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-The Project Gutenberg eBook of Wera Njedin, by Annette Kolb
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
-most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms
-of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
-www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you
-will have to check the laws of the country where you are located before
-using this eBook.
-
-Title: Wera Njedin
- Erzählungen und Skizzen
-
-Author: Annette Kolb
-
-Release Date: January 14, 2023 [eBook #69797]
-
-Language: German
-
-Produced by: Jens Sadowski and the Online Distributed Proofreading Team
- at https://www.pgdp.net. This book was produced from images
- made available by the HathiTrust Digital Library.
-
-*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK WERA NJEDIN ***
-
-
- DAS KLEINE PROPYLÄEN-BUCH
-
-
- Annette Kolb
-
-
-
-
- Wera Njedin
-
-
- Erzählungen und Skizzen
-
-
- Im Propyläen-Verlag / Berlin
-
- Im Ullsteinhaus, Berlin
-
-
-
-
- Inhalt
-
-
- Wera Njedin 7
- Varramista 15
- Torso 39
- Geraldine 77
- Der Geiz 93
- Schiffahrt und Eisenbahn 101
- Donaueschingen 115
- Marseille 123
- Venedig 1922 135
- Abschied von Venedig 1924 151
- Molières Tod 161
-
-
-
-
- Wera Njedin
-
-
- Für Germaine Stockley
-
-Erst später wurde uns bewußt, was für lustige Leute wir doch eigentlich
-gewesen sind, als wir zu Hause noch alle beieinander waren. Damals
-ahnten wir es ja nicht. Wir hielten uns für tragische Figuren, die nur
-aus Trotz, und um andere hinters Licht zu führen, eine so vergnügte
-Maske zur Schau trugen, sahen wir doch sogar darin eine heroische Geste,
-daß wir als halb Abgebrannte immerzu offenes Haus hielten. In
-Wirklichkeit geschah dies aber nur, weil es uns Spaß machte. Da wir
-keinem bestimmten Kreis angehörten, hatten unsere Empfänge immerhin die
-Eigentümlichkeit, daß sie Leute zusammenführten, die sich nicht zu
-begegnen pflegten, jenem Milliardär Gelegenheit boten, sich, einmal und
-nicht wieder, mit jenem armen Teufel voraussetzungslos zu unterhalten,
-und jenem ehrgeizigen und hoffnungslosen Streber, einmal und nicht
-wieder, mit jenem Staatsmann ein paar Worte zu wechseln. Jedenfalls war
-es das Unkonventionelle mit all seinen unberechenbaren Möglichkeiten,
-das uns in Spannung hielt, und es dünkte uns das Monopol und die
-Romantik unseres Salons, daß er gewissermaßen eine Freistatt war, wo
-sich Fäden anspannen und Dinge einleiten ließen, deren Tragweite wir
-maßlos übertrieben. Und so bildete sich eine Protegierader in uns aus,
-die, anfänglich Spielerei, dann zur Grille wurde und endlich in Manie
-ausartete. Jedes hatte seine besonderen Schützlinge, zu deren Förderung
-eine Soiree nach der anderen veranstaltet wurde. Hatte alles geklappt
-und durften wir still triumphierend wahrnehmen, daß sich das Spiel
-unserer Intrigen wunschgemäß entrollte, so saßen wir, nachdem unsere
-Gäste uns verlassen hatten, noch lange über unser Tun wie über dem
-siebenten Schöpfungstage auf, dramatisierten unsere Absichtslosigkeit
-und fanden alles gut und höchst merkwürdig, besonders uns selbst.
-
-Nun war es ja schon vorgekommen, daß eine ältere Freundin des Hauses
-sich am nächsten Morgen wieder hergetrieben fühlte, nicht etwa, wie wir
-bei ihrem Erscheinen erwarteten, um auf unser gelungenes Fest
-zurückzukommen, sondern im Gegenteil ihre wohlgemeinten Befürchtungen
-betreffs unserer so wenig gesicherten Zukunft auszusprechen und von dem
-Ernst des Lebens sowie unserem Leichtsinn zu reden, der uns die
-kostbare, enteilende Zeit so vergeuden ließ. Solche Kuckucksrufe wurden
-ungnädig aufgenommen. Aber im stillen erschraken wir doch sehr vor
-allem, was uns an die Wirklichkeit erinnerte. Zog sich die eine auf
-mehrere Tage in ihr Atelier zurück, nahm die andere Orgelstunden, so
-fing ich infolge innerer Panik sehr früh zu schreiben an. Ich verfaßte
-sehr schöne Artikel über den Tiefsinn in der Malerei, den Unwert der
-Renaissance und den Vorteil der Fremdwörter. Unter dem Titel: „_Rose la
-France et Bière de Munich_“ tadelte ich den Frankfurter Frieden. Die
-Redakteure, über die vielen Briefmarken betroffen, mit welchen ich ihre
-Aufmerksamkeit erzwingen wollte, sandten mir alles ziemlich umgehend
-zurück. Inzwischen war auch ein Stilleben fertig geworden, und man wußte
-allerseits nicht mehr recht, was tun. Wir gaben also wieder eine Soiree.
-
-Damals hielt sich eine strahlend junge und strahlend schöne Amerikanerin
-in München auf. Wenn auch nicht für ewig, so verliebte sich doch jung
-und alt auf den ersten Blick in sie, und wir pflanzten sie, stets auf
-das Dekorative bedacht, nicht anders als einen Blumenbusch, mit Vorliebe
-bei uns auf. Sie war dabei ein harmloses und liebenswürdiges Mädchen,
-aber von einem geradezu närrischen Snobismus. Obwohl stets ihre
-Verwandtschaft mit der Prinzessin Pocahontas betonend, imponierte ihr
-schon jede Baronin. Meistens erschien sie in Begleitung eines
-nichtssagenden, durch seine Goldplomben wie durch seine ewigen rosa
-Hemden ermüdenden Bruders. Eines Abends aber – es war gerade vor ihrer
-Abreise – brachte sie auch ihren Vater mit.
-
-Entschuldige, lieber Leser, wenn ich diesen ehrenwerten Mann gleich
-wieder stehen lasse, und gestatte, daß ich dir Fräulein Wera Njedin
-vorstelle.
-
-Ich hatte sie zuerst entdeckt, und sie stand unter meinem ganz
-speziellen Schutz. Trotz ihrer großen Sprachkenntnisse machte sie den
-Eindruck einer ausgesprochenen, wenn auch sehr sympathischen Wilden.
-Dünn wie ein Faden, schwarz wie die Nacht und kreideweiß, war sie von
-einer intensiven, ja entzückenden Häßlichkeit. Auch sonst machten sie
-mir zwei Dinge besonders wert: ihre Kunst im Kartenschlagen und ihre
-wundervolle Stimme. Keine sehr bildbare, leider, und man konnte weniger
-ihr Talent als ihren Gesang, weniger ihren Gesang als ihre Stimme, und
-weniger ihre Stimme als ein paar unvergleichliche Töne in der Mittellage
-rühmen. Mit sanfter, unwiderstehlicher Glut und wie der Leier des
-Orpheus entblüht, drangen sie ans Herz. Man dachte sich dies seltsame
-Mädchen inmitten weiter Steppen vor einem Zelt, einem Wachtfeuer, bunte,
-malerische Volksstämme im Banne haltend, denn ihr Sang hatte dieselbe
-bühnenfremde Wildheit wie sie selbst. Ihre Laufbahn schien höchst
-zweifelhaft, ob auch alles darauf ankam. Sie führte ihr sehr reduziertes
-Erbteil sozusagen in der Tasche mit. Wenn das zu Ende war, dann stand
-für dies romantische Geschöpf die Welt versperrt. Wera Njedin schien sie
-zu kennen. Sie machte sich wenig Illusionen. Aber wenn sie bei guter
-Laune war, konnte sie die Gespenster ihrer Zukunft noch schwarzer und
-grotesker ausmalen, als sie zu sein drohten, und die lustigsten Fratzen
-dazu schneiden. Es läßt sich denken, wie sehr eine so gefährdete
-Existenz unser Interesse erregte.
-
-Kehren wir jedoch zum Vater des „Blumenbusches“ zurück, der allein und
-gelangweilt in einer Ecke steht. Aus bescheidensten Anfängen – die
-Verwandtschaft der Geschwister mit der Prinzessin Pocahontas bestand
-wohl nur mütterlicherseits – hatte er sich zu einer Art Triumvir seiner
-Vaterstadt emporgeschwungen und ihr schon ein Spital, einen Park und ein
-Museum gestiftet. Und nun vernahm ich, daß er gerade im Begriffe stand,
-ihr über Nacht auch ein Opernhaus zu schenken. Dazu war er auf einige
-Tage nach Europa hinübergefahren.
-
-Ein im Grase kauernder, von Spähern umringter Hase konnte die Ohren
-nicht bebender spitzen, als ich es da tat. Die Fahne einer neuen Intrige
-war blitzschnell in mir aufgezogen, das Seil meiner Pläne schon
-verankert. Wera sollte in einer Luxuskabine nach dem wilden Westen
-hinüberschaukeln und an der Oper dieses Stadtvaters eine wilde Gage
-beziehen. Die Schwierigkeit des Unternehmens kannte ich wohl. Denn
-leider war der biedere Mann von dem äußeren Glanz seiner Kinder so
-geblendet, und vollends in den Kunstsinn seines rosa und goldenen Sohnes
-setzte er ein blindes Vertrauen. Dieser hatte sich bereits von einem
-blutigen Dilettanten, der aber Reichsrat der Krone Bayerns war, beraten
-lassen. Statt uns zu fragen! Die ganz unbekannte Wera Njedin dagegen
-wurde von ihm gründlich übersehen. Ohne Anhang und Empfehlung war sie
-sehr buchstäblich von Rußland herübergeschneit. Auch nicht der kleinste
-Attaché diente ihr zur Folie. Wie ließe sich da in aller Eile ihr
-Engagement erreichen? Dennoch mußte es unverzüglich erwirkt werden.
-
-Da kam uns eine geniale Idee. Ihr Notenstand lag am Flügel auf.
-Geschickt wurde er hinausgeschmuggelt, draußen mit Widmungen versehen
-und unter einem anderen Schutzdeckel wieder hereintransportiert. Nach
-einer Weile wurde Wera mit verteilten Rollen von uns interpelliert. Die
-eine hatte sie zum Singen aufzufordern, die andere in ihren Heften zu
-kramen und erstaunt auszurufen: „Da hat sich ja das halbe Winterpalais
-eingetragen! _Hommage admiratif du Prince de Boutonoff_“ las sie laut
-und wie um Wera aufzuziehen vor. Auf einem zerrissenen Notenblatt hatte
-eine Duchesse Alice de Montreuil die Worte: „_Pour la voix d’or de ma
-chère Wera_“ eingetragen, und mein spezielles Werk war die auf
-Tschaikowskys „Sehnsucht“ in zackigen Riesenlettern vor Vornehmheit
-förmlich baumelnde Inschrift: _Ne m’oubliez pas!_ Anastasie.
-
-Schon trieb der Blumenbusch heran. Weniger naiv maskierte der Bruder
-seine Neugier mit einem weiten Katzenbogen, bevor er sich näherte. Der
-Moment zum Probesingen aber war gekommen, ich öffnete den Flügel und bat
-um Schweigen. Die Gewalt, mit welcher wir unsere Lachkrämpfe auf später
-unterdrückten, verlieh uns teils todernste, teils bezechte Mienen. Wera,
-vielfach auf den Fuß getreten, ahnte, wieviel im Spiele war. Sie sang
-die Arie der Fides mit schmerzerfüllten Akzenten, welche das
-unverdorbene Herz des alten Selfmade-Amerikaners rührten. Mit
-ausgestreckten Händen eilte er auf sie zu. Es war erreicht und der
-Widerstand der Geschwister Pocahontas war gebrochen. Und Wera war
-engagiert. Ach ja, es waren heitere Tage!
-
-
-
-
- Varramista
-
-
- Für Zeb-On-Nissa
-
-
- I
-
-Durch die Abgetrenntheit der letzten Jahre sind die Völker in allen
-ihren Eigenheiten charakteristischer sie selbst geworden, als sie es
-vielleicht je im Laufe ihrer ganzen Geschichte gewesen sind. Alle ihre
-Äußerungen tragen ein so lokales Gepräge, als ob keine Eisenbahnen
-wären, und sie sind so stark mit sich selbst beschäftigt, daß ihnen, was
-sie vorstellen, in demselben Maße entgeht, wie den Außenstehenden, was
-sie sind. Man muß heute die Nationen aufsuchen, um sie zu begreifen. Der
-Faszismus spricht italienisch, nur italienisch. Mit dem Auslande, in dem
-er so viel von sich reden macht, befaßt er sich herzlich wenig. Die
-faszistischen Zeitungen interessieren sich ausschließlich für die
-Patria. Kinderkreuzzügler nannte ein florentinischer Witzbold die
-Faszisten. Wem aber fiele es im Ausland ein, sie so zu benennen? So oder
-so ist die Bezeichnung vorschnell gewesen; aber mit den Leuten um Hitler
-oder Leon Daudet sind sie fürwahr nicht zu vergleichen. Die _Camiccie
-nere_ sind vielmehr wie ein helles Mantelfutter, das nichts von seiner
-ominösen Außenseite weiß. Ja, die Völker sind heute charakteristischer
-sie selbst, und was die Italiener angeht, so stieg der Schmutz ihrer
-Dörfer noch nie so hoch. Dabei hat die Reinlichkeit der italienischen
-Villa und der Palazzos eine Blume und Poesie, zu der gehalten die
-Sauberkeit der sauberen Länder gar nüchtern und langweilig erscheint.
-Aber zwischen den Herrenhäusern und den Behausungen des Volkes ist kein
-Übergang. Wäre ich Faszist und hätte mit einer Handvoll Leute den großen
-Kehraus vorgenommen, und wäre ich als neuer Besen in meinem Lande
-aufgetreten, ich wüßte, was ihm noch obläge: mit eisernem Griffe in alle
-Straßen und Plätze und Straßenecken hineinzufahren, deren Anblick, deren
-Befund meinem gesteigerten Nationalgefühl (wennschon) allzupeinlich
-wäre.
-
-Allem Gottesgnadentum und allen Servilismen zum Trotz waren zwar nicht
-der Verfassung, wohl aber der Anlage nach diejenigen Länder im
-vorhinein, bevor es eine Demokratie gab, demokratisch, in welchen das
-Dorf und die Kleinstadt ihre Blüte erfuhren und der „kleine Mann“ in
-einem würdigen statt ungefähren Rahmen seine Tage verlebte. Aber eine
-Hochkonjunktur herrlicher Paläste und herrlicher Dörfer zugleich ist
-noch nicht dagewesen, und die einen gingen noch jederzeit auf Kosten der
-anderen. So die, wie in einer Spieloper blitzblanken Ortschaften der
-heutigen Schweiz, des gestrigen Zentraleuropas, der skandinavischen
-Länder: als müsse unverweilt eine Musik von Boieldieu einsetzen, oder
-Zerbinetta, zum Tanze geschmückt, warte nur auf ein Zeichen, um
-hervorzutreten. Und doch, wie ausdrucksvoll, wie interessant ist gerade
-der Kopf der Contadina, ihr verlorenes Profil unter dem kleidsamen
-Schleier, der übrigens das Glanzstück ihres sonntäglichen Staates
-geworden ist. Sollte er den Faszisten nicht einen Wink bedeuten, zu
-einer Hebung einer progressiven Aufklärung des niederen Standes zu
-schreiten? Wie brach liegt da ein weites Feld vor ihnen, denn von ihnen,
-den Faszisten, reden wir! Der große Anhang, den sie im eigenen Lande
-fanden, hat seinen besonderen Grund: Die Bewohner der Dreckshäuser,
-deren Fenster wie schwarze Löcher den im Auto Vorbeisurrenden anstarren,
-wissen es seit vielen Jahrhunderten nicht anders, als daß es Paläste
-gibt in ihrem Glanz – und ihre eigene Unterkunft mit all dem Unrat, der
-sie umgibt. – Sie wissen es nicht anders. Der Gedanke an eine
-Verschönerung der Lebenshaltung, des Rahmens, in welchem sie sich
-abspielt, liegt noch weitab. Sie wissen es nicht anders. Hier liegt der
-springende Punkt. Der Italiener aus dem Volke ist höflich, ohne servil
-zu sein, er wäre sehr bildungsfähig. Vorläufig ist er leicht erregbar
-und wild. Der Tiefstand seiner Kaste beruht nicht auf Unterdrückung,
-sondern auf Vernachlässigung (wie überall hat sich der Bauer schwer
-bereichert). Nichts ist von so grausamer Trauer wie die italienische
-Ebene, als wüßte auch die Natur von diesen trostlosen Dörfern. Die
-Grausamkeit nicht nur der Natur, auch des Lebens selbst brütet über ihre
-herbstlichen Felder hin. Welkes Weinlaub schlingt sich da von Stock zu
-Stock, Kränzen gleich über eine Erde hingeworfen, die nur ein Friedhof
-ist. Wie lachend ist Zentraleuropa, verglichen mit der Straße, die nach
-Pisa führt! Der Bolschewismus aber in dem sozial so unbalancierten
-Italien hätte Europa den Rest gegeben. Eine solche Verfinsterung und
-Vergiftung seines Blutes so nah an seinem Herzen hätte es nicht
-ertragen.
-
-Fahrten durch italienische Dörfer oder den _piccolo borgo_ boten
-jedesmal dasselbe Bild: in den Hauptstraßen, und war es noch so spät,
-stand eine aufgeregte und heftig gestikulierende Menge, von Fahnen
-umweht (ich sah drei Wochen hindurch die Ortschaften nie anders als
-beflaggt, alle Fenster bewimpelt). Der Grad der Erregbarkeit dieses
-Volkes war unschwer zu ermessen: es in die Hand nehmen und auf die
-Schlösser losmarschieren lassen, um den Besitzern Ovationen zu bereiten,
-war ebenso leicht, wie dieselben Scharen denselben Weg, jedoch als
-ebenso viele Brandstifter anzuführen und den Conte oder Marchese
-niederzuknallen. Als ich den beängstigend langen Zug die Zypressenallee
-heraufziehen und im Scheine der Fackeln den Riesenperystil und die
-Boskette belagern sah, glaubte ich wieder alle zu erkennen, die so oder
-so hätten sein können: bestialische Mörder oder fanatische Beschützer
-dieses _Padrone di casa_, der mitten in seinem _pranzo_ unterbrochen und
-hervorgeholt wurde (just als sollte er aufgeknüpft werden) und – nicht
-ahnend, daß er noch schutzbedürftig sei, die _Evvivas, Alas alas,
-alalas!_ seiner Retter schnell gefaßt mit einer Ansprache quittierte.
-Und dann flossen Ströme von Chianti. Und so machte der Faszismus
-Karriere. Kunststück! Es ist wahr, daß er Italien gerettet hat. Laßt ihm
-noch seine kindliche Erpichtheit, es nachträglich Wort haben zu wollen.
-Das indolente Rom träumte in den Tag, als es plötzlich, von seinen
-anrückenden Befreiern aufgeschreckt, schnell die Schienen aufriß und
-sich wie hinter Zugbrücken gegen sie verschanzte. Ohne bedroht gewesen
-zu sein außer von seinen Befreiern, ward es dann sehr peremptorisch
-befreit und es gab über Nacht eine _Roma Liberata_.
-
-
- II
-
-Wieder fuhr ich zwischen den hohläugigen Häusern der Dörfer dahin, auf
-der Straße, die nach Pisa führt. Von der aufgeweichten Erde war das Auto
-überspritzt. Man hätte die Sonnenstrahlen fangen mögen, so schnell
-erbleichte ihr Gold und schöpfte der Sturm wieder Atem. Denn am Himmel
-war Krieg.
-
-Die plötzlich auftauchende Gestalt eines _Camiccia Nera_ schreckte mich
-da – Halt gebietend – aus meinen Novemberträumen. Er streckte den Arm
-vor mir aus, wie ihn die Legionen des Cäsar zum Gruß ausgestreckt haben
-sollen, und mit den Worten „_Capitano Fascista_“ schwang er sich
-theatralisch und elegant, aber ohne weiteres neben den Chauffeur.
-
-Ich war wieder einmal gerettet.
-
-Und weiter ging’s: rechts der Berg von Lucca, in seiner Vereinzelung die
-wühlende Trauer dieser Ebene noch mehr akzentuierend. Seitwärts starrte
-auf halber Höhe das grausame Weiß von Carduccis Heimatsort. Wer mochte
-diese Felder bis zu ihrem Ende durchmessen? Führte denn ein Weg hinauf
-zu diesem grellen und gewürfelten Kranz von Mauern? Bogen nicht alle
-Straßen von ihnen ab?
-
-Mein schlammüberzogener Wagen indessen gelangte nach Pisa, und von
-neuem, Gott sei Dank, waren wieder Paläste zur Rechten und Paläste zur
-Linken, oder sogar mitten auf die Straße gestellt, wie um sie zu
-versperren. Unter einem geklärten Firmament wurde sodann das Grundstück
-aller Grundstücke erreicht, auf welchem der Campo Santo und die
-Kathedrale, der schiefe Turm und das Battisterium zusammen stehen.
-
-War ich zwischen den hohläugigen Häusern so vieler Ortschaften gefahren,
-um unvorbereitet und unvermittelt zu diesen schwebenden Kolonnaden,
-diesen singenden Säulenreihen emporzusehen, die kein Spiel der
-Phantasie, kein Abbild je vorwegnehmen könnte? Zum Schächer hatte mich
-der Anblick all der Dörfer herabgedrückt, dem aber nun die Verheißung
-sich erfüllte: „Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein!“
-
-Was begab sich hier und was vernahm das überwältigte Gemüt? Was für
-Knospen bersteten ihm? Welches „Sesam, tu dich auf!“ ließ Pforten der
-Hoffnung in ihren Angeln drehen? Ich setzte im Sturm über die Stufen des
-Turmes, den roten Streifen am Himmel und der spürbaren Nähe des Meeres
-entgegen. In der Nacht trieb es mich noch einmal zurück. Der Mond war
-aufgegangen. Der sonst so Teilnahmslose schien mit einbezogen. Auf mein
-Wort, er spielte voll herab. Ein Campo Santo, eine Kathedrale, ein
-schiefer Turm? Oft vernommene Worte! Was bedeuteten sie? – Die Harmonie
-der Sphären, es ist die Sphärenharmonie, von welcher dieser flache
-Rasenplan mit diesem schiefen Turm, diesem Dom, diesem Battisterium
-verhaltenen Atems rätselhaft erdröhnt.
-
-Hierher, ihr Kommissionen! Unter diesem Himmel würdet ihr nicht
-vergebens tagen. Es ist der Himmel desselben Landes, das mit einer
-solchen Vergangenheit, in Rom das Denkmal Viktor Emanuels, diesen giftig
-weißen Höllenbraten, ansetzte und heutigentages keine Maler, keine
-Architekten mehr erzeugt. Wäre es nicht wichtig, die Gründe hierfür zu
-suchen? – Der Zauber italienischer Kunst lag in ihrer Gedanklichkeit.
-Weltumspannendes zieht seine Linien in den Madonnengesichtern und macht
-sie noch zarter, zerbricht sie fast. Wo ist die Seele hin des Jacopo
-della Quercia oder jenes Ignoto Fiorentino, dessen Bild in den Uffici
-hängt? Die abgründigsten Stellen der Chaconne von Bach greifen nicht
-tiefer. Welche Beziehung zur Unsterblichkeit! Und was für Italiener sind
-das gewesen?
-
-Auch um Siena aufzusuchen, wählte ich eine Vollmondnacht. Der Zug stieg
-wie zwischen hell beschienenen Vorhöfen des Himmels an, von immer
-frischeren Winden umstrichen. Und bei der Ankunft ging es erst recht
-aufwärts, die lange Stadtmauer entlang, zur steil gewundenen Via Cavour,
-die zur Linken, mit allen Schauern, die herrliche Piazza del Campo in
-der Versenkung hinter sich läßt. Die Cafés waren noch offen, festlich
-trieb der fahnenumwehte Faszismus unter dem mitternächtigen Mond. An
-einer besonders stolzen Kreuzung von Palästen, Standbildern und Säulen
-warf mich ein pestilenzialischer Gestank aus der Ekstase. Die
-Spaziergänger schienen ihn nicht zu bemerken. Gemütlich wogte der Korso
-an einer Passerelle auf und nieder, die zwischen Negerkabusen noch ein
-Skandal gewesen wäre.
-
- * * * * *
-
-Schauderhafte alte Kokotten kamen die Wunderbauten entlang. War dies das
-Siena, zu dem ich wie auf Knien gepilgert war? Die Gassen stiegen in
-ehernen Schleifen zwischen den senkrechten Palästen empor, und es war,
-als müsse sogleich ein Gipfel, eine Fernsicht kommen. Aber der höchste
-Platz war ganz von Zinnen und Arkaden und Türmen umstellt, und nur sie
-und der Dom sahen ins Weite. Er thronte in der Mitte, und seine
-überladene Fassade (_mauvais gout du XIVe_ oder Restaurierungen?) konnte
-die Schönheit des Ganzen nicht beeinträchtigen. Ringsum war Leere. Ich
-stand allein. Unten in der Via Cavour blieben die Cafés noch lange
-überfüllt, die Lichter und Fahnen in ihrem Braus, und der Gestank der
-Passerelle inmitten des elegantesten Viertels tobte nach allen
-Richtungen.
-
-Ich durchschritt ein anderes Siena freilich als das, welches seine
-Pracht entstehen sah. Allein die Verwandtschaft war nur suspendiert und
-jederzeit wieder anzutreten. Das reizvolle Lokal, einem hohen Gewölbe
-ähnlich, in dem ich zu Mittag aß, war von poetischer Sauberkeit, in
-Zartheit und Geschmack. Ich verließ Siena wie im Traum. Kein Zweifel, es
-war noch sein altes Tageslicht, derselbe getönte und schweifende Himmel
-hüllte es ein wie dereinst. Was aber war heute von der großen
-Gemeinschaft der einstigen Meister Italiens geblieben? Nur ganz
-vereinzelt, ohne Gefolgschaft der inneren Vereinsamung anheimgestellte
-Künstler, wie hier Gabriele d’Annunzio, dort Ferruccio Busoni. Der Rest
-ist die Leere der Straße, die nach Pisa führt. Und der Grund? – Ich will
-ihn euch ins Ohr sagen: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei, und
-Italien war mit Athen, mit Byzanz und dem germanischen Norden aufs
-bräutlichste vermählt. Wie ein Baum trat es in die überschwenglichste
-Frühlingspracht. Man reiste damals langsam, es ist wahr. Und dennoch
-entblühten das Tuchersche Jagdschloß zu Nürnberg, Maria im Gestade zu
-Wien und die diminutive Maria della Spina zu Pisa einer selben Familie.
-Denn das nationalistische Schisma hatte noch nicht – in
-entgegengesetzter Richtung – den Wettlauf mit den Blitz- und Orientzügen
-aufgenommen. Und für die verheirateten Völker bestand noch nicht, wie
-heute, die Gefahr, daß die einen in Problematik verarmen und sich
-zermürben, die anderen in Gesten und Parolen sich exteriorisieren, jedes
-auf seine Weise sich überschlagen und auf toten Geleisen sich heiß
-laufen würde. Der Hain der Musen war noch nicht zu einem Theater
-abgeholzt, auf dessen Brettern die Auftretenden in ihre eigenen Kulissen
-hineinreden und die Geltung ihrer Worte immer mehr zerschichtet sehen.
-Die Talente, die noch treiben, dürfen uns über die um sich greifende
-Wüste, die uns alle bedroht, nicht hinwegtäuschen. Zwar ist der
-vielgenannte „Untergang des Abendlandes“ kein Begriff, sondern nur ein
-willkürliches Postulat. Aber die kurzsichtig sich aufwerfenden
-Abendländer drängten den Gedanken des Abendlandes ganz und gar zurück,
-statt in ihn einzugehen. Die Vorherrschaft bald dieser, bald jener
-Abendländer hat die Verwirrung angestellt. Auf diese Abendländer, statt
-auf ein Abendland, das außer Kraft gesetzt wurde, wäre diese These zu
-stellen, statt mit einer These, die es nicht gibt, die Unnachdenklichen
-zu verführen und die Begriffe noch mehr zu verheeren.
-
-Aber laßt mich zurückkehren zur hochgelegenen Villa, die Carducci
-besang, die sich stolz abkehrt von den Feldern, welche sie beherrscht,
-und ihre Pinienhaine und Boskette im Auge behält. Laßt mich euch eine
-Geistergeschichte erzählen, wie ich sie in diesem Hause erlebte.
-
-
- III
-
-Ich wohnte zur ebenen Erde in einem großen Saal. Die Wände, die vielen
-Stühle, das Riesensofa, das weite Himmelbett in gelbem Damast
-ausgeschlagen, sie und die venezianischen Spiegel waren reinstes
-achtzehntes Jahrhundert, wie ein Bild von Ghislandi. Nur das
-schwervergitterte, übrigens einzige Fenster, merkwürdig zur Seite
-hinausgerückt, fast in die Ecke gedrängt, entstammte einer früheren
-Zeit. Die eine Tür ging auf die Halle hinaus, die andere in ein kleines
-Kabinett, als Ankleideraum gedacht, der rechts an das Badezimmer, links
-wiederum an eine winzige Türe stieß, von welcher unmittelbar eine
-geheime Treppe in vielen Windungen zu den oberen Stockwerken führte. Man
-sieht: ein getrenntes Appartement, und nur durch das saalartige
-Schlafzimmer so groß. – Zwischen den thronartigen Sesseln ragte der
-prachtvolle Kamin, dessen Feuer mich entzückte. Es war November und
-regnete immerzu. Doch herrschte keine Kälte. Ja, eine Schlange ringelte
-gleich den Parkweg heran, als ihn die Sonne eines Morgens beschien.
-
-Schnell aber füllte Dämmerung den Saal. Der gelbe Damast, von
-unnachahmlichem Gelb, an manchen Stellen zerschlissen, war er doch so
-kostbar wie alt, und der Baldachin mit seinen schweren, etwas
-zerfransten silbernen Troddeln, sowie das Bett, die Stühle, die Spiegel
-schienen dann alle auf Menschen und auf Dinge zu warten, sie, für welche
-Menschen und Dinge doch so Vergangenes und Abgelegtes waren. „Es
-geisterte hier“, hörte ich flüstern. Mir aber brauchte man solches weder
-zu verheimlichen noch zu verraten. Ich sehe es einem Zimmer sofort an,
-auch wenn Morgenlicht es verklärt und Vögel vor dem Fenster trillern, ob
-es wacht oder schläft in der Spanne zwischen Nacht und Tag. Denn nie
-verscheucht die Sonne seine Wolken, seine Schatten ganz, und immer
-bleibt ein solches Zimmer ernst.
-
-Rita hieß die Schwester des Herzogs; sie schien aus einem Raume nicht zu
-gehen, sondern leis und leidenschaftlich zu entschwinden.
-
-Man ging früh zur Ruh’ in diesem Hause. Aber sie pflegte noch zu mir
-hereinzukommen und die zurechtgelegten Reisigbündel und die Pinienzapfen
-anzustecken. Dann rasten die Flammen, und wir plauderten. Mir bedeutete
-die Zeit, die sie verweilte, eine Frist, denn die Nacht, kaum
-angebrochen, war noch lang und das Lächeln, mit dem ich sie endlich an
-der Schwelle verabschiedete, durfte so verzerrt sein als es wollte,
-reichte doch der Glanz der Kerzen kaum über den Tisch, und eine andere
-Beleuchtung gab es in der Villa nicht. Weit stärker war der Schein des
-Feuers, das hin und wieder zusammensank, dann aber, wenn neue Scheite in
-Brand gerieten, den Stühlen ihre gelbe Sonnenfarbe wiedergab.
-
-Ich hatte die Türe hinter Rita noch nicht geschlossen und mich dem Saale
-noch nicht zugewandt, da fühlte ich schon sein Dunkel ganz ungeteilt im
-vollen Braus, wie ein Orchester, das nur auf das Zeichen wartet.
-
-Eine Stunde oder mehr starrte ich ins Feuer, bis die kleine Tür zu der
-geheimen Treppe allzu knisternd erbebte, in ihrem Drange sich zu öffnen.
-Ich ging auf sie zu, sie versank in Stille, ich trat zurück, von neuem
-atmete ihr Griff. – Dem Feuer abgewandt, behielt ich sie jetzt im Auge.
-Sie endlich fröstelnd selber öffnend, steckte ich die Kerzen vor dem
-Spiegel an und machte mich langsam bereit, das hohe Baldachinbett zu
-besteigen, das belagerte! Nur von einem kleinen Teil desselben war die
-damastene Decke zurückgeschlagen; links fast in Armeslänge die Wand, die
-rechte Schulter aber dem Sturme ausgesetzt und unbeschirmt inmitten der
-gesteigerten, immer mehr sich verstrickenden Luft. Trauer wogte und
-trieb heran. So werden lachlustige, lachbegierige, stets nach einem
-Anlaß zu Gelächter dürstende Lippen in sich zusammensinken, einfallen in
-Ernst und Bitterkeit, wenn ein noch so ferner Reflex von einer Welt sie
-trifft, die kein Lachen zu kennen scheint. Und der Gedanke an sie kann
-sich hinstürzen über uns, gegen uns ausgestrahlt, uns ganz zu seinem
-Brennpunkt nehmen und besitzen.
-
-Rita pflegte die Stühle wie für Besuche um den brennenden Kamin zu
-stellen; sie maß ihn vom Baldachin aus, der Zwischenräume halber, die zu
-belassen waren, auf daß ich das Spiel der Flammen frei genoß.
-Hochaufgerichtet starrte ich sie an. Ein Nichts, der Bruchteil eines
-Nichts, und ich würde sie erblicken die Gestalten, die, so schien mir,
-in den alten, den wohlbekannten Stühlen saßen, dem Feuer zugekehrt, oder
-vielleicht mir, die so hinstarrte zu ihnen. Jetzt – jetzt – was vermaß
-ich mich so auszuschauen? Und fühlte ich nicht schon allzu deutlich den
-Saal ins Grenzenlose schleifen, und dieses ungeheuere Bett? – Was fehlte
-noch, daß ich die Griffe faßte, die so geisterhaft auf meiner rechten
-Schulter lasteten, und daß meine Finger die Schleier befühlten, die an
-meinem Nacken sich verankerten, Schatten, von allen Seiten auf mich
-zugewallt. Bis ich aufsprang und die Sessel am Kamin aus dem
-Gesichtskreis rückte. Aber all die anderen, längs der Wand angereiht,
-lebten sie minder auf? Was ließ mich zuletzt die Pfosten des Baldachins
-umschlingen, meiner blinden Zeugenschaft ganz hingegeben, ihr immer mehr
-entgegengleitend –
-
-O schattenschwere Novembernächte!
-
-Wohl konnte es sein, daß sich da sachte die Türe öffnete und, ihre Kerze
-vorantragend, Cassilda schüchtern hereinsah: nächtlichen Haares im
-langen Nachtgewand, fast rätselhaft in ihrer Anmut, schwang sie sich auf
-das goldene Bett. Es war ihr Eigentum wie dieses ganze Haus.
-
-„Wie schlecht man schläft in meiner Villa!“ seufzte sie und sprach über
-ihr Leben. Und ich hörte zu.
-
-Jedoch der Übergang zu ihr schien mir beschwerlicher als sonst; und
-lebendiger freilich, doch scheinhafter auch dünkte sie mir; und
-_wesenhafter_ jene Schatten als wir beide, der Weg zu ihnen der
-direktere, wenn auch ungangbar; und unsere Gemeinschaft wie unser
-Zusammensein, ob es auch alle Saturnalien des Todes in Nichts
-zerstreute, war ephemer; Cassildas Nähe war illusorisch. Denn
-unübersteiglich dumpf und trennend war die Welt der Körper. Die ganze
-Kälte und Abgetrenntheit, der sich jedes einzelne Wesen überantwortet
-sieht, ging mir auf, während Cassilda sich schläfrig redete und dann vom
-Bett herunterstieg, um ihr eigenes Zimmer wieder aufzusuchen.
-
-Nacht für Nacht verging in dieser Weise: erst der ausgedehnte Abend mit
-Rita, welche die Scheite und Pinienzapfen entfachte, unser Abschied an
-der Tür, sodann das lange Gegenüber, das schweigsame Duell bis zu den
-Morgenstunden, der schwere Schlaf bis in den Vormittag. Zuweilen das
-Auftreten der ruhelosen Cassilda, unsere Gespräche unter dem Baldachin,
-bis sie den Fuß zu Boden setzte und mich verließ. Ich merkte die Kurve
-jener Nächte nicht sogleich, noch das verminderte Grauen, mit welchem
-ich mich dem Saale zurückwandte, wenn Rita entschwand, noch daß mein
-streitsüchtiger Arm erstarkte. Sondern wie ein Stoß traf mich die
-aufgekeimte Sympathie. – Es war nicht nur die Müdigkeit, welche das Auge
-immer erloschener in den Tag hineinsehen ließ, den ohnehin so trüben
-Novembertag. Sondern sie hatten auch ihren sehr vernehmlichen Lockruf,
-diese Nächte, und ihre gefährliche Lust. Wie löste sie den blinden
-Drang, nur ja zu leben, nur ja nicht zu sterben, wesensverschieden von
-den Gestorbenen zu sein! Und nun – statt des Sturmes und der Furcht –
-orphische Schwingungen herüber und hin. – Aber plötzlich, war es
-Ungeduld, Widerwille oder Scheu? – zerriß ich alle Fäden, die fein wie
-Spinnweben nach mir zogen, und von einer Stunde zur anderen war ich
-entschlossen, diesem Hause zu entfliehen. Um Mittag stand mein Koffer
-bereit, triumphierend hatte ich ihn abgeschlossen; da ereignete sich ein
-Zwischenfall, der mich noch für eine letzte Nacht in diesem Zimmer
-zurückhielt und zugleich meinem Aufenthalt in der „_Italia liberata_“
-einen unerwarteten Abschluß verlieh.
-
-
- IV
-
-„Heute wird nicht gefahren!“ rief Cassilda in den Saal, „es sind vier
-deutsche Studenten angekommen, zu Fuß, von Rom. Und wie abgerissen sie
-sind! Aber ihre Schuhe werden im Dorfe frisch besohlt! Sie übernachten
-in der Fattoria, und sie wollen uns vorsingen heute abend.“ Ihr
-melodisches Lachen hatte einen metallnen Sprung wie eine Glocke. „Nein,
-wie sie essen können!“ brach sie aus.
-
-Mein erster Impuls war, mich vor diesen deutschen Studenten zu drücken.
-Ich fand es nicht am Platze, ich fand es nicht an der Zeit, daß sie
-gerade jetzt und ausgerechnet dieses Land auf solche Weise bereisten,
-Obdach erbittend von Ort zu Ort, in Scheunen nächtigend (und was für
-Scheunen!) oder dann auf Gutsherrschaften nach dem Ökonomiegebäude
-mitleidig verwiesen. Konnte man besiegter auftreten? Zum Teufel auch!
-Man schuldete etwas seiner Vergangenheit! Entstammten sie nicht einem
-stolzen Volk? Es hatte nicht mit zagen Bettlerschritten auf diesem Boden
-vorzudringen gepflegt! Und war ihre Rolle nicht neu? Was besaßen sie für
-Gründe, sich so unschwer in dieselbe zu finden? Aber natürlich mußte ich
-helfen, sie zu empfangen.
-
-Übrigens – dem einen oder anderen wurde wohl bei einem Baumeister auf
-dem Reißbrett zu schaffen gegeben; aber Studenten waren es keine, und
-ihre Naivität schien entschuldbarer, sobald man sie sah. Auch deutete
-nichts darauf hin, daß sie seit einem Vierteljahr zumeist auf dem Stroh
-italienischer Bauernhöfe schliefen, sondern sauber und adrett, ja
-schmuck, bei aller Dürftigkeit, standen sie abends zur Serenade
-aufgepflanzt, vornean der Lautenspieler, blond wie Dornröschen und das
-Gesicht schneeweiß.
-
-Der Tenor mit seinem schmalen, fahlen und windschiefen Kopf schien auf
-ein romantisches Erlebnis mit Rübezahl zurückzuschauen und immer noch
-daran zu denken; der dritte glich auf ein Haar dem braven Knappen
-Fridolin, und nur der vierte, ein Magdeburger, war Realpolitiker.
-
-Durch das offene Fenster leuchtete im Kerzenscheine der weiß gedeckte
-Tisch, Gläser, noch mit Chianti gefüllt, halbgeleerte Riesenschüsseln
-mit Makkaroni. Es war ihre vierte Mahlzeit. „_Bevono poco, ma che
-appetito!_“ berichtete der Verwalter. Sie standen in Hausschuhen. Ihres
-Stiefelwerkes hatte sich der Herzog angenommen. Bis zum nächsten Mittag
-sollten sie es gesohlt zurückerhalten. Cassilda war guter Dinge.
-Melodisch schlug die zersprungene Glocke ihres Lachens an. Die Luft war
-lau. Wir saßen in Tüchern und Mänteln um das Ökonomiegebäude gruppiert.
-Durch das immergrüne Laub der Bäume sah der Mond. Und das Konzert
-begann. –
-
-Selten hatte ich etwas so Erschütterndes gehört. Wie aus einem
-Wunderhorn ergoß sich der Wohllaut dieser staunenswert geschulten
-Stimmen. Wälder fingen an zu rauschen, verzückte Büsche über den Vater
-Rhein gebeugt, Kähne von Wellen hoch emporgehoben, Seen der Gebirge;
-blanke Scheiben einer Herberge dem müde Gelaufenen entgegenfunkelnd ...
-
-Es mehrten sich jetzt unter den Bäumen magisch angezogene Gestalten, sie
-traten näher, standen unbeweglich.
-
-Ich achtete nicht mehr der Lieder, sie waren nur noch die Begleitung zu
-dem Sturm in meinem Innern. Wie aus einem tiefen Brunnen tauchte ich
-empor, als die Sänger innehielten. Man umringte sie, von allen Seiten
-kam Applaus. Der Nachtwind strich unter einem milden Himmel,
-Kerzenschein flackerte über den Tisch, welcher die Platten, den Chianti,
-die halbgefüllten Gläser trug; alles war wie in einer gesitteten,
-idyllischen Welt. Nur ließ der Magdeburger seine Kameraden nie zu Worte
-kommen.
-
-Nach einer Weile wurden sie gebeten, weiterzusingen. Ich saß zwischen
-der Mutter des Herzogs, einer Französin, und einer jungen Deutschen in
-Schwesterntracht, die unter ihrem Häubchen mit runden Augen Welt und
-Dinge betrachtete. Der Lautenspieler mit dem schneeweißen Angesicht
-wartete auf ein Zeichen des Magdeburgers, bevor er in die Saiten griff.
-Die Aussprache der vier war nicht sehr deutlich. Nur das Wort Kikeriki
-kehrte jetzt nach jeder Strophe vernehmlich wieder. Plötzlich gerieten
-die Schatten unter den Bäumen in Bewegung; einige traten mit fast
-drohender Gebärde vor. Was ist das für ein Lied? fragte ich die kleine
-Diakonissin. Sie kannte es gut. Kikeriki sei der Spitzname der Italiener
-während des Krieges gewesen. Ein Kriegslied also! – Es schien ihr
-spaßig. Zum Glück ging seine Pointe unserem Halbkreis verloren, und es
-wurde geklatscht. Nur der Herzog sah wie mit versteinerter Pupille
-geradeaus.
-
-Eigentlich schienen die drei den Magdeburger gar nicht zu mögen. Aber
-man erlebte jetzt ein Stückchen deutscher Geschichte: nämlich sie
-gehorchten ihm doch.
-
-„Bis daß das Auge bricht, bis daß das Auge bricht“, hieß der nächste
-Refrain. Entgeistert lehnte der junge Lautenspieler an der Mauer, und
-ferne war sein Sinn. „Bis daß das Auge bricht, bis daß das Auge bricht“,
-sangen die vier, als läge in der Vorstellung etwas, worin sie
-schwelgten. „_Comme c’est triste_“, sagte die Mutter des Herzogs. Unter
-den Bäumen aber waren keine Schatten mehr zu sehen.
-
-„Ich verstehe nur die Ritornelle“, sagte ich leise zur Diakonissin.
-
-Die war schon wieder im Bilde. „Schießen tun sie, bis daß das Auge
-bricht“, sagte sie und lachte schelmisch. Sie fand nichts dabei. „Bis
-daß das Auge bricht“, sekundierte die Laute mit unerhörter Melancholie.
-Dann schloß das Konzert mit einem Hoch auf den Herzog. Ich mußte noch
-hören, wie der Magdeburger ihm versicherte, sie fänden überall eine so
-gute Aufnahme; bei den Bauern jedoch würden sie erst gefragt, ob sie
-wirklich Tedeschi seien, denn wenn sie Francesi wären, wiese man sie vor
-die Türe. Über diesen seinen Beitrag zur Politik war er sichtlich
-befriedigt. Cassilda lachte. Ihr konnte es egal sein. Mir war es zuviel.
-Ich floh in den Park. Sein Dunkel nahm mich auf. Wie der rasende Ajax,
-ein pazifistischer Ajax, köpfte ich Sträucher, schlug auf die Hecken wie
-auf einen imaginären Konferenztisch, traf drakonische Maßregeln,
-untersagte und befahl. „Ich habe keine Lust an Völkern“, schrie ich die
-Pinien an. Und kein Angehöriger eines fremden Staates durfte mir auf
-drei Generationen bei Verlust aller Ämter eine Landsmännin heiraten.
-Noch am Traualtar war sie von seiner Seite zu reißen. Wie besinnungslos
-fuhr ich in die Äste, teilte das Gezweige rings um mich her, als sähe
-ich schon hier in diesem Lande die Mädchen nicht nur schön und
-liebenswürdig, sondern auch wieder versonnen, wieder unschuldigen Auges
-und gedankenvoll wie seine Madonnen von einst. Und als sähe ich schon
-berückend unkonventionell gewordene Französinnen, komplett aus der Art
-geschlagene Engländer und weltkundige Deutsche die ihnen
-verlorengegangene Welt nicht zurückerobern, sondern zurückgewinnen.
-Nichts stünde dann jener Stunde der Einkehr mehr im Wege, in der sich
-jede Nation auf die innerhalb ihrer Grenzpfähle begangenen Infamien, auf
-die Niederlagen ihrer Gerechten, auf die Triumphe ihrer Lügner und
-Verhetzer als der einzigen Schmach besänne, welche sie treffen kann. Das
-Tausendjährige Reich wäre jede Stunde einzuläuten. Aber es geschehen
-keine Wunder dem Verblendeten, um ihn der Hölle zu entreißen, die er
-sich bereitete. Noch immer litt das Himmelreich Gewalt.
-
-Wo aber sah ich den Weisen, ach, der noch Hoffnungen frönte? Er kehrt
-sich ab, begibt sich seines Anteiles und glaubt nicht mehr an diese
-Welt. Doch wehe, sie ist die unsere! – Wie ihr heutiger Zustand Werk und
-Schlagwort einzelner ist, so könnte nur Wort und Tat einzelner ihre
-Rettung bereiten. Wenn sie auch nicht die Saat aufschießen sehen, die
-sie streuen, noch die Mühle, an der sie mahlen. Der Tod wird sie
-erlösen. Denn die Not dieser ohnmächtigen Zuschauer ist nur vergleichbar
-mit der des Schemen, das in seinem Drange, vielleicht sich kundzugeben,
-vielleicht zu rufen, doch ohne einen Laut, uns anblickt vielleicht, doch
-ohne gesehen zu werden, flehende Arme vielleicht nach uns ausstreckt,
-durch die wir schreiten als durch leere Luft. Wie vorstellbar war doch
-mit einem Male ihre heiße, verzehrende Wut!
-
-Der Park war jetzt in Nacht versunken. Nacht hing an den Zweigen, kein
-Gesang durchbrach sie mehr, die Vögel, die Schlangen, die Bäume, sie
-waren eins, sie ruhten. In dichte Wolken hatte sich der Mond gebettet,
-kaum ein hellerer Schein dort, wo er schlafend lag. Unenträtselt fügten
-sich die Rhythmen der Gestirne, spielte sich dem Auge der Marsch der
-Sterne ab, geheimem Schlüssel entspannt.
-
-Ich eilte dem Hause zu. Finster die Terrasse, leer die Halle. Wie lange
-war ich verweilt?
-
-In meinem Saale aber entsandten die Flammen des Kamins ihren warmen
-Hauch bis zu den sonnenfarbenen Stühlen. Sie standen erwartungsvoll.
-Rita hatte es aufgegeben, auf mich zu warten, aber Spätrosen auf den
-Tisch gestellt; ein Rosenstrauch leuchtete im Schein des Feuers. Ich sah
-mich um. Von neuem rauschte draußen der Regen. Bitterkeit und Süße
-wellte jetzt empor und ließ mich die Arme ausbreiten. Zum Fest war die
-pulsierende Luft um mich her. Hoch ins Leere aufgerichtet unter
-köstlichen Schauern lauschte ich ihr von meinem goldenen Bette entgegen.
-Die im Park ausgekostete verwandte Qual, sie war es, die wie mit
-Leierklängen die Schatten dieses Saales versöhnte. Blumenleicht! Wie von
-Blumen war die Schulter umweht, milde und barmherzig unser Abschied, als
-seien wir uns teuer geworden.
-
-Und ihr, meine Leser, seid ihr enttäuscht von meiner Geistergeschichte,
-weil sie tröstlich verklang?
-
-
-
-
- Torso
-
-
-Gedanken, Meinungen und Überzeugungen drängen nach Äußerung, lange bevor
-wir noch wissen, welchen Ausdruck wir ihnen verleihen, in welche Form
-wir sie bringen können. Den einen treiben sie zur Gestaltung, zur
-Ausführung oder zur Tat, den minder Glücklichen zwingen sie zur Schrift.
-
-Leopardi nennt die so verbreitete Meinung von der Seltenheit der
-Originale einen großen Irrtum, denn bei näherer Betrachtung erweise sich
-fast ein jeder als ein ganz einziges, noch nie dagewesenes Exemplar!
-Einem solchen Begriff der Originalität fehlt freilich jedes Prestige.
-Aber tatsächlich ist es mit den geistigen Physiognomien der Menschen wie
-mit den äußerlichen. Könnten wir jene mit den Augen sehen, wir würden da
-genau dieselbe Mannigfaltigkeit, aber auch dieselben Mißverhältnisse
-wahrnehmen wie an den sichtbaren Gestalten; nur daß sich auf geistigem
-Gebiete der Wahn so bemerkbar macht, als sei hier eine Unterschiebung
-der eigenen Identität durch eine schönere oder bedeutendere leichter
-möglich, die Gesetze der Unveränderlichkeit leichter zu täuschen oder zu
-umgehen als in der körperlichen Welt. Wie wenige sind denn wirklich
-schöne oder vollendete Typen! Und wie viele gleichen jenen Bruchstücken
-antiker Statuen, deren Wirkung durch einen ergänzten Kopf, eine fremde
-Bewegung verdorben oder gestört wird, statt daß sie bleiben, was sie
-sind, nämlich meist _ohne_ Kopf und Fuß, aber echt.
-
-Marie stand mit fünf Jahren eines Morgens unter einem Baum, dessen Laub
-im Winde rauschte und den blauen Himmel durchblicken ließ. „Das Leben
-ist schön!“ dachte sie.
-
-Da flog ein Blatt von den Zweigen herab in ihre Hand, und während sie
-seine groben Adern und Fasern langsam auseinanderriß, wurde sie
-unsäglich verstimmt. Nicht der frohbewegte Wipfel in der Höhe, das
-einzelne langweilige Ding in ihren Händen war die Wirklichkeit! –
-
-Der Grundakkord ihres Wesens schlug da zum erstenmal an ihr Bewußtsein
-an; denn es gibt nichts Neues im Menschen. Das _fin mot_ eines Ichs ist
-ein Motiv, und was hinzutritt sind Amplifikationen.
-
-Schon ein Jahr darauf lernte sie im Kloster die Langeweile kennen, zu
-der sie neigte wie ein anderer zu Gichtschmerzen oder Rheumatismen, und
-die sie anwehen konnte, plötzlich, unvermittelt, wie ein Wind, der um
-die Ecke fährt.
-
-In ihrem Kloster blies sie durch das ganze Haus, um alle Mauern und
-durch den ganzen Garten, die Stelle ausgenommen, an der eine reizende
-Brücke über den Wildbach bog, Libellen unklösterlich schwirrten und die
-Bäume parkähnlich zusammenstanden. Aber alles andere war häßlich. Zwei
-hohe, plumpe Berge versperrten wie Riesentore nach Norden hin die Welt,
-und die Monatsrosen standen, meist verwelkt und verweht, um ein
-mächtiges Kreuz vor dem Haus. Alles, was sie sah, mußte sie zugleich
-empfinden, doch ohne auch nur entfernt die Fähigkeit zu haben, sich dies
-zum Bewußtsein zu führen. Wie schmerzlich schien ihr im Frühjahr das
-Licht, wenn die Furchen der Berge so rauh aus dem Schnee hervorstachen
-und die grünenden Bäume im Scheine eines regnerischen Tages fröstelten.
-Ach, wie öde der Ackergeruch im Winter, die Stoppeln und Maulwurfhügel
-auf dem Felde, der schwere, fette Flug der Raben!
-
-Zu ihrer Unterhaltung verfiel sie da auf ein höchst seltsames
-Gedankenspiel: sie setzte sich abseits, stützte die Arme auf, schloß die
-Augen und dachte mit immer beschleunigterem Tempo und eingezogenem Atem:
-„Ich bin Ich.“ An diesem Gedanken konnte sie nämlich, wie an einem Seil,
-immer dunklere Schlünde hinabgleiten, bis sie ein Schwindel erfaßte und
-ihr Ich ihrem Bewußtsein entsank.
-
-Wie sie das zusammenbrachte, wurde ihr später selbst ein Rätsel: ihr
-Geist hatte damals eine jongleurartige Geschwindigkeit, als sei er
-transparenter und zugleich schärfer gewesen, lösbarer von ihr? – Sie
-wußte es nicht. Aber sie fand es „spannend“, sich selbst zu jagen, bis
-zu einer Wurzel, die sie nicht mehr war. – „Ich bin gefangen!“ dachte
-sie da wohl. „Auch nicht für eine Stunde kann ich jemals von mir fort,
-und wenn mir andere Menschen noch so sehr gefallen werden, kann ich sie
-nie sein!“
-
-Aber einmal, als ihr diese geistige Rutschpartie besonders gut gelungen
-war, faßte sie ein Entsetzen, als hätte sie sich verloren, als hinge das
-Seil ihrer Identität in der Luft, als harrten ihrer Gespenster in den
-Tiefen, in die sie geraten war, – und mühsam, wie ein Ertrinkender, so
-rang sie seufzend zur Oberfläche ihres Bewußtseins zurück.
-
-Ein Instinkt riet ihr jedoch, dies unheimliche Spiel zu lassen, und die
-Fähigkeit verlor sich auf diese Weise sehr rasch. Dafür fingen andere
-Probleme, deren Lösung sie keinen Augenblick gewachsen war, an, sie zu
-quälen.
-
-Starb eine Klosterfrau und wurde es den Zöglingen freigestellt, sie auf
-der Bahre noch einmal zu sehen, so ließ Marie alles liegen und stehen
-und marschierte, zwei Schuhe hoch, allen voran. Dann starrte sie
-forschend in das fahle Gesicht, dem der Geist schon zu lange
-entschwunden war, und das ausdruckslos, ja sinnlos vor ihr lag. Und
-nichts schien ihr gerade auf das Klosterleben ein so trauriges Licht zu
-werfen als der Tod.
-
-Aber es kamen immer mehr Dinge, die ihr mißfielen.
-
-Eines Sonntags fand sie in einem Bilderbuch eine Palmengruppe
-abgebildet, einen sprungbereiten Tiger und ein Mädchen, das mit tödlich
-entsetzter Miene sich vor ihm zu verbergen suchte, aber vergebens, denn
-er hatte sie schon fast erreicht und mußte sie unfehlbar zerreißen.
-
-Empört und außer sich, rannte Marie im Zimmer umher. Sie blickte zu den
-gemalten Inschriften auf, die an den Wänden hingen, und die ihr so gut
-gefielen: „Siehe, so sehr hat Gott die Welt geliebt ...“ „Er aber liebt
-die Seinen bis in den Tod ...“ „Kein Auge hat es gesehen, kein Ohr
-gehört ...“ Über ihren Schrank breitete ein Pelikan seine Flügel aus mit
-einem ähnlichen gefühlvollen Spruch. Wie reimte sich dies? – Und sie
-verbiß sich von neuem in das schreckliche Bild. – Wie konnte Gott dies
-ertragen, wenn wir sein Ebenbild waren?
-
-Ein anderes Mal hatte die Feuerglocke wegen eines in der Nähe brennenden
-Anwesens wohl eine Stunde hindurch geläutet. Endlich kam fliegenden
-Schrittes eine Klosterfrau den Gang heraufgeeilt und sagte: „Gottlob,
-Kinder, es ist kein Menschenleben zugrunde gegangen, nur sechzehn Kühe
-sind verbrannt.“
-
-In der Nacht sah Marie die Tiere heulend durch die Flammen jagen und
-fuhr erschrocken aus ihren Träumen empor. Sie schlief nahe am Fenster,
-und der Wildbach rauschte mit düsterem Schwalle, ewig stöhnend, schwarze
-Klagen herauf. Was war dies für eine Welt, in der die Kinder ihre Eltern
-begruben, und der Herr der Schöpfung zur Beute eines niedrigen Tieres
-entehrt werden durfte? Schöne Menschen, die sie kannte oder gesehen
-hatte, und die schwerlich je in Kollision mit einem Tiger oder einer
-_Boa constrictor_ kommen würden, schwebten ihr vor Augen. Allein gewisse
-_Möglichkeiten_ genügten, um da ihren Weltschmerz zu einem unerhörten
-Fortissimo zu steigern. Es gab ja kein Entrinnen aus einer solchen Welt,
-keinen Tod, keine Bewußtlosigkeit mehr für unsere unsterblichen Seelen!
-„Oh, wie ist das?“ dachte sie erschrocken. „Ich kann Gott nicht lieben!“
-
-Am nächsten Morgen waren Geschenke für sie angekommen, und sie bezeigte
-eine solche Gier, sie alsbald in Empfang zu nehmen, daß die Oberin sie
-zurechtwies: „Du genußsüchtiges Kind“, sagte sie streng. Marie hörte
-dies Wort zum erstenmal und vernahm es mit Interesse. In der Tat: Warum
-haßte sie nichts so sehr auf der Welt als den Schmerz? Warum ging sie
-stets mit abgewandtem Gesicht den unteren Gang entlang, wo die Apostel
-der Reihe nach in schlecht gemalten Bildern hingen, mit Kreuz, Nägeln
-und Stricken, all den furchtbaren Zutaten ihres Sterbens? Warum erfaßte
-sie jede Freude mit so peinvoller Hast und entbehrte sie mit solcher
-Heftigkeit? Und warum waren selbst ihre schwärzesten Stimmungen so
-seicht wie Wolken, die ein leichter Windstoß wieder zerreißt?
-
-Aber ihre Grübeleien brachten ihr nur Überdruß, und sie war froh, sich
-ihrer zu entschlagen. So fing sie mit acht Jahren an zu schwärmen, und
-wenn Orgelklänge und Weihrauchdüfte die Kirche erfüllten, dachte sie nur
-mehr an Rosa Flatz, Paula Baselli, Irene Angermaier und Livia Gelmini.
-
-Es gibt Wesen, die in früher, unwahrscheinlicher Vollendung ins Leben
-hineinleuchten, gleich jenen vereinzelten Tagen inmitten langer
-Regenzeiten, an denen das Licht so zärtlich, das Laub so golden, der
-feuchte Blick der Sonne kristallen leuchtet! Aber tags darauf haben
-Regen und Wind ihre trüben Lieder wieder aufgenommen ... Flatz war von
-hohem Wuchs, hatte goldenes Haar und den Kopf einer Sirene. Da sie fast
-schon erwachsen war, wagte Marie nur im Winter, wenn die Zöglinge
-schweigend spazierengehen mußten, sich zu ihr zu gesellen, ergriff ihre
-Hand und sah stillbeglückt von der Seite zu ihr auf. Kein Frost konnte
-die liebliche Röte dieser Wangen beeinträchtigen, so schön und blühend
-war ihr Flaum. Aber sie blühte so königlich! Wo sie ging, war kein
-Winter, heftige Rosensträuche blühten an allen Wegen, und an den
-Frühling gemahnte selbst ihr sicherer, zerstreuter Blick.
-
-Baselli hatte einen zu tiefen Teint und ungeschmeidiges Haar. Aber der
-Schnitt war rein wie der eines Ägineten, und ihr stolzer Blick flammte
-in unbewußter oder in Zaum gehaltener Trauer. Marie hielt sich gern in
-ihrem Umkreis, um die edlen Augenhöhlen, die köstliche Zeichnung ihrer
-Lippen in der Nähe zu sehen, und wie über einen heiligen Wald schwärmte
-ihr inneres Auge über sie hin.
-
-Aber Irene Angermaier war die schönste! Mit braunem, weichfließendem
-Haar, ruhig und müd wie eine Nymphea im Mondlicht. Sie lehnte in ihrer
-harten Schulbank mit jener überlegenen Grazie, welche die Menge anjubelt
-und vor der die Maler knien. In prunkvoll ausgeschlagener Gondel, in
-Palästen hätte sie ruhen sollen; ein Antlitz für Perlen und unschätzbare
-Schleier, ein Wesen, zu schön, um zu leben, zu leicht, um im Grabe zu
-ruhen.
-
-Gelmini war aus Salurn und melodisch wie ein Glockenspiel. Ihre Achseln
-schienen wie mit Blütenfäden an ihren Körper gefügt, und an der Art, wie
-sie den Arm nach der Stiegenrampe ausstreckte, und an ihrem Gang konnte
-Marie sich nimmer satt sehen. So schritt wohl Julia, als Romeo sie zum
-erstenmal erblickte. Und wenn Livia: „_il gallo, la primavera, la
-catena_“ sagte, dann schwärmte Maries Herz wie ein bunter Schmetterling
-in der Sonne. Mit Livien, die erst neun Jahre alt war, hätte sie
-verkehren können, aber sie gefiel ihr zu gut, und wo sie bewunderte,
-zerfloß sie in Verehrung. In Wirklichkeit wollte sie weder von Puppen
-noch von Freundinnen etwas wissen, und mit Vertraulichkeiten war ihr
-nicht gedient. Sondern sie wollte höhere Wesen, die sie ihrer enthoben.
-Und angesichts jener vier reizvollen Gestalten, die sie so früh
-verlieren und sterben oder scheiden sehen mußte, war sie viel mehr einem
-Zustand als Gefühlen hingegeben. Sie sprach nie mit ihnen und suchte nie
-von ihnen beachtet zu werden, nur in der Nähe, im selben Zimmer mußten
-sie sein; sie mußte sie alle vier sehen können, wenn sie den Kopf
-wandte; dann nur war ihr Kloster ein schöner, gewählter und
-träumerischer Ort.
-
-Mit ihnen schwand alle Poesie aus Maries klösterlichem Leben; sie stak
-von neuem in Grübeleien, wie in ödem, verwirrendem Sande, langweilte
-sich und sehnte sich fort. Zudem wurden alle ihre Bücher, die sie gerne
-vorschriftswidrig in ihrer Schublade aufgeschlagen hielt, der Reihe nach
-konfisziert, und ehe sie sich versah, stand sie als Verkörperung der
-Insubordination von allen Zöglingen abseits. Alljährlich feierte man in
-ihrem Kloster das sogenannte Königsfest, bei dem sich das ganze
-Pensionat in einen Hofstaat umwandelte, und jeder Zögling, von der
-Königin herab zu den Köchen und Kaminkehrern, je nach Verdienst, seine
-Charge erhielt. Die ersten Jahre stand Marie als Page, in
-Korkzieherlocken und Goldreif, einen ganzen Tag hindurch stumm, doch
-voll Entzücken, in der Königin Dienst. Es war Irene Angermaier, in
-Silbergaze und königlicher Krone. Aber später wurde ihr dies reizende
-Fest verleidet: In einem schief aufgesetzten, viel zu kleinen
-Schäferinnenhut und einem zu engen grünen Tarlatankleid (denn es hatte
-als ehemalige Balltoilette eine Taille, und sie noch lange nicht)
-spazierte sie als „königliche Lectrice“ mit einem Riesenbuch, allein und
-tödlich verlegen, hinter den Landgräfinnen einher, und wenn im _cortège_
-die Reihe an sie kam, tanzte der Hofnarr in seiner roten Schellenkappe
-vor ihr her und verkündete ihre Streiche. Nun pflog sie zwar über die
-Weltordnung allerlei Separatanschauungen, doch für das Maß ihrer eigenen
-Missetaten fehlte ihr jedes persönliche Gutdünken, und sie schämte sich
-über Gebühr.
-
-Aber dafür war die freie, herrliche Welt der Tummelplatz aller
-Freiheiten, und ihr Herz schlug hoch, als die schweren Klosterriegel auf
-immer hinter ihr zufielen.
-
-Das Leben präludiert meist anders, als es verläuft. In der Tat: so
-unglaublich es ihr selber erschien: einen Monat später durchschwärmte
-sie, frei wie ein Waldestier, eine Mondnacht um die andere in den Bergen
-und kampierte am offenen Feuer wie ein Zigeuner. Was hätte sie gesagt,
-die würdige Mère Supérieure, die ihre Uhr nach den Hühnern richtete? –
-Da hing Maries Disziplin am hohen Klostergiebel, als leeres Fähnchen
-zurückgeblieben.
-
-Folgendes müssen wir ihren eigenen Aufzeichnungen entnehmen:
-
-Es war zur Sommerszeit in den bayrischen Bergen, als uns vier Kinder die
-Wanderlust zum erstenmal ergriff. Aber der Tag ließ uns nicht weit genug
-gelangen; so rüsteten wir uns sorglich auf einen längeren Streifzug aus.
-Daß uns gerade nur so viel Geld bewilligt wurde, um vierundzwanzig
-Stunden fernzubleiben, kümmerte uns nicht.
-
-Erst als der späte Nachmittag verglühte, traten wir vor. Bald rauschte
-dann im Mondlicht der Fluß uns zur Seite, und schneeweiß zog sich die
-Straße den bewaldeten Felsen entlang. Jeder Stein, der im Flusse die
-Wellen zurückwarf, die Kiesel am Wegesrand, ja das zertretene Gras am
-Ufer schienen verklärt. Und wenn sich in dem mondlichen Schweigen der
-Schrei eines Tieres entrang, durchzitterte ein ewiges Glück die
-schimmernden Mulden.
-
-Immer leichter trugen uns unsere Schritte voran! Immer eifriger berieten
-wir die Möglichkeiten einer einstigen großen Erbschaft, und in der
-großen Bergesstille schallte unser lautes Gelächter.
-
-Als die Lichter der „Fall“ vom anderen Ufer herüberleuchteten, hielten
-wir Rat: denn aller Spaß wäre zu Ende gewesen, hätte unserem Auftreten
-etwas von dem hohen Ansehen gefehlt, von dem wir selbst so sehr
-überzeugt waren. So betraten wir, stets fremde Sprachen untereinander
-führend, das alte Gasthaus, bestellten ein wohl ausgeklügeltes, sehr
-zimperliches, aber sehr billiges Essen, gaben dann vor, einer Wette
-halber die Nacht in keinem Hause verbringen zu dürfen, und griffen,
-mitten in der Nacht, mit großer Eile nach unseren Stöcken. Der Eindruck
-war nach Wunsch: die paar Reisenden und das Personal standen neugierig
-an der Türe, eine alte Dame protegierte, die Wirtin bewunderte uns, der
-Förster zog seine Pfeife weg und wies uns den Weg, und von freundlichen
-Zurufen verfolgt, von der alten Dame gewarnt, drangen wir in den Wald,
-und weiter hinein in die „Riß“. Den Tag verschliefen wir auf Almen oder
-Bergeskanten. Kamen Stürme, so äfften wir sie. Von den Felsen geschützt,
-apostrophierten wir das finster fliegende Gewölk und begrüßten die
-Donnerschläge mit dröhnendem Gelächter.
-
-In der Folge dehnten wir unsere Touren immer stattlicher aus. An einem
-Herbsttag kamen wir vom Achensee und wollten über den Schildenstein
-zurück. Die Alm war geschlossen. Da liefen wir in der Dämmerung den
-Kanten des Blauberges entlang, drangen durch das Fenster in eine leere
-Hütte und machten uns Feuer. Aber draußen lockte die Nacht, lockten die
-in Mond getauchten Tiefen des Achentales und der silberne See.
-Unbeweglich wie Berggeister saßen wir, in unsere Mäntel gehüllt, vor
-unserer Alm. War es Ahnung oder Müdigkeit, die uns verstummen ließ? Die
-Welt mit ihrem Spiel riesiger Schatten und frohlockender Höhen atmete
-Gesang, aber die Leier unserer Freuden schwebte zerrissen über uns.
-
-Bald standen wir wie ein Häuflein, das ohne den Führer trübe zerfällt.
-Der große Zauber jener Wanderungen hing an einem romantischen,
-19jährigen, höchst merkwürdigen Wesen, in dem kein Raum war für
-Pandorens Trug. Reinste Vernunft gebot hier jeder Unruhe, und die
-Erkenntnis überstrahlte den Wunsch. Aber nie vorher hatte sich so hohe
-Weisheit mit solcher Grazie umkleidet und die Taue eines so unschuldigen
-Lebens gelockert. In dieser fast morbiden Erscheinung mit dem
-unbeschreiblichen Relief ihrer bangen Umrisse blieb alle Schwäche
-ausgeschieden, war alles Schönheitssinn und Stil. Zuletzt sind Linien,
-die uns fesseln, solche, an die wir uns nicht gewöhnen, und stete
-Neugier erregte diese schmale, ernste Stirne mit den hochgezogenen
-Brauen, die fast leichtsinnige Anmut des kleinen Ovals, das eitel
-gesteckte Gold der Haare, und dabei die männliche Zurückhaltung in den
-durchdringenden Augen. So glich die Mischung ihrer psychischen Elemente
-der Stimmung eines herrlichen, aber zu zarten Instrumentes; und so
-ließen sich ihre Anforderungen an ein Leben, an das sie nicht glaubte,
-nicht herabdrücken, und mit allen Fasern zog sie sich von ihm zurück.
-
-„_La mort est bête_“, sagte Gambetta. „Aber der Tod überblickt
-Zusammenhänge, und das Leben ist befangen. In unserer Existenz wähnen
-wir unser Wesen erschöpft, währenddem die Grundlagen neuer
-Individualitäten schon in uns dämmern, neue Lebensformen unserer harren
-mögen. Allein einzig ist der Mensch als Kunstwerk! Und mit Grauen
-erfahren wir, daß es Wesen gibt, die, köstlichen Schalen gleich, einmal
-zerschlagen, der Natur nicht wieder gelingen.“
-
- Wie der Seekranke vom Schiff im ersten Morgengrauen nach der Küste
- späht, so sehnt man sich oft nach dem Tode – man weiß, daß man den
- Gang und die Richtung seines Schiffes nicht verändern kann.
-
- Nietzsche. Nachgelassene Werke.
-
- Ob wir wollen oder nicht, wir werden am Ende alle katholisch.
-
- Moltke.
-
-Als Marie heranwuchs, wurde ihr der Ernst so widerwärtig wie früher das
-Leiden. Von den beiden Philosophen, von welchen der eine die Welt ewig
-weinenswert, der andere sie ewig komisch fand, hatte nur der letztere
-ihren Beifall. Denn wer sich über eine Welt, gegen die er nichts
-vermochte, Sorgen machte, der war in ihren Augen ein Narr. Man lebt
-nicht lange, also lebe man, ohne zu denken. Allein ihren Theorien zum
-Trotz erhoben sich die Gedanken wie ein brennender Wüstenwind in ihrem
-kindlichen Gehirn. Da faßte sie eine tiefe Abneigung zu Menschen ihrer
-Art. Mädchen ihres Alters umging sie in weitem Bogen, aber das
-Zusammensein mit schönen verwöhnten Frauen, im Kreise weltgewandter
-Männer, wurde ihr Paradies. So geriet sie sehr früh in eine Clique
-welterfahrener, mächtiger und verfeinerter Leute, die sich täglich
-sahen, in deren Vertraulichkeit, die keine war, das Herz fast keine
-Rolle spielte, sondern mehr das Behagen, und deren Denkprozeß bei oft
-interessanter Begabung ein geringer blieb. Aber gerade dies fand sie
-bezaubernd. Das Leben war es wohl wert, zur Kunst erhoben, erheitert zu
-werden, und die Sorglosen waren die Lieblinge, die Nachdenklichen nur
-die Frondiener der Götter.
-
-_Jene_ also waren die überlegenen und vollkommeneren Menschen. Ach und
-das ferne, freundliche Mitgefühl, mit dem sie eine eben ereignete große
-Katastrophe, einen Brand, ein Eisenbahnunglück besprachen, vollends die
-Art, mit der sie dann das Thema wieder fallen ließen, entzückte, ja
-betäubte Marie. Und die Ironie, mit der sie gesprächsweise die
-Erbärmlichkeiten des Lebens streiften, – nur streiften! schien ihr das
-Nonplusultra seelischer Eleganz.
-
-Diese siegreichen Typen schieden in ihren Augen alle entwürdigenden
-Grausamkeiten, alle Häßlichkeiten aus, alles, was sie haßte, woran sie
-nicht erinnert werden wollte.
-
-Denn es lag ihr so sehr am Leben! Es schien ihr so kostbar, so
-begehrenswert. Sie liebte, ja in dem höher potenzierten Menschen
-vergötterte sie es; aber die _Freude_ war das Gesetz, nach dem er
-wandeln sollte.
-
-Aber ach! die Freunde ihrer Wahl, in deren Oberflächlichkeit sie
-schwelgte, deren Lächeln sie beruhigte, an deren Leichtsinn sie ihr
-Gemüt sonnte wie ein Kranker im Mittagsscheine, sie hinderten ja nicht,
-daß ihre Gegensätze bestanden. Ihr Genuß löschte keine Qual, war nur ein
-Kontrast – kein Ersatz – nur ein Widerspruch mehr! Empfindungen von
-solcher Mannigfaltigkeit konnten sie da überwältigen, und der Andrang
-ihrer Gedanken im Verhältnis zu ihren noch kaum entwickelten Fähigkeiten
-sich so mächtig steigern, daß vor innerer Erregung ihre Zähne
-zusammenschlugen und ein lauerndes Angstgefühl sie immer deutlicher
-beschlich.
-
-Zu ihren Freunden hatte sie indes eigentümlich Stellung genommen: zu
-jung, um noch zu zählen, störte sie niemanden; die Frauen litten sie
-gern, ja die schönste von ihnen zog sie zu den Zusammenkünften, die
-täglich bei ihr stattfanden, und hielt sie wie eine Art von Pagen. In
-der Tat hatte Marie der Schönheit gegenüber eine huldigende Art, ein
-Gefühl des Ausgefülltseins und Verlorengehens, ein Stillstehen ihres
-Selbst zu einem Atom, das nicht Schwärmerei war, sondern Glück.
-
-Eines Tages hatte sie sich verspätet, die Besucher waren fort und ihre
-Freundin allein.
-
-Durch das alte, gemalte Scheibenfenster umwob sie der goldene Staub der
-sinkenden Frühlingssonne. Sie lag, den Kopf zurückgeworfen, ausgestreckt
-und rauchte eine Zigarette. Nichts dächte man, was in diesem Anblick
-klassische Erinnerungen weckte. Was hielt nun Marie vor einer der
-schönsten Gestalten ihrer Zeit unbeweglich, wie geblendet, an der
-Schwelle zurück? Sie sah Helden verbluten, Troja im Schutt und Hektor
-erschlagen, und wie von einem plötzlichen Schein entrückt, faßte sie das
-ewige Relief dieses flüchtigen Lebens.
-
-Aber der Mensch war ihr, was dem Künstler die Kunst, und ihr
-Wohlgefallen war ein Meer der Ruhe. Und dieser eine göttliche Funke in
-ihr schuf ihr Beziehungen, baute ihr Brücken, die lustig funkelten wie
-Regenbogen.
-
-Allein nicht nur vergessen und sich verlieren wollte sie, sondern die
-Art ihrer Salonolympier sich aneignen und nachahmen. Stets schwärmend,
-haßte sie Exaltation, und Kälte des Herzens war in ihren Augen Weisheit.
-
-Es ist ja eine Tatsache, daß nicht die Eigenschaften selbst, sondern ihr
-Reflex es ist, der uns besticht, und nicht der Wert, den man besitzt,
-sondern den man verausgabt. Hierin beruht der Reiz gewisser typischer
-Genußmenschen. Sie erwecken Illusionen, weil wir ihnen mehr zugute
-halten, als sie veräußern, manchmal mit Recht, und manchmal nicht. Es
-sind die Reichen, die kein dunkler Stachel der Entbehrung hindert, ihre
-Empfindsamkeit ohne Rest auszuleben, und von denen geschrieben steht,
-daß sie das Himmelreich so schwer erlangen, denn es leidet Gewalt.
-
-Und doch konnte sie nicht umhin, das Leiden als einen Mißstand, die
-Entsagung nicht als eine Bestimmung des Menschen zu betrachten, und wenn
-sie glückliche Naturen so sehr liebte, so war es, weil sie ihre
-Berechtigung anerkannte. Dieser Glaube saß ihr im Blute, er wuchs und
-lebte, er zehrte an ihr. In ihrer eigenen Zerrissenheit erblickte sie
-einen untergeordneten Zustand, weil sie fühlte, wie dies Übergreifen
-ihrer Individualität nichts anderes aus ihr schuf, als einen heiseren
-Mißton, der jede Saite erzittern ließ, der keinen Klang ausschied und
-keinen unvermischt behielt. Die Röte stieg ihr dann wohl auf, wenn sie
-der eigenen Maßlosigkeit gedachte, ihres übertriebenen Gebarens, noch
-vor einer Stunde, als sie in Voltaires Geschichte Karls XII. von Peter
-dem Großen las, der seine Kosaken so unentwegt, nach Tausenden rädern
-ließ. Gleich einem scheugewordenen Tiere war sie da mit dem Kopf gegen
-die Wand gestoßen, wie um eine solche Tatsache aus ihrem Bewußtsein zu
-löschen. Denn aller Jammer, der solche Greuel deckt, war da vor ihren
-Blicken aufgestiegen, und ungestüme Todessehnsucht ergriff sie vor dem
-Bilde einer so schmerzbefleckten Welt.
-
-Bei solcher Gemütsart mag es eigentümlich erscheinen, daß sie die
-Religion so ganz abseits ließ. Allein sie war ihr durch das Kloster zu
-sehr entfremdet worden. Das Breittreten großer Mysterien hatte nur ihren
-Widerwillen, später ihre Gleichgültigkeit hervorgerufen, und weiter ging
-das Senkblei ihrer Messungen nicht. Es ging ihr wie so vielen. Daß wir
-einem Glauben, in dessen tiefste Geheimnisse wir als kleine Kinder
-eingeweiht werden, eines Tages ungeduldig den Rücken kehren, ist ja
-ungefähr das Naheliegendste, was es gibt und erfordert spottwenig Geist.
-Und wie tief drang jener Rat Goethes in Wilhelm Meister, den Knaben die
-Mysterien des Neuen Testaments bis zum Jünglingsalter vorzuenthalten um
-der notwendigen Verstümmelung ihrer Eindrücke vorzubeugen? Christus
-wählte reife Männer zu seinen Zuhörern, und wie summarisch verstanden
-ihn selbst die!
-
-Jene Verstümmelung ihrer Eindrücke nun hatte Marie erfahren. Christus
-war ihr ein furchtbares Rätsel geworden, eine unverständliche Gestalt,
-der Widersprüche voll, der Umrisse bar, zu der sie keine Fühlung
-gewinnen konnte und die sie bedrückte.
-
-Und jene dunkle, unbestimmte Furcht umzingelte sie immer näher mit
-unruhigen Schatten. Bald mied, bald erforschte sie im Spiegel ihre
-scheuen, trostlosen Blicke. In den Dissonanzen ihres Innern sah sie
-keine Lösung, keine Lichtung für einen Strahl des Gleichgewichts, und
-wie der Sturm auf schwarzem Geball, so jagte das Gespenst des Wahnsinns
-auf dem Getürme ihrer Gedanken und Empfindungen, die ungeschieden
-ineinander wogten; wie ein im Stimmen begriffenes Orchester, in dem
-Violinen, Hörner und Baßgeigen die unzusammenhängendsten Läufe und
-Motive wirr ineinandertönen. Nur indem sie stets zu den heiteren Seiten
-des Daseins flüchtete, glaubte sie Ruhe und Rettung zu finden, und glich
-so einem in Brand Gesteckten, der vor der Flamme davonläuft und sie
-dadurch nur entfacht. Sie las grundsätzlich keine ernsten Bücher mehr
-und ging nie in ein Konzert. Einzig französische Musik vermochte sie zu
-zerstreuen. Ihr entströmten, wie Wohlgerüche aus unnachahmlicher Phiole,
-die Kundgebungen nationalster Grazie und Form, und sie schlürfte den Tau
-französischen Geistes, wie durchsickert von seiner Vollendung. Denn sie
-liebte feste Umrisse, und der Zauber einer Rasse lag für sie in deren
-Geschlossenheit. Das Feine gewährte ihr mehr Befriedigung als das Große,
-weil sich in ihm das Wohlgefallen ohne Stachel erschöpfte. So abhold sie
-jedoch dem Leben gegenüber jeder Gründlichkeit war, in der Kunst
-verletzte sie die Oberflächlichkeit, ja sie erschien ihr gemein. Und
-hierin allein mochte sie es nicht mit ihren Freunden halten, deren
-Stellungnahme gewissen Dingen gegenüber sie verdroß. Denn sie fühlte die
-gänzliche Bezugslosigkeit der Frivolität zu allen höheren Gebieten. Aber
-hier wie da gelangten nur flüchtige und heftige Stimmungen bei ihr zu
-Atem, und es lag etwas Chaotisches in der Gleichzeitigkeit ihrer oft
-ganz entgegengesetzten Empfindungen.
-
-Übrigens mußte sie doch bald einsehen, daß ihr alles nichts half. Sie
-mochte ihre Freunde noch so sehr bewundern, die Ansichten des einen, den
-Tonfall und das blasierte Lachen eines anderen, die Persiflage eines
-dritten nachahmen, schwärmen und kopieren, kopieren und schwärmen, sie
-wurde ihnen nicht ähnlich. Zwar wollte auch sie zu denen gehören, welche
-ihre Herzen abrichten, ihre Eindrücke assimilieren, nicht ihnen
-nachhängen – ja, aber sie stürmte nicht, wie ihre Freunde, in die weite
-Welt! Für sie segelte kein Schiff auf die herrlich freien, hohen Wogen
-des Lebens, sie stand am Gestade, und der Gedanke an ein ruhiges,
-gleichförmiges Dasein erfüllte sie mit Verzweiflung.
-
-Denn das Element, die Atmosphäre, in der ihre Seele lebte, war die Welt
-der Eindrücke; wo diese fehlten, stagnierte ihr Inneres wie ein Sumpf,
-und ihre Züge wurden stumpf und leblos vor den Augen derer, die entweder
-kein Gefühl oder kein Interesse in ihr erweckten.
-
-Ein einziger in jener Gesellschaft, die ihr Eldorado war, hatte sie
-durchschaut. – Er trug seiner romantischen Erscheinung halber den
-Spitznamen Alfred de Musset. Sein Gesicht war _en face_ gesehen schön
-und zauberhaft jung, das Profil niederträchtig, die Gestalt bei
-äußerlicher Eleganz von schlechter Rasse, die Hände unsympathisch. Seine
-Begabung, in ihrer Art ungewöhnlich, war _à fleur de peau_. Dabei
-gehörte er zu jenen Menschen, welche den Geist der anderen auf das
-lebhafteste anregen und in Schwung versetzen. In seiner Gegenwart
-beherrschte sich die schüchterne Marie vollkommen. Sie drückte sich frei
-und unbefangen aus, und die Worte standen ihr für alle ihre Einfälle zu
-Gebot. Dies erhöhte nur ihre Gereiztheit, denn genau so, wie sie sich im
-Zwiegespräch mit ihm zeigte, wäre sie gern vor ihren anderen Freunden
-erschienen, die nur beiläufig auf sie achteten und die ihr so gut
-gefielen. Sie glaubte sich an ihm rächen zu müssen, indem sie es ihm ins
-Gesicht sagte, und ihm alles vorwarf, was ihr an ihm mißfiel: von seinem
-Profil bis zu seinem dekadenten, mehr in die Tiefe als in die Breite
-gehenden Verstand. Er ließ sie reden – ihr aber schien ihr eigenes,
-merkwürdiges Verfahren höchst angebracht und loyal, und indem sie ihm
-ihre Abneigung gestand, ja klagte, glaubte sie den so anregenden Verkehr
-mit ihm aufrechthalten und nach Wunsch gestalten zu können.
-
-Aber die Nachwirkung blieb stets dieselbe, die Abneigung für ihn
-steigerte sich ins Unerträgliche, und genau so ehrlich, so akut, wie
-sich sehr junge Leute verlieben, war sie in ihn verhaßt.
-
-Eines Tages brachte er ihr die frühen, verträumten Lieder Debussys auf
-Gedichte Baudelaires, und von der schwülen Atmosphäre dieser Musik halb
-gehoben, halb betäubt, sprach sie sich da so manche Last so leicht vom
-Herzen: ihre Scheu vor tiefen Problemen und die heimliche Qual großer
-Musik. Und wie von fernem Ufer sah sie ihn da aus der Tiefe ihrer
-Verlassenheit an und lächelte ihm zu, weil er ihr vom Hauche des
-Frühlings umweht erschien wie ein blühender Zweig.
-
-Er aber sagte ihr tröstliche, schmeichelhafte Dinge, für welche sie,
-aufatmend, naiv genug war, ihm zu danken; denn er wollte einen Einfluß
-über sie gewinnen, nicht aber sie erfreuen. In demselben Tone
-weiterredend, änderte er da auf der Stelle seine Taktik; ohne daß sie
-seine Absicht merkte, entstellte, verzerrte er das Bild, das er noch
-eben von ihr malte. Sie horchte entsetzt und sah nicht, daß er es war,
-der sich nun rächte. Ihr war als stürzten die Balken eines Gerüstes über
-sie zusammen, als hörte sie den endlichen Schlag einer lang lauernden,
-elenden Stunde, den Weckruf finsterer Vögel.
-
-„Den Wahnsinn, dem Sie verfallen sind, ahnen Sie ja längst“, sagte er. –
-Aber ein mutigeres, stärkeres Wesen schien da plötzlich in ihr zu
-erstarken, sie von seinen Drohungen freizusprechen, zu beschützen.
-Dieselbe Fähigkeit, aus dem Stegreif zu erfassen, zu überblicken, sich
-auszudrücken, verlieh er ihr auch jetzt; doch als er lächelnd, mit
-begütigenden Worten, Abschied von ihr nehmen wollte, hielt sie ihn
-schnell zurück: „Dies Haus gaben Sie mir ein Recht, Ihnen zu verbieten“,
-flüsterte sie, und wie Liebende in ihrer ersten Umarmung, so war sie
-durch die endgültige Trennung von ihm an das Ziel ihrer Wünsche gelangt,
-und Haß und Widerwille waren erloschen.
-
-Es gibt Momente, in welchen der Mensch den Charakter seines Lebenslaufes
-so klar und nüchtern erschaut, daß, Maeterlincks kühner Hypothese gemäß,
-die Zukunft mit der Klarheit der Vergangenheit an ihn herantritt. Warum
-erkannte da Marie gerade jetzt, als sie dem Manne nachblickte, daß auf
-Jahre hinaus alles, was sich ihr bieten, sich verkehrt zu ihr stellen
-mußte, und daß sie alle Früchte verdorren sehen oder zur Unzeit brechen
-würde?
-
-Indessen stand das Haus, in dem alle Freuden ihres Lebens blühten,
-unversehens leer, ihre Freunde zogen fort, und ihr Zaubergarten versank.
-Ach, auf so winzige Veranlassungen hin konnte dort die Schale ihres
-Glückes überströmen, denn mächtiger als in allen Mandelblüten des
-Südens, als in allen Fliederbüschen des Nordens rauschte der Frühling in
-ihrem Herzen. Sie sah nun zu den verödeten Fenstern empor, und litt um
-so mehr, als sie nicht leiden wollte, nicht fliehen, an toter Stätte
-nicht vergessen konnte.
-
-Daß unser Leben zwar lange nicht so spannend, aber in seinem
-eigentümlichen Verlauf unwahrscheinlicher ist als der kühnste Roman,
-diese Bemerkung ist ja nicht mehr neu. Aber was uns in unsere Bahn
-lenkt, tritt in der Regel nicht ominös, sondern leicht und mit
-nichtssagender Miene in unseren Weg. Die Wendepunkte des Lebens liegen
-im Tal, im aussichtslosen Dickicht und Gestrüpp. Marie erhielt Besuch
-aus Neuyork in Gestalt eines jungen, reichen und verwöhnten Mädchens. Es
-war eine jener zu rasch erfolgten, atemlosen und überhitzten Kulturen,
-ohne Verweilen, ohne Gemütlichkeit und ohne Humor. Ihr Geist war stärker
-als ihre Persönlichkeit. Sie kampierte auf einer weißen, großartigen
-Wolke und schien mit ihrem stets in die Ferne gerichteten Blicke über
-ideelle und allgemeine Interessen das Einzelne und Persönliche aus den
-Augen verloren zu haben. Dabei aber war dieser „spiralähnlichen“
-Begabung ein ausgesprochener Stich ins Erhabene zu eigen. Und wie sich
-sehr hervorragende psychische Veranlagungen oder Eigenschaften häufig in
-einer körperlichen Linie widerspiegeln und nach sichtbarer Gestaltung
-drängen, so verriet sich die hohe Unterscheidungsgabe dieses zu
-farblosen und abstrakten Geistes in einer eigentümlichen Hoheit der
-Haltung und der Gestalt, in einer unvergleichlich edlen Kurve ihrer
-Achseln, und – man lache nicht – in dem idealen Glanz ihrer
-träumerischen Flechten. Äußerlichkeiten waren es denn auch, die Marie
-mit ihr versöhnten.
-
-„In jeder Menschenseele wohnt das Bedürfnis, sich groß zu machen, und
-auch das Bedürfnis, sich klein zu machen.“ Marie, welche
-Verherrlichungen ihrer eigenen Person mit fast kindlicher Freude
-entgegennahm, trieb eine gewisse Bescheidenheit wiederum so weit, daß es
-ihr unmöglich wurde, ein ihr dargebrachtes Gefühl sich wirklich
-vorzustellen, noch zu begreifen. Entweder suchte sie den Grund dafür in
-irgendeiner Lücke, einer untergeordneten Beschaffenheit des
-Betreffenden, oder sie fand überhaupt nicht den Mut, daran zu glauben.
-So verwirrte sie jetzt die entschiedene Gunst, die ihr von der jungen
-Fremden zuteil wurde, um so mehr, als sie viel zu unerfahren war, um sie
-richtig zu taxieren. Die wenigen Tage ihres Aufenthaltes gestalteten
-sich übrigens auf die denkbar angenehmste Weise. Marie kam zum erstenmal
-mit den berühmtesten Leuten ihrer Zeit zusammen und saß stumm, doch hoch
-erregt, mittags mit ihnen zu Gaste und abends im Theater. Zwischendrin
-allerdings wurde sie von Honorien, ihrer neuen Freundin, in
-Zwiegespräche hineingezogen, die ihr gar nicht entsprachen. Hohen,
-übersichtlichen Besprechungen war Marie nicht gewachsen, und selbst wo
-sie diese zu verfolgen vermochte, geschah es mit Widerstreben. Denn
-philosophische und künstlerische Probleme schienen ihr zu so
-gewohnheitsmäßiger Erörterung nicht geeignet, Honoria aber besprach nie
-Alltägliches, selten und nur von ferne Personalien. Bei aller
-Herzlichkeit lag etwas so Unnahbares, Unpersönliches in ihrem Wesen,
-etwas so Indirektes und Ferngerücktes in ihrem Blick, daß Marie immer
-den Eindruck hatte, als sähe sie jene nicht selbst, sondern statt ihrer
-ein Schemen, das ihr gefiel.
-
-Am Morgen der Abreise ging Marie zu ihr. Es war ein lauer Sommertag.
-Honoria empfing sie mit offenen Armen und schickte den Wagen fort, um
-die Strecke zur Bahn zu Fuß mit ihr zurückzulegen. Alsbald war denn auch
-eines jener Gespräche im Gange, die Marie so sehr langweilten. Sie
-seufzte und sah zerstreut auf die staubigen Bäume, zum weichen,
-herbstlichen Himmel empor. „Gott sei Dank,“ dachte sie, „sie geht.“
-
-Aber schon am folgenden Morgen kam ein fingerdicker, in der Eisenbahn
-geschriebener, französischer Brief, der nichts weniger enthielt, als die
-Fortsetzung der allzu umfassenden Philosopheme, welche Honoria auf dem
-Weg zur Bahn entworfen hatte. Nicht einen Augenblick länger wollte
-jedoch Marie eine solche Komödie aufrechthalten. Das „Du“ ignorierend,
-das in jenem Briefe geführt wurde, schilderte sie sich selbst so, wie
-sie war, mit ihrem wirklichen, mit ihrem grundsätzlichen Mangel an
-Interessen, und die gänzlich verschiedene Richtung, welcher sie ihrer
-Natur nach angehörte. Somit galt ihr diese Episode als beendet, und sie
-war nicht wenig überrascht, als Honoria, welche die Dinge von oben nahm,
-sie in einem noch dickeren Briefe eine Spartanerin nannte und nunmehr
-den Verkehr so rege gestaltete, als lebten die beiden Mädchen in
-benachbarten Städten, nicht in getrennten Erdteilen. Marie wurde der
-Gegenstand fortwährender Sendungen und Geschenke. Bald kamen persische
-Lieder in köstlichem Pergamenteinband, mystische und philosophische
-Werke, eingerahmte Gravüren in hohen Kisten, und sie hatte vollauf zu
-tun, um nur die Zeitschriften durchzusehen, auf die sie sich mit
-einemmal abonniert sah, und sich von all den Büchern in Kenntnis zu
-setzen, die ihr bald direkt, bald durch Buchhandlungen zukamen. – Sie
-tat es denn auch mehr aus Erkenntlichkeit, denn aus Neigung.
-
-So verging ein Jahr. Da erhielt sie in den letzten Septembertagen
-unerwartet einen Brief mit dem Homburger Stempel. Honoria war infolge
-einer durch Überanstrengung erfolgten Krankheit zur Erholung dorthin
-befohlen worden und sollte nach beendeter Kur schleunigst nach dem
-Süden. Da ihr der Umweg zu ihr nicht gestattet war, bat sie nun dringend
-um ihren Besuch. Marie sah diesem Wiedersehen mit Interesse entgegen;
-besonders freute sie sich auf das Treiben eines so berühmten Kurortes
-und ließ sich durch die Jahreszeit in ihren Erwartungen nicht
-beeinträchtigen, denn in Homburg, wollte sie wissen, gab es das ganze
-Jahr hindurch schöne und interessante Leute.
-
-Honoria, die ihr einige Tage später auf dem Frankfurter Bahnsteig
-entgegeneilte, erschien ihr noch höheren, noch edleren Wuchses als
-vordem. Trotz der Modernität ihrer Kleidung war die Zeichnung ihres
-Kopfes, die Linien ihrer Gestalt erhebend wie ein antiker Fries. Ihr
-Anblick rührte die leichtbewegte Marie. Sie freute sich, den heißen,
-staubigen Zug zu verlassen und die letzte Strecke in dem offenen Wagen
-zurückzulegen, der vor dem Bahnhof in der Sonne wartete, durch
-Frankfurt, das sie nicht kannte und in der frischen, schimmernden Luft
-nach Homburg zu fahren, und sie freute sich, daß sie gekommen war.
-Allein schon unterwegs empfand sie die alte Ungemütlichkeit, die alten
-Strapazen dieses Verkehrs. Honoria schien in ihrem Element, wenn ihre
-Gedanken gleichsam in der Luft hingen; Marie hingegen war gänzlich real,
-und ihr Idealismus galt dem Leben. Oh, wie erschrak sie über den
-Anblick, den ihr Homburg gewährte! Von Massen welkenden Laubes bedrückt,
-starrten die leeren Alleen, starrten verödete Gärten und Villen. Honoria
-rühmte ihr die große, wohltuende Stille des sonst so geräuschvollen
-Ortes. Die Villa, welche sie ganz allein mit ihrer Gesellschafterin und
-einer Kammerfrau bewohnte, war die Dependance des einzigen Hotels, das,
-wahrscheinlich ihr zu Ehren, noch nicht geschlossen war. Marie
-erbleichte. Ihr Herz sank. Sie haßte das ausschließliche Zusammensein
-mit Damen! Sie sah keine Anregung, keinen Sinn in einem einschichtigen
-Verkehr, und er langweilte sie auf die Dauer zu Tränen. Ein Leben, das
-auf ein Weilchen das Ideal eines geistig und gesellig überanstrengten
-Menschen sein mochte, war nur ein Alp für das zerstreuungssüchtige
-Mädchen.
-
-Honoria lag des Morgens meist mit schon ganz erschöpften Zügen zu Bett;
-hatte vor Tagesanbruch ihre Korrespondenz erledigt und Emersons Essays
-oder die Briefe des hl. Paulus gelesen. Sobald sie aufgestanden war,
-drang Stunden hindurch der hartnäckige Lärm der Schreibmaschine durch
-die stillen Zimmer. Vor dem öden Klippklapp floh Marie ins Freie und
-strich durch die toten Straßen Homburgs, oder verlor sich in einer
-Anwandlung von Schwermut in den großen Park. Früh am Nachmittag harrte
-dann die leichtgeschirrte Viktoria, und Marie freute sich der langen
-Fahrten durch den goldenen Taunus. Aber als der Oktober seinem Ende
-zuneigte, litt sie bei dem Anblick des sterbenden Laubes, der finster
-welkenden Natur. Ihr war, als fielen ihr die gelben Blätter aufs Herz,
-und ihr Auge lechzte nach einem grünen Zweig, nach einem blühenden Fleck
-inmitten des ungeheuren Grabes, das sich bereitete. Sie begriff die
-Schönheit des Herbstes, Honoriens Freude daran nicht. Was der Augenblick
-verhieß, nicht was er bot, nicht der Sonne zärtliches Verweilen, ihren
-Scheidegruß vernahm sie allein. Und wenn der Wagen in der Dämmerung
-durch einen Dom welker, seufzender Bäume fuhr, so umlauerten sie, wie
-einst die Elfen des Erlkönigs Sohn, des Verfalles grausame Schatten und
-entwanden ihr das Herz.
-
-Zu Hause kam dann der lange Abend mit Shakespeares und Brownings
-Gedichten; aber sie fing an, alle Bücher zu hassen. Wohl konnte sich ihr
-Blick flüchtig beleben, wenn Honoria duftend und geschmückt, gleich
-einer hellen Wolke, ihrem Zimmer entschwebte, sonst aber saß sie oft
-stundenlang mit ihrer Stickerei still am Fenster, und nach den
-einfältigsten Bemerkungen mußte die sonst so Gesprächige ringen. Gern
-folgte sie Honoriens Aufforderung, zu musizieren. Allein die Töne
-brachten das Echo ihrer Langeweile mit quälender Steigerung zu ihrem
-Bewußtsein, und schlaff und zerstreut endete ihr Spiel.
-
-In dieser Zeit hörte Marie, die sonst alle Wagner-Opern kannte, in
-Frankfurt zum erstenmal den Rienzi, und obwohl Aufführung wie Besetzung
-zu den minderen gehörten, so war sie von dem Drang, dem titanischen
-Gären, ja gerade von dem Unvermögen dieses Werkes heftig ergriffen. Hier
-war Ikarus, dessen ewiger Mut sich über Welten hin Flügel, die nicht
-brachen, schmieden sollte.
-
-Mächtig angeregt fuhr sie im offenen Wagen durch das mondumhauchte Land
-und weiße Dörfer nach Homburg zurück, und Wagners Schaffen als eines
-Wunders gedenkend, lehnte sie den Kopf weit im Wagen zurück und verlor
-sich in der stillen, bethlehemischen Pracht. Vergessen und verweht
-schien ihre Schwermut, die doch schon tags darauf, gleich einem Nebel,
-ihr Gemüt von neuem umschleierte. Besonders auf die Schreibmaschine
-wurde sie zuletzt erbittert, und als diese eines Morgens wieder so
-geschäftig das stille Stockwerk durchdrang, fing Marie in einem
-Paroxysmus von Langeweile in ihrem Zimmer stürmisch zu weinen an. Das
-Leben war so reich, so mannigfach und schön! Es gingen auf der Welt so
-reizende Menschen einher! Ach! Warum lebte sie von ihnen getrennt! Wer
-war für des Lebens Genüsse königlicher geartet? Mochte sie zeitlebens
-entbehren, bis in alle Fibern blieb sie verwöhnt.
-
-Und obwohl nur mehr drei Tage ihres Bleibens waren, schien ihr gerade
-der heutige nicht mehr erträglich. Rasch zu Honoria tretend: „Ich kann
-heute keine gelben Bäume sehen und fahre nach Frankfurt“, sagte sie
-lachend und drückte ihr den Arm. Sie sah noch Honoriens überraschten,
-aber so freundlichen Blick, dann stürmte sie die Treppe hinab und zur
-Bahn, der Schreibmaschine und Homburg davon!
-
-Wie ein Füllen, das sich auf freiem Rasen tummelt, so behaglich war es
-Marie am selben Nachmittag auf der bewegten, im lieblichsten Lichte
-getauchten Zeil. Die üppigen Töchter der Stadt, die mit ihren Müttern
-erwartungsvoll einherzogen, die eiligen Geschäftsleute, die Müßigen und
-die Lebensfrohen, die gemeinen, die aufgeputzten, oder die sympathischen
-Leute, alle schufen ihr Kurzweil, und wie ein Kind in Bilderbücher, war
-sie ganz in den Anblick der vielen Spaziergänger versunken; überall von
-dem Zauberkreis eines selben Lebens gebannt, ruhte, sich selber
-verlierend, ihre gehaltlose Seele, die dem Mann ohne Schatten glich, von
-der Einsamkeit aus.
-
-Sie hatte die Stadt der Kreuz und Quere nach durchstreift, an Brücken,
-stillen Plätzen und verlorenen Straßen geweilt, und schon erblaßte der
-Himmel. Gänzlich ihrer Stimmung hingegeben, war ihr Bewußtsein wie
-umflort, von der Atmosphäre des alten und des neuen Frankfurt
-durchdrungen, und von der sterbenslauen Luft, in der ein Klang lag
-ewiger Ermattung, von ewiger Vergänglichkeit.
-
-In einer kleinen verträumten Sackgasse machte sie halt, um ihren Weg zur
-Bahn zu erfragen; und von einem entstellten Profil Richard Wagners, das
-dort in der Auslage eines Musikladens prangte, wandte Marie, die ungern
-Häßliches sah, im Vorübereilen den Blick.
-
-Den Abend verbrachte sie mit Honorien in aufgeräumtester Laune,
-erzählte, was sie gesehen, gehört, gegessen hatte, und unterbrach die
-Browningsche Lektüre mit allerlei Späßen.
-
-Dies war ihre vorletzte Nacht in Homburg, und entmutigt schlief sie ein.
-Wann endlich würde sich ihr Leben bewegter gestalten? – Sie gedachte der
-vergnügten kleinen Konditorsfrau in Frankfurt, an die sie heute so viele
-Fragen gestellt, die über ihren schmucken Laden nicht hinausdachte und
-inmitten ihrer Glasglocken, ihrer Schokoladekrapfen und Schaumrollen ein
-Dasein lebte, vor welchem Marie erschauerte.
-
-Aber was hatte sie denn selbst von ihrem klein bißchen Bildung, als daß
-sie für die Alltäglichkeit auf immer verdorben, auf immer beunruhigt
-blieb. Heiß schoß ihr das Blut zu Kopfe: was wußte sie denn – und was
-sollte sie von Honorien halten, die über ihre Theorien zu leben
-verlernte?
-
-Es war finster und still in ihrem Zimmer, als Marie erwachte. Sie besann
-sich nicht sogleich, was dies wilde Klopfen ihres Herzens verursacht,
-was sie geweckt, was sie gesehen hatte. Dann stürzte sie ans Fenster und
-riß es auf. Östlich dämmerte ein heller Streifen durch die Nacht, allein
-den Tag in ihrem Herzen begrüßte sie mit einer Flut immer neu
-hervorbrechender Tränen, daß ihr Gesicht erblindete wie eine Scheibe
-unter dem Regen.
-
-Jenes selbe Profil, von welchem sie gestern im Vorübereilen den Blick
-abwandte, hatte sie, verherrlicht, zwei Schritte vor sich, mit
-unbewegtem, gerade ausschauendem Auge gesehen. Aber es war ein
-vergöttlichtes Auge, weltenstrahlend, weltenspiegelnd und von
-unvergeßlicher Größe; ein individuelles und doch gänzlich entrücktes
-Auge. Kein Auge, mit dessen Blick der ihre sich hätte kreuzen können. Es
-waren die ewigen Augen Wagnerschen Geistes.
-
-Wie ein Erdboden durch plötzliche Erschütterung, so hatte ihre Gesinnung
-durch ein so ungeahntes Bild eine Umgestaltung erfahren. Es war seltsam,
-es war spaßhaft genug, und sie wußte, welchen Hohn die Tatsache gerade
-in ihrem Herzen finden, sie verfolgen würde! Hier war sie: ein junges,
-bis ins Mark vergnügungssüchtiges Mädchen, das nichts mehr zur Ruhe
-bringen, in dem nichts den einen brennenden Wunsch mehr betäuben konnte:
-die Wahrheit zu suchen.
-
-Denn sie wußte in dieser stillsten Stunde ihres Lebens, daß Unwissenheit
-es war, die jenen Gram in ihr erzeugte, weil _Gedanken_ hinter jenen
-unruhigen Schatten ruhten, die sie schreckten, und daß nichts sie retten
-konnte, als ein hellerer Kreis des Wissens, der sie schützend umschloß,
-als ein Glaube, um den sie selber rang.
-
-Tags darauf verließ sie Homburg.
-
-Golden flogen im Nachmittagscheine Brücken, Felder und Wiesen vor ihrem
-Zug vorbei, aber vor dem Glanz dieser sonnenerfüllten Welt schloß sie
-bekümmert die Augen; denn immer schwerer wurde da wieder, auf der langen
-Fahrt, ihr einsam entschlossenes Herz. Sie sah sich wie vor einem Berg,
-den nur Geübte und Wetterkundige mit einem Arsenal von Werkzeugen
-wohlausgerüstet zu besteigen wagen und denen sie nun barfuß und allein
-folgen wollte. Was sie erstrebte, war ja zu schwer: Nichts was
-Gleichgewicht und Disziplin des Geistes betraf, lag in ihr vorbereitet
-noch vererbt, und zu einem systematischen Denken war sie weder veranlagt
-noch geschult. Kein Pegasus, die traurigste aller Rosinanten stand ihr
-zu Gebote. Aber weniger glücklich als der an Illusionen reichste Don
-Quichote, verglich sie unerbittlichen, fast feindlichen Auges ihre
-Unzulänglichkeit mit ihrem Wagnis. – Was hatte ihr stumpfes, kindisches
-Gehirn mit jenen Rätseln zu schaffen, die es von jeher mühten? Nun war
-sie erwacht. Mit weitgeöffneten Augen, die nicht sahen.
-
-Als sie bei ihrer Ankunft in München Glucks Oper „Iphigenie in Tauris“
-auf dem Zettel sah, ging sie noch selben Abends hinein. Es war eine der
-letzten Vorstellungen, die unter Levis eminenter Leitung und einer
-Besetzung alternder aber trefflicher Leute dort stattfanden, und sie
-atmete auf in der Atmosphäre dieses edlen Werks.
-
- „Die Ruhe kehret mir zurück.
- So sollte meine Qual Euch, Ihr Götter, ermüden.“
-
-Es war Orestens Lied, und in prachtvoller Wiedergabe die eherne
-Begleitung des Orchesters.
-
-In diesem Augenblick kulminierte das musikalische Vermögen, die
-Genialität des Dirigenten. Nicht so sehr „gestaltend“ stand er dem
-Meisterwerke gegenüber, als daß seinem unvergleichlich künstlerischen
-Impuls, seiner in höchster Passivität so wundervollen Ergriffenheit die
-tief umhülltesten Regionen sich erschlossen. So stand er unbeweglich,
-mit gesenktem Stabe, nur verklärten Auges sein Orchester bannend. Aber
-der Hauch von Ewigkeit, der über den friedensvollen Fall der Baßtöne
-gebreitet liegt, riß Marie mit fort. Kein anderes Kunstwerk sollte je
-wieder jene selbe überwältigende Wirkung in ihr hervorrufen, zu der sie
-jetzt ihr abnorm gesteigerter Gemütszustand befähigte. Sie verlor das
-Gesicht. Der Wunsch, den sie so früh gehegt, er war ihr erfüllt, die
-Müdigkeit, die sie so früh empfunden, sie war von ihr genommen, und sich
-selbst, der eigenen Dürftigkeit, der eigenen Torheit, allen Schranken
-des Persönlichen weit enthoben, behielt sie nur das Bewußtsein eines
-strömenden Glücks.
-
-So waren denn die Würfel gefallen. Ihr Drang nach Erkenntnis war stärker
-als ihr Sträuben, ihre Trägheit und ihr Unvermögen.
-
-Stundenlang saß sie nun, meist ganz vergebens, über einer einzigen Seite
-Kants. Aber gerade bei ihm, dem sie ein so lückenhaftes Verständnis
-entgegenbrachte, durfte sie, zum Atome sich erkennend, ruhn, wenn sie
-die Schwingen ewiger Begriffe auf Augenblicke streiften. Denn Marie
-hatte Geist, doch keine Geisteskraft, niemanden, der ihr half, noch sie
-belehrte! Nur einem Menschen, dessen Überlegenheit ihr nach allen Seiten
-hin entsprach, hätte sie sich ohne Reue anvertrauen können, und einen
-solchen Freund zu haben war ihr nicht vergönnt. So mußten denn die
-Bücher ihre Freunde, ihre Lehrer werden. Und schon hatte sie erkannt,
-daß hervorragende Anlagen nur eine gefährliche Mitgift sind, wenn gerade
-sie einen versöhnenden Ausgleich innerer und äußerer Widersprüche
-erschweren. Sie hatte erkannt, daß nicht das Leben, für welches wir
-geschaffen wären, in die Wage fällt, daß nicht wir selbst, sondern unser
-Geschick das Gegebene ist, und daß sie nicht dem Knechte gleichen
-durfte, der mit seinem einen Talent verzagte und es vergrub. Am
-schwersten ließ sie sich’s mit Schopenhauer werden, der den jugendlichen
-Leser terrorisiert. Und wer war sie, daß sie es wagte, ohnmächtig,
-verzweifelnd, so lange gegen ihn anzustürmen, bis ihre innerste
-Überzeugung sich wieder von ihm losriß, von seinem großartigen
-Gedankenring gefördert und belehrt, ihm nicht länger unterworfen war?
-
-Einen heißen, einsamen Sommer verbrachte sie mit Platos Büchern, und
-unter Tränen las sie das Symposion. Hier war ein Ziel und göttliches
-Verweilen, der Harmonien seliger Hauch, und wie vom hohen Berg herab lag
-da die Welt – beschaulich, unbegehrt – zu ihren Füßen.
-
-Aber sie war schön, diese Welt! Feierlich und groß! – Und alles in ihr
-erhielt Sinn, Leben und Bestand durch Bezüge. Und in Bezügen lag ein
-Schwerpunkt selbst der größten Geister.
-
-Der Erwerb des einen wird da dem anderen Besitz; Steigbügel für den
-Kommenden. Allein die Schranke war die Bedingung des menschlichen
-Gehirns, und die Grenze des intellektuellen Vermögens durch die
-menschliche Natur scharf abgesteckt.
-
-Marie versank in immer tieferes Nachdenken.
-
-Nein: Allumfassende Vollkommenheit war nirgends. –
-
-Da erstand vor ihrem inneren Auge, wie im Morgengrauen deutlich
-erkennbar, die universellste, übergreifendste Gestalt, die keine
-Irrtümer und keine Lücken in sich aufwies! Vielmehr auf unnennbar
-geheimnisvolle Weise alle Widersprüche in sich aufhob, weil ihr nichts
-fremd war und nichts entzogen, was tausendfach die Menschen scheidet und
-vereinsamt. Ja, es war ein Mensch. Aber Himmel und Erde waren der
-Schlüssel zu ihm, und er erfüllte die Welt. Allumfassendes, schweigendes
-Begreifen entströmte seinem Auge. Ja, es war ein Gott. Seine Züge aber!
-Die größten Denker und Meister aller Zeiten hatten sie ihr entschleiert,
-weil alle menschlichen Heroen zu seinen Kommentaren wurden, und ihre
-unbeschreibliche Bewandtnis zur Erläuterung! – Keine Philosophie, keine
-Äußerung auf dem Gebiete des menschlichen Geistes, ja des Geistreichen,
-des Witzigen, des Profanen – keine Kunst, die nicht zu ihm gravitierte.
-Der Gedanke war so groß, daß sie erschauerte. Und von der
-überschwenglichen Tragweite jenes schlichttönenden Ausspruches: „In
-meines Vaters Haus sind viele Wohnungen“ wurde sie wie von unendlichen
-Schallwellen fortgerissen und durchleuchtet.
-
-Nur eines trennte ihn von uns – das Übel, das allen Gram erzeugt. Eines
-mußte er uns entnehmen. Eines war göttergleich im Prinzip von ihm
-ausgeschieden: die Qual.
-
-Marie mochte ihre Gedanken nicht länger ertragen. Sie ging hinab in die
-Straße, die starren Häuserreihen entlang, der heißen, verödeten Stadt.
-Aber das Licht, der Anblick des leeren, weißlichen Himmels erweckte
-Erinnerungen und Leid. Zum Stachel war ihr da der taube Glanz des Tages,
-und jene „Geister der Luft“, die den Menschen jagen und ihm das
-Himmelslicht versteinern. Atemringend muß er es ertragen.
-
-Nicht daß es sie jetzt nach Mitteilsamkeit drängte, nein, auszuruhen, zu
-vergessen, sich zu freuen. Schönheit, Gebärde, Sprache, die Form eines
-Auges, die Bewegung eines Armes, dies alles war ein Organismus, der sie
-umfriedete. Dann wurde es still in der dumpfen Werkstatt, und Gedanken
-feierten. Der Reiz der Nähe löste den gezogenen Blick von ihren Augen,
-und ihr Geist erkannte rastend seine Heimat.
-
-Denn es war ihr Geist, der in der Welt der Körper, der in dieser Welt
-sein Element erkannte!
-
-Allein in der Einsamkeit, die sie also bedräute, umschloß sie jetzt,
-deutlich wie Felsenzacken gegen das Sonnenlicht, der Ring ihrer
-Gedanken.
-
-Nicht länger von der Welt barer Vorkommnisse aus den Fugen gerissen,
-erkannte sie die tröstliche Bedingtheit alles Elends. Erkenntnis sollte
-_nicht_ den Pflock des Leidens tiefer in uns treiben! Alles war Folge,
-und selbst Geschehnisse nicht unentrinnbar.
-
-So weit, so anders erblickte sie die verlorenen Tore ihres Glaubens
-wieder. Was immer das Dogma vom Geiste löste, erschien ihr da als
-ungeheuerster Verrat. Nicht als Dualität, als Organismus erfaßte sie den
-Menschen und seine Apotheose, nicht seine Trennung als sein Endziel.
-Ihrem weltabgewandten und entsagungsvollen, aber stets verheißungsvollen
-Bildern zugekehrtem Auge wollte die unendliche Elastizität jenes
-Glaubens als sein tiefinnerstes Geheimnis sich erschließen; des
-Paradoxalsten, eingedenk und psychologisch tiefst Begründeten, was der
-Mensch zutage förderte: als das „Maß aller Dinge“ stellt er den Abstand
-zwischen ihm und der Gottheit, Prometheus, die seligen Götter und den
-allgewaltigen Zeus. Quellen und Haine belebt er mit übermenschlichen
-Wesen, scheu verehrend, was er selber schuf. Ahnung war es, die ihn die
-eigenen Ideale, das eigene Ziel so fern erkennen und den Olymp erträumen
-ließ! Solche Träume, mußten sie nicht das Sehnen eines Gottes nötigen,
-zu tausendfacher Befreiung den Menschen zu erlösen?
-
-
-
-
- Geraldine
- oder
- die Geschichte einer Operation
-
-
- Für Professor Franz Keysser (Berlin)
-
-
- I
-
-Geraldine, aus dem Häuflein derer, mußte im Spätfrühling des Jahres 1923
-in die chirurgische Klinik einer süddeutschen Stadt. Freunde begleiteten
-sie. Den Abend durfte sie noch mit ihnen verbringen. Sie war guter Dinge
-und trank auf ihr eigenes Wohl. Dann nahm ein helles Zimmer, das ins
-Grüne sah, sie auf. Die Schwestern, in der Umrahmung ihrer gesteiften
-weißen Flügelhauben, besonders aber deren breite und bejahrte
-Vorsteherin, erweckten ihre Zuversicht. Spät trat sie noch bei
-Geraldinen ein, um nach der Neuangekommenen zu schauen, und bei ihrem
-Anblick streckte die Kranke ihre Füße länger aus, einer Müdigkeit
-hingegeben, die sie plötzlich wie von weither überkam. So
-schutzverheißend war die erstarkte Weisheit dieser Augen, so geborgen
-fühlte sich Geraldine, als sie in diese mächtigen Pupillen sah. Sie
-wußte, wie wenig ein Beruf zur Sache tat, wie leicht gerade die
-tugendhaftesten zur Klippe werden. Inbegriffen, ganz unausgesprochen
-aber war hier alles Fromme, und daß die Pflegerinnen dieses Hauses wie
-die Blumen eines gehegten Gartens standen, Unkraut nicht wuchern konnte,
-lag an dieser Vorgesetzten. Denn es ist immer das Wichtigste, wer
-regiert. Wie eine Mutter, nicht nur der Patienten, sondern irgendwie
-auch dieser Ärzte, Geheimräte und Professoren, wie eine Mutter aller
-Menschen schritt sie durch die Gänge, homerisch in der Unbeirrbarkeit
-ihres Waltens, ehrwürdig wie ein Stück Natur. Und sie hieß Guido, wie
-ein Mann.
-
-Aber auch Geraldine kannte die Welt.
-
- * * * * *
-
-Lesend verbrachte sie den nächsten Morgen; am frühen Nachmittag wurde
-ihr Morphium gegeben und später noch einmal. Da tönte sich der
-Widerschein der grünen Bäume in ihrem Zimmer sanft und immer sanfter ab,
-und als eine Bahre hereingezogen kam, bestieg sie sie eilends wie im
-Traum. Nach einer kurzen Fahrt befand sie sich zwei Schwestern
-gegenüber, und diese trugen ihre weißen Ordensschleier nicht abstehend
-und gesteift, sondern gar kleidsam in den Nacken zurückgerafft, und sie
-fragte die Schönste um ihren Namen: Ermentrudis. „Meine Zunge ist
-schwer, sie ist trocken, sie ist voll Mohn, ich spreche so mühsam“,
-sagte Geraldine, und überließ sich ihnen. Ihr war, als würde sie von
-Engeln bedient. Da lag sie schon auf einer Bahre, und rechts von ihr gab
-sich ein Arzt mit ihr zu tun. Aber seine Gegenwart war ohne Resonanz.
-Nur Ermentrudis erfüllte den Raum. Vielleicht ist sie nicht so schön als
-ich sie sehe, dachte Geraldine, deren Augen zugefallen waren, vielleicht
-ist es Täuschung, wie der Geschmack von Mohn in meinem Munde. Wie ist
-sie schön! – Da war sie weg, und Geraldine wieder in der Fahrt. Nur bis
-zum nächsten Zimmer dieses Mal. Es dünkte sie aus Glas, und ein anderer
-Arzt saß jetzt rechts von ihr, als hätte er auf sie gewartet. Sein
-Gesicht schien ihr nicht sein eigenes zu sein, sondern ganz in der
-Anspannung seiner Züge statt in seinen Zügen zu beruhen, aber sie
-streifte es nur mit einem Blick, dann fielen ihre mohnbeschwerten Augen
-wieder zu. Doch alsbald hörte sie sich stöhnen. Und warum riß er ihre
-Adern so unbarmherzig auf? Sie fühlte, wie er sich durch nichts beirren
-ließ, und sie blieb unbeweglich, aber sie hielt ihm vor, daß er sie
-peinige. Fort und fort, wie lange noch? – Da merkte sie plötzlich, daß
-er nicht länger rechts, sondern ihr jetzt links zur Seite stand, indes
-ein anderer Mann in Szene trat, als wäre dies eine Bühne. Ja, genau so,
-war jetzt eine mächtige Form herangetreten, wie ein Dirigent sein Pult
-einnimmt, und als schwänge er einen Stab mit den Worten: „_Alla breve_
-meine Herren!“ so sagte er: „Klagen Sie nicht!“ und fing an zu
-schneiden. Geraldine aber griff da zum Schweigen, wie ein Geiger in sein
-Instrument. Sie streckte nur ihre linke Hand schutzflehend ins Leere.
-Aber schon war sie von einer andern sanft geborgen und vertröstet, und
-sie umklammernd, führte Geraldine ihren stummen Pakt den ersten Stößen
-gegenüber aus. Sie wähnte jetzt, es sei Nacht. Doch statt erhöhter
-Schmerzen wurden sie mit jeder Sekunde dumpfer. Und war sie denn selbst
-ein besaitetes Holz geworden? Sie spürte nur ein virtuoses Kneten, wie
-rasche Fingersätze eines Pianisten in ihrem unempfindlichen Fleisch.
-_Allegro, vivace, accellerando, presto, tempestuoso_ fuhren die Griffe
-wie auf Tasten dahin. Geraldine hatte den Eindruck von _Kunst_. Wie
-aber? Wie konnte dies sein? Und doch, welch deutliche, welch aufregende
-Beziehung, welch unerhörte Analogie, welch spannende und unvermutete
-Sensation! Für einen Augenblick war alles rege in ihr, und sie hätte
-sich gern aufgerichtet, um hinzusehen, ihr Kopf aber leistete
-Widerstand; er war zu schwer. „Es wird schon genäht, es wird schon
-verbunden“, drang es von links, wie aus einem Souffleurkasten zu ihr.
-
-Und schon wurde sie wieder fortgetragen. Unklar diesmal die Fahrt durch
-den Gang in ihr Zimmer zurück.
-
-Die Nacht war nicht mehr fern. In ihrem Bette aufgerichtet, ohne eine
-Spur von Schmerzen, ließ sie sich ein Buch herüberreichen, wähnend, das
-Lesen würde ihr leichter fallen als das Sprechen. Die Vorhänge bauschten
-sich sachte in der Frühlingsluft, im Scheine eines blauen Seidenschirmes
-lag sie und sann.
-
-Welch freundlicher Dämon hatte die Tafel ihrer Erinnerungen gelöscht,
-daß ihre Gelassenheit sich immer mehr vertiefte?
-
-Da, mitten in der Nacht – als klingle es von allen Seiten zugleich –
-schlugen die Wunden Alarm. Weggefegt das letzte Stäubchen Morphium; das
-ganze Bein entfacht. Schlimmer noch die hohe Stachelkrause, die vom Knie
-aufwärts loderte. Aus purer Sympathie erglühten Fuß und Ferse, von
-heißer, imaginärer Asche versengt. Geraldine, in den Tumult verstrickt,
-hörte ihre eigenen Seufzer nicht.
-
-Am Morgen klirrte der Wagen mit den Verbandwerkzeugen durch den Gang.
-Guido war bei Geraldinen. Da öffnete sich die Türe, als sei ihr Zimmer
-eine Freistatt. Der Chefarzt trat als erster herein, nach den Schmerzen
-dieser Nacht zu fragen. Und es erfolgten sehr genaue Weisungen, um einem
-neuen Ansturm vorzubeugen. Da wunderte sich Geraldine zum ersten Male,
-ohne sich entsinnen zu können weshalb. Sie grüßte nach rechts und links
-die beiden anderen Ärzte von gestern; dann war sie wieder allein.
-
-
- II
-
-Seltsame Schwingen, neue Rhythmen trugen ihre Tage jetzt dahin, ihre
-Stille so manches Mal durch nichts als den Besuch der Ärzte
-unterbrochen. Blumen umgaben sie. Der über ihr Bett geschobene
-Krankentisch bot ein reiches Feld der Beschäftigung, und ein Zufall
-wollte, daß Leute, mit welchen sie lange nicht mehr in Kontakt war,
-plötzlich in der Ferne an sie dachten und ihr schrieben. Eines Morgens
-kam ein Stoß der neuesten französischen Bücher für sie an; sie lagen in
-großer Evidenz auf Tisch und Decke gebreitet. Jedoch der Zeitungsmann
-durfte nicht zu ihr herein. In Tönen der Angst bat sie die Schwester,
-ihn von ihr fernzuhalten, und schon früh am Nachmittag sehnte sie sich
-nach Morphium. Fing aber der Rollwagen mit dem Verbandzeug, den Alkohol
-und Jodoformflaschen durch den Gang zu klirren an, so mußte sie lachen;
-denn es ging dann so fühlbar von Zimmer zu Zimmer eine Spannung, es
-entstand eine Aufregung, wie wenn Hennen gefüttert werden. „Jetzt werden
-die Hennen gefüttert“, sagte sie jedesmal zu Guido, die immer der
-Karosserie voranschritt.
-
-Eines Tages fragte sie den Arzt, der sie in ihrer Lektüre unterbrach:
-„Würde dieses Buch Sie interessieren, wenn ich fertig damit bin?“
-
-Er warf einen Blick auf den Umschlag und zögerte: „Von Franzosen höre
-ich lieber nichts“, sagte er dann.
-
-Da schwieg Geraldine.
-
-Das Buch, das er abgelehnt hatte zu lesen, _Siegfried et le Limousin_,
-von Jean Giraudoux, war nicht vollkommen. O nein, es hatte seine Fehler.
-Man durfte es ein wenig inkoherent nennen sogar. Aber jede Seite rührte
-und entzückte Geraldine. Denn regenbogenartig schlug hier eine Brücke
-auf, bebend schwang sie herüber, pulsierte, vibrierte, wie ein
-Regenbogen ephemär. So gehörte auch dies Buch einer anderen Wirklichkeit
-als die der Ereignisse an; und sie mißachtend, sie verachtend, irisierte
-über sie hin die Fülle des sich entziehenden, ach! des werbenden Auges
-...
-
-Allein es war umsonst geschrieben, da niemand es in Deutschland las.
-Auch die anderen neuen Bücher enthielten kein gehässiges Wort mehr über
-„_les Allemands_“, aber sie waren umsonst geschrieben, da niemand sie in
-Deutschland las. Geraldine entsann sich der skeptischem aber so
-aufhorchenden, so gespannten Mienen ihrer Freunde in Paris, als sie
-ihnen von „jenen anderen Deutschen“ erzählte, von welchen nichts mehr
-bis zu ihnen gedrungen war. Ob auch einige wie mit Engelszungen
-hinüberriefen, man stellte sich ihnen taub, wenigstens solange sie
-lebten. Heute war es umgekehrt.
-
-Geraldine schlief mit dem Kopf auf dem offenen Buche ein, aber nicht
-lange; ihre Aufregung scheuchte sie auf, und sie las im Scheine ihrer
-blauen Lampe weiter.
-
-Als am nächsten Morgen der Chefarzt bei ihr eintrat, warf er einen Blick
-auf die Tabelle und ließ Sandsäcke herbeischaffen, in welchen Geraldines
-Bein wie in einen Schacht eingedämmt werden sollte, damit es sich nicht
-mehr bewege. Man schleppte sie wie etwas gar Wichtiges herbei. „Hier
-stimmt etwas nicht!“ dachte sie gequält. Die Ärzte umstanden sie ja, als
-ob ihre Gesundung eine wichtige Sache sei. Und das Stück von der
-gesitteten Weltordnung wurde hier gespielt, als wisse man nicht, wie es
-draußen zugeht. Aber sie selbst, spielte sie nicht mit? Ließ sie nicht
-alle fünf gerade sein? Nicht einmal nach dem Wetter mochte sie fragen,
-als ginge sie das alles nichts mehr an, als sei alles eins. Und nun? Und
-wie lange durfte sie noch ihrer beginnenden Unruhe, ihrer wachsenden
-Verwirrung wehren? Die Wirklichkeit. Ja sie war das entfallene Wort, der
-Faden, der gerissen war, an dem sie wieder anknüpfen mußte.
-
-In der Nacht fuhr sie an die Klingel, und die Stimme, mit der sie die
-herbeieilende Schwester unter Ächzen anflehte, sie aus dem eingestürzten
-Tunnel vorzuziehen, war wie ein heiserer Bariton. Es hatten sich aber
-nur die Sandsäcke verschoben, und mit ihrem Gewicht die Wunden
-beschwert. Vielleicht auch hatte sie nur geträumt. Allein die Schwester
-beruhigte sie, räumte die Säcke aus dem Weg, brachte ihr eisgekühltes
-Zitronenwasser und reichte ihr Morphium. Sie war mürbe und trug sich
-zart wie eine schwanke Wicke im Sommerwind, die ihren letzten Duft, ihre
-letzte Süße veratmet. „Welch ein Frühbeet von Schwestern!“ dachte
-Geraldine. Und Guido die große Gärtnerin.
-
-Es gäbe vielleicht keine Ärzte in der Welt, wenn nicht so ziemlich
-jedermann seinen eigenen Arzt in seinem Innern hätte. Geraldinen war es
-am folgenden Morgen klar, daß es nur mehr wenig Tage bis zu ihrer
-Herstellung bedurfte. Bei ihrem Einzug in die Klinik richtete sie fürs
-erste an alle die Frage, wann sie wieder herauskommen würde, und gleich
-und auf die Stunde verlangte sie es zu wissen. Nun sie fast keine
-Schmerzen mehr hatte, erkannte sie mit einem Male, welche Ablenkung sie
-für sie gewesen waren, und sie vermißte sie; denn diese an sich waren ja
-auch eine Betäubung gewesen. Und ihr geschah wie dem flüggen Vogel, der
-wohl am liebsten noch einmal in seine Geborgenheit zurückkröche, bevor
-er den ersten Flug unternimmt. Draußen wartet seiner die Welt. Das Nest
-dagegen war ihr entzogen. So dieses Haus. Wie eine Arche zog es über die
-finsteren Wasser dahin und beruhte in sich. Bald mußte nun Geraldine aus
-seinem Schutze wieder hervor. Und sie verzagte. Sie bangte nach den
-wolkenlosen Tagen der Vergessenheit, der Palliative. Sie waren vorbei.
-Andere Wunden waren nunmehr wieder erwacht, unheilbare, die niemand
-verband, um derentwillen niemand sie bemitleidete, noch eine Blume
-schenkte oder sie umgab. Wie ein Himmel, der sich ganz verhängt, und von
-dem es dann unablässig niederrauscht, umzog sich Geraldinens Gemüt, und
-erst stoßweise, dann unaufhaltsam flossen ihre Tränen. Zwar konnte sie
-jederzeit innehalten, und wenn jemand bei ihr eintrat, ganz vernünftig
-schwätzen. Aber sobald sie allein war, setzte der Landregen wieder ein.
-Der Geruch der Speisen widerte sie mit jedem Tage stärker an, und sie
-weinte vor Ekel bei ihrem Anblick, ob sie auch hungrig zu sein
-vermeinte, bevor man sie ihr brachte. „Kaputt ist kaputt!“ sagte sie zur
-Schwester, die sich über ihre kaputten Nerven ausließ. Aber vor den
-alles sehenden Pupillen Guidos redete sie sich auf eine beunruhigende
-Äußerung heraus, die bei der Morgenvisite zwischen den Ärzten gefallen
-sei; sie habe sie deutlich gehört. Und sie rückte beiseite, damit Guido
-sich zu ihr setze, denn sie erbettelte jede Minute ihres Verweilens.
-
-Der Tag verebbte an den weißen Wänden ihres Zimmers, sie standen im
-Widerschein des umgoldeten Laubes, dann erbleichten sie wieder.
-Geraldine war schon für die Nacht gerichtet, hielt ihr heiles Knie
-umklammert und weinte. Die blaue Lampe warf ihren Schein. Niemand störte
-sie mehr. Da klopfte es an ihre Türe und Guido in Begleitung des Arztes
-trat herein. Er kam sie zu beruhigen: es handle sich nur um eine
-vorübergehende Phase und sie würde die Klinik bald verlassen können. Er
-erinnerte sie nicht daran, daß Schwerkranke in den angrenzenden Zimmern
-lagen, ohne Aussicht auf Genesung. Ein schwedischer Student war in der
-Nacht gestorben. Sie aber mußte noch so spät getröstet werden. Ihr
-Schuldbewußtsein machte sie befangen, sie wußte nicht, was sagen. Die
-französischen Neuerscheinungen lagen auf ihrer Decke gebreitet. Es war
-aber derselbe Arzt, der es abgelehnt hatte, sie zu lesen. Scharmante
-Bücher, bemerkte sie, doch ohne sie ihm noch einmal anzubieten. Doch als
-er sich jetzt anschickte zu gehen, bat sie mit einer winzigen Stimme um
-Morphium. Es wirkte nur langsam bei ihr, und bis dahin konnte sie bequem
-schluchzen.
-
-Fürwahr, sie hatte es gut. Selbst in der Nacht war dieses Zimmer
-freundlich: der weiße Tisch mit den lichten Messinghähnen für warm und
-kalt, wie sie es liebte; der magisch sanfte Schein des Seidenschirmes,
-wie blasser Rittersporn so blau. Die Birne war schwach, aber sie genügte
-gerade.
-
-Sie dachte an ermordete Freunde, an die grenzenlose Abgeschiedenheit
-ihrer letzten Augenblicke. Ja, das war die Wirklichkeit! Feige, feige
-Geraldine! Freunde, besser als sie, waren gegangen, früher als sie, und
-hatten ihr Tagewerk vollendet. Ihr war noch eine Frist gegeben. Nichts
-anderes als eine Frist bedeutete ihr Genesung.
-
-Geraldine hörte der Posaunen viele.
-
-Und dann genoß sie doch wieder die tröstliche, verbrecherische Schale
-der Vergessenheit, und es war alles eins.
-
-Jedoch derselbe Arzt kam tags darauf selbst auf das Thema zurück, und
-bevor sie ihrerseits sich dazu äußerte, überschlug sie im stillen, wie
-oft sie schon dasselbe gesagt hatte, sich, und gewiß auch andern zum
-Überdruß. Innerlich seufzend legte sie über „jene anderen Franzosen“
-los, wie sie es drüben über „jene anderen Deutschen“ getan hatte. Es ist
-nicht mehr zum Anhören, dachte sie dabei. Denn das Wahre, das Rechte,
-das Richtige, es verträgt nicht unbeschadet die Geistlosigkeit ständiger
-Wiederholung. Diese schlägt vielmehr den widerlegbaren, den falschen
-Argumenten vortrefflich an, und entkräftet sie nie; ja sie ist das
-Geheimnis ihrer Wirkung: immerzu laut ausgerufen schlagen sie ein, und
-wuchern wie jedes andere Unkraut. Indessen sprach Geraldine von dem
-versöhnlichen Geist der Intellektuellen, den man unbeachtet ließ; wie
-unglücklich sind wir über so vieles gewesen, schloß sie mit schier
-lahmer Zunge, was unter unserem Namen geschah, und heute stellen wir uns
-unseren Gleichgesinnten gegenüber taub.
-
-„O wirklich?“ sagte er.
-
-Es war aber so ganz und gar derselbe aufhorchende Ausdruck, dieselbe
-Skepsis, dieselbe sensible Spannung im Auge, mit welcher auch ihre
-Pariser Freunde „_oh vraiment?_“ erwidert hatten, daß sie fürwahr nicht
-nur ein ähnliches, nein! ein identisches Gesicht vor sich sah. Und es
-war undenkbar, daß mit demselben verschütteten Gefühl, derselben
-verdrängten Schmerzlichkeit das „_oh really?_“ eines Engländers, auch
-des „deutschfreundlichsten“ gefallen wäre. Denn nicht Sympathie oder
-Abneigung sind hier, wie zwischen andern Völkern, das Hin und Her.
-Sondern Erotik oder der Haß der Geschlechter, die beseligende Flamme,
-oder der Atem des Teufels, der über sie hinbläst.
-
-Seit ihrer Krankheit wechselten ihre Anwandlungen schneller als das
-Licht. Was ließ sie jetzt in einer blauen, spiegelklaren Stimmung
-untergehen?
-
-Sie hatte unter ihren mitgenommenen Büchern die von Hofmannsthal Anno
-1913 so schön und ahnungsvoll eingeleiteten Bände des „Deutschen
-Erzählers“. Ein paar Generationen alt und schon antik! Verwunschen,
-unerschöpflich, losgelöst! – Und aus ihrer Welt heraus, ebenso zeitfremd
-wie sie, war hier ein Deutscher, der Sache so ganz ihrer selbst willen
-ergeben, daß eine fühlbare Stille ihn umgab, die ihn allem Getriebe
-entzog. Schlecht oder recht dachte Geraldine, wie ist doch der Deutsche
-so gründlich! Er ist schlecht fast bis zur Pedanterie, seine Güte ist
-unwahrscheinlich. Dieser hier stand an der Spitze einer nunmehr so weit
-gediehenen Forschung, daß sicheren Todeskandidaten eine Anwartschaft,
-statt auf Rückfälle, auf ein neues Leben verliehen wurde. Da entsann
-sich Geraldine, was sie sich vorgenommen hatte, ihm zu sagen. „Mich faßt
-eine wilde Freude,“ sagte sie, „wenn ich an solche Verwirklichungen
-denke. Denn ein Deutschland als Wohltäter der Menschheit, welch ein
-Triumph wäre dies! Welch stolze Absage an seine Schuldigen! Welche
-Ehrung seiner Schuldlosen und seiner Geopferten! Welch einzig würdige
-Art, der Welt seine Leiden heimzuzahlen!“
-
-Utopien, dachte sie, als er draußen war, Utopien, und weinte in Strömen.
-
-Aber wie eine Bravourarie ging tags darauf das Ausziehen der Fäden vor
-sich. Rhythmisch flog die Schere durch die Luft und schoß wieder herab.
-Geraldine gab keinen Laut und staunte.
-
-Eine Woche später packte sie ihre Siebensachen mit Hilfe der Schwester,
-die französischen Neuerscheinungen obenauf. Dann besann sie sich auf
-Zahnschmerzen und bat um Morphium für die letzte Nacht. Im Schein der
-blauen Lampe war sie des Augenblicks gewärtig, wo sie sich entfliehen,
-noch einmal Urlaub von sich nehmen durfte. Wie ein alter Zwilchrock, der
-müde vom Nagel hängt, so harrte ja ihr abgelegtes Sein, daß sie es
-wieder überzog. Nur einmal noch wollte sie das Fest der Trennung von ihm
-feiern. Als Kind hatte sie sich an Erwachsene geklammert mit der Frage,
-ob man denn sein ganzes Leben sich selber bleiben müsse, ohne jemals von
-sich fort zu können, ohne je andere sein zu dürfen. Ihr früher Wunsch
-war wohl ein Vorgefühl, in welche Zeit ihr Ich hineinwachsen, welche
-Last es ihr aufbürden würde. Allein die Möglichkeit, die damals
-verneinte, die gab es dennoch. Schon rauschten ihr die Fittiche
-entgegen; das Leben war eine holde Landschaft, von verlockenden Linien;
-Fernen, sie nicht mehr betreffend, nahmen die beiden Länder ihres
-Herzens auf, deren Not war an Ereignisse gebunden, vergänglich wie sie
-selbst. In ihrer Wonne ließ sie sich gleiten. Sie sah Gras wachsen über
-ihr eigenes Grab, und es war alles eins.
-
-Aber dein Kopf liegt in den Kissen schwer zurückgeworfen, Geraldine, und
-dein Gesicht ist fahl, derweil du dir enteilst, melodischen Ufern
-entlang, geäugt von Vögeln, deren Staunen Schleier der Lust in deine
-erinnerungslosen Augen treibt. Sie sind nicht dein! Und dies ist nicht
-das Leben, sondern dein Erwachen, und dein Wissen um die Außenwelt.
-
-Und tags darauf nahm sie Abschied. Und Guido geleitete sie hinab zu dem
-offenen Tor, durch das ein Stück Himmel hereinsah. Und wie die Taube,
-der Arche entsandt, die vergebens spähte, ob die Wasser noch nicht
-fielen, und die nicht wiederkehrte, so flog sie aus.
-
-
-
-
- Der Geiz
-
-
-_Avec la richesse commence l’avarice_, sagt Balzac in seinen _Illusions
-perdues_.
-
-Der Geiz scheint jedoch nicht zur Beobachtung zu reizen, und außer
-Molière und Schopenhauer haben sich nur die allerwenigsten mit diesem
-hochinteressanten Laster eingehend befaßt. Auch soll hier keineswegs von
-seinen ungeheuerlichen Auswüchsen die Rede sein, sondern vom Geiz in
-seinem normalen Verlauf, wie die Ärzte sagen.
-
-Vor allen Dingen glaube man nicht, das Geld sei etwas Totes. Es ist ganz
-Wahlverwandtschaft, ganz Antipathie, ganz Selbsterhaltungstrieb, ganz
-„Seele“ (auf seine Art). Ja, dem Gelde entströmen atmosphärische
-Schichten, die sich in feine, aber undurchsichtige Schleier zerteilen,
-um sich über das Gemüt des Reichen zu lagern. Es ist, als schöbe sich
-ein Milchglas trennend zwischen ihn und seine Welt. Mag der Trinker vom
-Weine noch so sehr umnebelt sein: daß er ein Trinker ist, darüber ist er
-sich klar. Der Lügner weiß von seiner Verlogenheit, der Zornige von
-seinem Haß. Aber der Geiz spinnt so feine und undeutliche Fäden, daß der
-von ihm Betroffene ganz im unklaren über sich selbst verbleiben darf.
-Dem Geizigen steht überdies ein Überfluß an Mänteln und Mäntelchen zu
-Gebote, die ihm sein Spiegelbild bis zur Unkenntlichkeit maskieren,
-wobei immer nur er selbst, niemals die anderen über seine wahren Züge
-mystifiziert werden. Man denke sich die Freudsche Methode, die meist
-einer sinnwidrigen Anwendung verfällt, einmal auf verhärtete Geizhälse
-angewandt. Einer psychoanalytischen Behandlung unterzogen, würden diese
-Patienten am Ende gar kuriert vor Schreck über die Entdeckungen, welche
-sie an sich selber zu machen hätten.
-
-Ein Grund ihres Selbstbetruges liegt darin, daß sie nicht selten mit
-Vorliebe geben; ja Geschenke zu machen – freilich niemals entsprechende
-– kann bei dem Geizigen fast zur Marotte werden. Denn er weiß so gut wie
-ein anderer, daß Geben seliger ist als Nehmen, und er hat es so gut wie
-der Freigebige an sich erfahren. Und weil er auch – denn er will alles
-haben – des Gebens froh werden will, gibt er nochmal aus seinem Geiz und
-seiner Habgier heraus. Und darum schenkt auch er. Aber dabei rächt sich
-alsbald sein Laster an ihm und bindet seine Hände, daß er nicht
-freigebig, d. h. nicht frei wird zu geben wie er möchte, und schließt
-ihn wie mit eisernen Fäden in immer engere Gefangenschaft, bis seine
-Miene den inneren Bann, dem er verfiel, auch äußerlich verrät.
-
-Wer wollte denn auch leugnen, daß geizige Leute häufig zu bedauern sind,
-und zwar je mehr sie sich bereichern, da ein Zuwachs ihrer Habe eine
-Verhärtung ihres Geizes unerbittlich zur Folge hat. Wobei ihm die fremde
-Schlechtigkeit vielfach Grund für sein Verhalten zu bieten scheint. Denn
-ein sehr reicher Mensch ist ja schlechten Erfahrungen in schlimmster
-Weise ausgesetzt. Die anständigen Leute werden es nicht sein, die sich
-an ihn herandrängen – seine guten Erfahrungen bleiben somit negativ –,
-während er die miserabelste Sorte aus nächster Nähe kennenlernt. Kein
-Wunder, daß manch vertrauendes und großmütiges Herz karg und mißtrauisch
-wurde. Es kommt unversehens. Der Geiz hat eine unheimlich schnelle
-Reife. Dann aber läßt er seine Opfer nicht mehr los. Er hat nur eine
-aufsteigende Linie. Er kennt keinen Verfall und er kann nicht sterben.
-
-Das Trübseligste erlebte ich einmal auf der Reise von seiten einer
-alten, kinderlosen Dame, deren Nichte mich gebeten hatte, ihr Nachricht
-zukommen zu lassen, denn die Greisin schien sich um ihre sämtliche
-Verwandtschaft nicht mehr viel zu kümmern. Sie lebte fern von ihr in
-einer fremden Stadt, und hatte es glücklich auf sechsundachtzig Jahre
-und fünfzig Millionen gebracht. Ich traf sie in ihrem wundervollen Haus,
-umgeben von Bildern und Schätzen. – In ihrem Lehnstuhl vergraben, klagte
-sie, daß ihr das Schreiben schwer fiele und erkundigte sich alsbald mit
-wärmster Anteilnahme nach der Schar ihrer Nichten, Groß- und
-Urgroßnichten, insbesondere nach einer gewissen „Hertha“, ihrem Patchen,
-das sie am innigsten liebte. Um die handelte es sich eben. Ich malte
-also die blasse Schönheit dieser Hertha in den leuchtendsten Farben hin
-und erzählte sodann, daß die Ärzte einen längeren Aufenthalt in Ägypten
-sehr ratsam für sie hielten.
-
-„Ja mein Gott,“ forschte sie ganz bestürzt und voll aufrichtiger
-Besorgnis, „wird sich denn das pekuniär machen lassen?“
-
-„Schwer“, erwiderte ich.
-
-Mehr zu sagen stand mir natürlich nicht zu. Derselbe Gedanke war zwar
-gleichzeitig in uns aufgestiegen; aber nichts von Unentschlossenheit
-malte sich in dem Gesicht der Greisin – viele Jahre früher hätte sie
-wohl gezaudert –, doch nur Schatten des Grams breiteten sich über ihr
-melancholisches Gesicht.
-
-Seufzend sprach sie jetzt von ihrem nahen Tode, von der Verlassenheit
-und den Enttäuschungen eines zu langen Lebens. Während wir uns
-unterhielten, trat die Jungfer ein und fragte leise, ob sie das
-Töchterchen des Kutschers, das heute das Haus verließ und in die Lehre
-zog, einen Augenblick einlassen dürfe. Die alte Dame empfing das Kind
-voll Güte und Wohlwollen, und als es dann schied, hielt sie es noch
-einmal zurück. Schränke, Kisten und Truhen wurden nun durchgesehen,
-aufgeschlossen und dann wieder abgesperrt. Ein Heer weißer Schachteln in
-Seidenpapier, umwickelte Päckchen und Pakete kamen dabei zum Vorschein.
-Aber sie zog bald diese, bald jene Schieblade zu Rat, ohne sich
-entscheiden zu können. Die Kleine stand indes mitten im Zimmer und
-wartete, wie man es ihr gesagt hatte. Plötzlich flog ein Schein, eine
-schnelle Röte über ihr Gesicht. Gleich darauf wandte sie erblassend den
-Blick nach der anderen Seite hin. Aber ich war ihm schon gefolgt und
-gewahrte ein schwarzes Ledertäschchen, das die Greisin gerade in Händen
-hielt, öffnete und untersuchte. Innen mit dunkelroter Seide ausstaffiert
-und mit Nähutensilien angefüllt, zugleich verschiedene Fächer
-enthaltend, war es wohl der kühnste Traum von einem Täschchen für eine
-kleine Nähmamsell; im übrigen nichts Kostbares, sondern ein schöner
-Dutzendartikel aus einem Warenhaus. Aber nicht lange, und die Besitzerin
-hüllte es wieder ein. Ihre Hände waren gebunden, und sie konnte das
-Täschchen, das um eine Idee zu schön für die Kleine war, nicht spenden.
-Diese stand unbeweglich mitten im Zimmer, aber der Strahl in ihren Augen
-war erloschen. Die Alte kramte indes in einem anderen Fach und zog ein
-silbernes Armband hervor, auf dem „Gott mit dir“ in schwarzen Lettern
-eingetragen war, und damit entließ sie das enttäuschte Kind.
-
-Die Geberin saß nun wieder in ihrem Lehnstuhl zusammengesunken und
-schaute mit einem blassen, vergrämten Gesicht vor sich hin. Ein Fest war
-ja der kleine Zwischenfall mit dem häßlichen Armband, darauf „Gott mit
-dir“ in schwarzen Lettern prangte, für niemanden gewesen, und ein
-gesteigertes Bewußtsein hatte sich der Spenderin unmöglich mitteilen
-können, vielmehr die Öde des Ereignislosen. Es hatte sich nichts
-ereignet. Die Kleine war nur um eine gewaltige Freude betrogen worden,
-und die Alte, die gern Freude bereitete, wußte es genau; und wußte
-ebensowohl, daß sie niemals anders verfahren würde, selbst wenn sie das
-Kind noch einmal zurückriefe. Nebenan hub jetzt ein Papagei, von der
-kleinen Passantin aufgeschreckt, zu schreien und über die
-Unerfreulichkeit der Welt zu schimpfen an. Schräge Strahlen ergossen
-sich durch die weit geöffneten Fenster (die größten der Stadt) und über
-die prachtvoll weichen Farben der Teppiche, die Leuchter aus altem
-Kristall, die goldumränderten Schalen und silbernen Dosen. Dennoch lag
-etwas Drückendes, in seiner Öde unerträglich Akzentuiertes, ja
-Unheimliches in der Atmosphäre dieses Raumes. Und plötzlich war mir, als
-befände ich mich ganz allein, als sei die halb erloschene Frau vor mir
-schon verblichen und nur mehr ein Schemen. Es fehlte so wenig! All die
-Päckchen und Pakete, die sich in tadelloser Ordnung in ihren Kästen und
-Truhen häuften, waren schon fast herrenlos. Und nicht die kleine
-Nähmamsell, nicht einmal die Nichte Hertha schien mir mit einem Male
-beklagenswert, sondern die sonst so kluge, ja sympathische, die
-unbegreifliche alte Dame, die rettungslos in die Falle geraten war,
-welche der Geiz den Besitzenden stellt.
-
-Sie starb bald darauf. Und da ihr Geiz eine lange Geschichte hatte,
-ragte er denn auch weit über ihr Leben hinaus. Sie hinterließ ihr
-Vermögen ihren _reichen_ Verwandten, den weniger bemittelten, der
-Großnichte Hertha, die ihrem Herzen so nahe stand, unbedeutende Legate.
-
-
-
-
- Schiffahrt und Eisenbahn
-
-
-Wie behaglich, wie menschenwürdig hat sich unsere Schiffahrt
-ausgebildet; wie stolz setzen wir über das Meer, aber wie barbarisch
-fahren wir noch Eisenbahn. Unser größter Wohltäter wäre der, welcher
-frei nach Pullman einen neuen Typ unserer Eisenbahnwagen einführte. Aber
-würden die zuständigen Generaldirektionen die leiseste Notiz davon
-nehmen? – Hat je vor mir einer den Plan eines Generalstreikes der
-Eisenbahnpassagiere gefaßt? Nein. Wir lassen uns in den stets
-überfüllten Zügen wahllos wie Herdentiere zusammendrängen und zahlen und
-überzahlen die unverschämte Tortur.
-
-Oder sitzen wir etwa _nicht_ wie Böcke und Schafe stunden- und tagelang
-in einer verrußten, vergifteten Luft – mit einer Platzkarte gezeichnet,
-wie Hammel mit einem Kreuz? Nur die rachsüchtige Hoffnung im Herzen,
-unsere Leidensgefährten (welche die Eckplätze innehaben) möchten doch so
-töricht oder so unerfahren sein, sich in jene andere Vorhölle: den
-Speisewagen, zu begeben, woselbst ein wüster Dunst, übel wie eine
-Seekrankheit, regiert. Und sind wir endlich allein, so stürzen wir ans
-Fenster, um Luft, und wäre sie noch so eisig, hereinzulassen. Aber wir
-bringen es nicht auf. Wir rufen den Gefängniswärter: er bringt es auch
-nicht auf. Das Holz sei aufgequollen, bemerkt er und geht. Nicht lange,
-und die anderen Sträflinge kehren zurück. Man nimmt also wieder mit
-stechendem Kopfweh seinen Rückplatz ein und hat bald darauf die
-unmittelbare Aussicht auf zwei vom Schlaf überwältigte ältere Herren.
-
-Sie sind nicht schön.
-
-Endlich – ich spezialisiere schon; ach es liegt so nahe! – ist das Licht
-dieses mühseligen Tages gesunken. Aber der Lampenschein ist nur ein
-trübes Geblinzel in dieser Luft! Und noch fünf Stunden. Das heißt, man
-wird nie ankommen. Man wird es nicht erleben. Hannover! – Die
-schlummernden Gebrüder fahren auf, greifen nach ihren Taschen und fort!
-– Oh! – Ich bin allein mit einem jungen und scharmanten Mädchen. Wir
-wissen nichts voneinander, aber die gemeinsame Plage hat uns längst zu
-Verbündeten gemacht. Sie erzählt mir, daß sie soeben einen Krankenkursus
-absolviert. Sie hat einen Apfel, ich gebe ihr ein Messer; sie reicht mir
-ein Aspirin. „Aber Sie müssen sich hinlegen,“ sagt sie, „sonst wirkt es
-nicht.“ Sie reißt die oberen Klappen auf und verhängt das Licht, und wir
-strecken uns der Länge nach aus. „O Gott, Schwester,“ rufe ich aus,
-„dies ist viel zu schön. Es kann nicht dauern!“ Aber sie tröstet mich,
-daß der Zug vor Hamburg nicht mehr hält. Da wird – bang! – die Tür
-aufgerissen und eine Blendlaterne grell vor unsere Augen gehalten. Es
-ist der Kerkermeister, der sich umsieht wie einer, der hier zu Hause
-ist, dann die Tür zuschlägt und wieder verschwindet.
-
-Dem ist etwas nicht recht, meinten wir bescheiden und einigten uns über
-ein Trinkgeld, falls er wiederkäme. Wir fingen schon an, unsere Ruhe und
-das Dunkel wieder zu genießen, als die Tür lärmend aufgerissen wurde und
-Kerkermeister und Laterne uns von neuem aufschreckten. Gebieterisch
-verlangte er (wie oft denn noch) nach unseren Billetten. Ich reichte ihm
-das meinige zugleich mit einem Zweimarkstück entgegen. „Wieso? Was soll
-dieses Geld?“ herrschte er. „Daß Sie uns nicht immer stören sollen, weil
-wir müde sind.“ „Sie haben ja“ – tat er sehr überrascht – „ein Billett
-zweiter Klasse und sind hier in der ersten.“ „Das wissen Sie so gut wie
-ich. Ich wurde hierher verwiesen, weil alles überfüllt ist.“ „Das gilt
-nur, solange wirklich kein Platz ist“, bestimmte er. „In Hannover sind
-mehrere Personen ausgestiegen. Ich werde gleich nachsehen, ob etwas frei
-geworden ist. Dann müssen Sie hinüber.“ Er schlug die Tür zu und ging.
-„Gibt es Worte!“ rief die Schwester empört. „Wir sind hier im Lande der
-häßlichen Briefmarken“, sagte ich, vor Wut zitternd. „Paßt so viel
-Gemeinheit nicht wundervoll zur Schreibweise der Worte ‚Soße‘ und
-‚Büro‘?“ Dabei stand der Laternenkerl schon wieder unter der Tür. „So,“
-meinte er im Tone des Vorgesetzten, „drüben ist Platz“, und machte sich
-anheischig, nach meinem Gepäck zu greifen. „Zurück!“ schrie ich wie eine
-Wilde. „Dann zahlen Sie die erste Klasse nach“, sagte er erschrocken.
-„Nein, keinen Pfennig!“ schrie ich, denn mein Zorn kochte jetzt wie auf
-einem Schnellsieder. „Aber morgen“, schrie ich, „steht diese Geschichte
-in allen Blättern; es stehen mir alle Blätter,“ log ich schreiend, „alle
-Blätter Deutschlands stehen mir zu Gebote.“ Ich fand eine sehr
-dramatische Geste, und der Mann fuhr vor meinen Megärenaugen betreten
-zurück. „Ach was, meinetwegen bleiben Sie, wo Sie wollen“, sagte er.
-„Jawohl!“ schrie ich, und meine Börse öffnend, warf ich das ihm
-zugedachte Geldstück ostentativ wieder hinein. Dies imponierte ihm
-vollends. Er schlug zwar die Tür noch einmal zu (dies war seine Natur),
-jedoch blicken ließ er sich nicht mehr.
-
-„Sind Sie Schauspielerin?“ fragte mich meine Gefährtin voll Bewunderung.
-
-Aber ich sank erschöpft zurück.
-
-Diese eine gröbliche Geschichte greife ich nur deshalb mit Vorliebe
-heraus, weil ich merkwürdigerweise nicht den Kürzeren dabei zog. Die
-anderen Geschichten erzähle ich nur auf speziellen Wunsch, weil ich mich
-zu sehr dabei aufrege. Und wer sie auch für erdichtet hielte, würde sie
-doch nie für übertrieben erklären. Wir fahren heute lieber auf dem
-längsten Seeweg nach England, lieber vierundzwanzig Stunden lang die
-ganze Küste entlang zu Schiff, um der möglichen Drangsal einer
-zehnstündigen Bahnfahrt zu entgehen; und wer all die Eventualitäten des
-Winter- und Sommerfahrplans auf der Strecke München-Ostende oder
-Vlissingen erprobte, der zieht es vor, sich allen Meeresstürmen und dem
-dichtesten Nebel auszusetzen und einen ganzen Tag und eine Nacht länger
-unterwegs zu sein. Daß die Schiffahrtsgesellschaften bei täglich
-wachsender Konkurrenz so emporblühen und ihre Bureaux (ich schreibe es
-so) in allen Städten aufschlagen und daß der Zulauf sich immer steigert,
-geschieht nicht nur, weil die Schiffe so prächtig geworden sind, sondern
-weil das Eisenbahnfahren mit jedem Jahr unerfreulicher und mühsamer wird
-und hier statt des Fortschritts eine immer größere Nachlässigkeit
-waltet. Nur die Preise sind gestiegen. Aber es ist, als führe man
-geschenkt. Die armen Ausflügler, die an Feiertagen zu ihren
-unzureichenden Zügen strömen, angebrüllt, zurück- und zurechtgewiesen
-werden, sind ein Kapitel für sich. Sich darüber zu beschweren, überlasse
-ich denen, welche noch den Mut besitzen, Sonntag über Land zu fahren und
-durch Lösung einer Fahrkarte das Recht auf anständige Behandlung
-einzubüßen. Natürlich gibt es viele Schaffner, die höflich und gefällig
-sind. Unwürdig ist nur die Tatsache, daß Wohl und Wehe des Reisenden von
-der Gemütsverfassung, der Laune und dem Naturell der Diensthabenden
-abhängig sind. Sinnen und Trachten unserer Generaldirektionen gehen
-dahin, möglichst große, umständliche, protzige und unnötige Bahnhöfe
-(die Bahnzüge sind ihnen egal!) zu errichten. _Unnötig_: Diese
-Behauptung ist mitnichten so unverständig, wie die Herren
-Bahninspektoren und Oberbauräte es möchten. Wenn sie notwendig sind,
-warum stehen sie nirgends in dem praktischen England? Warum stehen sie
-nicht in Paris? Warum bleiben sie in London auf ihre einfachste Form
-erhalten? Warum sind sie dort nur weite Hallen, die nur von einem ewigen
-Kommen und Gehen atmen – nur praktisch – nur zweckmäßig und trotzdem und
-gerade deshalb von einer starken, beschwingten Atmosphäre von
-klassischer Einfachheit, und deshalb schön.
-
-Kürzlich mußte ich in Leipzig den Nachtzug nehmen. Der Bahnhof – der
-Stolz des Sachsenlandes – ist groß wie ein Marktflecken, und ich könnte
-mir so gut vorstellen, wie hier ein Massenkostümfest veranstaltet würde,
-nicht aus den besten Kreisen, aber üppig, mit großen Palmenarrangements.
-Ich bitte Sie, all die Treppen, das schöne Auf und Ab, wie geeignet! Nun
-– ich warte also auf Bahnsteig vier auf den Berliner Zug. Er lief
-verspätet in die großartige Halle ein, und war vollkommen überfüllt. Wir
-standen geduldig und übernächtig auf der Plattform wie ein Rudel
-Landstreicher, die zu warten haben, bis man sie abschiebt. Plötzlich,
-wie von hoher Brücke herab, der stolze Kommandoruf: Wagen werden keine
-angehängt! Es herrschte der gewöhnliche Kriegszustand. Ich wurde in
-einem Halbcoupé einem alten Sachsen zugesellt. Als nach einer Weile der
-Schaffner erschien und ich ihn fragte, ob denn nirgends Platz sei,
-schlug er die Tür zu, ohne mich einer Antwort zu würdigen. „Von dem
-erwarten Sie ja nichts!“ rief der alte Herr. „Das Subjekt kenne ich. Er
-war eine Zeitlang in meinem Geschäft angestellt, aber ich mußte ihn
-schleunigst entlassen.“
-
-Es gelang uns mit vereinten Kräften, das Fenster zu öffnen, aber vor dem
-Ruß, der uns entgegenflog, zogen wir es alsbald wieder in die Höhe. Wir
-stellten die Heizung auf kalt, wobei es immer wärmer wurde. „Ich bin
-schon alt“, sagte er plötzlich, „und werde nicht mehr viel Eisenbahn
-fahren. Das ist aber auch das letzte, worum ich die Lebendigen beneiden
-werde.“
-
-Nun – eine solche zehnstündige Fahrt, um die kein Toter mich beneidet
-hätte, lag unmittelbar hinter mir, als ich in Cuxhaven, unter einem
-flockigen Himmel, von Möwen umkreist, die hohe Brücke eines Dampfers
-bestieg. Der Kontrast zwischen dem Aufschwung unseres Schiffsbaus und
-der Rückständigkeit unserer Eisenbahnen hat etwas Überwältigendes; man
-ist auf den Eindruck nicht vorbereitet. Es ist ja nicht der Luxus, der
-uns erstaunt. Mein Gott, den findet man heute mehr oder minder in jedem
-Hotel, und er hat den Reiz der Neuheit schon so sehr verloren, daß ich
-mich fragte, ob er sich in der gegenwärtigen Form noch lange halten
-wird. Und da ich mir nun schon einmal das Kapitel der Anregungen
-gestatte: Wäre es nicht schön, den ganzen Aufwand neuen Bahnen
-zuzuleiten und einmal ein wirklich gutes Orchester und große Musik auf
-einem so würdigen Boden, wie den eines großen Dampfers zu lancieren? Das
-Meer ist eine unvergleichliche Konzerthalle!
-
-Nicht die kostbare Ausstattung des Schiffes, sondern daß wir
-stimmungsvolle, lauschige Zimmer statt der engen Kabine beziehen,
-sondern daß wir einen Kilometer zurückgelegt haben, wenn wir dreimal das
-Deck umgehen, der Luxus des _Raums_, das ist es, was uns hier ergreift.
-Jeder Fußbreit mehr, der sich hier dem Element widersetzt, das ist es,
-was imponiert! Drinnen im Binnenlande begreift man nicht recht, bevor
-man es erfuhr, warum ein Schiff so groß sein soll. Erst wenn man darauf
-hinzog, versteht man den Sinn dieser großen, immer größeren Häuser, in
-welchen man des Schiffes immerzu vergißt. Wir ahnen nicht vorher, mit
-welcher Rührung wir uns besinnen werden, wenn uns in mitternächtlicher
-Stille ein dumpfes, kaum wahrnehmbares, wie unterirdisch wachsames
-Treiben die Augen aufschlagen läßt, und ein Ruck, ein sanft harmonisches
-Rauschen uns daran erinnert, daß nicht Straßen noch Plätze, nicht Gras
-noch Baum vor dem Fenster im Winde stehen, sondern das nasse, leere Feld
-des furchtbaren, feindseligen Gottes, auf welchem dies ungeheure,
-beladene Schiff zur winzigen Nußschale schwindet. Aber eine Nußschale,
-die uns das Gefühl höchster Geborgenheit mitzuteilen weiß, und an
-welcher Menschenhände so lange und so kundig bildeten, bis sie, allen
-Stürmen gewachsen, endlich den Begriff des Schiffes selber überwand. So
-ist hier der Zauber aus dem Kontrast von Größe und Kleinheit gewoben,
-und mit innerem Jubel kreisen wir immer wieder um das weite Deck dieser
-schwimmenden Arche, des Spiels nicht müde, so groß ist die Romantik
-dieser kleinen, armseligen, rastlos dahingemähten, dieser so kühnen,
-prometheischen Menschheit, und so stark sind hier die Perspektiven, daß
-wir plötzlich, wie selbst aus ihr hinausgerückt, von Bewunderung
-hingerissen vor ihr stehen.
-
- * * * * *
-
-Da wir von Perspektive und von Romantik sprechen, treten wir doch bitte
-einen Schritt zurück, kneifen wir ein Auge zu, und sehen wir ins Leere,
-in die Ferne; dorthin, wo sich über den Fluß die massive Brücke
-schwingt. Denn nicht lange, und der Schnellzug saust plötzlich
-darüberhin, aus dem Hals der Lokomotive windet sich ein brauner Rauch
-zur krausen Barocksäule empor, und die locker aneinandergeschmiedeten
-Wagen rollen fröhlich mit lautem, schnell verhallendem Geräusch und wie
-ein gefährliches Spielzeug vorbei. Ein kurzer Pfiff, wie ein
-Angstschrei, und nichts ist mehr, als die schwarze Wölbung eines
-Tunnels, durch die sie geradewegs ins Innere des Felsens drangen. Und
-nun meine Zeitgenossen, bitte ich Sie: Ist die Ritterburg, deren
-efeuumrankter Turm vom Berge niederschaut, suggestiver? Kann sie unserer
-Phantasie die Seele eines Zeitalters mächtiger, unmittelbarer
-entgegenhalten, wie der soeben vorübergerauschte Zug, dessen Fenster wir
-einen Augenblick in der Sonne flimmern sahen? Fühlen wir uns da nicht
-blitzschnell den vielfachen Existenzen ein, die er dahinträgt, reißt er
-da nicht unsere Teilnahme zu Schemen des Lebens hin, vertraut und
-unbekannt – verklungen schon, wie angesichts des verwitterten Burgtores
-das Bild des Jagdtrosses, der über die Zugbrücke lärmte; melancholischer
-auch in der zerrinnenden Vielfältigkeit seiner steigenden und fallenden
-Linien. Denn wie Lose in einer Urne sind unsere Leben in jener kleinen
-Eisenbahn zusammengeworfen. Wieviel vergrämte, bekümmerte und schwere
-Herzen trug sie nicht schon dahin! Wieviel Verliebte starrten schon
-durch ihre Scheiben in die fliehende Gegend hinaus und erfaßten mit
-magischer Schärfe den Baum, den zuckenden Steg, Dörflein und Wald,
-während sie doch nur das Bild der Kreatur, an die sie dachten, vor Augen
-hatten! Verträumte Flammen des Hoffens, der Illusion, von der Bewegung
-gefächelt, wie Blumen, die im Zephir stehen. Es ist eine Zeit, es ist
-ihr bewegter, ruheloser Schild, der nachts als funkelnde Schlange mit
-runden, feurigen Drachenaugen seinen Weg erkannt und viel Romantik in
-sich verdichtet. Und es ist, als sei nichts klein, als sei alles
-interessant an den Wesen und ihren Schicksalen, solange die Bahn sie
-hinträgt und gleichsam dem Alltag entreißt. Nur daß sie noch nicht, wie
-die viel besungene Burg, ihren Dichter gefunden hat, die eilige
-Besiegerin der Fernen, die, rastlos, immer auf der Flucht, unsere Epoche
-gestaltet, deren Schienen unsere Welt aufackerten und uns erst zu eigen
-machten.
-
-Und ein Ding, so verlockend anzusehen, unterhält so wüste Möglichkeiten;
-einer so glorreichen Erfindung sollte jener Fortschritt verwehrt
-bleiben, der sich heute auf allen Gebieten des äußeren Lebens – von dem
-fabelhaften Aufschwung unseres Schiffahrtwesens nicht zu reden – so
-glücklich geltend macht. Man fährt schon in Rußland und auf der
-transsibirischen Eisenbahn sehr angenehm – es ist also möglich. Warum
-sollten wir hier nicht auch wie in so vielem Vorbildliches stellen? Wie
-schön, welche Freude wären die Eisenbahnwagen, die einmal ein Künstler
-wie Adolf Hildebrand entwarf. – Wo sind sie?
-
-„Aber“, sagte mir kopfschüttelnd, mit erhobenem Finger, ein mehrfacher
-Aufsichtsrat, „sehen Sie denn nicht ein, daß die kolossalen
-Anstrengungen, welche von seiten der Schiffsagenturen zur Hebung
-desselben geschehen sind, absolut notwendig waren, um das Verkehrsmittel
-überhaupt in Schwung zu bringen, und daß es ohne die rücksichtsvolle
-Behandlung der Passagiere, welche Sie so sehr rühmen, niemals florieren
-könnte, während unsere Eisenbahnen – ob nun etwas für sie geschieht oder
-nicht, und mögen sie noch so rückständig bleiben, ja noch unerträglicher
-werden – einen stets wachsenden Zudrang erfahren werden, da es kein
-anderes großes Verkehrsmittel _gibt_ – es sei denn das Auto oder der
-Luxuszug, der ja auch“, schloß er zutreffend und mit einem süffisanten
-Lächeln, „mehr oder minder nur für Autobesitzer (er war selbst einer) in
-Betracht kommt.“
-
-Nun möchte ich nur, wiewohl vergebens, unsere Herren Eisenbahnminister
-fragen, ob dies ein anständiges Argument war.
-
-
-
-
- Donaueschingen im Sommer 1923
-
-
- I
-
-Ich glaubte es meinem Interesse für die Musik schuldig zu sein, daß ich
-nach Donaueschingen fuhr. Die Hitze war mörderisch, die Züge so
-überfüllt, wie sie nur hart vor einer Tariferhöhung zu sein pflegten.
-Der Rauch billiger Zigarren mischte sich in den herrschenden Dunst. Tief
-verdrossen saß ich in der Dichterklasse. Wo sonst? Zum Lesen war es zu
-dunkel in der einbrechenden Nacht, die Beleuchtung spärlich wie für
-Sträflinge, und alles winterlich trübe bis auf die Hitze.
-
-In Titisee wurde die Tür aufgerissen, und es quetschten sich noch zwei
-junge Leute herein: der eine war blaß und mickerig: erster
-Handlungsgehilfe, letzter Bankbeamter, man wußte nicht recht. Auch beim
-andern nicht, dessen hübsches, rundes und zierliches Gesicht bunt war
-wie eine Forelle.
-
-„Sie Lümmel!“ sagte er plötzlich zu dem bläßlichen Handlungsgehilfen
-oder Schaltervolontär. „Sie Lümmel! So ein Lümmel!“ Man horchte auf.
-Denn welch ein überraschender Wohlklang, welch bezauberndes Organ! War
-er wenigstens ein kommender Bühnenstar, wartete seiner wenigstens ein
-Ruf aus der Großstadt? Er sprach das reizendste und geschmeidigste
-Deutsch, aber so blitzschnell, daß vieles, was er sagte, im Geräusch des
-Wagens und des Gelächters unterging. Wir vernahmen jetzt etwas von einem
-Onkel, der dem „Lümmel“ einen Dollar schenkte, worauf vier Kellner
-ausgesandt wurden, um nach den Kursen zu schauen. Hitze, Rauch, billige
-Zigarren, alles war vergessen: wir saßen im Parkett. Chaplin war nicht
-anmutiger. Donaueschingen kam nur zu bald. Die anderen lachten
-vielleicht noch bis Mainz, den ganzen Rhein entlang. Wohin fuhr der
-junge Mann? Was war er? Vielleicht verkaufte er Handschuhe und Krawatten
-die Woche über. Seine übersensible Lustigkeit rührte geradezu. Ein
-Künstler unleugbar, aber der arme Kerl ahnte es vielleicht nicht. Die
-Laufbahn kam wohl nicht in Frage für ihn. Ja, ja, ein neuer Typ!
-
-Ich dachte noch an ihn, als ich auf dem Bahnhof stand. Donaueschingen
-lag in tiefster Schwärze. Die drei Personen, die sich eingefunden
-hatten, mich abzuholen, versicherten mir alle zugleich, sie seien drauf
-und dran gewesen, im Hotel ein Zimmer für mich zu finden. So war es auch
-mit jener Dame, die immer so lange Geschichten erzählte, deren Pointe
-immer war, daß sie fast ertrunken, eigentlich nur durch ein Wunder nicht
-abgestürzt, bei zweiundvierzig Grad Fieber um ein Haar gestorben wäre
-usw. Kurz gesagt: das Wort „Privatquartier“ schlug jetzt an mein Ohr,
-und ich mußte nehmen, was sich mir bot, oder die Krönungsmesse des schon
-nahenden Morgens versäumen. Um neun Uhr früh, bequem an einen Pfeiler
-lehnend, freute ich mich zum erstenmal, daß ich gekommen war. Ein feines
-Städtchen dieses Donaueschingen. Die Solisten sangen so schön und
-stilvoll, daß ich schon Berühmtheiten in ihnen vermutete, statt dessen
-waren es Einheimische, deren Namen niemand kannte.
-
-Von der Kirche weg ging alles im Oberammergauer Passionsschritt auf eine
-stimmungslose Turnhalle zu, in welcher die Konzerte abgehalten wurden.
-Die des ersten Tages habe ich vergessen. Was den Durchschnitt der
-Aufführungen überragte, überragte ihn so bestimmt, daß die Besprechungen
-vermutlich recht gleichförmig ausgefallen sind. So wird jeder Kritiker
-Hába hervorgehoben haben, aber nicht die überraschende Sinnfälligkeit
-seines Quartetts im Vierteltonsystem. Durch seine innere Notwendigkeit
-leuchtete es ebensosehr wie durch seine meisterliche Kürze ein. Denn
-keine Musik verträgt Längen schlechter als die neue. Wohl haben wir die
-der nachwagnerischen Programmusik noch voll im Gedächtnis. Aber bei
-ihnen konnte man einschlafen, seine eigenen Gedanken spinnen. Wir kennen
-die Klippe der tonalen Kompositionen; die der atonalen heißt
-Katzenmusik. Mit halbem Hinhören wird man sie nicht los. Mit Snobismen
-führe hier die ganze Hölle auf. Zwar keimen sie bereits, jedoch –
-gottlob! – sie wucherten noch nicht. Die Atmosphäre Donaueschingens war
-noch sehr sympathisch. Der Dollarstand war fern, von Nationalismen keine
-Rede. Es drehte sich wirklich alles nur um die Sache. Diese Jugend, ganz
-sich selbst überlassen, war ganz sich selbst. Viel eher schien sie sich
-der kontemplativen Landschaft anzupassen, so daß ein fast zeitloses
-Stimmungsbild entstand. Einem jungen Belgier wurde zugejubelt, als gäbe
-es nur _eine_ Kameradschaft auf der Welt, und als Sieger des
-musikalischen Turniers ging der Tscheche Hába und der Spanier Jarnach
-hervor.
-
-
- II
-
-Ich suchte, außer um mich umzuziehen, tagsüber mein „Privatquartier“
-nicht auf. Im „Lamm“ war ein leerer Saal. Dort saß ich am zweiten
-Nachmittag, als aus einem Nebenraum Musik ertönte. Alt oder neu? Beides,
-oder weder dies noch das, aber so reich, so ergreifend, daß ich zur Tür
-ging und sie öffnete: um ein Pianino saß eine kleine Schar, und man
-probte die Oper eines Komponisten, dessen Namen ich zum ersten Male
-hörte: Rudi Stephan. Im Kriege gefallen. Natürlich.
-
-
- III
-
-Daß Jarnachs Quartett den Glanzpunkt des letzten Tages bildete, auch
-dieses werden sehr viele geschrieben haben, denn es konnte kein Zweifel
-darüber bestehen. Zu wenige aber bemerkten vielleicht, daß hier ein
-wahrer Schüler Busonis die Probe seines Talentes gab. Der wahre Schüler
-ist immer nur der, welchem sein Lehrer Wegweiser, aber nicht
-Gängelführer bleibt. Wie es des wahren Schülers ist, seine eigenen Wege
-auf der ihm gewiesenen Bahn weiter zu verfolgen, so des wahren Meisters,
-jene Bahn zu brechen. Mit dem so viel gebrauchten Worte „Anreger“
-scheint mir bei Busoni entschieden zu wenig gesagt. Man mag sich zu ihm
-stellen wie man will, heute schon gebietet sein Werk vor allem Distanz;
-diese aber, finde ich, wird nur von den paar ganz erlesenen Kennern
-eingehalten. Bei den anderen vermisse ich sie. Distanz schließt die
-Kritik nicht aus, ist aber immer eingedenk. Busonis Tragik liegt darin,
-daß er sich wieder an den Anfang aller Dinge stellte, keiner in unseren
-Tagen machte es sich so schwer. Vielleicht ist es schon für Jarnach eine
-Lust zu komponieren: seinem edlen Kolorit, seiner bedeutenden Sprache
-ist die Arena geöffnet. Armer Busoni! Wie rührend ist er, wenn er
-feiert! Die Schauer der Angelangtheit, jener Orgel-Tokkata,
-„Bach-Busoni“ überschrieben, weihevoll wie ein erhobener Kelch, die
-göttliche Melancholie, der er in seiner Tokkata frönt, und sein
-Perpetuum mobile, in welchem Seite achtunddreißig mit einem Male die
-Flöte Pans einsetzt – wie selten sind die Feste, die er sich gewährt.
-Seine wahren Schüler haben es schon leichter. Gerodet liegt das
-unbetretene Land vor ihnen, die Ufer von Gestrüpp frei.
-
-
- IV
-
-Es dalberte der Satrap von Donaueschingen – laßt ihn uns so nennen – im
-Grase seines Gartens mit den Musikern herum. Er hatte sich aus
-Zeitungspapier einen Helm gedreht, und den Musikern desgleichen. Dann
-hieß es: Augen links und stramm gestanden unter dem Papierhut, und so
-wurde die Parade abgenommen. Ja, und so lobe ich mir das Militär.
-
-
- V
-
-Aber es kam noch viel schöner. Am letzten Abend, als alle Konzerte
-glücklich hinter uns lagen, standen im Kurhaus noch einige
-Gelegenheits-Kompositionen Paul Hindemiths in Aussicht. Man saß bei Wein
-oder Tee und Kuchen, als das Amarquartett mit der bescheidenen Bitte
-aufzog, man möge eine Weile nicht servieren; sie gedachten noch einiges
-zum besten zu geben.
-
-„Es darf nicht serviert werden!“ rief in unbändiger Fröhlichkeit der
-Satrap durch den Saal. Und nun ertönte als erstes ein Militärmarsch, ein
-Militärmärschlein sage ich, ein goldiges Militärmärschli, dessen
-geringelte Ritornelle, dessen Ringelschwänzchen von einer Ritornelle die
-ulkigste, witzigste, übermütigste und zugleich saftigste Verhöhnung war,
-welche militaristischer Dünkel und Stupidität jemals erfuhren. Der
-Komponist spielte in sich hinein, machte seinen runden, lustigen Kopf,
-und sooft die Ritornelle seinem Bogen entquirlte, ging unwiderstehliches
-Gelächter durch den ganzen Saal. Oh! Hätte man solchen Rattenfängern von
-Hameln eher gelauscht!
-
-
-
-
- Marseille
-
-
- La patrie c’est la terre, c’est
- l’Univers, ce sont les étoiles,
- c’est l’air, c’est la pensée
- elle-même.
-
- _Flaubert_
- Correspondence
-
-
- I
-
- Dezember 1923
-
-Ich habe von der Vogelperspektive aus noch keine schönere Stadt gesehen
-als Marseille. Die sehr nennenswerte Kälte und ein strömender Regen
-beeinträchtigten den Eindruck nicht. Freilich, das Meer war tonlos bis
-in alle Fernen. Doch um so berückender leuchteten inmitten des Dunstes
-die Dächer und die schmalen Fronten der Häuser. Eines stand ganz allein
-für sich in seiner Feinheit, von einem rührenden Garten umzogen, der ein
-flaches Viereck bildete. Sonst nirgends ein grüner Fleck. Aber durch
-geheimnisvolle Vorgänge der Sonne und der Luft war hier im Laufe der
-Zeiten ein Werk von Menschenhänden selber zur Natur geworden. Diese
-Dächer, diese Steine überboten die Natur.
-
-Als wir zu Tale fuhren, dem alten Hafen zu, blieben wir in dessen
-handbreiten Gassen natürlich hängen. Es dunkelte. Schon brannten die
-Lichter überall. Ich sprang aus dem Wagen hinter einem grauen Kater her
-und erhaschte ihn. Doch ich war der französischen Katzensprache nicht
-mehr mächtig, und er riß mir aus. Trotz des Regens setzte ich mich zum
-Chauffeur. Wir blieben lange festgefahren. Ein wunderhübsches junges
-Mädchen schlug im Vorübergehen leise auf seine Hand, sah sich dann um
-und lächelte. Auf der andern Seite schwang sich ein kleiner Junge
-herauf, starrte mich an und wartete, daß ich lachte über seinen Spaß.
-Dann erst sprang er wieder ab. Diese schwarzäugigen, grauäugigen
-Gesichter unter dem nächtlichen Haar waren alle auf der Lauer. Auf ein
-Lächeln, ein lustiges Wort des Nächsten lauerten diese dunkeln und
-verspielten Gesichter. Im Restaurant, in dem wir aßen, servierte nicht,
-es zelebrierte der Kellner.
-
-Ich fuhr am nächsten Morgen wieder auf den Berg, um die Stadt noch
-einmal von der Höhe aus zu sehen. Aber die Dächer lagen wie entkräftet
-im Sonnenlicht. Dafür schlug das Meer tiefblaue Pulse zu ihm auf. In den
-Gassen des alten Hafens baumelten bis zu den obersten Mansarden hinauf
-farbenfrohe Kleider übereinander und wehten bunte Schürzen hin und her.
-
-Fasse dich, Leser, Geduld. Ich komme bald zu dem, was ich sagen will.
-Sieh, schon verlasse ich Marseille.
-
-Paris-Lyon-Méditerranée hieß mein Zug. Im Mittagglanze dampfte er los.
-
-Wieviel Inspiration niedrigen Bergen innewohnen kann, ahnte ich nicht,
-bevor das weiße, lebhafte Arles vor mir aufblitzte, bevor ich die
-niedrigen Berge um Arles, die einfachen Terrainwellen der schaukelnden
-Erde um Tarascon, die unaufdringliche und wunderbare Schönheit der
-Provence gewahrte.
-
-Freunde. Eure Hände. Wie oft schwur ich mir, keine Betrachtungen mehr
-über Frankreich anzustellen. Denn es ist mir nicht gegeben, sie anders
-als auf Deutschland zu beziehen. Aber heute ist man verwachsen mit
-seinem Kreuz. Und die Unkenntnis wahrzunehmen, die ein Stockwerk um das
-andere dem Turm Babel anreiht, zwingt uns immer wieder, unsere nie
-vernommenen Stimmen zu erheben.
-
-Laßt uns ganz unsentimental sein. Auch ohne Liebhaberei müßte uns der
-Anblick Frankreichs die Worte: „Es lebe Frankreich!“ entreißen. Denn
-Frankreich mit seinem rar gewordenen Blute ist unser Wein. Sein Leben
-ist der Welt notwendig. Deutschland – denn immer nur um diese beiden
-geht es –, Deutschland wäre aller Brot, wenn es doch endlich die Dinge
-gehen ließe. Die Stärke seiner geistigen Existenz ist eine Großmacht
-geblieben, intangibel und der Welt notwendig.
-
-
- II
-
-Nicht wie eine Dichterin, wie eine Schwerkapitalistin, in einem Coupé
-erster Klasse, durchfuhr ich Frankreich der ganzen Länge nach. So etwas
-will ausgekostet werden. Allein, ich war zu krank. Und welche Not, Arles
-mit seinen kleinen Bergen vor sich zu sehen, ohne auszusteigen. Denn die
-mir zuerteilte Jungfer kam aus ihrem Abteil hervor und parlamentierte so
-eindringlich dagegen, daß ich im Zuge blieb. Aber in Avignon sprang ich
-doch heraus und ließ meine Suite vorausreisen.
-
-Ich fuhr – denn sobald ich zu Fuße ging, neigten sich die Häuser höflich
-vornüber und der Boden beschrieb unsichere Kurven –, ich fuhr also die
-lange Straße, die zum Palast der Päpste führt. Er war geschlossen. Was
-blieb mir da, als die Zeit mit einer Rundfahrt auszufüllen in dieser
-gewesenen Stadt mit ihrem Vorgeschmack des Nordens, ihrer herbstlichen
-Sonne, ihrer kälteren Luft und ihrer Schwermut? Wie eine Orgel nach
-allen Richtungen braust, so erfüllte der Palast der Päpste überallhin
-den Raum. Als ich mit dem nächsten Zuge weiterfuhr, glühte er feenhaft
-im Abendschein in seiner Weitläufigkeit wie zum Tanze geschlossen, gebot
-er über die Rhone, die breiten Laufes sich dem Meer entgegenwand. Der
-Gang, von dem aus ich zu ihm hinüberschaute, war leer. Auch kein
-Schaffner zeigte sich, und die Bangigkeit des Abends umspann mich ganz.
-Mein einziger Reisegefährte war ein Herr, der sehr viel Zeitungen mit
-sich führte. Aber die Dämmerung kam schnell, das Licht war zu trübe, um
-dabei zu lesen, und so gerieten wir in ein Gespräch. Langsam und
-beschaulich war manch ein Wort gefallen, als in Valence eine
-fremdsprachige Familie, mit starken Nüstern, hereinbrach. Ein
-ungebärdiges, der hintersten kleinen Entente entstammendes Französisch
-um sich werfend, zog sie gleich darauf wieder ab, größere
-Ausbreitungsmöglichkeiten zu suchen.
-
-„_Que de mines étrangères quand on traverse la France, nous ne sommes
-plus chez nous._“
-
-Ich war es, die so gesprochen hatte, und ob ich auch alsbald über meine
-Worte sehr erschrak, so war es doch zu spät, um sie zurückzunehmen.
-Dieser Tag, bisher so stumm verbracht, hatte mich in seine Falten
-eingeschlagen, bis ich, voll eines sanften Übermutes, heimisch in ihm
-wurde, geborgen und betäubt. Nun war er zu Ende. Es war Nacht. Der Fluß
-zog im Dunkeln hart an uns vorbei. Das Rauschen des Zuges glich einem
-Monolog, wir aber waren eines Sinnes, und mit sepulchraler Melancholie
-unterhielten wir uns über Frankreich. Beide, weit zurückgelehnt, sahen
-wir einander nicht. Ich sehnte Lyon herbei, denn eine grauenvolle
-Erschöpfung kam jetzt zu ihrem Recht. Der Wagen schien mir hin und her
-gestoßen wie ein Schiff, das im Sturm auf Grund gerät. Wir sprachen von
-der Notwendigkeit, sich zu vertragen, und daß wir alle nur eine einzige
-Aufgabe hätten, einen neuen Krieg zu verhindern. Alles andere sei
-unwichtig. Wann aber kam Lyon? Wenn ich bewußtlos wurde, bevor wir es
-erreichten, was dann? Als erstes würde man suchen, mich zu
-identifizieren. Gleich zuoberst in meinem Täschchen aber lag mein Paß.
-So so; ei ei. Ich rieb mir die Schläfen mit Kölnischem Wasser, saß jetzt
-mit gefalteten Händen und schwieg. Wann kam Lyon? Hinter meiner Lehne
-verschanzt, sprach ich mir Mut zu. Endlich gab ich es auf und bat ihn,
-das Fenster zu öffnen. Nebel und Kälte strömten herein. „_Nous voilà_“,
-sagte er, und kramte seine Zeitungen zusammen. Wir waren in Lyon.
-
- * * * * *
-
-Auch in England, daß ich es nur gestehe, habe ich mich vor dem Kriege
-manchmal heimisch gefühlt. Wer jedoch die Geschicke dieses Kontinents
-mit starker Anteilnahme verfolgt, der kann heute kein Herz fassen zu
-England. Auch durchschauen die Besten dort wohl, und weisen die
-Heuchelei eines Axioms zurück, das sich als eine „Parteinahme des
-Schwächeren“ formuliert, in Wirklichkeit aber nur den Hader auf diesem
-Erdteil zu perpetuieren beabsichtigt. Der falsche Bruder hatte vor dem
-rabiaten Gegner ohne weiteres den Vorzug für die leichtgläubigen
-Deutschen. Der Politik Frankreichs zuzusehen, ist ja ein Alpdruck für
-sich, aber Englands Rolle in diesen Tagen war viel finsterer. Die Besten
-dort erkennen wohl, daß es sich in seiner Rechenkunst überschlug; denn
-der Rest wäre zu trübe, um darin fischen zu können; so daß letzten Endes
-es nicht mehr in Englands eigenstem Interesse läge, seinen säkularen,
-aber nicht ehrwürdigen Kurs in Europa beizubehalten. Die Besten dort
-wissen es wohl.
-
-
- III
-
-Der Schnellzug nach Straßburg verließ Lyon frühmorgens. Auf dem andern
-Geleise lief einer, auf den ich hatte verzichten müssen, um die gleiche
-Stunde nach Paris. Lyon trug sich in Nebeln, vielfach noch in Lichtern.
-Es gab viel Reisende, und bei mir zog gleich eine ganze Gesellschaft
-ein: zwei ältere Herren, der eine sehr schön gewesen, der andere sehr
-lustig geblieben, ein Herr von vierzig Jahren und eine noch
-wunderhübsche Dame mit einem schon siebzehnjährigen Söhnchen, der in
-einem großen, weiten Eisbärpelz schier zerging. Sie waren guter Dinge,
-und kurzweilig kündete sich meine Fahrt. Der lustig Gebliebene lachte
-über eine Komödie aus der „_Illustration_“, und die Weise, in welcher
-der schöne Nestor der Dame aus ihrer Jacke half, sprach Bände für seine
-Vergangenheit. Als sie das erste Mittagessen wählten, wählte ich auch
-das erste Mittagessen, und im Speisewagen behielt ich sie erst recht im
-Auge. Die Dame trug eine Bluse aus weißer Chinaseide zu einem grauen
-Rock. Ihre schlanken Füße in den hellen Strümpfen und den offenen
-Schuhen hatten eine feste Art aufzutreten. Munter speiste sie, trank
-munter Wein, derweil sie munter sprach, und blieb zart und blaß dabei
-wie eine Narzisse. Das Reizendste vielleicht war doch ihr Mund, der, ein
-bißchen schief gezogen, ein bißchen schmerzlich, eben diese
-Schmerzlichkeit jener leisen Verzogenheit verdankte. Es war ein
-schwärmerischer, bitterer, glückseliger Mund, man wußte nicht recht, wie
-er sich zu ihrem lebhaften und sicheren Wesen verhielt. Aber sie war
-sich bewußt, glücklich zu sein.
-
-Vor den breiten Scheiben floh eine Landschaft dahin, die mich nicht
-fesselte. Hin und wieder Hügel, von Schnee gestreift: der Winter, mir
-von jeher verhaßt, der von der Erde Besitz ergriff, und ein toter,
-mißgelaunter Himmel. Lieber sah ich zu jenem Tische hin. Als sie dort
-Kaffee nahmen, nahm ich auch Kaffee, denn ich wollte erst aufbrechen,
-wenn sie aufbrechen würden. Mein Eckplatz befand sich an der Seite des
-Ganges. Dort pflanzten sie sich bei ihrer Rückkehr auf; sie setzten sich
-nicht gleich herein, aber sie blieben bei mir, und ich hörte alles, was
-sie sagten. In aufgeregtester Debatte standen sie beisammen: denn das
-Essen hatte nichts getaugt. Dieses _Fricandeau_, was das wohl hatte
-bedeuten sollen? Gab es Worte für so unzulängliche Kartoffeln und eine
-so nichtssagende _Omelette_? „_Cependant les petits pois_“, sagte der
-Mann von vierzig Jahren ... „_Les petits pois étaient bons_“, sagte die
-hochstielige Narzisse. „_C’étaient ma foi d’excellents petits pois_“,
-sagte Nestor. „_Ils étaient même étonnants_“, sagte mit großem Ernst der
-lustig Gebliebene. Das Söhnchen hatte im Speisewagen sein Zigarettenetui
-vergessen, kam jetzt herzu und sagte lebhaft: „_Il n’y avait de bon que
-les petits pois_.“ Und nun wurde noch eine ganze Weile intensiv, wie in
-den Wandelgängen der Kammer, über die, wie mir dabei kund wurde,
-keineswegs leichte Kunst der Erbsenzubereitung verhandelt. Von den
-Erbsen kam man auf die Wicken, von den Wicken auf die Gewinnung des
-Lavendels. Der echte ist sehr schwer vom wilden zu unterscheiden.
-Nestor, müde vom Stehen, nahm als erster wieder Platz. Er fragte mich,
-ob mich der Rauch nicht störe, und mein „_oh non_“, die einzigen Worte,
-die ich an diesem Tage sprach, wollte sagen: „Kommt alle herein, setzt
-euch. Ich bin entzückt.“
-
-Das Geheimnis der Franzosen, was ist es, wenn nicht, daß sie bei so
-starker Animalität so wenig materiell sind. Hier ist der Schlüssel zu
-ihrem Wesen wie zu ihrer Kunst. Es ist der Augenblick, der, wenn auch
-nicht verweilen, sich voll auslösen darf, weil er nie vorgreift, auch wo
-er überfließt, und weil sein Rhythmus sich genügt. Unüberlegtes Volk,
-tragisch in seiner Kindlichkeit. Wem würde es einfallen, die Deutschen
-Kinder zu nennen? Frankreich ist der Wein der Welt, Deutschland wäre
-aller Brot, wenn es doch endlich die Dinge treiben ließe.
-
-Ich kann freilich nicht verlangen, daß ein Militarist von dem, was hier
-gemeint ist, auch nur ein Wort versteht. Denn Militaristen sind
-Geschöpfe ohne Hirn, an sich also nur grotesk. Allein, solche Wesen ohne
-Kopf durften sich zu Herren der Welt erheben, und streben vollen
-Ernstes, es noch einmal zu werden. Auf die Weise zwingen sie denkende
-Kreaturen, im Harnisch zu bleiben und weiterhin zu buchstabieren.
-
-
-
-
- Venedig 1922
-
-
-Ich traf es unvergleichlich, um über den Gotthardt zu fahren. Er stand
-in Verzückung, und die Seen lösten sich als himmlische Dekorationen ab.
-Dennoch ist es nicht nur die Schönheit – die Welt ist in Europa fast
-überall schön –, sondern der seltene Vorzug der Schweiz ist ihre heutige
-Leere. Man kehrt in leeren Gasthöfen ein, speist in leeren Lokalen, kein
-Zug ist überfüllt. Wohin du siehst, brauchst du nicht über eine Unzahl
-Köpfe hinüberzublicken: die Dinge sind dein. Der hohe Kurs hält nicht
-nur den Andrang der Reisenden ab, auch von den eigenen Landeskindern
-sind viele ausgeflogen. Schon in Como sitzt man wieder gedrängt. Und
-angesichts des immer voll besetzten Vaporettos, der zum Lido fährt,
-steigt der Gedanke auf, daß wir zu zahlreich geworden sind, Atem holen,
-eine Orgelpause ansetzen, auch in geistiger Hinsicht aufräumen, und uns
-besinnen sollten, bevor wir weitergehen. Wir erleben eine Zeit, die sich
-nicht mehr überblicken läßt. Vorigen Herbst kam ich in einem sehr
-östlichen Lande beim Umsteigen hinter einer dichten Menschenmenge durch
-die Untergründe eines Bahnhofs zu gehen, von welchen zwei Treppen zur
-Oberfläche zurückführten. Von unten gesehen schienen die langsam nach
-oben vorschiebenden Köpfe alle konisch auszulaufen, und also gestaut,
-und in solcher Massenauflage kaum noch auf ein persönliches Schicksal
-hinzudeuten. Entsetzlich zu sagen: wie Sardinenpackungen nahmen sie sich
-aus.
-
-Die Allgemeinheit ist heute jener Wald geworden, den man vor Bäumen
-nicht mehr sieht. Sie stiebt hin und her, und nicht mehr dem Führer,
-sondern den mannigfachen Verführern eröffnet sich heute ein dankbares
-Feld. Es wird immerzu von der Masse gesprochen, nie von der Menge, nie
-von der _pacotille humaine_, welche, lediglich weil sie aus allen
-Ständen zusammengesetzt und zahlkräftig ist, zum Machtfaktor erhoben
-wurde. Die stets lenksame Herde ist es, der man sich unterwirft. Und
-diese so unnötige Diktatur der Menge, sie, deren Exponent der
-Ramschladen ist, sie ist es, die unserem Gemeinschaftsleben den
-gewöhnlichen Stempel aufdrückt.
-
-Ich schreibe diese Zeilen in Venedig, es ist wahr, aber Leute wie ich
-haben ja nur für ein paar Gedanken Raum, und alle Wege führen zu ihnen
-wie nach Rom. Sie bezahlen ihren partiellen Scharfsinn mit
-Unzulänglichkeiten aller Art.
-
-Auf meiner Fahrt hierher stellte ich des öfteren fest, in wie hohem
-Grade die Masse sowohl heranzubilden wie zu korrumpieren ist. Ich war
-bereit, in Mailand dieselbe angenehme Enttäuschung zu erleben wie bei
-meiner ersten Reise nach Italien, vor welcher ich manches von dem
-„erledigten und geschmacklosen Rafael“ gehört hatte und seine Stanzen
-und Deckengemälde mir dann vor Bewunderung den Atem raubten.
-
-Vielleicht würde es mir mit dem Mailänder Dom ähnlich ergehen.
-
-Allein ich kam über den Krankheitsherd seiner Fassade nicht hinaus; die
-schönen Paläste, die sich auch hier vorfinden, kommen dagegen nicht an.
-Die in Triangelform ausgehauene Schweizer Stickerei, welche sie
-überragt, schlug eine Dominante für Mailand an. Sie ist heute
-noch verantwortlich für gewisse Hüte, Kleiderarrangements,
-Farbenzusammenstellungen, Loggien und Neubauten, denen man anderorts
-nicht begegnet, denn sie hat fortwirkend das Auge der Mailänder so
-sicher gefälscht, wie sich das der Venezianer bildete. Die ärmste Frau
-aus dem Volke hüllt dort bis an das Ende der Zeiten ihre ungefähre
-Kleidung in das Dekorum eines schwarzen Schals, zum Zeichen, daß sie
-einen höheren Rang einnimmt als die Kollegin, welche in Schürze und
-Kittel zwischen scheußlichen Mietskasernen ihre Sohlen schief tritt,
-während die Elektrische hinter ihr daherpoltert. Ihr Bewußtsein ist ein
-Reflex der Wundergassen, durch die sie wandelt. Er leuchtet von den
-beseelten Stirnen der venezianischen Kinder. Laut sind nur die
-melodischen Rufe der Gondoliere. Man erschrickt hier vor groben Stimmen,
-oder sie wirken komisch.
-
-Für den Militarismus freilich war diese Stadt wie jede andere lediglich
-eine Zielscheibe für erfolgreiche Bombenwürfe, und nichts könnte ihn
-besser kennzeichnen, als seine Kanonenauffahrt gegen ihre Fragilität.
-Von seinen Bekennern sagte ich ja schon, daß ihre Nasen stumpf
-ausliefen, wie die Nasen der Hunde, ebenso unfähig wie Hunde, den
-geistigen Gang der Dinge zu spüren.
-
-Ich schreibe diesen Brief im Abendwinde der Piazzetta, nach einem ersten
-flüchtigen Rundgang in den _giardini publici_. Dort stehen ein halb
-Dutzend Gebäude oder mehr den Bildern aller Länder gastlich, allzu
-gastlich offen. Die schon geäußerten Erwägungen drängen sich von neuem
-auf: Überschüssiges, Ausschußware, als eine Folge der Quantität, die
-sich auf Kosten der Qualität behauptet, infolgedessen höherer, nicht zu
-vermeidender Ramsch auch hier. Die guten Bilder, oder wenigstens die
-guten Künstler, auch die guten Plastiker kannte man.
-
-Überall läuteten schon die Wächter den Schluß der Ausstellung ein, sehr
-verfrüht, wie mir schien, aber sie waren es wohl müde, vor so viel
-Bildern herumzustehen. Gott, o Gott! Was sollte ich über diese
-Ausstellung schreiben? „Ich komme schon!“ rief ich, England durchrasend,
-dem Türhüter zu. Nach Holland fliehend, läutete mich schon wieder einer
-hinaus. Aber ein erster Rundgang sollte es ja sein. Also rasch nach
-Ungarn, dazu reichte es noch. –
-
-Seid mir gegrüßt, ihr Glocken!
-
-Ich stand wieder auf dem Vaporetto; konnte es etwas Überwundeneres
-geben, etwas, das sich in dem Maße überlebt hatte, etwas den Bildern
-selbst Unzuträglicheres, wie solche Massendarbietungen? Nur
-Separatausstellungen haben noch einen Sinn. Der Eindruck einer Überzahl
-von Bildern verschiedensten Ursprungs hingegen ist dem eines großen
-Geschreies vergleichbar. Wir möchten uns die Ohren zuhalten: sie reden
-alle zugleich und fallen einander ins Wort, wobei die Unwichtigsten, wie
-das so geht, am lautesten sind. Welch eine stillere Kunst fürwahr ist
-die Musik! Und wäre es nicht an der Zeit, solche Bilderparlamente ein
-für allemal zu schließen? Hier geht es doch wirklich nicht um
-Demokratie. Lohnt es sich, so weise man diesen und jenen Malern einen
-Raum. Wenn nicht, so mögen sie erst ausreifen, sofern sie das Malen
-nicht aufstecken; jedenfalls verschone man uns mit ihrem Lärm. Auch dem
-Nichtssagenden, wie allem, was es gibt, hat der Weltkrieg neue Lichter
-aufgesteckt. Vor Leuten, von welchen sich einer acht Jahre früher anöden
-ließ, ergreift er heute erschrocken die Flucht, und die Menschengruppen
-sondern sich heute reinlicher ab, es ist wahr.
-
- Montag, 26. Juni
-
-Wieder auf dem Vaporetto. Nur für Stehplätze an der Sonne ist noch Raum,
-einer Julisonne kann man wohl sagen, und es ist Mittag. Mein
-Sonnenschirm ist an der Grenze geblieben, und mein Fächer im Hotel. Es
-fällt mir plötzlich ein, daß man damals, als es sich noch ausbreiten
-konnte in der ganzen Welt, und seine Schiffe in allen Häfen einliefen,
-so oft sagen hörte: Deutschland müsse seinen Platz an der Sonne haben
-und er sei ihm verwehrt. Barmherziger Gott! Wie ist es heute
-zusammengepfercht! Warum ich gerade heute so viel hinüberdenke? Ist es
-das überfüllte Boot?
-
-Es glitt den _Canal Grande_ entlang, und das Auge stillte sich an den
-unsterblichen Palästen, den gewaltigen wie den schmächtigen, der Musik
-ihrer Formen, dem Zusammenklang ihrer Farben; denn sie sprachen zu ihm.
-Ja, es fühlte sich angerufen von diesen geschwungenen Brücken, sie
-fingen an, ihm die intimste aller Gefolgschaften zu bilden; diese
-Gassen, in den Gewässern aufgetan, die Stufen, die hinab in ihre Stille
-führten, und ihre Pforten, so traumhaft umspült, sie zogen alle mit ihm;
-und die Gärten, die Mauern, tief von den Ästen überhangen, und jene
-Kinder dort, zwischen den Säulen der Terrasse, so schlank, so zart
-gekleidet, und die so still hielten ... Und die berückende Dame, die uns
-in ihrer Gondel kreuzte, deren Rosenherz vorfrüh gebrochen ist, und
-lange vor Sommers Ende den Herbst erlebte. Welcher Stoß hat es
-getroffen, und wird es sich erholen? Sie gibt die schweren Kelche ihrer
-Augen, die von der Süße und Qual der Rosen beladenen, dem Lichte preis,
-fesselnder in ihrem unverminderten, doch schon verfallenen Zauber, wie
-alle Jugend. Sie ist vorbeigezogen.
-
-Am Rialto gab es ein Gedränge. Doch jetzt saß ich am äußersten Ende des
-Bootes. Das Glück stieg und schwellte in mir empor, und ich gewährte ihm
-ganz. Wir hatten im Schatten angelegt, und vor mir war ein schwerer
-Palast, die rostbraunen Gardinen herabgelassen. Aber ein Luftzug bewegte
-sie; sie blähten sich wie Segel, bereit, dem Winde zu folgen. Warum
-erhöhte sich da meine Lust? – Die Welt ist nie so heimatlos, Venedig
-noch nie so kostbar gewesen.
-
-Ich hatte beim Einsteigen den _Corriere della Sera_ erstanden, aber
-vergessen, ihn zu lesen. Er glitt jetzt von meinen Knien zu Boden, und
-ich hob ihn auf. Zuoberst auf der ersten Seite standen die Worte:
-_Rathenau assassinato_. Sie setzten das Auge unverzüglich außer Spiel
-und schalteten es aus. Von all den Palästen sah es keinen einzigen mehr.
-
- * * * * *
-
-Fürwahr, ihr Freunde, ein wunderbarer Richter ist der Tod. Mit zeitloser
-Geschwindigkeit hat er die Maske von uns gerissen, die Schale zerbrochen
-und den tauben oder süßen Kern in uns geprüft und kundgetan. Da sind
-„gute Bekannte“, von deren Sterben man Notiz nahm, ohne mit der Wimper
-zu zucken; da ist ein anderer, scheinbar Fernerstehender, dem wir durch
-die Umstände oder durch gewisse Eigenschaften, die uns in Schach
-hielten, nie wirklich nähertraten. Und da trifft uns sein Tod wie der
-eines nahen Freundes, als hätten wir ihn immer geliebt. Es zeigt sich,
-daß alle seine Schuldscheine zerrissen, jeder Schatten durch starke
-Wesenheiten überboten sind, und es will plötzlich nicht mehr gelingen,
-uns seiner Fehler auch nur zu entsinnen. Was ist geschehen? Es gibt
-Fehler, die nichts Inherierendes sind.
-
-Rathenau gehörte, wie der während des Krieges verstorbene Robby
-Mendelsohn, zu den ganz wenigen feudalen Juden, die in Deutschland zu
-finden sind. Hier ist der Punkt, wo jeder Mensch von Ressentiment (sei
-es aus Rasse oder sonstigen Gründen) ihn mißverstehen mußte. Undenkbar –
-denn es war nichts Kleinliches in ihm, nicht einmal in seiner Eitelkeit
-–, daß er den Nekrolog geschrieben hätte, der ihm von Harden zuteil
-wurde. Selbst was er Richtiges enthält, ist daneben. Rathenaus Ehrgeiz
-war ohne eine Spur von Subalternität. Als er zur Regierung gelangte,
-zeigte es sich, daß er nicht nur seinem Talent, sondern auch seiner
-Natur nach dazu berufen war. Dies gab seiner Gestalt das ungemeine
-Relief: mochte er diesen oder jenen Fehler begehen, er war an seinem
-richtigen Platz. Und die antike Glorie seines Todes entsprach ihm
-wirklich.
-
-Daß er übrigens bis in das Jahr neunzehnhundertundachtzehn an den Sieg
-Deutschlands glaubte, habe ich von ihm selbst anders gehört. Im Frühjahr
-neunzehnhundertundsechzehn besuchte er mich einmal in München, im Herbst
-desselben Jahres fuhren wir die Strecke Romanshorn-Buchloe zusammen, im
-Januar neunzehnhundertundsiebzehn sah ich ihn zum letzten Male in
-Berlin. Es war hier und dort fast dasselbe Gespräch:
-
-„Lassen Sie heute die Hände“, sagte er, „von der Politik. Sie ist des
-Teufels Kessel. Sie wissen nicht, was vorgeht, und Sie können nicht
-dagegen an.“
-
-„Warum tun _Sie_ nichts?“
-
-„Weil nichts zu machen ist, die Dinge müssen ihren Lauf nehmen. Erwarten
-Sie immer das Ärgste, und Sie werden es noch übertroffen sehen. Es gibt
-keine Dummheit, die man unterlassen wird. Den Unterseebootkrieg? Ja, der
-kommt auch,“ fuhr er in seiner gleichmäßigen Stimme fort, „und dann der
-Krieg mit Amerika. Und zuletzt wird man ihn verlieren. Auch das.“
-
-„Das sagen Sie,“ rief ich, „und sehen zu?“
-
-„Weil alles vergebens ist. Später, viel später erst, werde ich
-vielleicht eingreifen können. Ich warne Sie“, fing er wieder an – und
-nahm seine Belehrungen wieder auf.
-
-Seine Worte, meine Unfähigkeit, die Lage zu übersehen, bedrückten mich
-schwer. Doch ich hielt an meiner Hoffnung an ein baldiges Ende fest.
-Dieser Allesbesserwisser! Gottlob, daß er nicht recht zu haben brauchte.
-
-
- Den Hakenkreuzlern ins Stammbuch
-
-Kein Glaube hat sich als so ominös erwiesen, als wie der Glaube, das
-auserwählte Volk zu sein. Ihm wurde auf Jahrhunderte der Fluch des
-Ghettos zuteil, der auf den größten aller Morde zurückführt. Seht ihr
-nicht, wie sich für eure Verblendung und eure Missetaten über eure Köpfe
-hin das Ghetto profiliert, das euch abseits stellt? – Kein Mord bleibt
-ungesühnt, auch wenn der Täter entwischt. _Haken_-Kreuzler in der Tat!
-
-
- Zum Wandel der Zeiten
-
-Das jüdische Problem ist reich an Geheimnissen. Auf vielfache Weisen,
-auch auf Weisen, die wir vielfach übersehen, tritt es immer stärker in
-den Vordergrund. Vielleicht sind gewisse typische Christusmenschen
-jüdischer Abkunft das Unverjudetste, was es gibt. Ihrer wurden in
-Deutschland während der letzten Jahre eine Anzahl um die Ecke gebracht.
-Ist da nicht der Moment gekommen, uns über die Juden zu äußern, statt
-diese ausschließlich von sich reden zu lassen? Man gestatte es uns ganz
-ohne Empfindelei: es ist immer so langweilig, was ein Volk über sich
-selber sagt. Räumen wir auch mit allen gefälligen Fiktionen auf, als sei
-der Haß der Juden für uns in Frage. Vielmehr bildet die Attraktion,
-welche unsere Typen, je ausgesprochener sie sind, auf sie ausüben – das
-Wort ist heraußen –, einen Bestandteil des Rätsels, dessen endliche
-Lösung mit unserer endlichen Erlösung insgeheim verwoben ist. Aber die
-Judenfrage ist eine Christenfrage. Das Wort ist nicht von mir.
-
-Man mißverstehe nicht absichtlich folgende einfache Bemerkungen zum
-schwierigsten aller Themen: Wie jeder hochgezüchtete Deutsche das
-lebendige Gegenteil ist von einem Boche, also ein Anti-Boche, so ist
-nicht nur der Unterschied, sondern der Gegensatz zwischen dem
-losgelösten und dem, was wir den stofflichen Juden nennen wollen, so
-groß, daß wir in jenem den eigentlichen Anti-Semiten erkennen dürften.
-Freilich nicht nach Art der Haken-Kreuzler, die das Verjudetste sind,
-was es heute gibt. Man kann es ihnen nicht oft genug wiederholen, auch
-wenn sie einen dafür auf ihre Liste setzen.
-
- Tags zuvor 25. Juni, Sonntag
-
-So schön sah ich Venedig noch nie! Es schimmerte von weitem, das Schiff
-hatte eben vom Lido abgestoßen, und der Himmel verdunkelte sich, aber
-ein magischer Umsturz aller Farben – dem Fabelreiche entnommen – setzte
-sich in Szene. Einer Laune folgend, schien die Sonne ins Meer
-hinabzufahren, um aus den Tiefen zu dieser Stadt emporzuleuchten, daß
-sie in pfirsichgelbem, in grünstem Gold erglühte, ermattete. Ein zartes
-Rosa schlug melodisch an, eine Kuppel trug sich, Feuer fangend, wie ein
-Edelstein, und vor den toll erblauenden Lagunen fuhren Türme
-leidenschaftlich auf. Venedig zuckte, flammte und erlosch, von einer
-schwarzen See verschlungen. Das Vaporetto, allen Ufern entzogen, vom
-Sturme eingehüllt, wurde der Schauplatz eines Wolkenbruches und war so
-dicht besetzt, daß keiner von seinem Heringsplatz wegrücken konnte.
-Ströme liefen den Längsseiten entlang und gurgelten in die Schuhe. An
-der Peripherie stehend und vom Wind halb erstickt, erhaschte ich gerade
-noch meinen Hut, als er über Bord fliegen wollte. Von allen Köpfen rann
-das Wasser. Da schlug ein Blitz wie ein Riesenschwert hart am Schiffe
-vorbei in die Wellen, und im selben Augenblick setzten Rufe und
-Wehklagen von Frauen und Kindern ein, das merkwürdigste Lamento, einem
-Sirenengeheul nicht unähnlich. Was jetzt vor sich ging, war die
-regelrechte Generalprobe einer großen Panik; denn das Schiff hatte
-keinen Schaden erlitten. Es schien zu stoppen, legte aber langsam die
-gewohnte Straße zurück, und nur der _Gedanke_ an den Untergang löste
-also diese Angst und dies rührende Flehen der Kinder aus, die, an ihre
-Mütter gepreßt, unausgesetzt nach ihnen riefen. Väter waren plötzlich
-etwas Unvorhandenes in der Welt. Aber dieser Präventivjammer, war er
-nicht seltsam angesichts der Tatsache, daß wir in einer viertel Stunde
-landen würden, während Schiffe, die solche Klagetöne entsandten, zu
-Tausenden untergegangen waren mit Menschen, welche auch vermeinten,
-ihnen könne und dürfe dies nicht widerfahren, und mit demselben starken
-Willen wie hier sich an das Leben klammerten, bevor sie ertranken. Und
-waren wir darum weniger Kandidaten des Todes, weil jetzt das Schiff ohne
-Havarie das Ufer erreichte, der seltsame Choral verstummte und Gelächter
-sich vernehmen ließ, als sei alles gewonnen? Dem Wolkenbruch war ein
-heftiger Regen gefolgt. Meinen Hut, der einer ersäuften Ratte glich, in
-der Hand haltend, stürzte ich blindlings auf einen offenen Eingang los.
-Es war die dem Landungsplatz gerade gegenüberliegende Pforte des Hotels
-Danieli. Ein großer, breitschulteriger Herr starrte mich an, als sei der
-Genius des Regens durch den Schornstein zu ihm hereingefahren. Dann aber
-geleitete er mich, ohne eine Frage zu stellen, die Treppe hinauf, schloß
-eine Tür auf, läutete einer Cameriera, die alle meine Sachen mit
-fortnahm, und ich war allein in einem großen Doppelzimmer, das plötzlich
-stockfinster wurde, weil jetzt der Blitz irgendeine Leitung beschädigte,
-so daß alle Klingeln und alles Licht im Hotel versagte. Nun war ich bis
-zu diesem Tage mit meinem Italienisch pompös ausgekommen. Vergessene
-Worte aus meiner Kindheit waren mir in Scharen wieder zugeflogen. Und
-ich fing sie ein, wie sie gerade kamen, duzte groß und klein, weil mir
-die Verben nur _en gros_ einfielen, spickte sie dafür mit _magaris_ und
-_c’è casos_ und _ma comes_ und _ma ches_, alles in rüstiger Bearbeitung,
-wie frische Salatblätter, und mit einer so draufgängerischen
-Volubilität, als müßte mir doch endlich jemand sagen: „Nein, wie _Sie_
-gut italienisch reden!“ Allein, das neueröffnete Konto meines
-Wortschatzes hatte angesichts des Bewußtseins als Dachrinne, statt, wie
-es in meinem _Biglietto gratuito_ stand, als „_critica del Berliner
-Tageblatt_“ _in questo albergo_ aufzutreten, eine plötzliche Sperre
-erlitten. Während ich zähneklappernd durch die strahlende Halle
-vorüberströmte, hatte mir zwar meine rinnende Stirn noch einige
-Kontenance gegeben. Als ich aber zwei Stunden später, nach Verbrauch
-vieler Handtücher, in getrockneten und heiß gebügelten Kleidern und mit
-einem menschlichen Angesicht im Bureau des Hotels bei dem
-breitschulterigen Herrn vorsprach, da war mein Italienisch, wie der
-Federkranz auf meinem Hute, von mir weggeweht, und gefaßt, aber in einem
-fürchterlichen Kauderwelsch erkundigte ich mich nach dem Preis. _Ma
-niente!_ sagte er, ganz Kaufmann von Venedig und mit einer Geste, welche
-diese ganze Stadt zum Hintergrunde hatte.
-
- * * * * *
-
-Mit der Hitze ist es übrigens, wie ich vermutet habe. Heiß ist heiß und
-kalt ist kalt. Mehr als heiß kann es nicht geben, und ein Eisenbahnwagen
-in der Sommersglut zwischen Offenburg und Frankfurt bietet nicht die
-Spur größerer Kühle als Verona um dieselbe Jahreszeit.
-
- 27. Juni, Dienstag
-
-Was die Ausstellung betrifft, so mußte es bei jenem ersten flüchtigen
-Rundgang bleiben. – Als ich heute morgen Lire kaufen wollte, war die
-Mark derart zusammengebrochen, daß man in den Wechselstuben Miene
-machte, sie überhaupt nicht mehr zu nehmen. Als sei mit Rathenau ein
-letzter tragender Pfeiler niedergerissen, und jener drohende Ruin, gegen
-welchen dieser Sohn seines Landes alle seine Kräfte angespannt hatte,
-vollzöge nunmehr ungehindert seinen verheerenden Marsch. Fluchtartig
-verließ ich Venedig.
-
-
-
-
- Abschied von Venedig 1924
-
-
-Von der Einnahme Venedigs durch die Deutschen in der Osterwoche 1924
-werden die Annalen dieser Stadt vermutlich nichts berichten. Wer hätte
-es auch gedacht? So schnell, nicht wahr? Ohne Schwertstreich. Infolge
-der schönen Verordnung, daß ihnen bei der Ausreise eine hohe Summe
-abzufordern sei, sprangen, kletterten, überrannten, stürmten sie in
-ihrer Torschlußpanik scharenweise die Grenzpfähle – und waren da. Man
-sah mit einem Male auf unbemittelte Deutsche, welchen man die Spuren der
-letzten zehn Jahre anmerkte, und die billigen Alberghi waren nicht
-minder angefüllt als wie Danieli, Grünwald usw. – Bleibt es bei jener
-Verordnung, dann werden – ausgerechnet – nur mehr jene Typen, welche uns
-dies Frühjahr so blamierten und durch ihren Aufwand so viele Spenden an
-ihre notleidenden Landsleute rückgängig machten, sie allein werden
-dieselben fürderhin vor dem Auslande repräsentieren.
-
-In jener Osterwoche jedoch sah man, wie gesagt, so manch sympathisches
-Gesicht mit dem Gepräge einer geistigen Existenz. Wie eine Springflut
-stürzte auch die heute so zurückgedämmte Sprache über ganz Venezien hin,
-und deutsche Speisekarten lagen in allen Ristorante auf. Mehrfach habe
-ich „Wurstl mit Cren“ gelesen; hyperdeutsch; nur Münchner mochten auf
-den ersten Blick erfassen, daß hiermit kein Hanswurst gemeint ist, kein
-Wurstl, sondern Wurst mit Meerrettig.
-
-Die Osterglocken läuten über den Markusplatz, die Sonne leuchtet und
-lockt ans Meer; es gurren die Tauben im verstärkten Chor, und nie war
-die Welt so gemein. Restbestände aus der Arche Noah sind natürlich
-überall noch anzutreffen, aber mehr als „Souvenirs“, nicht daß sie ins
-Gewicht fallen; bewahre! Ausschlaggebend ist durchaus die dicke Krämerin
-aus dem Grand Hotel, die an einer Porphyrsäule der Markuskirche lehnt
-und behufs photographischer Aufnahme mit ihrem Mispelgesicht zu einer
-Taube wie eine Mispel niederlächelt, wenn eine Mispel lächeln könnte.
-
-
- Wunschtraum
-
-Wenn ich ein Vöglein wäre, flöge ich natürlich dieser Welt davon. Hätte
-ich aber in ihr etwas zu sagen, so führe dieser Tage ein strammer und
-himmellanger Besen in den Markusplatz hinein. Die an der Porphyrsäule
-Lehnende würde in eine Calle hinter einen Ladentisch mit Mortadella
-zurückgefegt. Sodann müßten mir die Konzertprogramme bei Quadri,
-Olympia, Florian und Lavena unterbreitet werden. Denn bei schwerer
-Geldstrafe dürfte keine Bumsmusik auf der Piazza hin- und herüber tönen.
-Ich erlebte folgendes: Eine der dortigen Kapellen – sie bestand aus
-Deutschen, Südtirolern und einem Italiener – gab als schüchterne
-Konzession an den Karfreitag Paraphrasen aus dem Parsifal. Zum Schluß
-rief jemand Bis. Daraufhin entspann sich zwischen den Musikern und mir
-folgender Dialog: „Spielen Sie das doch noch einmal.“ – „Wir können
-nicht.“ – „Man hat doch Bis gerufen.“ – „Es war ja nur Hohn.“ „_Non li
-piace_,“ sagte der Cellist, „_piace a noi, ma non a loro_.“ Ich würde
-mir aber das Publikum schon ziehen.
-
-Haben wir, die wir uns in der Welt nicht mehr recht zu Hause fühlen, am
-Ende ehrlichere Gesichter von unserem Unbehagen weg? – Ich erstand ein
-Fernglas, hatte aber nicht genügend Geld bei mir und ersuchte die
-Verkäuferin, es mir zurückzulegen. Da trat aus dem Schatten die Padrona
-hervor, bat mich um Namen und Adresse und händigte mir das Fernglas ein.
-
-Und doch bin ich finsterer denn je entschlossen, den nächsten Fund, den
-ich mache, zu behalten. Aber ach! Die Menschen teilen sich in Finder und
-in Verlierer ein und mir sind die Finder immer an den Fersen. –
-
-
- _La valigia_
-
-Die Nacht war längst angebrochen, als der Zug, mit dem ich fuhr, sich
-Venedig näherte. In meinem Abteil saßen mir zwei Herren gegenüber, auf
-meiner Seite niemand. Ich streckte mich also der Länge nach aus und
-merkte nicht einmal, daß einer meiner Reisegefährten in Vicenza
-ausstieg, der andere in Mestre. In Venedig angekommen, merkte ich aber,
-daß an Stelle meiner Handtasche eine viel kürzere, die ihr außer in der
-Farbe gar nicht glich, zurückgeblieben war. Die meinige war offen
-gewesen. Kofferschlüssel führe ich prinzipiell schon lange keine mehr
-mit mir. Wozu auch? Es mußte regelmäßig der Schlosser gerufen werden,
-der neue Schlüssel aber war es, der als erster abhanden ging, während
-der alte wieder zum Vorschein zu kommen pflegte, zum geänderten Schlosse
-aber nicht mehr paßte. Außerdem: was nützen Schlüssel? – Fuhrwerke etwa
-ich in Koffern herum, die andern gehören? Wäre ich aber ein Dieb, würde
-das bißchen Schloß mich daran hindern? Also.
-
-Übergehen wir aber, ehrlicher und teilnehmender Leser, meine
-Fassungslosigkeit, als über das Fehlen meiner Tasche kein Zweifel mehr
-bestand. Nichts von angelsächsischer Selbstbeherrschung legte ich an den
-Tag; nichts von Stoik. Ungeheuchelt brach sich mein Furor Bahn. Zwar
-hatte schon ein Herr aus Vicenza wegen eines Gepäckstückes telephoniert;
-aber böse Ahnungen zogen im Sturme in mir auf; den Bettelstab sah ich
-grünen in meiner Hand. Denn auch meine Manuskripte, die Arbeit von
-Jahren, steckten wohlverschnürt in einer Seitentasche und sollten in
-Venedig ihre letzte Reife erfahren. Und nicht nur sie, sondern mein
-jüngstes Produkt, mein Benjamin, welcher den Titel führte: veder _Napoli
-e partire_. Er war nicht gegen Napoli, nur gegen das schlechte Wetter
-gemünzt, das ich dort angetroffen hatte. Wer aber bürgte mir, daß mein
-_mal’ occhio_ weiter als diesen Titel lesen und in nationalistischer
-Entrüstung den ganzen Bündel nicht ins Feuer werfen würde. Hatte man
-nicht wegen Palermo den Maeterlinck gefordert? –
-
-Um zwei Uhr morgens war ich in meinem Hotelzimmer, um neun Uhr schon
-wieder auf dem Weg zur Bahn. Über meine Tasche lagen nur höchst
-undeutliche Meldungen vor, die des Vicentiners hatte man ihm
-zurückgeschickt. Ich begab mich zum _capo di stazione_. Wert im Rate der
-Zehn zu sitzen, höchst ritterlich, und noch dazu auffallend schön, nahm
-er sich, über jeden _sacro egoismo_ erhaben, sofort meiner an und
-telephonierte nach Vicenza. Es sei eine Tasche da, jawohl. Ich wurde
-gefragt, was alles drin sei, und ich nannte ein paar Dinge, die mir
-gerade einfielen. „Toilettengegenstände, eine Reiseuhr, ein Arbeitssack,
-_Delle lettere_“, sagte ich; _scritture_. Der _capo di stazione_
-notierte alles und gab seine Orders. Mit dem Sieben-Uhr-Abendzug würde
-die Tasche ankommen, wenn ich also um dieselbe Zeit mich einfinden
-wollte? ... Doch ach, nur ich traf ein zu diesem Abendzug. Der _capo di
-stazione_ begab sich in den Gepäckraum; errötend gab er mir das negative
-Ergebnis mit. Er telephonierte und telegraphierte von neuem.
-
-Am nächsten Morgen war die Tasche da.
-
- * * * * *
-
-Verschnürt und plombiert harrte sie meiner im Lagerraum, und ich wurde
-aufgefordert, sie zu öffnen und festzustellen, ob nichts fehle. Ich
-zerschnitt die Schnüre, sie sprang auf. Ein Griff nach rechts, ein
-Befühlen der Rolle, meine Werkstatt war unversehrt. Da genügte ein
-flüchtiger Blick auf alles übrige. „_C’è tutto!_“ sagte ich, zog ab mit
-meiner Tasche, nahm eine Gondel für die Tasche und mich und blickte
-triumphierend den _Canal Grande_ hinab. Die Tasche und ich, wir fuhren
-dann ein in die stilleren Seitengewässer und die nur aus ihrer Stille
-vernehmbare Musik Venedigs, von den Steinen und den Pforten angestimmt,
-ob sie eintauchen in die Flut oder bemoost sie überragen, wie süß drang
-sie zu mir.
-
-Erst beim Auspacken trat zutage, was alles fehlte: von drei Scheren
-zwei, von zwei Bürsten die zusammenlegbare in einem Etui, der Sack
-Pralinés aus Nizza. Allein solche Verluste nimmt man leicht. Als ich
-jedoch den Arbeitsbeutel öffnete, wehe! Da fehlte der wertvollste und
-teuerste jener Gegenstände, die ich immer mit mir führe: eine schmale,
-silberne, einfache, aber wirklich vollkommen schöne Empire-Nadelbüchse,
-einzig in ihrer Art, die alle kennen, die meine Sachen kennen. Sie
-fehlte. Sie war gestohlen. Der naheliegende Gedanke, daß man so grausam
-sein würde, sie mir zu rauben, war mir nie gekommen. Eine Welt von
-Erinnerungen umschloß für mich ihr schmaler, schreinartiger Hals. Nie
-öffnete ich sie mit gleichgültiger Hand. Ich hing an ihr über mein Leben
-hinaus, ich träume von ihr.
-
-Mit welchem Fuge aber hätte ich den Weg zur Bahn von neuem
-eingeschlagen, nachdem ich doch ausgerufen hatte: „_C’è tutto!_“
-
-Ihr Herren Eisenbahner aus Vicenza, lohnt mir so nicht mein Vertrauen.
-Gebt mir meine Nadelbüchse wieder! Was ist sie für ein verschwindend
-Ding inmitten der Pracht, die euch umgibt.
-
-Oder sollten Sie mein Herr, der Sie meine Tasche verwechselten – Ihr
-Name wurde ja auf Protokoll genommen –, sollten Sie ein Antiquar sein
-und der Versuchung nicht haben widerstehen können, so schicken Sie mir
-die kleine Nadelbüchse wieder. Wer sie mir findet und zurückschickt, dem
-werde ich ihren vollen Wert zurückerstatten, wer immer es sei. Dem Dieb,
-der sie behält, wird sie Unglück bringen, denn sie gehört zu niemandem
-als zu mir.
-
-Seltsame Stadt, schwebend gleichsam, nein, wie in sich selbst versunken,
-und dem Tode stärker als dem Leben zugewandt. Wie behält sie jedes Echo!
-Was läutet sie? – Noch vibrieren heimliche Reflexe jenes Februartages,
-an dem der junge d’Annunzio den Sarg des „_Grande Barbaro_“ auf seine
-Schultern hob und mit seinen Freunden die Stufen des Palazzo Vendramins
-hinabtrug. Noch lauern Schatten jener Gondel, die Wagners Leiche zog,
-noch weht am _Canal Grande_ ein Hauch der Stunde, zu der er starb.
-
-Schöner, tiefer, stiller war Venedig vor zwei Jahren inmitten seiner
-Junihitze und seiner Leere. Damals klang die trübe Nachricht vom Mord an
-Rathenau herüber; dieses Mal der Tod der Duse, und gleich darauf in
-seiner schauderhaften Schrille das Ende Helfferichs. Wer hat den Tod mit
-einer Geige abgebildet? Wie verschieden moduliert er seine Weisen! Mit
-welcher Pracht umleuchtete und steigerte er weithin das Sterben der
-Duse. O heilige Kunst! –
-
-
-
-
- Molières Tod
-
-
-Es ist die Liebenswürdigkeit Molières, welche wir bei aller sonstigen
-und eingebürgerten Würdigung seines Genies übersehen. Geistige
-Verwandtschaften konstruieren sich ebenso bestimmt wie die Ausläufer und
-Nebenlinien eines Stammbaumes. Es gibt Familien hier wie dort.
-
-Ich kann mir nicht helfen, aber ich sehe – ganz unswedenborgisch
-natürlich – ich sehe immer Pascal mit Hebbel und Brahms eingehängt
-daherkommen, und ich sehe, wie Molière und Mozart „_mon cousin_“
-zueinander sagen und ein Lächeln an sich tragen wie Brüder; eines selben
-Hauses und von selbem Adel: zwei lichte Gestalten auf dunklem Grund.
-
-Molières ausgelassene Augen haben sehr melancholische Wimpern. Es
-verhält sich ähnlich mit Mozarts vielgerühmter und doch so beschatteter
-Heiterkeit, seinem beiläufigen, aber grandiosen Ernst. Sie sind beide zu
-scharfblickend, um sich mit dem leichtsinnigen Rossini oder dem trotz
-chronisch unglücklichen Verliebtseins bei Gelegenheit so fidelen
-Schubert zu verzweigen. Molière und Mozart haben die ähnlichen Nerven,
-den ähnlichen geistigen Charme und jene charakteristischen Merkmale,
-welche nur den Lieblingen der Götter eigen sind: selbst der unheilbar
-erkrankte Molière, der, in der Sänfte getragen, seinen hohen Gönnerinnen
-Besuch abstattet, ist noch von Jugend umweht. Selbst der sterbende
-Molière ist unvorstellbar als ein Gealterter.
-
-Sie haben eine ähnliche Haltung ihrer Zeit gegenüber, die ihnen teils
-eine bevorzugte Stellung einräumt und sie kajoliert, teils mit letzter
-Roheit ihre Vorurteile ihnen gegenüber aufrecht hält.
-
-So trägt Mozart den berühmten Fußtritt jenes Grafen davon, an dessen
-Wappen er dann haftenblieb, und Molières Leiche wird einer Bestattung in
-geweihter Erde nicht für würdig erachtet.
-
-Sollte man da nicht doch versucht sein, an einen Fortschritt zu glauben?
-Aber nichts beleuchtet ihn besser als die unbestreitbare Tatsache, daß
-in unserer Zeit Molière und Mozart auf ihre Felddiensttauglichkeit
-geprüft worden wären. – Wolfgang Amadäus Mozart im Schützengraben!
-Molière als Poilu! – Es ist also schon besser, nicht wahr, sie lebten im
-_Dix-septième_ und _Dix-huitième_.
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- und andere Novellen
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- Eulenberg
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- J. K. HUYSMANS, STROMABWÄRTS
- Novellen. Deutsch von Else Otten.
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- ANNETTE KOLB, WERA NJEDIN
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-
- LUKIAN, GÖTTER-, TOTEN- UND HETÄRENGESPRÄCHE
- Nach Wielands Übersetzung
-
-
- HEINRICH MANN, ABRECHNUNGEN
- Sieben Novellen
-
-
- GEORGE MEREDITH, CHLOES GESCHICHTE
- Deutsch von Franz Blei
-
-
- WILLY SEIDEL, DIE EWIGE WIEDERKUNFT
- Novellen
-
-
- VERSE DER LEBENDEN, DEUTSCHE LYRIK SEIT 1910
- Herausgegeben von Heinrich Eduard Jacob
-
- Die Sammlung wird fortgesetzt!
- Jeder Band in Leinen M. 2.50, in Satin M. 3.20
-
-
- IM PROPYLÄEN-VERLAG / BERLIN
-
-
-
-
- Anmerkungen zur Transkription
-
-
-Offensichtliche Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere
-Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):
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- [S. 29]:
- ... Es was ihr Eigentum wie dieses ganze Haus. ...
- ... Es war ihr Eigentum wie dieses ganze Haus. ...
-
- [S. 30]:
- ... lökte sie den blinden Drang, nur ja zu leben, nur ja nicht ...
- ... löste sie den blinden Drang, nur ja zu leben, nur ja nicht ...
-
-
-*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK WERA NJEDIN ***
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-charities and charitable donations in all 50 states of the United
-States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
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-Gutenberg™ concept of a library of electronic works that could be
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-</head>
-
-<body>
-<div lang='en' xml:lang='en'>
-<p style='text-align:center; font-size:1.2em; font-weight:bold'>The Project Gutenberg eBook of <span lang='de' xml:lang='de'>Wera Njedin</span>, by Annette Kolb</p>
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
-most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms
-of the Project Gutenberg License included with this eBook or online
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-are not located in the United States, you will have to check the laws of the
-country where you are located before using this eBook.
-</div>
-</div>
-
-<p style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:0; margin-left:2em; text-indent:-2em'>Title: <span lang='de' xml:lang='de'>Wera Njedin</span></p>
-<p style='display:block; margin-left:2em; text-indent:0; margin-top:0; margin-bottom:1em;'><span lang='de' xml:lang='de'>Erzählungen und Skizzen</span></p>
-<p style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:0; margin-left:2em; text-indent:-2em'>Author: Annette Kolb</p>
-<p style='display:block; text-indent:0; margin:1em 0'>Release Date: January 14, 2023 [eBook #69797]</p>
-<p style='display:block; text-indent:0; margin:1em 0'>Language: German</p>
- <p style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:0; margin-left:2em; text-indent:-2em; text-align:left'>Produced by: Jens Sadowski and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net. This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library.</p>
-<div style='margin-top:2em; margin-bottom:4em'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK <span lang='de' xml:lang='de'>WERA NJEDIN</span> ***</div>
-
-<div class="frontmatter chapter">
-<p class="ser">
-DAS KLEINE PROPYLÄEN-BUCH
-</p>
-
-</div>
-
-<div class="frontmatter chapter">
-<p class="aut">
-Annette Kolb
-</p>
-
-<h1 class="title">
-Wera Njedin
-</h1>
-
-<p class="subt">
-Erzählungen und Skizzen
-</p>
-
-<div class="centerpic logo">
-<img src="images/logo.jpg" alt="" /></div>
-
-<p class="pub">
-Im Propyläen-Verlag / Berlin
-</p>
-
-</div>
-
-<div class="frontmatter chapter">
-<p class="pub2">
-Im Ullsteinhaus, Berlin
-</p>
-
-</div>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="toc" id="chapter-0-1">
-<a id="page-5" class="pagenum" title="5"></a>
-Inhalt
-</h2>
-
-</div>
-
-<div class="table">
-<table class="toc" summary="">
-<tbody>
- <tr>
- <td class="col1">Wera Njedin</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-7">7</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">Varramista</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-15">15</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">Torso</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-39">39</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">Geraldine</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-77">77</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">Der Geiz</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-93">93</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">Schiffahrt und Eisenbahn</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-101">101</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">Donaueschingen</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-115">115</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">Marseille</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-123">123</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">Venedig 1922</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-135">135</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">Abschied von Venedig 1924</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-151">151</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">Molières Tod</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-161">161</a></td>
- </tr>
-</tbody>
-</table>
-</div>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="chapter" id="chapter-0-2">
-<a id="page-7" class="pagenum" title="7"></a>
-Wera Njedin
-</h2>
-
-</div>
-
-<p class="ded">
-<a id="page-8" class="pagenum" title="8"></a>
-Für Germaine Stockley
-</p>
-
-<p class="pbb first">
-<a id="page-9" class="pagenum" title="9"></a>
-<span class="firstchar">E</span><span class="postfirstchar">rst</span> später wurde uns bewußt, was für lustige Leute
-wir doch eigentlich gewesen sind, als wir zu Hause
-noch alle beieinander waren. Damals ahnten wir es ja
-nicht. Wir hielten uns für tragische Figuren, die nur aus
-Trotz, und um andere hinters Licht zu führen, eine so vergnügte
-Maske zur Schau trugen, sahen wir doch sogar darin
-eine heroische Geste, daß wir als halb Abgebrannte immerzu
-offenes Haus hielten. In Wirklichkeit geschah dies aber
-nur, weil es uns Spaß machte. Da wir keinem bestimmten
-Kreis angehörten, hatten unsere Empfänge immerhin die
-Eigentümlichkeit, daß sie Leute zusammenführten, die sich
-nicht zu begegnen pflegten, jenem Milliardär Gelegenheit
-boten, sich, einmal und nicht wieder, mit jenem armen
-Teufel voraussetzungslos zu unterhalten, und jenem ehrgeizigen
-und hoffnungslosen Streber, einmal und nicht
-wieder, mit jenem Staatsmann ein paar Worte zu wechseln.
-Jedenfalls war es das Unkonventionelle mit all seinen unberechenbaren
-Möglichkeiten, das uns in Spannung hielt,
-und es dünkte uns das Monopol und die Romantik unseres
-Salons, daß er gewissermaßen eine Freistatt war, wo sich
-Fäden anspannen und Dinge einleiten ließen, deren Tragweite
-wir maßlos übertrieben. Und so bildete sich eine
-Protegierader in uns aus, die, anfänglich Spielerei, dann
-zur Grille wurde und endlich in Manie ausartete. Jedes
-hatte seine besonderen Schützlinge, zu deren Förderung
-<a id="page-10" class="pagenum" title="10"></a>
-eine Soiree nach der anderen veranstaltet wurde. Hatte
-alles geklappt und durften wir still triumphierend wahrnehmen,
-daß sich das Spiel unserer Intrigen wunschgemäß
-entrollte, so saßen wir, nachdem unsere Gäste uns verlassen
-hatten, noch lange über unser Tun wie über dem siebenten
-Schöpfungstage auf, dramatisierten unsere Absichtslosigkeit
-und fanden alles gut und höchst merkwürdig, besonders
-uns selbst.
-</p>
-
-<p>
-Nun war es ja schon vorgekommen, daß eine ältere
-Freundin des Hauses sich am nächsten Morgen wieder
-hergetrieben fühlte, nicht etwa, wie wir bei ihrem Erscheinen
-erwarteten, um auf unser gelungenes Fest zurückzukommen,
-sondern im Gegenteil ihre wohlgemeinten Befürchtungen
-betreffs unserer so wenig gesicherten Zukunft
-auszusprechen und von dem Ernst des Lebens sowie
-unserem Leichtsinn zu reden, der uns die kostbare, enteilende
-Zeit so vergeuden ließ. Solche Kuckucksrufe wurden ungnädig
-aufgenommen. Aber im stillen erschraken wir doch
-sehr vor allem, was uns an die Wirklichkeit erinnerte. Zog
-sich die eine auf mehrere Tage in ihr Atelier zurück, nahm
-die andere Orgelstunden, so fing ich infolge innerer Panik
-sehr früh zu schreiben an. Ich verfaßte sehr schöne Artikel
-über den Tiefsinn in der Malerei, den Unwert der Renaissance
-und den Vorteil der Fremdwörter. Unter dem
-Titel: „<span class="antiqua">Rose la France et Bière de Munich</span>“ tadelte ich
-den Frankfurter Frieden. Die Redakteure, über die vielen
-Briefmarken betroffen, mit welchen ich ihre Aufmerksamkeit
-erzwingen wollte, sandten mir alles ziemlich umgehend
-zurück. Inzwischen war auch ein Stilleben fertig geworden,
-<a id="page-11" class="pagenum" title="11"></a>
-und man wußte allerseits nicht mehr recht, was tun. Wir
-gaben also wieder eine Soiree.
-</p>
-
-<p>
-Damals hielt sich eine strahlend junge und strahlend
-schöne Amerikanerin in München auf. Wenn auch nicht
-für ewig, so verliebte sich doch jung und alt auf den ersten
-Blick in sie, und wir pflanzten sie, stets auf das Dekorative
-bedacht, nicht anders als einen Blumenbusch, mit Vorliebe
-bei uns auf. Sie war dabei ein harmloses und liebenswürdiges
-Mädchen, aber von einem geradezu närrischen
-Snobismus. Obwohl stets ihre Verwandtschaft mit der
-Prinzessin Pocahontas betonend, imponierte ihr schon jede
-Baronin. Meistens erschien sie in Begleitung eines nichtssagenden,
-durch seine Goldplomben wie durch seine ewigen
-rosa Hemden ermüdenden Bruders. Eines Abends aber
-– es war gerade vor ihrer Abreise – brachte sie auch
-ihren Vater mit.
-</p>
-
-<p>
-Entschuldige, lieber Leser, wenn ich diesen ehrenwerten
-Mann gleich wieder stehen lasse, und gestatte, daß ich dir
-Fräulein Wera Njedin vorstelle.
-</p>
-
-<p>
-Ich hatte sie zuerst entdeckt, und sie stand unter meinem
-ganz speziellen Schutz. Trotz ihrer großen Sprachkenntnisse
-machte sie den Eindruck einer ausgesprochenen, wenn auch
-sehr sympathischen Wilden. Dünn wie ein Faden, schwarz
-wie die Nacht und kreideweiß, war sie von einer intensiven,
-ja entzückenden Häßlichkeit. Auch sonst machten sie mir zwei
-Dinge besonders wert: ihre Kunst im Kartenschlagen und
-ihre wundervolle Stimme. Keine sehr bildbare, leider, und
-man konnte weniger ihr Talent als ihren Gesang, weniger
-ihren Gesang als ihre Stimme, und weniger ihre Stimme
-<a id="page-12" class="pagenum" title="12"></a>
-als ein paar unvergleichliche Töne in der Mittellage rühmen.
-Mit sanfter, unwiderstehlicher Glut und wie der Leier des
-Orpheus entblüht, drangen sie ans Herz. Man dachte sich
-dies seltsame Mädchen inmitten weiter Steppen vor einem
-Zelt, einem Wachtfeuer, bunte, malerische Volksstämme
-im Banne haltend, denn ihr Sang hatte dieselbe bühnenfremde
-Wildheit wie sie selbst. Ihre Laufbahn schien höchst
-zweifelhaft, ob auch alles darauf ankam. Sie führte ihr
-sehr reduziertes Erbteil sozusagen in der Tasche mit. Wenn
-das zu Ende war, dann stand für dies romantische Geschöpf
-die Welt versperrt. Wera Njedin schien sie zu kennen.
-Sie machte sich wenig Illusionen. Aber wenn sie bei guter
-Laune war, konnte sie die Gespenster ihrer Zukunft noch
-schwarzer und grotesker ausmalen, als sie zu sein drohten,
-und die lustigsten Fratzen dazu schneiden. Es läßt sich
-denken, wie sehr eine so gefährdete Existenz unser Interesse
-erregte.
-</p>
-
-<p>
-Kehren wir jedoch zum Vater des „Blumenbusches“
-zurück, der allein und gelangweilt in einer Ecke steht. Aus
-bescheidensten Anfängen – die Verwandtschaft der Geschwister
-mit der Prinzessin Pocahontas bestand wohl nur
-mütterlicherseits – hatte er sich zu einer Art Triumvir seiner
-Vaterstadt emporgeschwungen und ihr schon ein Spital,
-einen Park und ein Museum gestiftet. Und nun vernahm
-ich, daß er gerade im Begriffe stand, ihr über Nacht auch
-ein Opernhaus zu schenken. Dazu war er auf einige Tage
-nach Europa hinübergefahren.
-</p>
-
-<p>
-Ein im Grase kauernder, von Spähern umringter Hase
-konnte die Ohren nicht bebender spitzen, als ich es da tat.
-<a id="page-13" class="pagenum" title="13"></a>
-Die Fahne einer neuen Intrige war blitzschnell in mir aufgezogen,
-das Seil meiner Pläne schon verankert. Wera
-sollte in einer Luxuskabine nach dem wilden Westen hinüberschaukeln
-und an der Oper dieses Stadtvaters eine
-wilde Gage beziehen. Die Schwierigkeit des Unternehmens
-kannte ich wohl. Denn leider war der biedere Mann von
-dem äußeren Glanz seiner Kinder so geblendet, und vollends
-in den Kunstsinn seines rosa und goldenen Sohnes setzte
-er ein blindes Vertrauen. Dieser hatte sich bereits von
-einem blutigen Dilettanten, der aber Reichsrat der Krone
-Bayerns war, beraten lassen. Statt uns zu fragen! Die
-ganz unbekannte Wera Njedin dagegen wurde von ihm
-gründlich übersehen. Ohne Anhang und Empfehlung war
-sie sehr buchstäblich von Rußland herübergeschneit. Auch
-nicht der kleinste Attaché diente ihr zur Folie. Wie ließe sich
-da in aller Eile ihr Engagement erreichen? Dennoch mußte
-es unverzüglich erwirkt werden.
-</p>
-
-<p>
-Da kam uns eine geniale Idee. Ihr Notenstand lag
-am Flügel auf. Geschickt wurde er hinausgeschmuggelt,
-draußen mit Widmungen versehen und unter einem anderen
-Schutzdeckel wieder hereintransportiert. Nach einer Weile
-wurde Wera mit verteilten Rollen von uns interpelliert.
-Die eine hatte sie zum Singen aufzufordern, die andere in
-ihren Heften zu kramen und erstaunt auszurufen: „Da hat
-sich ja das halbe Winterpalais eingetragen! <span class="antiqua">Hommage
-admiratif du Prince de Boutonoff</span>“ las sie laut und wie
-um Wera aufzuziehen vor. Auf einem zerrissenen Notenblatt
-hatte eine Duchesse Alice de Montreuil die Worte:
-„<span class="antiqua">Pour la voix d’or de ma chère Wera</span>“ eingetragen, und
-<a id="page-14" class="pagenum" title="14"></a>
-mein spezielles Werk war die auf Tschaikowskys „Sehnsucht“
-in zackigen Riesenlettern vor Vornehmheit förmlich
-baumelnde Inschrift: <span class="antiqua">Ne m’oubliez pas!</span> Anastasie.
-</p>
-
-<p>
-Schon trieb der Blumenbusch heran. Weniger naiv
-maskierte der Bruder seine Neugier mit einem weiten
-Katzenbogen, bevor er sich näherte. Der Moment zum
-Probesingen aber war gekommen, ich öffnete den Flügel
-und bat um Schweigen. Die Gewalt, mit welcher
-wir unsere Lachkrämpfe auf später unterdrückten, verlieh
-uns teils todernste, teils bezechte Mienen. Wera, vielfach
-auf den Fuß getreten, ahnte, wieviel im Spiele war. Sie
-sang die Arie der Fides mit schmerzerfüllten Akzenten,
-welche das unverdorbene Herz des alten Selfmade-Amerikaners
-rührten. Mit ausgestreckten Händen eilte er auf sie
-zu. Es war erreicht und der Widerstand der Geschwister
-Pocahontas war gebrochen. Und Wera war engagiert.
-Ach ja, es waren heitere Tage!
-</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="chapter" id="chapter-0-3">
-<a id="page-15" class="pagenum" title="15"></a>
-Varramista
-</h2>
-
-</div>
-
-<p class="ded">
-<a id="page-16" class="pagenum" title="16"></a>
-Für Zeb-On-Nissa
-</p>
-
-<h3 class="section pbb" id="subchap-0-3-1">
-<a id="page-17" class="pagenum" title="17"></a>
-I
-</h3>
-
-<p class="first">
-<span class="firstchar">D</span><span class="postfirstchar">urch</span> die Abgetrenntheit der letzten Jahre sind die
-Völker in allen ihren Eigenheiten charakteristischer
-sie selbst geworden, als sie es vielleicht je im Laufe ihrer
-ganzen Geschichte gewesen sind. Alle ihre Äußerungen
-tragen ein so lokales Gepräge, als ob keine Eisenbahnen
-wären, und sie sind so stark mit sich selbst beschäftigt, daß
-ihnen, was sie vorstellen, in demselben Maße entgeht, wie
-den Außenstehenden, was sie sind. Man muß heute die
-Nationen aufsuchen, um sie zu begreifen. Der Faszismus
-spricht italienisch, nur italienisch. Mit dem Auslande, in
-dem er so viel von sich reden macht, befaßt er sich herzlich
-wenig. Die faszistischen Zeitungen interessieren sich ausschließlich
-für die Patria. Kinderkreuzzügler nannte ein
-florentinischer Witzbold die Faszisten. Wem aber fiele es
-im Ausland ein, sie so zu benennen? So oder so ist die
-Bezeichnung vorschnell gewesen; aber mit den Leuten um
-Hitler oder Leon Daudet sind sie fürwahr nicht zu vergleichen.
-Die <span class="antiqua">Camiccie nere</span> sind vielmehr wie ein helles
-Mantelfutter, das nichts von seiner ominösen Außenseite
-weiß. Ja, die Völker sind heute charakteristischer sie selbst,
-und was die Italiener angeht, so stieg der Schmutz ihrer
-Dörfer noch nie so hoch. Dabei hat die Reinlichkeit der italienischen
-Villa und der Palazzos eine Blume und Poesie,
-zu der gehalten die Sauberkeit der sauberen Länder gar
-<a id="page-18" class="pagenum" title="18"></a>
-nüchtern und langweilig erscheint. Aber zwischen den Herrenhäusern
-und den Behausungen des Volkes ist kein Übergang.
-Wäre ich Faszist und hätte mit einer Handvoll Leute
-den großen Kehraus vorgenommen, und wäre ich als neuer
-Besen in meinem Lande aufgetreten, ich wüßte, was ihm
-noch obläge: mit eisernem Griffe in alle Straßen und Plätze
-und Straßenecken hineinzufahren, deren Anblick, deren Befund
-meinem gesteigerten Nationalgefühl (wennschon) allzupeinlich
-wäre.
-</p>
-
-<p>
-Allem Gottesgnadentum und allen Servilismen zum
-Trotz waren zwar nicht der Verfassung, wohl aber der
-Anlage nach diejenigen Länder im vorhinein, bevor es
-eine Demokratie gab, demokratisch, in welchen das Dorf
-und die Kleinstadt ihre Blüte erfuhren und der „kleine
-Mann“ in einem würdigen statt ungefähren Rahmen
-seine Tage verlebte. Aber eine Hochkonjunktur herrlicher
-Paläste und herrlicher Dörfer zugleich ist noch nicht dagewesen,
-und die einen gingen noch jederzeit auf Kosten
-der anderen. So die, wie in einer Spieloper blitzblanken
-Ortschaften der heutigen Schweiz, des gestrigen Zentraleuropas,
-der skandinavischen Länder: als müsse unverweilt
-eine Musik von Boieldieu einsetzen, oder Zerbinetta,
-zum Tanze geschmückt, warte nur auf ein Zeichen, um
-hervorzutreten. Und doch, wie ausdrucksvoll, wie interessant
-ist gerade der Kopf der Contadina, ihr verlorenes
-Profil unter dem kleidsamen Schleier, der übrigens das
-Glanzstück ihres sonntäglichen Staates geworden ist. Sollte
-er den Faszisten nicht einen Wink bedeuten, zu einer Hebung
-einer progressiven Aufklärung des niederen Standes zu
-<a id="page-19" class="pagenum" title="19"></a>
-schreiten? Wie brach liegt da ein weites Feld vor ihnen,
-denn von ihnen, den Faszisten, reden wir! Der große Anhang,
-den sie im eigenen Lande fanden, hat seinen besonderen
-Grund: Die Bewohner der Dreckshäuser, deren
-Fenster wie schwarze Löcher den im Auto Vorbeisurrenden
-anstarren, wissen es seit vielen Jahrhunderten nicht anders,
-als daß es Paläste gibt in ihrem Glanz – und ihre eigene
-Unterkunft mit all dem Unrat, der sie umgibt. – Sie
-wissen es nicht anders. Der Gedanke an eine Verschönerung
-der Lebenshaltung, des Rahmens, in welchem sie sich
-abspielt, liegt noch weitab. Sie wissen es nicht anders.
-Hier liegt der springende Punkt. Der Italiener aus dem
-Volke ist höflich, ohne servil zu sein, er wäre sehr bildungsfähig.
-Vorläufig ist er leicht erregbar und wild. Der Tiefstand
-seiner Kaste beruht nicht auf Unterdrückung, sondern
-auf Vernachlässigung (wie überall hat sich der Bauer
-schwer bereichert). Nichts ist von so grausamer Trauer wie
-die italienische Ebene, als wüßte auch die Natur von diesen
-trostlosen Dörfern. Die Grausamkeit nicht nur der Natur,
-auch des Lebens selbst brütet über ihre herbstlichen Felder
-hin. Welkes Weinlaub schlingt sich da von Stock zu Stock,
-Kränzen gleich über eine Erde hingeworfen, die nur ein
-Friedhof ist. Wie lachend ist Zentraleuropa, verglichen
-mit der Straße, die nach Pisa führt! Der Bolschewismus
-aber in dem sozial so unbalancierten Italien hätte Europa
-den Rest gegeben. Eine solche Verfinsterung und Vergiftung
-seines Blutes so nah an seinem Herzen hätte es nicht ertragen.
-</p>
-
-<p>
-Fahrten durch italienische Dörfer oder den <span class="antiqua">piccolo borgo</span>
-boten jedesmal dasselbe Bild: in den Hauptstraßen, und
-<a id="page-20" class="pagenum" title="20"></a>
-war es noch so spät, stand eine aufgeregte und heftig
-gestikulierende Menge, von Fahnen umweht (ich sah
-drei Wochen hindurch die Ortschaften nie anders als beflaggt,
-alle Fenster bewimpelt). Der Grad der Erregbarkeit
-dieses Volkes war unschwer zu ermessen: es in die
-Hand nehmen und auf die Schlösser losmarschieren lassen,
-um den Besitzern Ovationen zu bereiten, war ebenso leicht,
-wie dieselben Scharen denselben Weg, jedoch als ebenso
-viele Brandstifter anzuführen und den Conte oder Marchese
-niederzuknallen. Als ich den beängstigend langen Zug die
-Zypressenallee heraufziehen und im Scheine der Fackeln
-den Riesenperystil und die Boskette belagern sah, glaubte
-ich wieder alle zu erkennen, die so oder so hätten sein können:
-bestialische Mörder oder fanatische Beschützer dieses <span class="antiqua">Padrone
-di casa</span>, der mitten in seinem <span class="antiqua">pranzo</span> unterbrochen
-und hervorgeholt wurde (just als sollte er aufgeknüpft
-werden) und – nicht ahnend, daß er noch schutzbedürftig
-sei, die <span class="antiqua">Evvivas, Alas alas, alalas!</span> seiner Retter schnell
-gefaßt mit einer Ansprache quittierte. Und dann flossen
-Ströme von Chianti. Und so machte der Faszismus Karriere.
-Kunststück! Es ist wahr, daß er Italien gerettet hat. Laßt
-ihm noch seine kindliche Erpichtheit, es nachträglich Wort
-haben zu wollen. Das indolente Rom träumte in den Tag,
-als es plötzlich, von seinen anrückenden Befreiern aufgeschreckt,
-schnell die Schienen aufriß und sich wie hinter
-Zugbrücken gegen sie verschanzte. Ohne bedroht gewesen
-zu sein außer von seinen Befreiern, ward es dann sehr
-peremptorisch befreit und es gab über Nacht eine <span class="antiqua">Roma
-Liberata</span>.
-</p>
-
-<h3 class="section" id="subchap-0-3-2">
-<a id="page-21" class="pagenum" title="21"></a>
-II
-</h3>
-
-<p class="noindent">
-Wieder fuhr ich zwischen den hohläugigen Häusern der
-Dörfer dahin, auf der Straße, die nach Pisa führt. Von
-der aufgeweichten Erde war das Auto überspritzt. Man
-hätte die Sonnenstrahlen fangen mögen, so schnell erbleichte
-ihr Gold und schöpfte der Sturm wieder Atem. Denn am
-Himmel war Krieg.
-</p>
-
-<p>
-Die plötzlich auftauchende Gestalt eines <span class="antiqua">Camiccia Nera</span>
-schreckte mich da – Halt gebietend – aus meinen Novemberträumen.
-Er streckte den Arm vor mir aus, wie
-ihn die Legionen des Cäsar zum Gruß ausgestreckt haben
-sollen, und mit den Worten „<span class="antiqua">Capitano Fascista</span>“ schwang
-er sich theatralisch und elegant, aber ohne weiteres neben
-den Chauffeur.
-</p>
-
-<p>
-Ich war wieder einmal gerettet.
-</p>
-
-<p>
-Und weiter ging’s: rechts der Berg von Lucca, in seiner
-Vereinzelung die wühlende Trauer dieser Ebene noch mehr
-akzentuierend. Seitwärts starrte auf halber Höhe das grausame
-Weiß von Carduccis Heimatsort. Wer mochte diese
-Felder bis zu ihrem Ende durchmessen? Führte denn ein
-Weg hinauf zu diesem grellen und gewürfelten Kranz von
-Mauern? Bogen nicht alle Straßen von ihnen ab?
-</p>
-
-<p>
-Mein schlammüberzogener Wagen indessen gelangte
-nach Pisa, und von neuem, Gott sei Dank, waren wieder
-Paläste zur Rechten und Paläste zur Linken, oder sogar
-mitten auf die Straße gestellt, wie um sie zu versperren.
-<a id="page-22" class="pagenum" title="22"></a>
-Unter einem geklärten Firmament wurde sodann das Grundstück
-aller Grundstücke erreicht, auf welchem der Campo
-Santo und die Kathedrale, der schiefe Turm und das Battisterium
-zusammen stehen.
-</p>
-
-<p>
-War ich zwischen den hohläugigen Häusern so vieler
-Ortschaften gefahren, um unvorbereitet und unvermittelt
-zu diesen schwebenden Kolonnaden, diesen singenden Säulenreihen
-emporzusehen, die kein Spiel der Phantasie, kein Abbild
-je vorwegnehmen könnte? Zum Schächer hatte mich
-der Anblick all der Dörfer herabgedrückt, dem aber nun
-die Verheißung sich erfüllte: „Heute noch wirst du mit mir
-im Paradiese sein!“
-</p>
-
-<p>
-Was begab sich hier und was vernahm das überwältigte
-Gemüt? Was für Knospen bersteten ihm? Welches „Sesam,
-tu dich auf!“ ließ Pforten der Hoffnung in ihren
-Angeln drehen? Ich setzte im Sturm über die Stufen des
-Turmes, den roten Streifen am Himmel und der spürbaren
-Nähe des Meeres entgegen. In der Nacht trieb es mich
-noch einmal zurück. Der Mond war aufgegangen. Der
-sonst so Teilnahmslose schien mit einbezogen. Auf mein
-Wort, er spielte voll herab. Ein Campo Santo, eine Kathedrale,
-ein schiefer Turm? Oft vernommene Worte! Was
-bedeuteten sie? – Die Harmonie der Sphären, es ist die
-Sphärenharmonie, von welcher dieser flache Rasenplan
-mit diesem schiefen Turm, diesem Dom, diesem Battisterium
-verhaltenen Atems rätselhaft erdröhnt.
-</p>
-
-<p>
-Hierher, ihr Kommissionen! Unter diesem Himmel würdet
-ihr nicht vergebens tagen. Es ist der Himmel desselben
-Landes, das mit einer solchen Vergangenheit, in Rom das
-<a id="page-23" class="pagenum" title="23"></a>
-Denkmal Viktor Emanuels, diesen giftig weißen Höllenbraten,
-ansetzte und heutigentages keine Maler, keine
-Architekten mehr erzeugt. Wäre es nicht wichtig, die Gründe
-hierfür zu suchen? – Der Zauber italienischer Kunst lag in
-ihrer Gedanklichkeit. Weltumspannendes zieht seine Linien
-in den Madonnengesichtern und macht sie noch zarter, zerbricht
-sie fast. Wo ist die Seele hin des Jacopo della
-Quercia oder jenes Ignoto Fiorentino, dessen Bild in den
-Uffici hängt? Die abgründigsten Stellen der Chaconne
-von Bach greifen nicht tiefer. Welche Beziehung zur Unsterblichkeit!
-Und was für Italiener sind das gewesen?
-</p>
-
-<p>
-Auch um Siena aufzusuchen, wählte ich eine Vollmondnacht.
-Der Zug stieg wie zwischen hell beschienenen Vorhöfen
-des Himmels an, von immer frischeren Winden umstrichen.
-Und bei der Ankunft ging es erst recht aufwärts, die
-lange Stadtmauer entlang, zur steil gewundenen Via Cavour,
-die zur Linken, mit allen Schauern, die herrliche Piazza
-del Campo in der Versenkung hinter sich läßt. Die Cafés
-waren noch offen, festlich trieb der fahnenumwehte Faszismus
-unter dem mitternächtigen Mond. An einer besonders
-stolzen Kreuzung von Palästen, Standbildern und Säulen
-warf mich ein pestilenzialischer Gestank aus der Ekstase. Die
-Spaziergänger schienen ihn nicht zu bemerken. Gemütlich
-wogte der Korso an einer Passerelle auf und nieder, die
-zwischen Negerkabusen noch ein Skandal gewesen wäre.
-</p>
-
-<p class="tb">
-&nbsp;
-</p>
-
-<p class="noindent">
-Schauderhafte alte Kokotten kamen die Wunderbauten
-entlang. War dies das Siena, zu dem ich wie auf Knien
-gepilgert war? Die Gassen stiegen in ehernen Schleifen
-<a id="page-24" class="pagenum" title="24"></a>
-zwischen den senkrechten Palästen empor, und es war, als
-müsse sogleich ein Gipfel, eine Fernsicht kommen. Aber der
-höchste Platz war ganz von Zinnen und Arkaden und Türmen
-umstellt, und nur sie und der Dom sahen ins Weite.
-Er thronte in der Mitte, und seine überladene Fassade
-(<span class="antiqua">mauvais gout du XIV<sup>e</sup></span> oder Restaurierungen?) konnte
-die Schönheit des Ganzen nicht beeinträchtigen. Ringsum
-war Leere. Ich stand allein. Unten in der Via Cavour
-blieben die Cafés noch lange überfüllt, die Lichter und
-Fahnen in ihrem Braus, und der Gestank der Passerelle
-inmitten des elegantesten Viertels tobte nach allen Richtungen.
-</p>
-
-<p>
-Ich durchschritt ein anderes Siena freilich als das, welches
-seine Pracht entstehen sah. Allein die Verwandtschaft
-war nur suspendiert und jederzeit wieder anzutreten. Das
-reizvolle Lokal, einem hohen Gewölbe ähnlich, in dem ich
-zu Mittag aß, war von poetischer Sauberkeit, in Zartheit
-und Geschmack. Ich verließ Siena wie im Traum. Kein
-Zweifel, es war noch sein altes Tageslicht, derselbe getönte
-und schweifende Himmel hüllte es ein wie dereinst. Was
-aber war heute von der großen Gemeinschaft der einstigen
-Meister Italiens geblieben? Nur ganz vereinzelt, ohne Gefolgschaft
-der inneren Vereinsamung anheimgestellte Künstler,
-wie hier Gabriele d’Annunzio, dort Ferruccio Busoni.
-Der Rest ist die Leere der Straße, die nach Pisa führt. Und
-der Grund? – Ich will ihn euch ins Ohr sagen: Es ist nicht
-gut, daß der Mensch allein sei, und Italien war mit Athen,
-mit Byzanz und dem germanischen Norden aufs bräutlichste
-vermählt. Wie ein Baum trat es in die überschwenglichste
-<a id="page-25" class="pagenum" title="25"></a>
-Frühlingspracht. Man reiste damals langsam, es ist
-wahr. Und dennoch entblühten das Tuchersche Jagdschloß
-zu Nürnberg, Maria im Gestade zu Wien und die diminutive
-Maria della Spina zu Pisa einer selben Familie.
-Denn das nationalistische Schisma hatte noch nicht – in
-entgegengesetzter Richtung – den Wettlauf mit den Blitz-
-und Orientzügen aufgenommen. Und für die verheirateten
-Völker bestand noch nicht, wie heute, die Gefahr, daß die
-einen in Problematik verarmen und sich zermürben, die
-anderen in Gesten und Parolen sich exteriorisieren, jedes
-auf seine Weise sich überschlagen und auf toten Geleisen
-sich heiß laufen würde. Der Hain der Musen war noch
-nicht zu einem Theater abgeholzt, auf dessen Brettern die
-Auftretenden in ihre eigenen Kulissen hineinreden und die
-Geltung ihrer Worte immer mehr zerschichtet sehen. Die
-Talente, die noch treiben, dürfen uns über die um sich
-greifende Wüste, die uns alle bedroht, nicht hinwegtäuschen.
-Zwar ist der vielgenannte „Untergang des Abendlandes“
-kein Begriff, sondern nur ein willkürliches Postulat. Aber
-die kurzsichtig sich aufwerfenden Abendländer drängten den
-Gedanken des Abendlandes ganz und gar zurück, statt in
-ihn einzugehen. Die Vorherrschaft bald dieser, bald jener
-Abendländer hat die Verwirrung angestellt. Auf diese
-Abendländer, statt auf ein Abendland, das außer Kraft
-gesetzt wurde, wäre diese These zu stellen, statt mit einer
-These, die es nicht gibt, die Unnachdenklichen zu verführen
-und die Begriffe noch mehr zu verheeren.
-</p>
-
-<p>
-Aber laßt mich zurückkehren zur hochgelegenen Villa, die
-Carducci besang, die sich stolz abkehrt von den Feldern,
-<a id="page-26" class="pagenum" title="26"></a>
-welche sie beherrscht, und ihre Pinienhaine und Boskette
-im Auge behält. Laßt mich euch eine Geistergeschichte erzählen,
-wie ich sie in diesem Hause erlebte.
-</p>
-
-<h3 class="section" id="subchap-0-3-3">
-III
-</h3>
-
-<p class="noindent">
-Ich wohnte zur ebenen Erde in einem großen Saal. Die
-Wände, die vielen Stühle, das Riesensofa, das weite
-Himmelbett in gelbem Damast ausgeschlagen, sie und die
-venezianischen Spiegel waren reinstes achtzehntes Jahrhundert,
-wie ein Bild von Ghislandi. Nur das schwervergitterte,
-übrigens einzige Fenster, merkwürdig zur Seite
-hinausgerückt, fast in die Ecke gedrängt, entstammte einer
-früheren Zeit. Die eine Tür ging auf die Halle hinaus, die
-andere in ein kleines Kabinett, als Ankleideraum gedacht,
-der rechts an das Badezimmer, links wiederum an eine
-winzige Türe stieß, von welcher unmittelbar eine geheime
-Treppe in vielen Windungen zu den oberen Stockwerken
-führte. Man sieht: ein getrenntes Appartement, und nur
-durch das saalartige Schlafzimmer so groß. – Zwischen
-den thronartigen Sesseln ragte der prachtvolle Kamin,
-dessen Feuer mich entzückte. Es war November und regnete
-immerzu. Doch herrschte keine Kälte. Ja, eine Schlange
-ringelte gleich den Parkweg heran, als ihn die Sonne eines
-Morgens beschien.
-</p>
-
-<p>
-Schnell aber füllte Dämmerung den Saal. Der gelbe
-Damast, von unnachahmlichem Gelb, an manchen Stellen
-zerschlissen, war er doch so kostbar wie alt, und der Baldachin
-<a id="page-27" class="pagenum" title="27"></a>
-mit seinen schweren, etwas zerfransten silbernen Troddeln,
-sowie das Bett, die Stühle, die Spiegel schienen dann alle
-auf Menschen und auf Dinge zu warten, sie, für welche
-Menschen und Dinge doch so Vergangenes und Abgelegtes
-waren. „Es geisterte hier“, hörte ich flüstern. Mir aber
-brauchte man solches weder zu verheimlichen noch zu verraten.
-Ich sehe es einem Zimmer sofort an, auch wenn
-Morgenlicht es verklärt und Vögel vor dem Fenster trillern,
-ob es wacht oder schläft in der Spanne zwischen Nacht und
-Tag. Denn nie verscheucht die Sonne seine Wolken, seine
-Schatten ganz, und immer bleibt ein solches Zimmer ernst.
-</p>
-
-<p>
-Rita hieß die Schwester des Herzogs; sie schien aus
-einem Raume nicht zu gehen, sondern leis und leidenschaftlich
-zu entschwinden.
-</p>
-
-<p>
-Man ging früh zur Ruh’ in diesem Hause. Aber sie
-pflegte noch zu mir hereinzukommen und die zurechtgelegten
-Reisigbündel und die Pinienzapfen anzustecken. Dann rasten
-die Flammen, und wir plauderten. Mir bedeutete die Zeit,
-die sie verweilte, eine Frist, denn die Nacht, kaum angebrochen,
-war noch lang und das Lächeln, mit dem ich sie
-endlich an der Schwelle verabschiedete, durfte so verzerrt
-sein als es wollte, reichte doch der Glanz der Kerzen kaum
-über den Tisch, und eine andere Beleuchtung gab es in
-der Villa nicht. Weit stärker war der Schein des Feuers,
-das hin und wieder zusammensank, dann aber, wenn neue
-Scheite in Brand gerieten, den Stühlen ihre gelbe Sonnenfarbe
-wiedergab.
-</p>
-
-<p>
-Ich hatte die Türe hinter Rita noch nicht geschlossen
-und mich dem Saale noch nicht zugewandt, da fühlte ich
-<a id="page-28" class="pagenum" title="28"></a>
-schon sein Dunkel ganz ungeteilt im vollen Braus, wie ein
-Orchester, das nur auf das Zeichen wartet.
-</p>
-
-<p>
-Eine Stunde oder mehr starrte ich ins Feuer, bis die
-kleine Tür zu der geheimen Treppe allzu knisternd erbebte,
-in ihrem Drange sich zu öffnen. Ich ging auf sie zu, sie
-versank in Stille, ich trat zurück, von neuem atmete ihr
-Griff. – Dem Feuer abgewandt, behielt ich sie jetzt im
-Auge. Sie endlich fröstelnd selber öffnend, steckte ich die
-Kerzen vor dem Spiegel an und machte mich langsam
-bereit, das hohe Baldachinbett zu besteigen, das belagerte!
-Nur von einem kleinen Teil desselben war die damastene
-Decke zurückgeschlagen; links fast in Armeslänge die Wand,
-die rechte Schulter aber dem Sturme ausgesetzt und unbeschirmt
-inmitten der gesteigerten, immer mehr sich verstrickenden
-Luft. Trauer wogte und trieb heran. So werden
-lachlustige, lachbegierige, stets nach einem Anlaß zu Gelächter
-dürstende Lippen in sich zusammensinken, einfallen
-in Ernst und Bitterkeit, wenn ein noch so ferner Reflex von
-einer Welt sie trifft, die kein Lachen zu kennen scheint. Und
-der Gedanke an sie kann sich hinstürzen über uns, gegen
-uns ausgestrahlt, uns ganz zu seinem Brennpunkt nehmen
-und besitzen.
-</p>
-
-<p>
-Rita pflegte die Stühle wie für Besuche um den brennenden
-Kamin zu stellen; sie maß ihn vom Baldachin aus, der
-Zwischenräume halber, die zu belassen waren, auf daß ich
-das Spiel der Flammen frei genoß. Hochaufgerichtet starrte
-ich sie an. Ein Nichts, der Bruchteil eines Nichts, und ich
-würde sie erblicken die Gestalten, die, so schien mir, in den
-alten, den wohlbekannten Stühlen saßen, dem Feuer
-<a id="page-29" class="pagenum" title="29"></a>
-zugekehrt, oder vielleicht mir, die so hinstarrte zu ihnen. Jetzt
-– jetzt – was vermaß ich mich so auszuschauen? Und
-fühlte ich nicht schon allzu deutlich den Saal ins Grenzenlose
-schleifen, und dieses ungeheuere Bett? – Was fehlte
-noch, daß ich die Griffe faßte, die so geisterhaft auf meiner
-rechten Schulter lasteten, und daß meine Finger die Schleier
-befühlten, die an meinem Nacken sich verankerten, Schatten,
-von allen Seiten auf mich zugewallt. Bis ich aufsprang
-und die Sessel am Kamin aus dem Gesichtskreis rückte.
-Aber all die anderen, längs der Wand angereiht, lebten sie
-minder auf? Was ließ mich zuletzt die Pfosten des Baldachins
-umschlingen, meiner blinden Zeugenschaft ganz hingegeben,
-ihr immer mehr entgegengleitend –
-</p>
-
-<p>
-O schattenschwere Novembernächte!
-</p>
-
-<p>
-Wohl konnte es sein, daß sich da sachte die Türe öffnete
-und, ihre Kerze vorantragend, Cassilda schüchtern hereinsah:
-nächtlichen Haares im langen Nachtgewand, fast rätselhaft
-in ihrer Anmut, schwang sie sich auf das goldene Bett.
-Es <a id="corr-0"></a>war ihr Eigentum wie dieses ganze Haus.
-</p>
-
-<p>
-„Wie schlecht man schläft in meiner Villa!“ seufzte sie
-und sprach über ihr Leben. Und ich hörte zu.
-</p>
-
-<p>
-Jedoch der Übergang zu ihr schien mir beschwerlicher
-als sonst; und lebendiger freilich, doch scheinhafter auch
-dünkte sie mir; und <em>wesenhafter</em> jene Schatten als wir
-beide, der Weg zu ihnen der direktere, wenn auch ungangbar;
-und unsere Gemeinschaft wie unser Zusammensein,
-ob es auch alle Saturnalien des Todes in Nichts zerstreute,
-war ephemer; Cassildas Nähe war illusorisch. Denn unübersteiglich
-dumpf und trennend war die Welt der Körper.
-<a id="page-30" class="pagenum" title="30"></a>
-Die ganze Kälte und Abgetrenntheit, der sich jedes einzelne
-Wesen überantwortet sieht, ging mir auf, während Cassilda
-sich schläfrig redete und dann vom Bett herunterstieg, um
-ihr eigenes Zimmer wieder aufzusuchen.
-</p>
-
-<p>
-Nacht für Nacht verging in dieser Weise: erst der ausgedehnte
-Abend mit Rita, welche die Scheite und Pinienzapfen
-entfachte, unser Abschied an der Tür, sodann das
-lange Gegenüber, das schweigsame Duell bis zu den Morgenstunden,
-der schwere Schlaf bis in den Vormittag. Zuweilen
-das Auftreten der ruhelosen Cassilda, unsere Gespräche
-unter dem Baldachin, bis sie den Fuß zu Boden
-setzte und mich verließ. Ich merkte die Kurve jener Nächte
-nicht sogleich, noch das verminderte Grauen, mit welchem
-ich mich dem Saale zurückwandte, wenn Rita entschwand,
-noch daß mein streitsüchtiger Arm erstarkte. Sondern wie
-ein Stoß traf mich die aufgekeimte Sympathie. – Es war
-nicht nur die Müdigkeit, welche das Auge immer erloschener
-in den Tag hineinsehen ließ, den ohnehin so trüben Novembertag.
-Sondern sie hatten auch ihren sehr vernehmlichen
-Lockruf, diese Nächte, und ihre gefährliche Lust. Wie
-<a id="corr-1"></a>löste sie den blinden Drang, nur ja zu leben, nur ja nicht
-zu sterben, wesensverschieden von den Gestorbenen zu sein!
-Und nun – statt des Sturmes und der Furcht – orphische
-Schwingungen herüber und hin. – Aber plötzlich, war
-es Ungeduld, Widerwille oder Scheu? – zerriß ich alle
-Fäden, die fein wie Spinnweben nach mir zogen, und von
-einer Stunde zur anderen war ich entschlossen, diesem Hause
-zu entfliehen. Um Mittag stand mein Koffer bereit, triumphierend
-hatte ich ihn abgeschlossen; da ereignete sich ein
-<a id="page-31" class="pagenum" title="31"></a>
-Zwischenfall, der mich noch für eine letzte Nacht in diesem
-Zimmer zurückhielt und zugleich meinem Aufenthalt in der
-„<span class="antiqua">Italia liberata</span>“ einen unerwarteten Abschluß verlieh.
-</p>
-
-<h3 class="section" id="subchap-0-3-4">
-IV
-</h3>
-
-<p class="noindent">
-„Heute wird nicht gefahren!“ rief Cassilda in den Saal,
-„es sind vier deutsche Studenten angekommen, zu Fuß, von
-Rom. Und wie abgerissen sie sind! Aber ihre Schuhe werden
-im Dorfe frisch besohlt! Sie übernachten in der Fattoria,
-und sie wollen uns vorsingen heute abend.“ Ihr melodisches
-Lachen hatte einen metallnen Sprung wie eine
-Glocke. „Nein, wie sie essen können!“ brach sie aus.
-</p>
-
-<p>
-Mein erster Impuls war, mich vor diesen deutschen Studenten
-zu drücken. Ich fand es nicht am Platze, ich fand es
-nicht an der Zeit, daß sie gerade jetzt und ausgerechnet dieses
-Land auf solche Weise bereisten, Obdach erbittend von Ort
-zu Ort, in Scheunen nächtigend (und was für Scheunen!)
-oder dann auf Gutsherrschaften nach dem Ökonomiegebäude
-mitleidig verwiesen. Konnte man besiegter auftreten?
-Zum Teufel auch! Man schuldete etwas seiner Vergangenheit!
-Entstammten sie nicht einem stolzen Volk? Es
-hatte nicht mit zagen Bettlerschritten auf diesem Boden
-vorzudringen gepflegt! Und war ihre Rolle nicht neu? Was
-besaßen sie für Gründe, sich so unschwer in dieselbe zu
-finden? Aber natürlich mußte ich helfen, sie zu empfangen.
-</p>
-
-<p>
-Übrigens – dem einen oder anderen wurde wohl bei
-einem Baumeister auf dem Reißbrett zu schaffen gegeben;
-<a id="page-32" class="pagenum" title="32"></a>
-aber Studenten waren es keine, und ihre Naivität schien
-entschuldbarer, sobald man sie sah. Auch deutete nichts
-darauf hin, daß sie seit einem Vierteljahr zumeist auf dem
-Stroh italienischer Bauernhöfe schliefen, sondern sauber
-und adrett, ja schmuck, bei aller Dürftigkeit, standen sie
-abends zur Serenade aufgepflanzt, vornean der Lautenspieler,
-blond wie Dornröschen und das Gesicht schneeweiß.
-</p>
-
-<p>
-Der Tenor mit seinem schmalen, fahlen und windschiefen
-Kopf schien auf ein romantisches Erlebnis mit
-Rübezahl zurückzuschauen und immer noch daran zu denken;
-der dritte glich auf ein Haar dem braven Knappen
-Fridolin, und nur der vierte, ein Magdeburger, war Realpolitiker.
-</p>
-
-<p>
-Durch das offene Fenster leuchtete im Kerzenscheine der
-weiß gedeckte Tisch, Gläser, noch mit Chianti gefüllt, halbgeleerte
-Riesenschüsseln mit Makkaroni. Es war ihre vierte
-Mahlzeit. „<span class="antiqua">Bevono poco, ma che appetito!</span>“ berichtete
-der Verwalter. Sie standen in Hausschuhen. Ihres Stiefelwerkes
-hatte sich der Herzog angenommen. Bis zum nächsten
-Mittag sollten sie es gesohlt zurückerhalten. Cassilda
-war guter Dinge. Melodisch schlug die zersprungene Glocke
-ihres Lachens an. Die Luft war lau. Wir saßen in Tüchern
-und Mänteln um das Ökonomiegebäude gruppiert. Durch
-das immergrüne Laub der Bäume sah der Mond. Und das
-Konzert begann. –
-</p>
-
-<p>
-Selten hatte ich etwas so Erschütterndes gehört. Wie
-aus einem Wunderhorn ergoß sich der Wohllaut dieser
-staunenswert geschulten Stimmen. Wälder fingen an zu
-<a id="page-33" class="pagenum" title="33"></a>
-rauschen, verzückte Büsche über den Vater Rhein gebeugt,
-Kähne von Wellen hoch emporgehoben, Seen der Gebirge;
-blanke Scheiben einer Herberge dem müde Gelaufenen entgegenfunkelnd
-...
-</p>
-
-<p>
-Es mehrten sich jetzt unter den Bäumen magisch angezogene
-Gestalten, sie traten näher, standen unbeweglich.
-</p>
-
-<p>
-Ich achtete nicht mehr der Lieder, sie waren nur noch
-die Begleitung zu dem Sturm in meinem Innern. Wie
-aus einem tiefen Brunnen tauchte ich empor, als die
-Sänger innehielten. Man umringte sie, von allen Seiten
-kam Applaus. Der Nachtwind strich unter einem milden
-Himmel, Kerzenschein flackerte über den Tisch, welcher die
-Platten, den Chianti, die halbgefüllten Gläser trug; alles
-war wie in einer gesitteten, idyllischen Welt. Nur ließ der
-Magdeburger seine Kameraden nie zu Worte kommen.
-</p>
-
-<p>
-Nach einer Weile wurden sie gebeten, weiterzusingen.
-Ich saß zwischen der Mutter des Herzogs, einer Französin,
-und einer jungen Deutschen in Schwesterntracht,
-die unter ihrem Häubchen mit runden Augen Welt und
-Dinge betrachtete. Der Lautenspieler mit dem schneeweißen
-Angesicht wartete auf ein Zeichen des Magdeburgers,
-bevor er in die Saiten griff. Die Aussprache der
-vier war nicht sehr deutlich. Nur das Wort Kikeriki kehrte
-jetzt nach jeder Strophe vernehmlich wieder. Plötzlich gerieten
-die Schatten unter den Bäumen in Bewegung;
-einige traten mit fast drohender Gebärde vor. Was ist das
-für ein Lied? fragte ich die kleine Diakonissin. Sie kannte
-es gut. Kikeriki sei der Spitzname der Italiener während
-des Krieges gewesen. Ein Kriegslied also! – Es schien ihr
-<a id="page-34" class="pagenum" title="34"></a>
-spaßig. Zum Glück ging seine Pointe unserem Halbkreis
-verloren, und es wurde geklatscht. Nur der Herzog sah wie
-mit versteinerter Pupille geradeaus.
-</p>
-
-<p>
-Eigentlich schienen die drei den Magdeburger gar nicht
-zu mögen. Aber man erlebte jetzt ein Stückchen deutscher
-Geschichte: nämlich sie gehorchten ihm doch.
-</p>
-
-<p>
-„Bis daß das Auge bricht, bis daß das Auge bricht“,
-hieß der nächste Refrain. Entgeistert lehnte der junge Lautenspieler
-an der Mauer, und ferne war sein Sinn. „Bis daß
-das Auge bricht, bis daß das Auge bricht“, sangen die
-vier, als läge in der Vorstellung etwas, worin sie schwelgten.
-„<span class="antiqua">Comme c’est triste</span>“, sagte die Mutter des Herzogs.
-Unter den Bäumen aber waren keine Schatten mehr zu
-sehen.
-</p>
-
-<p>
-„Ich verstehe nur die Ritornelle“, sagte ich leise zur
-Diakonissin.
-</p>
-
-<p>
-Die war schon wieder im Bilde. „Schießen tun sie, bis
-daß das Auge bricht“, sagte sie und lachte schelmisch. Sie
-fand nichts dabei. „Bis daß das Auge bricht“, sekundierte
-die Laute mit unerhörter Melancholie. Dann schloß das
-Konzert mit einem Hoch auf den Herzog. Ich mußte noch
-hören, wie der Magdeburger ihm versicherte, sie fänden
-überall eine so gute Aufnahme; bei den Bauern jedoch
-würden sie erst gefragt, ob sie wirklich Tedeschi seien, denn
-wenn sie Francesi wären, wiese man sie vor die Türe. Über
-diesen seinen Beitrag zur Politik war er sichtlich befriedigt.
-Cassilda lachte. Ihr konnte es egal sein. Mir war es zuviel.
-Ich floh in den Park. Sein Dunkel nahm mich auf. Wie
-der rasende Ajax, ein pazifistischer Ajax, köpfte ich Sträucher,
-<a id="page-35" class="pagenum" title="35"></a>
-schlug auf die Hecken wie auf einen imaginären Konferenztisch,
-traf drakonische Maßregeln, untersagte und befahl.
-„Ich habe keine Lust an Völkern“, schrie ich die Pinien an.
-Und kein Angehöriger eines fremden Staates durfte mir
-auf drei Generationen bei Verlust aller Ämter eine Landsmännin
-heiraten. Noch am Traualtar war sie von seiner
-Seite zu reißen. Wie besinnungslos fuhr ich in die Äste,
-teilte das Gezweige rings um mich her, als sähe ich schon
-hier in diesem Lande die Mädchen nicht nur schön und
-liebenswürdig, sondern auch wieder versonnen, wieder unschuldigen
-Auges und gedankenvoll wie seine Madonnen
-von einst. Und als sähe ich schon berückend unkonventionell
-gewordene Französinnen, komplett aus der Art geschlagene
-Engländer und weltkundige Deutsche die ihnen verlorengegangene
-Welt nicht zurückerobern, sondern zurückgewinnen.
-Nichts stünde dann jener Stunde der Einkehr
-mehr im Wege, in der sich jede Nation auf die innerhalb
-ihrer Grenzpfähle begangenen Infamien, auf die Niederlagen
-ihrer Gerechten, auf die Triumphe ihrer Lügner und
-Verhetzer als der einzigen Schmach besänne, welche sie
-treffen kann. Das Tausendjährige Reich wäre jede Stunde
-einzuläuten. Aber es geschehen keine Wunder dem Verblendeten,
-um ihn der Hölle zu entreißen, die er sich bereitete.
-Noch immer litt das Himmelreich Gewalt.
-</p>
-
-<p>
-Wo aber sah ich den Weisen, ach, der noch Hoffnungen
-frönte? Er kehrt sich ab, begibt sich seines Anteiles und
-glaubt nicht mehr an diese Welt. Doch wehe, sie ist die
-unsere! – Wie ihr heutiger Zustand Werk und Schlagwort
-einzelner ist, so könnte nur Wort und Tat einzelner
-<a id="page-36" class="pagenum" title="36"></a>
-ihre Rettung bereiten. Wenn sie auch nicht die Saat aufschießen
-sehen, die sie streuen, noch die Mühle, an der sie
-mahlen. Der Tod wird sie erlösen. Denn die Not dieser
-ohnmächtigen Zuschauer ist nur vergleichbar mit der des
-Schemen, das in seinem Drange, vielleicht sich kundzugeben,
-vielleicht zu rufen, doch ohne einen Laut, uns anblickt
-vielleicht, doch ohne gesehen zu werden, flehende Arme
-vielleicht nach uns ausstreckt, durch die wir schreiten als
-durch leere Luft. Wie vorstellbar war doch mit einem Male
-ihre heiße, verzehrende Wut!
-</p>
-
-<p>
-Der Park war jetzt in Nacht versunken. Nacht hing an
-den Zweigen, kein Gesang durchbrach sie mehr, die Vögel,
-die Schlangen, die Bäume, sie waren eins, sie ruhten. In
-dichte Wolken hatte sich der Mond gebettet, kaum ein
-hellerer Schein dort, wo er schlafend lag. Unenträtselt
-fügten sich die Rhythmen der Gestirne, spielte sich dem
-Auge der Marsch der Sterne ab, geheimem Schlüssel entspannt.
-</p>
-
-<p>
-Ich eilte dem Hause zu. Finster die Terrasse, leer die
-Halle. Wie lange war ich verweilt?
-</p>
-
-<p>
-In meinem Saale aber entsandten die Flammen des
-Kamins ihren warmen Hauch bis zu den sonnenfarbenen
-Stühlen. Sie standen erwartungsvoll. Rita hatte es aufgegeben,
-auf mich zu warten, aber Spätrosen auf den
-Tisch gestellt; ein Rosenstrauch leuchtete im Schein des
-Feuers. Ich sah mich um. Von neuem rauschte draußen
-der Regen. Bitterkeit und Süße wellte jetzt empor und ließ
-mich die Arme ausbreiten. Zum Fest war die pulsierende
-Luft um mich her. Hoch ins Leere aufgerichtet unter
-<a id="page-37" class="pagenum" title="37"></a>
-köstlichen Schauern lauschte ich ihr von meinem goldenen
-Bette entgegen. Die im Park ausgekostete verwandte Qual,
-sie war es, die wie mit Leierklängen die Schatten dieses
-Saales versöhnte. Blumenleicht! Wie von Blumen war
-die Schulter umweht, milde und barmherzig unser Abschied,
-als seien wir uns teuer geworden.
-</p>
-
-<p>
-Und ihr, meine Leser, seid ihr enttäuscht von meiner
-Geistergeschichte, weil sie tröstlich verklang?
-</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="chapter" id="chapter-0-4">
-<a id="page-39" class="pagenum" title="39"></a>
-Torso
-</h2>
-
-</div>
-
-<p class="pbb first">
-<a id="page-41" class="pagenum" title="41"></a>
-<span class="firstchar">G</span><span class="postfirstchar">edanken,</span> Meinungen und Überzeugungen drängen
-nach Äußerung, lange bevor wir noch wissen, welchen
-Ausdruck wir ihnen verleihen, in welche Form wir sie
-bringen können. Den einen treiben sie zur Gestaltung, zur
-Ausführung oder zur Tat, den minder Glücklichen zwingen
-sie zur Schrift.
-</p>
-
-<p>
-Leopardi nennt die so verbreitete Meinung von der
-Seltenheit der Originale einen großen Irrtum, denn bei
-näherer Betrachtung erweise sich fast ein jeder als ein
-ganz einziges, noch nie dagewesenes Exemplar! Einem
-solchen Begriff der Originalität fehlt freilich jedes Prestige.
-Aber tatsächlich ist es mit den geistigen Physiognomien der
-Menschen wie mit den äußerlichen. Könnten wir jene mit
-den Augen sehen, wir würden da genau dieselbe Mannigfaltigkeit,
-aber auch dieselben Mißverhältnisse wahrnehmen
-wie an den sichtbaren Gestalten; nur daß sich
-auf geistigem Gebiete der Wahn so bemerkbar macht, als
-sei hier eine Unterschiebung der eigenen Identität durch
-eine schönere oder bedeutendere leichter möglich, die Gesetze
-der Unveränderlichkeit leichter zu täuschen oder zu umgehen
-als in der körperlichen Welt. Wie wenige sind denn
-wirklich schöne oder vollendete Typen! Und wie viele
-gleichen jenen Bruchstücken antiker Statuen, deren Wirkung
-durch einen ergänzten Kopf, eine fremde Bewegung verdorben
-oder gestört wird, statt daß sie bleiben, was sie
-sind, nämlich meist <em>ohne</em> Kopf und Fuß, aber echt.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-42" class="pagenum" title="42"></a>
-Marie stand mit fünf Jahren eines Morgens unter
-einem Baum, dessen Laub im Winde rauschte und den
-blauen Himmel durchblicken ließ. „Das Leben ist schön!“
-dachte sie.
-</p>
-
-<p>
-Da flog ein Blatt von den Zweigen herab in ihre Hand,
-und während sie seine groben Adern und Fasern langsam
-auseinanderriß, wurde sie unsäglich verstimmt. Nicht der
-frohbewegte Wipfel in der Höhe, das einzelne langweilige
-Ding in ihren Händen war die Wirklichkeit! –
-</p>
-
-<p>
-Der Grundakkord ihres Wesens schlug da zum erstenmal
-an ihr Bewußtsein an; denn es gibt nichts Neues im
-Menschen. Das <span class="antiqua">fin mot</span> eines Ichs ist ein Motiv, und
-was hinzutritt sind Amplifikationen.
-</p>
-
-<p>
-Schon ein Jahr darauf lernte sie im Kloster die Langeweile
-kennen, zu der sie neigte wie ein anderer zu Gichtschmerzen
-oder Rheumatismen, und die sie anwehen konnte,
-plötzlich, unvermittelt, wie ein Wind, der um die Ecke fährt.
-</p>
-
-<p>
-In ihrem Kloster blies sie durch das ganze Haus, um
-alle Mauern und durch den ganzen Garten, die Stelle
-ausgenommen, an der eine reizende Brücke über den Wildbach
-bog, Libellen unklösterlich schwirrten und die Bäume
-parkähnlich zusammenstanden. Aber alles andere war häßlich.
-Zwei hohe, plumpe Berge versperrten wie Riesentore
-nach Norden hin die Welt, und die Monatsrosen standen,
-meist verwelkt und verweht, um ein mächtiges Kreuz vor
-dem Haus. Alles, was sie sah, mußte sie zugleich empfinden,
-doch ohne auch nur entfernt die Fähigkeit zu haben, sich
-dies zum Bewußtsein zu führen. Wie schmerzlich schien ihr
-im Frühjahr das Licht, wenn die Furchen der Berge so
-<a id="page-43" class="pagenum" title="43"></a>
-rauh aus dem Schnee hervorstachen und die grünenden
-Bäume im Scheine eines regnerischen Tages fröstelten.
-Ach, wie öde der Ackergeruch im Winter, die Stoppeln und
-Maulwurfhügel auf dem Felde, der schwere, fette Flug
-der Raben!
-</p>
-
-<p>
-Zu ihrer Unterhaltung verfiel sie da auf ein höchst seltsames
-Gedankenspiel: sie setzte sich abseits, stützte die Arme
-auf, schloß die Augen und dachte mit immer beschleunigterem
-Tempo und eingezogenem Atem: „Ich bin Ich.“ An
-diesem Gedanken konnte sie nämlich, wie an einem Seil,
-immer dunklere Schlünde hinabgleiten, bis sie ein Schwindel
-erfaßte und ihr Ich ihrem Bewußtsein entsank.
-</p>
-
-<p>
-Wie sie das zusammenbrachte, wurde ihr später selbst
-ein Rätsel: ihr Geist hatte damals eine jongleurartige Geschwindigkeit,
-als sei er transparenter und zugleich schärfer
-gewesen, lösbarer von ihr? – Sie wußte es nicht. Aber
-sie fand es „spannend“, sich selbst zu jagen, bis zu einer
-Wurzel, die sie nicht mehr war. – „Ich bin gefangen!“
-dachte sie da wohl. „Auch nicht für eine Stunde kann ich
-jemals von mir fort, und wenn mir andere Menschen noch
-so sehr gefallen werden, kann ich sie nie sein!“
-</p>
-
-<p>
-Aber einmal, als ihr diese geistige Rutschpartie besonders
-gut gelungen war, faßte sie ein Entsetzen, als hätte sie sich
-verloren, als hinge das Seil ihrer Identität in der Luft,
-als harrten ihrer Gespenster in den Tiefen, in die sie
-geraten war, – und mühsam, wie ein Ertrinkender, so
-rang sie seufzend zur Oberfläche ihres Bewußtseins zurück.
-</p>
-
-<p>
-Ein Instinkt riet ihr jedoch, dies unheimliche Spiel zu
-lassen, und die Fähigkeit verlor sich auf diese Weise sehr
-<a id="page-44" class="pagenum" title="44"></a>
-rasch. Dafür fingen andere Probleme, deren Lösung sie
-keinen Augenblick gewachsen war, an, sie zu quälen.
-</p>
-
-<p>
-Starb eine Klosterfrau und wurde es den Zöglingen
-freigestellt, sie auf der Bahre noch einmal zu sehen, so ließ
-Marie alles liegen und stehen und marschierte, zwei Schuhe
-hoch, allen voran. Dann starrte sie forschend in das fahle
-Gesicht, dem der Geist schon zu lange entschwunden war,
-und das ausdruckslos, ja sinnlos vor ihr lag. Und nichts
-schien ihr gerade auf das Klosterleben ein so trauriges Licht
-zu werfen als der Tod.
-</p>
-
-<p>
-Aber es kamen immer mehr Dinge, die ihr mißfielen.
-</p>
-
-<p>
-Eines Sonntags fand sie in einem Bilderbuch eine
-Palmengruppe abgebildet, einen sprungbereiten Tiger und
-ein Mädchen, das mit tödlich entsetzter Miene sich vor ihm
-zu verbergen suchte, aber vergebens, denn er hatte sie schon
-fast erreicht und mußte sie unfehlbar zerreißen.
-</p>
-
-<p>
-Empört und außer sich, rannte Marie im Zimmer umher.
-Sie blickte zu den gemalten Inschriften auf, die an
-den Wänden hingen, und die ihr so gut gefielen: „Siehe,
-so sehr hat Gott die Welt geliebt ...“ „Er aber liebt die
-Seinen bis in den Tod ...“ „Kein Auge hat es gesehen,
-kein Ohr gehört ...“ Über ihren Schrank breitete ein Pelikan
-seine Flügel aus mit einem ähnlichen gefühlvollen Spruch.
-Wie reimte sich dies? – Und sie verbiß sich von neuem in
-das schreckliche Bild. – Wie konnte Gott dies ertragen,
-wenn wir sein Ebenbild waren?
-</p>
-
-<p>
-Ein anderes Mal hatte die Feuerglocke wegen eines in
-der Nähe brennenden Anwesens wohl eine Stunde hindurch
-geläutet. Endlich kam fliegenden Schrittes eine
-<a id="page-45" class="pagenum" title="45"></a>
-Klosterfrau den Gang heraufgeeilt und sagte: „Gottlob,
-Kinder, es ist kein Menschenleben zugrunde gegangen, nur
-sechzehn Kühe sind verbrannt.“
-</p>
-
-<p>
-In der Nacht sah Marie die Tiere heulend durch die
-Flammen jagen und fuhr erschrocken aus ihren Träumen
-empor. Sie schlief nahe am Fenster, und der Wildbach
-rauschte mit düsterem Schwalle, ewig stöhnend, schwarze
-Klagen herauf. Was war dies für eine Welt, in der die
-Kinder ihre Eltern begruben, und der Herr der Schöpfung
-zur Beute eines niedrigen Tieres entehrt werden durfte?
-Schöne Menschen, die sie kannte oder gesehen hatte, und
-die schwerlich je in Kollision mit einem Tiger oder einer
-<span class="antiqua">Boa constrictor</span> kommen würden, schwebten ihr vor Augen.
-Allein gewisse <em>Möglichkeiten</em> genügten, um da ihren
-Weltschmerz zu einem unerhörten Fortissimo zu steigern.
-Es gab ja kein Entrinnen aus einer solchen Welt, keinen
-Tod, keine Bewußtlosigkeit mehr für unsere unsterblichen
-Seelen! „Oh, wie ist das?“ dachte sie erschrocken. „Ich
-kann Gott nicht lieben!“
-</p>
-
-<p>
-Am nächsten Morgen waren Geschenke für sie angekommen,
-und sie bezeigte eine solche Gier, sie alsbald in
-Empfang zu nehmen, daß die Oberin sie zurechtwies: „Du
-genußsüchtiges Kind“, sagte sie streng. Marie hörte dies
-Wort zum erstenmal und vernahm es mit Interesse. In
-der Tat: Warum haßte sie nichts so sehr auf der Welt als
-den Schmerz? Warum ging sie stets mit abgewandtem
-Gesicht den unteren Gang entlang, wo die Apostel der
-Reihe nach in schlecht gemalten Bildern hingen, mit Kreuz,
-Nägeln und Stricken, all den furchtbaren Zutaten ihres
-<a id="page-46" class="pagenum" title="46"></a>
-Sterbens? Warum erfaßte sie jede Freude mit so peinvoller
-Hast und entbehrte sie mit solcher Heftigkeit? Und warum
-waren selbst ihre schwärzesten Stimmungen so seicht wie
-Wolken, die ein leichter Windstoß wieder zerreißt?
-</p>
-
-<p>
-Aber ihre Grübeleien brachten ihr nur Überdruß, und
-sie war froh, sich ihrer zu entschlagen. So fing sie mit acht
-Jahren an zu schwärmen, und wenn Orgelklänge und
-Weihrauchdüfte die Kirche erfüllten, dachte sie nur mehr
-an Rosa Flatz, Paula Baselli, Irene Angermaier und Livia
-Gelmini.
-</p>
-
-<p>
-Es gibt Wesen, die in früher, unwahrscheinlicher Vollendung
-ins Leben hineinleuchten, gleich jenen vereinzelten
-Tagen inmitten langer Regenzeiten, an denen das Licht so
-zärtlich, das Laub so golden, der feuchte Blick der Sonne
-kristallen leuchtet! Aber tags darauf haben Regen und
-Wind ihre trüben Lieder wieder aufgenommen ... Flatz
-war von hohem Wuchs, hatte goldenes Haar und den
-Kopf einer Sirene. Da sie fast schon erwachsen war, wagte
-Marie nur im Winter, wenn die Zöglinge schweigend
-spazierengehen mußten, sich zu ihr zu gesellen, ergriff ihre
-Hand und sah stillbeglückt von der Seite zu ihr auf. Kein
-Frost konnte die liebliche Röte dieser Wangen beeinträchtigen,
-so schön und blühend war ihr Flaum. Aber sie blühte
-so königlich! Wo sie ging, war kein Winter, heftige Rosensträuche
-blühten an allen Wegen, und an den Frühling
-gemahnte selbst ihr sicherer, zerstreuter Blick.
-</p>
-
-<p>
-Baselli hatte einen zu tiefen Teint und ungeschmeidiges
-Haar. Aber der Schnitt war rein wie der eines Ägineten,
-und ihr stolzer Blick flammte in unbewußter oder in Zaum
-<a id="page-47" class="pagenum" title="47"></a>
-gehaltener Trauer. Marie hielt sich gern in ihrem Umkreis,
-um die edlen Augenhöhlen, die köstliche Zeichnung ihrer
-Lippen in der Nähe zu sehen, und wie über einen heiligen
-Wald schwärmte ihr inneres Auge über sie hin.
-</p>
-
-<p>
-Aber Irene Angermaier war die schönste! Mit braunem,
-weichfließendem Haar, ruhig und müd wie eine Nymphea
-im Mondlicht. Sie lehnte in ihrer harten Schulbank mit
-jener überlegenen Grazie, welche die Menge anjubelt und
-vor der die Maler knien. In prunkvoll ausgeschlagener
-Gondel, in Palästen hätte sie ruhen sollen; ein Antlitz für
-Perlen und unschätzbare Schleier, ein Wesen, zu schön,
-um zu leben, zu leicht, um im Grabe zu ruhen.
-</p>
-
-<p>
-Gelmini war aus Salurn und melodisch wie ein Glockenspiel.
-Ihre Achseln schienen wie mit Blütenfäden an ihren
-Körper gefügt, und an der Art, wie sie den Arm nach der
-Stiegenrampe ausstreckte, und an ihrem Gang konnte
-Marie sich nimmer satt sehen. So schritt wohl Julia, als
-Romeo sie zum erstenmal erblickte. Und wenn Livia: „<span class="antiqua">il
-gallo, la primavera, la catena</span>“ sagte, dann schwärmte
-Maries Herz wie ein bunter Schmetterling in der Sonne.
-Mit Livien, die erst neun Jahre alt war, hätte sie verkehren
-können, aber sie gefiel ihr zu gut, und wo sie bewunderte,
-zerfloß sie in Verehrung. In Wirklichkeit wollte
-sie weder von Puppen noch von Freundinnen etwas wissen,
-und mit Vertraulichkeiten war ihr nicht gedient. Sondern
-sie wollte höhere Wesen, die sie ihrer enthoben. Und angesichts
-jener vier reizvollen Gestalten, die sie so früh verlieren
-und sterben oder scheiden sehen mußte, war sie viel
-mehr einem Zustand als Gefühlen hingegeben. Sie sprach
-<a id="page-48" class="pagenum" title="48"></a>
-nie mit ihnen und suchte nie von ihnen beachtet zu werden,
-nur in der Nähe, im selben Zimmer mußten sie sein; sie
-mußte sie alle vier sehen können, wenn sie den Kopf
-wandte; dann nur war ihr Kloster ein schöner, gewählter
-und träumerischer Ort.
-</p>
-
-<p>
-Mit ihnen schwand alle Poesie aus Maries klösterlichem
-Leben; sie stak von neuem in Grübeleien, wie in
-ödem, verwirrendem Sande, langweilte sich und sehnte sich
-fort. Zudem wurden alle ihre Bücher, die sie gerne vorschriftswidrig
-in ihrer Schublade aufgeschlagen hielt, der
-Reihe nach konfisziert, und ehe sie sich versah, stand sie als
-Verkörperung der Insubordination von allen Zöglingen
-abseits. Alljährlich feierte man in ihrem Kloster das sogenannte
-Königsfest, bei dem sich das ganze Pensionat in
-einen Hofstaat umwandelte, und jeder Zögling, von der
-Königin herab zu den Köchen und Kaminkehrern, je nach
-Verdienst, seine Charge erhielt. Die ersten Jahre stand
-Marie als Page, in Korkzieherlocken und Goldreif, einen
-ganzen Tag hindurch stumm, doch voll Entzücken, in der
-Königin Dienst. Es war Irene Angermaier, in Silbergaze
-und königlicher Krone. Aber später wurde ihr dies reizende
-Fest verleidet: In einem schief aufgesetzten, viel zu kleinen
-Schäferinnenhut und einem zu engen grünen Tarlatankleid
-(denn es hatte als ehemalige Balltoilette eine Taille, und
-sie noch lange nicht) spazierte sie als „königliche Lectrice“
-mit einem Riesenbuch, allein und tödlich verlegen, hinter
-den Landgräfinnen einher, und wenn im <span class="antiqua">cortège</span> die Reihe
-an sie kam, tanzte der Hofnarr in seiner roten Schellenkappe
-vor ihr her und verkündete ihre Streiche. Nun pflog
-<a id="page-49" class="pagenum" title="49"></a>
-sie zwar über die Weltordnung allerlei Separatanschauungen,
-doch für das Maß ihrer eigenen Missetaten fehlte
-ihr jedes persönliche Gutdünken, und sie schämte sich über
-Gebühr.
-</p>
-
-<p>
-Aber dafür war die freie, herrliche Welt der Tummelplatz
-aller Freiheiten, und ihr Herz schlug hoch, als die
-schweren Klosterriegel auf immer hinter ihr zufielen.
-</p>
-
-<p>
-Das Leben präludiert meist anders, als es verläuft. In
-der Tat: so unglaublich es ihr selber erschien: einen Monat
-später durchschwärmte sie, frei wie ein Waldestier, eine
-Mondnacht um die andere in den Bergen und kampierte
-am offenen Feuer wie ein Zigeuner. Was hätte sie gesagt,
-die würdige Mère Supérieure, die ihre Uhr nach den
-Hühnern richtete? – Da hing Maries Disziplin am hohen
-Klostergiebel, als leeres Fähnchen zurückgeblieben.
-</p>
-
-<p>
-Folgendes müssen wir ihren eigenen Aufzeichnungen entnehmen:
-</p>
-
-<p>
-Es war zur Sommerszeit in den bayrischen Bergen,
-als uns vier Kinder die Wanderlust zum erstenmal ergriff.
-Aber der Tag ließ uns nicht weit genug gelangen; so rüsteten
-wir uns sorglich auf einen längeren Streifzug aus. Daß
-uns gerade nur so viel Geld bewilligt wurde, um vierundzwanzig
-Stunden fernzubleiben, kümmerte uns nicht.
-</p>
-
-<p>
-Erst als der späte Nachmittag verglühte, traten wir
-vor. Bald rauschte dann im Mondlicht der Fluß uns zur
-Seite, und schneeweiß zog sich die Straße den bewaldeten
-Felsen entlang. Jeder Stein, der im Flusse die Wellen zurückwarf,
-die Kiesel am Wegesrand, ja das zertretene
-Gras am Ufer schienen verklärt. Und wenn sich in dem
-<a id="page-50" class="pagenum" title="50"></a>
-mondlichen Schweigen der Schrei eines Tieres entrang,
-durchzitterte ein ewiges Glück die schimmernden Mulden.
-</p>
-
-<p>
-Immer leichter trugen uns unsere Schritte voran! Immer
-eifriger berieten wir die Möglichkeiten einer einstigen großen
-Erbschaft, und in der großen Bergesstille schallte unser
-lautes Gelächter.
-</p>
-
-<p>
-Als die Lichter der „Fall“ vom anderen Ufer herüberleuchteten,
-hielten wir Rat: denn aller Spaß wäre zu Ende
-gewesen, hätte unserem Auftreten etwas von dem hohen
-Ansehen gefehlt, von dem wir selbst so sehr überzeugt waren.
-So betraten wir, stets fremde Sprachen untereinander
-führend, das alte Gasthaus, bestellten ein wohl ausgeklügeltes,
-sehr zimperliches, aber sehr billiges Essen, gaben
-dann vor, einer Wette halber die Nacht in keinem Hause
-verbringen zu dürfen, und griffen, mitten in der Nacht, mit
-großer Eile nach unseren Stöcken. Der Eindruck war nach
-Wunsch: die paar Reisenden und das Personal standen
-neugierig an der Türe, eine alte Dame protegierte, die
-Wirtin bewunderte uns, der Förster zog seine Pfeife weg
-und wies uns den Weg, und von freundlichen Zurufen
-verfolgt, von der alten Dame gewarnt, drangen wir in den
-Wald, und weiter hinein in die „Riß“. Den Tag verschliefen
-wir auf Almen oder Bergeskanten. Kamen Stürme, so
-äfften wir sie. Von den Felsen geschützt, apostrophierten
-wir das finster fliegende Gewölk und begrüßten die Donnerschläge
-mit dröhnendem Gelächter.
-</p>
-
-<p>
-In der Folge dehnten wir unsere Touren immer stattlicher
-aus. An einem Herbsttag kamen wir vom Achensee
-und wollten über den Schildenstein zurück. Die Alm war
-<a id="page-51" class="pagenum" title="51"></a>
-geschlossen. Da liefen wir in der Dämmerung den Kanten
-des Blauberges entlang, drangen durch das Fenster in eine
-leere Hütte und machten uns Feuer. Aber draußen lockte
-die Nacht, lockten die in Mond getauchten Tiefen des
-Achentales und der silberne See. Unbeweglich wie Berggeister
-saßen wir, in unsere Mäntel gehüllt, vor unserer
-Alm. War es Ahnung oder Müdigkeit, die uns verstummen
-ließ? Die Welt mit ihrem Spiel riesiger Schatten und frohlockender
-Höhen atmete Gesang, aber die Leier unserer
-Freuden schwebte zerrissen über uns.
-</p>
-
-<p>
-Bald standen wir wie ein Häuflein, das ohne den Führer
-trübe zerfällt. Der große Zauber jener Wanderungen hing
-an einem romantischen, 19jährigen, höchst merkwürdigen
-Wesen, in dem kein Raum war für Pandorens Trug.
-Reinste Vernunft gebot hier jeder Unruhe, und die Erkenntnis
-überstrahlte den Wunsch. Aber nie vorher hatte sich so
-hohe Weisheit mit solcher Grazie umkleidet und die Taue
-eines so unschuldigen Lebens gelockert. In dieser fast morbiden
-Erscheinung mit dem unbeschreiblichen Relief ihrer
-bangen Umrisse blieb alle Schwäche ausgeschieden, war
-alles Schönheitssinn und Stil. Zuletzt sind Linien, die uns
-fesseln, solche, an die wir uns nicht gewöhnen, und stete
-Neugier erregte diese schmale, ernste Stirne mit den hochgezogenen
-Brauen, die fast leichtsinnige Anmut des kleinen
-Ovals, das eitel gesteckte Gold der Haare, und dabei die
-männliche Zurückhaltung in den durchdringenden Augen.
-So glich die Mischung ihrer psychischen Elemente der Stimmung
-eines herrlichen, aber zu zarten Instrumentes; und
-so ließen sich ihre Anforderungen an ein Leben, an das sie
-<a id="page-52" class="pagenum" title="52"></a>
-nicht glaubte, nicht herabdrücken, und mit allen Fasern zog
-sie sich von ihm zurück.
-</p>
-
-<p>
-„<span class="antiqua">La mort est bête</span>“, sagte Gambetta. „Aber der Tod
-überblickt Zusammenhänge, und das Leben ist befangen.
-In unserer Existenz wähnen wir unser Wesen erschöpft,
-währenddem die Grundlagen neuer Individualitäten schon
-in uns dämmern, neue Lebensformen unserer harren mögen.
-Allein einzig ist der Mensch als Kunstwerk! Und mit
-Grauen erfahren wir, daß es Wesen gibt, die, köstlichen
-Schalen gleich, einmal zerschlagen, der Natur nicht wieder
-gelingen.“
-</p>
-
-<div class="excerpt">
-<p class="noindent">
-Wie der Seekranke vom Schiff im ersten Morgengrauen
-nach der Küste späht, so sehnt man sich oft nach
-dem Tode – man weiß, daß man den Gang und die Richtung
-seines Schiffes nicht verändern kann.
-</p>
-
-<p class="attr">
-Nietzsche. Nachgelassene Werke.
-</p>
-
-<p>
-Ob wir wollen oder nicht, wir werden am Ende alle
-katholisch.
-</p>
-
-<p class="attr">
-Moltke.
-</p>
-
-</div>
-
-<p class="noindent">
-Als Marie heranwuchs, wurde ihr der Ernst so widerwärtig
-wie früher das Leiden. Von den beiden Philosophen,
-von welchen der eine die Welt ewig weinenswert, der andere
-sie ewig komisch fand, hatte nur der letztere ihren Beifall.
-Denn wer sich über eine Welt, gegen die er nichts vermochte,
-Sorgen machte, der war in ihren Augen ein Narr. Man
-lebt nicht lange, also lebe man, ohne zu denken. Allein ihren
-Theorien zum Trotz erhoben sich die Gedanken wie ein
-brennender Wüstenwind in ihrem kindlichen Gehirn. Da
-faßte sie eine tiefe Abneigung zu Menschen ihrer Art. Mädchen
-ihres Alters umging sie in weitem Bogen, aber das
-<a id="page-53" class="pagenum" title="53"></a>
-Zusammensein mit schönen verwöhnten Frauen, im Kreise
-weltgewandter Männer, wurde ihr Paradies. So geriet
-sie sehr früh in eine Clique welterfahrener, mächtiger und
-verfeinerter Leute, die sich täglich sahen, in deren Vertraulichkeit,
-die keine war, das Herz fast keine Rolle spielte, sondern
-mehr das Behagen, und deren Denkprozeß bei oft
-interessanter Begabung ein geringer blieb. Aber gerade dies
-fand sie bezaubernd. Das Leben war es wohl wert, zur Kunst
-erhoben, erheitert zu werden, und die Sorglosen waren die
-Lieblinge, die Nachdenklichen nur die Frondiener der Götter.
-</p>
-
-<p>
-<em>Jene</em> also waren die überlegenen und vollkommeneren
-Menschen. Ach und das ferne, freundliche Mitgefühl, mit
-dem sie eine eben ereignete große Katastrophe, einen Brand,
-ein Eisenbahnunglück besprachen, vollends die Art, mit der
-sie dann das Thema wieder fallen ließen, entzückte, ja betäubte
-Marie. Und die Ironie, mit der sie gesprächsweise
-die Erbärmlichkeiten des Lebens streiften, – nur streiften!
-schien ihr das Nonplusultra seelischer Eleganz.
-</p>
-
-<p>
-Diese siegreichen Typen schieden in ihren Augen alle entwürdigenden
-Grausamkeiten, alle Häßlichkeiten aus, alles,
-was sie haßte, woran sie nicht erinnert werden wollte.
-</p>
-
-<p>
-Denn es lag ihr so sehr am Leben! Es schien ihr so kostbar,
-so begehrenswert. Sie liebte, ja in dem höher potenzierten
-Menschen vergötterte sie es; aber die <em>Freude</em> war
-das Gesetz, nach dem er wandeln sollte.
-</p>
-
-<p>
-Aber ach! die Freunde ihrer Wahl, in deren Oberflächlichkeit
-sie schwelgte, deren Lächeln sie beruhigte, an deren
-Leichtsinn sie ihr Gemüt sonnte wie ein Kranker im Mittagsscheine,
-sie hinderten ja nicht, daß ihre Gegensätze
-<a id="page-54" class="pagenum" title="54"></a>
-bestanden. Ihr Genuß löschte keine Qual, war nur ein Kontrast
-– kein Ersatz – nur ein Widerspruch mehr! Empfindungen
-von solcher Mannigfaltigkeit konnten sie da überwältigen,
-und der Andrang ihrer Gedanken im Verhältnis
-zu ihren noch kaum entwickelten Fähigkeiten sich so mächtig
-steigern, daß vor innerer Erregung ihre Zähne zusammenschlugen
-und ein lauerndes Angstgefühl sie immer deutlicher
-beschlich.
-</p>
-
-<p>
-Zu ihren Freunden hatte sie indes eigentümlich Stellung
-genommen: zu jung, um noch zu zählen, störte sie niemanden;
-die Frauen litten sie gern, ja die schönste von ihnen zog sie
-zu den Zusammenkünften, die täglich bei ihr stattfanden,
-und hielt sie wie eine Art von Pagen. In der Tat hatte
-Marie der Schönheit gegenüber eine huldigende Art, ein
-Gefühl des Ausgefülltseins und Verlorengehens, ein Stillstehen
-ihres Selbst zu einem Atom, das nicht Schwärmerei
-war, sondern Glück.
-</p>
-
-<p>
-Eines Tages hatte sie sich verspätet, die Besucher waren
-fort und ihre Freundin allein.
-</p>
-
-<p>
-Durch das alte, gemalte Scheibenfenster umwob sie der
-goldene Staub der sinkenden Frühlingssonne. Sie lag, den
-Kopf zurückgeworfen, ausgestreckt und rauchte eine Zigarette.
-Nichts dächte man, was in diesem Anblick klassische
-Erinnerungen weckte. Was hielt nun Marie vor einer der
-schönsten Gestalten ihrer Zeit unbeweglich, wie geblendet,
-an der Schwelle zurück? Sie sah Helden verbluten, Troja
-im Schutt und Hektor erschlagen, und wie von einem plötzlichen
-Schein entrückt, faßte sie das ewige Relief dieses
-flüchtigen Lebens.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-55" class="pagenum" title="55"></a>
-Aber der Mensch war ihr, was dem Künstler die Kunst,
-und ihr Wohlgefallen war ein Meer der Ruhe. Und dieser
-eine göttliche Funke in ihr schuf ihr Beziehungen, baute ihr
-Brücken, die lustig funkelten wie Regenbogen.
-</p>
-
-<p>
-Allein nicht nur vergessen und sich verlieren wollte sie,
-sondern die Art ihrer Salonolympier sich aneignen und
-nachahmen. Stets schwärmend, haßte sie Exaltation, und
-Kälte des Herzens war in ihren Augen Weisheit.
-</p>
-
-<p>
-Es ist ja eine Tatsache, daß nicht die Eigenschaften selbst,
-sondern ihr Reflex es ist, der uns besticht, und nicht der
-Wert, den man besitzt, sondern den man verausgabt. Hierin
-beruht der Reiz gewisser typischer Genußmenschen. Sie erwecken
-Illusionen, weil wir ihnen mehr zugute halten, als
-sie veräußern, manchmal mit Recht, und manchmal nicht.
-Es sind die Reichen, die kein dunkler Stachel der Entbehrung
-hindert, ihre Empfindsamkeit ohne Rest auszuleben,
-und von denen geschrieben steht, daß sie das Himmelreich
-so schwer erlangen, denn es leidet Gewalt.
-</p>
-
-<p>
-Und doch konnte sie nicht umhin, das Leiden als einen
-Mißstand, die Entsagung nicht als eine Bestimmung des
-Menschen zu betrachten, und wenn sie glückliche Naturen
-so sehr liebte, so war es, weil sie ihre Berechtigung anerkannte.
-Dieser Glaube saß ihr im Blute, er wuchs und
-lebte, er zehrte an ihr. In ihrer eigenen Zerrissenheit erblickte
-sie einen untergeordneten Zustand, weil sie fühlte,
-wie dies Übergreifen ihrer Individualität nichts anderes
-aus ihr schuf, als einen heiseren Mißton, der jede Saite
-erzittern ließ, der keinen Klang ausschied und keinen unvermischt
-behielt. Die Röte stieg ihr dann wohl auf, wenn sie
-<a id="page-56" class="pagenum" title="56"></a>
-der eigenen Maßlosigkeit gedachte, ihres übertriebenen Gebarens,
-noch vor einer Stunde, als sie in Voltaires Geschichte
-Karls XII. von Peter dem Großen las, der seine
-Kosaken so unentwegt, nach Tausenden rädern ließ. Gleich
-einem scheugewordenen Tiere war sie da mit dem Kopf
-gegen die Wand gestoßen, wie um eine solche Tatsache aus
-ihrem Bewußtsein zu löschen. Denn aller Jammer, der
-solche Greuel deckt, war da vor ihren Blicken aufgestiegen,
-und ungestüme Todessehnsucht ergriff sie vor dem Bilde
-einer so schmerzbefleckten Welt.
-</p>
-
-<p>
-Bei solcher Gemütsart mag es eigentümlich erscheinen,
-daß sie die Religion so ganz abseits ließ. Allein sie war ihr
-durch das Kloster zu sehr entfremdet worden. Das Breittreten
-großer Mysterien hatte nur ihren Widerwillen, später
-ihre Gleichgültigkeit hervorgerufen, und weiter ging das
-Senkblei ihrer Messungen nicht. Es ging ihr wie so vielen.
-Daß wir einem Glauben, in dessen tiefste Geheimnisse wir
-als kleine Kinder eingeweiht werden, eines Tages ungeduldig
-den Rücken kehren, ist ja ungefähr das Naheliegendste,
-was es gibt und erfordert spottwenig Geist. Und
-wie tief drang jener Rat Goethes in Wilhelm Meister, den
-Knaben die Mysterien des Neuen Testaments bis zum
-Jünglingsalter vorzuenthalten um der notwendigen Verstümmelung
-ihrer Eindrücke vorzubeugen? Christus wählte
-reife Männer zu seinen Zuhörern, und wie summarisch verstanden
-ihn selbst die!
-</p>
-
-<p>
-Jene Verstümmelung ihrer Eindrücke nun hatte Marie
-erfahren. Christus war ihr ein furchtbares Rätsel geworden,
-eine unverständliche Gestalt, der Widersprüche voll, der
-<a id="page-57" class="pagenum" title="57"></a>
-Umrisse bar, zu der sie keine Fühlung gewinnen konnte und
-die sie bedrückte.
-</p>
-
-<p>
-Und jene dunkle, unbestimmte Furcht umzingelte sie
-immer näher mit unruhigen Schatten. Bald mied, bald
-erforschte sie im Spiegel ihre scheuen, trostlosen Blicke.
-In den Dissonanzen ihres Innern sah sie keine Lösung, keine
-Lichtung für einen Strahl des Gleichgewichts, und wie
-der Sturm auf schwarzem Geball, so jagte das Gespenst
-des Wahnsinns auf dem Getürme ihrer Gedanken und Empfindungen,
-die ungeschieden ineinander wogten; wie ein im
-Stimmen begriffenes Orchester, in dem Violinen, Hörner
-und Baßgeigen die unzusammenhängendsten Läufe und
-Motive wirr ineinandertönen. Nur indem sie stets zu den
-heiteren Seiten des Daseins flüchtete, glaubte sie Ruhe und
-Rettung zu finden, und glich so einem in Brand Gesteckten,
-der vor der Flamme davonläuft und sie dadurch nur entfacht.
-Sie las grundsätzlich keine ernsten Bücher mehr und
-ging nie in ein Konzert. Einzig französische Musik vermochte
-sie zu zerstreuen. Ihr entströmten, wie Wohlgerüche
-aus unnachahmlicher Phiole, die Kundgebungen nationalster
-Grazie und Form, und sie schlürfte den Tau französischen
-Geistes, wie durchsickert von seiner Vollendung. Denn
-sie liebte feste Umrisse, und der Zauber einer Rasse lag
-für sie in deren Geschlossenheit. Das Feine gewährte ihr
-mehr Befriedigung als das Große, weil sich in ihm das
-Wohlgefallen ohne Stachel erschöpfte. So abhold sie jedoch
-dem Leben gegenüber jeder Gründlichkeit war, in der
-Kunst verletzte sie die Oberflächlichkeit, ja sie erschien ihr
-gemein. Und hierin allein mochte sie es nicht mit ihren
-<a id="page-58" class="pagenum" title="58"></a>
-Freunden halten, deren Stellungnahme gewissen Dingen
-gegenüber sie verdroß. Denn sie fühlte die gänzliche Bezugslosigkeit
-der Frivolität zu allen höheren Gebieten. Aber
-hier wie da gelangten nur flüchtige und heftige Stimmungen
-bei ihr zu Atem, und es lag etwas Chaotisches in der
-Gleichzeitigkeit ihrer oft ganz entgegengesetzten Empfindungen.
-</p>
-
-<p>
-Übrigens mußte sie doch bald einsehen, daß ihr alles
-nichts half. Sie mochte ihre Freunde noch so sehr bewundern,
-die Ansichten des einen, den Tonfall und das blasierte
-Lachen eines anderen, die Persiflage eines dritten nachahmen,
-schwärmen und kopieren, kopieren und schwärmen,
-sie wurde ihnen nicht ähnlich. Zwar wollte auch sie zu
-denen gehören, welche ihre Herzen abrichten, ihre Eindrücke
-assimilieren, nicht ihnen nachhängen – ja, aber sie stürmte
-nicht, wie ihre Freunde, in die weite Welt! Für sie segelte
-kein Schiff auf die herrlich freien, hohen Wogen des Lebens,
-sie stand am Gestade, und der Gedanke an ein ruhiges,
-gleichförmiges Dasein erfüllte sie mit Verzweiflung.
-</p>
-
-<p>
-Denn das Element, die Atmosphäre, in der ihre Seele
-lebte, war die Welt der Eindrücke; wo diese fehlten, stagnierte
-ihr Inneres wie ein Sumpf, und ihre Züge wurden
-stumpf und leblos vor den Augen derer, die entweder kein
-Gefühl oder kein Interesse in ihr erweckten.
-</p>
-
-<p>
-Ein einziger in jener Gesellschaft, die ihr Eldorado
-war, hatte sie durchschaut. – Er trug seiner romantischen
-Erscheinung halber den Spitznamen Alfred de Musset.
-Sein Gesicht war <span class="antiqua">en face</span> gesehen schön und zauberhaft
-jung, das Profil niederträchtig, die Gestalt bei äußerlicher
-<a id="page-59" class="pagenum" title="59"></a>
-Eleganz von schlechter Rasse, die Hände unsympathisch.
-Seine Begabung, in ihrer Art ungewöhnlich, war <span class="antiqua">à fleur
-de peau</span>. Dabei gehörte er zu jenen Menschen, welche den
-Geist der anderen auf das lebhafteste anregen und in
-Schwung versetzen. In seiner Gegenwart beherrschte sich
-die schüchterne Marie vollkommen. Sie drückte sich frei
-und unbefangen aus, und die Worte standen ihr für alle
-ihre Einfälle zu Gebot. Dies erhöhte nur ihre Gereiztheit,
-denn genau so, wie sie sich im Zwiegespräch mit ihm zeigte,
-wäre sie gern vor ihren anderen Freunden erschienen, die
-nur beiläufig auf sie achteten und die ihr so gut gefielen.
-Sie glaubte sich an ihm rächen zu müssen, indem sie es
-ihm ins Gesicht sagte, und ihm alles vorwarf, was ihr
-an ihm mißfiel: von seinem Profil bis zu seinem dekadenten,
-mehr in die Tiefe als in die Breite gehenden Verstand. Er
-ließ sie reden – ihr aber schien ihr eigenes, merkwürdiges
-Verfahren höchst angebracht und loyal, und indem sie ihm
-ihre Abneigung gestand, ja klagte, glaubte sie den so anregenden
-Verkehr mit ihm aufrechthalten und nach Wunsch
-gestalten zu können.
-</p>
-
-<p>
-Aber die Nachwirkung blieb stets dieselbe, die Abneigung
-für ihn steigerte sich ins Unerträgliche, und genau so ehrlich,
-so akut, wie sich sehr junge Leute verlieben, war sie in
-ihn verhaßt.
-</p>
-
-<p>
-Eines Tages brachte er ihr die frühen, verträumten
-Lieder Debussys auf Gedichte Baudelaires, und von der
-schwülen Atmosphäre dieser Musik halb gehoben, halb
-betäubt, sprach sie sich da so manche Last so leicht vom
-Herzen: ihre Scheu vor tiefen Problemen und die heimliche
-<a id="page-60" class="pagenum" title="60"></a>
-Qual großer Musik. Und wie von fernem Ufer sah sie
-ihn da aus der Tiefe ihrer Verlassenheit an und lächelte
-ihm zu, weil er ihr vom Hauche des Frühlings umweht
-erschien wie ein blühender Zweig.
-</p>
-
-<p>
-Er aber sagte ihr tröstliche, schmeichelhafte Dinge, für
-welche sie, aufatmend, naiv genug war, ihm zu danken;
-denn er wollte einen Einfluß über sie gewinnen, nicht aber
-sie erfreuen. In demselben Tone weiterredend, änderte er
-da auf der Stelle seine Taktik; ohne daß sie seine Absicht
-merkte, entstellte, verzerrte er das Bild, das er noch eben
-von ihr malte. Sie horchte entsetzt und sah nicht, daß er
-es war, der sich nun rächte. Ihr war als stürzten die
-Balken eines Gerüstes über sie zusammen, als hörte sie
-den endlichen Schlag einer lang lauernden, elenden Stunde,
-den Weckruf finsterer Vögel.
-</p>
-
-<p>
-„Den Wahnsinn, dem Sie verfallen sind, ahnen Sie
-ja längst“, sagte er. – Aber ein mutigeres, stärkeres
-Wesen schien da plötzlich in ihr zu erstarken, sie von seinen
-Drohungen freizusprechen, zu beschützen. Dieselbe Fähigkeit,
-aus dem Stegreif zu erfassen, zu überblicken, sich auszudrücken,
-verlieh er ihr auch jetzt; doch als er lächelnd,
-mit begütigenden Worten, Abschied von ihr nehmen wollte,
-hielt sie ihn schnell zurück: „Dies Haus gaben Sie mir ein
-Recht, Ihnen zu verbieten“, flüsterte sie, und wie Liebende
-in ihrer ersten Umarmung, so war sie durch die endgültige
-Trennung von ihm an das Ziel ihrer Wünsche gelangt,
-und Haß und Widerwille waren erloschen.
-</p>
-
-<p>
-Es gibt Momente, in welchen der Mensch den Charakter
-seines Lebenslaufes so klar und nüchtern erschaut,
-<a id="page-61" class="pagenum" title="61"></a>
-daß, Maeterlincks kühner Hypothese gemäß, die Zukunft
-mit der Klarheit der Vergangenheit an ihn herantritt.
-Warum erkannte da Marie gerade jetzt, als sie dem Manne
-nachblickte, daß auf Jahre hinaus alles, was sich ihr bieten,
-sich verkehrt zu ihr stellen mußte, und daß sie alle Früchte
-verdorren sehen oder zur Unzeit brechen würde?
-</p>
-
-<p>
-Indessen stand das Haus, in dem alle Freuden ihres
-Lebens blühten, unversehens leer, ihre Freunde zogen fort,
-und ihr Zaubergarten versank. Ach, auf so winzige Veranlassungen
-hin konnte dort die Schale ihres Glückes überströmen,
-denn mächtiger als in allen Mandelblüten des
-Südens, als in allen Fliederbüschen des Nordens rauschte
-der Frühling in ihrem Herzen. Sie sah nun zu den verödeten
-Fenstern empor, und litt um so mehr, als sie nicht
-leiden wollte, nicht fliehen, an toter Stätte nicht vergessen
-konnte.
-</p>
-
-<p>
-Daß unser Leben zwar lange nicht so spannend, aber
-in seinem eigentümlichen Verlauf unwahrscheinlicher ist
-als der kühnste Roman, diese Bemerkung ist ja nicht mehr
-neu. Aber was uns in unsere Bahn lenkt, tritt in der Regel
-nicht ominös, sondern leicht und mit nichtssagender Miene
-in unseren Weg. Die Wendepunkte des Lebens liegen im
-Tal, im aussichtslosen Dickicht und Gestrüpp. Marie erhielt
-Besuch aus Neuyork in Gestalt eines jungen, reichen
-und verwöhnten Mädchens. Es war eine jener zu rasch
-erfolgten, atemlosen und überhitzten Kulturen, ohne Verweilen,
-ohne Gemütlichkeit und ohne Humor. Ihr Geist
-war stärker als ihre Persönlichkeit. Sie kampierte auf einer
-weißen, großartigen Wolke und schien mit ihrem stets in
-<a id="page-62" class="pagenum" title="62"></a>
-die Ferne gerichteten Blicke über ideelle und allgemeine
-Interessen das Einzelne und Persönliche aus den Augen
-verloren zu haben. Dabei aber war dieser „spiralähnlichen“
-Begabung ein ausgesprochener Stich ins Erhabene zu
-eigen. Und wie sich sehr hervorragende psychische Veranlagungen
-oder Eigenschaften häufig in einer körperlichen
-Linie widerspiegeln und nach sichtbarer Gestaltung
-drängen, so verriet sich die hohe Unterscheidungsgabe dieses
-zu farblosen und abstrakten Geistes in einer eigentümlichen
-Hoheit der Haltung und der Gestalt, in einer unvergleichlich
-edlen Kurve ihrer Achseln, und – man lache nicht –
-in dem idealen Glanz ihrer träumerischen Flechten. Äußerlichkeiten
-waren es denn auch, die Marie mit ihr versöhnten.
-</p>
-
-<p>
-„In jeder Menschenseele wohnt das Bedürfnis, sich
-groß zu machen, und auch das Bedürfnis, sich klein zu
-machen.“ Marie, welche Verherrlichungen ihrer eigenen
-Person mit fast kindlicher Freude entgegennahm, trieb eine
-gewisse Bescheidenheit wiederum so weit, daß es ihr unmöglich
-wurde, ein ihr dargebrachtes Gefühl sich wirklich
-vorzustellen, noch zu begreifen. Entweder suchte sie den
-Grund dafür in irgendeiner Lücke, einer untergeordneten
-Beschaffenheit des Betreffenden, oder sie fand überhaupt
-nicht den Mut, daran zu glauben. So verwirrte sie jetzt
-die entschiedene Gunst, die ihr von der jungen Fremden
-zuteil wurde, um so mehr, als sie viel zu unerfahren
-war, um sie richtig zu taxieren. Die wenigen Tage ihres
-Aufenthaltes gestalteten sich übrigens auf die denkbar
-angenehmste Weise. Marie kam zum erstenmal mit den
-<a id="page-63" class="pagenum" title="63"></a>
-berühmtesten Leuten ihrer Zeit zusammen und saß stumm,
-doch hoch erregt, mittags mit ihnen zu Gaste und abends im
-Theater. Zwischendrin allerdings wurde sie von Honorien,
-ihrer neuen Freundin, in Zwiegespräche hineingezogen, die
-ihr gar nicht entsprachen. Hohen, übersichtlichen Besprechungen
-war Marie nicht gewachsen, und selbst wo
-sie diese zu verfolgen vermochte, geschah es mit Widerstreben.
-Denn philosophische und künstlerische Probleme
-schienen ihr zu so gewohnheitsmäßiger Erörterung nicht
-geeignet, Honoria aber besprach nie Alltägliches, selten
-und nur von ferne Personalien. Bei aller Herzlichkeit lag
-etwas so Unnahbares, Unpersönliches in ihrem Wesen,
-etwas so Indirektes und Ferngerücktes in ihrem Blick,
-daß Marie immer den Eindruck hatte, als sähe sie jene
-nicht selbst, sondern statt ihrer ein Schemen, das ihr gefiel.
-</p>
-
-<p>
-Am Morgen der Abreise ging Marie zu ihr. Es war
-ein lauer Sommertag. Honoria empfing sie mit offenen
-Armen und schickte den Wagen fort, um die Strecke zur
-Bahn zu Fuß mit ihr zurückzulegen. Alsbald war denn
-auch eines jener Gespräche im Gange, die Marie so sehr
-langweilten. Sie seufzte und sah zerstreut auf die staubigen
-Bäume, zum weichen, herbstlichen Himmel empor.
-„Gott sei Dank,“ dachte sie, „sie geht.“
-</p>
-
-<p>
-Aber schon am folgenden Morgen kam ein fingerdicker,
-in der Eisenbahn geschriebener, französischer Brief, der
-nichts weniger enthielt, als die Fortsetzung der allzu umfassenden
-Philosopheme, welche Honoria auf dem Weg
-zur Bahn entworfen hatte. Nicht einen Augenblick länger
-wollte jedoch Marie eine solche Komödie aufrechthalten.
-<a id="page-64" class="pagenum" title="64"></a>
-Das „Du“ ignorierend, das in jenem Briefe geführt wurde,
-schilderte sie sich selbst so, wie sie war, mit ihrem wirklichen,
-mit ihrem grundsätzlichen Mangel an Interessen, und die
-gänzlich verschiedene Richtung, welcher sie ihrer Natur
-nach angehörte. Somit galt ihr diese Episode als beendet,
-und sie war nicht wenig überrascht, als Honoria, welche
-die Dinge von oben nahm, sie in einem noch dickeren Briefe
-eine Spartanerin nannte und nunmehr den Verkehr so
-rege gestaltete, als lebten die beiden Mädchen in benachbarten
-Städten, nicht in getrennten Erdteilen. Marie wurde
-der Gegenstand fortwährender Sendungen und Geschenke.
-Bald kamen persische Lieder in köstlichem Pergamenteinband,
-mystische und philosophische Werke, eingerahmte
-Gravüren in hohen Kisten, und sie hatte vollauf zu tun,
-um nur die Zeitschriften durchzusehen, auf die sie sich mit
-einemmal abonniert sah, und sich von all den Büchern in
-Kenntnis zu setzen, die ihr bald direkt, bald durch Buchhandlungen
-zukamen. – Sie tat es denn auch mehr aus
-Erkenntlichkeit, denn aus Neigung.
-</p>
-
-<p>
-So verging ein Jahr. Da erhielt sie in den letzten
-Septembertagen unerwartet einen Brief mit dem Homburger
-Stempel. Honoria war infolge einer durch Überanstrengung
-erfolgten Krankheit zur Erholung dorthin befohlen
-worden und sollte nach beendeter Kur schleunigst
-nach dem Süden. Da ihr der Umweg zu ihr nicht gestattet
-war, bat sie nun dringend um ihren Besuch. Marie
-sah diesem Wiedersehen mit Interesse entgegen; besonders
-freute sie sich auf das Treiben eines so berühmten Kurortes
-und ließ sich durch die Jahreszeit in ihren Erwartungen
-<a id="page-65" class="pagenum" title="65"></a>
-nicht beeinträchtigen, denn in Homburg, wollte sie wissen,
-gab es das ganze Jahr hindurch schöne und interessante Leute.
-</p>
-
-<p>
-Honoria, die ihr einige Tage später auf dem Frankfurter
-Bahnsteig entgegeneilte, erschien ihr noch höheren,
-noch edleren Wuchses als vordem. Trotz der Modernität
-ihrer Kleidung war die Zeichnung ihres Kopfes, die Linien
-ihrer Gestalt erhebend wie ein antiker Fries. Ihr Anblick
-rührte die leichtbewegte Marie. Sie freute sich, den
-heißen, staubigen Zug zu verlassen und die letzte Strecke
-in dem offenen Wagen zurückzulegen, der vor dem Bahnhof
-in der Sonne wartete, durch Frankfurt, das sie nicht
-kannte und in der frischen, schimmernden Luft nach Homburg
-zu fahren, und sie freute sich, daß sie gekommen war.
-Allein schon unterwegs empfand sie die alte Ungemütlichkeit,
-die alten Strapazen dieses Verkehrs. Honoria schien
-in ihrem Element, wenn ihre Gedanken gleichsam in der
-Luft hingen; Marie hingegen war gänzlich real, und ihr
-Idealismus galt dem Leben. Oh, wie erschrak sie über den
-Anblick, den ihr Homburg gewährte! Von Massen welkenden
-Laubes bedrückt, starrten die leeren Alleen, starrten
-verödete Gärten und Villen. Honoria rühmte ihr die große,
-wohltuende Stille des sonst so geräuschvollen Ortes. Die
-Villa, welche sie ganz allein mit ihrer Gesellschafterin und
-einer Kammerfrau bewohnte, war die Dependance des
-einzigen Hotels, das, wahrscheinlich ihr zu Ehren, noch
-nicht geschlossen war. Marie erbleichte. Ihr Herz sank.
-Sie haßte das ausschließliche Zusammensein mit Damen!
-Sie sah keine Anregung, keinen Sinn in einem einschichtigen
-Verkehr, und er langweilte sie auf die Dauer zu Tränen.
-<a id="page-66" class="pagenum" title="66"></a>
-Ein Leben, das auf ein Weilchen das Ideal eines geistig
-und gesellig überanstrengten Menschen sein mochte, war
-nur ein Alp für das zerstreuungssüchtige Mädchen.
-</p>
-
-<p>
-Honoria lag des Morgens meist mit schon ganz erschöpften
-Zügen zu Bett; hatte vor Tagesanbruch ihre
-Korrespondenz erledigt und Emersons Essays oder die
-Briefe des hl. Paulus gelesen. Sobald sie aufgestanden
-war, drang Stunden hindurch der hartnäckige Lärm der
-Schreibmaschine durch die stillen Zimmer. Vor dem öden
-Klippklapp floh Marie ins Freie und strich durch die
-toten Straßen Homburgs, oder verlor sich in einer Anwandlung
-von Schwermut in den großen Park. Früh
-am Nachmittag harrte dann die leichtgeschirrte Viktoria,
-und Marie freute sich der langen Fahrten durch den goldenen
-Taunus. Aber als der Oktober seinem Ende zuneigte,
-litt sie bei dem Anblick des sterbenden Laubes, der
-finster welkenden Natur. Ihr war, als fielen ihr die gelben
-Blätter aufs Herz, und ihr Auge lechzte nach einem grünen
-Zweig, nach einem blühenden Fleck inmitten des ungeheuren
-Grabes, das sich bereitete. Sie begriff die Schönheit des
-Herbstes, Honoriens Freude daran nicht. Was der Augenblick
-verhieß, nicht was er bot, nicht der Sonne zärtliches
-Verweilen, ihren Scheidegruß vernahm sie allein. Und
-wenn der Wagen in der Dämmerung durch einen Dom
-welker, seufzender Bäume fuhr, so umlauerten sie, wie einst
-die Elfen des Erlkönigs Sohn, des Verfalles grausame
-Schatten und entwanden ihr das Herz.
-</p>
-
-<p>
-Zu Hause kam dann der lange Abend mit Shakespeares
-und Brownings Gedichten; aber sie fing an, alle Bücher
-<a id="page-67" class="pagenum" title="67"></a>
-zu hassen. Wohl konnte sich ihr Blick flüchtig beleben, wenn
-Honoria duftend und geschmückt, gleich einer hellen Wolke,
-ihrem Zimmer entschwebte, sonst aber saß sie oft stundenlang
-mit ihrer Stickerei still am Fenster, und nach den einfältigsten
-Bemerkungen mußte die sonst so Gesprächige
-ringen. Gern folgte sie Honoriens Aufforderung, zu musizieren.
-Allein die Töne brachten das Echo ihrer Langeweile
-mit quälender Steigerung zu ihrem Bewußtsein, und schlaff
-und zerstreut endete ihr Spiel.
-</p>
-
-<p>
-In dieser Zeit hörte Marie, die sonst alle Wagner-Opern
-kannte, in Frankfurt zum erstenmal den Rienzi, und obwohl
-Aufführung wie Besetzung zu den minderen gehörten,
-so war sie von dem Drang, dem titanischen Gären,
-ja gerade von dem Unvermögen dieses Werkes heftig ergriffen.
-Hier war Ikarus, dessen ewiger Mut sich über
-Welten hin Flügel, die nicht brachen, schmieden sollte.
-</p>
-
-<p>
-Mächtig angeregt fuhr sie im offenen Wagen durch
-das mondumhauchte Land und weiße Dörfer nach Homburg
-zurück, und Wagners Schaffen als eines Wunders
-gedenkend, lehnte sie den Kopf weit im Wagen zurück und
-verlor sich in der stillen, bethlehemischen Pracht. Vergessen
-und verweht schien ihre Schwermut, die doch schon tags
-darauf, gleich einem Nebel, ihr Gemüt von neuem umschleierte.
-Besonders auf die Schreibmaschine wurde sie
-zuletzt erbittert, und als diese eines Morgens wieder so
-geschäftig das stille Stockwerk durchdrang, fing Marie in
-einem Paroxysmus von Langeweile in ihrem Zimmer
-stürmisch zu weinen an. Das Leben war so reich, so mannigfach
-und schön! Es gingen auf der Welt so reizende
-<a id="page-68" class="pagenum" title="68"></a>
-Menschen einher! Ach! Warum lebte sie von ihnen getrennt!
-Wer war für des Lebens Genüsse königlicher geartet?
-Mochte sie zeitlebens entbehren, bis in alle Fibern blieb sie
-verwöhnt.
-</p>
-
-<p>
-Und obwohl nur mehr drei Tage ihres Bleibens waren,
-schien ihr gerade der heutige nicht mehr erträglich. Rasch
-zu Honoria tretend: „Ich kann heute keine gelben Bäume
-sehen und fahre nach Frankfurt“, sagte sie lachend und
-drückte ihr den Arm. Sie sah noch Honoriens überraschten,
-aber so freundlichen Blick, dann stürmte sie die Treppe
-hinab und zur Bahn, der Schreibmaschine und Homburg
-davon!
-</p>
-
-<p>
-Wie ein Füllen, das sich auf freiem Rasen tummelt, so
-behaglich war es Marie am selben Nachmittag auf der
-bewegten, im lieblichsten Lichte getauchten Zeil. Die üppigen
-Töchter der Stadt, die mit ihren Müttern erwartungsvoll
-einherzogen, die eiligen Geschäftsleute, die Müßigen und
-die Lebensfrohen, die gemeinen, die aufgeputzten, oder die
-sympathischen Leute, alle schufen ihr Kurzweil, und wie
-ein Kind in Bilderbücher, war sie ganz in den Anblick der
-vielen Spaziergänger versunken; überall von dem Zauberkreis
-eines selben Lebens gebannt, ruhte, sich selber verlierend,
-ihre gehaltlose Seele, die dem Mann ohne Schatten
-glich, von der Einsamkeit aus.
-</p>
-
-<p>
-Sie hatte die Stadt der Kreuz und Quere nach durchstreift,
-an Brücken, stillen Plätzen und verlorenen Straßen
-geweilt, und schon erblaßte der Himmel. Gänzlich ihrer
-Stimmung hingegeben, war ihr Bewußtsein wie umflort,
-von der Atmosphäre des alten und des neuen Frankfurt
-<a id="page-69" class="pagenum" title="69"></a>
-durchdrungen, und von der sterbenslauen Luft, in der ein
-Klang lag ewiger Ermattung, von ewiger Vergänglichkeit.
-</p>
-
-<p>
-In einer kleinen verträumten Sackgasse machte sie halt,
-um ihren Weg zur Bahn zu erfragen; und von einem entstellten
-Profil Richard Wagners, das dort in der Auslage
-eines Musikladens prangte, wandte Marie, die ungern
-Häßliches sah, im Vorübereilen den Blick.
-</p>
-
-<p>
-Den Abend verbrachte sie mit Honorien in aufgeräumtester
-Laune, erzählte, was sie gesehen, gehört, gegessen
-hatte, und unterbrach die Browningsche Lektüre mit allerlei
-Späßen.
-</p>
-
-<p>
-Dies war ihre vorletzte Nacht in Homburg, und entmutigt
-schlief sie ein. Wann endlich würde sich ihr Leben
-bewegter gestalten? – Sie gedachte der vergnügten kleinen
-Konditorsfrau in Frankfurt, an die sie heute so viele Fragen
-gestellt, die über ihren schmucken Laden nicht hinausdachte
-und inmitten ihrer Glasglocken, ihrer Schokoladekrapfen
-und Schaumrollen ein Dasein lebte, vor welchem Marie
-erschauerte.
-</p>
-
-<p>
-Aber was hatte sie denn selbst von ihrem klein bißchen
-Bildung, als daß sie für die Alltäglichkeit auf immer verdorben,
-auf immer beunruhigt blieb. Heiß schoß ihr das
-Blut zu Kopfe: was wußte sie denn – und was sollte
-sie von Honorien halten, die über ihre Theorien zu leben
-verlernte?
-</p>
-
-<p>
-Es war finster und still in ihrem Zimmer, als Marie
-erwachte. Sie besann sich nicht sogleich, was dies wilde
-Klopfen ihres Herzens verursacht, was sie geweckt, was
-sie gesehen hatte. Dann stürzte sie ans Fenster und riß es
-<a id="page-70" class="pagenum" title="70"></a>
-auf. Östlich dämmerte ein heller Streifen durch die Nacht,
-allein den Tag in ihrem Herzen begrüßte sie mit einer Flut
-immer neu hervorbrechender Tränen, daß ihr Gesicht erblindete
-wie eine Scheibe unter dem Regen.
-</p>
-
-<p>
-Jenes selbe Profil, von welchem sie gestern im Vorübereilen
-den Blick abwandte, hatte sie, verherrlicht, zwei
-Schritte vor sich, mit unbewegtem, gerade ausschauendem
-Auge gesehen. Aber es war ein vergöttlichtes Auge,
-weltenstrahlend, weltenspiegelnd und von unvergeßlicher
-Größe; ein individuelles und doch gänzlich entrücktes
-Auge. Kein Auge, mit dessen Blick der ihre sich hätte
-kreuzen können. Es waren die ewigen Augen Wagnerschen
-Geistes.
-</p>
-
-<p>
-Wie ein Erdboden durch plötzliche Erschütterung, so
-hatte ihre Gesinnung durch ein so ungeahntes Bild eine
-Umgestaltung erfahren. Es war seltsam, es war spaßhaft
-genug, und sie wußte, welchen Hohn die Tatsache gerade
-in ihrem Herzen finden, sie verfolgen würde! Hier war sie:
-ein junges, bis ins Mark vergnügungssüchtiges Mädchen,
-das nichts mehr zur Ruhe bringen, in dem nichts den einen
-brennenden Wunsch mehr betäuben konnte: die Wahrheit
-zu suchen.
-</p>
-
-<p>
-Denn sie wußte in dieser stillsten Stunde ihres Lebens,
-daß Unwissenheit es war, die jenen Gram in ihr erzeugte,
-weil <em>Gedanken</em> hinter jenen unruhigen Schatten ruhten,
-die sie schreckten, und daß nichts sie retten konnte, als ein
-hellerer Kreis des Wissens, der sie schützend umschloß, als
-ein Glaube, um den sie selber rang.
-</p>
-
-<p>
-Tags darauf verließ sie Homburg.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-71" class="pagenum" title="71"></a>
-Golden flogen im Nachmittagscheine Brücken, Felder
-und Wiesen vor ihrem Zug vorbei, aber vor dem Glanz
-dieser sonnenerfüllten Welt schloß sie bekümmert die Augen;
-denn immer schwerer wurde da wieder, auf der langen
-Fahrt, ihr einsam entschlossenes Herz. Sie sah sich wie vor
-einem Berg, den nur Geübte und Wetterkundige mit einem
-Arsenal von Werkzeugen wohlausgerüstet zu besteigen
-wagen und denen sie nun barfuß und allein folgen wollte.
-Was sie erstrebte, war ja zu schwer: Nichts was Gleichgewicht
-und Disziplin des Geistes betraf, lag in ihr vorbereitet
-noch vererbt, und zu einem systematischen Denken
-war sie weder veranlagt noch geschult. Kein Pegasus, die
-traurigste aller Rosinanten stand ihr zu Gebote. Aber
-weniger glücklich als der an Illusionen reichste Don
-Quichote, verglich sie unerbittlichen, fast feindlichen Auges
-ihre Unzulänglichkeit mit ihrem Wagnis. – Was hatte ihr
-stumpfes, kindisches Gehirn mit jenen Rätseln zu schaffen,
-die es von jeher mühten? Nun war sie erwacht. Mit weitgeöffneten
-Augen, die nicht sahen.
-</p>
-
-<p>
-Als sie bei ihrer Ankunft in München Glucks Oper
-„Iphigenie in Tauris“ auf dem Zettel sah, ging sie noch
-selben Abends hinein. Es war eine der letzten Vorstellungen,
-die unter Levis eminenter Leitung und einer Besetzung
-alternder aber trefflicher Leute dort stattfanden, und sie
-atmete auf in der Atmosphäre dieses edlen Werks.
-</p>
-
-<div class="poem-container">
- <div class="poem">
- <div class="stanza">
- <p class="verse">„Die Ruhe kehret mir zurück.</p>
- <p class="verse">So sollte meine Qual Euch, Ihr Götter, ermüden.“</p>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p class="noindent">
-Es war Orestens Lied, und in prachtvoller Wiedergabe
-die eherne Begleitung des Orchesters.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-72" class="pagenum" title="72"></a>
-In diesem Augenblick kulminierte das musikalische Vermögen,
-die Genialität des Dirigenten. Nicht so sehr „gestaltend“
-stand er dem Meisterwerke gegenüber, als daß
-seinem unvergleichlich künstlerischen Impuls, seiner in
-höchster Passivität so wundervollen Ergriffenheit die tief
-umhülltesten Regionen sich erschlossen. So stand er unbeweglich,
-mit gesenktem Stabe, nur verklärten Auges sein
-Orchester bannend. Aber der Hauch von Ewigkeit, der
-über den friedensvollen Fall der Baßtöne gebreitet liegt,
-riß Marie mit fort. Kein anderes Kunstwerk sollte je
-wieder jene selbe überwältigende Wirkung in ihr hervorrufen,
-zu der sie jetzt ihr abnorm gesteigerter Gemütszustand
-befähigte. Sie verlor das Gesicht. Der Wunsch,
-den sie so früh gehegt, er war ihr erfüllt, die Müdigkeit,
-die sie so früh empfunden, sie war von ihr genommen, und
-sich selbst, der eigenen Dürftigkeit, der eigenen Torheit,
-allen Schranken des Persönlichen weit enthoben, behielt
-sie nur das Bewußtsein eines strömenden Glücks.
-</p>
-
-<p>
-So waren denn die Würfel gefallen. Ihr Drang nach
-Erkenntnis war stärker als ihr Sträuben, ihre Trägheit
-und ihr Unvermögen.
-</p>
-
-<p>
-Stundenlang saß sie nun, meist ganz vergebens, über
-einer einzigen Seite Kants. Aber gerade bei ihm, dem sie
-ein so lückenhaftes Verständnis entgegenbrachte, durfte sie,
-zum Atome sich erkennend, ruhn, wenn sie die Schwingen
-ewiger Begriffe auf Augenblicke streiften. Denn Marie
-hatte Geist, doch keine Geisteskraft, niemanden, der ihr
-half, noch sie belehrte! Nur einem Menschen, dessen Überlegenheit
-ihr nach allen Seiten hin entsprach, hätte sie sich
-<a id="page-73" class="pagenum" title="73"></a>
-ohne Reue anvertrauen können, und einen solchen Freund
-zu haben war ihr nicht vergönnt. So mußten denn die
-Bücher ihre Freunde, ihre Lehrer werden. Und schon hatte
-sie erkannt, daß hervorragende Anlagen nur eine gefährliche
-Mitgift sind, wenn gerade sie einen versöhnenden
-Ausgleich innerer und äußerer Widersprüche erschweren.
-Sie hatte erkannt, daß nicht das Leben, für welches wir
-geschaffen wären, in die Wage fällt, daß nicht wir selbst,
-sondern unser Geschick das Gegebene ist, und daß sie nicht
-dem Knechte gleichen durfte, der mit seinem einen Talent
-verzagte und es vergrub. Am schwersten ließ sie sich’s mit
-Schopenhauer werden, der den jugendlichen Leser terrorisiert.
-Und wer war sie, daß sie es wagte, ohnmächtig, verzweifelnd,
-so lange gegen ihn anzustürmen, bis ihre innerste
-Überzeugung sich wieder von ihm losriß, von seinem großartigen
-Gedankenring gefördert und belehrt, ihm nicht
-länger unterworfen war?
-</p>
-
-<p>
-Einen heißen, einsamen Sommer verbrachte sie mit
-Platos Büchern, und unter Tränen las sie das Symposion.
-Hier war ein Ziel und göttliches Verweilen, der Harmonien
-seliger Hauch, und wie vom hohen Berg herab lag
-da die Welt – beschaulich, unbegehrt – zu ihren Füßen.
-</p>
-
-<p>
-Aber sie war schön, diese Welt! Feierlich und groß! –
-Und alles in ihr erhielt Sinn, Leben und Bestand durch
-Bezüge. Und in Bezügen lag ein Schwerpunkt selbst der
-größten Geister.
-</p>
-
-<p>
-Der Erwerb des einen wird da dem anderen Besitz;
-Steigbügel für den Kommenden. Allein die Schranke war
-die Bedingung des menschlichen Gehirns, und die Grenze
-<a id="page-74" class="pagenum" title="74"></a>
-des intellektuellen Vermögens durch die menschliche Natur
-scharf abgesteckt.
-</p>
-
-<p>
-Marie versank in immer tieferes Nachdenken.
-</p>
-
-<p>
-Nein: Allumfassende Vollkommenheit war nirgends. –
-</p>
-
-<p>
-Da erstand vor ihrem inneren Auge, wie im Morgengrauen
-deutlich erkennbar, die universellste, übergreifendste
-Gestalt, die keine Irrtümer und keine Lücken in sich aufwies!
-Vielmehr auf unnennbar geheimnisvolle Weise alle
-Widersprüche in sich aufhob, weil ihr nichts fremd war
-und nichts entzogen, was tausendfach die Menschen scheidet
-und vereinsamt. Ja, es war ein Mensch. Aber Himmel
-und Erde waren der Schlüssel zu ihm, und er erfüllte die
-Welt. Allumfassendes, schweigendes Begreifen entströmte
-seinem Auge. Ja, es war ein Gott. Seine Züge aber! Die
-größten Denker und Meister aller Zeiten hatten sie ihr entschleiert,
-weil alle menschlichen Heroen zu seinen Kommentaren
-wurden, und ihre unbeschreibliche Bewandtnis zur
-Erläuterung! – Keine Philosophie, keine Äußerung auf
-dem Gebiete des menschlichen Geistes, ja des Geistreichen,
-des Witzigen, des Profanen – keine Kunst, die nicht zu
-ihm gravitierte. Der Gedanke war so groß, daß sie erschauerte.
-Und von der überschwenglichen Tragweite jenes
-schlichttönenden Ausspruches: „In meines Vaters Haus
-sind viele Wohnungen“ wurde sie wie von unendlichen
-Schallwellen fortgerissen und durchleuchtet.
-</p>
-
-<p>
-Nur eines trennte ihn von uns – das Übel, das allen
-Gram erzeugt. Eines mußte er uns entnehmen. Eines
-war göttergleich im Prinzip von ihm ausgeschieden: die
-Qual.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-75" class="pagenum" title="75"></a>
-Marie mochte ihre Gedanken nicht länger ertragen. Sie
-ging hinab in die Straße, die starren Häuserreihen entlang,
-der heißen, verödeten Stadt. Aber das Licht, der Anblick
-des leeren, weißlichen Himmels erweckte Erinnerungen und
-Leid. Zum Stachel war ihr da der taube Glanz des Tages,
-und jene „Geister der Luft“, die den Menschen jagen und
-ihm das Himmelslicht versteinern. Atemringend muß er es
-ertragen.
-</p>
-
-<p>
-Nicht daß es sie jetzt nach Mitteilsamkeit drängte, nein,
-auszuruhen, zu vergessen, sich zu freuen. Schönheit, Gebärde,
-Sprache, die Form eines Auges, die Bewegung
-eines Armes, dies alles war ein Organismus, der sie umfriedete.
-Dann wurde es still in der dumpfen Werkstatt,
-und Gedanken feierten. Der Reiz der Nähe löste den gezogenen
-Blick von ihren Augen, und ihr Geist erkannte
-rastend seine Heimat.
-</p>
-
-<p>
-Denn es war ihr Geist, der in der Welt der Körper, der
-in dieser Welt sein Element erkannte!
-</p>
-
-<p>
-Allein in der Einsamkeit, die sie also bedräute, umschloß
-sie jetzt, deutlich wie Felsenzacken gegen das Sonnenlicht,
-der Ring ihrer Gedanken.
-</p>
-
-<p>
-Nicht länger von der Welt barer Vorkommnisse aus
-den Fugen gerissen, erkannte sie die tröstliche Bedingtheit
-alles Elends. Erkenntnis sollte <em>nicht</em> den Pflock des Leidens
-tiefer in uns treiben! Alles war Folge, und selbst Geschehnisse
-nicht unentrinnbar.
-</p>
-
-<p>
-So weit, so anders erblickte sie die verlorenen Tore ihres
-Glaubens wieder. Was immer das Dogma vom Geiste
-löste, erschien ihr da als ungeheuerster Verrat. Nicht als
-<a id="page-76" class="pagenum" title="76"></a>
-Dualität, als Organismus erfaßte sie den Menschen und
-seine Apotheose, nicht seine Trennung als sein Endziel.
-Ihrem weltabgewandten und entsagungsvollen, aber stets
-verheißungsvollen Bildern zugekehrtem Auge wollte die unendliche
-Elastizität jenes Glaubens als sein tiefinnerstes
-Geheimnis sich erschließen; des Paradoxalsten, eingedenk
-und psychologisch tiefst Begründeten, was der Mensch zutage
-förderte: als das „Maß aller Dinge“ stellt er den
-Abstand zwischen ihm und der Gottheit, Prometheus, die
-seligen Götter und den allgewaltigen Zeus. Quellen und
-Haine belebt er mit übermenschlichen Wesen, scheu verehrend,
-was er selber schuf. Ahnung war es, die ihn die
-eigenen Ideale, das eigene Ziel so fern erkennen und den
-Olymp erträumen ließ! Solche Träume, mußten sie nicht
-das Sehnen eines Gottes nötigen, zu tausendfacher Befreiung
-den Menschen zu erlösen?
-</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="chapter u" id="chapter-0-5">
-<a id="page-77" class="pagenum" title="77"></a>
-Geraldine<br />
-oder<br />
-die Geschichte einer Operation
-</h2>
-
-</div>
-
-<p class="ded">
-<a id="page-78" class="pagenum" title="78"></a>
-Für Professor Franz Keysser (Berlin)
-</p>
-
-<h3 class="section pbb" id="subchap-0-5-1">
-<a id="page-79" class="pagenum" title="79"></a>
-I
-</h3>
-
-<p class="first">
-<span class="firstchar">G</span><span class="postfirstchar">eraldine,</span> aus dem Häuflein derer, mußte im Spätfrühling
-des Jahres 1923 in die chirurgische Klinik
-einer süddeutschen Stadt. Freunde begleiteten sie. Den Abend
-durfte sie noch mit ihnen verbringen. Sie war guter Dinge
-und trank auf ihr eigenes Wohl. Dann nahm ein helles
-Zimmer, das ins Grüne sah, sie auf. Die Schwestern, in der
-Umrahmung ihrer gesteiften weißen Flügelhauben, besonders
-aber deren breite und bejahrte Vorsteherin, erweckten
-ihre Zuversicht. Spät trat sie noch bei Geraldinen ein, um
-nach der Neuangekommenen zu schauen, und bei ihrem Anblick
-streckte die Kranke ihre Füße länger aus, einer Müdigkeit
-hingegeben, die sie plötzlich wie von weither überkam.
-So schutzverheißend war die erstarkte Weisheit dieser Augen,
-so geborgen fühlte sich Geraldine, als sie in diese mächtigen
-Pupillen sah. Sie wußte, wie wenig ein Beruf zur Sache
-tat, wie leicht gerade die tugendhaftesten zur Klippe werden.
-Inbegriffen, ganz unausgesprochen aber war hier alles
-Fromme, und daß die Pflegerinnen dieses Hauses wie die
-Blumen eines gehegten Gartens standen, Unkraut nicht
-wuchern konnte, lag an dieser Vorgesetzten. Denn es ist
-immer das Wichtigste, wer regiert. Wie eine Mutter, nicht
-nur der Patienten, sondern irgendwie auch dieser Ärzte,
-Geheimräte und Professoren, wie eine Mutter aller
-<a id="page-80" class="pagenum" title="80"></a>
-Menschen schritt sie durch die Gänge, homerisch in der
-Unbeirrbarkeit ihres Waltens, ehrwürdig wie ein Stück
-Natur. Und sie hieß Guido, wie ein Mann.
-</p>
-
-<p>
-Aber auch Geraldine kannte die Welt.
-</p>
-
-<p class="tb">
-&nbsp;
-</p>
-
-<p class="noindent">
-Lesend verbrachte sie den nächsten Morgen; am frühen
-Nachmittag wurde ihr Morphium gegeben und später noch
-einmal. Da tönte sich der Widerschein der grünen Bäume
-in ihrem Zimmer sanft und immer sanfter ab, und als
-eine Bahre hereingezogen kam, bestieg sie sie eilends wie
-im Traum. Nach einer kurzen Fahrt befand sie sich zwei
-Schwestern gegenüber, und diese trugen ihre weißen Ordensschleier
-nicht abstehend und gesteift, sondern gar kleidsam
-in den Nacken zurückgerafft, und sie fragte die Schönste
-um ihren Namen: Ermentrudis. „Meine Zunge ist schwer,
-sie ist trocken, sie ist voll Mohn, ich spreche so mühsam“,
-sagte Geraldine, und überließ sich ihnen. Ihr war, als würde
-sie von Engeln bedient. Da lag sie schon auf einer Bahre,
-und rechts von ihr gab sich ein Arzt mit ihr zu tun. Aber
-seine Gegenwart war ohne Resonanz. Nur Ermentrudis
-erfüllte den Raum. Vielleicht ist sie nicht so schön als ich
-sie sehe, dachte Geraldine, deren Augen zugefallen waren,
-vielleicht ist es Täuschung, wie der Geschmack von Mohn
-in meinem Munde. Wie ist sie schön! – Da war sie weg,
-und Geraldine wieder in der Fahrt. Nur bis zum nächsten
-Zimmer dieses Mal. Es dünkte sie aus Glas, und ein anderer
-Arzt saß jetzt rechts von ihr, als hätte er auf sie gewartet.
-Sein Gesicht schien ihr nicht sein eigenes zu sein, sondern
-<a id="page-81" class="pagenum" title="81"></a>
-ganz in der Anspannung seiner Züge statt in seinen Zügen
-zu beruhen, aber sie streifte es nur mit einem Blick, dann
-fielen ihre mohnbeschwerten Augen wieder zu. Doch alsbald
-hörte sie sich stöhnen. Und warum riß er ihre Adern
-so unbarmherzig auf? Sie fühlte, wie er sich durch nichts
-beirren ließ, und sie blieb unbeweglich, aber sie hielt ihm
-vor, daß er sie peinige. Fort und fort, wie lange noch? –
-Da merkte sie plötzlich, daß er nicht länger rechts, sondern
-ihr jetzt links zur Seite stand, indes ein anderer Mann in
-Szene trat, als wäre dies eine Bühne. Ja, genau so, war
-jetzt eine mächtige Form herangetreten, wie ein Dirigent
-sein Pult einnimmt, und als schwänge er einen Stab mit
-den Worten: „<span class="antiqua">Alla breve</span> meine Herren!“ so sagte er:
-„Klagen Sie nicht!“ und fing an zu schneiden. Geraldine
-aber griff da zum Schweigen, wie ein Geiger in sein Instrument.
-Sie streckte nur ihre linke Hand schutzflehend ins
-Leere. Aber schon war sie von einer andern sanft geborgen
-und vertröstet, und sie umklammernd, führte Geraldine ihren
-stummen Pakt den ersten Stößen gegenüber aus. Sie wähnte
-jetzt, es sei Nacht. Doch statt erhöhter Schmerzen wurden
-sie mit jeder Sekunde dumpfer. Und war sie denn selbst ein
-besaitetes Holz geworden? Sie spürte nur ein virtuoses
-Kneten, wie rasche Fingersätze eines Pianisten in ihrem
-unempfindlichen Fleisch. <span class="antiqua">Allegro, vivace, accellerando,
-presto, tempestuoso</span> fuhren die Griffe wie auf Tasten
-dahin. Geraldine hatte den Eindruck von <em>Kunst</em>. Wie
-aber? Wie konnte dies sein? Und doch, welch deutliche,
-welch aufregende Beziehung, welch unerhörte Analogie,
-welch spannende und unvermutete Sensation! Für einen
-<a id="page-82" class="pagenum" title="82"></a>
-Augenblick war alles rege in ihr, und sie hätte sich gern
-aufgerichtet, um hinzusehen, ihr Kopf aber leistete Widerstand;
-er war zu schwer. „Es wird schon genäht, es wird
-schon verbunden“, drang es von links, wie aus einem
-Souffleurkasten zu ihr.
-</p>
-
-<p>
-Und schon wurde sie wieder fortgetragen. Unklar diesmal
-die Fahrt durch den Gang in ihr Zimmer zurück.
-</p>
-
-<p>
-Die Nacht war nicht mehr fern. In ihrem Bette aufgerichtet,
-ohne eine Spur von Schmerzen, ließ sie sich ein
-Buch herüberreichen, wähnend, das Lesen würde ihr leichter
-fallen als das Sprechen. Die Vorhänge bauschten sich sachte
-in der Frühlingsluft, im Scheine eines blauen Seidenschirmes
-lag sie und sann.
-</p>
-
-<p>
-Welch freundlicher Dämon hatte die Tafel ihrer Erinnerungen
-gelöscht, daß ihre Gelassenheit sich immer mehr
-vertiefte?
-</p>
-
-<p>
-Da, mitten in der Nacht – als klingle es von allen
-Seiten zugleich – schlugen die Wunden Alarm. Weggefegt
-das letzte Stäubchen Morphium; das ganze Bein entfacht.
-Schlimmer noch die hohe Stachelkrause, die vom Knie aufwärts
-loderte. Aus purer Sympathie erglühten Fuß und
-Ferse, von heißer, imaginärer Asche versengt. Geraldine, in
-den Tumult verstrickt, hörte ihre eigenen Seufzer nicht.
-</p>
-
-<p>
-Am Morgen klirrte der Wagen mit den Verbandwerkzeugen
-durch den Gang. Guido war bei Geraldinen. Da
-öffnete sich die Türe, als sei ihr Zimmer eine Freistatt. Der
-Chefarzt trat als erster herein, nach den Schmerzen dieser
-Nacht zu fragen. Und es erfolgten sehr genaue Weisungen,
-um einem neuen Ansturm vorzubeugen. Da wunderte sich
-<a id="page-83" class="pagenum" title="83"></a>
-Geraldine zum ersten Male, ohne sich entsinnen zu können
-weshalb. Sie grüßte nach rechts und links die beiden anderen
-Ärzte von gestern; dann war sie wieder allein.
-</p>
-
-<h3 class="section" id="subchap-0-5-2">
-II
-</h3>
-
-<p class="noindent">
-Seltsame Schwingen, neue Rhythmen trugen ihre Tage
-jetzt dahin, ihre Stille so manches Mal durch nichts als
-den Besuch der Ärzte unterbrochen. Blumen umgaben sie.
-Der über ihr Bett geschobene Krankentisch bot ein reiches
-Feld der Beschäftigung, und ein Zufall wollte, daß Leute,
-mit welchen sie lange nicht mehr in Kontakt war, plötzlich
-in der Ferne an sie dachten und ihr schrieben. Eines Morgens
-kam ein Stoß der neuesten französischen Bücher für
-sie an; sie lagen in großer Evidenz auf Tisch und Decke gebreitet.
-Jedoch der Zeitungsmann durfte nicht zu ihr herein.
-In Tönen der Angst bat sie die Schwester, ihn von ihr
-fernzuhalten, und schon früh am Nachmittag sehnte sie sich
-nach Morphium. Fing aber der Rollwagen mit dem Verbandzeug,
-den Alkohol und Jodoformflaschen durch den
-Gang zu klirren an, so mußte sie lachen; denn es ging dann
-so fühlbar von Zimmer zu Zimmer eine Spannung, es entstand
-eine Aufregung, wie wenn Hennen gefüttert werden.
-„Jetzt werden die Hennen gefüttert“, sagte sie jedesmal
-zu Guido, die immer der Karosserie voranschritt.
-</p>
-
-<p>
-Eines Tages fragte sie den Arzt, der sie in ihrer Lektüre
-unterbrach: „Würde dieses Buch Sie interessieren, wenn
-ich fertig damit bin?“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-84" class="pagenum" title="84"></a>
-Er warf einen Blick auf den Umschlag und zögerte:
-„Von Franzosen höre ich lieber nichts“, sagte er dann.
-</p>
-
-<p>
-Da schwieg Geraldine.
-</p>
-
-<p>
-Das Buch, das er abgelehnt hatte zu lesen, <span class="antiqua">Siegfried
-et le Limousin</span>, von Jean Giraudoux, war nicht vollkommen.
-O nein, es hatte seine Fehler. Man durfte es ein
-wenig inkoherent nennen sogar. Aber jede Seite rührte
-und entzückte Geraldine. Denn regenbogenartig schlug hier
-eine Brücke auf, bebend schwang sie herüber, pulsierte,
-vibrierte, wie ein Regenbogen ephemär. So gehörte auch
-dies Buch einer anderen Wirklichkeit als die der Ereignisse
-an; und sie mißachtend, sie verachtend, irisierte über sie hin
-die Fülle des sich entziehenden, ach! des werbenden Auges ...
-</p>
-
-<p>
-Allein es war umsonst geschrieben, da niemand es in
-Deutschland las. Auch die anderen neuen Bücher enthielten
-kein gehässiges Wort mehr über „<span class="antiqua">les Allemands</span>“, aber
-sie waren umsonst geschrieben, da niemand sie in Deutschland
-las. Geraldine entsann sich der skeptischem aber so
-aufhorchenden, so gespannten Mienen ihrer Freunde in
-Paris, als sie ihnen von „jenen anderen Deutschen“ erzählte,
-von welchen nichts mehr bis zu ihnen gedrungen
-war. Ob auch einige wie mit Engelszungen hinüberriefen,
-man stellte sich ihnen taub, wenigstens solange sie lebten.
-Heute war es umgekehrt.
-</p>
-
-<p>
-Geraldine schlief mit dem Kopf auf dem offenen Buche
-ein, aber nicht lange; ihre Aufregung scheuchte sie auf, und
-sie las im Scheine ihrer blauen Lampe weiter.
-</p>
-
-<p>
-Als am nächsten Morgen der Chefarzt bei ihr eintrat,
-warf er einen Blick auf die Tabelle und ließ Sandsäcke
-<a id="page-85" class="pagenum" title="85"></a>
-herbeischaffen, in welchen Geraldines Bein wie in einen
-Schacht eingedämmt werden sollte, damit es sich nicht
-mehr bewege. Man schleppte sie wie etwas gar Wichtiges
-herbei. „Hier stimmt etwas nicht!“ dachte sie gequält. Die
-Ärzte umstanden sie ja, als ob ihre Gesundung eine wichtige
-Sache sei. Und das Stück von der gesitteten Weltordnung
-wurde hier gespielt, als wisse man nicht, wie es
-draußen zugeht. Aber sie selbst, spielte sie nicht mit? Ließ
-sie nicht alle fünf gerade sein? Nicht einmal nach dem
-Wetter mochte sie fragen, als ginge sie das alles nichts
-mehr an, als sei alles eins. Und nun? Und wie lange durfte
-sie noch ihrer beginnenden Unruhe, ihrer wachsenden Verwirrung
-wehren? Die Wirklichkeit. Ja sie war das entfallene
-Wort, der Faden, der gerissen war, an dem sie
-wieder anknüpfen mußte.
-</p>
-
-<p>
-In der Nacht fuhr sie an die Klingel, und die Stimme,
-mit der sie die herbeieilende Schwester unter Ächzen anflehte,
-sie aus dem eingestürzten Tunnel vorzuziehen, war
-wie ein heiserer Bariton. Es hatten sich aber nur die
-Sandsäcke verschoben, und mit ihrem Gewicht die Wunden
-beschwert. Vielleicht auch hatte sie nur geträumt. Allein
-die Schwester beruhigte sie, räumte die Säcke aus dem Weg,
-brachte ihr eisgekühltes Zitronenwasser und reichte ihr Morphium.
-Sie war mürbe und trug sich zart wie eine schwanke
-Wicke im Sommerwind, die ihren letzten Duft, ihre letzte
-Süße veratmet. „Welch ein Frühbeet von Schwestern!“
-dachte Geraldine. Und Guido die große Gärtnerin.
-</p>
-
-<p>
-Es gäbe vielleicht keine Ärzte in der Welt, wenn nicht so
-ziemlich jedermann seinen eigenen Arzt in seinem Innern
-<a id="page-86" class="pagenum" title="86"></a>
-hätte. Geraldinen war es am folgenden Morgen klar, daß
-es nur mehr wenig Tage bis zu ihrer Herstellung bedurfte.
-Bei ihrem Einzug in die Klinik richtete sie fürs erste an alle
-die Frage, wann sie wieder herauskommen würde, und
-gleich und auf die Stunde verlangte sie es zu wissen. Nun
-sie fast keine Schmerzen mehr hatte, erkannte sie mit einem
-Male, welche Ablenkung sie für sie gewesen waren, und sie
-vermißte sie; denn diese an sich waren ja auch eine Betäubung
-gewesen. Und ihr geschah wie dem flüggen Vogel,
-der wohl am liebsten noch einmal in seine Geborgenheit
-zurückkröche, bevor er den ersten Flug unternimmt. Draußen
-wartet seiner die Welt. Das Nest dagegen war ihr entzogen.
-So dieses Haus. Wie eine Arche zog es über die
-finsteren Wasser dahin und beruhte in sich. Bald mußte
-nun Geraldine aus seinem Schutze wieder hervor. Und sie
-verzagte. Sie bangte nach den wolkenlosen Tagen der Vergessenheit,
-der Palliative. Sie waren vorbei. Andere Wunden
-waren nunmehr wieder erwacht, unheilbare, die niemand
-verband, um derentwillen niemand sie bemitleidete,
-noch eine Blume schenkte oder sie umgab. Wie ein Himmel,
-der sich ganz verhängt, und von dem es dann unablässig
-niederrauscht, umzog sich Geraldinens Gemüt, und erst
-stoßweise, dann unaufhaltsam flossen ihre Tränen. Zwar
-konnte sie jederzeit innehalten, und wenn jemand bei ihr
-eintrat, ganz vernünftig schwätzen. Aber sobald sie allein
-war, setzte der Landregen wieder ein. Der Geruch der
-Speisen widerte sie mit jedem Tage stärker an, und sie
-weinte vor Ekel bei ihrem Anblick, ob sie auch hungrig
-zu sein vermeinte, bevor man sie ihr brachte. „Kaputt ist
-<a id="page-87" class="pagenum" title="87"></a>
-kaputt!“ sagte sie zur Schwester, die sich über ihre kaputten
-Nerven ausließ. Aber vor den alles sehenden Pupillen
-Guidos redete sie sich auf eine beunruhigende Äußerung
-heraus, die bei der Morgenvisite zwischen den Ärzten gefallen
-sei; sie habe sie deutlich gehört. Und sie rückte beiseite,
-damit Guido sich zu ihr setze, denn sie erbettelte jede
-Minute ihres Verweilens.
-</p>
-
-<p>
-Der Tag verebbte an den weißen Wänden ihres Zimmers,
-sie standen im Widerschein des umgoldeten Laubes, dann
-erbleichten sie wieder. Geraldine war schon für die Nacht
-gerichtet, hielt ihr heiles Knie umklammert und weinte.
-Die blaue Lampe warf ihren Schein. Niemand störte sie
-mehr. Da klopfte es an ihre Türe und Guido in Begleitung
-des Arztes trat herein. Er kam sie zu beruhigen:
-es handle sich nur um eine vorübergehende Phase und sie
-würde die Klinik bald verlassen können. Er erinnerte sie nicht
-daran, daß Schwerkranke in den angrenzenden Zimmern
-lagen, ohne Aussicht auf Genesung. Ein schwedischer Student
-war in der Nacht gestorben. Sie aber mußte noch so
-spät getröstet werden. Ihr Schuldbewußtsein machte sie
-befangen, sie wußte nicht, was sagen. Die französischen
-Neuerscheinungen lagen auf ihrer Decke gebreitet. Es war
-aber derselbe Arzt, der es abgelehnt hatte, sie zu lesen. Scharmante
-Bücher, bemerkte sie, doch ohne sie ihm noch einmal
-anzubieten. Doch als er sich jetzt anschickte zu gehen, bat sie
-mit einer winzigen Stimme um Morphium. Es wirkte nur
-langsam bei ihr, und bis dahin konnte sie bequem schluchzen.
-</p>
-
-<p>
-Fürwahr, sie hatte es gut. Selbst in der Nacht war
-dieses Zimmer freundlich: der weiße Tisch mit den lichten
-<a id="page-88" class="pagenum" title="88"></a>
-Messinghähnen für warm und kalt, wie sie es liebte; der
-magisch sanfte Schein des Seidenschirmes, wie blasser
-Rittersporn so blau. Die Birne war schwach, aber sie genügte
-gerade.
-</p>
-
-<p>
-Sie dachte an ermordete Freunde, an die grenzenlose
-Abgeschiedenheit ihrer letzten Augenblicke. Ja, das war die
-Wirklichkeit! Feige, feige Geraldine! Freunde, besser als sie,
-waren gegangen, früher als sie, und hatten ihr Tagewerk
-vollendet. Ihr war noch eine Frist gegeben. Nichts anderes
-als eine Frist bedeutete ihr Genesung.
-</p>
-
-<p>
-Geraldine hörte der Posaunen viele.
-</p>
-
-<p>
-Und dann genoß sie doch wieder die tröstliche, verbrecherische
-Schale der Vergessenheit, und es war alles eins.
-</p>
-
-<p>
-Jedoch derselbe Arzt kam tags darauf selbst auf das
-Thema zurück, und bevor sie ihrerseits sich dazu äußerte,
-überschlug sie im stillen, wie oft sie schon dasselbe gesagt
-hatte, sich, und gewiß auch andern zum Überdruß. Innerlich
-seufzend legte sie über „jene anderen Franzosen“ los, wie
-sie es drüben über „jene anderen Deutschen“ getan hatte.
-Es ist nicht mehr zum Anhören, dachte sie dabei. Denn
-das Wahre, das Rechte, das Richtige, es verträgt nicht unbeschadet
-die Geistlosigkeit ständiger Wiederholung. Diese
-schlägt vielmehr den widerlegbaren, den falschen Argumenten
-vortrefflich an, und entkräftet sie nie; ja sie ist das Geheimnis
-ihrer Wirkung: immerzu laut ausgerufen schlagen sie ein,
-und wuchern wie jedes andere Unkraut. Indessen sprach
-Geraldine von dem versöhnlichen Geist der Intellektuellen,
-den man unbeachtet ließ; wie unglücklich sind wir über so
-vieles gewesen, schloß sie mit schier lahmer Zunge, was
-<a id="page-89" class="pagenum" title="89"></a>
-unter unserem Namen geschah, und heute stellen wir uns
-unseren Gleichgesinnten gegenüber taub.
-</p>
-
-<p>
-„O wirklich?“ sagte er.
-</p>
-
-<p>
-Es war aber so ganz und gar derselbe aufhorchende Ausdruck,
-dieselbe Skepsis, dieselbe sensible Spannung im Auge,
-mit welcher auch ihre Pariser Freunde „<span class="antiqua">oh vraiment?</span>“ erwidert
-hatten, daß sie fürwahr nicht nur ein ähnliches,
-nein! ein identisches Gesicht vor sich sah. Und es war undenkbar,
-daß mit demselben verschütteten Gefühl, derselben
-verdrängten Schmerzlichkeit das „<span class="antiqua">oh really?</span>“ eines Engländers,
-auch des „deutschfreundlichsten“ gefallen wäre.
-Denn nicht Sympathie oder Abneigung sind hier, wie zwischen
-andern Völkern, das Hin und Her. Sondern Erotik
-oder der Haß der Geschlechter, die beseligende Flamme, oder
-der Atem des Teufels, der über sie hinbläst.
-</p>
-
-<p>
-Seit ihrer Krankheit wechselten ihre Anwandlungen
-schneller als das Licht. Was ließ sie jetzt in einer blauen,
-spiegelklaren Stimmung untergehen?
-</p>
-
-<p>
-Sie hatte unter ihren mitgenommenen Büchern die von
-Hofmannsthal Anno 1913 so schön und ahnungsvoll eingeleiteten
-Bände des „Deutschen Erzählers“. Ein paar
-Generationen alt und schon antik! Verwunschen, unerschöpflich,
-losgelöst! – Und aus ihrer Welt heraus, ebenso
-zeitfremd wie sie, war hier ein Deutscher, der Sache so
-ganz ihrer selbst willen ergeben, daß eine fühlbare Stille
-ihn umgab, die ihn allem Getriebe entzog. Schlecht oder
-recht dachte Geraldine, wie ist doch der Deutsche so gründlich!
-Er ist schlecht fast bis zur Pedanterie, seine Güte ist
-unwahrscheinlich. Dieser hier stand an der Spitze einer
-<a id="page-90" class="pagenum" title="90"></a>
-nunmehr so weit gediehenen Forschung, daß sicheren Todeskandidaten
-eine Anwartschaft, statt auf Rückfälle, auf
-ein neues Leben verliehen wurde. Da entsann sich Geraldine,
-was sie sich vorgenommen hatte, ihm zu sagen.
-„Mich faßt eine wilde Freude,“ sagte sie, „wenn ich an
-solche Verwirklichungen denke. Denn ein Deutschland als
-Wohltäter der Menschheit, welch ein Triumph wäre dies!
-Welch stolze Absage an seine Schuldigen! Welche Ehrung
-seiner Schuldlosen und seiner Geopferten! Welch einzig
-würdige Art, der Welt seine Leiden heimzuzahlen!“
-</p>
-
-<p>
-Utopien, dachte sie, als er draußen war, Utopien, und
-weinte in Strömen.
-</p>
-
-<p>
-Aber wie eine Bravourarie ging tags darauf das Ausziehen
-der Fäden vor sich. Rhythmisch flog die Schere durch
-die Luft und schoß wieder herab. Geraldine gab keinen Laut
-und staunte.
-</p>
-
-<p>
-Eine Woche später packte sie ihre Siebensachen mit
-Hilfe der Schwester, die französischen Neuerscheinungen
-obenauf. Dann besann sie sich auf Zahnschmerzen und bat
-um Morphium für die letzte Nacht. Im Schein der blauen
-Lampe war sie des Augenblicks gewärtig, wo sie sich entfliehen,
-noch einmal Urlaub von sich nehmen durfte. Wie
-ein alter Zwilchrock, der müde vom Nagel hängt, so harrte
-ja ihr abgelegtes Sein, daß sie es wieder überzog. Nur einmal
-noch wollte sie das Fest der Trennung von ihm feiern.
-Als Kind hatte sie sich an Erwachsene geklammert mit der
-Frage, ob man denn sein ganzes Leben sich selber bleiben
-müsse, ohne jemals von sich fort zu können, ohne je
-andere sein zu dürfen. Ihr früher Wunsch war wohl ein
-<a id="page-91" class="pagenum" title="91"></a>
-Vorgefühl, in welche Zeit ihr Ich hineinwachsen, welche Last
-es ihr aufbürden würde. Allein die Möglichkeit, die damals
-verneinte, die gab es dennoch. Schon rauschten ihr
-die Fittiche entgegen; das Leben war eine holde Landschaft,
-von verlockenden Linien; Fernen, sie nicht mehr betreffend,
-nahmen die beiden Länder ihres Herzens auf, deren Not
-war an Ereignisse gebunden, vergänglich wie sie selbst. In
-ihrer Wonne ließ sie sich gleiten. Sie sah Gras wachsen
-über ihr eigenes Grab, und es war alles eins.
-</p>
-
-<p>
-Aber dein Kopf liegt in den Kissen schwer zurückgeworfen,
-Geraldine, und dein Gesicht ist fahl, derweil du dir enteilst,
-melodischen Ufern entlang, geäugt von Vögeln, deren
-Staunen Schleier der Lust in deine erinnerungslosen Augen
-treibt. Sie sind nicht dein! Und dies ist nicht das Leben,
-sondern dein Erwachen, und dein Wissen um die Außenwelt.
-</p>
-
-<p>
-Und tags darauf nahm sie Abschied. Und Guido geleitete
-sie hinab zu dem offenen Tor, durch das ein Stück
-Himmel hereinsah. Und wie die Taube, der Arche entsandt,
-die vergebens spähte, ob die Wasser noch nicht fielen, und
-die nicht wiederkehrte, so flog sie aus.
-</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="chapter" id="chapter-0-6">
-<a id="page-93" class="pagenum" title="93"></a>
-Der Geiz
-</h2>
-
-</div>
-
-<p class="pbb first">
-<a id="page-95" class="pagenum" title="95"></a>
-<span class="antiqua"><span class="firstchar">A</span><span class="postfirstchar">vec</span> la richesse commence l’avarice</span>, sagt Balzac
-in seinen <span class="antiqua">Illusions perdues</span>.
-</p>
-
-<p>
-Der Geiz scheint jedoch nicht zur Beobachtung zu reizen,
-und außer Molière und Schopenhauer haben sich nur die
-allerwenigsten mit diesem hochinteressanten Laster eingehend
-befaßt. Auch soll hier keineswegs von seinen ungeheuerlichen
-Auswüchsen die Rede sein, sondern vom Geiz
-in seinem normalen Verlauf, wie die Ärzte sagen.
-</p>
-
-<p>
-Vor allen Dingen glaube man nicht, das Geld sei etwas
-Totes. Es ist ganz Wahlverwandtschaft, ganz Antipathie,
-ganz Selbsterhaltungstrieb, ganz „Seele“ (auf seine Art).
-Ja, dem Gelde entströmen atmosphärische Schichten, die
-sich in feine, aber undurchsichtige Schleier zerteilen, um sich
-über das Gemüt des Reichen zu lagern. Es ist, als schöbe
-sich ein Milchglas trennend zwischen ihn und seine Welt.
-Mag der Trinker vom Weine noch so sehr umnebelt sein:
-daß er ein Trinker ist, darüber ist er sich klar. Der Lügner
-weiß von seiner Verlogenheit, der Zornige von seinem Haß.
-Aber der Geiz spinnt so feine und undeutliche Fäden, daß
-der von ihm Betroffene ganz im unklaren über sich selbst
-verbleiben darf. Dem Geizigen steht überdies ein Überfluß
-an Mänteln und Mäntelchen zu Gebote, die ihm sein
-Spiegelbild bis zur Unkenntlichkeit maskieren, wobei immer
-nur er selbst, niemals die anderen über seine wahren Züge
-mystifiziert werden. Man denke sich die Freudsche Methode,
-<a id="page-96" class="pagenum" title="96"></a>
-die meist einer sinnwidrigen Anwendung verfällt, einmal
-auf verhärtete Geizhälse angewandt. Einer psychoanalytischen
-Behandlung unterzogen, würden diese Patienten am
-Ende gar kuriert vor Schreck über die Entdeckungen, welche
-sie an sich selber zu machen hätten.
-</p>
-
-<p>
-Ein Grund ihres Selbstbetruges liegt darin, daß sie nicht
-selten mit Vorliebe geben; ja Geschenke zu machen – freilich
-niemals entsprechende – kann bei dem Geizigen fast zur
-Marotte werden. Denn er weiß so gut wie ein anderer,
-daß Geben seliger ist als Nehmen, und er hat es so gut
-wie der Freigebige an sich erfahren. Und weil er auch –
-denn er will alles haben – des Gebens froh werden will,
-gibt er nochmal aus seinem Geiz und seiner Habgier heraus.
-Und darum schenkt auch er. Aber dabei rächt sich alsbald
-sein Laster an ihm und bindet seine Hände, daß er nicht
-freigebig, d. h. nicht frei wird zu geben wie er möchte,
-und schließt ihn wie mit eisernen Fäden in immer engere
-Gefangenschaft, bis seine Miene den inneren Bann, dem
-er verfiel, auch äußerlich verrät.
-</p>
-
-<p>
-Wer wollte denn auch leugnen, daß geizige Leute häufig
-zu bedauern sind, und zwar je mehr sie sich bereichern, da
-ein Zuwachs ihrer Habe eine Verhärtung ihres Geizes unerbittlich
-zur Folge hat. Wobei ihm die fremde Schlechtigkeit
-vielfach Grund für sein Verhalten zu bieten scheint.
-Denn ein sehr reicher Mensch ist ja schlechten Erfahrungen
-in schlimmster Weise ausgesetzt. Die anständigen Leute
-werden es nicht sein, die sich an ihn herandrängen –
-seine guten Erfahrungen bleiben somit negativ –, während
-er die miserabelste Sorte aus nächster Nähe kennenlernt.
-<a id="page-97" class="pagenum" title="97"></a>
-Kein Wunder, daß manch vertrauendes und großmütiges
-Herz karg und mißtrauisch wurde. Es kommt unversehens.
-Der Geiz hat eine unheimlich schnelle Reife. Dann aber
-läßt er seine Opfer nicht mehr los. Er hat nur eine aufsteigende
-Linie. Er kennt keinen Verfall und er kann nicht
-sterben.
-</p>
-
-<p>
-Das Trübseligste erlebte ich einmal auf der Reise von
-seiten einer alten, kinderlosen Dame, deren Nichte mich gebeten
-hatte, ihr Nachricht zukommen zu lassen, denn die
-Greisin schien sich um ihre sämtliche Verwandtschaft nicht
-mehr viel zu kümmern. Sie lebte fern von ihr in einer
-fremden Stadt, und hatte es glücklich auf sechsundachtzig
-Jahre und fünfzig Millionen gebracht. Ich traf sie in ihrem
-wundervollen Haus, umgeben von Bildern und Schätzen.
-– In ihrem Lehnstuhl vergraben, klagte sie, daß ihr das
-Schreiben schwer fiele und erkundigte sich alsbald mit
-wärmster Anteilnahme nach der Schar ihrer Nichten,
-Groß- und Urgroßnichten, insbesondere nach einer gewissen
-„Hertha“, ihrem Patchen, das sie am innigsten
-liebte. Um die handelte es sich eben. Ich malte also die
-blasse Schönheit dieser Hertha in den leuchtendsten Farben
-hin und erzählte sodann, daß die Ärzte einen längeren
-Aufenthalt in Ägypten sehr ratsam für sie hielten.
-</p>
-
-<p>
-„Ja mein Gott,“ forschte sie ganz bestürzt und voll aufrichtiger
-Besorgnis, „wird sich denn das pekuniär machen
-lassen?“
-</p>
-
-<p>
-„Schwer“, erwiderte ich.
-</p>
-
-<p>
-Mehr zu sagen stand mir natürlich nicht zu. Derselbe
-Gedanke war zwar gleichzeitig in uns aufgestiegen; aber
-<a id="page-98" class="pagenum" title="98"></a>
-nichts von Unentschlossenheit malte sich in dem Gesicht
-der Greisin – viele Jahre früher hätte sie wohl gezaudert
-–, doch nur Schatten des Grams breiteten sich über
-ihr melancholisches Gesicht.
-</p>
-
-<p>
-Seufzend sprach sie jetzt von ihrem nahen Tode, von
-der Verlassenheit und den Enttäuschungen eines zu langen
-Lebens. Während wir uns unterhielten, trat die Jungfer
-ein und fragte leise, ob sie das Töchterchen des Kutschers,
-das heute das Haus verließ und in die Lehre zog, einen
-Augenblick einlassen dürfe. Die alte Dame empfing das
-Kind voll Güte und Wohlwollen, und als es dann schied,
-hielt sie es noch einmal zurück. Schränke, Kisten und
-Truhen wurden nun durchgesehen, aufgeschlossen und
-dann wieder abgesperrt. Ein Heer weißer Schachteln in
-Seidenpapier, umwickelte Päckchen und Pakete kamen
-dabei zum Vorschein. Aber sie zog bald diese, bald jene
-Schieblade zu Rat, ohne sich entscheiden zu können. Die
-Kleine stand indes mitten im Zimmer und wartete, wie
-man es ihr gesagt hatte. Plötzlich flog ein Schein, eine
-schnelle Röte über ihr Gesicht. Gleich darauf wandte sie
-erblassend den Blick nach der anderen Seite hin. Aber ich
-war ihm schon gefolgt und gewahrte ein schwarzes Ledertäschchen,
-das die Greisin gerade in Händen hielt, öffnete
-und untersuchte. Innen mit dunkelroter Seide ausstaffiert
-und mit Nähutensilien angefüllt, zugleich verschiedene
-Fächer enthaltend, war es wohl der kühnste Traum von
-einem Täschchen für eine kleine Nähmamsell; im übrigen
-nichts Kostbares, sondern ein schöner Dutzendartikel aus
-einem Warenhaus. Aber nicht lange, und die Besitzerin
-<a id="page-99" class="pagenum" title="99"></a>
-hüllte es wieder ein. Ihre Hände waren gebunden, und
-sie konnte das Täschchen, das um eine Idee zu schön für
-die Kleine war, nicht spenden. Diese stand unbeweglich
-mitten im Zimmer, aber der Strahl in ihren Augen war
-erloschen. Die Alte kramte indes in einem anderen Fach
-und zog ein silbernes Armband hervor, auf dem „Gott
-mit dir“ in schwarzen Lettern eingetragen war, und damit
-entließ sie das enttäuschte Kind.
-</p>
-
-<p>
-Die Geberin saß nun wieder in ihrem Lehnstuhl zusammengesunken
-und schaute mit einem blassen, vergrämten
-Gesicht vor sich hin. Ein Fest war ja der kleine Zwischenfall
-mit dem häßlichen Armband, darauf „Gott mit dir“
-in schwarzen Lettern prangte, für niemanden gewesen, und
-ein gesteigertes Bewußtsein hatte sich der Spenderin unmöglich
-mitteilen können, vielmehr die Öde des Ereignislosen.
-Es hatte sich nichts ereignet. Die Kleine war nur um eine
-gewaltige Freude betrogen worden, und die Alte, die gern
-Freude bereitete, wußte es genau; und wußte ebensowohl,
-daß sie niemals anders verfahren würde, selbst wenn sie
-das Kind noch einmal zurückriefe. Nebenan hub jetzt ein
-Papagei, von der kleinen Passantin aufgeschreckt, zu
-schreien und über die Unerfreulichkeit der Welt zu schimpfen
-an. Schräge Strahlen ergossen sich durch die weit geöffneten
-Fenster (die größten der Stadt) und über die
-prachtvoll weichen Farben der Teppiche, die Leuchter aus
-altem Kristall, die goldumränderten Schalen und silbernen
-Dosen. Dennoch lag etwas Drückendes, in seiner Öde unerträglich
-Akzentuiertes, ja Unheimliches in der Atmosphäre
-dieses Raumes. Und plötzlich war mir, als befände
-<a id="page-100" class="pagenum" title="100"></a>
-ich mich ganz allein, als sei die halb erloschene Frau vor
-mir schon verblichen und nur mehr ein Schemen. Es fehlte
-so wenig! All die Päckchen und Pakete, die sich in tadelloser
-Ordnung in ihren Kästen und Truhen häuften, waren
-schon fast herrenlos. Und nicht die kleine Nähmamsell,
-nicht einmal die Nichte Hertha schien mir mit einem Male
-beklagenswert, sondern die sonst so kluge, ja sympathische,
-die unbegreifliche alte Dame, die rettungslos in die Falle
-geraten war, welche der Geiz den Besitzenden stellt.
-</p>
-
-<p>
-Sie starb bald darauf. Und da ihr Geiz eine lange Geschichte
-hatte, ragte er denn auch weit über ihr Leben hinaus.
-Sie hinterließ ihr Vermögen ihren <em>reichen</em> Verwandten,
-den weniger bemittelten, der Großnichte Hertha,
-die ihrem Herzen so nahe stand, unbedeutende Legate.
-</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="chapter" id="chapter-0-7">
-<a id="page-101" class="pagenum" title="101"></a>
-Schiffahrt und Eisenbahn
-</h2>
-
-</div>
-
-<p class="pbb first">
-<a id="page-103" class="pagenum" title="103"></a>
-<span class="firstchar">W</span><span class="postfirstchar">ie</span> behaglich, wie menschenwürdig hat sich unsere
-Schiffahrt ausgebildet; wie stolz setzen wir über
-das Meer, aber wie barbarisch fahren wir noch Eisenbahn.
-Unser größter Wohltäter wäre der, welcher frei
-nach Pullman einen neuen Typ unserer Eisenbahnwagen
-einführte. Aber würden die zuständigen Generaldirektionen
-die leiseste Notiz davon nehmen? – Hat je
-vor mir einer den Plan eines Generalstreikes der Eisenbahnpassagiere
-gefaßt? Nein. Wir lassen uns in den
-stets überfüllten Zügen wahllos wie Herdentiere zusammendrängen
-und zahlen und überzahlen die unverschämte
-Tortur.
-</p>
-
-<p>
-Oder sitzen wir etwa <em>nicht</em> wie Böcke und Schafe
-stunden- und tagelang in einer verrußten, vergifteten
-Luft – mit einer Platzkarte gezeichnet, wie Hammel mit
-einem Kreuz? Nur die rachsüchtige Hoffnung im Herzen,
-unsere Leidensgefährten (welche die Eckplätze innehaben)
-möchten doch so töricht oder so unerfahren sein, sich in jene
-andere Vorhölle: den Speisewagen, zu begeben, woselbst
-ein wüster Dunst, übel wie eine Seekrankheit, regiert. Und
-sind wir endlich allein, so stürzen wir ans Fenster, um Luft,
-und wäre sie noch so eisig, hereinzulassen. Aber wir bringen
-es nicht auf. Wir rufen den Gefängniswärter: er bringt
-es auch nicht auf. Das Holz sei aufgequollen, bemerkt er
-und geht. Nicht lange, und die anderen Sträflinge kehren
-<a id="page-104" class="pagenum" title="104"></a>
-zurück. Man nimmt also wieder mit stechendem Kopfweh
-seinen Rückplatz ein und hat bald darauf die unmittelbare
-Aussicht auf zwei vom Schlaf überwältigte ältere
-Herren.
-</p>
-
-<p>
-Sie sind nicht schön.
-</p>
-
-<p>
-Endlich – ich spezialisiere schon; ach es liegt so nahe! –
-ist das Licht dieses mühseligen Tages gesunken. Aber der
-Lampenschein ist nur ein trübes Geblinzel in dieser Luft!
-Und noch fünf Stunden. Das heißt, man wird nie ankommen.
-Man wird es nicht erleben. Hannover! – Die
-schlummernden Gebrüder fahren auf, greifen nach ihren
-Taschen und fort! – Oh! – Ich bin allein mit einem
-jungen und scharmanten Mädchen. Wir wissen nichts voneinander,
-aber die gemeinsame Plage hat uns längst zu
-Verbündeten gemacht. Sie erzählt mir, daß sie soeben einen
-Krankenkursus absolviert. Sie hat einen Apfel, ich gebe ihr
-ein Messer; sie reicht mir ein Aspirin. „Aber Sie müssen
-sich hinlegen,“ sagt sie, „sonst wirkt es nicht.“ Sie reißt
-die oberen Klappen auf und verhängt das Licht, und wir
-strecken uns der Länge nach aus. „O Gott, Schwester,“
-rufe ich aus, „dies ist viel zu schön. Es kann nicht dauern!“
-Aber sie tröstet mich, daß der Zug vor Hamburg nicht
-mehr hält. Da wird – bang! – die Tür aufgerissen
-und eine Blendlaterne grell vor unsere Augen gehalten.
-Es ist der Kerkermeister, der sich umsieht wie einer, der
-hier zu Hause ist, dann die Tür zuschlägt und wieder
-verschwindet.
-</p>
-
-<p>
-Dem ist etwas nicht recht, meinten wir bescheiden und
-einigten uns über ein Trinkgeld, falls er wiederkäme.
-<a id="page-105" class="pagenum" title="105"></a>
-Wir fingen schon an, unsere Ruhe und das Dunkel wieder
-zu genießen, als die Tür lärmend aufgerissen wurde und
-Kerkermeister und Laterne uns von neuem aufschreckten.
-Gebieterisch verlangte er (wie oft denn noch) nach unseren
-Billetten. Ich reichte ihm das meinige zugleich mit einem
-Zweimarkstück entgegen. „Wieso? Was soll dieses Geld?“
-herrschte er. „Daß Sie uns nicht immer stören sollen, weil
-wir müde sind.“ „Sie haben ja“ – tat er sehr überrascht –
-„ein Billett zweiter Klasse und sind hier in der ersten.“ „Das
-wissen Sie so gut wie ich. Ich wurde hierher verwiesen,
-weil alles überfüllt ist.“ „Das gilt nur, solange wirklich
-kein Platz ist“, bestimmte er. „In Hannover sind mehrere
-Personen ausgestiegen. Ich werde gleich nachsehen, ob
-etwas frei geworden ist. Dann müssen Sie hinüber.“ Er
-schlug die Tür zu und ging. „Gibt es Worte!“ rief die
-Schwester empört. „Wir sind hier im Lande der häßlichen
-Briefmarken“, sagte ich, vor Wut zitternd. „Paßt so viel
-Gemeinheit nicht wundervoll zur Schreibweise der Worte
-‚Soße‘ und ‚Büro‘?“ Dabei stand der Laternenkerl schon
-wieder unter der Tür. „So,“ meinte er im Tone des Vorgesetzten,
-„drüben ist Platz“, und machte sich anheischig,
-nach meinem Gepäck zu greifen. „Zurück!“ schrie ich wie
-eine Wilde. „Dann zahlen Sie die erste Klasse nach“,
-sagte er erschrocken. „Nein, keinen Pfennig!“ schrie ich,
-denn mein Zorn kochte jetzt wie auf einem Schnellsieder.
-„Aber morgen“, schrie ich, „steht diese Geschichte in allen
-Blättern; es stehen mir alle Blätter,“ log ich schreiend,
-„alle Blätter Deutschlands stehen mir zu Gebote.“ Ich
-fand eine sehr dramatische Geste, und der Mann fuhr vor
-<a id="page-106" class="pagenum" title="106"></a>
-meinen Megärenaugen betreten zurück. „Ach was, meinetwegen
-bleiben Sie, wo Sie wollen“, sagte er. „Jawohl!“
-schrie ich, und meine Börse öffnend, warf ich das ihm zugedachte
-Geldstück ostentativ wieder hinein. Dies imponierte
-ihm vollends. Er schlug zwar die Tür noch einmal
-zu (dies war seine Natur), jedoch blicken ließ er sich nicht
-mehr.
-</p>
-
-<p>
-„Sind Sie Schauspielerin?“ fragte mich meine Gefährtin
-voll Bewunderung.
-</p>
-
-<p>
-Aber ich sank erschöpft zurück.
-</p>
-
-<p>
-Diese eine gröbliche Geschichte greife ich nur deshalb
-mit Vorliebe heraus, weil ich merkwürdigerweise nicht den
-Kürzeren dabei zog. Die anderen Geschichten erzähle ich
-nur auf speziellen Wunsch, weil ich mich zu sehr dabei aufrege.
-Und wer sie auch für erdichtet hielte, würde sie doch
-nie für übertrieben erklären. Wir fahren heute lieber auf
-dem längsten Seeweg nach England, lieber vierundzwanzig
-Stunden lang die ganze Küste entlang zu Schiff, um der
-möglichen Drangsal einer zehnstündigen Bahnfahrt zu
-entgehen; und wer all die Eventualitäten des Winter- und
-Sommerfahrplans auf der Strecke München-Ostende oder
-Vlissingen erprobte, der zieht es vor, sich allen Meeresstürmen
-und dem dichtesten Nebel auszusetzen und einen
-ganzen Tag und eine Nacht länger unterwegs zu sein. Daß
-die Schiffahrtsgesellschaften bei täglich wachsender Konkurrenz
-so emporblühen und ihre Bureaux (ich schreibe es
-so) in allen Städten aufschlagen und daß der Zulauf sich
-immer steigert, geschieht nicht nur, weil die Schiffe so
-prächtig geworden sind, sondern weil das Eisenbahnfahren
-<a id="page-107" class="pagenum" title="107"></a>
-mit jedem Jahr unerfreulicher und mühsamer wird und
-hier statt des Fortschritts eine immer größere Nachlässigkeit
-waltet. Nur die Preise sind gestiegen. Aber es ist, als
-führe man geschenkt. Die armen Ausflügler, die an Feiertagen
-zu ihren unzureichenden Zügen strömen, angebrüllt,
-zurück- und zurechtgewiesen werden, sind ein Kapitel für
-sich. Sich darüber zu beschweren, überlasse ich denen, welche
-noch den Mut besitzen, Sonntag über Land zu fahren und
-durch Lösung einer Fahrkarte das Recht auf anständige
-Behandlung einzubüßen. Natürlich gibt es viele Schaffner,
-die höflich und gefällig sind. Unwürdig ist nur die Tatsache,
-daß Wohl und Wehe des Reisenden von der Gemütsverfassung,
-der Laune und dem Naturell der Diensthabenden
-abhängig sind. Sinnen und Trachten unserer Generaldirektionen
-gehen dahin, möglichst große, umständliche,
-protzige und unnötige Bahnhöfe (die Bahnzüge sind ihnen
-egal!) zu errichten. <em>Unnötig</em>: Diese Behauptung ist mitnichten
-so unverständig, wie die Herren Bahninspektoren
-und Oberbauräte es möchten. Wenn sie notwendig sind,
-warum stehen sie nirgends in dem praktischen England?
-Warum stehen sie nicht in Paris? Warum bleiben sie in
-London auf ihre einfachste Form erhalten? Warum sind
-sie dort nur weite Hallen, die nur von einem ewigen Kommen
-und Gehen atmen – nur praktisch – nur zweckmäßig
-und trotzdem und gerade deshalb von einer starken, beschwingten
-Atmosphäre von klassischer Einfachheit, und
-deshalb schön.
-</p>
-
-<p>
-Kürzlich mußte ich in Leipzig den Nachtzug nehmen.
-Der Bahnhof – der Stolz des Sachsenlandes – ist groß
-<a id="page-108" class="pagenum" title="108"></a>
-wie ein Marktflecken, und ich könnte mir so gut vorstellen,
-wie hier ein Massenkostümfest veranstaltet würde, nicht
-aus den besten Kreisen, aber üppig, mit großen Palmenarrangements.
-Ich bitte Sie, all die Treppen, das schöne
-Auf und Ab, wie geeignet! Nun – ich warte also auf
-Bahnsteig vier auf den Berliner Zug. Er lief verspätet in
-die großartige Halle ein, und war vollkommen überfüllt.
-Wir standen geduldig und übernächtig auf der Plattform
-wie ein Rudel Landstreicher, die zu warten haben,
-bis man sie abschiebt. Plötzlich, wie von hoher Brücke
-herab, der stolze Kommandoruf: Wagen werden keine angehängt!
-Es herrschte der gewöhnliche Kriegszustand. Ich
-wurde in einem Halbcoupé einem alten Sachsen zugesellt.
-Als nach einer Weile der Schaffner erschien und ich ihn
-fragte, ob denn nirgends Platz sei, schlug er die Tür zu,
-ohne mich einer Antwort zu würdigen. „Von dem erwarten
-Sie ja nichts!“ rief der alte Herr. „Das Subjekt kenne
-ich. Er war eine Zeitlang in meinem Geschäft angestellt,
-aber ich mußte ihn schleunigst entlassen.“
-</p>
-
-<p>
-Es gelang uns mit vereinten Kräften, das Fenster zu
-öffnen, aber vor dem Ruß, der uns entgegenflog, zogen
-wir es alsbald wieder in die Höhe. Wir stellten die Heizung
-auf kalt, wobei es immer wärmer wurde. „Ich bin schon
-alt“, sagte er plötzlich, „und werde nicht mehr viel Eisenbahn
-fahren. Das ist aber auch das letzte, worum ich die
-Lebendigen beneiden werde.“
-</p>
-
-<p>
-Nun – eine solche zehnstündige Fahrt, um die kein
-Toter mich beneidet hätte, lag unmittelbar hinter mir, als
-ich in Cuxhaven, unter einem flockigen Himmel, von Möwen
-<a id="page-109" class="pagenum" title="109"></a>
-umkreist, die hohe Brücke eines Dampfers bestieg. Der
-Kontrast zwischen dem Aufschwung unseres Schiffsbaus
-und der Rückständigkeit unserer Eisenbahnen hat etwas
-Überwältigendes; man ist auf den Eindruck nicht vorbereitet.
-Es ist ja nicht der Luxus, der uns erstaunt. Mein
-Gott, den findet man heute mehr oder minder in jedem
-Hotel, und er hat den Reiz der Neuheit schon so sehr verloren,
-daß ich mich fragte, ob er sich in der gegenwärtigen
-Form noch lange halten wird. Und da ich mir nun schon
-einmal das Kapitel der Anregungen gestatte: Wäre es
-nicht schön, den ganzen Aufwand neuen Bahnen zuzuleiten
-und einmal ein wirklich gutes Orchester und große
-Musik auf einem so würdigen Boden, wie den eines großen
-Dampfers zu lancieren? Das Meer ist eine unvergleichliche
-Konzerthalle!
-</p>
-
-<p>
-Nicht die kostbare Ausstattung des Schiffes, sondern
-daß wir stimmungsvolle, lauschige Zimmer statt der engen
-Kabine beziehen, sondern daß wir einen Kilometer zurückgelegt
-haben, wenn wir dreimal das Deck umgehen, der
-Luxus des <em>Raums</em>, das ist es, was uns hier ergreift.
-Jeder Fußbreit mehr, der sich hier dem Element widersetzt,
-das ist es, was imponiert! Drinnen im Binnenlande begreift
-man nicht recht, bevor man es erfuhr, warum ein
-Schiff so groß sein soll. Erst wenn man darauf hinzog,
-versteht man den Sinn dieser großen, immer größeren
-Häuser, in welchen man des Schiffes immerzu vergißt.
-Wir ahnen nicht vorher, mit welcher Rührung wir uns
-besinnen werden, wenn uns in mitternächtlicher Stille
-ein dumpfes, kaum wahrnehmbares, wie unterirdisch
-<a id="page-110" class="pagenum" title="110"></a>
-wachsames Treiben die Augen aufschlagen läßt, und ein
-Ruck, ein sanft harmonisches Rauschen uns daran erinnert,
-daß nicht Straßen noch Plätze, nicht Gras noch Baum vor
-dem Fenster im Winde stehen, sondern das nasse, leere Feld
-des furchtbaren, feindseligen Gottes, auf welchem dies ungeheure,
-beladene Schiff zur winzigen Nußschale schwindet.
-Aber eine Nußschale, die uns das Gefühl höchster Geborgenheit
-mitzuteilen weiß, und an welcher Menschenhände so
-lange und so kundig bildeten, bis sie, allen Stürmen gewachsen,
-endlich den Begriff des Schiffes selber überwand.
-So ist hier der Zauber aus dem Kontrast von Größe und
-Kleinheit gewoben, und mit innerem Jubel kreisen wir
-immer wieder um das weite Deck dieser schwimmenden
-Arche, des Spiels nicht müde, so groß ist die Romantik
-dieser kleinen, armseligen, rastlos dahingemähten, dieser so
-kühnen, prometheischen Menschheit, und so stark sind hier
-die Perspektiven, daß wir plötzlich, wie selbst aus ihr hinausgerückt,
-von Bewunderung hingerissen vor ihr stehen.
-</p>
-
-<p class="tb">
-&nbsp;
-</p>
-
-<p class="noindent">
-Da wir von Perspektive und von Romantik sprechen,
-treten wir doch bitte einen Schritt zurück, kneifen wir ein
-Auge zu, und sehen wir ins Leere, in die Ferne; dorthin,
-wo sich über den Fluß die massive Brücke schwingt. Denn
-nicht lange, und der Schnellzug saust plötzlich darüberhin,
-aus dem Hals der Lokomotive windet sich ein brauner
-Rauch zur krausen Barocksäule empor, und die locker aneinandergeschmiedeten
-Wagen rollen fröhlich mit lautem,
-schnell verhallendem Geräusch und wie ein gefährliches
-<a id="page-111" class="pagenum" title="111"></a>
-Spielzeug vorbei. Ein kurzer Pfiff, wie ein Angstschrei, und
-nichts ist mehr, als die schwarze Wölbung eines Tunnels,
-durch die sie geradewegs ins Innere des Felsens drangen.
-Und nun meine Zeitgenossen, bitte ich Sie: Ist die Ritterburg,
-deren efeuumrankter Turm vom Berge niederschaut,
-suggestiver? Kann sie unserer Phantasie die Seele
-eines Zeitalters mächtiger, unmittelbarer entgegenhalten,
-wie der soeben vorübergerauschte Zug, dessen Fenster wir
-einen Augenblick in der Sonne flimmern sahen? Fühlen
-wir uns da nicht blitzschnell den vielfachen Existenzen ein,
-die er dahinträgt, reißt er da nicht unsere Teilnahme zu
-Schemen des Lebens hin, vertraut und unbekannt – verklungen
-schon, wie angesichts des verwitterten Burgtores
-das Bild des Jagdtrosses, der über die Zugbrücke lärmte;
-melancholischer auch in der zerrinnenden Vielfältigkeit seiner
-steigenden und fallenden Linien. Denn wie Lose in einer
-Urne sind unsere Leben in jener kleinen Eisenbahn zusammengeworfen.
-Wieviel vergrämte, bekümmerte und
-schwere Herzen trug sie nicht schon dahin! Wieviel Verliebte
-starrten schon durch ihre Scheiben in die fliehende
-Gegend hinaus und erfaßten mit magischer Schärfe den
-Baum, den zuckenden Steg, Dörflein und Wald, während
-sie doch nur das Bild der Kreatur, an die sie dachten, vor
-Augen hatten! Verträumte Flammen des Hoffens, der
-Illusion, von der Bewegung gefächelt, wie Blumen, die
-im Zephir stehen. Es ist eine Zeit, es ist ihr bewegter, ruheloser
-Schild, der nachts als funkelnde Schlange mit runden,
-feurigen Drachenaugen seinen Weg erkannt und viel
-Romantik in sich verdichtet. Und es ist, als sei nichts klein,
-<a id="page-112" class="pagenum" title="112"></a>
-als sei alles interessant an den Wesen und ihren Schicksalen,
-solange die Bahn sie hinträgt und gleichsam dem
-Alltag entreißt. Nur daß sie noch nicht, wie die viel besungene
-Burg, ihren Dichter gefunden hat, die eilige Besiegerin
-der Fernen, die, rastlos, immer auf der Flucht,
-unsere Epoche gestaltet, deren Schienen unsere Welt aufackerten
-und uns erst zu eigen machten.
-</p>
-
-<p>
-Und ein Ding, so verlockend anzusehen, unterhält so
-wüste Möglichkeiten; einer so glorreichen Erfindung sollte
-jener Fortschritt verwehrt bleiben, der sich heute auf allen
-Gebieten des äußeren Lebens – von dem fabelhaften Aufschwung
-unseres Schiffahrtwesens nicht zu reden – so
-glücklich geltend macht. Man fährt schon in Rußland
-und auf der transsibirischen Eisenbahn sehr angenehm –
-es ist also möglich. Warum sollten wir hier nicht auch
-wie in so vielem Vorbildliches stellen? Wie schön,
-welche Freude wären die Eisenbahnwagen, die einmal
-ein Künstler wie Adolf Hildebrand entwarf. – Wo
-sind sie?
-</p>
-
-<p>
-„Aber“, sagte mir kopfschüttelnd, mit erhobenem Finger,
-ein mehrfacher Aufsichtsrat, „sehen Sie denn nicht ein, daß
-die kolossalen Anstrengungen, welche von seiten der Schiffsagenturen
-zur Hebung desselben geschehen sind, absolut
-notwendig waren, um das Verkehrsmittel überhaupt in
-Schwung zu bringen, und daß es ohne die rücksichtsvolle
-Behandlung der Passagiere, welche Sie so sehr rühmen,
-niemals florieren könnte, während unsere Eisenbahnen –
-ob nun etwas für sie geschieht oder nicht, und mögen sie
-noch so rückständig bleiben, ja noch unerträglicher werden –
-<a id="page-113" class="pagenum" title="113"></a>
-einen stets wachsenden Zudrang erfahren werden, da es
-kein anderes großes Verkehrsmittel <em>gibt</em> – es sei denn
-das Auto oder der Luxuszug, der ja auch“, schloß er zutreffend
-und mit einem süffisanten Lächeln, „mehr oder
-minder nur für Autobesitzer (er war selbst einer) in Betracht
-kommt.“
-</p>
-
-<p>
-Nun möchte ich nur, wiewohl vergebens, unsere Herren
-Eisenbahnminister fragen, ob dies ein anständiges Argument
-war.
-</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="chapter" id="chapter-0-8">
-<a id="page-115" class="pagenum" title="115"></a>
-Donaueschingen
-im Sommer 1923
-</h2>
-
-</div>
-
-<h3 class="section pbb" id="subchap-0-8-1">
-<a id="page-117" class="pagenum" title="117"></a>
-I
-</h3>
-
-<p class="first">
-<span class="firstchar">I</span><span class="postfirstchar">ch</span> glaubte es meinem Interesse für die Musik schuldig
-zu sein, daß ich nach Donaueschingen fuhr. Die Hitze
-war mörderisch, die Züge so überfüllt, wie sie nur hart vor
-einer Tariferhöhung zu sein pflegten. Der Rauch billiger
-Zigarren mischte sich in den herrschenden Dunst. Tief verdrossen
-saß ich in der Dichterklasse. Wo sonst? Zum Lesen
-war es zu dunkel in der einbrechenden Nacht, die Beleuchtung
-spärlich wie für Sträflinge, und alles winterlich
-trübe bis auf die Hitze.
-</p>
-
-<p>
-In Titisee wurde die Tür aufgerissen, und es quetschten
-sich noch zwei junge Leute herein: der eine war blaß und
-mickerig: erster Handlungsgehilfe, letzter Bankbeamter,
-man wußte nicht recht. Auch beim andern nicht, dessen
-hübsches, rundes und zierliches Gesicht bunt war wie eine
-Forelle.
-</p>
-
-<p>
-„Sie Lümmel!“ sagte er plötzlich zu dem bläßlichen
-Handlungsgehilfen oder Schaltervolontär. „Sie Lümmel!
-So ein Lümmel!“ Man horchte auf. Denn welch ein überraschender
-Wohlklang, welch bezauberndes Organ! War
-er wenigstens ein kommender Bühnenstar, wartete seiner
-wenigstens ein Ruf aus der Großstadt? Er sprach das
-reizendste und geschmeidigste Deutsch, aber so blitzschnell,
-daß vieles, was er sagte, im Geräusch des Wagens und
-<a id="page-118" class="pagenum" title="118"></a>
-des Gelächters unterging. Wir vernahmen jetzt etwas von
-einem Onkel, der dem „Lümmel“ einen Dollar schenkte,
-worauf vier Kellner ausgesandt wurden, um nach den
-Kursen zu schauen. Hitze, Rauch, billige Zigarren, alles
-war vergessen: wir saßen im Parkett. Chaplin war nicht
-anmutiger. Donaueschingen kam nur zu bald. Die anderen
-lachten vielleicht noch bis Mainz, den ganzen Rhein entlang.
-Wohin fuhr der junge Mann? Was war er? Vielleicht
-verkaufte er Handschuhe und Krawatten die Woche
-über. Seine übersensible Lustigkeit rührte geradezu. Ein
-Künstler unleugbar, aber der arme Kerl ahnte es vielleicht
-nicht. Die Laufbahn kam wohl nicht in Frage für ihn. Ja,
-ja, ein neuer Typ!
-</p>
-
-<p>
-Ich dachte noch an ihn, als ich auf dem Bahnhof stand.
-Donaueschingen lag in tiefster Schwärze. Die drei Personen,
-die sich eingefunden hatten, mich abzuholen, versicherten
-mir alle zugleich, sie seien drauf und dran gewesen,
-im Hotel ein Zimmer für mich zu finden. So war es auch
-mit jener Dame, die immer so lange Geschichten erzählte,
-deren Pointe immer war, daß sie fast ertrunken, eigentlich
-nur durch ein Wunder nicht abgestürzt, bei zweiundvierzig
-Grad Fieber um ein Haar gestorben wäre usw. Kurz gesagt:
-das Wort „Privatquartier“ schlug jetzt an mein
-Ohr, und ich mußte nehmen, was sich mir bot, oder die
-Krönungsmesse des schon nahenden Morgens versäumen.
-Um neun Uhr früh, bequem an einen Pfeiler lehnend,
-freute ich mich zum erstenmal, daß ich gekommen war.
-Ein feines Städtchen dieses Donaueschingen. Die Solisten
-sangen so schön und stilvoll, daß ich schon Berühmtheiten
-<a id="page-119" class="pagenum" title="119"></a>
-in ihnen vermutete, statt dessen waren es Einheimische,
-deren Namen niemand kannte.
-</p>
-
-<p>
-Von der Kirche weg ging alles im Oberammergauer
-Passionsschritt auf eine stimmungslose Turnhalle zu, in
-welcher die Konzerte abgehalten wurden. Die des ersten
-Tages habe ich vergessen. Was den Durchschnitt der Aufführungen
-überragte, überragte ihn so bestimmt, daß die
-Besprechungen vermutlich recht gleichförmig ausgefallen
-sind. So wird jeder Kritiker Hába hervorgehoben haben,
-aber nicht die überraschende Sinnfälligkeit seines Quartetts
-im Vierteltonsystem. Durch seine innere Notwendigkeit
-leuchtete es ebensosehr wie durch seine meisterliche Kürze
-ein. Denn keine Musik verträgt Längen schlechter als die
-neue. Wohl haben wir die der nachwagnerischen Programmusik
-noch voll im Gedächtnis. Aber bei ihnen konnte
-man einschlafen, seine eigenen Gedanken spinnen. Wir kennen
-die Klippe der tonalen Kompositionen; die der atonalen heißt
-Katzenmusik. Mit halbem Hinhören wird man sie nicht los.
-Mit Snobismen führe hier die ganze Hölle auf. Zwar keimen
-sie bereits, jedoch – gottlob! – sie wucherten noch nicht. Die
-Atmosphäre Donaueschingens war noch sehr sympathisch.
-Der Dollarstand war fern, von Nationalismen keine Rede.
-Es drehte sich wirklich alles nur um die Sache. Diese Jugend,
-ganz sich selbst überlassen, war ganz sich selbst. Viel eher
-schien sie sich der kontemplativen Landschaft anzupassen, so
-daß ein fast zeitloses Stimmungsbild entstand. Einem jungen
-Belgier wurde zugejubelt, als gäbe es nur <em>eine</em> Kameradschaft
-auf der Welt, und als Sieger des musikalischen Turniers
-ging der Tscheche Hába und der Spanier Jarnach hervor.
-</p>
-
-<h3 class="section" id="subchap-0-8-2">
-<a id="page-120" class="pagenum" title="120"></a>
-II
-</h3>
-
-<p class="noindent">
-Ich suchte, außer um mich umzuziehen, tagsüber mein
-„Privatquartier“ nicht auf. Im „Lamm“ war ein leerer
-Saal. Dort saß ich am zweiten Nachmittag, als aus einem
-Nebenraum Musik ertönte. Alt oder neu? Beides, oder
-weder dies noch das, aber so reich, so ergreifend, daß ich
-zur Tür ging und sie öffnete: um ein Pianino saß eine
-kleine Schar, und man probte die Oper eines Komponisten,
-dessen Namen ich zum ersten Male hörte: Rudi
-Stephan. Im Kriege gefallen. Natürlich.
-</p>
-
-<h3 class="section" id="subchap-0-8-3">
-III
-</h3>
-
-<p class="noindent">
-Daß Jarnachs Quartett den Glanzpunkt des letzten
-Tages bildete, auch dieses werden sehr viele geschrieben
-haben, denn es konnte kein Zweifel darüber bestehen. Zu
-wenige aber bemerkten vielleicht, daß hier ein wahrer
-Schüler Busonis die Probe seines Talentes gab. Der
-wahre Schüler ist immer nur der, welchem sein Lehrer
-Wegweiser, aber nicht Gängelführer bleibt. Wie es des
-wahren Schülers ist, seine eigenen Wege auf der ihm gewiesenen
-Bahn weiter zu verfolgen, so des wahren Meisters,
-jene Bahn zu brechen. Mit dem so viel gebrauchten
-Worte „Anreger“ scheint mir bei Busoni entschieden zu
-wenig gesagt. Man mag sich zu ihm stellen wie man will,
-<a id="page-121" class="pagenum" title="121"></a>
-heute schon gebietet sein Werk vor allem Distanz; diese
-aber, finde ich, wird nur von den paar ganz erlesenen
-Kennern eingehalten. Bei den anderen vermisse ich sie.
-Distanz schließt die Kritik nicht aus, ist aber immer eingedenk.
-Busonis Tragik liegt darin, daß er sich wieder an
-den Anfang aller Dinge stellte, keiner in unseren Tagen
-machte es sich so schwer. Vielleicht ist es schon für Jarnach
-eine Lust zu komponieren: seinem edlen Kolorit, seiner bedeutenden
-Sprache ist die Arena geöffnet. Armer Busoni!
-Wie rührend ist er, wenn er feiert! Die Schauer der Angelangtheit,
-jener Orgel-Tokkata, „Bach-Busoni“ überschrieben,
-weihevoll wie ein erhobener Kelch, die göttliche
-Melancholie, der er in seiner Tokkata frönt, und sein
-Perpetuum mobile, in welchem Seite achtunddreißig mit
-einem Male die Flöte Pans einsetzt – wie selten sind die
-Feste, die er sich gewährt. Seine wahren Schüler haben
-es schon leichter. Gerodet liegt das unbetretene Land vor
-ihnen, die Ufer von Gestrüpp frei.
-</p>
-
-<h3 class="section" id="subchap-0-8-4">
-IV
-</h3>
-
-<p class="noindent">
-Es dalberte der Satrap von Donaueschingen – laßt
-ihn uns so nennen – im Grase seines Gartens mit den
-Musikern herum. Er hatte sich aus Zeitungspapier einen
-Helm gedreht, und den Musikern desgleichen. Dann hieß
-es: Augen links und stramm gestanden unter dem Papierhut,
-und so wurde die Parade abgenommen. Ja, und so
-lobe ich mir das Militär.
-</p>
-
-<h3 class="section" id="subchap-0-8-5">
-<a id="page-122" class="pagenum" title="122"></a>
-V
-</h3>
-
-<p class="noindent">
-Aber es kam noch viel schöner. Am letzten Abend, als alle
-Konzerte glücklich hinter uns lagen, standen im Kurhaus
-noch einige Gelegenheits-Kompositionen Paul Hindemiths
-in Aussicht. Man saß bei Wein oder Tee und Kuchen, als
-das Amarquartett mit der bescheidenen Bitte aufzog, man
-möge eine Weile nicht servieren; sie gedachten noch einiges
-zum besten zu geben.
-</p>
-
-<p>
-„Es darf nicht serviert werden!“ rief in unbändiger
-Fröhlichkeit der Satrap durch den Saal. Und nun ertönte
-als erstes ein Militärmarsch, ein Militärmärschlein sage
-ich, ein goldiges Militärmärschli, dessen geringelte Ritornelle,
-dessen Ringelschwänzchen von einer Ritornelle die
-ulkigste, witzigste, übermütigste und zugleich saftigste Verhöhnung
-war, welche militaristischer Dünkel und Stupidität
-jemals erfuhren. Der Komponist spielte in sich hinein,
-machte seinen runden, lustigen Kopf, und sooft die Ritornelle
-seinem Bogen entquirlte, ging unwiderstehliches Gelächter
-durch den ganzen Saal. Oh! Hätte man solchen
-Rattenfängern von Hameln eher gelauscht!
-</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="chapter" id="chapter-0-9">
-<a id="page-123" class="pagenum" title="123"></a>
-Marseille
-</h2>
-
-</div>
-
-<div class="epi-container pbb">
-<a id="page-125" class="pagenum" title="125"></a>
- <div class="epi">
-<p class="noindent">
-La patrie c’est la terre, c’est l’Univers, ce sont
-les étoiles, c’est l’air, c’est la pensée elle-même.
-</p>
-
-<p class="attr">
-<em>Flaubert</em><br />
-Correspondence
-</p>
-
- </div>
-</div>
-
-<h3 class="section" id="subchap-0-9-1">
-I
-</h3>
-
-<p class="date">
-Dezember 1923
-</p>
-
-<p class="first">
-<span class="firstchar">I</span><span class="postfirstchar">ch</span> habe von der Vogelperspektive aus noch keine
-schönere Stadt gesehen als Marseille. Die sehr nennenswerte
-Kälte und ein strömender Regen beeinträchtigten den
-Eindruck nicht. Freilich, das Meer war tonlos bis in alle
-Fernen. Doch um so berückender leuchteten inmitten des
-Dunstes die Dächer und die schmalen Fronten der Häuser.
-Eines stand ganz allein für sich in seiner Feinheit, von einem
-rührenden Garten umzogen, der ein flaches Viereck bildete.
-Sonst nirgends ein grüner Fleck. Aber durch geheimnisvolle
-Vorgänge der Sonne und der Luft war hier im Laufe der
-Zeiten ein Werk von Menschenhänden selber zur Natur
-geworden. Diese Dächer, diese Steine überboten die Natur.
-</p>
-
-<p>
-Als wir zu Tale fuhren, dem alten Hafen zu, blieben
-wir in dessen handbreiten Gassen natürlich hängen. Es
-dunkelte. Schon brannten die Lichter überall. Ich sprang
-aus dem Wagen hinter einem grauen Kater her und erhaschte
-ihn. Doch ich war der französischen Katzensprache
-nicht mehr mächtig, und er riß mir aus. Trotz des Regens
-setzte ich mich zum Chauffeur. Wir blieben lange festgefahren.
-Ein wunderhübsches junges Mädchen schlug im
-<a id="page-126" class="pagenum" title="126"></a>
-Vorübergehen leise auf seine Hand, sah sich dann um und
-lächelte. Auf der andern Seite schwang sich ein kleiner
-Junge herauf, starrte mich an und wartete, daß ich lachte
-über seinen Spaß. Dann erst sprang er wieder ab. Diese
-schwarzäugigen, grauäugigen Gesichter unter dem nächtlichen
-Haar waren alle auf der Lauer. Auf ein Lächeln, ein
-lustiges Wort des Nächsten lauerten diese dunkeln und verspielten
-Gesichter. Im Restaurant, in dem wir aßen, servierte
-nicht, es zelebrierte der Kellner.
-</p>
-
-<p>
-Ich fuhr am nächsten Morgen wieder auf den Berg,
-um die Stadt noch einmal von der Höhe aus zu sehen.
-Aber die Dächer lagen wie entkräftet im Sonnenlicht. Dafür
-schlug das Meer tiefblaue Pulse zu ihm auf. In den
-Gassen des alten Hafens baumelten bis zu den obersten
-Mansarden hinauf farbenfrohe Kleider übereinander und
-wehten bunte Schürzen hin und her.
-</p>
-
-<p>
-Fasse dich, Leser, Geduld. Ich komme bald zu dem, was
-ich sagen will. Sieh, schon verlasse ich Marseille.
-</p>
-
-<p>
-Paris-Lyon-Méditerranée hieß mein Zug. Im Mittagglanze
-dampfte er los.
-</p>
-
-<p>
-Wieviel Inspiration niedrigen Bergen innewohnen
-kann, ahnte ich nicht, bevor das weiße, lebhafte Arles vor
-mir aufblitzte, bevor ich die niedrigen Berge um Arles,
-die einfachen Terrainwellen der schaukelnden Erde um
-Tarascon, die unaufdringliche und wunderbare Schönheit
-der Provence gewahrte.
-</p>
-
-<p>
-Freunde. Eure Hände. Wie oft schwur ich mir, keine
-Betrachtungen mehr über Frankreich anzustellen. Denn es
-ist mir nicht gegeben, sie anders als auf Deutschland zu
-<a id="page-127" class="pagenum" title="127"></a>
-beziehen. Aber heute ist man verwachsen mit seinem Kreuz.
-Und die Unkenntnis wahrzunehmen, die ein Stockwerk um
-das andere dem Turm Babel anreiht, zwingt uns immer
-wieder, unsere nie vernommenen Stimmen zu erheben.
-</p>
-
-<p>
-Laßt uns ganz unsentimental sein. Auch ohne Liebhaberei
-müßte uns der Anblick Frankreichs die Worte: „Es lebe
-Frankreich!“ entreißen. Denn Frankreich mit seinem rar gewordenen
-Blute ist unser Wein. Sein Leben ist der Welt
-notwendig. Deutschland – denn immer nur um diese beiden
-geht es –, Deutschland wäre aller Brot, wenn es doch endlich
-die Dinge gehen ließe. Die Stärke seiner geistigen Existenz
-ist eine Großmacht geblieben, intangibel und der Welt
-notwendig.
-</p>
-
-<h3 class="section" id="subchap-0-9-2">
-II
-</h3>
-
-<p class="noindent">
-Nicht wie eine Dichterin, wie eine Schwerkapitalistin,
-in einem Coupé erster Klasse, durchfuhr ich Frankreich der
-ganzen Länge nach. So etwas will ausgekostet werden.
-Allein, ich war zu krank. Und welche Not, Arles mit seinen
-kleinen Bergen vor sich zu sehen, ohne auszusteigen. Denn
-die mir zuerteilte Jungfer kam aus ihrem Abteil hervor
-und parlamentierte so eindringlich dagegen, daß ich im
-Zuge blieb. Aber in Avignon sprang ich doch heraus und
-ließ meine Suite vorausreisen.
-</p>
-
-<p>
-Ich fuhr – denn sobald ich zu Fuße ging, neigten sich
-die Häuser höflich vornüber und der Boden beschrieb unsichere
-Kurven –, ich fuhr also die lange Straße, die zum
-Palast der Päpste führt. Er war geschlossen. Was blieb
-<a id="page-128" class="pagenum" title="128"></a>
-mir da, als die Zeit mit einer Rundfahrt auszufüllen in
-dieser gewesenen Stadt mit ihrem Vorgeschmack des Nordens,
-ihrer herbstlichen Sonne, ihrer kälteren Luft und ihrer
-Schwermut? Wie eine Orgel nach allen Richtungen braust,
-so erfüllte der Palast der Päpste überallhin den Raum.
-Als ich mit dem nächsten Zuge weiterfuhr, glühte er feenhaft
-im Abendschein in seiner Weitläufigkeit wie zum Tanze
-geschlossen, gebot er über die Rhone, die breiten Laufes sich
-dem Meer entgegenwand. Der Gang, von dem aus ich zu
-ihm hinüberschaute, war leer. Auch kein Schaffner zeigte
-sich, und die Bangigkeit des Abends umspann mich ganz.
-Mein einziger Reisegefährte war ein Herr, der sehr viel
-Zeitungen mit sich führte. Aber die Dämmerung kam schnell,
-das Licht war zu trübe, um dabei zu lesen, und so gerieten
-wir in ein Gespräch. Langsam und beschaulich war manch
-ein Wort gefallen, als in Valence eine fremdsprachige
-Familie, mit starken Nüstern, hereinbrach. Ein ungebärdiges,
-der hintersten kleinen Entente entstammendes Französisch
-um sich werfend, zog sie gleich darauf wieder ab, größere
-Ausbreitungsmöglichkeiten zu suchen.
-</p>
-
-<p>
-„<span class="antiqua">Que de mines étrangères quand on traverse la
-France, nous ne sommes plus chez nous.</span>“
-</p>
-
-<p>
-Ich war es, die so gesprochen hatte, und ob ich auch
-alsbald über meine Worte sehr erschrak, so war es doch
-zu spät, um sie zurückzunehmen. Dieser Tag, bisher so
-stumm verbracht, hatte mich in seine Falten eingeschlagen,
-bis ich, voll eines sanften Übermutes, heimisch in ihm wurde,
-geborgen und betäubt. Nun war er zu Ende. Es war
-Nacht. Der Fluß zog im Dunkeln hart an uns vorbei. Das
-<a id="page-129" class="pagenum" title="129"></a>
-Rauschen des Zuges glich einem Monolog, wir aber waren
-eines Sinnes, und mit sepulchraler Melancholie unterhielten
-wir uns über Frankreich. Beide, weit zurückgelehnt, sahen
-wir einander nicht. Ich sehnte Lyon herbei, denn eine grauenvolle
-Erschöpfung kam jetzt zu ihrem Recht. Der Wagen
-schien mir hin und her gestoßen wie ein Schiff, das im
-Sturm auf Grund gerät. Wir sprachen von der Notwendigkeit,
-sich zu vertragen, und daß wir alle nur eine einzige
-Aufgabe hätten, einen neuen Krieg zu verhindern. Alles
-andere sei unwichtig. Wann aber kam Lyon? Wenn ich
-bewußtlos wurde, bevor wir es erreichten, was dann? Als
-erstes würde man suchen, mich zu identifizieren. Gleich
-zuoberst in meinem Täschchen aber lag mein Paß. So
-so; ei ei. Ich rieb mir die Schläfen mit Kölnischem
-Wasser, saß jetzt mit gefalteten Händen und schwieg.
-Wann kam Lyon? Hinter meiner Lehne verschanzt, sprach
-ich mir Mut zu. Endlich gab ich es auf und bat ihn,
-das Fenster zu öffnen. Nebel und Kälte strömten herein.
-„<span class="antiqua">Nous voilà</span>“, sagte er, und kramte seine Zeitungen zusammen.
-Wir waren in Lyon.
-</p>
-
-<p class="tb">
-&nbsp;
-</p>
-
-<p class="noindent">
-Auch in England, daß ich es nur gestehe, habe ich mich
-vor dem Kriege manchmal heimisch gefühlt. Wer jedoch die
-Geschicke dieses Kontinents mit starker Anteilnahme verfolgt,
-der kann heute kein Herz fassen zu England. Auch
-durchschauen die Besten dort wohl, und weisen die Heuchelei
-eines Axioms zurück, das sich als eine „Parteinahme des
-Schwächeren“ formuliert, in Wirklichkeit aber nur den
-<a id="page-130" class="pagenum" title="130"></a>
-Hader auf diesem Erdteil zu perpetuieren beabsichtigt. Der
-falsche Bruder hatte vor dem rabiaten Gegner ohne weiteres
-den Vorzug für die leichtgläubigen Deutschen. Der Politik
-Frankreichs zuzusehen, ist ja ein Alpdruck für sich, aber
-Englands Rolle in diesen Tagen war viel finsterer. Die
-Besten dort erkennen wohl, daß es sich in seiner Rechenkunst
-überschlug; denn der Rest wäre zu trübe, um darin
-fischen zu können; so daß letzten Endes es nicht mehr in
-Englands eigenstem Interesse läge, seinen säkularen, aber
-nicht ehrwürdigen Kurs in Europa beizubehalten. Die
-Besten dort wissen es wohl.
-</p>
-
-<h3 class="section" id="subchap-0-9-3">
-III
-</h3>
-
-<p class="noindent">
-Der Schnellzug nach Straßburg verließ Lyon frühmorgens.
-Auf dem andern Geleise lief einer, auf den ich
-hatte verzichten müssen, um die gleiche Stunde nach Paris.
-Lyon trug sich in Nebeln, vielfach noch in Lichtern. Es gab
-viel Reisende, und bei mir zog gleich eine ganze Gesellschaft
-ein: zwei ältere Herren, der eine sehr schön gewesen, der
-andere sehr lustig geblieben, ein Herr von vierzig Jahren
-und eine noch wunderhübsche Dame mit einem schon siebzehnjährigen
-Söhnchen, der in einem großen, weiten Eisbärpelz
-schier zerging. Sie waren guter Dinge, und kurzweilig
-kündete sich meine Fahrt. Der lustig Gebliebene lachte
-über eine Komödie aus der „<span class="antiqua">Illustration</span>“, und die Weise,
-in welcher der schöne Nestor der Dame aus ihrer Jacke
-half, sprach Bände für seine Vergangenheit. Als sie das
-<a id="page-131" class="pagenum" title="131"></a>
-erste Mittagessen wählten, wählte ich auch das erste Mittagessen,
-und im Speisewagen behielt ich sie erst recht im Auge.
-Die Dame trug eine Bluse aus weißer Chinaseide zu einem
-grauen Rock. Ihre schlanken Füße in den hellen Strümpfen
-und den offenen Schuhen hatten eine feste Art aufzutreten.
-Munter speiste sie, trank munter Wein, derweil sie munter
-sprach, und blieb zart und blaß dabei wie eine Narzisse.
-Das Reizendste vielleicht war doch ihr Mund, der, ein bißchen
-schief gezogen, ein bißchen schmerzlich, eben diese
-Schmerzlichkeit jener leisen Verzogenheit verdankte. Es
-war ein schwärmerischer, bitterer, glückseliger Mund, man
-wußte nicht recht, wie er sich zu ihrem lebhaften und
-sicheren Wesen verhielt. Aber sie war sich bewußt, glücklich
-zu sein.
-</p>
-
-<p>
-Vor den breiten Scheiben floh eine Landschaft dahin,
-die mich nicht fesselte. Hin und wieder Hügel, von Schnee
-gestreift: der Winter, mir von jeher verhaßt, der von der
-Erde Besitz ergriff, und ein toter, mißgelaunter Himmel.
-Lieber sah ich zu jenem Tische hin. Als sie dort Kaffee
-nahmen, nahm ich auch Kaffee, denn ich wollte erst aufbrechen,
-wenn sie aufbrechen würden. Mein Eckplatz befand
-sich an der Seite des Ganges. Dort pflanzten sie sich
-bei ihrer Rückkehr auf; sie setzten sich nicht gleich herein,
-aber sie blieben bei mir, und ich hörte alles, was sie sagten.
-In aufgeregtester Debatte standen sie beisammen: denn
-das Essen hatte nichts getaugt. Dieses <span class="antiqua">Fricandeau</span>, was
-das wohl hatte bedeuten sollen? Gab es Worte für so unzulängliche
-Kartoffeln und eine so nichtssagende <span class="antiqua">Omelette</span>?
-„<span class="antiqua">Cependant les petits pois</span>“, sagte der Mann von vierzig
-<a id="page-132" class="pagenum" title="132"></a>
-Jahren ... „<span class="antiqua">Les petits pois étaient bons</span>“, sagte die
-hochstielige Narzisse. „<span class="antiqua">C’étaient ma foi d’excellents petits
-pois</span>“, sagte Nestor. „<span class="antiqua">Ils étaient même étonnants</span>“,
-sagte mit großem Ernst der lustig Gebliebene. Das Söhnchen
-hatte im Speisewagen sein Zigarettenetui vergessen,
-kam jetzt herzu und sagte lebhaft: „<span class="antiqua">Il n’y avait de bon
-que les petits pois</span>.“ Und nun wurde noch eine ganze Weile
-intensiv, wie in den Wandelgängen der Kammer, über
-die, wie mir dabei kund wurde, keineswegs leichte Kunst
-der Erbsenzubereitung verhandelt. Von den Erbsen kam
-man auf die Wicken, von den Wicken auf die Gewinnung des
-Lavendels. Der echte ist sehr schwer vom wilden zu unterscheiden.
-Nestor, müde vom Stehen, nahm als erster wieder
-Platz. Er fragte mich, ob mich der Rauch nicht störe, und
-mein „<span class="antiqua">oh non</span>“, die einzigen Worte, die ich an diesem
-Tage sprach, wollte sagen: „Kommt alle herein, setzt
-euch. Ich bin entzückt.“
-</p>
-
-<p>
-Das Geheimnis der Franzosen, was ist es, wenn nicht,
-daß sie bei so starker Animalität so wenig materiell sind.
-Hier ist der Schlüssel zu ihrem Wesen wie zu ihrer Kunst.
-Es ist der Augenblick, der, wenn auch nicht verweilen, sich
-voll auslösen darf, weil er nie vorgreift, auch wo er überfließt,
-und weil sein Rhythmus sich genügt. Unüberlegtes
-Volk, tragisch in seiner Kindlichkeit. Wem würde es einfallen,
-die Deutschen Kinder zu nennen? Frankreich ist der
-Wein der Welt, Deutschland wäre aller Brot, wenn es doch
-endlich die Dinge treiben ließe.
-</p>
-
-<p>
-Ich kann freilich nicht verlangen, daß ein Militarist von
-dem, was hier gemeint ist, auch nur ein Wort versteht.
-<a id="page-133" class="pagenum" title="133"></a>
-Denn Militaristen sind Geschöpfe ohne Hirn, an sich also
-nur grotesk. Allein, solche Wesen ohne Kopf durften sich zu
-Herren der Welt erheben, und streben vollen Ernstes, es
-noch einmal zu werden. Auf die Weise zwingen sie denkende
-Kreaturen, im Harnisch zu bleiben und weiterhin zu buchstabieren.
-</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="chapter" id="chapter-0-10">
-<a id="page-135" class="pagenum" title="135"></a>
-Venedig 1922
-</h2>
-
-</div>
-
-<p class="pbb first">
-<a id="page-137" class="pagenum" title="137"></a>
-<span class="firstchar">I</span><span class="postfirstchar">ch</span> traf es unvergleichlich, um über den Gotthardt zu
-fahren. Er stand in Verzückung, und die Seen lösten
-sich als himmlische Dekorationen ab. Dennoch ist es nicht
-nur die Schönheit – die Welt ist in Europa fast überall
-schön –, sondern der seltene Vorzug der Schweiz ist ihre
-heutige Leere. Man kehrt in leeren Gasthöfen ein, speist
-in leeren Lokalen, kein Zug ist überfüllt. Wohin du siehst,
-brauchst du nicht über eine Unzahl Köpfe hinüberzublicken:
-die Dinge sind dein. Der hohe Kurs hält nicht nur den
-Andrang der Reisenden ab, auch von den eigenen Landeskindern
-sind viele ausgeflogen. Schon in Como sitzt man
-wieder gedrängt. Und angesichts des immer voll besetzten
-Vaporettos, der zum Lido fährt, steigt der Gedanke auf,
-daß wir zu zahlreich geworden sind, Atem holen, eine
-Orgelpause ansetzen, auch in geistiger Hinsicht aufräumen,
-und uns besinnen sollten, bevor wir weitergehen. Wir erleben
-eine Zeit, die sich nicht mehr überblicken läßt. Vorigen
-Herbst kam ich in einem sehr östlichen Lande beim Umsteigen
-hinter einer dichten Menschenmenge durch die Untergründe
-eines Bahnhofs zu gehen, von welchen zwei Treppen
-zur Oberfläche zurückführten. Von unten gesehen schienen
-die langsam nach oben vorschiebenden Köpfe alle konisch
-auszulaufen, und also gestaut, und in solcher Massenauflage
-kaum noch auf ein persönliches Schicksal hinzudeuten.
-Entsetzlich zu sagen: wie Sardinenpackungen
-nahmen sie sich aus.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-138" class="pagenum" title="138"></a>
-Die Allgemeinheit ist heute jener Wald geworden, den
-man vor Bäumen nicht mehr sieht. Sie stiebt hin und her,
-und nicht mehr dem Führer, sondern den mannigfachen
-Verführern eröffnet sich heute ein dankbares Feld. Es
-wird immerzu von der Masse gesprochen, nie von der
-Menge, nie von der <span class="antiqua">pacotille humaine</span>, welche, lediglich
-weil sie aus allen Ständen zusammengesetzt und zahlkräftig
-ist, zum Machtfaktor erhoben wurde. Die stets lenksame
-Herde ist es, der man sich unterwirft. Und diese so unnötige
-Diktatur der Menge, sie, deren Exponent der
-Ramschladen ist, sie ist es, die unserem Gemeinschaftsleben
-den gewöhnlichen Stempel aufdrückt.
-</p>
-
-<p>
-Ich schreibe diese Zeilen in Venedig, es ist wahr, aber
-Leute wie ich haben ja nur für ein paar Gedanken Raum,
-und alle Wege führen zu ihnen wie nach Rom. Sie bezahlen
-ihren partiellen Scharfsinn mit Unzulänglichkeiten
-aller Art.
-</p>
-
-<p>
-Auf meiner Fahrt hierher stellte ich des öfteren fest, in
-wie hohem Grade die Masse sowohl heranzubilden wie zu
-korrumpieren ist. Ich war bereit, in Mailand dieselbe angenehme
-Enttäuschung zu erleben wie bei meiner ersten
-Reise nach Italien, vor welcher ich manches von dem „erledigten
-und geschmacklosen Rafael“ gehört hatte und
-seine Stanzen und Deckengemälde mir dann vor Bewunderung
-den Atem raubten.
-</p>
-
-<p>
-Vielleicht würde es mir mit dem Mailänder Dom ähnlich
-ergehen.
-</p>
-
-<p>
-Allein ich kam über den Krankheitsherd seiner Fassade
-nicht hinaus; die schönen Paläste, die sich auch hier vorfinden,
-<a id="page-139" class="pagenum" title="139"></a>
-kommen dagegen nicht an. Die in Triangelform ausgehauene
-Schweizer Stickerei, welche sie überragt, schlug eine Dominante
-für Mailand an. Sie ist heute noch verantwortlich
-für gewisse Hüte, Kleiderarrangements, Farbenzusammenstellungen,
-Loggien und Neubauten, denen man anderorts
-nicht begegnet, denn sie hat fortwirkend das Auge der Mailänder
-so sicher gefälscht, wie sich das der Venezianer bildete.
-Die ärmste Frau aus dem Volke hüllt dort bis an das Ende
-der Zeiten ihre ungefähre Kleidung in das Dekorum eines
-schwarzen Schals, zum Zeichen, daß sie einen höheren
-Rang einnimmt als die Kollegin, welche in Schürze und
-Kittel zwischen scheußlichen Mietskasernen ihre Sohlen
-schief tritt, während die Elektrische hinter ihr daherpoltert.
-Ihr Bewußtsein ist ein Reflex der Wundergassen, durch die
-sie wandelt. Er leuchtet von den beseelten Stirnen der venezianischen
-Kinder. Laut sind nur die melodischen Rufe der
-Gondoliere. Man erschrickt hier vor groben Stimmen, oder
-sie wirken komisch.
-</p>
-
-<p>
-Für den Militarismus freilich war diese Stadt wie jede
-andere lediglich eine Zielscheibe für erfolgreiche Bombenwürfe,
-und nichts könnte ihn besser kennzeichnen, als seine
-Kanonenauffahrt gegen ihre Fragilität. Von seinen Bekennern
-sagte ich ja schon, daß ihre Nasen stumpf ausliefen,
-wie die Nasen der Hunde, ebenso unfähig wie Hunde,
-den geistigen Gang der Dinge zu spüren.
-</p>
-
-<p>
-Ich schreibe diesen Brief im Abendwinde der Piazzetta,
-nach einem ersten flüchtigen Rundgang in den <span class="antiqua">giardini
-publici</span>. Dort stehen ein halb Dutzend Gebäude oder mehr
-den Bildern aller Länder gastlich, allzu gastlich offen. Die
-<a id="page-140" class="pagenum" title="140"></a>
-schon geäußerten Erwägungen drängen sich von neuem
-auf: Überschüssiges, Ausschußware, als eine Folge der
-Quantität, die sich auf Kosten der Qualität behauptet,
-infolgedessen höherer, nicht zu vermeidender Ramsch auch
-hier. Die guten Bilder, oder wenigstens die guten Künstler,
-auch die guten Plastiker kannte man.
-</p>
-
-<p>
-Überall läuteten schon die Wächter den Schluß der Ausstellung
-ein, sehr verfrüht, wie mir schien, aber sie waren
-es wohl müde, vor so viel Bildern herumzustehen. Gott,
-o Gott! Was sollte ich über diese Ausstellung schreiben?
-„Ich komme schon!“ rief ich, England durchrasend,
-dem Türhüter zu. Nach Holland fliehend, läutete mich
-schon wieder einer hinaus. Aber ein erster Rundgang
-sollte es ja sein. Also rasch nach Ungarn, dazu reichte
-es noch. –
-</p>
-
-<p>
-Seid mir gegrüßt, ihr Glocken!
-</p>
-
-<p>
-Ich stand wieder auf dem Vaporetto; konnte es etwas
-Überwundeneres geben, etwas, das sich in dem Maße überlebt
-hatte, etwas den Bildern selbst Unzuträglicheres, wie
-solche Massendarbietungen? Nur Separatausstellungen
-haben noch einen Sinn. Der Eindruck einer Überzahl von
-Bildern verschiedensten Ursprungs hingegen ist dem eines
-großen Geschreies vergleichbar. Wir möchten uns die Ohren
-zuhalten: sie reden alle zugleich und fallen einander ins
-Wort, wobei die Unwichtigsten, wie das so geht, am lautesten
-sind. Welch eine stillere Kunst fürwahr ist die Musik!
-Und wäre es nicht an der Zeit, solche Bilderparlamente
-ein für allemal zu schließen? Hier geht es doch wirklich
-nicht um Demokratie. Lohnt es sich, so weise man diesen
-<a id="page-141" class="pagenum" title="141"></a>
-und jenen Malern einen Raum. Wenn nicht, so mögen
-sie erst ausreifen, sofern sie das Malen nicht aufstecken;
-jedenfalls verschone man uns mit ihrem Lärm. Auch
-dem Nichtssagenden, wie allem, was es gibt, hat der
-Weltkrieg neue Lichter aufgesteckt. Vor Leuten, von welchen
-sich einer acht Jahre früher anöden ließ, ergreift er heute
-erschrocken die Flucht, und die Menschengruppen sondern
-sich heute reinlicher ab, es ist wahr.
-</p>
-
-<p class="date">
-Montag, 26. Juni
-</p>
-
-<p class="noindent">
-Wieder auf dem Vaporetto. Nur für Stehplätze an der
-Sonne ist noch Raum, einer Julisonne kann man wohl
-sagen, und es ist Mittag. Mein Sonnenschirm ist an der
-Grenze geblieben, und mein Fächer im Hotel. Es fällt mir
-plötzlich ein, daß man damals, als es sich noch ausbreiten
-konnte in der ganzen Welt, und seine Schiffe in allen
-Häfen einliefen, so oft sagen hörte: Deutschland müsse
-seinen Platz an der Sonne haben und er sei ihm verwehrt.
-Barmherziger Gott! Wie ist es heute zusammengepfercht!
-Warum ich gerade heute so viel hinüberdenke? Ist es das
-überfüllte Boot?
-</p>
-
-<p>
-Es glitt den <span class="antiqua">Canal Grande</span> entlang, und das Auge
-stillte sich an den unsterblichen Palästen, den gewaltigen
-wie den schmächtigen, der Musik ihrer Formen, dem Zusammenklang
-ihrer Farben; denn sie sprachen zu ihm. Ja,
-es fühlte sich angerufen von diesen geschwungenen Brücken,
-sie fingen an, ihm die intimste aller Gefolgschaften zu bilden;
-diese Gassen, in den Gewässern aufgetan, die Stufen, die
-hinab in ihre Stille führten, und ihre Pforten, so traumhaft
-<a id="page-142" class="pagenum" title="142"></a>
-umspült, sie zogen alle mit ihm; und die Gärten, die
-Mauern, tief von den Ästen überhangen, und jene Kinder
-dort, zwischen den Säulen der Terrasse, so schlank, so zart
-gekleidet, und die so still hielten ... Und die berückende
-Dame, die uns in ihrer Gondel kreuzte, deren Rosenherz
-vorfrüh gebrochen ist, und lange vor Sommers Ende den
-Herbst erlebte. Welcher Stoß hat es getroffen, und wird
-es sich erholen? Sie gibt die schweren Kelche ihrer Augen,
-die von der Süße und Qual der Rosen beladenen, dem
-Lichte preis, fesselnder in ihrem unverminderten, doch schon
-verfallenen Zauber, wie alle Jugend. Sie ist vorbeigezogen.
-</p>
-
-<p>
-Am Rialto gab es ein Gedränge. Doch jetzt saß ich am
-äußersten Ende des Bootes. Das Glück stieg und schwellte
-in mir empor, und ich gewährte ihm ganz. Wir hatten
-im Schatten angelegt, und vor mir war ein schwerer Palast,
-die rostbraunen Gardinen herabgelassen. Aber ein Luftzug
-bewegte sie; sie blähten sich wie Segel, bereit, dem Winde
-zu folgen. Warum erhöhte sich da meine Lust? – Die
-Welt ist nie so heimatlos, Venedig noch nie so kostbar gewesen.
-</p>
-
-<p>
-Ich hatte beim Einsteigen den <span class="antiqua">Corriere della Sera</span> erstanden,
-aber vergessen, ihn zu lesen. Er glitt jetzt von
-meinen Knien zu Boden, und ich hob ihn auf. Zuoberst
-auf der ersten Seite standen die Worte: <span class="antiqua">Rathenau assassinato</span>.
-Sie setzten das Auge unverzüglich außer Spiel und
-schalteten es aus. Von all den Palästen sah es keinen einzigen
-mehr.
-</p>
-
-<p class="tb">
-&nbsp;
-</p>
-
-<p class="noindent">
-<a id="page-143" class="pagenum" title="143"></a>
-Fürwahr, ihr Freunde, ein wunderbarer Richter ist der
-Tod. Mit zeitloser Geschwindigkeit hat er die Maske von
-uns gerissen, die Schale zerbrochen und den tauben oder
-süßen Kern in uns geprüft und kundgetan. Da sind
-„gute Bekannte“, von deren Sterben man Notiz nahm,
-ohne mit der Wimper zu zucken; da ist ein anderer, scheinbar
-Fernerstehender, dem wir durch die Umstände oder
-durch gewisse Eigenschaften, die uns in Schach hielten,
-nie wirklich nähertraten. Und da trifft uns sein Tod wie
-der eines nahen Freundes, als hätten wir ihn immer geliebt.
-Es zeigt sich, daß alle seine Schuldscheine zerrissen,
-jeder Schatten durch starke Wesenheiten überboten sind,
-und es will plötzlich nicht mehr gelingen, uns seiner Fehler
-auch nur zu entsinnen. Was ist geschehen? Es gibt Fehler,
-die nichts Inherierendes sind.
-</p>
-
-<p>
-Rathenau gehörte, wie der während des Krieges verstorbene
-Robby Mendelsohn, zu den ganz wenigen feudalen
-Juden, die in Deutschland zu finden sind. Hier ist
-der Punkt, wo jeder Mensch von Ressentiment (sei es aus
-Rasse oder sonstigen Gründen) ihn mißverstehen mußte.
-Undenkbar – denn es war nichts Kleinliches in ihm, nicht
-einmal in seiner Eitelkeit –, daß er den Nekrolog geschrieben
-hätte, der ihm von Harden zuteil wurde. Selbst was er
-Richtiges enthält, ist daneben. Rathenaus Ehrgeiz war
-ohne eine Spur von Subalternität. Als er zur Regierung
-gelangte, zeigte es sich, daß er nicht nur seinem Talent,
-sondern auch seiner Natur nach dazu berufen war. Dies
-gab seiner Gestalt das ungemeine Relief: mochte er diesen
-oder jenen Fehler begehen, er war an seinem richtigen
-<a id="page-144" class="pagenum" title="144"></a>
-Platz. Und die antike Glorie seines Todes entsprach ihm
-wirklich.
-</p>
-
-<p>
-Daß er übrigens bis in das Jahr neunzehnhundertundachtzehn
-an den Sieg Deutschlands glaubte, habe ich
-von ihm selbst anders gehört. Im Frühjahr neunzehnhundertundsechzehn
-besuchte er mich einmal in München,
-im Herbst desselben Jahres fuhren wir die Strecke Romanshorn-Buchloe
-zusammen, im Januar neunzehnhundertundsiebzehn
-sah ich ihn zum letzten Male in Berlin.
-Es war hier und dort fast dasselbe Gespräch:
-</p>
-
-<p>
-„Lassen Sie heute die Hände“, sagte er, „von der
-Politik. Sie ist des Teufels Kessel. Sie wissen nicht, was
-vorgeht, und Sie können nicht dagegen an.“
-</p>
-
-<p>
-„Warum tun <em>Sie</em> nichts?“
-</p>
-
-<p>
-„Weil nichts zu machen ist, die Dinge müssen ihren
-Lauf nehmen. Erwarten Sie immer das Ärgste, und Sie
-werden es noch übertroffen sehen. Es gibt keine Dummheit,
-die man unterlassen wird. Den Unterseebootkrieg?
-Ja, der kommt auch,“ fuhr er in seiner gleichmäßigen
-Stimme fort, „und dann der Krieg mit Amerika. Und zuletzt
-wird man ihn verlieren. Auch das.“
-</p>
-
-<p>
-„Das sagen Sie,“ rief ich, „und sehen zu?“
-</p>
-
-<p>
-„Weil alles vergebens ist. Später, viel später erst, werde
-ich vielleicht eingreifen können. Ich warne Sie“, fing er
-wieder an – und nahm seine Belehrungen wieder auf.
-</p>
-
-<p>
-Seine Worte, meine Unfähigkeit, die Lage zu übersehen,
-bedrückten mich schwer. Doch ich hielt an meiner Hoffnung
-an ein baldiges Ende fest. Dieser Allesbesserwisser! Gottlob,
-daß er nicht recht zu haben brauchte.
-</p>
-
-<h3 class="section" id="subchap-0-10-1">
-<a id="page-145" class="pagenum" title="145"></a>
-Den Hakenkreuzlern ins Stammbuch
-</h3>
-
-<p class="noindent">
-Kein Glaube hat sich als so ominös erwiesen, als wie
-der Glaube, das auserwählte Volk zu sein. Ihm wurde
-auf Jahrhunderte der Fluch des Ghettos zuteil, der auf
-den größten aller Morde zurückführt. Seht ihr nicht, wie
-sich für eure Verblendung und eure Missetaten über eure
-Köpfe hin das Ghetto profiliert, das euch abseits stellt? –
-Kein Mord bleibt ungesühnt, auch wenn der Täter entwischt.
-<em>Haken</em>-Kreuzler in der Tat!
-</p>
-
-<h3 class="section" id="subchap-0-10-2">
-Zum Wandel der Zeiten
-</h3>
-
-<p class="noindent">
-Das jüdische Problem ist reich an Geheimnissen. Auf
-vielfache Weisen, auch auf Weisen, die wir vielfach übersehen,
-tritt es immer stärker in den Vordergrund. Vielleicht
-sind gewisse typische Christusmenschen jüdischer Abkunft
-das Unverjudetste, was es gibt. Ihrer wurden in
-Deutschland während der letzten Jahre eine Anzahl um
-die Ecke gebracht. Ist da nicht der Moment gekommen,
-uns über die Juden zu äußern, statt diese ausschließlich
-von sich reden zu lassen? Man gestatte es uns ganz ohne
-Empfindelei: es ist immer so langweilig, was ein Volk
-über sich selber sagt. Räumen wir auch mit allen gefälligen
-Fiktionen auf, als sei der Haß der Juden für uns in Frage.
-Vielmehr bildet die Attraktion, welche unsere Typen, je
-ausgesprochener sie sind, auf sie ausüben – das Wort ist
-heraußen –, einen Bestandteil des Rätsels, dessen endliche
-Lösung mit unserer endlichen Erlösung insgeheim verwoben
-<a id="page-146" class="pagenum" title="146"></a>
-ist. Aber die Judenfrage ist eine Christenfrage. Das Wort
-ist nicht von mir.
-</p>
-
-<p>
-Man mißverstehe nicht absichtlich folgende einfache Bemerkungen
-zum schwierigsten aller Themen: Wie jeder
-hochgezüchtete Deutsche das lebendige Gegenteil ist von
-einem Boche, also ein Anti-Boche, so ist nicht nur der
-Unterschied, sondern der Gegensatz zwischen dem losgelösten
-und dem, was wir den stofflichen Juden nennen wollen,
-so groß, daß wir in jenem den eigentlichen Anti-Semiten
-erkennen dürften. Freilich nicht nach Art der Haken-Kreuzler,
-die das Verjudetste sind, was es heute gibt. Man kann es
-ihnen nicht oft genug wiederholen, auch wenn sie einen
-dafür auf ihre Liste setzen.
-</p>
-
-<p class="date">
-Tags zuvor 25. Juni, Sonntag
-</p>
-
-<p class="noindent">
-So schön sah ich Venedig noch nie! Es schimmerte
-von weitem, das Schiff hatte eben vom Lido abgestoßen,
-und der Himmel verdunkelte sich, aber ein magischer Umsturz
-aller Farben – dem Fabelreiche entnommen – setzte
-sich in Szene. Einer Laune folgend, schien die Sonne ins
-Meer hinabzufahren, um aus den Tiefen zu dieser Stadt
-emporzuleuchten, daß sie in pfirsichgelbem, in grünstem
-Gold erglühte, ermattete. Ein zartes Rosa schlug melodisch
-an, eine Kuppel trug sich, Feuer fangend, wie ein Edelstein,
-und vor den toll erblauenden Lagunen fuhren Türme
-leidenschaftlich auf. Venedig zuckte, flammte und erlosch,
-von einer schwarzen See verschlungen. Das Vaporetto,
-allen Ufern entzogen, vom Sturme eingehüllt, wurde der
-Schauplatz eines Wolkenbruches und war so dicht besetzt,
-<a id="page-147" class="pagenum" title="147"></a>
-daß keiner von seinem Heringsplatz wegrücken konnte.
-Ströme liefen den Längsseiten entlang und gurgelten in die
-Schuhe. An der Peripherie stehend und vom Wind halb
-erstickt, erhaschte ich gerade noch meinen Hut, als er über
-Bord fliegen wollte. Von allen Köpfen rann das Wasser.
-Da schlug ein Blitz wie ein Riesenschwert hart am Schiffe
-vorbei in die Wellen, und im selben Augenblick setzten Rufe
-und Wehklagen von Frauen und Kindern ein, das merkwürdigste
-Lamento, einem Sirenengeheul nicht unähnlich.
-Was jetzt vor sich ging, war die regelrechte Generalprobe
-einer großen Panik; denn das Schiff hatte keinen Schaden
-erlitten. Es schien zu stoppen, legte aber langsam die gewohnte
-Straße zurück, und nur der <em>Gedanke</em> an den
-Untergang löste also diese Angst und dies rührende Flehen
-der Kinder aus, die, an ihre Mütter gepreßt, unausgesetzt
-nach ihnen riefen. Väter waren plötzlich etwas Unvorhandenes
-in der Welt. Aber dieser Präventivjammer, war
-er nicht seltsam angesichts der Tatsache, daß wir in einer
-viertel Stunde landen würden, während Schiffe, die solche
-Klagetöne entsandten, zu Tausenden untergegangen waren
-mit Menschen, welche auch vermeinten, ihnen könne und
-dürfe dies nicht widerfahren, und mit demselben starken
-Willen wie hier sich an das Leben klammerten, bevor sie
-ertranken. Und waren wir darum weniger Kandidaten des
-Todes, weil jetzt das Schiff ohne Havarie das Ufer erreichte,
-der seltsame Choral verstummte und Gelächter sich
-vernehmen ließ, als sei alles gewonnen? Dem Wolkenbruch
-war ein heftiger Regen gefolgt. Meinen Hut, der einer
-ersäuften Ratte glich, in der Hand haltend, stürzte ich
-<a id="page-148" class="pagenum" title="148"></a>
-blindlings auf einen offenen Eingang los. Es war die dem
-Landungsplatz gerade gegenüberliegende Pforte des Hotels
-Danieli. Ein großer, breitschulteriger Herr starrte mich an,
-als sei der Genius des Regens durch den Schornstein zu
-ihm hereingefahren. Dann aber geleitete er mich, ohne eine
-Frage zu stellen, die Treppe hinauf, schloß eine Tür auf,
-läutete einer Cameriera, die alle meine Sachen mit fortnahm,
-und ich war allein in einem großen Doppelzimmer,
-das plötzlich stockfinster wurde, weil jetzt der Blitz irgendeine
-Leitung beschädigte, so daß alle Klingeln und alles
-Licht im Hotel versagte. Nun war ich bis zu diesem Tage
-mit meinem Italienisch pompös ausgekommen. Vergessene
-Worte aus meiner Kindheit waren mir in Scharen wieder
-zugeflogen. Und ich fing sie ein, wie sie gerade kamen,
-duzte groß und klein, weil mir die Verben nur <span class="antiqua">en gros</span>
-einfielen, spickte sie dafür mit <span class="antiqua">magaris</span> und <span class="antiqua">c’è casos</span> und
-<span class="antiqua">ma comes</span> und <span class="antiqua">ma ches</span>, alles in rüstiger Bearbeitung,
-wie frische Salatblätter, und mit einer so draufgängerischen
-Volubilität, als müßte mir doch endlich jemand sagen:
-„Nein, wie <em>Sie</em> gut italienisch reden!“ Allein, das neueröffnete
-Konto meines Wortschatzes hatte angesichts des
-Bewußtseins als Dachrinne, statt, wie es in meinem
-<span class="antiqua">Biglietto gratuito</span> stand, als „<span class="antiqua">critica del Berliner Tageblatt</span>“
-<span class="antiqua">in questo albergo</span> aufzutreten, eine plötzliche Sperre
-erlitten. Während ich zähneklappernd durch die strahlende
-Halle vorüberströmte, hatte mir zwar meine rinnende Stirn
-noch einige Kontenance gegeben. Als ich aber zwei Stunden
-später, nach Verbrauch vieler Handtücher, in getrockneten
-und heiß gebügelten Kleidern und mit einem menschlichen
-<a id="page-149" class="pagenum" title="149"></a>
-Angesicht im Bureau des Hotels bei dem breitschulterigen
-Herrn vorsprach, da war mein Italienisch, wie der Federkranz
-auf meinem Hute, von mir weggeweht, und gefaßt,
-aber in einem fürchterlichen Kauderwelsch erkundigte ich
-mich nach dem Preis. <span class="antiqua">Ma niente!</span> sagte er, ganz Kaufmann
-von Venedig und mit einer Geste, welche diese ganze
-Stadt zum Hintergrunde hatte.
-</p>
-
-<p class="tb">
-&nbsp;
-</p>
-
-<p class="noindent">
-Mit der Hitze ist es übrigens, wie ich vermutet habe.
-Heiß ist heiß und kalt ist kalt. Mehr als heiß kann es nicht
-geben, und ein Eisenbahnwagen in der Sommersglut
-zwischen Offenburg und Frankfurt bietet nicht die Spur
-größerer Kühle als Verona um dieselbe Jahreszeit.
-</p>
-
-<p class="date">
-27. Juni, Dienstag
-</p>
-
-<p class="noindent">
-Was die Ausstellung betrifft, so mußte es bei jenem
-ersten flüchtigen Rundgang bleiben. – Als ich heute morgen
-Lire kaufen wollte, war die Mark derart zusammengebrochen,
-daß man in den Wechselstuben Miene machte,
-sie überhaupt nicht mehr zu nehmen. Als sei mit Rathenau
-ein letzter tragender Pfeiler niedergerissen, und jener
-drohende Ruin, gegen welchen dieser Sohn seines Landes
-alle seine Kräfte angespannt hatte, vollzöge nunmehr ungehindert
-seinen verheerenden Marsch. Fluchtartig verließ
-ich Venedig.
-</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="chapter" id="chapter-0-11">
-<a id="page-151" class="pagenum" title="151"></a>
-Abschied von Venedig 1924
-</h2>
-
-</div>
-
-<p class="pbb first">
-<a id="page-153" class="pagenum" title="153"></a>
-<span class="firstchar">V</span><span class="postfirstchar">on</span> der Einnahme Venedigs durch die Deutschen in
-der Osterwoche 1924 werden die Annalen dieser Stadt
-vermutlich nichts berichten. Wer hätte es auch gedacht?
-So schnell, nicht wahr? Ohne Schwertstreich. Infolge der
-schönen Verordnung, daß ihnen bei der Ausreise eine hohe
-Summe abzufordern sei, sprangen, kletterten, überrannten,
-stürmten sie in ihrer Torschlußpanik scharenweise die Grenzpfähle
-– und waren da. Man sah mit einem Male auf unbemittelte
-Deutsche, welchen man die Spuren der letzten
-zehn Jahre anmerkte, und die billigen Alberghi waren nicht
-minder angefüllt als wie Danieli, Grünwald usw. – Bleibt
-es bei jener Verordnung, dann werden – ausgerechnet –
-nur mehr jene Typen, welche uns dies Frühjahr so blamierten
-und durch ihren Aufwand so viele Spenden an
-ihre notleidenden Landsleute rückgängig machten, sie allein
-werden dieselben fürderhin vor dem Auslande repräsentieren.
-</p>
-
-<p>
-In jener Osterwoche jedoch sah man, wie gesagt, so
-manch sympathisches Gesicht mit dem Gepräge einer geistigen
-Existenz. Wie eine Springflut stürzte auch die heute so zurückgedämmte
-Sprache über ganz Venezien hin, und deutsche
-Speisekarten lagen in allen Ristorante auf. Mehrfach habe
-ich „Wurstl mit Cren“ gelesen; hyperdeutsch; nur Münchner
-mochten auf den ersten Blick erfassen, daß hiermit kein
-Hanswurst gemeint ist, kein Wurstl, sondern Wurst mit
-Meerrettig.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-154" class="pagenum" title="154"></a>
-Die Osterglocken läuten über den Markusplatz, die Sonne
-leuchtet und lockt ans Meer; es gurren die Tauben im verstärkten
-Chor, und nie war die Welt so gemein. Restbestände
-aus der Arche Noah sind natürlich überall noch anzutreffen,
-aber mehr als „Souvenirs“, nicht daß sie ins Gewicht
-fallen; bewahre! Ausschlaggebend ist durchaus die dicke
-Krämerin aus dem Grand Hotel, die an einer Porphyrsäule
-der Markuskirche lehnt und behufs photographischer
-Aufnahme mit ihrem Mispelgesicht zu einer Taube wie
-eine Mispel niederlächelt, wenn eine Mispel lächeln könnte.
-</p>
-
-<h3 class="section" id="subchap-0-11-1">
-Wunschtraum
-</h3>
-
-<p class="noindent">
-Wenn ich ein Vöglein wäre, flöge ich natürlich dieser
-Welt davon. Hätte ich aber in ihr etwas zu sagen, so
-führe dieser Tage ein strammer und himmellanger Besen
-in den Markusplatz hinein. Die an der Porphyrsäule
-Lehnende würde in eine Calle hinter einen Ladentisch
-mit Mortadella zurückgefegt. Sodann müßten mir die
-Konzertprogramme bei Quadri, Olympia, Florian und
-Lavena unterbreitet werden. Denn bei schwerer Geldstrafe
-dürfte keine Bumsmusik auf der Piazza hin- und herüber
-tönen. Ich erlebte folgendes: Eine der dortigen Kapellen –
-sie bestand aus Deutschen, Südtirolern und einem Italiener
-– gab als schüchterne Konzession an den Karfreitag
-Paraphrasen aus dem Parsifal. Zum Schluß rief jemand
-Bis. Daraufhin entspann sich zwischen den Musikern und
-mir folgender Dialog: „Spielen Sie das doch noch einmal.“
-– „Wir können nicht.“ – „Man hat doch Bis
-<a id="page-155" class="pagenum" title="155"></a>
-gerufen.“ – „Es war ja nur Hohn.“ „<span class="antiqua">Non li piace</span>,“ sagte
-der Cellist, „<span class="antiqua">piace a noi, ma non a loro</span>.“ Ich würde mir
-aber das Publikum schon ziehen.
-</p>
-
-<p>
-Haben wir, die wir uns in der Welt nicht mehr recht zu
-Hause fühlen, am Ende ehrlichere Gesichter von unserem
-Unbehagen weg? – Ich erstand ein Fernglas, hatte aber
-nicht genügend Geld bei mir und ersuchte die Verkäuferin,
-es mir zurückzulegen. Da trat aus dem Schatten die Padrona
-hervor, bat mich um Namen und Adresse und
-händigte mir das Fernglas ein.
-</p>
-
-<p>
-Und doch bin ich finsterer denn je entschlossen, den nächsten
-Fund, den ich mache, zu behalten. Aber ach! Die Menschen
-teilen sich in Finder und in Verlierer ein und mir sind
-die Finder immer an den Fersen. –
-</p>
-
-<h3 class="section" id="subchap-0-11-2">
-<span class="antiqua">La valigia</span>
-</h3>
-
-<p class="noindent">
-Die Nacht war längst angebrochen, als der Zug, mit
-dem ich fuhr, sich Venedig näherte. In meinem Abteil saßen
-mir zwei Herren gegenüber, auf meiner Seite niemand. Ich
-streckte mich also der Länge nach aus und merkte nicht einmal,
-daß einer meiner Reisegefährten in Vicenza ausstieg,
-der andere in Mestre. In Venedig angekommen, merkte
-ich aber, daß an Stelle meiner Handtasche eine viel kürzere,
-die ihr außer in der Farbe gar nicht glich, zurückgeblieben
-war. Die meinige war offen gewesen. Kofferschlüssel führe
-ich prinzipiell schon lange keine mehr mit mir. Wozu auch?
-Es mußte regelmäßig der Schlosser gerufen werden, der
-neue Schlüssel aber war es, der als erster abhanden ging,
-<a id="page-156" class="pagenum" title="156"></a>
-während der alte wieder zum Vorschein zu kommen pflegte,
-zum geänderten Schlosse aber nicht mehr paßte. Außerdem:
-was nützen Schlüssel? – Fuhrwerke etwa ich in Koffern
-herum, die andern gehören? Wäre ich aber ein Dieb, würde
-das bißchen Schloß mich daran hindern? Also.
-</p>
-
-<p>
-Übergehen wir aber, ehrlicher und teilnehmender Leser,
-meine Fassungslosigkeit, als über das Fehlen meiner Tasche
-kein Zweifel mehr bestand. Nichts von angelsächsischer
-Selbstbeherrschung legte ich an den Tag; nichts von Stoik.
-Ungeheuchelt brach sich mein Furor Bahn. Zwar hatte
-schon ein Herr aus Vicenza wegen eines Gepäckstückes telephoniert;
-aber böse Ahnungen zogen im Sturme in mir
-auf; den Bettelstab sah ich grünen in meiner Hand. Denn
-auch meine Manuskripte, die Arbeit von Jahren, steckten
-wohlverschnürt in einer Seitentasche und sollten in Venedig
-ihre letzte Reife erfahren. Und nicht nur sie, sondern mein
-jüngstes Produkt, mein Benjamin, welcher den Titel führte:
-veder <span class="antiqua">Napoli e partire</span>. Er war nicht gegen Napoli, nur
-gegen das schlechte Wetter gemünzt, das ich dort angetroffen
-hatte. Wer aber bürgte mir, daß mein <span class="antiqua">mal’ occhio</span>
-weiter als diesen Titel lesen und in nationalistischer Entrüstung
-den ganzen Bündel nicht ins Feuer werfen würde.
-Hatte man nicht wegen Palermo den Maeterlinck gefordert?
-–
-</p>
-
-<p>
-Um zwei Uhr morgens war ich in meinem Hotelzimmer,
-um neun Uhr schon wieder auf dem Weg zur Bahn. Über
-meine Tasche lagen nur höchst undeutliche Meldungen vor,
-die des Vicentiners hatte man ihm zurückgeschickt. Ich begab
-mich zum <span class="antiqua">capo di stazione</span>. Wert im Rate der Zehn
-<a id="page-157" class="pagenum" title="157"></a>
-zu sitzen, höchst ritterlich, und noch dazu auffallend schön,
-nahm er sich, über jeden <span class="antiqua">sacro egoismo</span> erhaben, sofort
-meiner an und telephonierte nach Vicenza. Es sei eine
-Tasche da, jawohl. Ich wurde gefragt, was alles drin sei,
-und ich nannte ein paar Dinge, die mir gerade einfielen.
-„Toilettengegenstände, eine Reiseuhr, ein Arbeitssack, <span class="antiqua">Delle
-lettere</span>“, sagte ich; <span class="antiqua">scritture</span>. Der <span class="antiqua">capo di stazione</span> notierte
-alles und gab seine Orders. Mit dem Sieben-Uhr-Abendzug
-würde die Tasche ankommen, wenn ich also um dieselbe Zeit
-mich einfinden wollte? ... Doch ach, nur ich traf
-ein zu diesem Abendzug. Der <span class="antiqua">capo di stazione</span> begab sich
-in den Gepäckraum; errötend gab er mir das negative Ergebnis
-mit. Er telephonierte und telegraphierte von neuem.
-</p>
-
-<p>
-Am nächsten Morgen war die Tasche da.
-</p>
-
-<p class="tb">
-&nbsp;
-</p>
-
-<p class="noindent">
-Verschnürt und plombiert harrte sie meiner im Lagerraum,
-und ich wurde aufgefordert, sie zu öffnen und festzustellen,
-ob nichts fehle. Ich zerschnitt die Schnüre, sie
-sprang auf. Ein Griff nach rechts, ein Befühlen der Rolle,
-meine Werkstatt war unversehrt. Da genügte ein flüchtiger
-Blick auf alles übrige. „<span class="antiqua">C’è tutto!</span>“ sagte ich, zog ab mit
-meiner Tasche, nahm eine Gondel für die Tasche und mich
-und blickte triumphierend den <span class="antiqua">Canal Grande</span> hinab. Die
-Tasche und ich, wir fuhren dann ein in die stilleren Seitengewässer
-und die nur aus ihrer Stille vernehmbare Musik
-Venedigs, von den Steinen und den Pforten angestimmt,
-ob sie eintauchen in die Flut oder bemoost sie überragen,
-wie süß drang sie zu mir.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-158" class="pagenum" title="158"></a>
-Erst beim Auspacken trat zutage, was alles fehlte: von
-drei Scheren zwei, von zwei Bürsten die zusammenlegbare
-in einem Etui, der Sack Pralinés aus Nizza. Allein solche
-Verluste nimmt man leicht. Als ich jedoch den Arbeitsbeutel
-öffnete, wehe! Da fehlte der wertvollste und teuerste
-jener Gegenstände, die ich immer mit mir führe: eine
-schmale, silberne, einfache, aber wirklich vollkommen schöne
-Empire-Nadelbüchse, einzig in ihrer Art, die alle kennen, die
-meine Sachen kennen. Sie fehlte. Sie war gestohlen. Der
-naheliegende Gedanke, daß man so grausam sein würde,
-sie mir zu rauben, war mir nie gekommen. Eine Welt von
-Erinnerungen umschloß für mich ihr schmaler, schreinartiger
-Hals. Nie öffnete ich sie mit gleichgültiger Hand. Ich hing
-an ihr über mein Leben hinaus, ich träume von ihr.
-</p>
-
-<p>
-Mit welchem Fuge aber hätte ich den Weg zur Bahn
-von neuem eingeschlagen, nachdem ich doch ausgerufen
-hatte: „<span class="antiqua">C’è tutto!</span>“
-</p>
-
-<p>
-Ihr Herren Eisenbahner aus Vicenza, lohnt mir so nicht
-mein Vertrauen. Gebt mir meine Nadelbüchse wieder!
-Was ist sie für ein verschwindend Ding inmitten der Pracht,
-die euch umgibt.
-</p>
-
-<p>
-Oder sollten Sie mein Herr, der Sie meine Tasche verwechselten
-– Ihr Name wurde ja auf Protokoll genommen
-–, sollten Sie ein Antiquar sein und der Versuchung
-nicht haben widerstehen können, so schicken Sie mir die kleine
-Nadelbüchse wieder. Wer sie mir findet und zurückschickt,
-dem werde ich ihren vollen Wert zurückerstatten, wer
-immer es sei. Dem Dieb, der sie behält, wird sie Unglück
-bringen, denn sie gehört zu niemandem als zu mir.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-159" class="pagenum" title="159"></a>
-Seltsame Stadt, schwebend gleichsam, nein, wie in sich
-selbst versunken, und dem Tode stärker als dem Leben zugewandt.
-Wie behält sie jedes Echo! Was läutet sie? –
-Noch vibrieren heimliche Reflexe jenes Februartages, an
-dem der junge d’Annunzio den Sarg des „<span class="antiqua">Grande Barbaro</span>“
-auf seine Schultern hob und mit seinen Freunden
-die Stufen des Palazzo Vendramins hinabtrug. Noch
-lauern Schatten jener Gondel, die Wagners Leiche zog,
-noch weht am <span class="antiqua">Canal Grande</span> ein Hauch der Stunde, zu
-der er starb.
-</p>
-
-<p>
-Schöner, tiefer, stiller war Venedig vor zwei Jahren
-inmitten seiner Junihitze und seiner Leere. Damals klang
-die trübe Nachricht vom Mord an Rathenau herüber;
-dieses Mal der Tod der Duse, und gleich darauf in seiner
-schauderhaften Schrille das Ende Helfferichs. Wer hat den
-Tod mit einer Geige abgebildet? Wie verschieden moduliert
-er seine Weisen! Mit welcher Pracht umleuchtete und
-steigerte er weithin das Sterben der Duse. O heilige
-Kunst! –
-</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="chapter" id="chapter-0-12">
-<a id="page-161" class="pagenum" title="161"></a>
-Molières Tod
-</h2>
-
-</div>
-
-<p class="pbb first">
-<a id="page-163" class="pagenum" title="163"></a>
-<span class="firstchar">E</span><span class="postfirstchar">s</span> ist die Liebenswürdigkeit Molières, welche wir bei
-aller sonstigen und eingebürgerten Würdigung seines
-Genies übersehen. Geistige Verwandtschaften konstruieren
-sich ebenso bestimmt wie die Ausläufer und Nebenlinien
-eines Stammbaumes. Es gibt Familien hier wie dort.
-</p>
-
-<p>
-Ich kann mir nicht helfen, aber ich sehe – ganz unswedenborgisch
-natürlich – ich sehe immer Pascal mit
-Hebbel und Brahms eingehängt daherkommen, und ich
-sehe, wie Molière und Mozart „<span class="antiqua">mon cousin</span>“ zueinander
-sagen und ein Lächeln an sich tragen wie Brüder; eines
-selben Hauses und von selbem Adel: zwei lichte Gestalten
-auf dunklem Grund.
-</p>
-
-<p>
-Molières ausgelassene Augen haben sehr melancholische
-Wimpern. Es verhält sich ähnlich mit Mozarts vielgerühmter
-und doch so beschatteter Heiterkeit, seinem beiläufigen,
-aber grandiosen Ernst. Sie sind beide zu scharfblickend,
-um sich mit dem leichtsinnigen Rossini oder dem trotz
-chronisch unglücklichen Verliebtseins bei Gelegenheit so
-fidelen Schubert zu verzweigen. Molière und Mozart haben
-die ähnlichen Nerven, den ähnlichen geistigen Charme und
-jene charakteristischen Merkmale, welche nur den Lieblingen
-der Götter eigen sind: selbst der unheilbar erkrankte
-Molière, der, in der Sänfte getragen, seinen hohen Gönnerinnen
-Besuch abstattet, ist noch von Jugend umweht.
-Selbst der sterbende Molière ist unvorstellbar als ein Gealterter.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-164" class="pagenum" title="164"></a>
-Sie haben eine ähnliche Haltung ihrer Zeit gegenüber,
-die ihnen teils eine bevorzugte Stellung einräumt und sie
-kajoliert, teils mit letzter Roheit ihre Vorurteile ihnen
-gegenüber aufrecht hält.
-</p>
-
-<p>
-So trägt Mozart den berühmten Fußtritt jenes Grafen
-davon, an dessen Wappen er dann haftenblieb, und
-Molières Leiche wird einer Bestattung in geweihter Erde
-nicht für würdig erachtet.
-</p>
-
-<p>
-Sollte man da nicht doch versucht sein, an einen Fortschritt
-zu glauben? Aber nichts beleuchtet ihn besser als die
-unbestreitbare Tatsache, daß in unserer Zeit Molière und
-Mozart auf ihre Felddiensttauglichkeit geprüft worden
-wären. – Wolfgang Amadäus Mozart im Schützengraben!
-Molière als Poilu! – Es ist also schon besser,
-nicht wahr, sie lebten im <span class="antiqua">Dix-septième</span> und <span class="antiqua">Dix-huitième</span>.
-</p>
-
-<p class="vspace">
-&nbsp;
-</p>
-
-<div class="ads chapter">
-<p class="u adh">
-Die<br />
-nachfolgenden Seiten<br />
-werden<br />
-der Beachtung<br />
-empfohlen
-</p>
-
-</div>
-
-<div class="ads chapter">
-<p class="h2 adh">
-DAS KLEINE PROPYLÄEN-BUCH
-</p>
-
-<p class="adb">
-<span class="line1">MAURICE BARING, MINIATURDRAMEN</span><br />
-<span class="line2">Deutsch von Ella Bacharach-Friedmann</span>
-</p>
-
-<p class="adb">
-<span class="line1">BEETHOVEN, BRIEFE, GESPRÄCHE, ERINNERUNGEN</span><br />
-<span class="line2">Ausgewählt und eingeleitet von Paul Wiegler</span>
-</p>
-
-<p class="adb">
-<span class="line1">CAZOTTE, BIONDETTA, DER VERLIEBTE TEUFEL</span><br />
-<span class="line2">Deutsch von Franz Blei</span>
-</p>
-
-<p class="adb">
-<span class="line1">CERVANTES, DER EIFERSÜCHTIGE ESTREMADURER</span><br />
-<span class="line2">Drei Novellen</span>
-</p>
-
-<p class="adb">
-<span class="line1">DENIS DIDEROT, DER NEFFE DES RAMEAU</span><br />
-<span class="line2">Deutsch von Otto von Gemmingen</span>
-</p>
-
-<p class="adb">
-<span class="line1">JOSEPH VON EICHENDORFF, AUS DEM LEBEN EINES TAUGENICHTS</span>
-</p>
-
-<p class="adb">
-<span class="line1">ANSELM FEUERBACH, EIN VERMÄCHTNIS</span><br />
-<span class="line2">Mit einer Einleitung von Wilhelm Weigand</span>
-</p>
-
-<p class="adb">
-<span class="line1">ANDRÉ GIDE, DIE PASTORAL-SYMPHONIE</span><br />
-<span class="line2">Deutsch von Bernard Guillemin</span>
-</p>
-
-<p class="adb">
-<span class="line1">GOGOL, PHANTASTISCHE GESCHICHTEN</span><br />
-<span class="line2">Herausgegeben von Otto Buek</span>
-</p>
-
-<p class="adb">
-<span class="line1">OTTILIE VON GOETHE, EIN PORTRÄT</span><br />
-<span class="line2">Aus Dokumenten ausgewählt und eingeleitet von Ilse Linden</span>
-</p>
-
-<p class="adb">
-<span class="line1">STEFAN GROSSMANN, LENCHEN DEMUTH</span><br />
-<span class="line2">und andere Novellen</span>
-</p>
-
-<p class="adb">
-<span class="line1">HEINRICH HEINE, DIE BÄDER VON LUCCA</span>
-</p>
-
-<p class="adb">
-<span class="line1">HEINRICH HEINE, EIN LIEBESSPIEGEL</span><br />
-<span class="line2">Aus seinen Liedern ausgewählt und eingeleitet von Herbert Eulenberg</span>
-</p>
-
-<p class="adb">
-<span class="line1">J. K. HUYSMANS, STROMABWÄRTS</span><br />
-<span class="line2">Novellen. Deutsch von Else Otten.</span>
-</p>
-
-<p class="adb">
-<span class="line1">ANNETTE KOLB, WERA NJEDIN</span><br />
-<span class="line2">Erzählungen und Skizzen</span>
-</p>
-
-<p class="adb">
-<span class="line1">LUKIAN, GÖTTER-, TOTEN- UND HETÄRENGESPRÄCHE</span><br />
-<span class="line2">Nach Wielands Übersetzung</span>
-</p>
-
-<p class="adb">
-<span class="line1">HEINRICH MANN, ABRECHNUNGEN</span><br />
-<span class="line2">Sieben Novellen</span>
-</p>
-
-<p class="adb">
-<span class="line1">GEORGE MEREDITH, CHLOES GESCHICHTE</span><br />
-<span class="line2">Deutsch von Franz Blei</span>
-</p>
-
-<p class="adb">
-<span class="line1">WILLY SEIDEL, DIE EWIGE WIEDERKUNFT</span><br />
-<span class="line2">Novellen</span>
-</p>
-
-<p class="adb">
-<span class="line1">VERSE DER LEBENDEN, DEUTSCHE LYRIK SEIT 1910</span><br />
-<span class="line2">Herausgegeben von Heinrich Eduard Jacob</span>
-</p>
-
-<p class="u s c">
-Die Sammlung wird fortgesetzt!<br />
-Jeder Band in Leinen M. 2.50, in Satin M. 3.20
-</p>
-
-<p class="ade">
-IM PROPYLÄEN-VERLAG / BERLIN
-</p>
-
-</div>
-
-<div class="trnote chapter">
-<p class="transnote">
-Anmerkungen zur Transkription
-</p>
-
-<p>
-Offensichtliche Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert.
-Weitere Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):
-</p>
-
-
-
-<ul>
-
-<li>
-... Es <span class="underline">was</span> ihr Eigentum wie dieses ganze Haus. ...<br />
-... Es <a href="#corr-0"><span class="underline">war</span></a> ihr Eigentum wie dieses ganze Haus. ...<br />
-</li>
-
-<li>
-... <span class="underline">lökte</span> sie den blinden Drang, nur ja zu leben, nur ja nicht ...<br />
-... <a href="#corr-1"><span class="underline">löste</span></a> sie den blinden Drang, nur ja zu leben, nur ja nicht ...<br />
-</li>
-</ul>
-</div>
-
-
-<div lang='en' xml:lang='en'>
-<div style='display:block; margin-top:4em'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK <span lang='de' xml:lang='de'>WERA NJEDIN</span> ***</div>
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-
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-Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg&#8482;
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-Project Gutenberg&#8482; is synonymous with the free distribution of
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-generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
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-Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org.
-</div>
-
-<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'>
-Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
-</div>
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-The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
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-</div>
-
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-The Foundation&#8217;s business office is located at 809 North 1500 West,
-Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
-to date contact information can be found at the Foundation&#8217;s website
-and official page at www.gutenberg.org/contact
-</div>
-
-<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'>
-Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Project Gutenberg&#8482; depends upon and cannot survive without widespread
-public support and donations to carry out its mission of
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-freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
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-status with the IRS.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-The Foundation is committed to complying with the laws regulating
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-States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
-considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
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-While we cannot and do not solicit contributions from states where we
-have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
-against accepting unsolicited donations from donors in such states who
-approach us with offers to donate.
-</div>
-
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-any statements concerning tax treatment of donations received from
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-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
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-methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
-ways including checks, online payments and credit card donations. To
-donate, please visit: www.gutenberg.org/donate
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-
-<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'>
-Section 5. General Information About Project Gutenberg&#8482; electronic works
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
-Gutenberg&#8482; concept of a library of electronic works that could be
-freely shared with anyone. For forty years, he produced and
-distributed Project Gutenberg&#8482; eBooks with only a loose network of
-volunteer support.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Project Gutenberg&#8482; eBooks are often created from several printed
-editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
-the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
-necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
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-</div>
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-Most people start at our website which has the main PG search
-facility: <a href="https://www.gutenberg.org">www.gutenberg.org</a>.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-This website includes information about Project Gutenberg&#8482;,
-including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
-Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
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