi sollte aber ein wenig ausgeschickt werden)--"hol
+mir doch mal ein Glas Wasser."
+
+"Frisches?", fragte Heidi.
+
+"Jawohl! Jawohl! Recht frisches!", gab Herr Sesemann zurück.
+Heidi verschwand.
+
+"Nun, mein liebes Klärchen", sagte der Papa, indem er ganz nah an
+sein Töchterchen heranrückte und dessen Hand in die seinige legte,
+"sag du mir klar und fasslich: Was für Tiere hat diese deine
+Gespielin ins Haus gebracht und warum muss Fräulein Rottenmeier
+denken, sie sei zeitweise nicht ganz recht im Kopf; kannst du mir
+das sagen?"
+
+Das konnte Klara, denn die erschrockene Dame hatte auch ihr von
+Heidis sich verwirrenden Reden gesprochen, die aber für Klara alle
+einen Sinn hatten. Sie erzählte erst dem Vater die Geschichten von
+der Schildkröte und den jungen Katzen und erklärte ihm dann Heidis
+Reden, welche die Dame so erschreckt hatten. Jetzt lachte Herr
+Sesemann herzlich. "So willst du nicht, dass ich das Kind nach
+Haus schicke, Klärchen, du bist seiner nicht müde?", fragte der
+Vater.
+
+"Nein, nein, Papa, tu nur das nicht!", rief Klara abwehrend aus.
+"Seit Heidi da ist, begegnet immer etwas, jeden Tag, und es ist so
+kurzweilig, ganz anders als vorher, da begegnete nie etwas, und
+Heidi erzählt mir auch so viel."
+
+"Schon gut, schon gut, Klärchen, da kommt ja auch deine Freundin
+schon wieder. Na, schönes, frisches Wasser geholt?", fragte Herr
+Sesemann, da ihm Heidi nun ein Glas Wasser hinstreckte.
+
+"Ja, frisch vom Brunnen", antwortete Heidi.
+
+"Du bist doch nicht selbst zum Brunnen gelaufen, Heidi?", sagte
+Klara.
+
+"Doch gewiss, es ist ganz frisch, aber ich musste weit gehen, denn
+am ersten Brunnen waren so viele Leute. Da ging ich die Straße
+ganz hinab, aber beim zweiten waren wieder so viele Leute; da ging
+ich in die andere Straße hinein und dort nahm ich Wasser, und der
+Herr mit den weißen Haaren lässt Herrn Sesemann freundlich grüßen."
+
+"Na, die Expedition ist gut", lachte Herr Sesemann, "und wer ist
+denn der Herr?"
+
+"Er kam beim Brunnen vorbei und dann stand er still und sagte:
+'Weil du doch ein Glas hast, so gib mir auch einmal zu
+trinken; wem bringst du dein Glas Wasser?' Und ich sagte:
+'Herrn Sesemann.' Da lachte er sehr stark, und dann
+sagte er den Gruß und auch noch, Herr Sesemann solle sich's
+schmecken lassen."
+
+"So, und wer lässt mir denn wohl den guten Wunsch sagen? Wie sah
+der Herr denn weiter aus?", fragte Herr Sesemann.
+
+"Er lacht freundlich und hat eine dicke goldene Kette und ein
+goldenes Ding hängt daran mit einem großen roten Stein und auf
+seinem Stock ist ein Rosskopf."
+
+"Das ist der Herr Doktor"--"Das ist mein alter Doktor", sagten
+Klara und ihr Vater wie aus einem Munde, und Herr Sesemann lachte
+noch ein wenig in sich hinein im Gedanken an seinen Freund und
+dessen Betrachtungen über diese neue Weise, seinen Wasserbedarf
+sich zuführen zu lassen.
+
+Noch an demselben Abend erklärte Herr Sesemann, als er allein mit
+Fräulein Rottenmeier im Esszimmer saß, um allerlei häusliche
+Angelegenheiten mit ihr zu besprechen, die Gespielin seiner Tochter
+werde im Hause bleiben; er finde, das Kind sei in einem normalen
+Zustand, und seine Gesellschaft sei seiner Tochter sehr lieb und
+angenehmer als jede andere. "Ich wünsche daher", setzte Herr
+Sesemann sehr bestimmt hinzu, "dass dieses Kind jederzeit durchaus
+freundlich behandelt und seine Eigentümlichkeiten nicht als
+Vergehen betrachtet werden. Sollten Sie übrigens mit dem Kinde
+nicht allein fertig werden, Fräulein Rottenmeier, so ist ja eine
+gute Hilfe für Sie in Aussicht, da in nächster Zeit meine Mutter zu
+ihrem längeren Aufenthalt in mein Haus kommt, und meine Mutter wird
+mit jedem Menschen fertig, wie er sich auch anstelle, das wissen
+Sie ja wohl, Fräulein Rottenmeier?"
+
+"Jawohl, das weiß ich, Herr Sesemann", entgegnete die Dame, aber
+nicht mit dem Ausdruck der Erleichterung im Hinblick auf die
+angezeigte Hilfe.--
+
+Herr Sesemann hatte diesmal nur eine kurze Zeit Ruhe zu Hause,
+schon nach vierzehn Tagen riefen ihn seine Geschäfte wieder nach
+Paris, und er tröstete sein Töchterchen, das mit der nahen Abreise
+nicht einverstanden war, mit der Aussicht auf die baldige Ankunft
+der Großmama, die schon nach einigen Tagen erwartet werden konnte.
+
+Kaum war auch Herr Sesemann abgereist, als schon der Brief anlangte,
+der die Abreise der Frau Sesemann aus Holstein, wo sie auf einem
+alten Gute wohnte, anzeigte und die bestimmte Zeit ihrer Ankunft
+auf den folgenden Tag meldete, damit der Wagen nach dem Bahnhof
+geschickt würde, um sie abzuholen.
+
+Klara war voller Freude über die Nachricht und erzählte noch an
+demselben Abend dem Heidi so viel und so lange von der Großmama,
+dass Heidi auch anfing, von der 'Großmama' zu reden,
+worauf Fräulein Rottenmeier Heidi mit Missbilligung anblickte, was
+aber das Kind auf nichts Besonderes bezog, denn es fühlte sich
+unter fortdauernder Missbilligung der Dame. Als es sich dann
+später entfernte, um in sein Schlafzimmer zu gehen, berief Fräulein
+Rottenmeier es erst in das ihrige herein und erklärte ihm hier, es
+habe niemals den Namen 'Großmama' anzuwenden, sondern
+wenn Frau Sesemann nun da sei, habe es sie stets 'gnädige
+Frau' anzureden. "Verstehst du das?", fragte die Dame, als
+Heidi sie etwas zweifelhaft ansah; sie gab ihm aber einen so
+abschließenden Blick zurück, dass Heidi sich keine Erklärung mehr
+erbat, obschon es den Titel nicht verstanden hatte.
+
+
+
+
+Eine Großmama
+
+Am folgenden Abend waren große Erwartungen und lebhafte
+Vorbereitungen im Hause Sesemann sichtbar, man konnte deutlich
+bemerken, dass die erwartete Dame ein bedeutendes Wort im Hause
+mitzusprechen hatte und dass jedermann großen Respekt vor ihr
+empfand. Tinette hatte ein ganz neues, weißes Deckelchen auf den
+Kopf gesetzt, und Sebastian raffte eine Menge von Schemeln zusammen
+und stellte sie an alle passenden Stellen hin, damit die Dame
+gleich einen Schemel unter den Füßen finde, wohin sie sich auch
+setzen möge. Fräulein Rottenmeier ging zur Musterung der Dinge
+sehr aufrecht durch die Zimmer, so wie um anzudeuten, dass, wenn
+auch eine zweite Herrschermacht herannahe, die ihrige dennoch nicht
+am Erlöschen sei.
+
+Jetzt rollte der Wagen vor das Haus, und Sebastian und Tinette
+stürzten die Treppe hinunter; langsam und würdevoll folgte Fräulein
+Rottenmeier nach, denn sie wusste, dass auch sie zum Empfang der
+Frau Sesemann zu erscheinen hatte. Heidi war beordert worden, sich
+in sein Zimmer zurückzuziehen und da zu warten, bis es gerufen
+würde, denn die Großmutter würde zuerst bei Klara eintreten und
+diese wohl allein sehen wollen. Heidi setzte sich in einen Winkel
+und repetierte seine Anrede. Es währte gar nicht lange, so steckte
+die Tinette den Kopf ein klein wenig unter Heidis Zimmertür und
+sagte kurz angebunden wie immer: "Hinübergehen ins Studierzimmer!"
+
+Heidi hatte Fräulein Rottenmeier nicht fragen dürfen, wie es mit
+der Anrede sei, aber es dachte, die Dame habe sich nur versprochen,
+denn es hatte bis jetzt immer erst den Titel nennen gehört und
+nachher den Namen; so hatte es sich nun die Sache zurechtgelegt.
+Wie es die Tür zum Studierzimmer aufmachte, rief ihm die Großmutter
+mit freundlicher Stimme entgegen: "Ah, da kommt ja das Kind! Komm
+mal her zu mir und lass dich recht ansehen."
+
+Heidi trat heran, und mit seiner klaren Stimme sagte es sehr
+deutlich: "Guten Tag, Frau Gnädige."
+
+"Warum nicht gar!", lachte die Großmama. "Sagt man so bei euch?
+Hast du das daheim auf der Alp gehört?"
+
+"Nein, bei uns heißt niemand so", erklärte Heidi ernsthaft.
+
+"So, bei uns auch nicht", lachte die Großmama wieder und klopfte
+Heidi freundlich auf die Wange. "Das ist nichts! In der
+Kinderstube bin ich die Großmama; so sollst du mich nennen, das
+kannst du wohl behalten, wie?"
+
+"Ja, das kann ich gut", versicherte Heidi, "vorher hab ich schon
+immer so gesagt."
+
+"So, so, verstehe schon!", sagte die Großmama und nickte ganz
+lustig mit dem Kopfe. Dann schaute sie Heidi genau an und nickte
+von Zeit zu Zeit wieder mit dem Kopf, und Heidi guckte ihr auch
+ganz ernsthaft in die Augen, denn da kam etwas so Herzliches heraus,
+dass es dem Heidi ganz wohl machte, und die ganze Großmama gefiel
+dem Heidi so, dass es sie unverwandt anschauen musste. Sie hatte
+so schöne weiße Haare, und um den Kopf ging eine schöne
+Spitzenkrause, und zwei breite Bänder flatterten von der Haube weg
+und bewegten sich immer irgendwie, so als ob stets ein leichter
+Wind um die Großmama wehe, was das Heidi ganz besonders anmutete.
+
+"Und wie heißt du, Kind?", fragte jetzt die Großmama.
+
+"Ich heiße nur Heidi; aber weil ich soll Adelheid heißen, so will
+ich schon Acht geben--"; Heidi stockte, denn es fühlte sich ein
+wenig schuldig, da es noch immer keine Antwort gab, wenn Fräulein
+Rottenmeier unversehens rief: "Adelheid!", indem es ihm noch immer
+nicht recht gegenwärtig war, dass dies sein Name sei, und Fräulein
+Rottenmeier war eben ins Zimmer getreten.
+
+"Frau Sesemann wird unstreitig billigen", fiel hier die eben
+Eingetretene ein, "dass ich einen Namen wählen musste, den man doch
+aussprechen kann, ohne sich selbst genieren zu müssen, schon um der
+Dienstboten willen."
+
+"Werteste Rottenmeier", entgegnete Frau Sesemann, "wenn ein Mensch
+einmal 'Heidi' heißt und an den Namen gewöhnt ist, so
+nenn ich ihn so, und dabei bleibt's!"
+
+Es war Fräulein Rottenmeier sehr genierlich, dass die alte Dame sie
+beständig nur bei ihrem Namen nannte, ohne weitere Titulatur; aber
+da war nichts zu machen; die Großmama hatte einmal ihre eigenen
+Wege, und diese ging sie, da half kein Mittel dagegen. Auch ihre
+fünf Sinne hatte die Großmama noch ganz scharf und gesund, und sie
+bemerkte, was im Hause vorging, sobald sie es betreten hatte.
+
+Als am Tage nach ihrer Ankunft Klara sich zur gewohnten Zeit nach
+Tisch niederlegte, setzte die Großmama sich neben sie auf einen
+Lehnstuhl und schloss ihre Augen für einige Minuten; dann stand sie
+schon wieder auf--denn sie war gleich wieder munter--und trat ins
+Esszimmer hinaus; da war niemand. "Die schläft", sagte sie vor
+sich hin, ging dann nach dem Zimmer der Dame Rottenmeier und
+klopfte kräftig an die Tür. Nach einiger Zeit erschien diese und
+fuhr erschrocken ein wenig zurück bei dem unerwarteten Besuch.
+
+"Wo hält sich das Kind auf um diese Zeit, und was tut es? Das
+wollte ich wissen", sagte Frau Sesemann.
+
+"In seinem Zimmer sitzt es, wo es sich nützlich beschäftigen könnte,
+wenn es den leisesten Tätigkeitstrieb hätte; aber Frau Sesemann
+sollte nur wissen, was für verkehrtes Zeug sich dieses Wesen oft
+ausdenkt und wirklich ausführt, Dinge, die ich in gebildeter
+Gesellschaft kaum erzählen könnte."
+
+"Das würde ich gerade auch tun, wenn ich so da drinnen säße wie
+dieses Kind, das kann ich Ihnen sagen, und Sie könnten zusehen, wie
+Sie mein Zeug in gebildeter Gesellschaft erzählen wollten! Jetzt
+holen Sie mir das Kind heraus und bringen Sie mir's in meine Stube,
+ich will ihm einige hübsche Bücher geben, die ich mitgebracht habe."
+
+"Das ist ja gerade das Unglück, das ist es ja eben!", rief Fräulein
+Rottenmeier aus und schlug die Hände zusammen. "Was sollte das
+Kind mit Büchern tun? In all dieser Zeit hat es noch nicht einmal
+das Abc erlernt; es ist völlig unmöglich, diesem Wesen auch nur
+(einen) Begriff beizubringen, davon kann der Herr Kandidat reden!
+Wenn dieser treffliche Mensch nicht die Geduld eines himmlischen
+Engels besäße, er hätte diesen Unterricht längst aufgegeben."
+
+"So, das ist merkwürdig, das Kind sieht nicht aus wie eines, das
+das Abc nicht erlernen kann", sagte Frau Sesemann. "Jetzt holen
+Sie mir's herüber, es kann vorläufig die Bilder in den Büchern
+ansehen."
+
+Fräulein Rottenmeier wollte noch einiges bemerken, aber Frau
+Sesemann hatte sich schon umgewandt und ging rasch ihrem Zimmer zu.
+Sie musste sich sehr verwundern über die Nachricht von Heidis
+Beschränktheit und gedachte, die Sache zu untersuchen, jedoch nicht
+mit dem Herrn Kandidaten, den sie zwar um seines guten Charakters
+willen sehr schätzte; sie grüßte ihn auch immer, wenn sie mit ihm
+zusammentraf, überaus freundlich, lief dann aber sehr schnell auf
+eine andere Seite, um nicht in ein Gespräch mit ihm verwickelt zu
+werden, denn seine Ausdrucksweise war ihr ein wenig beschwerlich.
+
+Heidi erschien im Zimmer der Großmama und machte die Augen weit auf,
+als es die prächtigen bunten Bilder in den großen Büchern sah,
+welche die Großmama mitgebracht hatte. Auf einmal schrie Heidi
+laut auf, als die Großmama wieder ein Blatt umgewandt hatte; mit
+glühendem Blick schaute es auf die Figuren, dann stürzten ihm
+plötzlich die hellen Tränen aus den Augen, und es fing gewaltig zu
+schluchzen an. Die Großmama schaute das Bild an. Es war eine
+schöne, grüne Weide, wo allerlei Tierlein herumweideten und an den
+grünen Gebüschen nagten. In der Mitte stand der Hirt, auf einen
+langen Stab gestützt, der schaute den fröhlichen Tierchen zu.
+Alles war wie in Goldschimmer gemalt, denn hinten am Horizont war
+eben die Sonne im Untergehen.
+
+Die Großmama nahm Heidi bei der Hand. "Komm, komm, Kind", sagte
+sie in freundlichster Weise, "nicht weinen, nicht weinen. Das hat
+dich wohl an etwas erinnert; aber sieh, da ist auch eine schöne
+Geschichte dazu, die erzähl ich heut Abend. Und da sind noch so
+viele schöne Geschichten in dem Buch, die kann man alle lesen und
+wieder erzählen. Komm, nun müssen wir etwas besprechen zusammen,
+trockne schön deine Tränen, so, und nun stell dich hier vor mich
+hin, dass ich dich recht ansehen kann; so ist's recht, nun sind wir
+wieder fröhlich."
+
+Aber noch verging einige Zeit, bevor Heidi zu schluchzen aufhören
+konnte. Die Großmama ließ ihm auch eine gute Weile zur Erholung,
+nur sagte sie von Zeit zu Zeit ermunternd: "So, nun ist's gut, nun
+sind wir wieder froh zusammen."
+
+Als sie endlich das Kind beruhigt sah, sagte sie: "Nun musst du mir
+was erzählen, Kind! Wie geht es denn beim Herrn Kandidaten in den
+Unterrichtsstunden, lernst du auch gut und kannst du was?"
+
+"O nein", antwortete Heidi seufzend; "aber ich wusste schon, dass
+man es nicht lernen kann."
+
+"Was kann man denn nicht lernen, Heidi, was meinst du?"
+
+"Lesen kann man nicht lernen, es ist zu schwer."
+
+"Das wäre! Und woher weißt du denn diese Neuigkeit?"
+
+"Der Peter hat es mir gesagt und er weiß es schon, der muss immer
+wieder probieren, aber er kann es nie lernen, es ist zu schwer."
+
+"So, das ist mir ein eigener Peter, der! Aber sieh, Heidi, man
+muss nicht alles nur so hinnehmen, was einem ein Peter sagt, man
+muss selbst probieren. Gewiss hast du nicht recht mit all deinen
+Gedanken dem Herrn Kandidaten zugehört und seine Buchstaben
+angesehen."
+
+"Es nützt nichts", versicherte Heidi mit dem Ton der vollen
+Ergebung in das Unabänderliche.
+
+"Heidi", sagte nun die Großmama, "jetzt will ich dir etwas sagen:
+Du hast noch nie lesen gelernt, weil du deinem Peter geglaubt hast;
+nun aber sollst du mir glauben, und ich sage dir fest und sicher,
+dass du in kurzer Zeit lesen lernen kannst, wie eine große Menge
+von Kindern, die geartet sind wie du und nicht wie der Peter. Und
+nun musst du wissen, was nachher kommt, wenn du dann lesen kannst--
+du hast den Hirten gesehen auf der schönen, grünen Weide--; sobald
+du nun lesen kannst, bekommst du das Buch, da kannst du seine ganze
+Geschichte vernehmen, ganz so, als ob sie dir jemand erzählte,
+alles, was er macht mit seinen Schafen und Ziegen und was ihm für
+merkwürdige Dinge begegnen. Das möchtest du schon wissen, Heidi,
+nicht?"
+
+Heidi hatte mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört, und mit
+leuchtenden Augen sagte es jetzt, tief Atem holend: "Oh, wenn ich
+nur schon lesen könnte!"
+
+"Jetzt wird's kommen, und gar nicht lange wird's währen, das kann
+ich schon sehen, Heidi, und nun müssen wir mal nach der Klara sehen;
+komm, die schönen Bücher nehmen wir mit." Damit nahm die Großmama
+Heidi bei der Hand und ging mit ihm nach dem Studierzimmer.
+
+Seit dem Tage, da Heidi hatte heimgehen wollen und Fräulein
+Rottenmeier es auf der Treppe ausgescholten und ihm gesagt hatte,
+wie schlecht und undankbar es sich erweise durch sein
+Fortlaufenwollen und wie gut es sei, dass Herr Sesemann nichts
+davon wisse, war mit dem Kinde eine Veränderung vorgegangen. Es
+hatte begriffen, dass es nicht heimgehen könne, wenn es wolle, wie
+ihm die Base gesagt hatte, sondern dass es in Frankfurt zu bleiben
+habe, lange, lange, vielleicht für immer. Es hatte auch verstanden,
+dass Herr Sesemann es sehr undankbar von ihm finden würde, wenn es
+heimgehen wollte, und es dachte sich aus, dass die Großmama und
+Klara auch so denken würden. So durfte es keinem Menschen sagen,
+dass es heimgehen möchte, denn dass die Großmama, die so freundlich
+mit ihm war, auch böse würde, wie Fräulein Rottenmeier geworden war,
+das wollte Heidi nicht verursachen. Aber in seinem Herzen wurde
+die Last, die darinnen lag, immer schwerer; es konnte nicht mehr
+essen, und jeden Tag wurde es ein wenig bleicher. Am Abend konnte
+es oft lange, lange nicht einschlafen, denn sobald es allein war
+und alles still ringsumher, kam ihm alles so lebendig vor die Augen,
+die Alm und der Sonnenschein darauf und die Blumen; und schlief es
+endlich doch ein, so sah es im Traum die roten Felsenspitzen am
+Falknis und das feurige Schneefeld an der Schesaplana, und erwachte
+dann Heidi am Morgen und wollte voller Freude hinausspringen aus
+der Hütte--da war es auf einmal in seinem großen Bett in Frankfurt,
+so weit, weit weg, und konnte nicht mehr heim. Dann drückte Heidi
+oft seinen Kopf in das Kissen und weinte lang, ganz leise, dass
+niemand es höre.
+
+Heidis freudloser Zustand entging der Großmama nicht. Sie ließ
+einige Tage vorübergehen und sah zu, ob die Sache sich ändere und
+das Kind sein niedergeschlagenes Wesen verlieren würde. Als es
+aber gleich blieb und die Großmama manchmal am frühen Morgen schon
+sehen konnte, dass Heidi geweint hatte, da nahm sie eines Tages das
+Kind wieder in ihre Stube, stellte es vor sich hin und sagte mit
+großer Freundlichkeit: "Jetzt sag mir, was dir fehlt, Heidi; hast
+du einen Kummer?"
+
+Aber gerade dieser freundlichen Großmama wollte Heidi nicht sich so
+undankbar zeigen, dass sie vielleicht nachher gar nicht mehr so
+freundlich wäre; so sagte Heidi traurig: "Man kann es nicht sagen."
+
+"Nicht? Kann man es etwa der Klara sagen?", fragte die Großmama.
+
+"O nein, keinem Menschen", versicherte Heidi und sah dabei so
+unglücklich aus, dass es die Großmama erbarmte.
+
+"Komm, Kind", sagte sie, "ich will dir was sagen: Wenn man einen
+Kummer hat, den man keinem Menschen sagen kann, so klagt man ihn
+dem lieben Gott im Himmel und bittet ihn, dass er helfe, denn er
+kann allem Leid abhelfen, das uns drückt. Das verstehst du, nicht
+wahr? Du betest doch jeden Abend zum lieben Gott im Himmel und
+dankst ihm für alles Gute und bittest ihn, dass er dich vor allem
+Bösen behüte?"
+
+"O nein, das tu ich nie", antwortete das Kind.
+
+"Hast du denn gar nie gebetet, Heidi, weißt du nicht, was das ist?"
+
+"Nur mit der ersten Großmutter habe ich gebetet, aber es ist schon
+lang, und jetzt habe ich es vergessen."
+
+"Siehst du, Heidi, darum musst du so traurig sein, weil du jetzt
+gar niemanden kennst, der dir helfen kann. Denk einmal nach, wie
+wohl das tun muss, wenn einen im Herzen etwas immerfort drückt und
+quält und man kann so jeden Augenblick zum lieben Gott hingehen und
+ihm alles sagen und ihn bitten, dass er helfe, wo uns sonst gar
+niemand helfen kann! Und er kann überall helfen und uns geben, was
+uns wieder froh macht."
+
+Durch Heidis Augen fuhr ein Freudenstrahl: "Darf man ihm alles,
+alles sagen?"
+
+"Alles, Heidi, alles."
+
+Das Kind zog seine Hand aus den Händen der Großmama und sagte eilig:
+"Kann ich gehen?"
+
+"Gewiss! Gewiss!", gab diese zur Antwort, und Heidi lief davon und
+hinüber in sein Zimmer, und hier setzte es sich auf seinen Schemel
+nieder und faltete seine Hände und sagte dem lieben Gott alles, was
+in seinem Herzen war und es so traurig machte, und bat ihn dringend
+und herzlich, dass er ihm helfe und es wieder heimkommen lasse zum
+Großvater.--
+
+Es mochte etwas mehr als eine Woche verflossen sein seit diesem
+Tage, als der Herr Kandidat begehrte, der Frau Sesemann seine
+Aufwartung zu machen, indem er eine Besprechung über einen
+merkwürdigen Gegenstand mit der Dame abzuhalten gedachte. Er wurde
+auf ihre Stube berufen, und hier, wie er eintrat, streckte ihm Frau
+Sesemann sogleich freundlich die Hand entgegen: "Mein lieber Herr
+Kandidat, seien Sie mir willkommen! Setzen Sie sich her zu mir,
+hier"--sie rückte ihm den Stuhl zurecht. "So, nun sagen Sie mir,
+was bringt Sie zu mir; doch nichts Schlimmes, keine Klagen?"
+
+"Im Gegenteil, gnädige Frau", begann der Herr Kandidat; "es ist
+etwas vorgefallen, das ich nicht mehr erwarten konnte und keiner,
+der einen Blick in alles Vorhergegangene hätte werfen können, denn
+nach allen Voraussetzungen musste angenommen werden, dass es eine
+völlige Unmöglichkeit sein müsse, was dennoch jetzt wirklich
+geschehen ist und in der wunderbarsten Weise stattgefunden hat,
+gleichsam im Gegensatz zu allem folgerichtig zu Erwartenden--"
+
+"Sollte das Kind Heidi etwa lesen gelernt haben, Herr Kandidat?",
+setzte hier Frau Sesemann ein.
+
+In sprachlosem Erstaunen schaute der überraschte Herr die Dame an.
+
+"Es ist ja wirklich völlig wunderbar", sagte er endlich, "nicht nur,
+dass das junge Mädchen nach all meinen gründlichen Erklärungen,
+und ungewöhnlichen Bemühungen das Abc nicht erlernt hat, sondern
+auch und besonders, dass es jetzt in kürzester Zeit, nachdem ich
+mich entschlossen hatte, das Unerreichbare aus den Augen zu lassen
+und ohne alle weiter greifenden Erläuterungen nur noch sozusagen
+die nackten Buchstaben vor die Augen des jungen Mädchens zu bringen,
+sozusagen über Nacht das Lesen erfasst hat, und dann sogleich mit
+einer Korrektheit die Worte liest, wie mir bei Anfängern noch
+selten vorgekommen ist. Fast ebenso wunderbar ist mir die
+Wahrnehmung, dass die gnädige Frau gerade diese fern liegende
+Tatsache als Möglichkeit vermutete."
+
+"Es geschehen viele wunderbare Dinge im Menschenleben", bestätigte
+Frau Sesemann und lächelte vergnüglich; "es können auch einmal zwei
+Dinge glücklich zusammentreffen, wie ein neuer Lerneifer und eine
+neue Lehrmethode, und beide können nichts schaden, Herr Kandidat.
+Jetzt wollen wir uns freuen, dass das Kind so weit ist, und auf
+guten Fortgang hoffen."
+
+Damit begleitete sie den Herrn Kandidaten zur Tür hinaus und ging
+rasch nach dem Studierzimmer, um sich selbst der erfreulichen
+Nachricht zu versichern. Richtig saß hier Heidi neben Klara und
+las dieser eine Geschichte vor, sichtlich selbst mit dem größten
+Erstaunen und mit einem wachsenden Eifer in die neue Welt
+eindringend, die ihm aufgegangen war, nun ihm mit einem Mal aus den
+schwarzen Buchstaben Menschen und Dinge entgegentraten und Leben
+gewannen und zu herzbewegenden Geschichten wurden. Noch am selben
+Abend, als man sich zu Tische setzte, fand Heidi auf seinem Teller
+das große Buch liegen mit den schönen Bildern, und als es fragend
+nach der Großmama blickte, sagte diese freundlich nickend: "Ja, ja,
+nun gehört es dir."
+
+"Für immer? Auch wenn ich heimgehe?", fragte Heidi ganz rot vor
+Freude.
+
+"Gewiss, für immer!", versicherte die Großmama; "morgen fangen wir
+an zu lesen."
+
+"Aber du gehst nicht heim, noch viele Jahre nicht, Heidi", warf
+Klara hier ein; "wenn nun die Großmama wieder fortgeht, dann musst
+du erst recht bei mir bleiben."
+
+Noch vor dem Schlafengehen musste Heidi in seinem Zimmer sein
+schönes Buch ansehen, und von dem Tage an war es sein Liebstes,
+über seinem Buch zu sitzen und immer wieder die Geschichten zu
+lesen, zu denen die schönen bunten Bilder gehörten. Sagte am Abend
+die Großmama: "Nun liest uns Heidi vor", so war das Kind sehr
+beglückt, denn das Lesen ging ihm nun ganz leicht, und wenn es die
+Geschichten laut vorlas, so kamen sie ihm noch viel schöner und
+verständlicher vor, und die Großmama erklärte dann noch so vieles
+und erzählte immer noch mehr dazu. Am liebsten beschaute Heidi
+immer wieder seine grüne Weide und den Hirten mitten unter der
+Herde, wie er so vergnüglich, auf seinen langen Stab gelehnt,
+dastand, denn da war er noch bei der schönen Herde des Vaters und
+ging nur den lustigen Schäfchen und Ziegen nach, weil es ihn freute.
+Aber dann kam das Bild, wo er, vom Vaterhaus weggelaufen, nun in
+der Fremde war und die Schweinchen hüten musste und ganz mager
+geworden war bei den Trebern, die er allein noch zu essen bekam.
+Und auf dem Bilde schien auch die Sonne nicht mehr so golden, da
+war das Land grau und nebelig. Aber dann kam noch ein Bild zu der
+Geschichte: Da kam der alte Vater mit ausgebreiteten Armen aus dem
+Hause heraus und lief dem heimkehrenden reuigen Sohn entgegen, um
+ihn zu empfangen, der ganz furchtsam und abgemagert in einem
+zerrissenen Wams daherkam. Das war Heidis Lieblingsgeschichte, die
+es immer wieder las, laut und leise, und es konnte nie genug der
+Erklärungen bekommen, welche die Großmama den Kindern dazu machte.
+Da waren aber noch so viele schöne Geschichten in dem Buch, und bei
+dem Lesen derselben und dem Bilderbesehen gingen die Tage sehr
+schnell dahin, und schon nahte die Zeit heran, welche die Großmama
+zu ihrer Abreise bestimmt hatte.
+
+
+
+
+Heidi nimmt auf einer Seite zu und auf der anderen ab
+
+Die Großmama hatte während der ganzen Zeit ihres Aufenthalts jeden
+Nachmittag, wenn Klara sich hinlegte und Fräulein Rottenmeier,
+wahrscheinlich der Ruhe bedürftig, geheimnisvoll verschwand, sich
+einen Augenblick neben Klara hingesetzt; aber schon nach fünf
+Minuten war sie wieder auf den Füßen und hatte dann immer Heidi auf
+ihre Stube berufen, sich mit ihm besprochen und es auf allerlei
+Weise beschäftigt und unterhalten. Die Großmama hatte hübsche
+kleine Puppen und zeigte dem Heidi, wie man ihnen Kleider und
+Schürzchen macht, und ganz unvermerkt hatte Heidi das Nähen erlernt
+und machte den kleinen Frauenzimmern die schönsten Röcke und
+Mäntelchen, denn die Großmama hatte immer Zeugstücke von den
+prächtigsten Farben. Nun Heidi lesen konnte, durfte es auch immer
+wieder der Großmama seine Geschichten vorlesen; das machte ihm die
+größte Freude, denn je mehr es seine Geschichten las, desto lieber
+wurden sie ihm, denn Heidi lebte alles ganz mit durch, was die
+Leute alle zu erleben hatten, und so hatte es zu ihnen allen ein
+sehr nahes Verhältnis und freute sich immer wieder, bei ihnen zu
+sein. Aber so recht froh sah Heidi nie aus, und seine lustigen
+Augen waren nie mehr zu sehen.
+
+Es war die letzte Woche, welche die Großmama in Frankfurt zubringen
+wollte. Sie hatte eben nach Heidi gerufen, dass es auf ihre Stube
+komme; es war die Zeit, da Klara schlief. Als Heidi eintrat mit
+seinem großen Buch unter dem Arm, winkte ihm die Großmama, dass es
+ganz nahe zu ihr herankomme, legte das Buch weg und sagte: "Nun
+komm, Kind, und sag mir, warum bist du nicht fröhlich? Hast du
+immer noch denselben Kummer im Herzen?"
+
+"Ja", nickte Heidi.
+
+"Hast du ihn dem lieben Gott geklagt?"
+
+"Ja."
+
+"Und betest du nun alle Tage, dass alles gut werde und er dich froh
+mache?"
+
+"O nein, ich bete jetzt gar nie mehr."
+
+"Was sagst du mir, Heidi? Was muss ich hören? Warum betest du
+denn nicht mehr?"
+
+"Es nützt nichts, der liebe Gott hat nicht zugehört, und ich glaube
+es auch wohl", fuhr Heidi in einiger Aufregung weiter, "wenn nun am
+Abend so viele, viele Leute in Frankfurt alle miteinander beten, so
+kann der liebe Gott ja nicht auf alle Acht geben, und mich hat er
+gewiss gar nicht gehört."
+
+"So, wie weißt du denn das so sicher, Heidi?"
+
+"Ich habe alle Tage das Gleiche gebetet, manche Woche lang, und der
+liebe Gott hat es nie getan."
+
+"Ja, so geht's nicht zu, Heidi! Das musst du nicht meinen! Siehst
+du, der liebe Gott ist für uns alle ein guter Vater, der immer weiß,
+was gut für uns ist, wenn wir es gar nicht wissen. Wenn wir aber
+nun etwas von ihm haben wollen, das nicht gut für uns ist, so gibt
+er uns das nicht, sondern etwas viel Besseres, wenn wir fortfahren,
+so recht herzlich zu ihm zu beten, aber nicht gleich weglaufen und
+alles Vertrauen zu ihm verlieren. Siehst du, was du nun von ihm
+erbitten wolltest, das war in diesem Augenblick nicht gut für dich;
+der liebe Gott hat dich schon gehört, er kann alle Menschen auf
+einmal anhören und übersehen, siehst du, dafür ist er der liebe
+Gott und nicht ein Mensch wie du und ich. Und weil er nun wohl
+wusste, was für dich gut ist, dachte er bei sich: 'Ja, das
+Heidi soll schon einmal haben, wofür es bittet, aber erst dann,
+wenn es ihm gut ist, und so wie es darüber recht froh werden kann.
+Denn wenn ich jetzt tue, was es will, und es merkt nachher, dass es
+doch besser gewesen wäre, ich hätte ihm seinen Willen nicht getan,
+dann weint es nachher und sagt: Hätte mir doch der liebe Gott nur
+nicht gegeben, wofür ich bat, es ist gar nicht so gut, wie ich
+gemeint habe.' Und während nun der liebe Gott auf dich
+niedersah, ob du ihm auch recht vertrautest und täglich zu ihm
+kommest und betest und immer zu ihm aufsehest, wenn dir etwas fehlt,
+da bist du weggelaufen ohne alles Vertrauen, hast nie mehr gebetet
+und hast den lieben Gott ganz vergessen. Aber siehst du, wenn
+einer es so macht und der liebe Gott hört seine Stimme gar nie mehr
+unter den Betenden, so vergisst er ihn auch und lässt ihn gehen,
+wohin er will. Wenn es ihm dabei aber schlecht geht und er jammert:
+'Mir hilft aber auch gar niemand!', dann hat keiner
+Mitleiden mit ihm, sondern jeder sagt zu ihm: 'Du bist ja
+selbst vom lieben Gott weggelaufen, der dir helfen konnte!'
+Willst du's so haben, Heidi, oder willst du gleich wieder zum
+lieben Gott gehen und ihn um Verzeihung bitten, dass du so von ihm
+weggelaufen bist, und dann alle Tage zu ihm beten und ihm vertrauen,
+dass er alles gut für dich machen werde, so dass du auch wieder
+ein frohes Herz bekommen kannst?"
+
+Heidi hatte sehr aufmerksam zugehört; jedes Wort der Großmama fiel
+in sein Herz, denn zu ihr hatte das Kind ein unbedingtes Vertrauen.
+
+"Ich will jetzt gleich auf der Stelle gehen und den lieben Gott um
+Verzeihung bitten, und ich will ihn nie mehr vergessen", sagte
+Heidi reumütig.
+
+"So ist's recht, Kind, er wird dir auch helfen zur rechten Zeit,
+sei nur getrost!", ermunterte die Großmama, und Heidi lief sofort
+in sein Zimmer hinüber und betete ernstlich und reuig zum lieben
+Gott und bat ihn, dass er es doch nicht vergessen und auch wieder
+zu ihm niederschauen möge.--
+
+Der Tag der Abreise war gekommen, es war für Klara und Heidi ein
+trauriger Tag; aber die Großmama wusste es so einzurichten, dass
+sie gar nicht zum Bewusstsein kamen, dass es eigentlich ein
+trauriger Tag sei, sondern es war eher wie ein Festtag, bis die
+gute Großmama im Wagen davonfuhr. Da trat eine Leere und Stille im
+Hause ein, als wäre alles vorüber, und solange noch der Tag währte,
+saßen Klara und Heidi wie verloren da und wussten gar nicht, wie es
+nun weiter kommen sollte.
+
+Am folgenden Tag, als die Unterrichtsstunden vorbei und die Zeit da
+war, da die Kinder gewöhnlich zusammensaßen, trat Heidi mit seinem
+Buch unter dem Arm herein und sagte: "Ich will dir nun immer, immer
+vorlesen; willst du, Klara?"
+
+Der Klara war der Vorschlag recht für einmal, und Heidi machte sich
+mit Eifer an seine Tätigkeit. Aber es ging nicht lange, so hörte
+schon wieder alles auf, denn kaum hatte Heidi eine Geschichte zu
+lesen begonnen, die von einer sterbenden Großmutter handelte, als
+es auf einmal laut aufschrie: "Oh, nun ist die Großmutter tot!",
+und in ein jammervolles Weinen ausbrach, denn alles, was es las,
+war dem Heidi volle Gegenwart, und es glaubte nicht anders, als nun
+sei die Großmutter auf der Alm gestorben, und es klagte in immer
+lauterem Weinen: "Nun ist die Großmutter tot, und ich kann nie mehr
+zu ihr gehen, und sie hat nicht ein einziges Brötchen mehr bekommen!
+"
+
+Klara suchte immerfort dem Heidi zu erklären, dass es ja nicht die
+Großmutter auf der Alm sei, sondern eine ganz andere, von der diese
+Geschichte handle; aber auch, als sie endlich dazu gekommen war,
+dem aufgeregten Heidi diese Verwechslung klar zu machen, konnte es
+sich doch nicht beruhigen und weinte immer noch untröstlich weiter,
+denn der Gedanke war ihm nun im Herzen erwacht, die Großmutter
+könne ja sterben, während es so weit weg sei, und der Großvater
+auch noch, und wenn es dann nach einiger Zeit wieder heimkomme, so
+sei alles still und tot auf der Alm und es stehe ganz allein da und
+könne niemals mehr die sehen, die ihm lieb waren.
+
+Währenddessen war Fräulein Rottenmeier ins Zimmer getreten und
+hatte noch Klaras Bemühungen, Heidi über seinen Irrtum aufzuklären,
+mit angehört. Als das Kind aber immer noch nicht aufhören konnte
+zu schluchzen, trat sie mit sichtlichen Zeichen der Ungeduld zu den
+Kindern heran und sagte mit bestimmtem Ton: "Adelheid, nun ist des
+grundlosen Geschreis genug! Ich will dir eines sagen: Wenn du noch
+ein einziges Mal beim Lesen deiner Geschichten solchen Ausbrüchen
+den Lauf lässt, so nehme ich das Buch aus deinen Händen und für
+immer!"
+
+Das machte Eindruck. Heidi wurde ganz weiß vor Schrecken, das Buch
+war sein höchster Schatz. Es trocknete in größter Eile seine
+Tränen und schluckte und würgte sein Schluchzen mit Gewalt hinunter,
+so dass kein Tönchen mehr laut wurde. Das Mittel hatte geholfen,
+Heidi weinte nie mehr, was es auch lesen mochte; aber manchmal
+hatte es solche Anstrengungen zu machen, um sich zu überwinden und
+nicht aufzuschreien, dass Klara öfter ganz erstaunt sagte: "Heidi,
+du machst so schreckliche Grimassen, wie ich noch nie gesehen habe.
+" Aber die Grimassen machten keinen Lärm und fielen der Dame
+Rottenmeier nicht auf, und wenn Heidi seinen Anfall von
+verzweiflungsvoller Traurigkeit niedergerungen hatte, kam alles
+wieder ins Geleise für einige Zeit und war tonlos vorübergegangen.
+Aber seinen Appetit verlor Heidi so sehr und sah so mager und
+bleich aus, dass der Sebastian fast nicht ertragen konnte, das so
+mit anzusehen und Zeuge sein zu müssen, wie Heidi bei Tisch die
+schönsten Gerichte an sich vorübergehen ließ und nichts essen
+wollte. Er flüsterte ihm auch öfter ermunternd zu, wenn er ihm
+eine Schüssel hinhielt: "Nehmen von dem, Mamsellchen, 's ist
+vortrefflich. Nicht so! Einen rechten Löffel voll, noch einen!",
+und dergleichen väterlicher Räte mehr; aber es half nichts: Heidi
+aß fast gar nicht mehr, und wenn es sich am Abend auf sein Kissen
+legte, so hatte es augenblicklich alles vor Augen, was daheim war,
+und nur ganz leise weinte es dann vor Sehnsucht in sein Kissen
+hinein, so dass es gar niemand hören konnte.
+
+So ging eine lange Zeit dahin. Heidi wusste gar nie, ob es Sommer
+oder Winter sei, denn die Mauern und Fenster, die es aus allen
+Fenstern des Hauses Sesemann erblickte, sahen immer gleich aus, und
+hinaus kam es nur, wenn es Klara besonders gut ging und eine
+Ausfahrt im Wagen mit ihr gemacht werden konnte, die aber immer
+sehr kurz war, denn Klara konnte nicht vertragen, lang zu fahren.
+So kam man kaum aus den Mauern und Steinstraßen heraus, sondern
+kehrte gewöhnlich vorher wieder um und fuhr immerfort durch große,
+schöne Straßen, wo Häuser und Menschen in Fülle zu sehen waren,
+aber nicht Gras und Blumen, keine Tannen und keine Berge, und
+Heidis Verlangen nach dem Anblick der schönen gewohnten Dinge
+steigerte sich mit jedem Tage mehr, so dass es jetzt nur den Namen
+eines dieser Erinnerung weckenden Worte zu lesen brauchte, so war
+schon ein Ausbruch des Schmerzes nahe, und Heidi hatte mit aller
+Gewalt dagegen zu ringen. So waren Herbst und Winter vergangen,
+und schon blendete die Sonne wieder so stark auf die weißen Mauern
+am Hause gegenüber, dass Heidi ahnte, nun sei die Zeit nahe, da der
+Peter wieder zur Alm führe mit den Geißen, da die goldenen
+Cystusröschen glitzerten droben im Sonnenschein und allabendlich
+ringsum alle Berge im Feuer ständen. Heidi setzte sich in seinem
+einsamen Zimmer in einen Winkel und hielt sich mit beiden Händen
+die Augen zu, dass es den Sonnenschein drüben an der Mauer nicht
+sehe; und so saß es regungslos, sein brennendes Heimweh lautlos
+niederkämpfend, bis Klara wieder nach ihm rief.
+
+
+
+
+Im Hause Sesemann spukt's
+
+Seit einigen Tagen wanderte Fräulein Rottenmeier meistens
+schweigend und in sich gekehrt im Haus herum. Wenn sie um die Zeit
+der Dämmerung von einem Zimmer ins andere oder über den langen
+Korridor ging, schaute sie öfters um sich, gegen die Ecken hin und
+auch schnell einmal hinter sich, so, als denke sie, es könnte
+jemand leise hinter ihr herkommen und sie unversehens am Rock
+zupfen. So allein ging sie aber nur noch in den bewohnten Räumen
+herum. Hatte sie auf dem oberen Boden, wo die feierlich
+aufgerüsteten Gastzimmer lagen, oder gar in den unteren Räumen
+etwas zu besorgen, wo der große geheimnisvolle Saal war, in dem
+jeder Tritt einen weithin schallenden Widerhall gab und die alten
+Ratsherren mit den großen, weißen Kragen so ernsthaft und
+unverwandt auf einen niederschauten, da rief sie nun regelmäßig die
+Tinette herbei und sagte ihr, sie habe mitzukommen, im Fall etwas
+von dort herauf- oder von oben herunterzutragen wäre. Tinette
+ihrerseits machte es pünktlich ebenso; hatte sie oben oder unten
+irgendein Geschäft abzutun, so rief sie den Sebastian herbei und
+sagte ihm, er habe sie zu begleiten, es möchte etwas
+herbeizubringen sein, das sie nicht allein tragen könnte.
+Wunderbarerweise tat auch Sebastian akkurat dasselbe; wurde er in
+die abgelegenen Räume geschickt, so holte er den Johann herauf und
+wies ihn an, ihn zu begleiten, im Fall er nicht herbeischaffen
+könnte, was erforderlich sei. Und jedes folgte immer ganz willig
+dem Ruf, obschon eigentlich nie etwas herbeizutragen war, so dass
+jedes gut hätte allein gehen können; aber es war so, als denke der
+Herbeigerufene immer bei sich, er könne den anderen auch bald für
+denselben Dienst nötig haben. Während sich solches oben zutrug,
+stand unten die langjährige Köchin tiefsinnig bei ihren Töpfen und
+schüttelte den Kopf und seufzte: "Dass ich das noch erleben musste!"
+
+Es ging im Hause Sesemann seit einiger Zeit etwas ganz Seltsames
+und Unheimliches vor. Jeden Morgen, wenn die Dienerschaft
+herunterkam, stand die Haustür weit offen; aber weit und breit war
+niemand zu sehen, der mit dieser Erscheinung im Zusammenhang stehen
+konnte. In den ersten Tagen, da dies geschehen war, wurden gleich
+mit Schrecken alle Zimmer und Räume des Hauses durchsucht, um zu
+sehen, was alles gestohlen sei, denn man dachte, ein Dieb habe sich
+im Hause verstecken können und sei in der Nacht mit dem Gestohlenen
+entflohen; aber da war gar nichts fortgekommen, es fehlte im ganzen
+Hause nicht ein einziges Ding. Abends wurde nicht nur die Tür
+doppelt zugeriegelt, sondern es wurde noch der hölzerne Balken
+vorgeschoben--es half nichts: Am Morgen stand die Tür weit offen;
+und so früh nun auch die ganze Dienerschaft in ihrer Aufregung am
+Morgen herunterkommen mochte--die Tür stand offen, wenn auch
+ringsum alles noch im tiefen Schlaf lag und Fenster und Türen an
+allen anderen Häusern noch fest verrammelt waren. Endlich fassten
+sich der Johann und der Sebastian ein Herz und machten sich auf die
+dringenden Zureden der Dame Rottenmeier bereit, die Nacht unten in
+dem Zimmer, das an den großen Saal stieß, zuzubringen und zu
+erwarten, was geschehe. Fräulein Rottenmeier suchte mehrere Waffen
+des Herrn Sesemann hervor und übergab dem Sebastian eine große
+Liqueurflasche, damit Stärkung vorausgehen und gute Wehr nachfolgen
+könne, wo sie nötig sei.
+
+Die beiden setzten sich an dem festgesetzten Abend hin und fingen
+gleich an, sich Stärkung zuzutrinken, was sie erst sehr gesprächig
+und dann ziemlich schläfrig machte, worauf sie beide sich an die
+Sesselrücken lehnten und verstummten. Als die alte Turmuhr drüben
+zwölf schlug, ermannte sich Sebastian und rief seinen Kameraden an;
+der war aber nicht leicht zu erwecken; sooft ihn Sebastian anrief,
+legte er seinen Kopf von einer Seite der Sessellehne auf die andere
+und schlief weiter. Sebastian lauschte nunmehr gespannt, er war
+nun wieder ganz munter geworden. Es war alles mäuschenstill, auch
+von der Straße war kein Laut mehr zu hören. Sebastian entschlief
+nicht wieder, denn jetzt wurde es ihm sehr unheimlich in der großen
+Stille, und er rief den Johann nur noch mit gedämpfter Stimme an
+und rüttelte ihn von Zeit zu Zeit ein wenig. Endlich, als es
+droben schon ein Uhr geschlagen hatte, war der Johann wach geworden
+und wieder zum klaren Bewusstsein gekommen, warum er auf dem Stuhl
+sitze und nicht in seinem Bett liege. Jetzt fuhr er auf einmal
+sehr tapfer empor und rief: "Nun, Sebastian, wir müssen doch einmal
+hinaus und sehen, wie's steht; du wirst dich ja nicht fürchten.
+Nur mir nach."
+
+Johann machte die leicht angelehnte Zimmertür weit auf und trat
+hinaus. Im gleichen Augenblick blies aus der offenen Haustür ein
+scharfer Luftzug her und löschte das Licht aus, das der Johann in
+der Hand hielt. Dieser stürzte zurück, warf den hinter ihm
+stehenden Sebastian beinah rücklings ins Zimmer hinein, riss ihn
+dann mit, schlug die Tür zu und drehte in fieberhafter Eile den
+Schlüssel um, solang er nur umging. Dann riss er seine
+Streichhölzer hervor und zündete sein Licht wieder an. Sebastian
+wusste gar nicht recht, was vorgefallen war, denn hinter dem
+breiten Johann stehend, hatte er den Luftzug nicht so deutlich
+empfunden. Wie er aber jenen nun bei Licht besah, tat er einen
+Schreckensruf, denn der Johann war kreideweiß und zitterte wie
+Espenlaub. "Was ist's denn? Was war denn draußen?", fragte der
+Sebastian teilnehmend.
+
+"Sperrangelweit offen die Tür", keuchte Johann, "und auf der Treppe
+eine weiße Gestalt, siehst du, Sebastian, nur so die Treppe hinauf--
+husch und verschwunden."
+
+Dem Sebastian gruselte es den ganzen Rücken hinauf. Jetzt setzten
+sich die beiden ganz nah zusammen und regten sich nicht mehr, bis
+dass der neue Morgen da war und es auf der Straße anfing, lebendig
+zu werden. Dann traten sie zusammen hinaus, machten die weit offen
+stehende Haustür zu und stiegen dann hinauf, um Fräulein
+Rottenmeier Bericht zu erstatten über das Erlebte. Die Dame war
+auch schon zu sprechen, denn die Erwartung der zu vernehmenden
+Dinge hatte sie nicht mehr schlafen lassen. Sobald sie nun
+vernommen hatte, was vorgefallen war, setzte sie sich hin und
+schrieb einen Brief an Herrn Sesemann, wie er noch keinen erhalten
+hatte; er möge sich nur sogleich, ohne Verzug, aufmachen und nach
+Hause zurückkehren, denn da geschähen unerhörte Dinge. Dann wurde
+ihm das Vorgefallene mitgeteilt sowie auch die Nachricht, dass
+fortgesetzt die Tür jeden Morgen offen stehe; dass also keiner im
+Hause seines Lebens mehr sicher sei bei dergestalt allnächtlich
+offen stehender Hauspforte und dass man überhaupt nicht absehen
+könne, was für dunkle Folgen dieser unheimliche Vorgang noch nach
+sich ziehen könne. Herr Sesemann antwortete umgehend, es sei ihm
+unmöglich, so plötzlich alles liegen zu lassen und nach Hause zu
+kommen. Die Gespenstergeschichte sei ihm sehr befremdend, er hoffe
+auch, sie sei vorübergehend; sollte es indessen keine Ruhe geben,
+so möge Fräulein Rottenmeier an Frau Sesemann schreiben und sie
+fragen, ob sie nicht nach Frankfurt zu Hilfe kommen wollte; gewiss
+würde seine Mutter in kürzester Zeit mit den Gespenstern fertig,
+und diese trauten sich nachher sicher so bald nicht wieder, sein
+Haus zu beunruhigen. Fräulein Rottenmeier war nicht zufrieden mit
+dem Ton dieses Briefes; die Sache war ihr zu wenig ernst aufgefasst.
+Sie schrieb unverzüglich an Frau Sesemann, aber von dieser Seite
+her tönte es nicht eben befriedigender, und die Antwort enthielt
+einige ganz anzügliche Bemerkungen. Frau Sesemann schrieb, sie
+gedenke nicht, extra von Holstein nach Frankfurt hinunterzureisen,
+weil die Rottenmeier Gespenster sehe. Übrigens sei niemals ein
+Gespenst gesehen worden im Hause Sesemann, und wenn jetzt eines
+darin herumfahre, so könne es nur ein lebendiges sein, mit dem die
+Rottenmeier sich sollte verständigen können; wo nicht, so solle sie
+die Nachtwächter zu Hilfe rufen.
+
+Aber Fräulein Rottenmeier war entschlossen, ihre Tage nicht mehr in
+Schrecken zuzubringen, und sie wusste sich zu helfen. Bis dahin
+hatte sie den beiden Kindern nichts von der Geistererscheinung
+gesagt, denn sie befürchtete, die Kinder würden vor Furcht Tag und
+Nacht keinen Augenblick mehr allein bleiben wollen, und das konnte
+sehr unbequeme Folgen für sie haben. Jetzt ging sie stracks ins
+Studierzimmer hinüber, wo die beiden zusammensaßen, und erzählte
+mit gedämpfter Stimme von den nächtlichen Erscheinungen eines
+Unbekannten. Sofort schrie Klara auf, sie bleibe keinen Augenblick
+mehr allein, der Papa müsse nach Hause kommen und Fräulein
+Rottenmeier müsse zum Schlafen in ihr Zimmer hinüberziehen, und
+Heidi dürfe auch nicht mehr allein sein, sonst könne das Gespenst
+einmal zu ihm kommen und ihm etwas tun; sie wollten alle in (einem)
+Zimmer schlafen und die ganze Nacht das Licht brennen lassen, und
+Tinette müsste nebenan schlafen und der Sebastian und der Johann
+müssten auch herunterkommen und auf dem Korridor schlafen, dass sie
+gleich schreien und das Gespenst erschrecken könnten, wenn es etwa
+die Treppe heraufkommen wollte. Klara war sehr aufgeregt und
+Fräulein Rottenmeier hatte nun die größte Mühe, sie etwas zu
+beschwichtigen. Sie versprach ihr, sogleich an den Papa zu
+schreiben und auch ihr Bett in Klaras Zimmer stellen und sie nie
+mehr allein lassen zu wollen. Alle konnten sie nicht in demselben
+Raume schlafen, aber wenn Adelheid sich auch fürchten sollte, so
+müsste Tinette ihr Nachtlager bei ihr aufschlagen. Aber Heidi
+fürchtete sich mehr vor der Tinette als vor Gespenstern, von denen
+das Kind noch gar nie etwas gehört hatte, und es erklärte gleich,
+es fürchte das Gespenst nicht und wolle schon allein in seinem
+Zimmer bleiben. Hierauf eilte Fräulein Rottenmeier an ihren
+Schreibtisch und schrieb an Herrn Sesemann, die unheimlichen
+Vorgänge im Hause, die allnächtlich sich wiederholten, hätten die
+zarte Konstitution seiner Tochter dergestalt erschüttert, dass die
+schlimmsten Folgen zu befürchten seien; man habe Beispiele von
+plötzlich eintretenden epileptischen Zufällen oder Veitstanz in
+solchen Verhältnissen, und seine Tochter sei allem ausgesetzt, wenn
+dieser Zustand des Schreckens im Hause nicht gehoben werde.
+
+Das half. Zwei Tage darauf stand Herr Sesemann vor seiner Tür und
+schellte dergestalt an seiner Hausglocke, dass alles zusammenlief
+und einer den anderen anstarrte, denn man glaubte nicht anders, als
+nun lasse der Geist frecherweise noch vor Nacht seine boshaften
+Stücke aus. Sebastian guckte ganz behutsam durch einen halb
+geöffneten Laden von oben herunter; in dem Augenblick schellte es
+noch einmal so nachdrücklich, dass jeder unwillkürlich eine
+Menschenhand hinter dem tüchtigen Ruck vermutete. Sebastian hatte
+die Hand erkannt, stürzte durchs Zimmer, kopfüber die Treppe
+hinunter, kam aber unten wieder auf die Füße und riss die Haustür
+auf. Herr Sesemann grüßte kurz und stieg ohne weiteres nach dem
+Zimmer seiner Tochter hinauf. Klara empfing den Papa mit einem
+lauten Freudenruf, und als er sie so munter und völlig unverändert
+sah, glättete sich seine Stirn, die er vorher sehr zusammengezogen
+hatte, und immer mehr, als er nun von ihr selbst hörte, sie sei so
+wohl wie immer und sie sei so froh, dass er gekommen sei, dass es
+ihr jetzt ganz recht sei, dass ein Geist im Haus herumfahre, weil
+er doch daran schuld sei, dass der Papa heimkommen musste.
+
+"Und wie führt sich das Gespenst weiter auf, Fräulein Rottenmeier?",
+fragte nun Herr Sesemann mit einem lustigen Ausdruck in den
+Mundwinkeln.
+
+"Nein, Herr Sesemann", entgegnete die Dame ernst, "es ist kein
+Scherz. Ich zweifle nicht daran, dass morgen Herr Sesemann nicht
+mehr lachen wird; denn was in dem Hause vorgeht, deutet auf
+Fürchterliches, das hier in vergangener Zeit muss vorgegangen und
+verheimlicht worden sein."
+
+"So, davon weiß ich nichts", bemerkte Herr Sesemann, "muss aber
+bitten, meine völlig ehrenwerten Ahnen nicht verdächtigen zu wollen.
+Und nun rufen Sie mir den Sebastian ins Esszimmer, ich will
+allein mit ihm reden."
+
+Herr Sesemann ging hinüber und Sebastian erschien. Es war Herrn
+Sesemann nicht entgangen, dass Sebastian und Fräulein Rottenmeier
+sich nicht eben mit Zuneigung betrachteten; so hatte er seine
+Gedanken.
+
+"Komm Er her, Bursche", winkte er dem Eintretenden entgegen, "und
+sag Er mir nun ganz ehrlich: Hat Er nicht etwa selbst ein wenig
+Gespenst gespielt, so um Fräulein Rottenmeier etwas Kurzweil zu
+machen, he?"
+
+"Nein, meiner Treu, das muss der gnädige Herr nicht glauben; es ist
+mir selbst nicht ganz gemütlich bei der Sache", entgegnete
+Sebastian mit unverkennbarer Ehrlichkeit.
+
+"Nun, wenn es so steht, so will ich morgen Ihm und dem tapferen
+Johann zeigen, wie Gespenster beim Licht aussehen. Schäme Er sich,
+Sebastian, ein junger, kräftiger Bursch, wie Er ist, vor
+Gespenstern davonzulaufen! Nun geh Er unverzüglich zu meinem alten
+Freund, Doktor Classen: meine Empfehlung und er möchte unfehlbar
+heut Abend neun Uhr bei mir erscheinen; ich sei extra von Paris
+hergereist, um ihn zu konsultieren. Er müsse die Nacht bei mir
+wachen, so schlimm sei's; er solle sich richten! Verstanden,
+Sebastian?"
+
+"Jawohl, jawohl! Der gnädige Herr kann sicher sein, dass ich's gut
+mache." Damit entfernte sich Sebastian, und Herr Sesemann kehrte zu
+seinem Töchterchen zurück, um ihr alle Furcht vor einer Erscheinung
+zu benehmen, die er noch heute ins nötige Licht stellen wollte.
+
+Punkt neun Uhr, als die Kinder zur Ruhe gegangen und auch Fräulein
+Rottenmeier sich zurückgezogen hatte, erschien der Doktor, der
+unter seinen grauen Haaren noch ein recht frisches Gesicht und zwei
+lebhaft und freundlich blickende Augen zeigte. Er sah etwas
+ängstlich aus, brach aber gleich nach seiner Begrüßung in ein
+helles Lachen aus und sagte, seinem Freunde auf die Schulter
+klopfend: "Nun, nun, für einen, bei dem man wachen soll, siehst du
+noch leidlich aus, Alter."
+
+"Nur Geduld, Alter", gab Herr Sesemann zurück; "derjenige, für den
+du wachen musst, wird schon schlimmer aussehen, wenn wir ihn erst
+abgefangen haben."
+
+"Also doch ein Kranker im Haus und dazu einer, der eingefangen
+werden muss?"
+
+"Weit schlimmer, Doktor, weit schlimmer. Ein Gespenst im Hause,
+bei mir spukt's!"
+
+Der Doktor lachte laut auf.
+
+"Schöne Teilnahme das, Doktor!", fuhr Herr Sesemann fort; "schade,
+dass meine Freundin Rottenmeier sie nicht genießen kann. Sie ist
+fest überzeugt, dass ein alter Sesemann hier herumrumort und
+Schauertaten abbüßt."
+
+"Wie hat sie ihn aber nur kennen gelernt?", fragte der Doktor noch
+immer sehr erheitert.
+
+Herr Sesemann erzählte nun seinem Freunde den ganzen Vorgang und
+wie noch jetzt allnächtlich die Haustür geöffnet werde, nach der
+Angabe der sämtlichen Hausbewohner, und fügte hinzu, um für alle
+Fälle vorbereitet zu sein, habe er zwei gut geladene Revolver in
+das Wachtlokal legen lassen; denn entweder sei die Sache ein sehr
+unerwünschter Scherz, den sich vielleicht irgendein Bekannter der
+Dienerschaft mache, um die Leute des Hauses in Abwesenheit des
+Hausherrn zu erschrecken--dann könnte ein kleiner Schrecken, wie
+ein guter Schuss ins Leere, ihm nicht unheilsam sein--; oder auch
+es handle sich um Diebe, die auf diese Weise erst den Gedanken an
+Gespenster aufkommen lassen wollten, um nachher umso sicherer zu
+sein, dass niemand sich herauswage--in diesem Falle könnte eine
+gute Waffe auch nicht schaden.
+
+Während dieser Erklärungen waren die Herren die Treppe
+hinuntergestiegen und traten in dasselbe Zimmer ein, wo Johann und
+Sebastian auch gewacht hatten. Auf dem Tische standen einige
+Flaschen schönen Weines, denn eine kleine Stärkung von Zeit zu Zeit
+konnte nicht unerwünscht sein, wenn die Nacht da zugebracht werden
+musste. Daneben lagen die beiden Revolver, und zwei, ein helles
+Licht verbreitende Armleuchter standen mitten auf dem Tisch, denn
+so im Halbdunkel wollte Herr Sesemann das Gespenst denn doch nicht
+erwarten.
+
+Nun wurde die Tür ans Schloss gelehnt, denn zu viel Licht durfte
+nicht in den Korridor hinausfließen, es konnte das Gespenst
+verscheuchen. Jetzt setzten sich die Herren gemütlich in ihre
+Lehnstühle und fingen an, sich allerlei zu erzählen, nahmen auch
+hier und da dazwischen einen guten Schluck, und so schlug es zwölf
+Uhr, eh sie sich's versahen.
+
+"Das Gespenst hat uns gewittert und kommt wohl heut gar nicht",
+sagte der Doktor jetzt.
+
+"Nur Geduld, es soll erst um ein Uhr kommen", entgegnete der Freund.
+
+Das Gespräch wurde wieder aufgenommen. Es schlug ein Uhr. Ringsum
+war es völlig still, auch auf den Straßen war aller Lärm verklungen.
+Auf einmal hob der Doktor den Finger empor.
+
+"Pst, Sesemann, hörst du nichts?"
+
+Sie lauschten beide. Leise, aber ganz deutlich hörten sie, wie der
+Balken zurückgeschoben, dann der Schlüssel zweimal im Schloss
+umgedreht, jetzt die Tür geöffnet wurde. Herr Sesemann fuhr mit
+der Hand nach seinem Revolver.
+
+"Du fürchtest dich doch nicht?", sagte der Doktor und stand auf.
+
+"Behutsam ist besser", flüsterte Herr Sesemann, erfasste mit der
+Linken den Armleuchter mit drei Kerzen, mit der Rechten den
+Revolver und folgte dem Doktor, der, gleichermaßen mit Leuchter und
+Schießgewehr bewaffnet, voranging. Sie traten auf den Korridor
+hinaus.
+
+Durch die weit geöffnete Tür floss ein bleicher Mondschein herein
+und beleuchtete eine weiße Gestalt, die regungslos auf der Schwelle
+stand.
+
+"Wer da?", donnerte jetzt der Doktor heraus, dass es durch den
+ganzen Korridor hallte, und beide Herren traten nun mit Lichtern
+und Waffen an die Gestalt heran. Sie kehrte sich um und tat einen
+leisen Schrei. Mit bloßen Füßen im weißen Nachtkleidchen stand
+Heidi da, schaute mit verwirrten Blicken in die hellen Flammen und
+auf die Waffen und zitterte und bebte wie ein Blättlein im Winde
+von oben bis unten. Die Herren schauten einander in großem
+Erstaunen an.
+
+"Ich glaube wahrhaftig, Sesemann, es ist deine kleine
+Wasserträgerin", sagte der Doktor.
+
+"Kind, was soll das heißen?", fragte nun Herr Sesemann. "Was
+wolltest du tun? Warum bist du hier heruntergekommen?"
+
+Schneeweiß vor Schrecken stand Heidi vor ihm und sagte fast tonlos:
+"Ich weiß nicht."
+
+Jetzt trat der Doktor vor: "Sesemann, der Fall gehört in mein
+Gebiet; geh, setz dich einstweilen in deinen Lehnstuhl drinnen, ich
+will vor allem das Kind hinbringen, wo es hingehört."
+
+Damit legte er seinen Revolver auf den Boden, nahm das zitternde
+Kind ganz väterlich bei der Hand und ging mit ihm der Treppe zu.
+
+"Nicht fürchten, nicht fürchten", sagte er freundlich im
+Hinaufsteigen, "nur ganz ruhig sein, da ist gar nichts Schlimmes
+dabei, nur getrost sein."
+
+In Heidis Zimmer eingetreten, stellte der Doktor seinen Leuchter
+auf den Tisch, nahm Heidi auf den Arm, legte es in sein Bett hinein
+und deckte es sorgfältig zu. Dann setzte er sich auf den Sessel am
+Bett und wartete, bis Heidi ein wenig beruhigt war und nicht mehr
+an allen Gliedern bebte. Dann nahm er das Kind bei der Hand und
+sagte begütigend: "So, nun ist alles in Ordnung, nun sag mir auch
+noch, wo wolltest du denn hin?"
+
+"Ich wollte gewiss nirgends hin", versicherte Heidi; "ich bin auch
+gar nicht selbst hinuntergegangen, ich war nur auf einmal da."
+
+"So, so, und hast du etwa geträumt in der Nacht, weißt du, so, dass
+du deutlich etwas sahst und hörtest?"
+
+"Ja, jede Nacht träumt es mir und immer gleich. Dann mein ich, ich
+sei beim Großvater, und draußen hör ich's in den Tannen sausen und
+denke: Jetzt glitzern so schön die Sterne am Himmel, und ich laufe
+geschwind und mache die Tür auf an der Hütte und da ist's so schön!
+Aber wenn ich erwache, bin ich immer noch in Frankfurt." Heidi
+fing schon an zu kämpfen und zu schlucken an dem Gewicht, das den
+Hals hinaufstieg.
+
+"Hm, und tut dir denn auch nichts weh, nirgends? Nicht im Kopf
+oder im Rücken?"
+
+"O nein, nur hier drückt es so wie ein großer Stein immerfort."
+
+"Hm, etwa so, wie wenn man etwas gegessen hat und wollte es nachher
+lieber wieder zurückgeben?"
+
+"Nein, so nicht, aber so schwer, wie wenn man stark weinen sollte."
+
+"So, so, und weinst du denn so recht heraus?"
+
+"O nein, das darf man nicht, Fräulein Rottenmeier hat es verboten."
+
+"Dann schluckst du's herunter zum andern, nicht wahr, so? Richtig!
+Nun, du bist doch recht gern in Frankfurt, nicht?"
+
+"O ja", war die leise Antwort; sie klang aber so, als bedeute sie
+eher das Gegenteil.
+
+"Hm, und wo hast du mit deinem Großvater gelebt?"
+
+"Immer auf der Alm."
+
+"So, da ist's doch nicht so besonders kurzweilig, eher ein wenig
+langweilig, nicht?"
+
+"O nein, da ist's so schön, so schön!" Heidi konnte nicht weiter;
+die Erinnerung, die eben durchgemachte Aufregung, das lang
+verhaltene Weinen überwältigten die Kräfte des Kindes; gewaltsam
+stürzten ihm die Tränen aus den Augen und es brach in ein lautes,
+heftiges Schluchzen aus.
+
+Der Doktor stand auf; er legte freundlich Heidis Kopf auf das
+Kissen nieder und sagte: "So, noch ein klein wenig weinen, das kann
+nichts schaden, und dann schlafen, ganz fröhlich einschlafen;
+morgen wird alles gut." Dann verließ er das Zimmer.
+
+Wieder unten in die Wachtstube eingetreten, ließ er sich dem
+harrenden Freunde gegenüber in den Lehnstuhl nieder und erklärte
+dem mit gespannter Erwartung Lauschenden: "Sesemann, dein kleiner
+Schützling ist erstens mondsüchtig; völlig unbewusst hat er dir
+allnächtlich als Gespenst die Haustür aufgemacht und deiner ganzen
+Mannschaft die Fieber des Schreckens ins Gebein gejagt. Zweitens
+wird das Kind vom Heimweh verzehrt, so dass es schon jetzt fast zum
+Geripplein abgemagert ist und es noch völlig werden würde; also
+schnelle Hilfe! Für das erste Übel und die in hohem Grade
+stattfindende Nervenaufregung gibt es nur ein Heilmittel, nämlich,
+dass du sofort das Kind in die heimatliche Bergluft
+zurückversetzest; für das zweite gibt's ebenfalls nur (eine)
+Medizin, nämlich ganz dieselbe. Demnach reist das Kind morgen ab,
+das ist mein Rezept."
+
+Herr Sesemann war aufgestanden. In größter Aufregung lief er das
+Zimmer auf und ab; jetzt brach er aus: "Mondsüchtig! Krank!
+Heimweh! Abgemagert in meinem Hause! Das alles in meinem Hause!
+Und niemand sieht zu und weiß etwas davon! Und du, Doktor, du
+meinst, das Kind, das frisch und gesund in mein Haus gekommen ist,
+schicke ich elend und abgemagert seinem Großvater zurück? Nein,
+Doktor, das kannst du nicht verlangen, das tu ich nicht, das werde
+ich nie tun. Jetzt nimm das Kind in die Hand, mach Kuren mit ihm,
+mach, was du willst, aber mach es mir heil und gesund, dann will
+ich es heimschicken, wenn es will; aber erst hilf du!"
+
+"Sesemann", entgegnete der Doktor ernsthaft, "bedenke, was du tust!
+Dieser Zustand ist keine Krankheit, die man mit Pulvern und Pillen
+heilt. Das Kind hat keine zähe Natur, indessen, wenn du es jetzt
+gleich wieder in die kräftige Bergluft hinaufschickst, an die es
+gewöhnt ist, so kann es wieder völlig gesunden; wenn nicht--du
+willst nicht, dass das Kind dem Großvater unheilbar oder gar nicht
+mehr zurückkomme?"
+
+Herr Sesemann war erschrocken stehen geblieben: "Ja, wenn du so
+redest, Doktor, dann ist nur (ein) Weg, dann muss sofort gehandelt
+werden." Mit diesen Worten nahm Herr Sesemann den Arm seines
+Freundes und wanderte mit ihm hin und her, um die Sache noch weiter
+zu besprechen. Dann brach der Doktor auf, um nach Hause zu gehen,
+denn es war unterdessen viel Zeit vergangen, und durch die Haustür,
+die diesmal vom Herrn des Hauses aufgeschlossen wurde, drang schon
+der helle Morgenschimmer herein.
+
+
+
+
+Am Sommerabend die Alm hinan
+
+Herr Sesemann stieg in großer Erregtheit die Treppe hinauf und
+wanderte mit festem Schritt zum Schlafgemach der Dame Rottenmeier.
+Hier klopfte er so ungewöhnlich kräftig an die Tür, dass die
+Bewohnerin mit einem Schreckensruf aus dem Schlaf auffuhr. Sie
+hörte die Stimme des Hausherrn draußen: "Bitte sich zu beeilen und
+im Esszimmer zu erscheinen, es muss sofort eine Abreise vorbereitet
+werden."
+
+Fräulein Rottenmeier schaute auf ihre Uhr, es war halb fünf des
+Morgens; zu solcher Stunde war sie in ihrem Leben noch nie
+aufgestanden. Was konnte nur vorgefallen sein? Vor Neugierde und
+angstvoller Erwartung nahm sie alles verkehrt in die Hand und kam
+durchaus nicht vorwärts, denn was sie einmal auf den Leib gebracht
+hatte, suchte sie nachher rastlos im Zimmer herum.
+
+Unterdessen ging Herr Sesemann den Korridor entlang und zog mit
+aller Kraft an jedem Glockenzug, der je für die verschiedenen
+Glieder der Dienerschaft angebracht war, so dass in jedem der
+betreffenden Zimmer eine Schreckensgestalt aus dem Bett sprang und
+verkehrt in die Kleider fuhr, denn einer wie der andere dachte
+sogleich, das Gespenst habe irgendwie den Hausherrn gepackt und
+dies sei sein Hilferuf. So kamen sie nach und nach, einer
+schauerlicher aussehend als der andere, herunter und stellten sich
+mit Erstaunen vor den Hausherrn hin, denn dieser ging frisch und
+munter im Esszimmer auf und ab und sah keineswegs aus, als habe ihn
+ein Gespenst erschreckt. Johann wurde sofort hingeschickt, Pferde
+und Wagen in Ordnung zu bringen und sie nachher vorzuführen.
+Tinette erhielt den Auftrag, sogleich Heidi aufzuwecken und es in
+den Stand zu stellen, eine Reise anzutreten. Sebastian erhielt den
+Auftrag, nach dem Hause zu eilen, wo Heidis Base im Dienst stand,
+und diese herbeizuholen. Fräulein Rottenmeier war unterdessen
+zurechtgekommen mit ihrem Anzug, und alles saß, wie es musste, nur
+die Haube saß verkehrt auf dem Kopf, so dass es von weitem aussah,
+als sitze ihr das Gesicht auf dem Rücken. Herr Sesemann schrieb
+den rätselhaften Anblick dem frühen Schlafbrechen zu und ging
+unverweilt an die Geschäftsverhandlungen. Er erklärte der Dame,
+sie habe ohne Zögern einen Koffer zur Stelle zu schaffen, die
+sämtliche Habe des Schweizerkindes hineinzupacken--so nannte Herr
+Sesemann gewöhnlich das Heidi, dessen Name ihm etwas ungewohnt war--
+, dazu noch einen guten Teil von Klaras Zeug, damit das Kind was
+Rechtes mitbringe; es müsse aber alles schnell und ohne langes
+Besinnen vor sich gehen.
+
+Fräulein Rottenmeier blieb vor Überraschung wie in den Boden
+eingewurzelt stehen und starrte Herrn Sesemann an. Sie hatte
+erwartet, er wolle ihr im Vertrauen die Mitteilung einer
+schauerlichen Geistergeschichte machen, die er in der Nacht erlebt
+und die sie eben jetzt bei dem hellen Morgenlicht nicht ungern
+gehört hätte; stattdessen diese völlig prosaischen und dazu noch
+sehr unbequemen Aufträge. So schnell konnte sie das Unerwartete
+nicht bewältigen. Sprachlos stand sie immer noch da und erwartete
+ein Weiteres.
+
+Aber Herr Sesemann hatte keine Erklärungen im Sinn; er ließ die
+Dame stehen, wo sie stand, und ging nach dem Zimmer seiner Tochter.
+Wie er vermutet hatte, war diese durch die ungewöhnliche Bewegung
+im Hause wach geworden und lauschte nach allen Seiten hin, was wohl
+vorgehe. Der Vater setzte sich nun an ihr Bett und erzählte ihr
+den ganzen Verlauf der Geistererscheinung und dass Heidi nach des
+Doktors Ausspruch sehr angegriffen sei und wohl nach und nach seine
+nächtlichen Wanderungen ausdehnen, vielleicht gar das Dach
+besteigen würde, was dann mit den höchsten Gefahren verbunden wäre.
+Er habe also beschlossen, das Kind sofort heimzuschicken, denn
+solche Verantwortung könne er nicht auf sich nehmen, und Klara
+müsse sich dareinfinden, sie sehe ja ein, dass es nicht anders sein
+könne.
+
+Klara war sehr schmerzlich überrascht von der Mitteilung und wollte
+erst allerlei Auswege finden, aber es half nichts, der Vater blieb
+fest bei seinem Entschluss, versprach aber, im nächsten Jahre mit
+Klara nach der Schweiz zu reisen, wenn sie nun recht vernünftig sei
+und keinen Jammer erhebe. So ergab sich Klara in das
+Unvermeidliche, begehrte aber zum Ersatz, dass der Koffer für Heidi
+in ihr Zimmer gebracht und da gepackt werde, damit sie
+hineinstecken könne, was ihr Freude mache, was der Papa sehr gern
+bewilligte, ja er ermunterte Klara noch, dem Kinde eine schöne
+Aussteuer zurechtzumachen. Unterdessen war die Base Dete angelangt
+und stand in großer Erwartung im Vorzimmer, denn dass sie um diese
+ungewöhnliche Zeit einberufen worden war, musste etwas
+Außerordentliches bedeuten. Herr Sesemann trat zu ihr heraus und
+erklärte ihr, wie es mit Heidi stehe und dass er wünsche, sie
+möchte das Kind sofort, gleich heute noch, nach Hause bringen. Die
+Base sah sehr enttäuscht aus; diese Nachricht hatte sie nicht
+erwartet. Sie erinnerte sich auch noch recht wohl der Worte, die
+ihr der Öhi mit auf den Weg gegeben hatte, dass sie ihm nie mehr
+vor die Augen kommen solle, und so das Kind dem Alten einmal
+bringen und dann nehmen und dann wiederbringen, das schien ihr
+nicht ganz geraten zu sein. Sie besann sich also nicht lange,
+sondern sagte mit großer Beredsamkeit, heute wäre es ihr leider
+völlig unmöglich, die Reise anzutreten, und morgen könnte sie noch
+weniger daran denken, und die Tage darauf wäre es am
+allerunmöglichsten, um der darauf folgenden Geschäfte willen, und
+nachher könnte sie dann gar nicht mehr. Herr Sesemann verstand die
+Sprache und entließ die Base ohne weiteres. Nun ließ er den
+Sebastian vortreten und erklärte ihm, er habe sich unverzüglich zur
+Reise zu rüsten; heute habe er mit dem Kinde bis nach Basel zu
+fahren, morgen bringe er es heim. Dann könne er sogleich wieder
+umkehren, zu berichten habe er nichts, ein Brief an den Großvater
+werde diesem alles erklären.
+
+"Nun aber noch eine Hauptsache, Sebastian", schloss Herr Sesemann,
+"und dass Er mir das pünktlich besorgt! Den Gasthof in Basel, den
+ich Ihm hier auf meine Karte geschrieben, kenne ich. Er weist
+meine Karte vor, dann wird Ihm ein gutes Zimmer angewiesen werden
+für das Kind; für sich selbst wird Er schon sorgen. Dann geht Er
+erst in des Kindes Zimmer hinein und verrammelt alle Fenster so
+vollständig, dass nur große Gewalt sie aufzubringen vermöchte. Ist
+das Kind zu Bett, so geht Er und schließt von außen die Tür ab,
+denn das Kind wandert herum in der Nacht und könnte Gefahr laufen
+in dem fremden Haus, wenn es etwa hinausginge und die Haustür
+aufmachen wollte; versteht Er das?"
+
+"Ah! Ah! Ah! Das war's? So war's?", stieß Sebastian jetzt in
+größter Verwunderung aus, denn es war ihm eben ein großes Licht
+aufgegangen über die Geistererscheinung.
+
+"Ja, so war's! Das war's! Und Er ist ein Hasenfuß, und dem Johann
+kann Er sagen, er sei desgleichen und alle miteinander eine
+lächerliche Mannschaft." Damit ging Herr Sesemann nach seiner Stube,
+setzte sich hin und schrieb einen Brief an den Alm-Öhi.
+
+Sebastian war verdutzt mitten im Zimmer stehen geblieben und
+wiederholte jetzt zu öfteren Malen in seinem Innern: "Hätt ich mich
+doch von dem Feigling von einem Johann nicht in die Wachtstube
+hineinreißen lassen, sondern wäre dem weißen Figürchen nachgegangen,
+was ich doch jetzt unzweifelhaft tun würde!", denn jetzt
+beleuchtete die helle Sonne jeden Winkel der hellgrauen Stube mit
+voller Klarheit.
+
+Unterdessen stand Heidi völlig ahnungslos in seinem
+Sonntagsröckchen und wartete ab, was geschehen sollte, denn die
+Tinette hatte es nur aus dem Schlafe aufgerüttelt, die Kleider aus
+dem Schrank genommen und das Anziehen gefördert, ohne ein Wort zu
+sagen. Sie sprach niemals mit dem ungebildeten Heidi, denn das war
+ihr zu gering.
+
+Herr Sesemann trat mit seinem Brief ins Esszimmer ein, wo das
+Frühstück bereitstand, und rief: "Wo ist das Kind?"
+
+Heidi wurde gerufen. Als es zu Herrn Sesemann herantrat, um ihm
+'guten Morgen' zu sagen, schaute er ihm fragend ins
+Gesicht: "Nun, was sagst du denn dazu, Kleine?"
+
+Heidi blickte verwundert zu ihm auf.
+
+"Du weißt am Ende noch gar nichts", lachte Herr Sesemann. "Nun,
+heut gehst du heim, jetzt gleich."
+
+"Heim?", wiederholte Heidi tonlos und wurde schneeweiß, und eine
+kleine Weile konnte es gar keinen Atem mehr holen, so stark wurde
+sein Herz von dem Eindruck gepackt.
+
+"Nun, willst du etwa nichts wissen davon?", fragte Herr Sesemann
+lächelnd.
+
+"O ja, ich will schon", kam jetzt heraus, und nun war Heidi
+dunkelrot geworden.
+
+"Gut, gut", sagte Herr Sesemann ermunternd, indem er sich setzte
+und Heidi winkte, dasselbe zu tun. "Und nun tüchtig frühstücken
+und hernach in den Wagen und fort."
+
+Aber Heidi konnte keinen Bissen herunterbringen, wie es sich auch
+zwingen wollte aus Gehorsam; es war in einem Zustand von Aufregung,
+dass es gar nicht wusste, ob es wache oder träume und ob es
+vielleicht wieder auf einmal erwachen und im Nachthemdchen an der
+Haustür stehen werde.
+
+"Sebastian soll reichlich Proviant mitnehmen", rief Herr Sesemann
+Fräulein Rottenmeier zu, die eben eintrat; "das Kind kann nicht
+essen, begreiflicherweise.--Geh hinüber zu Klara, bis der Wagen
+vorfährt", setzte er freundlich, zu Heidi gewandt, hinzu.
+
+Das war Heidis Wunsch: Es sprang hinüber. Mitten in Klaras Zimmer
+war ein ungeheurer Koffer zu sehen, noch stand dessen Deckel weit
+offen.
+
+"Komm, Heidi, komm", rief ihm Klara entgegen. "Sieh, was ich dir
+habe einpacken lassen, komm, freut's dich?"
+
+Und sie nannte ihm eine ganze Menge von Dingen, Kleider und
+Schürzen, Tücher und Nähgerät, "und sieh hier, Heidi", und Klara
+hob triumphierend einen Korb in die Höhe. Heidi guckte hinein und
+sprang hoch auf vor Freude, denn drinnen lagen wohl zwölf schöne,
+weiße, runde Brötchen, alle für die Großmutter. Die Kinder
+vergaßen in ihrem Jubel ganz, dass nun der Augenblick komme, da sie
+sich trennen mussten, und als mit einem Mal der Ruf erschallte:
+"Der Wagen ist bereit!"--da war keine Zeit mehr zum Traurigwerden.
+Heidi lief in sein Zimmer, da musste noch ein schönes Buch von der
+Großmama liegen, niemand konnte es eingepackt haben, denn es lag
+unter dem Kopfkissen, weil Heidi Tag und Nacht sich nicht davon
+trennen konnte. Das wurde in den Korb auf die Brötchen gelegt.
+Dann machte es seinen Schrank auf; noch suchte es nach einem Gute,
+das man vielleicht auch nicht eingepackt hatte. Richtig--auch das
+alte rote Tuch lag noch da, Fräulein Rottenmeier hatte es zu gering
+erachtet, um mit eingepackt zu werden. Heidi wickelte es um einen
+anderen Gegenstand und legte es zuoberst auf den Korb, so dass das
+rote Paket sehr sichtbar zur Erscheinung kam. Dann setzte es sein
+schönes Hütchen auf und verließ sein Zimmer.
+
+Die beiden Kinder mussten sich schnell Lebewohl sagen, denn Herr
+Sesemann stand schon da, um Heidi nach dem Wagen zu bringen.
+Fräulein Rottenmeier stand oben an der Treppe, um hier Heidi zu
+verabschieden. Als sie das seltsame rote Bündelchen erblickte,
+nahm sie es schnell aus dem Korb heraus und warf es auf den Boden.
+
+"Nein, Adelheid", sagte sie tadelnd, "so kannst du nicht reisen von
+diesem Hause aus; solches Zeug brauchst du überhaupt nicht
+mitzuschleppen. Nun lebe wohl."
+
+Auf dieses Verbot hin durfte Heidi sein Bündelchen nicht wieder
+aufnehmen, aber es schaute mit einem flehentlichen Blick zu dem
+Hausherrn auf, so, als wollte man ihm seinen größten Schatz nehmen.
+
+"Nein, nein", sagte Herr Sesemann in sehr bestimmtem Tone, "das
+Kind soll mit heimtragen, was ihm Freude macht, und sollte es auch
+junge Katzen oder Schildkröten mit fortschleppen, so wollen wir uns
+darüber nicht aufregen, Fräulein Rottenmeier."
+
+Heidi hob eilig sein Bündelchen wieder vom Boden auf, und Dank und
+Freude leuchteten ihm aus den Augen. Unten am Wagen reichte Herr
+Sesemann dem Kinde die Hand und sagte ihm mit freundlichen Worten,
+sie würden seiner gedenken, er und seine Tochter Klara; er wünschte
+ihm alles Gute auf den Weg, und Heidi dankte recht schön für alle
+Guttaten, die ihm zuteil geworden waren, und zum Schluss sagte es:
+"Und den Herrn Doktor lasse ich tausendmal grüßen und ihm auch
+vielmals danken." Denn es hatte sich wohl gemerkt, wie er gestern
+Abend gesagt hatte: "Und morgen wird alles gut." Nun war es so
+gekommen, und Heidi dachte, er habe dazu geholfen.
+
+Jetzt wurde das Kind in den Wagen gehoben und der Korb und die
+Provianttasche und der Sebastian kamen nach. Herr Sesemann rief
+noch einmal freundlich: "Glückliche Reise!", und der Wagen rollte
+davon.
+
+Bald nachher saß Heidi in der Eisenbahn und hielt unbeweglich
+seinen Korb auf dem Schoße fest, denn es wollte ihn nicht einen
+Augenblick aus den Händen lassen, seine kostbaren Brötchen für die
+Großmutter waren ja darin, die musste es sorgfältig hüten und von
+Zeit zu Zeit einmal wieder ansehen und sich freuen darüber. Heidi
+saß mäuschenstille während mehrerer Stunden, denn erst jetzt kam es
+recht zum Bewusstsein, dass es auf dem Wege sei heim zum Großvater,
+auf die Alm, zur Großmutter, zum Geißenpeter, und nun kam ihm alles
+vor Augen, eins nach dem anderen, was es wieder sehen werde und wie
+alles aussehen werde daheim, und dabei stiegen ihm wieder neue
+Gedanken auf, und auf einmal sagte es ängstlich: "Sebastian, ist
+auch sicher die Großmutter auf der Alm nicht gestorben?"
+
+"Nein, nein", beruhigte dieser, "wollen's nicht hoffen, wird schon
+noch am Leben sein."
+
+Dann fiel Heidi wieder in sein Sinnen zurück; nur hier und da
+guckte es einmal in seinen Korb hinein, denn alle die Brötchen der
+Großmutter auf den Tisch legen war sein Hauptgedanke. Nach
+längerer Zeit sagte es wieder: "Sebastian, wenn man nur auch ganz
+sicher wissen könnte, dass die Großmutter noch am Leben ist."
+
+"Jawohl! Jawohl!", entgegnete der Begleiter halb schlafend; "Wird
+schon noch leben, wüsste auch gar nicht, warum nicht."
+
+Nach einiger Zeit drückte der Schlaf auch Heidis Augen zu, und nach
+der vergangenen unruhigen Nacht und dem frühen Aufstehen war es so
+schlafbedürftig, dass es erst wieder erwachte, als Sebastian es
+tüchtig am Arm schüttelte und ihm zurief: "Erwachen! Erwachen!
+Gleich aussteigen, in Basel angekommen!"
+
+Am folgenden Morgen ging's weiter, viele Stunden lang. Heidi saß
+wieder mit seinem Korb auf dem Schoß, den es um keinen Preis dem
+Sebastian übergeben wollte; aber heute sagte es gar nichts mehr,
+denn nun wurde mit jeder Stunde die Erwartung gespannter. Dann auf
+einmal, als Heidi gar nicht daran dachte, ertönte laut der Ruf:
+"Maienfeld!" Es sprang von seinem Sitz auf, und dasselbe tat
+Sebastian, der auch überrascht worden war. Jetzt standen sie
+draußen, der Koffer mit ihnen, und der Bahnzug pfiff weiter ins Tal
+hinein. Sebastian sah ihm wehmütig nach, denn er wäre viel lieber
+so sicher und ohne Mühe weitergereist, als dass er nun eine
+Fußpartie unternehmen sollte, die dazu noch mit einer
+Bergbesteigung enden musste, die sehr beschwerlich und dazu
+gefahrvoll sein konnte in diesem Lande, wo doch alles noch halb
+wild war, wie Sebastian annahm. Er schaute daher sehr vorsichtig
+um sich, wen er etwa beraten könnte über den sichersten Weg nach
+dem 'Dörfli'. Unweit des kleinen Stationsgebäudes
+stand ein kleiner Leiterwagen mit einem mageren Rösslein davor; auf
+diesen wurden von einem breitschultrigen Manne ein paar große Säcke
+aufgeladen, die mit der Bahn hergebracht worden waren. Sebastian
+trat zu ihm heran und brachte seine Frage nach dem sichersten Weg
+zum Dörfli vor.
+
+"Hier sind alle Wege sicher", war die kurze Antwort.
+
+Jetzt fragte Sebastian nach dem besten Wege, auf dem man gehen
+könne, ohne in die Abgründe zu stürzen, und auch wie man einen
+Koffer nach dem betreffenden Dörfli befördern könnte. Der Mann
+schaute nach dem Koffer hin und maß ihn ein wenig mit den Augen;
+dann erklärte er, wenn das Ding nicht zu schwer sei, so wolle er es
+auf seinen Wagen nehmen, da er selbst nach dem Dörfli fahre, und so
+gab noch ein Wort das andere, und endlich kamen die beiden überein,
+der Mann solle Kind und Koffer mit auf seinen Wagen nehmen, und
+nachher vom Dörfli aus könne das Kind am Abend mit irgendjemand auf
+die Alm geschickt werden.
+
+"Ich kann allein gehen, ich weiß schon den Weg vom Dörfli auf die
+Alm", sagte hier Heidi, das mit Aufmerksamkeit der Verhandlung
+zugehört hatte. Dem Sebastian fiel eine schwere Last vom Herzen,
+als er sich so auf einmal seiner Aussicht auf das Bergklettern
+entledigt sah. Er winkte nun Heidi geheimnisvoll auf die Seite und
+überreichte ihm hier eine schwere Rolle und einen Brief an den
+Großvater und erklärte ihm, die Rolle sei ein Geschenk von Herrn
+Sesemann, die müsse aber zuunterst in den Korb gesteckt werden,
+noch unter die Brötchen, und darauf müsse genau Acht gegeben werden,
+dass sie nicht verloren gehe, denn darüber würde Herr Sesemann
+ganz fürchterlich böse und sein Leben lang nie mehr gut werden; das
+sollte das Mamsellchen nur ja bedenken.
+
+"Ich verliere sie schon nicht", sagte Heidi zuversichtlich und
+steckte die Rolle samt dem Brief zuallerunterst in den Korb hinein.
+Nun wurde der Koffer aufgeladen, und nachher hob Sebastian Heidi
+samt seinem Korb auf den hohen Sitz empor, reichte ihm seine Hand
+hinauf zum Abschied und ermahnte es noch einmal mit allerlei
+Zeichen, auf den Inhalt des Korbes ein Auge zu haben; denn der
+Führer war noch in der Nähe, und Sebastian war vorsichtig,
+besonders jetzt, da er wusste, er hätte eigentlich selbst das Kind
+an Ort und Stelle bringen sollen. Der Führer schwang sich jetzt
+neben Heidi auf den Sitz hinauf, und der Wagen rollte den Bergen zu,
+während Sebastian, froh über seine Befreiung von der gefürchteten
+Bergreise, sich am Stationshäuschen niedersetzte, um den
+zurückgehenden Bahnzug abzuwarten.
+
+Der Mann auf dem Wagen war der Bäcker vom Dörfli, welcher seine
+Mehlsäcke nach Hause fuhr. Er hatte Heidi nie gesehen, aber wie
+jedermann im Dörfli wusste er von dem Kinde, das man dem Alm-Öhi
+gebracht hatte; auch hatte er Heidis Eltern gekannt und sich gleich
+vorgestellt, er werde es mit dem viel besprochenen Kinde hier zu
+tun haben. Es wunderte ihn nun ein wenig, warum das Kind schon
+wieder heimkommen und während der Fahrt fing er nun mit Heidi ein
+Gespräch an: "Du wirst das Kind sein, das oben beim Alm-Öhi war,
+beim Großvater?"
+
+"Ja."
+
+"So ist es dir schlecht gegangen, dass du schon wieder von so weit
+her heimkommst?"
+
+"Nein, das ist es mir nicht; kein Mensch kann es so gut haben, wie
+man es in Frankfurt hat."
+
+"Warum läufst du denn heim?"
+
+"Nur weil es mir der Herr Sesemann erlaubt hat, sonst wär ich nicht
+heimgelaufen."
+
+"Pah, warum bist du denn aber nicht lieber dort geblieben, wenn man
+dir's erlaubt hat, heimzugehen?"
+
+"Weil ich tausendmal lieber heimwill zum Großvater auf die Alm als
+sonst alles auf der Welt."
+
+"Denkst vielleicht anders, wenn du hinaufkommst", brummte der
+Bäcker; "nimmt mich aber doch wunder", sagte er dann zu sich selbst,
+"es kann wissen, wie's ist."
+
+Nun fing er an zu pfeifen und sagte nichts mehr, und Heidi schaute
+um sich und fing an innerlich zu zittern vor Erregung, denn es
+erkannte die Bäume am Wege, und drüben standen die hohen Zacken des
+Falknis-Berges und schauten zu ihm herüber, so als grüßten sie es
+wie gute alte Freunde; und Heidi grüßte wieder, und mit jedem
+Schritt vorwärts wurde Heidis Erwartung gespannter, und es meinte,
+es müsse vom Wagen herunterspringen und aus allen Kräften laufen,
+bis es ganz oben wäre. Aber es blieb doch still sitzen und rührte
+sich nicht, aber alles zitterte an ihm. Jetzt fuhren sie im Dörfli
+ein, eben schlug die Glocke fünf Uhr. Augenblicklich sammelte sich
+eine Gesellschaft von Kindern und Frauen um den Wagen herum, und
+ein paar Nachbarn traten auch noch herzu, denn der Koffer und das
+Kind auf des Bäckers Wagen hatten die Aufmerksamkeit aller
+Umwohnenden auf sich gezogen, und jeder wollte wissen, woher und
+wohin und wem beide zugehörten. Als der Bäcker Heidi
+heruntergehoben hatte, sagte es eilig: "Danke, der Großvater holt
+dann schon den Koffer", und wollte davonrennen. Aber von allen
+Seiten wurde es festgehalten, und eine Menge von Stimmen fragten
+alle auf einmal, jede etwas Eigenes. Heidi drängte sich mit einer
+solchen Angst auf dem Gesichte durch die Leute, dass man ihm
+unwillkürlich Platz machte und es laufen ließ, und einer sagte zum
+anderen: "Du siehst ja, wie es sich fürchtet, es hat auch alle
+Ursache." Und dann fingen sie noch an, sich zu erzählen, wie der
+Alm-Öhi seit einem Jahr noch viel ärger geworden sei als vorher und
+mit keinem Menschen mehr ein Wort rede und ein Gesicht mache, als
+wolle er am liebsten jeden umbringen, der ihm in den Weg komme, und
+wenn das Kind auf der ganzen Welt noch wüsste wohin, so liefe es
+nicht in das alte Drachennest hinauf. Aber hier fiel der Bäcker in
+das Gespräch ein und sagte, er werde wohl mehr wissen als sie alle,
+und erzählte dann sehr geheimnisvoll, wie ein Herr das Kind bis
+nach Maienfeld gebracht und es ganz freundlich entlassen habe und
+auch gleich ohne Markten ihm den geforderten Fahrpreis und dazu
+noch ein Trinkgeld gegeben habe, und überhaupt könne er sicher
+sagen, dass es dem Kind wohl genug gewesen sei, wo es war, und es
+selbst begehrt habe, zum Großvater zurückzugehen. Diese Nachricht
+brachte eine große Verwunderung hervor und wurde nun gleich im
+ganzen Dörfli so verbreitet, dass noch am gleichen Abend kein Haus
+daselbst war, in dem man nicht davon redete, dass das Heidi aus
+allem Wohlleben zum Großvater zurückbegehrt habe.
+
+Heidi lief vom Dörfli bergan, so schnell es nur konnte; von Zeit zu
+Zeit musste es aber plötzlich stille stehen, denn es hatte ganz den
+Atem verloren; sein Korb am Arm war doch ziemlich schwer, und dazu
+ging es nun immer steiler, je höher hinauf es ging. Heidi hatte
+nur noch einen Gedanken: "Wird auch die Großmutter noch auf ihrem
+Plätzchen sitzen am Spinnrad in der Ecke, ist sie auch nicht
+gestorben unterdessen?" Jetzt erblickte Heidi die Hütte oben in der
+Vertiefung an der Alm, sein Herz fing an zu klopfen, Heidi rannte
+noch mehr, immer mehr und immer lauter schlug ihm das Herz. Jetzt
+war es oben--vor Zittern konnte es fast die Tür nicht aufmachen--
+doch jetzt--es sprang hinein bis mitten in die kleine Stube und
+stand da, völlig außer Atem, und brachte keinen Ton hervor.
+
+"Ach du mein Gott", tönte es aus der Ecke hervor, "so sprang unser
+Heidi herein, ach, wenn ich es noch ein Mal im Leben bei mir haben
+könnte! Wer ist hereingekommen?"
+
+"Da bin ich ja, Großmutter, da bin ich ja", rief Heidi jetzt und
+stürzte nach der Ecke und gleich auf seine Knie zu der Großmutter
+heran, fasste ihren Arm und ihre Hände und legte sich an sie und
+konnte vor Freude gar nichts mehr sagen. Erst war die Großmutter
+so überrascht, dass auch sie kein Wort hervorbringen konnte; dann
+fuhr sie mit der Hand streichelnd über Heidis Kraushaare hin, und
+nun sagte sie ein Mal über das andere: "Ja, ja, das sind seine
+Haare und es ist ja seine Stimme, ach du lieber Gott, dass du mich
+das noch erleben lässt!" Und aus den blinden Augen fielen ein paar
+große Freudentränen auf Heidis Hand nieder. "Bist du's auch, Heidi,
+bist du auch sicher wieder da?"
+
+"Ja, ja, sicher, Großmutter", rief Heidi nun mit aller Zuversicht,
+"weine nur nicht, ich bin ganz gewiss wieder da und komme alle Tage
+zu dir und gehe nie wieder fort, und du musst auch manchen Tag kein
+hartes Brot mehr essen, siehst du, Großmutter, siehst du?"
+
+Und Heidi packte nun aus seinem Korb ein Brötchen nach dem andern
+aus, bis es alle zwölf auf dem Schoß der Großmutter aufgehäuft
+hatte.
+
+"Ach Kind! Ach Kind! Was bringst du denn für einen Segen mit!",
+rief die Großmutter aus, als es nicht enden wollte mit den Brötchen
+und immer noch eines folgte. "Aber der größte Segen bist du mir
+doch selber, Kind!" Dann griff sie wieder in Heidis krause Haare
+und strich über seine heißen Wangen und sagte wieder: "Sag noch ein
+Wort, Kind, sag noch etwas, dass ich dich hören kann."
+
+Heidi erzählte nun der Großmutter, welche große Angst es habe
+ausstehen müssen, sie sei vielleicht gestorben unterdessen und habe
+nun gar nie die weißen Brötchen bekommen, und es könne nie, nie
+mehr zu ihr gehen.
+
+Jetzt trat Peters Mutter herein und blieb einen Augenblick
+unbeweglich stehen vor Erstaunen. Dann rief sie: "Sicher, es ist
+das Heidi, wie kann auch das sein!"
+
+Heidi stand auf und gab ihr die Hand, und die Brigitte konnte sich
+gar nicht genug verwundern darüber, wie Heidi aussehe, und ging um
+das Kind herum und sagte: "Großmutter, wenn du doch nur sehen
+könntest, was für ein schönes Röcklein das Heidi hat und wie es
+aussieht; man kennt es fast nicht mehr. Und das Federnhütlein auf
+dem Tisch gehört dir auch noch? Setz es doch einmal auf, so kann
+ich sehen, wie du drin aussiehst."
+
+"Nein, ich will nicht", erklärte Heidi, "du kannst es haben, ich
+brauche es nicht mehr, ich habe schon noch mein eigenes." Damit
+machte Heidi sein rotes Bündelchen auf und nahm sein altes Hütchen
+daraus hervor, das auf der Reise zu den Knicken, die es schon
+vorher gehabt, noch einige bekommen hatte. Aber das kümmerte das
+Heidi wenig; es hatte ja nicht vergessen, wie der Großvater beim
+Abschied nachgerufen hatte, in einem Federnhut wolle er es niemals
+sehen; darum hatte Heidi sein Hütchen so sorgfältig aufgehoben,
+denn es dachte ja immer ans Heimgehen zum Großvater. Aber die
+Brigitte sagte, so einfältig müsse es nicht sein, es sei ja ein
+prächtiges Hütchen, das nehme sie nicht; man könnte es ja etwa dem
+Töchterlein vom Lehrer im Dörfli verkaufen und noch viel Geld
+bekommen, wenn es das Hütlein nicht tragen wolle. Aber Heidi blieb
+bei seinem Vorhaben und legte das Hütchen leise hinter die
+Großmutter in den Winkel, wo es ganz verborgen war. Dann zog Heidi
+auf einmal sein schönes Röcklein aus, und über das Unterröckchen,
+in dem es nun mit bloßen Armen dastand, band es das rote Halstuch,
+und nun fasste es die Hand der Großmutter und sagte: "Jetzt muss
+ich heim zum Großvater, aber morgen komm ich wieder zu dir; gute
+Nacht, Großmutter."
+
+"Ja, komm auch wieder, Heidi, komm auch morgen wieder", bat die
+Großmutter und drückte seine Hand zwischen den ihrigen und konnte
+das Kind fast nicht loslassen.
+
+"Warum hast du denn dein schönes Röcklein ausgezogen?", fragte die
+Brigitte.
+
+"Weil ich lieber so zum Großvater will, sonst kennt er mich
+vielleicht nicht mehr, du hast mich ja auch fast nicht gekannt
+darin."
+
+Die Brigitte ging noch mit Heidi vor die Tür hinaus, und hier sagte
+sie ein wenig geheimnisvoll zu ihm: "Den Rock hättest du schon
+anbehalten können, er hätte dich doch gekannt; aber sonst musst du
+dich in Acht nehmen; der Peterli sagt, der Alm-Öhi sei jetzt immer
+bös und rede kein Wort mehr."
+
+Heidi sagte 'gute Nacht' und stieg die Alm hinan mit
+seinem Korb am Arm. Die Abendsonne leuchtete ringsum auf die grüne
+Alm, und jetzt war auch drüben das große Schneefeld an der
+Schesaplana sichtbar geworden und strahlte herüber. Heidi musste
+alle paar Schritte wieder stille stehen und sich umkehren, denn die
+hohen Berge hatte es im Rücken beim Hinaufsteigen. Jetzt fiel ein
+roter Schimmer vor seinen Füßen auf das Gras, es kehrte sich um, da
+--so hatte es die Herrlichkeit nicht mehr im Sinn gehabt und auch
+nie so im Traum gesehen--die Felshörner am Falknis flammten zum
+Himmel auf, das weite Schneefeld glühte und rosenrote Wolken zogen
+darüber hin; das Gras rings auf der Alm war golden, von allen
+Felsen flimmerte und leuchtete es nieder und unten schwamm weithin
+das ganze Tal in Duft und Gold. Heidi stand mitten in der
+Herrlichkeit, und vor Freude und Wonne liefen ihm die hellen Tränen
+die Wangen herunter, und es musste die Hände falten und in den
+Himmel hinaufschauen und ganz laut dem lieben Gott danken, dass er
+es wieder heimgebracht hatte und dass alles, alles noch so schön
+sei und noch viel schöner, als es gewusst hatte, und dass alles
+wieder ihm gehöre; und Heidi war so glücklich und so reich in all
+der großen Herrlichkeit, dass es gar nicht Worte fand, dem lieben
+Gott genug zu danken. Erst als das Licht ringsum verglühte, konnte
+Heidi wieder von der Stelle weg; nun rannte es aber so den Berg
+hinan, dass es gar nicht lange dauerte, so erblickte es oben die
+Tannenwipfel über dem Dache und jetzt das Dach und die ganze Hütte,
+und auf der Bank an der Hütte saß der Großvater und rauchte sein
+Pfeifchen, und über die Hütte her wogten die alten Tannenwipfel und
+raschelten im Abendwind. Jetzt rannte das Heidi noch mehr, und
+bevor der Alm-Öhi nur recht sehen konnte, was da herankam, stürzte
+das Kind schon auf ihn hin, warf seinen Korb auf den Boden und
+umklammerte den Alten, und vor Aufregung des Wiedersehens konnte es
+nichts sagen, als nur immer ausrufen: "Großvater! Großvater!
+Großvater!"
+
+Der Großvater sagte auch nichts. Seit vielen Jahren waren ihm zum
+erstenmal wieder die Augen nass geworden, und er musste mit der
+Hand darüber fahren. Dann löste er Heidis Arme von seinem Hals,
+setzte das Kind auf seine Knie und betrachtete es einen Augenblick.
+"So, bist du wieder heimgekommen, Heidi", sagte er dann; "wie ist
+das? Besonders hoffärtig siehst du nicht aus, haben sie dich
+fortgeschickt?"
+
+"O nein, Großvater", fing Heidi nun mit Eifer an, "das musst du
+nicht glauben, sie waren alle so gut, die Klara und die Großmama
+und der Herr Sesemann; aber siehst du, Großvater, ich konnte es
+fast gar nicht mehr aushalten, bis ich wieder bei dir daheim sein
+könnte, und ich habe manchmal gemeint, ich müsse ganz ersticken, so
+hat es mich gewürgt; aber ich habe gewiss nichts gesagt, weil es
+undankbar war. Aber dann auf einmal an einem Morgen rief mich der
+Herr Sesemann ganz früh--aber ich glaube, der Herr Doktor war
+schuld daran--aber es steht vielleicht alles in dem Brief"--damit
+sprang Heidi auf den Boden und holte seinen Brief und seine Rolle
+aus dem Korb herbei und legte beide in die Hand des Großvaters.
+
+"Das gehört dir", sagte dieser und legte die Rolle neben sich auf
+die Bank. Dann nahm er den Brief und las ihn durch: Ohne ein Wort
+zu sagen, steckte er dann das Blatt in die Tasche.
+
+"Meinst, du könntest auch noch Milch trinken mit mir, Heidi?",
+fragte er nun, indem er das Kind bei der Hand nahm, um in die Hütte
+einzutreten. "Aber nimm dort dein Geld mit dir, da kannst du ein
+ganzes Bett daraus kaufen und Kleider für ein paar Jahre."
+
+"Ich brauch es gewiss nicht, Großvater", versicherte Heidi; "ein
+Bett hab ich schon, und Kleider hat mir Klara so viele eingepackt,
+dass ich gewiss nie mehr andere brauche."
+
+"Nimm's, nimm's, und leg's in den Schrank, du wirst's schon einmal
+brauchen können."
+
+Heidi gehorchte und hüpfte nun dem Großvater nach in die Hütte
+hinein, wo es vor Freude über das Wiedersehen in alle Winkel sprang
+und die Leiter hinauf--aber da stand es plötzlich still und rief
+in Betroffenheit von oben herunter: "Oh, Großvater, ich habe kein
+Bett mehr!"
+
+"Kommt schon wieder", tönte es von unten herauf, "wusste ja nicht,
+dass du wieder heimkommst; jetzt komm zur Milch!"
+
+Heidi kam herunter und setzte sich auf seinen hohen Stuhl am alten
+Platze, und nun erfasste es sein Schüsselchen und trank mit einer
+Begierde, als wäre etwas so Köstliches noch nie in seinen Bereich
+gekommen, und als es mit einem tiefen Atemzug das Schüsselchen
+hinstellte, sagte es: "So gut wie unsere Milch ist doch gar nichts
+auf der Welt, Großvater."
+
+Jetzt ertönte draußen ein schriller Pfiff; wie der Blitz schoss
+Heidi zur Tür hinaus. Da kam die ganze Schar der Geißen hüpfend,
+springend, Sätze machend von der Höhe herunter, mittendrin der
+Peter. Als er Heidi ansichtig wurde, blieb er auf der Stelle
+völlig wie angewurzelt stehen und starrte es sprachlos an. Heidi
+rief: "Guten Abend, Peter!", und stürzte mitten in die Geißen
+hinein: "Schwänli! Bärli! Kennt ihr mich noch?", und die Geißlein
+mussten seine Stimme gleich erkannt haben, denn sie rieben ihre
+Köpfe an Heidi und fingen an leidenschaftlich zu meckern vor Freude,
+und Heidi rief alle nacheinander beim Namen, und alle rannten wie
+wild durcheinander und drängten sich zu ihm heran; der ungeduldige
+Distelfink sprang hoch auf und über zwei Geißen weg, um gleich in
+die Nähe zu kommen, und sogar das schüchterne Schneehöppli drängte
+mit einem ziemlich eigensinnigen Bohren den großen Türk auf die
+Seite, der nun ganz verwundert über die Frechheit dastand und
+seinen Bart in die Luft hob, um zu zeigen, dass er es sei.
+
+Heidi war außer sich vor Freude, alle die alten Gefährten wieder zu
+haben; es umarmte das kleine, zärtliche Schneehöppli wieder und
+wieder und streichelte den stürmischen Distelfink und wurde vor
+großer Liebe und Zutraulichkeit der Geißen hin und her gedrängt und
+geschoben, bis es nun ganz in Peters Nähe kam, der noch immer auf
+demselben Platze stand.
+
+"Komm herunter, Peter, und sag mir einmal guten Abend!", rief ihm
+Heidi jetzt zu.
+
+"Bist denn wieder da?", brachte er nun endlich in seinem Erstaunen
+heraus, und nun kam er herzu und nahm Heidis Hand, die dieses ihm
+schon lange hingehalten hatte, und nun fragte er, so wie er immer
+getan hatte bei der Heimkehr am Abend: "Kommst morgen wieder mit?"
+
+"Nein, morgen nicht, aber übermorgen vielleicht, denn morgen muss
+ich zur Großmutter."
+
+"Es ist recht, dass du wieder da bist", sagte der Peter und verzog
+sein Gesicht auf alle Seiten vor ungeheurem Vergnügen, dann
+schickte er sich zur Heimfahrt an; aber heute wurde es ihm so
+schwer wie noch nie mit seinen Geißen, denn als er sie endlich mit
+Locken und Drohen so weit gebracht hatte, dass sie sich um ihn
+sammelten, und Heidi, den einen Arm um Schwänlis und den andern um
+Bärlis Kopf gelegt, davonspazierte, da kehrten mit einem Male alle
+wieder um und liefen den dreien nach. Heidi musste mit seinen zwei
+Geißen in den Stall eintreten und die Tür zumachen, sonst wäre der
+Peter niemals mit seiner Herde fortgekommen. Als das Kind dann in
+die Hütte zurückkam, da sah es sein Bett schon wieder aufgerichtet,
+prächtig hoch und duftend, denn das Heu war noch nicht lange
+hereingeholt, und darüber hatte der Großvater ganz sorgfältig die
+sauberen Leintücher gebreitet. Heidi legte sich mit großer Lust
+hinein und schlief so herrlich, wie es ein ganzes Jahr lang nicht
+geschlafen hatte. Während der Nacht verließ der Großvater wohl
+zehnmal sein Lager und stieg die Leiter hinauf und lauschte sorgsam,
+ob Heidi auch schlafe und nicht unruhig werde, und suchte am Loch
+nach, wo sonst der Mond hereinkam auf Heidis Lager, ob auch das Heu
+noch fest drinnen sitze, das er hineingestopft hatte, denn von nun
+an durfte der Mondschein nicht mehr hereinkommen. Aber Heidi
+schlief in einem Zuge fort und wanderte keinen Schritt herum, denn
+sein großes, brennendes Verlangen war gestillt worden: Es hatte
+alle Berge und Felsen wieder im Abendglühen gesehen, es hatte die
+Tannen rauschen gehört, es war wieder daheim auf der Alm.
+
+
+
+
+Am Sonntag, wenn's läutet
+
+Heidi stand unter den wogenden Tannen und wartete auf den Großvater,
+der mitgehen und den Koffer vom Dörfli heraufholen wollte, während
+es bei der Großmutter wäre. Das Kind konnte es fast nicht erwarten,
+die Großmutter wieder zu sehen und zu hören, wie ihr die Brötchen
+geschmeckt hatten, und doch wurde ihm wieder die Zeit nicht lang,
+denn es konnte ja nicht genug die heimatlichen Töne von dem
+Tannenrauschen über ihm und das Duften und Leuchten der grünen
+Weiden und der goldenen Blumen darauf eintrinken.
+
+Jetzt trat der Großvater aus der Hütte, schaute noch einmal rings
+um sich und sagte dann mit zufriedenem Ton: "So, nun können wir
+gehen."
+
+Denn es war Sonnabend heut, und an dem Tage machte der Alm-Öhi
+alles sauber und in Ordnung in der Hütte, im Stall und ringsherum,
+das war seine Gewohnheit, und heut hatte er den Morgen dazu
+genommen, um gleich nachmittags mit Heidi ausziehen zu können, und
+so sah nun alles ringsherum gut und zu seiner Zufriedenheit aus.
+Bei der Geißenpeter-Hütte trennten sie sich, und Heidi sprang
+hinein. Schon hatte die Großmutter seinen Schritt gehört und rief
+ihm liebevoll entgegen: "Kommst du, Kind? Kommst du wieder?"
+
+Dann erfasste sie Heidis Hand und hielt sie ganz fest, denn immer
+noch fürchtete sie, das Kind könnte ihr wieder entrissen werden.
+Und nun musste die Großmutter erzählen, wie die Brötchen geschmeckt
+hätten, und sie sagte, sie habe sich so daran erlabt, dass sie
+meine, sie sei heute viel kräftiger als lang nicht mehr, und Peters
+Mutter fügte hinzu, die Großmutter habe vor lauter Sorge, sie werde
+zu bald fertig damit, nur ein einziges Brötchen essen wollen,
+gestern und heut zusammen, und sie käme gewiss noch ziemlich zu
+Kräften, wenn sie so acht Tage lang hintereinander jeden Tage eines
+essen wollte. Heidi hörte der Brigitte mit Aufmerksamkeit zu und
+blieb jetzt noch eine Zeit lang nachdenklich. Nun hatte es seinen
+Weg gefunden. "Ich weiß schon, was ich mache, Großmutter", sagte
+es in freudigem Eifer; "ich schreibe der Klara einen Brief und dann
+schickt sie mir gewiss noch einmal so viel Brötchen, wie da sind,
+oder zweimal, denn ich hatte schon einen großen Haufen ganz gleiche
+im Kasten, und als man mir sie weggenommen hatte, sagte Klara, sie
+gebe mir gerade so viele wieder, und das tut sie schon."
+
+"Ach Gott", sagte die Brigitte, "das ist eine gute Meinung; aber
+denk, sie werden auch hart. Wenn man nur hier und da einen übrigen
+Batzen hätte, der Bäcker unten im Dörfli macht auch solche, aber
+ich vermag kaum das schwarze Brot zu bezahlen."
+
+Jetzt schoss ein heller Freudenstrahl über Heidis Gesicht: "Oh, ich
+habe furchtbar viel Geld, Großmutter", rief es jubelnd aus und
+hüpfte vor Freuden in die Höhe, "jetzt weiß ich, was ich damit
+mache! Alle, alle Tage musst du ein neues Brötchen haben und am
+Sonntage zwei, und der Peter kann sie heraufbringen vom Dörfli."
+
+"Nein, nein, Kind!", wehrte die Großmutter; "das kann nicht sein,
+das Geld hast du nicht dazu bekommen, du musst es dem Großvater
+geben, er sagt dir dann schon, was du damit machen musst."
+
+Aber Heidi ließ sich nicht stören in seiner Freude, es jauchzte und
+hüpfte in der Stube herum und rief ein Mal übers andere: "Jetzt
+kann die Großmutter jeden Tag ein Brötchen essen und wird wieder
+ganz kräftig, und--oh, Großmutter", rief es mit neuem Jubel, "wenn
+du dann so gesund wirst, so wird es dir gewiss auch wieder hell, es
+ist vielleicht nur, weil du so schwach bist."
+
+Die Großmutter schwieg still, sie wollte des Kindes Freude nicht
+trüben. Bei seinem Herumhüpfen fiel dem Heidi auf einmal das alte
+Liederbuch der Großmutter in die Augen, und es kam ihm ein neuer
+freudiger Gedanke: "Großmutter, jetzt kann ich auch ganz gut lesen;
+soll ich dir einmal ein Lied lesen aus deinem alten Buch?"
+
+"O ja", bat die Großmutter freudig überrascht; "kannst du das auch
+wirklich, Kind, kannst du das?"
+
+Heidi war auf einen Stuhl geklettert und hatte das Buch mit einer
+dicken Staubwolke heruntergezogen, denn es hatte lange unberührt
+gelegen da oben; nun wischte es Heidi sauber ab, setzte sich damit
+auf seinen Schemel zur Großmutter hin und fragte, was es nun lesen
+solle.
+
+"Was du willst, Kind, was du willst", und mit gespannter Erwartung
+saß die Großmutter da und hatte ihr Spinnrad ein wenig von sich
+geschoben.
+
+Heidi blätterte und las leise hier und da eine Linie: "jetzt kommt
+etwas von der Sonne, das will ich dir lesen, Großmutter." Und Heidi
+begann und wurde selbst immer eifriger und immer wärmer, während es
+las:
+"Die güldne Sonne Voll
+Freud und Wonne
+Bringt unsern Grenzen
+Mit ihrem Glänzen
+Ein herzerquickendes, liebliches Licht.
+
+Mein Haupt und Glieder
+Die lagen darnieder;
+Aber nun steh ich,
+Bin munter und fröhlich,
+Schaue den Himmel mit meinem Gesicht.
+
+Mein Auge schauet,
+Was Gott gebauet
+Zu seinen Ehren,
+Und uns zu lehren,
+Wie sein Vermögen sei mächtig und groß.
+
+Und wo die Frommen
+Dann sollen hinkommen,
+Wenn sie mit Frieden
+Von hinnen geschieden
+Aus dieser Erde vergänglichem Schoß.
+
+Alles vergehet,
+Gott aber stehet
+Ohn alles Wanken,
+Seine Gedanken,
+Sein Wort und Wille hat ewigen Grund.
+
+Sein Heil und Gnaden
+Die nehmen nicht Schaden,
+Heilen im Herzen,
+Die tödlichen Schmerzen,
+Halten uns zeitlich und ewig gesund.
+
+Kreuz und Elende--
+Das nimmt ein Ende,
+Nach Meeresbrausen
+Und Windessausen
+Leuchtet der Sonne erwünschtes Gesicht.
+
+Freude die Fülle
+Und selige Stille
+Darf ich erwarten
+Im himmlischen Garten,
+Dahin sind meine Gedanken gericht'."
+
+
+Die Großmutter saß still da mit gefalteten Händen, und ein Ausdruck
+unbeschreiblicher Freude, so wie ihn Heidi nie an ihr gesehen hatte,
+lag auf ihrem Gesicht, obschon ihr die Tränen die Wangen
+herabliefen. Als Heidi schwieg, bat sie mit Verlangen: "Oh, noch
+einmal, Heidi, lass es mich noch einmal hören:
+
+'Kreuz und Elende
+Das nimmt ein Ende'--"
+
+Und das Kind fing noch einmal an und las in eigener Freude und
+Verlangen:
+
+"Kreuz und Elende--
+Das nimmt ein Ende,
+Nach Meeresbrausen
+Und Windessausen
+Leuchtet der Sonne erwünschtes Gesicht.
+
+Freude die Fülle
+Und selige Stille
+Darf ich erwarten
+Im himmlischen Garten,
+Dahin sind meine Gedanken gericht'."
+
+
+"O Heidi, das macht hell! Das macht so hell im Herzen! Oh, wie
+hast du mir wohl gemacht, Heidi!"
+
+Ein Mal ums andere sagte die Großmutter die Worte der Freude, und
+Heidi strahlte vor Glück und musste sie nur immer ansehen, denn so
+hatte es die Großmutter nie gesehen. Sie hatte gar nicht mehr das
+alte trübselige Gesicht, sondern schaute so freudig und dankend auf,
+als sähe sie schon mit neuen, hellen Augen in den schönen
+himmlischen Garten hinein.
+
+Jetzt klopfte es am Fenster, und Heidi sah den Großvater draußen,
+der ihm winkte, mit heimzukommen. Es folgte schnell, aber nicht
+ohne die Großmutter zu versichern, morgen komme es wieder, und auch
+wenn es mit Peter auf die Weide gehe, so komme es doch im halben
+Tag zurück; denn dass es der Großmutter wieder hell machen konnte
+und sie wieder fröhlich wurde, das war nun für Heidi das
+allergrößte Glück, das es kannte, noch viel größer, als auf der
+sonnigen Weide und bei den Blumen und Geißen zu sein. Die Brigitte
+lief dem Heidi unter die Tür nach mit Rock und Hut, dass es seine
+Habe mitnehme. Den Rock nahm es auf den Arm, denn der Großvater
+kenne es jetzt schon, dachte es bei sich; aber den Hut wies es
+hartnäckig zurück, die Brigitte sollte ihn nur behalten, es setze
+ihn nie, nie mehr auf den Kopf. Heidi war so erfüllt von seinen
+Erlebnissen, dass es gleich dem Großvater alles erzählen musste,
+was ihm das Herz erfreute, dass man die weißen Brötchen auch unten
+im Dörfli für die Großmutter holen könne, wenn man nur Geld habe,
+und dass es der Großmutter auf einmal so hell und wohl geworden war,
+und wie Heidi das alles zu Ende geschildert hatte, kehrte es
+wieder zum Ersten zurück und sagte ganz zuversichtlich: "Gelt,
+Großvater, wenn die Großmuttter schon nicht will, so gibst du mir
+doch alles Geld in der Rolle, dass ich dem Peter jeden Tag ein
+Stück geben kann zu einem Brötchen und am Sonntag zwei?"
+
+"Aber das Bett, Heidi?", sagte der Großvater; "ein rechtes Bett für
+dich wäre gut, und nachher bleibt schon noch für manches Brötchen."
+
+Aber Heidi ließ dem Großvater keine Ruhe und bewies ihm, dass es
+auf seinem Heubett viel besser schlafe, als es jemals in seinem
+Kissenbett in Frankfurt geschlafen habe, und bat so eindringlich
+und unablässig, dass der Großvater zuletzt sagte: "Das Geld ist
+dein, mach, was dich freut; du kannst der Großmutter manches Jahr
+lang Brot holen dafür."
+
+Heidi jauchzte auf: "O juhe! Nun muss die Großmutter gar nie mehr
+hartes, schwarzes Brot essen, und, o Großvater! Nun ist doch alles
+so schön wie noch gar nie, seit wir leben!", und Heidi hüpfte hoch
+auf an der Hand des Großvaters und jauchzte in die Luft hinauf wie
+die fröhlichen Vögel des Himmels. Aber auf einmal wurde es ganz
+ernsthaft und sagte: "Oh, wenn nun der liebe Gott gleich auf der
+Stelle getan hätte, was ich so stark erbetete, dann wäre doch alles
+nicht so geworden, ich wäre nur gleich wieder heimgekommen und
+hätte der Großmutter nur wenige Brötchen gebracht und hätte ihr
+nicht lesen können, was ihr wohl macht; aber der liebe Gott hatte
+schon alles ausgedacht, so viel schöner, als ich es wusste; die
+Großmama hat es mir gesagt, und nun ist alles so gekommen. Oh, wie
+bin ich froh, dass der liebe Gott nicht nachgab, wie ich so bat und
+jammerte! Aber jetzt will ich immer so beten, wie die Großmama
+sagte, und dem lieben Gott immer danken, und wenn er etwas nicht
+tut, das ich erbeten will, dann will ich gleich denken: Es geht
+gewiss wieder wie in Frankfurt, der liebe Gott denkt gewiss etwas
+viel Besseres aus. Aber wir wollen auch alle Tage beten, gelt
+Großvater, und wir wollen es nie mehr vergessen, damit der liebe
+Gott uns auch nicht vergisst."
+
+"Und wenn's einer doch täte?", murmelte der Großvater.
+
+"Oh, dem geht's nicht gut, denn der liebe Gott vergisst ihn dann
+auch und lässt ihn ganz laufen, und wenn es ihm einmal schlecht
+geht und er jammert, so hat kein Mensch Mitleid mit ihm, sondern
+alle sagen nur: Er ist ja zuerst vom lieben Gott weggelaufen, nun
+lässt ihn der liebe Gott auch gehen, der ihm helfen könnte."
+
+"Das ist wahr, Heidi, woher weißt du das?"
+
+"Von der Großmama, sie hat mir alles erklärt."
+
+Der Großvater ging eine Weile schweigend weiter. Dann sagte er,
+seine Gedanken verfolgend, vor sich hin: "Und wenn's einmal so ist,
+dann ist es so; zurück kann keiner, und wen der Herrgott vergessen
+hat, den hat er vergessen."
+
+"O nein, Großvater, zurück kann einer, das weiß ich auch von der
+Großmama, und dann geht es so wie in der schönen Geschichte in
+meinem Buch, aber die weißt du nicht; jetzt sind wir aber gleich
+daheim, und dann wirst du schon erfahren, wie schön die Geschichte
+ist."
+
+Heidi strebte in seinem Eifer rascher und rascher die letzte
+Steigung hinan, und kaum waren sie oben angelangt, als es des
+Großvaters Hand losließ und in die Hütte hineinrannte. Der
+Großvater nahm den Korb von seinem Rücken, in den er die Hälfte der
+Sachen aus dem Koffer hineingestoßen hatte, denn den ganzen Koffer
+heraufzubringen wäre ihm zu schwer gewesen. Dann setzte er sich
+nachdenklich auf die Bank nieder. Heidi kam wieder herbeigerannt,
+sein großes Buch unter dem Arm: "Oh, das ist recht, Großvater, dass
+du schon dasitzt", und mit einem Satz war Heidi an seiner Seite und
+hatte schon seine Geschichte aufgeschlagen, denn die hatte es schon
+so oft und immer wieder gelesen, dass das Buch von selbst aufging
+an dieser Stelle. Jetzt las Heidi mit großer Teilnahme von dem
+Sohne, der es gut hatte daheim, wo draußen auf des Vaters Feldern
+die schönen Kühe und Schäflein weideten und er in einem schönen
+Mäntelchen, auf seinen Hirtenstab gestützt, bei ihnen auf der Weide
+stehen und dem Sonnenuntergang zusehen konnte, wie es alles auf dem
+Bilde zu sehen war. "Aber auf einmal wollte er sein Hab und Gut
+für sich haben und sein eigener Meister sein und forderte es dem
+Vater ab und lief fort damit und verprasste alles. Und als er gar
+nichts mehr hatte, musste er hingehen und Knecht sein bei einem
+Bauer, der hatte aber nicht so schöne Tiere, wie auf seines Vaters
+Feldern waren, sondern nur Schweinlein; diese musste er hüten, und
+er hatte nur noch Fetzen auf sich und bekam nur von den Trebern,
+welche die Schweinchen aßen, ein klein wenig. Da dachte er daran,
+wie er es daheim beim Vater gehabt und wie gut der Vater mit ihm
+gewesen war und wie undankbar er gegen den Vater gehandelt hatte,
+und er musste weinen vor Reue und Heimweh. Und er dachte: '
+Ich will zu meinem Vater gehen und ihn um Verzeihung bitten und ihm
+sagen, ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen, aber lass mich
+nur dein Tagelöhner bei dir sein.' Und wie er von ferne gegen
+das Haus seines Vaters kam, da sah ihn der Vater und kam
+herausgelaufen--was meinst du jetzt, Großvater?", unterbrach sich
+Heidi in seinem Vorlesen; "jetzt meinst du, der Vater sei noch böse
+und sage zu ihm: 'Ich habe dir's ja gesagt!'? Jetzt
+hör nur, was kommt: Und sein Vater sah ihn und es jammerte ihn und
+lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn, und der Sohn sprach
+zu ihm: 'Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor
+dir und bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen.' Aber der
+Vater sprach zu seinen Knechten: 'Bringt das beste Kleid her
+und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und
+Schuhe an die Füße, und bringt das gemästete Kalb her und
+schlachtet es und lasst uns essen und fröhlich sein, denn dieser
+mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, und er war
+verloren und ist wieder gefunden worden.' Und sie fingen an,
+fröhlich zu sein."
+
+"Ist denn das nicht eine schöne Geschichte, Großvater?", fragte
+Heidi, als dieser immer noch schweigend dasaß und es doch erwartet
+hatte, er werde sich freuen und verwundern.
+
+"Doch, Heidi, die Geschichte ist schön", sagte der Großvater; aber
+sein Gesicht war so ernsthaft, dass Heidi ganz stille wurde und
+seine Bilder ansah. Leise schob es noch einmal sein Buch vor den
+Großvater hin und sagte: "Sieh, wie es ihm wohl ist", und zeigte
+mit seinem Finger auf das Bild des Heimgekehrten, wie er im
+frischen Kleid neben dem Vater steht und wieder zu ihm gehört als
+sein Sohn.
+
+Ein paar Stunden später, als Heidi längst im tiefen Schlafe lag,
+stieg der Großvater die kleine Leiter hinauf; er stellte sein
+Lämpchen neben Heidis Lager hin, so dass das Licht auf das
+schlafende Kind fiel. Es lag da mit gefalteten Händen, denn zu
+beten hatte Heidi nicht vergessen. Auf seinem rosigen Gesichtchen
+lag ein Ausdruck des Friedens und seligen Vertrauens, der zu dem
+Großvater reden musste, denn lange, lange stand er da und rührte
+sich nicht und wandte kein Auge von dem schlafenden Kinde ab.
+Jetzt faltete auch er die Hände, und halblaut sagte er mit
+gesenktem Haupte: "Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und
+vor dir und bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen!" Und ein paar
+große Tränen rollten dem Alten die Wangen herab.--
+
+Wenige Stunden nachher in der ersten Frühe des Tages stand der Alm-
+Öhi vor seiner Hütte und schaute mit hellen Augen um sich. Der
+Sonntagmorgen flimmerte und leuchtete über Berg und Tal. Einzelne
+Frühglocken tönten aus den Tälern herauf, und oben in den Tannen
+sangen die Vögel ihre Morgenlieder.
+
+Jetzt trat der Großvater in die Hütte zurück. "Komm, Heidi!", rief
+er auf den Boden hinauf. "Die Sonne ist da! Zieh ein gutes
+Röcklein an, wir wollen in die Kirche miteinander!"
+
+Heidi machte nicht lange; das war ein ganz neuer Ruf vom Großvater,
+dem musste es schnell folgen. In kurzer Zeit kam es
+heruntergesprungen in seinem schmucken Frankfurter Röckchen. Aber
+voller Erstaunen blieb Heidi vor seinem Großvater stehen und
+schaute ihn an. "O Großvater, so hab ich dich nie gesehen", brach
+es endlich aus, "und den Rock mit den silbernen Knöpfen hast du
+noch gar nicht getragen, oh, du bist so schön in deinem schönen
+Sonntagsrock."
+
+Der Alte blickte vergnüglich lächelnd auf das Kind und sagte: "Und
+du in dem deinen; jetzt komm!" Er nahm Heidis Hand in die seine,
+und so wanderten sie miteinander den Berg hinunter. Von allen
+Seiten tönten jetzt die hellen Glocken ihnen entgegen, immer voller
+und reicher, je weiter sie kamen, und Heidi lauschte mit Entzücken
+und sagte: "Hörst du's, Großvater? Es ist wie ein großes, großes
+Fest."
+
+Unten im Dörfli waren schon alle Leute in der Kirche und fingen
+eben zu singen an, als der Großvater mit Heidi eintrat und ganz
+hinten auf der letzten Bank sich niedersetzte. Aber mitten im
+Singen stieß der zunächst Sitzende seinen Nachbar mit dem
+Ellenbogen an und sagte: "Hast du das gesehen? Der Alm-Öhi ist in
+der Kirche!"
+
+Und der Angestoßene stieß den Zweiten an und so fort, und in
+kürzester Zeit flüsterte es an allen Ecken: "Der Alm-Öhi! Der Alm-
+Öhi!", und die Frauen mussten fast alle einen Augenblick den Kopf
+umdrehen, und die meisten fielen ein wenig aus der Melodie, so dass
+der Vorsänger die größte Mühe hatte, den Gesang schön
+aufrechtzuerhalten. Aber als dann der Herr Pfarrer anfing zu
+predigen, ging die Zerstreutheit ganz vorüber, denn es war ein so
+warmes Loben und Danken in seinen Worten, dass alle Zuhörer davon
+ergriffen wurden, und es war, als sei ihnen allen eine große Freude
+widerfahren. Als der Gottesdienst zu Ende war, trat der Alm-Öhi
+mit dem Kinde an der Hand heraus und schritt dem Pfarrhaus zu, und
+alle, die mit ihm heraustraten und die schon draußen standen,
+schauten ihm nach, und die meisten gingen hinter ihm her, um zu
+sehen, ob er wirklich ins Pfarrhaus eintrete, was er tat. Dann
+sammelten sie sich in Gruppen zusammen und besprachen in großer
+Aufregung das Unerhörte, dass der Alm-Öhi in der Kirche erschienen
+war, und alle schauten mit Spannung nach der Pfarrhaustür, wie der
+Öhi wohl wieder herauskommen werde, ob in Zorn und Hader oder im
+Frieden mit dem Herrn Pfarrer, denn man wusste ja gar nicht, was
+den Alten heruntergebracht hatte und wie es eigentlich gemeint sei.
+Aber doch war schon bei vielen eine neue Stimmung eingetreten, und
+einer sagte zum andern: "Es wird wohl mit dem Alm-Öhi nicht so bös
+sein, wie man tut; man kann ja nur sehen, wie sorglich er das
+Kleine an der Hand hält." Und der andere sagte: "Das hab ich ja
+immer gesagt, und zum Pfarrer hinein ginge er auch nicht, wenn er
+so bodenschlecht wäre, sonst müsste er sich ja fürchten; man
+übertreibt auch viel." Und der Bäcker sagte: "Hab ich das nicht
+zuallererst gesagt? Seit wann läuft denn ein kleines Kind, das zu
+essen und zu trinken hat, was es will, und sonst alles Gute, aus
+alledem weg und heim zu einem Großvater, wenn der bös und wild ist
+und es sich zu fürchten hat vor ihm?" Und es kam eine ganz
+liebevolle Stimmung gegen den Alm-Öhi auf und nahm überhand, denn
+jetzt nahten sich auch die Frauen herzu, und diese hatten so
+manches von der Geißenpeterin und der Großmutter gehört, das den
+Alm-Öhi ganz anders darstellte, als die allgemeine Meinung war, und
+das ihnen jetzt auf einmal glaublich schien, dass es mehr und mehr
+so wurde, als warteten sie alle da, um einen alten Freund zu
+bewillkommnen, der ihnen lange gemangelt hatte.
+
+Der Alm-Öhi war unterdessen an die Tür der Studierstube getreten
+und hatte angeklopft. Der Herr Pfarrer machte auf und trat dem
+Eintretenden entgegen, nicht überrascht, wie er wohl hätte sein
+können, sondern so, als habe er ihn erwartet; die ungewohnte
+Erscheinung in der Kirche musste ihm nicht entgangen sein. Er
+ergriff die Hand des Alten und schüttelte sie wiederholt mit der
+größten Herzlichkeit, und der Alm-Öhi stand schweigend da und
+konnte erst kein Wort herausbringen, denn auf solchen herzlichen
+Empfang war er nicht vorbereitet. Jetzt fasste er sich und sagte:
+"Ich komme, um den Herrn Pfarrer zu bitten, dass er mir die Worte
+vergessen möchte, die ich zu ihm auf der Alm geredet habe, und dass
+er mir nicht nachtragen wolle, wenn ich widerspenstig war gegen
+seinen wohlmeinenden Rat. Der Herr Pfarrer hat ja in allem Recht
+gehabt und ich war im Unrecht, aber ich will jetzt seinem Rate
+folgen und auf den Winter wieder ein Quartier im Dörfli beziehen,
+denn die harte Jahreszeit ist nichts für das Kind dort oben, es ist
+zu zart, und wenn auch dann die Leute hier unten mich von der Seite
+ansehen, so wie einen, dem nicht zu trauen ist, so habe ich es
+nicht besser verdient, und der Herr Pfarrer wird es ja nicht tun."
+
+Die freundlichen Augen des Pfarrers glänzten vor Freude. Er nahm
+noch einmal des Alten Hand und drückte sie in der seinen und sagte
+mit Rührung: "Nachbar, Ihr seid in der rechten Kirche gewesen, noch
+eh Ihr in die meinige herunterkamt; des freu ich mich, und dass Ihr
+wieder zu uns kommen und mit uns leben wollt, soll Euch nicht
+gereuen, bei mir sollt Ihr als ein lieber Freund und Nachbar alle
+Zeit willkommen sein, und ich gedenke manches Winterabendstündchen
+fröhlich mit Euch zu verbringen, denn Eure Gesellschaft ist mir
+lieb und wert, und für das Kleine wollen wir auch gute Freunde
+finden." Und der Herr Pfarrer legte sehr freundlich seine Hand auf
+Heidis Krauskopf und nahm es bei der Hand und führte es hinaus,
+indem er den Großvater fortbegleitete, und erst draußen vor der
+Haustür nahm er Abschied, und nun konnten alle die herumstehenden
+Leute sehen, wie der Herr Pfarrer dem Alm-Öhi die Hand immer noch
+einmal schüttelte, gerade als wäre das sein bester Freund, von dem
+er sich fast nicht trennen könnte. Kaum hatte dann auch die Tür
+sich hinter dem Herrn Pfarrer geschlossen, so drängte die ganze
+Versammlung dem Alm-Öhi entgegen, und jeder wollte der Erste sein,
+und so viele Hände wurden miteinander dem Herankommenden
+entgegengestreckt, dass er gar nicht wusste, welche zuerst
+ergreifen, und einer rief ihm zu: "Das freut mich! Das freut mich,
+Öhi, dass Ihr auch wieder einmal zu uns kommt!", und ein anderer:
+"Ich hätte auch schon lang gern wieder einmal ein Wort mit Euch
+geredet, Öhi!" Und so tönte und drängte es von allen Seiten, und
+wie nun der Öhi auf alle die freundlichen Begrüßungen erwiderte, er
+gedenke, sein altes Quartier im Dörfli wieder zu beziehen und den
+Winter mit den alten Bekannten zu verleben, da gab es erst einen
+rechten Lärm, und es war gerade so, wie wenn der Alm-Öhi die
+beliebteste Persönlichkeit im ganzen Dörfli wäre, die jeder mit
+Nachteil entbehrt hatte. Noch weit an die Alm hinauf wurden
+Großvater und Kind von den meisten begleitet, und beim Abschied
+wollte jeder die Versicherung haben, dass der Alm-Öhi bald einmal
+bei ihm vorspreche, wenn er wieder herunterkomme; und wie nun die
+Leute den Berg hinab zurückkehrten, blieb der Alte stehen und
+schaute ihnen lange nach, und auf seinem Gesichte lag ein so warmes
+Licht, als schiene bei ihm die Sonne von innen heraus. Heidi
+schaute unverwandt zu ihm auf und sagte ganz erfreut: "Großvater,
+heut wirst du immer schöner, so warst du noch gar nie."
+
+"Meinst du?", lächelte der Großvater. "Ja, und siehst du, Heidi,
+mir geht's auch heut über Verstehen und Verdienen gut, und mit Gott
+und Menschen im Frieden stehen, das macht einem so wohl! Der liebe
+Gott hat's gut mit mir gemeint, dass er dich auf die Alm schickte."
+
+Bei der Geißenpeter-Hütte angekommen, machte der Großvater gleich
+die Tür auf und trat ein. "Grüß Gott, Großmutter", rief er hinein;
+"ich denke, wir müssen einmal wieder ans Flicken gehen, bevor der
+Herbstwind kommt."
+
+"Du mein Gott, das ist der Öhi!", rief die Großmutter voll
+freudiger Überraschung aus. "Dass ich das noch erlebe! Dass ich
+Euch noch einmal danken kann für alles, das Ihr für uns getan habt,
+Öhi! Vergelt's Gott! Vergelt's Gott!"
+
+Und mit zitternder Freude streckte die alte Großmutter ihre Hand
+aus, und als der Angeredete sie herzlich schüttelte, fuhr sie fort,
+indem sie die seinige fest hielt: "Und eine Bitte hab ich auch noch
+auf dem Herzen, Öhi: Wenn ich Euch je etwas zuleid getan habe, so
+straft mich nicht damit, dass Ihr noch einmal das Heidi fortlasst,
+bevor ich unten bei der Kirche liege. Oh, Ihr wisst nicht, was mir
+das Kind ist!", und sie hielt es fest an sich, denn Heidi hatte
+sich schon an sie geschmiegt.
+
+"Keine Sorge, Großmutter", beruhigte der Öhi; "damit will ich weder
+Euch noch mich strafen. Jetzt bleiben wir alle beieinander und,
+will's Gott, noch lange so."
+
+Jetzt zog die Brigitte den Öhi ein wenig geheimnisvoll in eine Ecke
+hinein und zeigte ihm das schöne Federnhütchen und erzählte ihm,
+wie es sich damit verhalte, und dass sie ja natürlich so etwas
+einem Kinde nicht abnehme.
+
+Aber der Großvater sah ganz wohlgefällig auf sein Heidi hin und
+sagte: "Der Hut ist sein, und wenn es ihn nicht mehr auf den Kopf
+tun will, so hat es Recht, und hat es ihn dir gegeben, so nimm ihn
+nur."
+
+Die Brigitte war höchlich erfreut über das unerwartete Urteil. "Er
+ist gewiss mehr als zehn Franken wert, seht nur!", und in ihrer
+Freude streckte sie das Hütchen hoch auf. "Was aber auch dieses
+Heidi für einen Segen von Frankfurt mit heimgebracht hat! Ich habe
+schon manchmal denken müssen, ob ich nicht den Peterli auch ein
+wenig nach Frankfurt schicken solle; was meint Ihr, Öhi?"
+
+Dem Öhi schoss es ganz lustig aus den Augen. Er meinte, es könnte
+dem Peterli nichts schaden; aber er würde doch eine gute
+Gelegenheit dazu abwarten.
+
+Jetzt fuhr der Besprochene eben zur Tür herein, nachdem er zuerst
+mit dem Kopf so fest dagegen gerannt war, dass alles erklirrte
+davon; er musste pressiert sein. Atemlos und keuchend stand er nun
+mitten in der Stube still und streckte einen Brief aus. Das war
+auch ein Ereignis, das noch nie vorgekommen war, ein Brief mit
+einer Aufschrift an das Heidi, den man ihm auf der Post im Dörfli
+übergeben hatte. Jetzt setzten sich alle voller Erwartung um den
+Tisch herum, und Heidi machte seinen Brief auf und las ihn laut und
+ohne Anstoß vor. Der Brief war von der Klara Sesemann geschrieben.
+Sie erzählte Heidi, dass es seit seiner Abreise so langweilig
+geworden sei in ihrem Hause, sie es nicht lang hintereinander so
+aushalten könne und so lange den Vater gebeten habe, bis er die
+Reise ins Bad Ragaz schon auf den kommenden Herbst festgestellt
+habe, und die Großmama wolle auch mitkommen, denn sie wolle auch
+das Heidi und den Großvater besuchen auf der Alm. Und weiter ließ
+die Großmama noch dem Heidi sagen, es habe Recht getan, dass es der
+alten Großmutter die Brötchen habe mitbringen wollen, und damit sie
+diese nicht trocken essen müsse, komme gleich der Kaffee noch dazu,
+er sei schon auf der Reise, und wenn sie selbst nach der Alm komme,
+so müsse das Heidi sie auch zur Großmutter führen.
+
+Da gab es nun eine solche Freude und Verwunderung über diese
+Nachrichten und so viel zu reden und zu fragen, da die große
+Erwartung alle gleich betraf, dass selbst der Großvater nicht
+bemerkte, wie spät es schon war, und so vergnügt und fröhlich waren
+sie alle in der Aussicht auf die kommenden Tage und fast noch mehr
+in der Freude über das Zusammensein an dem heutigen, dass die
+Großmutter zuletzt sagte: "Das Schönste ist doch, wenn so ein alter
+Freund kommt und uns wieder die Hand gibt, so wie vor langer Zeit;
+das gibt so ein tröstliches Gefühl ins Herz, dass wir einmal alles
+wieder finden, was uns lieb ist. Ihr kommt doch bald wieder, Öhi,
+und das Kind morgen schon?"
+
+Das wurde der Großmutter in die Hand hinein versprochen; nun aber
+war es Zeit zum Aufbruch, und der Großvater wanderte mit Heidi die
+Alm hinan, und wie am Morgen die hellen Glocken von nah und fern
+sie heruntergerufen hatten, so begleitete nun aus dem Tale herauf
+das friedliche Geläut der Abendglocken sie bis hinauf zur sonnigen
+Almhütte, die ganz sonntäglich im Abendschimmer ihnen
+entgegenglänzte.
+
+Wenn aber die Großmama kommt im Herbst, dann gibt es gewiss noch
+manche neue Freude und Überraschung für das Heidi wie für die
+Großmutter, und sicher kommt auch gleich ein richtiges Bett auf den
+Heuboden hinauf, denn wo die Großmama hintritt, da kommen alle
+Dinge bald in die erwünschte Ordnung und Richtigkeit, nach außen
+wie nach innen.
+
+
+
+
+
+End of Project Gutenberg's Heidis Lehr- und Wanderjahre, by Johanna Spyri
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK HEIDIS LEHR- UND WANDERJAHRE ***
+
+This file should be named 8heid10.txt or 8heid10.zip
+Corrected EDITIONS of our eBooks get a new NUMBER, 8heid11.txt
+VERSIONS based on separate sources get new LETTER, 8heid10a.txt
+
+Produced by Mike Pullen and Juliet Sunderland
+
+Project Gutenberg eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the US
+unless a copyright notice is included. Thus, we usually do not
+keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
+
+We are now trying to release all our eBooks one year in advance
+of the official release dates, leaving time for better editing.
+Please be encouraged to tell us about any error or corrections,
+even years after the official publication date.
+
+Please note neither this listing nor its contents are final til
+midnight of the last day of the month of any such announcement.
+The official release date of all Project Gutenberg eBooks is at
+Midnight, Central Time, of the last day of the stated month. A
+preliminary version may often be posted for suggestion, comment
+and editing by those who wish to do so.
+
+Most people start at our Web sites at:
+http://gutenberg.net or
+http://promo.net/pg
+
+These Web sites include award-winning information about Project
+Gutenberg, including how to donate, how to help produce our new
+eBooks, and how to subscribe to our email newsletter (free!).
+
+
+Those of you who want to download any eBook before announcement
+can get to them as follows, and just download by date. This is
+also a good way to get them instantly upon announcement, as the
+indexes our cataloguers produce obviously take a while after an
+announcement goes out in the Project Gutenberg Newsletter.
+
+http://www.ibiblio.org/gutenberg/etext03 or
+ftp://ftp.ibiblio.org/pub/docs/books/gutenberg/etext03
+
+Or /etext02, 01, 00, 99, 98, 97, 96, 95, 94, 93, 92, 92, 91 or 90
+
+Just search by the first five letters of the filename you want,
+as it appears in our Newsletters.
+
+
+Information about Project Gutenberg (one page)
+
+We produce about two million dollars for each hour we work. The
+time it takes us, a rather conservative estimate, is fifty hours
+to get any eBook selected, entered, proofread, edited, copyright
+searched and analyzed, the copyright letters written, etc. Our
+projected audience is one hundred million readers. If the value
+per text is nominally estimated at one dollar then we produce $2
+million dollars per hour in 2002 as we release over 100 new text
+files per month: 1240 more eBooks in 2001 for a total of 4000+
+We are already on our way to trying for 2000 more eBooks in 2002
+If they reach just 1-2% of the world's population then the total
+will reach over half a trillion eBooks given away by year's end.
+
+The Goal of Project Gutenberg is to Give Away 1 Trillion eBooks!
+This is ten thousand titles each to one hundred million readers,
+which is only about 4% of the present number of computer users.
+
+Here is the briefest record of our progress (* means estimated):
+
+eBooks Year Month
+
+ 1 1971 July
+ 10 1991 January
+ 100 1994 January
+ 1000 1997 August
+ 1500 1998 October
+ 2000 1999 December
+ 2500 2000 December
+ 3000 2001 November
+ 4000 2001 October/November
+ 6000 2002 December*
+ 9000 2003 November*
+10000 2004 January*
+
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation has been created
+to secure a future for Project Gutenberg into the next millennium.
+
+We need your donations more than ever!
+
+As of February, 2002, contributions are being solicited from people
+and organizations in: Alabama, Alaska, Arkansas, Connecticut,
+Delaware, District of Columbia, Florida, Georgia, Hawaii, Illinois,
+Indiana, Iowa, Kansas, Kentucky, Louisiana, Maine, Massachusetts,
+Michigan, Mississippi, Missouri, Montana, Nebraska, Nevada, New
+Hampshire, New Jersey, New Mexico, New York, North Carolina, Ohio,
+Oklahoma, Oregon, Pennsylvania, Rhode Island, South Carolina, South
+Dakota, Tennessee, Texas, Utah, Vermont, Virginia, Washington, West
+Virginia, Wisconsin, and Wyoming.
+
+We have filed in all 50 states now, but these are the only ones
+that have responded.
+
+As the requirements for other states are met, additions to this list
+will be made and fund raising will begin in the additional states.
+Please feel free to ask to check the status of your state.
+
+In answer to various questions we have received on this:
+
+We are constantly working on finishing the paperwork to legally
+request donations in all 50 states. If your state is not listed and
+you would like to know if we have added it since the list you have,
+just ask.
+
+While we cannot solicit donations from people in states where we are
+not yet registered, we know of no prohibition against accepting
+donations from donors in these states who approach us with an offer to
+donate.
+
+International donations are accepted, but we don't know ANYTHING about
+how to make them tax-deductible, or even if they CAN be made
+deductible, and don't have the staff to handle it even if there are
+ways.
+
+Donations by check or money order may be sent to:
+
+Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+PMB 113
+1739 University Ave.
+Oxford, MS 38655-4109
+
+Contact us if you want to arrange for a wire transfer or payment
+method other than by check or money order.
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation has been approved by
+the US Internal Revenue Service as a 501(c)(3) organization with EIN
+[Employee Identification Number] 64-622154. Donations are
+tax-deductible to the maximum extent permitted by law. As fund-raising
+requirements for other states are met, additions to this list will be
+made and fund-raising will begin in the additional states.
+
+We need your donations more than ever!
+
+You can get up to date donation information online at:
+
+http://www.gutenberg.net/donation.html
+
+
+***
+
+If you can't reach Project Gutenberg,
+you can always email directly to:
+
+Michael S. Hart <hart@pobox.com>
+
+Prof. Hart will answer or forward your message.
+
+We would prefer to send you information by email.
+
+
+**The Legal Small Print**
+
+
+(Three Pages)
+
+***START**THE SMALL PRINT!**FOR PUBLIC DOMAIN EBOOKS**START***
+Why is this "Small Print!" statement here? You know: lawyers.
+They tell us you might sue us if there is something wrong with
+your copy of this eBook, even if you got it for free from
+someone other than us, and even if what's wrong is not our
+fault. So, among other things, this "Small Print!" statement
+disclaims most of our liability to you. It also tells you how
+you may distribute copies of this eBook if you want to.
+
+*BEFORE!* YOU USE OR READ THIS EBOOK
+By using or reading any part of this PROJECT GUTENBERG-tm
+eBook, you indicate that you understand, agree to and accept
+this "Small Print!" statement. If you do not, you can receive
+a refund of the money (if any) you paid for this eBook by
+sending a request within 30 days of receiving it to the person
+you got it from. If you received this eBook on a physical
+medium (such as a disk), you must return it with your request.
+
+ABOUT PROJECT GUTENBERG-TM EBOOKS
+This PROJECT GUTENBERG-tm eBook, like most PROJECT GUTENBERG-tm eBooks,
+is a "public domain" work distributed by Professor Michael S. Hart
+through the Project Gutenberg Association (the "Project").
+Among other things, this means that no one owns a United States copyright
+on or for this work, so the Project (and you!) can copy and
+distribute it in the United States without permission and
+without paying copyright royalties. Special rules, set forth
+below, apply if you wish to copy and distribute this eBook
+under the "PROJECT GUTENBERG" trademark.
+
+Please do not use the "PROJECT GUTENBERG" trademark to market
+any commercial products without permission.
+
+To create these eBooks, the Project expends considerable
+efforts to identify, transcribe and proofread public domain
+works. Despite these efforts, the Project's eBooks and any
+medium they may be on may contain "Defects". Among other
+things, Defects may take the form of incomplete, inaccurate or
+corrupt data, transcription errors, a copyright or other
+intellectual property infringement, a defective or damaged
+disk or other eBook medium, a computer virus, or computer
+codes that damage or cannot be read by your equipment.
+
+LIMITED WARRANTY; DISCLAIMER OF DAMAGES
+But for the "Right of Replacement or Refund" described below,
+[1] Michael Hart and the Foundation (and any other party you may
+receive this eBook from as a PROJECT GUTENBERG-tm eBook) disclaims
+all liability to you for damages, costs and expenses, including
+legal fees, and [2] YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE OR
+UNDER STRICT LIABILITY, OR FOR BREACH OF WARRANTY OR CONTRACT,
+INCLUDING BUT NOT LIMITED TO INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE
+OR INCIDENTAL DAMAGES, EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE
+POSSIBILITY OF SUCH DAMAGES.
+
+If you discover a Defect in this eBook within 90 days of
+receiving it, you can receive a refund of the money (if any)
+you paid for it by sending an explanatory note within that
+time to the person you received it from. If you received it
+on a physical medium, you must return it with your note, and
+such person may choose to alternatively give you a replacement
+copy. If you received it electronically, such person may
+choose to alternatively give you a second opportunity to
+receive it electronically.
+
+THIS EBOOK IS OTHERWISE PROVIDED TO YOU "AS-IS". NO OTHER
+WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, ARE MADE TO YOU AS
+TO THE EBOOK OR ANY MEDIUM IT MAY BE ON, INCLUDING BUT NOT
+LIMITED TO WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR A
+PARTICULAR PURPOSE.
+
+Some states do not allow disclaimers of implied warranties or
+the exclusion or limitation of consequential damages, so the
+above disclaimers and exclusions may not apply to you, and you
+may have other legal rights.
+
+INDEMNITY
+You will indemnify and hold Michael Hart, the Foundation,
+and its trustees and agents, and any volunteers associated
+with the production and distribution of Project Gutenberg-tm
+texts harmless, from all liability, cost and expense, including
+legal fees, that arise directly or indirectly from any of the
+following that you do or cause: [1] distribution of this eBook,
+[2] alteration, modification, or addition to the eBook,
+or [3] any Defect.
+
+DISTRIBUTION UNDER "PROJECT GUTENBERG-tm"
+You may distribute copies of this eBook electronically, or by
+disk, book or any other medium if you either delete this
+"Small Print!" and all other references to Project Gutenberg,
+or:
+
+[1] Only give exact copies of it. Among other things, this
+ requires that you do not remove, alter or modify the
+ eBook or this "small print!" statement. You may however,
+ if you wish, distribute this eBook in machine readable
+ binary, compressed, mark-up, or proprietary form,
+ including any form resulting from conversion by word
+ processing or hypertext software, but only so long as
+ *EITHER*:
+
+ [*] The eBook, when displayed, is clearly readable, and
+ does *not* contain characters other than those
+ intended by the author of the work, although tilde
+ (~), asterisk (*) and underline (_) characters may
+ be used to convey punctuation intended by the
+ author, and additional characters may be used to
+ indicate hypertext links; OR
+
+ [*] The eBook may be readily converted by the reader at
+ no expense into plain ASCII, EBCDIC or equivalent
+ form by the program that displays the eBook (as is
+ the case, for instance, with most word processors);
+ OR
+
+ [*] You provide, or agree to also provide on request at
+ no additional cost, fee or expense, a copy of the
+ eBook in its original plain ASCII form (or in EBCDIC
+ or other equivalent proprietary form).
+
+[2] Honor the eBook refund and replacement provisions of this
+ "Small Print!" statement.
+
+[3] Pay a trademark license fee to the Foundation of 20% of the
+ gross profits you derive calculated using the method you
+ already use to calculate your applicable taxes. If you
+ don't derive profits, no royalty is due. Royalties are
+ payable to "Project Gutenberg Literary Archive Foundation"
+ the 60 days following each date you prepare (or were
+ legally required to prepare) your annual (or equivalent
+ periodic) tax return. Please contact us beforehand to
+ let us know your plans and to work out the details.
+
+WHAT IF YOU *WANT* TO SEND MONEY EVEN IF YOU DON'T HAVE TO?
+Project Gutenberg is dedicated to increasing the number of
+public domain and licensed works that can be freely distributed
+in machine readable form.
+
+The Project gratefully accepts contributions of money, time,
+public domain materials, or royalty free copyright licenses.
+Money should be paid to the:
+"Project Gutenberg Literary Archive Foundation."
+
+If you are interested in contributing scanning equipment or
+software or other items, please contact Michael Hart at:
+hart@pobox.com
+
+[Portions of this eBook's header and trailer may be reprinted only
+when distributed free of all fees. Copyright (C) 2001, 2002 by
+Michael S. Hart. Project Gutenberg is a TradeMark and may not be
+used in any sales of Project Gutenberg eBooks or other materials be
+they hardware or software or any other related product without
+express permission.]
+
+*END THE SMALL PRINT! FOR PUBLIC DOMAIN EBOOKS*Ver.02/11/02*END*
+
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Binary files differ