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@@ -0,0 +1,17765 @@
+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 68402 ***
+
+ ####################################################################
+
+ Anmerkungen zur Transkription
+
+ Der vorliegende Text wurde anhand der 1919 erschienenen Buchausgabe
+ so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische
+ Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute
+ nicht mehr gebräuchliche Schreibweisen, Schreibvarianten sowie
+ fremdsprachliche Passagen bleiben gegenüber dem Original unverändert.
+
+ Besondere Schriftschnitte wurden mit Hilfe der folgenden
+ Sonderzeichen gekennzeichnet:
+
+ gesperrt: +Pluszeichen+
+ Antiqua: ~Tilden~
+
+ ####################################################################
+
+
+
+
+ Im Herzen von Asien.
+
+ Erster Band.
+
+
+
+
+ [Illustration: SVEN HEDIN]
+
+
+
+
+ Im Herzen von Asien.
+
+ Zehntausend Kilometer
+ auf unbekannten Pfaden.
+
+ Von
+
+ Sven v. Hedin.
+
+ Mit 341 einfarbigen und bunten Abbildungen und 5 Karten.
+
+ Autorisierte Ausgabe.
+
+ Vierte Auflage.
+
+ Erster Band.
+
+ [Illustration]
+
+ Leipzig:
+ F. A. Brockhaus.
+ 1919.
+
+
+
+
+ Meinen deutschen Studiengenossen
+ gewidmet.
+
+
+
+
+Vorwort zur ersten Auflage.
+
+
+Das Buch, das ich hiermit den Freunden der geographischen Forschung
+auf Gnade und Ungnade übergebe, widme ich in der deutschen Ausgabe aus
+treuer Anhänglichkeit meinen deutschen Studiengenossen.
+
+Es ist meine erste und teuerste Pflicht, unter denjenigen, welche bei
+vielen vorhergehenden Gelegenheiten meine Pläne mit verständnisvollem
+Interesse und mit Wärme erfaßt haben, Sr. Majestät +König Oskar von
+Schweden und Norwegen+, der mit gewohnter Freigebigkeit meine Reise
+ermöglichte, meine aufrichtigste Dankbarkeit zu bezeugen.
+
+Auch Sr. Majestät dem +Kaiser von Rußland+ bin ich zu großem Dank
+verpflichtet für die Unterstützung, die er die Gnade hatte mir zuteil
+werden zu lassen. Die Kosakeneskorte, die mir der Kaiser zur Verfügung
+stellte, war für mich von unschätzbarem Wert. Selten habe ich solche
+Treue und solchen Gehorsam gefunden wie in den Jahren, die ich mit
+diesen Kosaken zusammen verlebte. In Verbindung hiermit muß ich auch
+dem russischen Kriegsminister +General Kuropatkin+ dafür danken,
+daß er mir infolge seiner hohen Stellung die Reise in mehr als einer
+Beziehung erleichterte.
+
+Sehr zu Dank verpflichtet bin ich allen +meinen Landsleuten+, die in
+freigebiger Weise einen ansehnlichen Teil der notwendigen Mittel zur
+Reise beisteuerten, während ich aus Eigenem das Honorar meiner früheren
+Reisebeschreibung für meine neuen Forschungen auf asiatischem Boden
+verwendete.
+
+Mein Buch erhebt nur den Anspruch, ein in großen Zügen angelegtes
+Tagebuch meiner Erfahrungen und Erlebnisse im Herzen von Asien und
+eine Beschreibung jener Gebiete zu sein, die ich auf einer Wanderung
+von über 10000 Kilometern durchquert habe. Diese Länder sind vor mir
+noch nie besucht und noch weniger beschrieben worden und verdienen
+daher Aufmerksamkeit. Ich habe versucht, einen Begriff davon zu
+geben, wie man in der großen Einsamkeit Asiens lebt und wie die Tage
+dort vergehen. Durch Asien wandelt man nicht auf Rosen. Die Mühe
+findet jedoch ihren Lohn in dem Bewußtsein, das Wissen der Menschheit
+vergrößert zu haben. Die +wissenschaftlichen Resultate+ der Reise
+berühre ich in diesem Buche nur flüchtig, da sie einem besonderen Werke
+vorbehalten sind, dessen Herausgabe die Freigebigkeit des schwedischen
+Reichstags ermöglicht hat. Auf die hochverdienten Reisenden, die vor
+mir oder gleichzeitig mit mir Asien bereist haben, habe ich in meinem
+Werke selten Bezug genommen, um auf dem mir zur Verfügung stehenden
+Raume den Verlauf meiner eigenen Reise ausführlicher schildern zu
+können.
+
+Die absoluten Höhen hat Herr ~Dr.~ +Nils Ekholm+ ausgerechnet. Die
+beigegebenen Karten können nur als vorläufige betrachtet werden. Mit
+Benutzung meines großen Kartenmaterials hat Hauptmann +Byström+ sie in
+sehr verdienstvoller Weise, die viele Mühe gekostet hat, ausgeführt.
+Schwedische Künstler haben durch naturgetreue, wohlgelungene Bilder zum
+Schmucke der Arbeit beigetragen. Allen diesen Herren sage ich meinen
+herzlichen Dank für ihre Mitarbeit.
+
+Meine Mutter ist mir eine unermüdliche Korrekturleserin gewesen; sie
+hat meinen guten Namen vor vielen Schnitzern bewahrt!
+
+ Sven v. Hedin.
+
+
+
+
+Inhalt des ersten Bandes.
+
+
+ Seite
+
+ +Vorwort+ VII-VIII
+
+ +Einleitung+ 1-7
+
+ +Erstes Kapitel.+ Über den ersten Paß des Kontinents 8-17
+
+ +Zweites Kapitel.+ Vorbereitungen zur Wüstenfahrt 18-24
+
+ +Drittes Kapitel.+ Die Schiffswerft in Lailik 25-35
+
+ +Viertes Kapitel.+ Zweitausend Kilometer auf dem Tarim 36-46
+
+ +Fünftes Kapitel.+ Der verzauberte Wald 47-58
+
+ +Sechstes Kapitel.+ Vierzig Kilometer zu Fuß 59-69
+
+ +Siebentes Kapitel.+ Friedliche Heiligengräber 70-80
+
+ +Achtes Kapitel.+ Der große, einsame Tarim 81-89
+
+ +Neuntes Kapitel.+ In schwindelnder Fahrt flußabwärts 90-100
+
+ +Zehntes Kapitel.+ Der Jumalak-darja auf dem Wege durch die
+ Sandwüste 101-111
+
+ +Elftes Kapitel.+ Im Kampf mit dem Treibeise 112-125
+
+ +Zwölftes Kapitel.+ Wir frieren fest und gehen ins
+ Winterquartier 126-138
+
+ +Dreizehntes Kapitel.+ Eine französische Visite 139-147
+
+ +Vierzehntes Kapitel.+ Ins Herz der Wüste Takla-makan 148-158
+
+ +Fünfzehntes Kapitel.+ Das endlose Wüstenmeer 159-173
+
+ +Sechzehntes Kapitel.+ Dreihundertvierzig Kilometer in
+ 30 Grad Kälte 174-180
+
+ +Siebzehntes Kapitel.+ Zwischen vergessenen Gräbern und
+ ausgetrockneten Flußbetten 181-192
+
+ +Achtzehntes Kapitel.+ Die Ankunft der burjatischen Kosaken
+ in Turasallgan-ui 193-200
+
+ +Neunzehntes Kapitel.+ Der Kurruk-tag und der Kurruk-darja 201-213
+
+ +Zwanzigstes Kapitel.+ Das gelobte Land des wilden Kamels 214-224
+
+ +Einundzwanzigstes Kapitel.+ Der frühere See Lop-nor 225-236
+
+ +Zweiundzwanzigstes Kapitel.+ Fünfundzwanzig Tage im Kahn 237-251
+
+ +Dreiundzwanzigstes Kapitel.+ Gefährliche Wasserfahrten 252-265
+
+ +Vierundzwanzigstes Kapitel.+ Die letzte Reise der Fähre 266-277
+
+ +Fünfundzwanzigstes Kapitel.+ Poesie im innersten Asien 278-285
+
+ +Sechsundzwanzigstes Kapitel.+ Aufbruch nach Tibet 286-299
+
+ +Siebenundzwanzigstes Kapitel.+ Über den Tschimen-tag,
+ Ara-tag und Kalta-alagan nach dem oberen Kum-köll 300-313
+
+ +Achtundzwanzigstes Kapitel.+ Fünftausend Meter über dem Meere 314-329
+
+ +Neunundzwanzigstes Kapitel.+ Eine lange Seefahrt 330-343
+
+ +Dreißigstes Kapitel.+ Über stürmische Seen und himmelhohe
+ Berge 344-360
+
+ +Einunddreißigstes Kapitel.+ Aldats Tod 361-371
+
+ +Zweiunddreißigstes Kapitel.+ Ein trügerisches Feuer 372-380
+
+ +Dreiunddreißigstes Kapitel.+ Über sechs Pässe 381-396
+
+
+
+
+Abbildungen.
+
+
+ Seite
+
+ Porträt des Verfassers (Titelbild)
+
+ 1. Das englische Faltboot auf dem Panggong-tso in Westtibet.
+ 2. Islam Bai. 3. Brücke oberhalb Gultscha 8
+
+ 4. Meine erste Karawane 9
+
+ 5. Meine Kamelkarawane. 6. Rast in der Oase Nagara-tschalldi 16
+
+ 7. Oase Nagara-tschalldi 17
+
+ 8. Durch die Furt des Kisil-su 24
+
+ 9. Nikolai Fedorowitsch Petrowskij. 10. Die Kosaken Sirkin und
+ Tschernoff 25
+
+ 11. Ein Seiltänzer in Kaschgar 32
+
+ 12. Aufbruch der ersten Karawane aus Kaschgar 33
+
+ 13. Übergang über einen Kanalarm unterhalb Kaschgar 40
+
+ 14. In der Wüste zwischen Terem und Lailik 41
+
+ 15. Kurze Rast in der Wüste. 16. Das Zelt meiner Leute in Lailik.
+ 17. Transport der Fähre nach dem rechten Flußufer 48
+
+ 18. Bau der schwarzen Kajüte 49
+
+ 19. Die Werft. 20. Tänzerinnen und Musikanten beim Abschiedsfest
+ in Lailik. 21. Frauen und Kinder unserer Bootsleute auf dem Wege
+ zur Fähre 56
+
+ 22. Die Fähre aus dem Jarkent-darja 57
+
+ 23. Der Verfasser an seinem Arbeitstisch an Bord der Fähre 64
+
+ 24. Lager am Strand 65
+
+ 25. Das Innere meines Zeltes auf der Fähre. 26. Hirtenhütte in
+ der Nähe des Masar-tag. 27. Kasim beim Fischfang 72
+
+ 28. Unser Lager bei Kurruk-aßte 73
+
+ 29. Kasim mit seinem Fang. 30. Eingeborene am Ufer des Tarim.
+ 31. Begräbnisplatz am Sai-tag 80
+
+ 32. Der Jarkent-darja am Sai-tag. 33. Falkner mit Jagdadler.
+ 34. Die Fähre an der Mündung des Aksu-darja 81
+
+ 35. Landung an der Mündung des Aksu-darja 88
+
+ 36. Unser Nachtlager bei Ala Kunglei Busrugvar 89
+
+ 37. Kähne auf dem mittelsten Tarim. 38. Der See
+ Koral-dungning-köll. 39. Der Jumalak-darja von Koral-dung
+ aus gesehen 96
+
+ 40. Besuch des Beks von Schah-jar in Tschimen 97
+
+ 41. Frühstücksrast auf dem Jumalak-darja. 42. Rekognoszierender
+ Kahn 104
+
+ 43. Ördek und Palta als Lotsen 105
+
+ 44. Drohender Schiffbruch 112
+
+ 45. Kähne auf dem unteren Tarim. 46. Tokkus-kum. 47. Dorf
+ Al-kattik-tschekke 113
+
+ 48. Treibeis auf dem unteren Tarim. 49. Blick vom rechten
+ Tarimufer flußaufwärts. 50. Die Fähre an der Mündung des
+ Ugen-darja 120
+
+ 51. Begrüßung Parpi Bais und Islam Bais 121
+
+ 52. Kleine gebundene Dünen bei Karaul. 53. Verlassene Hütten am
+ Seit-köll. 54. Unser Hauptquartier Tura-sallgan-ui 128
+
+ 55. Winterquartier in Jangi-köll mit meinen Leuten 129
+
+ 56. Zusammentreffen mit dem Franzosen Bonin 136
+
+ 57. Bonin im Hauptquartier. 58. Parpi, Palta und Islam auf den
+ äußersten Dünen des Sandmeeres am Jangi-köll 137
+
+ 59. Sandsturm in der Wüste 144
+
+ 60. Abstieg über den steilen Abfall einer Sanddüne 145
+
+ 61. Das endlose Wüstenmeer 152
+
+ 62. Karawane auf dem Astin-joll. 63. Hirtenhütten in Schudang.
+ 64. Das alte Bett des Tschertschen-darja 153
+
+ 65. Eine alte Tograk am Tschertschen-darja. 66. Auf dem Eise
+ des Tschertschen-darja. 67. Am Ufer des Tschertschen-darja 160
+
+ 68. Sattma in Araltschi. 69. Tränken der Pferde. 70. Schilfhütten
+ in Scheitlar 161
+
+ 71. Meine Kosaken Tschernoff, Sirkin und Schagdur. 72. Meine
+ burjatischen Kosaken Tscherdon und Schagdur (mit tibetischer
+ Jagdbeute) 168
+
+ 73. Basch-tograk. 74. Tamariskendickicht. 75. Der Teich bei
+ Kurbantschik 169
+
+ 76. Tal zwischen Kurbantschik und Budschentu-bulak.
+ 77. Tograk-bulak. 78. Ruine bei Jing-pen 176
+
+ 79. Tschernoffs wildes Kamel. 80. Eines unserer zahmen Kamele 177
+
+ 81. Eisschollen in der Oase Altimisch-bulak 184
+
+ 82. Abdu Rehims Beute 185
+
+ 83. Gebäude auf Tonsockeln. 84. Tschernoff und Abdu Rehim bei
+ einem Tora in der Wüste. 85. Aufrechtstehender Türpfosten 192
+
+ 86. Der Platz von Ördeks Entdeckung. 87. Einige von Ördeks
+ Trophäen 193
+
+ 88. Ein Tschappgan auf dem Kara-koschun. 89. Im Schilf
+ unterhalb Kum-tschappgan 200
+
+ 90. Nordufer des Sees Kara-koschun 201
+
+ 91. Transport der Kähne über Land 208
+
+ 92. Hütten bei Jekken-öi. 93. Flußmessung bei Schirge-tschappgan.
+ 94. Brücke über den Ilek 209
+
+ 95. Unsere Kähne auf dem Ilek. 96. Pappeln am Ufer des Ilek.
+ 97. Im Schilfe auf dem Suji-sarik-köll 216
+
+ 98. Unsere Kähne bei einem Nachtlager. 99. Brücke bei Tikkenlik.
+ 100. Der Kalmak-ottogo-Arm 217
+
+ 101. Jugend am Ufer des Tarim. 102. Malenki und Maltschik.
+ 103. Dünen auf dem rechten Tarimufer 224
+
+ 104. Gewaltige Sanddünen am rechten Tarimufer 225
+
+ 105. Sandsturm auf dem Beglik-köll 232
+
+ 106. Die Fähre sitzt auf dem Tuwadaku-köll im Schilfe fest.
+ 107. Frauen und Kinder in Tscheggelik-ui. 108. Stall in
+ Tscheggelik-ui 233
+
+ 109. Die umgebaute Fähre 240
+
+ 110. Der Bau der Pontonfähren. 111. Sattma in Abdall. 112. Die
+ Pontonfähren auf dem Wege nach Abdall 241
+
+ +Bunte Tafel+. In brennendem Schilfe. Von Ljungdahl 244
+
+ 113. Tokta Ahun und seine Mutter. 114. Tamarisken bei
+ Tattlik-bulak 248
+
+ 115. Frauen und Kinder der Loplik. 116. Das Gerüst meiner
+ Jurte 249
+
+ 117. Hauptquartier bei Mandarlik (Blick talabwärts) 256
+
+ 118. Lager bei Mandarlik (Blick talabwärts). 119. Landschaft
+ oberhalb von Mandarlik. 120. Hauptkamm des Tschimen-tag,
+ oberhalb von Mandarlik 257
+
+ 121. Aufbruch ins tibetische Hochgebirge 264
+
+ 122. Zwei gefangene Kulanfüllen. 123. Die Kulanfüllen von vorn
+ gesehen. 124. Ein Parallelkamm des Arka-tag, von Lager Nr. 19
+ aus gesehen. 125. Einige unserer Pferde im südlichen Quertale
+ (3. August 1900) 265
+
+ 126. Aussicht vom Passe nach Ost zu Nord (3. August 1900) 272
+
+ 127. Aussicht vom Passe nach Norden (3. August 1900) 273
+
+ 128. Rast der Karawane während Tscherdons Rekognoszierung
+ (3. August 1900) 280
+
+ 129. Auf der höchsten Bergkette der Erde 281
+
+ 130. Allgemeines Trocknen an der Sonne 288
+
+ 131. Gletschermassiv im Südwesten vom Lager Nr. 27 289
+
+ 132. Aussicht nach Süden vom Lager Nr. 28 aus 296
+
+ 133. Bugsierung eines Kamels über den Fluß. 134. Fester Boden
+ unter den Füßen. 135. Ein glücklich über den Fluß gebrachtes
+ Kamel 297
+
+ 136. Salzsee bei Lager Nr. 35 (27. August 1900), Aussicht nach
+ Nordosten 304
+
+ 137. Salzsee bei Lager Nr. 35 (27. August 1900), Aussicht nach
+ Südosten 305
+
+ 138. Meine Jurte im Lager Nr. 35 (27. August 1900), Aussicht
+ nach Norden 312
+
+ 139. Der Fischberg. 140. Der Fischberg vom See aus 313
+
+ 141. Blick vom See aus nach Westen. 142. Blick vom See aus nach
+ Osten 320
+
+ 143. In Todesgefahr 321
+
+ 144. Lagerplatz im tibetischen Hochland. 145. Umbetten des
+ kranken Aldat. 146. Ein im Schlamm versinkendes Kamel 328
+
+ 147. Turdu Bai auf einem Berge in der Nähe des Lagers Nr. 54 329
+
+ 148. Tscherdons Yak 336
+
+ 149. Ein erbeuteter Yak. 150. Ein junger Kulan. 151. Kopf und
+ Seitenfransen des Yaks 337
+
+ 152. Blick nach Süden von Aldats Begräbnisplatz 344
+
+ 153. Lager Nr. 60 in 5111 Meter Seehöhe 345
+
+ 154. Unser Lager in Togri-sai am 8. Oktober. 155. Die
+ Kamelkarawane. 156. Das Illwe-tschimen-Gebirge aus dem
+ Tschimental 352
+
+ 157. Obo beim Lager Nr. 71 im untern Togri-sai 353
+
+ 158. Aus dem Hauptquartier in Temirlik 360
+
+ 159. Das Hauptquartier bei Temirlik 361
+
+ 160. Tscherdon und Schagdur mit ihrer Beute 368
+
+ 161. Die Packpferde am Ufer des Ajag-kum-köll 369
+
+ 162. Der Kalta-alagan von Süden (Lager am 15. und 16. November) 376
+
+ 163. Der Kalta-alagan von Süden (Lager am 15. und 16. November) 377
+
+ 164. Turdu Bai und Kutschuk mit dem zusammengelegten Faltboot 384
+
+ 165. Der Verfasser im Faltboot auf dem Ajag-kum-köll 385
+ 166. Islam Bai und Kutschuk stoßen vom Lande ab 392
+
+ 167. Das nach dem Passe Gopur-alik hinaufführende Tal 393
+
+
+Karten.
+
+ Höhenprofil der Reiseroute.
+
+ Tarim und Wüste Takla-makan. Maßstab 1 : 2000000.
+
+ Osttibet. Maßstab 1 : 2000000. Nebenkarte: Faksimile eines
+ Originalblattes meiner Karte des Tarimflusses. Maßstab 1 : 35000.
+
+
+
+
+Einleitung.
+
+
+Am Johannistage des Jahres 1899, als der nordische Sommer in seiner
+größten Schönheit prangte, brach ich zum vierten Male von Stockholm
+nach dem Herzen von Asien auf, zu neuen Forschungen und Abenteuern im
+fernen Osten. Die Schiffe im Hafen waren reich mit Flaggen geschmückt,
+sie feierten das Johannisfest. Nur meine Eltern, Geschwister und
+nächsten Freunde standen am Ufer, als der Dampfer „Uleåborg“ langsam
+den Stockholmer Strom hinabglitt. Welche Schicksale und Entbehrungen
+ich auch während der folgenden drei Wanderjahre zu erdulden gehabt, ich
+habe keinen schwereren Tag erlebt als diesen ersten; denn eine weit
+größere Entschlossenheit als nachher täglich erforderlich ist, gehört
+dazu, sich von der Umgebung loszureißen, mit der man von Kindheit an
+durch die heiligsten Bande des Lebens verknüpft ist.
+
+Auf dieser Reise führte ich viel schwereres Gepäck mit als auf meinen
+früheren; es wog nicht weniger als 1130 Kilogramm und war in 23 Kisten
+verteilt, von denen die meisten eigens so angefertigt waren, daß sie
+von einem Pferde bequem paarweise transportiert werden konnten. Meine
+Ausrüstung war auch jetzt sehr vollständig. Damit der Leser einen
+Begriff davon hat, wie man für eine Asienreise ausgerüstet sein muß,
+will ich hier die wichtigsten Gegenstände aufzählen.
+
+Um mit den +astronomischen Instrumenten+ zu beginnen, so benutzte
+ich diesmal einen Universalreisetheodoliten und drei Chronometer.
+Diese Instrumente sind unter allen Umständen die empfindlichsten und
+erfordern die liebevollste Sorgfalt. Sie nahmen auf der Reise nicht den
+geringsten Schaden und kamen unversehrt wieder heim.
+
+An +topographischen Instrumenten+ war ich versehen mit:
+Nivellierfernrohr mit Meßstangen und anderem Zubehör, Nivellierspiegel,
+Bandmaßen, Kompassen, Diopterkompaß mit Prisma zur Ablesung der Winkel,
+Meßtisch mit Stativ und Diopter.
+
+Ich nahm auch zwei Strommesser mit, vorzügliche Apparate, die bei
+unzähligen Gelegenheiten gebraucht wurden und sich auch beim Rudern für
+Distanzmessungen erfolgreich verwenden ließen.
+
+Die +meteorologische Ausrüstung+ bestand aus einem Hypsometer
+mit 5 Kochthermometern, einem Aspirationspsychrometer, ein paar
+Aktinometern, einem Anemometer, einem Regenmesser und einer großen
+Anzahl gewöhnlicher Thermometer, Quellenthermometer, Maximum- und
+Minimumthermometer, Thermometer zur Untersuchung der Bodentemperatur
+usw. Das Kgl. Nautisch-Meteorologische Institut in Stockholm hatte
+mir einen Tiefseethermometer überlassen. Einen Barographen und einen
+Thermographen mit vierzehntägigem Gang hatte ich eigens herstellen
+lassen. Diese selbstregistrierenden Apparate waren mir zur Kontrolle
+von unschätzbarem Nutzen und arbeiteten vortrefflich. Ein großer
+Vorteil war, daß ihre Glasgehäuse so dicht schlossen, daß weder
+Sandstürme, noch atmosphärischer Staub ihren Gang im geringsten
+beeinflußten.
+
+Drei Aräometer ließen nichts zu wünschen übrig, als daß die Skalen den
+sehr salzigen Seen Tibets hätten besser angepaßt sein müssen.
+
+Nicht weniger als 58 Brillen hatte ich bestellt. Sehr wenige von ihnen
+kamen wieder ganz nach Hause. Besonders die Schneebrillen, grau und
+blau in verschiedenen Nuancen und mit ungeschliffenen Gläsern, fanden
+bei meinen Karawanenleuten und anderen Eingeborenen reißenden Absatz.
+
+Dieselben +Waffen+, die mich 1893-97 begleitet hatten, leisteten
+mir auch jetzt Dienste. Ich hatte sie als Geschenk von dem Direktor
+der Waffenfabrik zu Husqvarna erhalten, der jetzt so gütig war, mich
+mit vier weiteren schwedischen Offiziersrevolvern und einer Menge
+kleinerer Revolver, die hauptsächlich zu Geschenken an die Eingeborenen
+bestimmt waren, sowie mit reichhaltiger Munition auszurüsten. Da die
+vier Kosaken, die mir Seine Majestät der Zar auf die Reise mitgab, mit
+den neuen russischen Magazingewehren versehen waren, besaßen wir ein
+ziemlich starkes Arsenal, 10 Gewehre und wenigstens 20 Revolver.
+
+Daneben wurden natürlich unzählige Sachen mitgenommen, die ich hier
+nicht aufzählen kann. Ein paar verdienen jedoch besonders erwähnt zu
+werden: ein zusammenlegbares Bett, das mir im Sommer die behaglichste
+Ruhe verschaffte; im Winter und in Tibet schlief ich auf der Erde.
+Mit großer Zufriedenheit denke ich auch an „~James’ Patent Folding
+Boat~“ zurück (Abb. 1). Es bestand aus zwei Hälften, die beim
+Gebrauche zusammengesetzt wurden und eine sehr leichte Last für
+ein Pferd ausmachten; sogar ein Mann allein konnte es tragen. Sein
+Zubehör bestand aus zwei Rudern mit Klammern, Mast und Segel und
+zwei Rettungsbojen. Dieses kleine Fahrzeug war nicht nur von großem
+Nutzen, sondern bereitete mir auch eine sehr angenehme Abwechslung
+in der Einförmigkeit des Karawanenlebens. Dank ihm konnte ich in den
+tibetischen Seen Lotungen vornehmen, was vorher nie geschehen war; auch
+während der Flußreise leistete es mir große Dienste. Es erweiterte
+mein Arbeitsfeld und trug mich über Seen, die ich sonst nur vom Ufer
+aus hätte ansehen können. Einmal setzte dieses leichte, flinke Fahrzeug
+die ganze Karawane über einen tibetischen Fluß, dessen Umgehung uns
+großen Zeitverlust verursacht hätte.
+
+Die +photographische Ausrüstung+ erwies sich in jeder Hinsicht
+als vortrefflich. Dieselbe Watson-Camera, die fast ein Jahr im
+Flugsande der Wüste Takla-makan begraben gelegen, begleitete mich
+auch jetzt. Außerdem hatte ich eine kleine Veraskopcamera, ein ganz
+vorzügliches Instrument, einen Kodak Junior und einen Daylightkodak
+von Eastman. Es spielte keine Rolle, daß letzterer meinen Erwartungen
+nicht entsprach, da die drei anderen während der ganzen Reise
+vortrefflich funktionierten. Die Linsen waren die vorzüglichsten,
+die zu haben waren; als Glasplatten, die die schwerste Nummer meines
+Gepäcks ausmachten, benutzte ich Edwards „Antihalo“. Mit allem, was
+zum Entwickeln, Fixieren und Kopieren gehört, war ich ebenfalls
+ausgestattet und den größten Teil der aufgenommenen Platten (etwa 2500)
+entwickelte ich im Laufe der Reise selbst. Nur 700 Platten waren bei
+der Heimkehr noch nicht entwickelt. Sie wurden immer in verlöteten
+Blechkasten verwahrt. Allerdings kostete das Entwickeln der Bilder
+Zeit, aber ich fand, daß die Arbeit in hohem Grade an Interesse gewann,
+denn es versteht sich von selbst, daß es ein angenehmes Gefühl der
+Sicherheit gibt, wenn man weiß, daß die Platten gelingen und die
+Apparate dicht sind. Übrigens muß sich die Expositionszeit nach den
+Lichtverhältnissen richten, die in Ostturkestan und in Tibet sehr
+verschiedenartig sind. Da ich eine so vollständige photographische
+Ausrüstung hatte, kam ich selten dazu, Zeichnungen zu machen, und hatte
+auch selten Zeit dazu; meist sind ja auch Photographien infolge ihrer
+absoluten Treue wertvoller.
+
+Hier sei auch erwähnt, daß eine Menge Kleinigkeiten, wie Messer,
+Dolche, Ketten, Uhren, Kompasse, Spieldosen usw. mitgenommen
+wurden, die zu Geschenken an die Eingeborenen bestimmt waren. Ein
+Eskilstuna-Messer erster Güte wird im innersten Asien weit höher
+geschätzt als ein viel wertvolleres Geldgeschenk. In vielen Fällen sind
+derartige Kleinigkeiten besser als Scheidemünze und selbstverständlich
+billiger.
+
+Papier zum Kartenzeichnen, Tage- und Notizbücher, Schreibmaterial,
+Tintenpulver und dergleichen hatten ebenfalls ein achtunggebietendes
+Gewicht, aber ich bedurfte dieser Sachen für eine Karte von 1149
+Blättern und für ein Tagebuch von 4500 Seiten!
+
+Zur Verwahrung und Beförderung der empfindlicheren Sachen hatte ich
+sechs Koffer von Korbgeflecht mit wasserdichtem Futteral bestellt. Sie
+waren leicht und sehr stark und nahmen keinen Schaden, während Holz-
+oder Eisenkisten gründlich beschädigt wurden. Ferner wurde mir eine
+dauerhafte Kiste mit 300 Glasröhren für naturgeschichtliche Präparate
+geliefert.
+
+Die +Proviantfrage+ wurde außerordentlich befriedigend gelöst.
+Alle Waren (acht Kisten) hielten sich vorzüglich; besonders delikat
+waren die Schildkröten-, Kaiser- und Ochsenschwanzsuppe, die, fertig
+in Dosen, nur gewärmt zu werden brauchten. Um eine Schaf- oder
+Antilopenfleischsuppe schmackhaft und kräftig zu machen, war Liebigs
+Fleischextrakt unschätzbar und sehr praktisch, da er sich leicht
+mitnehmen ließ.
+
+Alles war für eine Reise von zwei Jahren berechnet und reichte daher
+nicht aus. Aber bis in die Lop-nor-Gegend stand ich von Zeit zu Zeit
+mit Europa in Verbindung und konnte somit im Sommer 1901 Verstärkung
+erhalten, nicht nur an photographischem Material und Konserven, sondern
+auch für meine Kasse.
+
+Meine +Bibliothek+ war nicht groß; sie bestand aus: Bibel,
+Gesangbuch und einem Büchlein mit dem Titel „Parole für den Tag“, das
+ein Band zwischen mir und den Meinen in der Heimat bildete, ferner aus
+Supans „Grundzüge der physischen Erdkunde“, Geikies „~The great Ice
+Age~“ und Hanns „Handbuch der Klimatologie“, Kerns „Der Buddhismus
+und seine Geschichte in Indien“, Rhys Davids „~Buddhism~“,
+ein paar wissenschaftlichen Nachschlagebüchern, sowie aus Odhners
+schwedischer Geschichte und ein paar Werken schwedischer Dichtkunst.
+Alle Karten, welche Reisende über das innerste Asien veröffentlicht
+hatten, wurden in einer besonderen Mappe verwahrt. Ich konnte demnach
+ihre Routen sorgfältig vermeiden und Gegenden aufsuchen, wo ich der
+erste war.
+
+Ein so bedeutendes Gepäck 5300 Kilometer weit auf der Eisenbahn als
+Passagiergut mitzunehmen, hätte natürlich große Kosten verursacht. Mich
+aber kostete es nicht eine Kopeke. Seine Majestät der Zar hatte meinem
+Reiseplane großes Interesse entgegengebracht und mir für Rußland freie
+Reise und für mein Gepäck Fracht- und Zollfreiheit bewilligt.
+
+In Petersburg genoß ich vom 26.-30. Juni 1899 wieder die
+Gastfreundschaft unseres Gesandten Reuterskiöld. Wie leid tat es mir,
+als ich eine Woche später von seinem plötzlichen Hinscheiden hörte!
+Unserem neuen Gesandten in Rußland, dem Grafen Aug. Gyldenstolpe, bin
+ich für die große Bereitwilligkeit, mit der er sich sowohl damals als
+auch während der drei folgenden Jahre meiner Interessen liebevoll
+angenommen hat, größten Dank schuldig. Er hatte die Güte, es so
+einzurichten, daß ich, außer der freigebigen Unterstützung, die ich von
+meinem Freunde Emanuel Nobel erhalten hatte, auch das ganze Reisegeld
+auf bequeme Weise in Taschkent erheben konnte. In Petersburg hatte
+ich auch die Freude, täglich mit meinem alten Wohltäter und Freunde,
+dem berühmten Polarforscher Professor Freiherrn A. von Nordenskiöld
+zusammenzutreffen. Zu tiefer Trauer für alle, die ihn liebten und
+bewunderten, und zu unersetzlichem Verluste für die Wissenschaft und
+unser Vaterland wurde auch er während der Zeit, in der ich fern von der
+Heimat weilte, dahingerafft.
+
+Ich werde den Leser nicht mit einer Beschreibung der Fahrt durch
+Rußland und Westasien ermüden. Dem Plane dieses Buches gemäß muß ich
+an bekannten Orten vorübereilen und den Leser so schnell wie möglich
+nach dem eigentlichen Schauplatze neuer Erfahrungen und geographischer
+Entdeckungen führen. Während der letzten Zeit, bevor ich Stockholm
+verließ, hatte ich angestrengt gearbeitet, und es war daher eine wahre
+Erholung, sich in dem bequemen Abteil ausstrecken zu können, ungestört
+durch Korrekturen, Telephon und Zeitungen und Tausende von Bagatellen,
+die in einem zivilisierten Staate unsere Zeit und unsere Gedanken in
+Anspruch nehmen. Es war schön, Träumen und Plänen freien Lauf lassen zu
+können und zu fühlen, daß man sich mit jeder Minute dem Ziele näherte.
+
+Die Fahrt ging über +Moskau+, +Woronesch+ und +Rostow+
+am majestätischen Don und weiter nach +Wladikawkas+, denselben
+Weg, den ich bei meiner ersten Reise 1885 zurückgelegt hatte. Von
+da führte der Weg über das langweilige +Petrowsk+ und über die
+weite Fläche des Kaspischen Meeres nach +Krasnowodsk+, einem der
+trübseligsten Orte, die man sich denken kann.
+
+Kriegsminister General Kuropatkin hatte die große Freundlichkeit
+gehabt, telegraphisch in +Krasnowodsk+ Befehl zu erteilen, daß
+mir zur Reise nach Andischan ein ganzer Eisenbahnwagen zur Verfügung
+gestellt werde. In diesen wurde all mein Gepäck verstaut, und ich
+selbst hatte es so bequem wie in einem Hotel. Da mein Wagen der letzte
+im Zuge war, konnte ich von seiner hinteren Plattform aus den Blick
+über die öde Landschaft schweifen lassen. Ich hatte die Schlüssel zum
+Wagen und war von den übrigen Leuten im Zuge vollkommen isoliert.
+Daher konnte ich bei der drückenden Hitze so leicht gekleidet als nur
+denkbar umhergehen und mich ab und zu im Toilettezimmer an einer Dusche
+erfrischen.
+
+Am 7. Juli verließen wir nachmittags 5 Uhr die Küste des Kaspischen
+Meeres, rollten in den asiatischen Kontinent und verloren uns in
+der öden Steppe. Um Mitternacht fiel die Temperatur, die mittags in
+Krasnowodsk 37 Grad im Schatten betragen hatte, auf 28 Grad, und die
+Lebensgeister, die in der Hitze eingeschlummert waren, wachten wieder
+auf. Am Nachmittag des 8. Juli erreichten wir +Aschabad+, wo ich
+Oberst Svinhufvud traf, den ich von meiner vorigen Reise her kannte und
+der hier Bahnhofsinspektor war.
+
+Ich muß eine kleine Episode von meinem neuen Zusammentreffen mit diesem
+sympathischen, heiteren Finnen einschalten. Ich bat ihn, nach Merw
+Auftrag zu geben, daß mein Wagen dort vom Zuge abgekoppelt und bei der
+ersten Gelegenheit an einen nach Kuschk bestimmten Zug angehängt werde.
+Auf der Reise durch Transkaspien war ich nämlich auf den Gedanken
+gekommen: warum sollte ich mir nicht das berühmte Kuschk und die Grenze
+gegen Herat ansehen, da auf meiner Fahrkarte doch klar und deutlich
+geschrieben stand: „Mit allerhöchster Erlaubnis wird ~Dr.~ Sven
+Hedin freie Reise und freie Gepäckbeförderung auf allen russischen
+Bahnen in Europa und Asien bewilligt“!
+
+Oberst Svinhufvud lächelte freundlich, nahm aus seinem Taschenbuch ein
+Telegramm vom Kriegsministerium und las. „Im Falle, daß ~Dr.~ Sven
+Hedin beabsichtigt, sich nach Kuschk zu begeben, teilen Sie ihm mit,
+daß dieser Weg allen Reisenden verschlossen ist.“
+
+Damit war die Sache entschieden. In meinem Herzen dachte ich, daß das
+russische Kriegsministerium sehr klug handelt, wenn es einen Punkt, der
+in strategischer Hinsicht von großer Bedeutung ist, so scharf bewacht.
+Ich erfuhr auch, daß diese Seitenbahn nicht einmal Russen offen steht;
+nur Militärpersonen, die nach der Festung Kuschk kommandiert sind,
+dürfen sie benutzen.
+
+Am 9. Juli, um 2½ Uhr morgens, waren wir in +Merw+, von wo die neue
+Bahnlinie südwärts nach Kuschk abgeht. In der Oase +Tschar-dschui+
+mit ihrer lebhaften Station war die Ankunft unseres Zuges das große
+Ereignis des Tages. Gleich hinter der Station +Amu-darja+ rollte der
+Zug auf der gewaltigen Holzbrücke über den gleichnamigen Fluß, was
+volle 26 Minuten dauerte. Als ich 1902 zurückkehrte, war die neue
+Eisenbrücke fertig.
+
+Nach kurzer Fahrt war ich in +Samarkand+ mit seinem reichen
+Vegetationsgebiete, das ich am Morgen des 10. Juli verließ. Hinter
++Dschisak+ hatten wir die einförmige, ebene Steppe zu kreuzen.
+Die Stationen heißen nach Generalen, die in der Geschichte des Landes
+eine Rolle gespielt haben, Tschernajewa, Wrewskaja usw. Schließlich
+rollt der Zug über den Sir-darja, und man ist in +Taschkent+, der
+Hauptstadt Turkestans, mit ihrem großen, lebhaften Bahnhofe, dessen
+Bedeutung noch größer wird, wenn in ein paar Jahren die Bahnstrecke
+Orenburg-Taschkent fertig ist.
+
+Nach einem Besuche beim Generalgouverneur und bei alten Freunden und
+nachdem ich im Observatorium meine Chronometer verglichen hatte,
+verließ ich am Abend des 12. Juli Taschkent wieder.
+
+Hinter Tschernajewa fährt der Zug das Ferganatal hinauf. Im Süden
+zeigte sich die turkestanische Bergkette, die bald in den Alai mit
+seinen schneebedeckten Kämmen und Gipfeln übergeht. In Dörfern oder wo
+Wege die Bahnstrecke kreuzen, haben sich manchmal Sarten versammelt;
+sie haben sich noch nicht ganz mit der seltsamen, schnellen „Maschina“,
+die auf dem „Temir-joll“ (Eisenbahn) dahinsaust, befreundet. Um 9 Uhr
+erreichten wir +Andischan+, den Endpunkt der zentralasiatischen
+Eisenbahn.
+
+Als der Zug in den Bahnhof einfuhr, war es mir eine große Freude,
+meinen alten treuen Diener +Islam Bai+ (Abb. 2) dastehen zu sehen,
+ebenso ruhig und sicher wie sonst; im blauen Chalate mit der von König
+Oskar von Schweden verliehenen goldenen Medaille auf der Brust. Er war
+sich gleich geblieben, sah gesund und kräftig aus, war aber freilich
+älter geworden, und sein Bart war ergraut; er selbst meinte, er sei
+ein Greis geworden. Ich begrüßte ihn herzlich; dann unterhielten wir
+uns drei Stunden lang, teils über seine vier Monate lange Heimreise
+von Urga im Jahre 1897, teils über die bevorstehende Reise. Islam
+erfaßte meine Pläne mit dem lebhaftesten Interesse. Es war mir eine
+Beruhigung, ihm jetzt das ganze Gepäck anvertrauen zu können, das
+er auf Arben (Wagen) nach Osch führte. Von diesem Tage an wurde er
+wieder mein Karawan-baschi (Karawanenführer); er kannte von früher her
+genau meine Reisegewohnheiten und Wünsche und besorgte alles, was zur
+Karawanenausrüstung gehörte. -- Armer Islam Bai! -- Mit den schönsten
+Hoffnungen traten wir zusammen jene lange Reise an, die für ihn auf so
+beklagenswerte, unglückliche Weise enden sollte!
+
+
+
+
+Erstes Kapitel.
+
+Über den ersten Paß des Kontinents.
+
+
+In +Osch+ verlebte ich zwei sehr angenehme Wochen bei Oberst
+Saizeff, meinem vortrefflichen Freunde aus Pamir, und im Kreise
+seiner liebenswürdigen Familie. Er war jetzt Ujäsdnij natschalnik
+(Distriktschef) über den Distrikt Osch, der 175000 Einwohner zählt,
+während seine Hauptstadt von 35000 Sarten, 150 Russen und 800 Mann
+Garnison bewohnt ist. Die einzige Unbequemlichkeit während meines
+Aufenthalts in Osch war eine heftige Augenentzündung. Doch ich verlor
+nicht viel durch diesen unfreiwilligen Arrest, denn Islam Bai ordnete
+unterdessen das Gepäck, stellte die Karawane zusammen, mietete Diener,
+ließ zwei Zelte anfertigen und besorgte die notwendigen Einkäufe.
+Einmal besuchten Saizeff und ich Islam in seinem Heim, einer einfachen,
+ärmlichen Lehmhütte in der Sartenstadt, wo er auf eigenem Grund und
+Boden mit seiner Frau und fünf Kindern wohnte, unter die ich Goldmünzen
+und andere Geschenke verteilte, um sie über die bevorstehende Trennung
+von dem Gatten und Vater zu trösten. Auf der vorigen Reise hatte Islam
+monatlich 25 Rubel erhalten; jetzt wurde sein Lohn auf 40 erhöht, was
+für einen Asiaten, der überdies ganz freie Station hat, eine bedeutende
+Summe ist. Der Lohn des ersten Jahres wurde als Vorschuß Oberst Saizeff
+eingehändigt, der davon monatlich 10 Rubel an Islams Familie auszahlte.
+
+[Illustration: 1. Das englische Faltboot auf dem Panggong-tso in
+Westtibet. (S. 2.)]
+
+[Illustration: 2. Islam Bai. (S. 7.)]
+
+[Illustration: 3. Brücke oberhalb Gultscha. (S. 10.)]
+
+[Illustration: 4. Meine erste Karawane. (S. 10.)]
+
+Als ich mich ganz wiederhergestellt fühlte und alles bereit war, wurde
+die Abreise auf den 31. Juli 1899 festgesetzt. Die Karawane brach
+frühmorgens auf und lagerte im Dorfe +Madi+. Nach einem glänzenden
+Diner bei Oberst Saizeff verließ ich nachmittags Osch, begleitet
+von meinen Wirten und verschiedenen jungen Damen und Offizieren. In
+einem Haine bei Madi waren die Zelte aufgestellt, und der Min-baschi
+der Gegend hatte eine geräumige Jurte (Zelt) mit Stühlen und Tischen
+hergerichtet, die unter den Delikatessen des Dastarchans (Imbiß)
+beinahe brachen. In der Dämmerung kehrten meine russischen Freunde nach
+Osch zurück. Erst jetzt war ich von der Zivilisation abgeschnitten
+und fühlte, daß ich mich wieder auf der Reise befand. Als abends 9 Uhr
+die erste Reihe meteorologischer Ablesungen gemacht wurde, war ich
+wieder im alten Gleise und gedachte der 1001 Nächte, die ich vor nicht
+langer Zeit unter ähnlichen Verhältnissen im Herzen des großen, öden
+Asiens verlebt hatte! Jetzt aber bewohnte ich ein prächtiges Zelt aus
+doppeltem, wasserdichtem Segeltuch, das mit Teppichen geschmückt und
+mit dem Feldbett und meinen Instrumentkisten möbliert war. Gesund und
+herrlich war es, wieder im Freien im Zelte zu wohnen, vor mir ganz
+Asien und eine Welt von Hoffnungen auf neue, wichtige Entdeckungen!
+
+Islam hatte zwei nette junge Hunde, die wirklich hübsch zu werden
+versprachen, angeschafft; der eine, ein Hühnerhund, hieß Dowlet
+(Reichtum), der andere, ein asiatischer Wilder von gemischtem Blute,
+hörte auf den Namen Jolldasch (Reisegefährte). Sie wurden an mein Zelt
+angebunden, um allmählich daran gewöhnt zu werden, daß sie dessen
+treue Wächter sein müßten, was nicht viele Tage dauerte. Ich hatte
+diese Hunde so lieb, daß mir später ihr Verlust den tiefsten Schmerz
+bereitete.
+
+Die Karawane bestand aus Islam Bai als Führer, Kader Ahun und Musa,
+Dschigiten (Kuriere) aus Osch, die für 15 Rubel monatlich angeworben
+waren, und vier Karakeschen (Pferdewärtern), welche die 26 Pferde
+begleiteten, die ich für 8 Rubel pro Stück für die ganze Wegstrecke bis
+Kaschgar (450 Kilometer) gemietet hatte. Die Leute hatten zwei Zelte,
+um welche das Gepäck ganze Bastionen bildete. Die ersten Tagereisen,
+soweit die neuangelegte Fahrstraße reicht, zog ich es vor, im Wagen zu
+fahren.
+
+Am Morgen des 1. August dauerte es ziemlich lange Zeit, bis die
+Karawane marschfertig war. Es handelte sich darum, die Kisten und
+sonstigen Lasten genau abzuwägen, so daß sie paarweise gleiches Gewicht
+hatten und bequem auf dem Packsattel des Pferdes lagen.
+
+Gleich hinter Madi wird die Landschaft durch die ersten Aule
+(Zeltdörfer) von Ferganakirgisen inmitten großer Herden von Schafen,
+Ziegen, Rindern, Kamelen und Pferden belebt. Besonders die Frauen
+mit ihren roten Gewändern, ihren Schmucksachen und hohen, weißen
+Kopfbedeckungen erregen Aufmerksamkeit. In +Bir-bulak+ mit seinen
+russischen Häusern und Aulen machten wir den ersten Halt.
+
+Die nächste Tagereise führte uns über den kleinen Paß
++Tschiger-tschig+. Kirgisische Reiter griffen in lange, an der Deichsel
+befestigte Seilschlingen vor den Pferden meines Phaethons, und munter
+ging es die Paßhöhe hinauf. Aber die Fahrt abwärts, wo es viel steiler
+ist und der Weg in unzähligen Zickzackkrümmungen hinläuft, ist recht
+waghalsig. Würde nicht das eine Hinterrad gebremst, so würde der Wagen
+schneller hinabrollen, als es für den Fahrenden gut wäre.
+
+Das klare Wasser des Baches Ile-su rauscht herrlich zwischen Steinen
+und Büschen dahin und bildet oft schäumende Kaskaden. Das Tal öffnet
+sich, vor uns zeigt sich +Gultscha+ mit seinen leicht zu zählenden
+russischen Häusern, dem Fort mit einer Sotnja (100 Mann), den Kasernen,
+der letzten Telegraphenstation und dem Basare, umgeben von schlanken
+Pappeln. Der kleine Ort liegt am rechten Ufer des Kurschab- oder
+Gultscha-darja, der ziemlich wasserreich ist, obgleich die Tiefe 80
+Zentimeter nicht übersteigt.
+
+Der am rechten Ufer des Gultscha-darja weiterführende Weg ist
+vortrefflich, obgleich er bergauf und bergab geht; er wird aber auch
+jährlich sorgfältig unterhalten und muß jeden Frühling ausgebessert
+werden, weil er, namentlich an den Pässen, durch Lawinen und durch die
+Schneeschmelze zerstört wird. Die Brücken sind aus Holz und befinden
+sich an schmalen Stellen, bei denen eine einzige Spannung genügt (Abb.
+3). Welch ein Unterschied gegen die schlechten, schwankenden Stege, die
+für die Bedürfnisse der Kirgisen genügten und die ich während meines
+früheren Besuches kennen lernte. Seitdem hat der Weg strategische
+Bedeutung erhalten; er geht durch das Alaital nach Bordoba (Bor-teppe)
+und von da über den Kisil-art und Ak-baital nach Pamirskij Post. Man
+kann jetzt den ganzen Weg fahren und Proviant, Bauholz usw. auf Karren
+nach den Ufern des Murgab bringen; selbst mit Artillerie kann man nun
+das öde Gebiet von Pamir durchkreuzen. An mehreren Stellen, wie Bordoba
+und Kara-kul, hat man steinerne Stationsgebäude erbaut. Sie liegen im
+Terrain so maskiert, daß man ahnungslos daran vorbeireiten würde, wenn
+man ihre Lage nicht kennte. Sie enthalten heizbare Zimmer mit Proviant
+usw., wo Reisende und Dschigiten im Winter oder bei Schneestürmen eine
+erwünschte Freistatt finden sollen. Die kleinen Herbergen und Hütten,
+in denen ich im Februar 1894 übernachtete, waren eingegangen.
+
+Hier und da steht noch eine Pappel (Terek). Der Artscha (Wacholder)
+beginnt an den Abhängen aufzutreten. Wir sehen viele, gar nicht
+scheue Rebhühner. Bei Kisil-kurgan (rote Festung) steht ein kleines
+Lehmfort, wo die Kirgisen uns Tee vorsetzten. Ein wenig davon entfernt
+rastete ich im Schatten eines herrlichen Pappelhains, um die Karawane
+zu erwarten, und erfreute mich im Wagen des schönsten Schlafes, den
+ich seit langem genossen. Er war mir auch nötig, denn des bewegten
+nächtlichen Lebens und des Lagerlärms war ich noch ungewohnt. Doch
+nach einer Stunde weckten mich Rufe und Pfiffe: unsere stattliche
+Karawane marschierte vorbei (Abb. 4, 5). An der Spitze ritt ein Mann
+auf einem Esel und führte die drei Pferde, welche meine kostbaren
+Instrumentkisten trugen. Die übrige Karawane ist in drei Abteilungen
+geteilt, jede von einem Dschigiten überwacht, während einige Männer
+zu Fuß gehen, um die Lasten, die herunterrutschen oder nicht im
+Gleichgewicht sind, zurechtzurücken. Kader Ahun reitet hinterdrein;
+ihn begleitet ein neuangeschaffter, noch angebundener Karawanenhund.
+Fröhlich klingen die Glocken und geben ein gellendes Echo. Der lange
+Zug verschwindet hinter einem Hügel, taucht wieder auf und entschwindet
+wieder meinen Blicken, indem er langsam einen steilen Hang hinabzieht.
+Aber bald hole ich ihn ein.
+
+Der Weg wird steiniger und zieht sich große Strecken lang auf der Höhe
+steil abfallender Schuttkegel und Geröllhügel hin, deren Basis vom
+Flusse bespült wird. Wo Nebentäler einmünden, öffnen sich malerische
+Perspektiven in das Gebirge hinein. Immer noch kommen Pappeln und
+Sträucher vor, die Steigung nimmt ein wenig zu, immer häufiger
+zeigen sich Stromschnellen, und immer lauter rauscht der Fluß. Bei
+der Talweitung +Kulenke-tokai+ sieht man am rechten Flußufer
+einen sehr schönen Pappelhain, wo die Kirgisen freundlicherweise eine
+Jurte für uns aufgeschlagen hatten, da sich hier gerade keine Nomaden
+befanden, in deren Zelten wir hätten rasten können. Ich zog jedoch vor,
+die Ankunft der Karawane abzuwarten, um in meinem eigenen „Hause“ zu
+wohnen.
+
+An diesem Punkte brachten wir den ersten Ruhetag der Reise zu. Es
+war ein herrlicher stiller Platz, denn die Pferde waren nach Jeilaus
+(Weideplätzen) in der Nachbarschaft gebracht worden. Der Himmel war
+trüb, die Temperatur angenehm. Abwechselnd wehte es talaufwärts und
+talabwärts, und wie eine Einweihungshymne klang es, wenn der Wind in
+den Kronen der dicht belaubten Bäume rauschte. Man konnte träumen und
+diesen wohlbekannten Lauten lauschen, die an so manche Ereignisse
+von früheren Reisen erinnerten. Ich sah in Gedanken den kommenden
+Jahren entgegen, in deren Schoße so viele seltsame Ereignisse und
+Abenteuer, so viele harte Schicksale und Entbehrungen, Verluste, Siege
+und Entdeckungen schlummern sollten! Noch hatte ich das Gefühl der
+Einsamkeit nicht völlig überwunden, aber die Zeit stählt das Gemüt, und
+der Mechanismus des Karawanenlebens geht bald seinen vorgeschriebenen
+Gang. Der Unterschied gegen die zwei vorhergehenden Jahre war recht
+schroff. Nach dem Aufenthalte im Weltgetümmel und in zivilisierten
+Verhältnissen war es ein seltsames Gefühl, wieder fort und vergessen
+zu sein, von der eigenen Sehnsucht verurteilt, im innersten Asien zu
+verschwinden. Noch am Abend sang es melancholisch in den Pappeln,
+und in dem unermüdlichen Rauschen des Flusses glaubte ich die alte,
+wohlbekannte Mahnung zur Geduld, die schließlich zum sicheren Siege
+führe, wiederzuhören. Jetzt erschien das Ziel noch fern und dunkel,
+aber jeder Tag würde mich ihm einen Schritt näher führen, und kein
+Tag würde ohne neue Erfahrungen und Forschungsgewinne vergehen. Still
+und verlassen lag das Biwak da; kein Rauch deutete auf Feuer, keine
+Menschen zeigten sich, denn meine Leute gaben sich in der Jurte dem
+Schlafe hin, nur der Fluß und der Wind störten die feierliche Stille.
+
+Kurz nach Mitternacht fiel Regen, der lustig auf die Zeltleinwand
+trommelte. Es klang gemütlich und führte gegen Morgen eine ziemlich
+fühlbare Abkühlung herbei. Die unerwartete Dusche brachte Leben ins
+Lager, und die Leute waren sofort auf den Beinen, um das draußen
+stehende Gepäck unter Dach zu bringen.
+
+Gleich hinter dem Lager überschreiten wir ein paarmal den Fluß und
+halten uns dann meistens auf dem rechten Ufer. Bei +Sufi-kurgan+
+läßt man links das Terektal liegen, das nach dem Passe Terek-davan
+hinaufführt, über den ein näherer, aber schwerer passierbarer Weg
+nach Kaschgar geht. Oberhalb dieses Tales ist die Wassermenge des
+Hauptflusses geringer, doch wird das Tal wieder breit, und sein
+gleichmäßig abfallender Boden hebt sich grau ab gegen die roten
+Terrassen von Sand, Geröll und Ton, welche das Bett zwischen ihren
+lotrechten Wänden einschließen. Dann passieren wir am linken Ufer einen
+kleinen, sanften Bergrücken auf dem Passe +Kisil-beles+, wo wir
+im Schatten massiger Artschas rasten. Es ist recht frisch, es geht ein
+lebhafter Wind, und auf den Bergkämmen fällt leichter Regen. Das Lager
+dieses Tages wurde in dem offenen Tale +Bosuga+ aufgeschlagen. Wie
+gestern legten wir 39 Werst zurück; noch sind Werstpfähle längs des
+Weges angebracht.
+
+Meine Hündchen Dowlet und Jolldasch waren klassische Wesen; sie waren
+erst ein paar Monate alt und konnten so weite Strecken noch nicht
+laufen. Wir hatten sie daher in einem Weidenkorbe hinten an meinem
+Wagen festgebunden. Anfangs waren sie über diese Art zu reisen so
+erstaunt, daß sie sich ganz still verhielten; bald aber hatten sie sich
+daran gewöhnt, und Dowlet, der den besten Platz haben wollte, hielt
+Jolldasch im Zaume und schalt ihn aus, wenn er nicht gehorchte; der
+Ärmste winselte beständig ganz jämmerlich. Wenn sie im Lager aus ihrem
+Gefängnis herausgelassen wurden, waren sie überselig und liefen wie die
+besten Freunde miteinander, aller Beißereien im Korbe vergessend. Schon
+jetzt fühlten sie sich im Lager heimisch und schliefen nachts neben
+meinem Bette. Sie hielten recht gute Wacht und bellten wie toll bei dem
+geringsten verdächtigen Geräusch. Ihre Mahlzeiten nahmen sie stets bei
+mir ein und entwickelten dabei einen beängstigenden Appetit.
+
+Die Nacht auf den 6. August war recht kalt, und die Minimaltemperatur
+fiel auf 1 Grad unter Null. Ich mußte Pelz, Filzdecken und Mütze
+auspacken Die Luftverdünnung dagegen belästigte mich nicht im
+geringsten, doch merkte man an der sich bei anstrengenden Bewegungen
+einstellenden Atemnot, daß hier das herrschte, was die Eingeborenen
+„Tutek“ nennen, das Gefühl, welches man auf Hochpässen empfindet. Der
+Weg folgt dem Talldikbache aufwärts, manchmal im Bachbette selbst, das
+man verläßt, um die Abhänge hinaufzuklettern. Nachdem wir verschiedene
+Nebentäler passiert, beginnt der eigentliche Anstieg, der nicht sehr
+steil ist, da der Weg in zahllosen Zickzackwindungen angelegt ist. Das
+Gestein ist schwarzer, stark gefalteter Schiefer. Auf der Höhe des
++Talldikpasses+ steht ein mit einem Geländer umgebener Pfahl;
+zwei gußeiserne Tafeln an demselben verkünden, daß der Paß 11800 Fuß
+(3617 Meter) hoch ist, 88 Werst von Gultscha liegt und daß der Weg
+angelegt worden ist, als A. B. Wrewskij Generalgouverneur und N. J.
+Korolkoff Gouverneur waren. Die Wegarbeiten begannen am 24. April
+1893 und endeten am 1. Juli desselben Jahres unter Leitung des Majors
+Grombtschewskij. Auf der anderen Seite, nach dem Alaitale zu, ist der
+Abstieg weniger steil. Kein einziger Wacholder überschreitet den Paß;
+auf der Alaiseite sind die Abhänge ganz unbewaldet.
+
+Am oberen Sarik-tasch verabschiedete ich meinen Arabatschi (Kutscher)
+und gab ihm ein anständiges Trinkgeld und einen Dolch; er hatte sich
+gut geführt und den Wagen wohlbehalten bis ins Alaital gebracht. Von
+jetzt an ritt ich und weihte einen ungarischen Feldsattel aus Budapest
+ein. Bald sind wir im eigentlichen +Sarik-tasch+, wo das Paßtal
+des Talldik in das große, breite Alaital einmündet; dann biegen wir
+nach Osten ab, die letzten Werstpfähle hinter uns zurücklassend. Im
+Süden dehnt sich das großartige Gebirgssystem des Transalai aus; die
+gewaltigen Bergriesen stehen in kreideweißem, hellblauschimmerndem
+Schneegewande da, und die meisten der höchsten Gipfel sind
+wolkenumkränzt. Besonders im Westen sind die Wolken zahlreich, und der
+Pik Kauffmann ist daher unseren Blicken verborgen. Das Alaital ist
+breit, offen und reich an Weiden, auf denen hier und dort zahlreiche
+große Agile (Hürden) mit gewaltigen Herden zu sehen sind. Im Osten wird
+das Tal von Bergen versperrt, über welche der flache Paß Tong-burun
+führt, der die Wasserscheide und die östliche Schwelle des Alaitales
+bildet. Alle Augenblicke kreuzen wir flache Ausläufer vom Alai, die
+sich nach Süden nach dem Zentrum des Tales hinziehen; ein solcher ist
+der Katta-sarik-tasch. Hinter diesem überschreiten wir den Fluß Schalwa
+mit einem großen, steinigen Bett, aber wenig Wasser. Vom Transalai
+mündet hier das ebenso steinige Tal Mäschallä. Diese Talwege und Flüsse
+vereinigen sich nach und nach, nehmen mehrere andere auf und bilden
+allmählich ein Haupttal, dessen Fluß +Kisil-su+ heißt.
+
+Unser Rasttag in +Äilämä+, wo wir auf dem Wege nach Kaschgar die
+beste Weide für die Pferde finden sollten, war gerade nicht angenehm,
+denn es regnete in Strömen und der Herbst der Ferganaberge hatte
+sichtlich schon seinen Einzug gehalten; doch wir mußten uns damit
+trösten, daß man es bei solchem Wetter unter Dach besser hat als im
+Sattel.
+
+Der 9. August war ein herrlicher Tag, und der Regenvorrat der Wolken
+schien jetzt für einige Zeit erschöpft zu sein. Wir stiegen langsam
+nach dem +Tong-burun-Passe+ hinauf, einem breiten Bel (Paß), der
+nach Ansicht der Kirgisen kaum als ein Paß zu betrachten ist. Dennoch
+bezeichnet die kleine Steinpyramide auf der gleichmäßig abgerundeten,
+flachhügeligen Höhe eine sehr wichtige geographische Grenzmarke,
+indem sie den höchsten äußersten Ostrand des Alaitales bildet und
+die Wasserscheide zwischen dem Aralsee und dem Lop-nor, also eine
+wichtigere Grenze als selbst der Talldik ist, der nur das Gebiet des
+Sir-darja von dem des Amu-darja trennt. Von diesem Punkte an fällt
+das Terrain nach dem Lop-nor ab. Der Abstieg wurde den Pferden sauer,
+einige Lasten rutschten und verursachten Aufenthalt. Die Berge zur
+Rechten, die östliche Fortsetzung des Transalai, sind uns ganz nahe;
+sie sind in Schnee gehüllt und die Spitzen von Wolken bedeckt. Hier
+und da wachsen kleine Wacholder in den Spalten, und die Sor oder
+Steppenmurmeltiere (~Arctomys bobac~) sind unzählbar. Am Eingange
+ihrer Erdhöhlen auf den Hinterbeinen sitzend, betrachten sie die
+Karawane und verschwinden, sobald man sich ihnen nähert, mit größter
+Gewandtheit unter schrillem Pfeifen.
+
+Von der Vereinigungsstelle des Kisil-su mit dem Kok-su gelangen wir
+über mehr oder weniger tiefe Rinnen zum breiten, tiefeingeschnittenen
+Tale des +Nuraflusses+, auf dessen linkem Ufer ein Begräbnisplatz
+liegt, der unter dem Namen +Ak-gumbe+ bekannt ist. Der Nura
+war jetzt größer als der Kisil-su, sein Wasser ebenso rot wie das
+des „Roten Flusses“ und recht unangenehm zu durchreiten, da man die
+tückischen Rollsteine in dem trüben Wasser nicht sehen konnte und mein
+Pferd daher beinahe kopfüber in die wilde Flut gestürzt wäre. Nicht
+weit von hier vereinigen sich Nura und Kisil-su zu einem ansehnlichen
+Flusse, dessen Bekanntschaft wir bald machen werden. Der Pfad ist ein
+stetes Bergauf und Bergab, bis man von einem letzten Passe in der Tiefe
+die weißen Mauern der russischen Grenzfestung +Irkeschtam+ mit
+ihren Türmen und Kasernen, in denen Kosaken Wacht halten, erblickt.
+
+Irkeschtam ist nicht nur eine Grenzfestung gegen China, sondern auch
+eine Zollstation; der Vorsteher dieser, Herr Sagen, war ein alter
+Bekannter von mir von einem früheren Besuche in Kaschgar her. Er war
+ein großer Tierfreund und hielt eine Menagerie, bestehend aus einem
+Wolfe, einigen Füchsen und einem Bären, der in einer Hütte mitten auf
+dem Hofe angebunden war. Einige Zeit nach meinem Besuche war es dem
+Petz gelungen, sich von seinen Banden zu befreien; er machte einen
+Besuch im Zimmer der Dschigiten, zum großen Schrecken der Bewohner.
+Das Abenteuer hatte für Petz ein verhängnisvolles Ende, da die Männer
+ihre Zuflucht auf das Dach nahmen, von wo aus sie ihren Feind zu Tode
+bombardierten.
+
+Eine halbe Stunde von Irkeschtam gelangen wir an den „Roten Fluß“,
+der sehr wasserreich und mehr als 80 Zentimeter tief war. Wir sind
+jetzt auf chinesischem Boden, und das „Himmlische Reich“ dehnt sich
+vor uns bis an den Stillen Ozean aus. Der Pfad führte nach dem
++Tor-pag-bel+ hinauf. Die ganze Landschaft ist eine öde Sand- und
+Kiesebene, von Bergen umschlossen, den Ausläufern des Pamirgebirges,
+die auf beiden Seiten immer niedriger werden und in Geröll- und
+Kiesrücken und Hügel übergehen. Doch kommt noch immer anstehendes
+Gestein vor. Wir steigen in das +Jegintal+ hinab, das ein ziemlich
+wasserreicher Fluß durchströmt, an dessen linkem Ufer ein chinesisches
+Fort erbaut ist.
+
+Unser Zug schreitet das Tal hinunter, das immer enger wird. Ein
+schmaler Vegetationsgürtel von Pappeln, Weiden, Sträuchern und Gras
+begleitet jedes Ufer; er verbreitert sich nach dem Vereinigungspunkte
+mit dem Kisil-su zu. Die Gegend heißt +Nagara-tschalldi+ (Abb. 6,
+7) und ist die herrlichste Oase auf dem ganzen Wege nach Kaschgar.
+
+Unser Lager befand sich nur ein paar hundert Meter unterhalb des
+Zusammenflusses des Flusses von Nagara-tschalldi und des Kisil-su.
+Ohne Unfall zog unsere Karawane nach einem Rasttage am 12. August
+über den Fluß, der zwar wasserreich war, sich aber doch ohne Gefahr
+überschreiten ließ. Es freute mich, die Wassermenge noch groß zu
+finden, denn der Kisil-su ergießt sich in den Jarkent-darja, und selbst
+wenn nur ein geringer Teil des Wassers den Hauptfluß erreicht, würde
+schon dieser mit dazu beitragen, unsere Fähren nach der Lop-nor-Gegend
+hinab zu tragen, wohin ich mich auf diese bequeme Weise zu begeben
+gedachte.
+
+In einer großen Talweitung liegt die viereckige Lehmfestung
++Ullug-tschat+, der äußerste Vorposten der Chinesen gegen
+die russische Grenze. In +Semis-chatun+, wo ebenfalls ein
+kleiner Kurgan (Festung) lag, galt es, den Fluß zum letztenmal zu
+überschreiten. Doch dies ging nicht so leicht wie bisher. Er strömte
+in einem einzigen Bette dahin und war dazu im Laufe des Tages so
+gewachsen, daß die Wassermenge wohl 80-100 Kubikmeter in der Sekunde
+betrug. Dumpf und schwer wälzte sich die trübrote Wassermasse durch das
+Bett, tiefe Rinnen verbergend.
+
+Erst versuchte Islam Bai die Furt. Er kam ein gutes Stück vorwärts,
+geriet dann aber in tiefes Wasser und nahm ein gründliches Bad, ehe
+er sich nach dem anderen Ufer hinüberretten konnte. Kader, der es an
+einer anderen Stelle probierte, ging es noch schlechter; er kam in
+eine tückische Rinne, wo das Pferd nicht festen Fuß fassen konnte
+und in schwindelnder Fahrt von dem Strome, aus dem nur noch die
+Köpfe des Pferdes und des Mannes hervorguckten, fortgerissen wurde.
+Glücklicherweise hatte ich selbst den Transport des Kodaks, den
+sonst Kader zu tragen pflegte, übernommen. Nun bestieg einer von den
+Karawanenleuten nackt ein ungesatteltes Pferd, und indem er es suchen,
+tasten und ausprobieren ließ, gelang es ihm schließlich, eine gute
+Furtschwelle ausfindig zu machen. Auch die anderen Leute entkleideten
+sich nun und führten die Karawane in kleinen Abteilungen hinüber,
+zuletzt die Pferde, welche meine Instrumente und die photographische
+Ausrüstung trugen, wobei jedes Pferd einzeln geführt und von drei
+nackten Reitern begleitet wurde, die bereit waren, zuzugreifen, wenn
+das Pferd fallen sollte. Man empfindet natürlich große Unruhe, wenn man
+die Kisten schwanken und bald rechts, bald links ins Wasser tauchen
+sieht, während das Pferd gegen die unerhörte Kraft der gewaltigen
+Wassermasse ankämpft, die gegen dasselbe drückt und preßt; denn die
+Furt führt größtenteils aufwärts gegen die Strömung, die schäumend um
+die Brust des Pferdes wirbelt. Ist der Reiter ungeübt, so wird ihm
+schwindlig und es scheint ihm, als stürme das Pferd derart vorwärts,
+daß das Wasser wie um den Vordersteven eines Dampfers kocht, und
+unwillkürlich hält er die Zügel an, obwohl das Pferd ganz langsam
+geht (Abb. 8). Auf dem linken Ufer wurden die Lasten wieder in
+Ordnung gebracht und ein provisorisches Trocknen der nassen Sachen
+vorgenommen. Wir lagerten in der Nähe eines kirgisischen Auls bei
++Jas-kitschik+ und konnten nun dem Kisil-su, der von hier an
+südlich von unserer Straße fließt, ohne allzu großes Bedauern Lebewohl
+sagen.
+
+Es war ein schöner, kühler Abend; in der stillen Nacht ertönte aus der
+Ferne gedämpftes Glockenklingen von der großen Kamelkarawane herüber.
+Es erweckt bei unseren Hunden einen Sturm der Entrüstung, aber es
+klingt herrlich und imposant und markiert den majestätischen, ruhigen
+Gang der Kamele. Immer heller ertönen die Glocken, immer deutlicher
+hören wir die Rufe und den Gesang der Karawanenleute. Sie ziehen
+im Dunkel der Nacht mit Lärm und Stimmengewirr an uns vorbei; dann
+erstirbt das Geräusch wieder langsam in den Bergen.
+
+[Illustration: 5. Meine Kamelkarawane. (S. 10.)]
+
+[Illustration:
+
+ Kader Ahun. Islam Bai. Musa.
+
+6. Rast in der Oase Nagara-tschalldi. (S. 15.)]
+
+[Illustration: 7. Oase Nagara-tschalldi. (S. 15.)]
+
+Die letzten Tagereisen nach Kaschgar führen durch eine recht einförmige
+Landschaft; die Berge nehmen an Höhe ab, bis ihre äußersten Vorposten
+sich in der Ebene verlieren. Am 13. August überschritten wir den
+Mäschrabdavan, auf dessen Höhe sich eine kleine Festung und
+drei mit Lappen behängte Masare (Heiligengräber) erheben. Ehe wir
++Kandschugan+ erreichten, überfiel uns ein so heftiger Platzregen,
+daß wir Halt machen und so schnell wie möglich die Zelte aufschlagen
+mußten. Es nützte uns jedoch nichts, denn sowohl wir wie die Sachen
+wurden gründlich durchnäßt; es klatschte unter den Stiefeln in dem
+Lehmboden, und als ich endlich ins Zelt kam, wo die triefenden Kisten
+durcheinander standen, fühlte ich bei der Kälte eine große Unlust, und
+der Pelz war gar nicht überflüssig; 12,6 Grad um 5½ Uhr nachmittags
+ist hier in dieser Jahreszeit etwas ganz Abnormes.
+
+Am 15. ritten wir bis an das Dorf +Min-joll+, und am 16.
+traten wir die letzte Tagereise bis +Kaschgar+ an. Beim Dorfe
++Kalta+ kamen mir der Generalkonsul Petrowskij und einige andere
+in Kaschgar wohnende Russen, von einer Kosakeneskorte geleitet,
+entgegen.
+
+
+
+
+Zweites Kapitel.
+
+Vorbereitungen zur Wüstenfahrt.
+
+
+In +Kaschgar+ blieb ich vom 17. August bis zum 5. September, um
+die Karawane, die mich durch die Wüsten des innersten Asiens begleiten
+sollte, endgültig auszurüsten. Ich brauche nicht zu erwähnen, daß mein
+alter vortrefflicher Freund Generalkonsul Petrowskij (Abb. 9) mir auch
+diesmal in jeder Weise behilflich war. Er stellte mir seine reiche
+Erfahrung und seinen in Ostturkestan beinahe allmächtigen Einfluß
+vollständig zur Verfügung, und ohne seinen Beistand wäre vieles kaum
+ausführbar gewesen.
+
+Die erste Angelegenheit, die wir in Angriff nahmen, war die
+Einwechslung meiner Reisekasse (11500 Rubel) in chinesisches
+Silbergeld. Eine Jamba galt damals in den Basaren Kaschgars 71 Rubel,
+aber der Markt ist so wenig umfangreich, daß ein Einkauf von 161 Jamben
+sich so fühlbar machte, daß der Wert einer Jamba in ein paar Tagen auf
+72 Rubel stieg. Eine Jamba hat 50 Sär zu 16 Tenge, von denen jeder
+in 50 Pul zerfällt. Ein Sär entspricht 37 Gramm Silber und hat einen
+Wert von 3,09 Mark; es zerfällt auch in 10 Miskal von je 10 Pung zu
+10 Li. Der Kurs unterliegt großen Schwankungen, und die Jamba wiegt
+selten genau 50 Sär, und da man auf chinesisches Geld angewiesen ist,
+muß man stets eine chinesische Wage zur Hand haben. In Ostturkestan
+sind kürzlich runde Silbermünzen von höchstens 8 Tenge Wert eingeführt
+worden, die neben den gewöhnlichen chinesischen Silberklümpchen --
+einer sehr unbequemen Geldsorte -- im Lande gangbar sind. Ein alter
+geriebener Makler, Isa Hadschi, besorgte die Umwechslung und schaffte
+das Silbergeld an, und als die ganze Transaktion fertig war, stellte es
+sich heraus, daß es ihm gelungen war, uns nur um 36 Rubel zu bemogeln.
+Für mich war es aber doch ein außerordentlich gutes Geschäft, denn der
+Wert der Jamba stieg bald darauf schnell. Sich mit einer Reisekasse,
+die 300 Kilogramm wiegt, zu schleppen, ist gerade nicht angenehm, aber
+es bleibt einem keine Wahl. Die Jambastücke wurden auf die Kisten, die
+nicht täglich geöffnet zu werden brauchten, verteilt, und so konnte man
+doch wenigstens sicher sein, daß nicht alles Geld auf einmal gestohlen
+werden würde. Der Betrag reichte jedoch kaum für die halbe Reise aus,
+und ich mußte nachher mehr Silbergeld beschaffen.
+
+Die andere Angelegenheit, die Islam Bai besorgte, waren verschiedene
+Einkäufe für die Ausrüstung und den Proviant. Auch eine Menge Chalate,
+Zeugstoffe, Tücher und Mützen wurden angeschafft, die zu Geschenken an
+die Eingeborenen bestimmt waren. Islam kaufte auch 14 außergewöhnlich
+schöne und große Kamele und ein Dromedar. Mit Ausnahme von zweien, die
+alle Strapazen überstanden, waren die Tiere dem Untergange geweiht,
+aber die Dienste, die sie mir treu und geduldig geleistet, waren
+hundertmal den Preis wert, den sie gekostet. Führer der Kamelkarawane
+wurde +Nias Hadschi+, der sich trotz seiner Wallfahrt zum Grabe
+des Propheten als ein Erzschelm erwies. Unter den übrigen Dienern,
+die vorläufig angestellt wurden, will ich besonders +Turdu Bai+
+aus Osch nennen, einen alten Weißbart, der es an Ausdauer mit jedem
+der jüngeren Leute aufnehmen konnte und an Treue und Tüchtigkeit alle
+die anderen Mohammedaner, Islam inbegriffen, übertraf; er war der
+einzige, der die ganze Reise mitmachte. +Faisullah+, ebenfalls ein
+russischer Untertan, gab Turdu Bai in den genannten guten Eigenschaften
+nur wenig nach, konnte mich aber nur anderthalb Jahre begleiten.
+Beide waren Spezialisten in der Behandlung der Kamele und gehörten
+daher später immer zum „Stabe“ der Kamelkarawanen. Ein Kaschgarjunge,
++Kader+, wurde mitgenommen, weil er der arabischen Schrift kundig
+war.
+
+Für die nächste Zukunft wurde der Reiseplan so bestimmt, daß die ganze
+Karawane nach +Lailik+ am Jarkent-darja ziehen sollte. Dort
+mußte eine Teilung stattfinden. Ich selbst wollte mich mit einigen
+der Leute und einem kleinen Teile des Gepäcks von der Strömung den
++Jarkent-darja+ oder +Tarim+ hinabtragen lassen, während
+die Hauptmasse der Karawane auf der großen Straße über Maral-baschi,
+Aksu und Korla ziehen sollte, um mit mir irgendwo im Lop-nor-Gebiete
+zusammenzutreffen, wo sich nach Verabredung auch die beiden
+burjatischen Kosaken Ende Dezember einfinden sollten. Petrowskij hielt
+es für gewagt, die ganze große Karawane und die bedeutende Silbermenge
+ohne Bedeckung durch ganz Ostturkestan zu schicken, und stellte
+mir aus dem Konsulatskonvoi die zwei semirjetschenskischen Kosaken
++Sirkin+ und +Tschernoff+ (Abb. 10) bis zum Zusammentreffen
+mit den burjatischen Kosaken zur Verfügung, welches Anerbieten ich
+dankbarst annahm. Während der folgenden Jahre gaben mir diese beiden
+Männer täglich Beweise von einer Treue und Tüchtigkeit, die alle
+Diener, die ich je gehabt, in den Schatten stellte.
+
+Mit dem Konsul traf ich noch das Übereinkommen, daß meine im Herbst
+und Winter in Kaschgar eintreffende Post viermal von Dschigiten nach
+der Lop-nor-Gegend zu bringen sei, wo es von ihrer eigenen Klugheit
+abhängen würde, mich aufzufinden. Der Kurier sollte seinen Lohn erst
+dann von mir erhalten, nachdem er die Post abgeliefert und seinen
+Auftrag redlich ausgeführt hatte. Der Plan mißlang nie, und man kann
+sich denken, wie angenehm es für mich war, auf diese Weise mit den
+Meinen und der Außenwelt, wenn auch selten, in Verbindung zu stehen.
+
+So verflossen die Tage unter allerlei Arbeit, die durch Besuche und
+Einladungen zum Mittagessen unterbrochen wurde. Ziemlich oft war
+ich bei meinem alten Freunde, dem englischen politischen Agenten
++Macartney+, zu Gaste, dessen früher einsames Heim jetzt von
+einer jungen Gattin verschönt wurde. Es freute mich, den alten
+Eremiten +Pater Hendriks+, sowie Herrn und Frau +Högberg+
+wiederzusehen, die zur schwedischen Missionsstation zwei neue
+Mitglieder zugezogen hatten. +Chan Dao Tai+ und +Tsen Daloi+
+gehörten zu meinen alten Bekannten, aber +Tso Daloi+ war eine neue
+Erscheinung; er versah uns mit zwei Durgas, die dafür zu sorgen hatten,
+daß die Dorfbevölkerung der Karawane alles lieferte, was sie brauchte,
+natürlich gegen angemessene Vergütung. Auch einen „Kunstgenuß“ hatte
+ich, da auf dem Markte ein asiatischer „Blondin“ vor dem massenhaft
+herbeigeströmten Publikum seine Künste auf dem Seile zeigte (Abb. 11).
+
+Ich war nicht der einzige Reisende, der sich in diesen Tagen in
+Chinas westlichster Stadt befand; am 21. August langte nämlich Oberst
++McSwiney+ dort an, in dessen Gesellschaft ich im Jahre 1895 bei
+der Pamirgrenzkommission so manchen frohen Tag verlebt hatte. Am Tage
+darauf trafen zwei französische Reisende ein, Herr +St. Yves+
+und ein junger Leutnant, die nach einigen Tagen über Pamir wieder
+heimkehrten.
+
+Als alle Einkäufe besorgt waren, wurden die Lasten noch einmal
+geordnet, abgewogen und dann an einer Art Holzleitern befestigt, deren
+Oberenden paarweise aneinander gebunden waren, so daß sie leicht auf
+das liegende Kamel gehoben und ihm wieder abgenommen werden konnten.
+
+Nachdem ich von meinen Freunden in Kaschgar Abschied genommen,
+brach ich am 5. September gegen 2 Uhr nachmittags auf (Abb. 12).
+Jetzt begann die eigentliche Reise und die große, lange Einsamkeit.
+Noch eine Umarmung, ein letztes Lebewohl, dann ziehen wir bei
+dem dumpfen, bedeutungsvollen Klange der Glocken, die gleich dem
+Ticken des Sekundenpendels den Gang der Zeit und die uns dem Ziele
+zuführenden Schritte angeben, an der westlichen Stadtmauer entlang nach
++Kum-därwase+, wo ich von den Europäern Abschied nahm. Wir hatten
+gerade die Brücke erreicht, unter der sich das in Farbe und Dicke an
+eine Hagebuttensuppe erinnernde Wasser des Kisil-su hinwälzte, als der
+Himmel sich im Nordwesten verdunkelte und schwere, dichte Regenvorhänge
+sich von den Bergen an ausbreiteten; der Tag war heiß und schwül
+gewesen und hatte nichts Gutes verkündet. Da kamen die ersten heftigen
+Windstöße, und zugleich begann ein Platzregen von ungeheurer Gewalt.
+Auf dem sonst lebhaften Wege sah man nur ab und zu einen Wanderer, weil
+die Menschen schleunigst in den nächsten Gehöften und Serais Schutz
+gesucht hatten. Diese waren jedoch für unsere große Karawane zu klein,
+und es blieb uns also keine andere Wahl, als unseren Weg fortzusetzen.
+Das Unwetter hielt mit unverminderter Kraft anderthalb Stunden an;
+ein Blitz nach dem anderen durchzuckte den Himmel in grellem Zickzack
+von blendendem blauweißem Feuer, und die Donnerschläge krachten mit
+entsetzlichem Gepolter, stärker als ich es je zuvor gehört. Die Kamele
+und Pferde nahmen jedoch die Sache ruhig auf, und langsam schritten wir
+nach Süden zwischen den Weiden hin und trösteten uns damit, daß wir
+nicht nasser werden konnten, als wir schon waren.
+
+War der Regen unangenehm gewesen, so waren seine Folgen noch schlimmer.
+Lange Strecken weit lag der Weg unter Wasser, und der lehmhaltige Boden
+von feinem Staube war so glatt, daß es den Kamelen mit ihren flachen,
+weichen Fußschwielen schwer wurde, sich auf den Beinen zu halten; sie
+glitten aus, stolperten, glitschten, und immer wieder wurde der Marsch
+dadurch aufgehalten, daß ein Kamel gefallen war. Oft fallen sie so
+nachdrücklich, daß sie alle viere von sich strecken, als hätte ihnen
+ein unsichtbarer Riese ein Bein gestellt, und dabei poltert die schwere
+Bürde zu Boden, daß der Schlamm hoch aufspritzt. Von allen Seiten hört
+man schreien und rufen, die Karawane macht Halt, die Männer eilen
+herbei, um das Kamel wieder aufzurichten oder es erst von der Last
+zu befreien und dann wieder zu beladen; die Folge davon ist, daß wir
+in dem heimtückischen Schlamme wie die Schnecken vorwärtskommen. Am
+schlimmsten ist es da, wo der Weg uneben ist oder kleine Hügel bildet;
+dort müssen mit Spaten Tritte in die Erde gegraben werden.
+
+Die erste Tagereise von Kaschgar, die eigentlich eine Kleinigkeit
+hätte sein müssen, war also durchaus nicht leicht. Nie hatte ich diese
+Stadt unter ungünstigeren Umständen verlassen. Es war, als hätte eine
+höhere Macht unseren Aufbruch den unbekannten Gefahren entgegen mit
+himmlischen donnernden Kanonenschüssen salutieren und uns mit einem
+überwältigenden Knalleffekt daran erinnern wollen, daß man nicht
+ungestraft unter Ostturkestans Pappeln wandelt. Für die Zukunft aber
+sollte ich einen wirklichen Platzregen so bald nicht wiedersehen -- als
+er das nächste Mal eintrat, war es in der Nähe von Lhasa, nach zwei
+Jahren!
+
+Inzwischen wurde es dunkel, und in den Basargäßchen waren die
+Papierlaternen schon angezündet. Gleich hinter der chinesischen Stadt
+war die Straße beinahe eine Stunde weit vollständig überschwemmt,
+und wie in einem seichten Flußbette plätscherten wir zwischen Gärten,
+Feldern und Lehmmauern dahin. Die Alleen waren nur als schwarze
+Schattenrisse zu erkennen, aber der Regen hatte aufgehört, der Weg
+war jetzt besser, und die Kamele konnten festen Fuß fassen. Es war
+jedoch schon spät, als wir in unserem provisorischen Lager im Dorfe
++Musulman-natschuk+ zur Ruhe kamen, nachdem wir des Silbergeldes
+halber bei dem Gepäck Nachtwachen aufgestellt hatten.
+
+Den Weg nach Lailik kannte ich zum größeren Teile von 1895 her und will
+ihn daher nur sehr kurz beschreiben. Der Tagemarsch am 6. September
+führte uns durch eine ziemlich spärlich bewohnte, aber recht gut
+angebaute Gegend. Von +Chan-arik+ an war der Weg durch eine üppige
+Allee von Maulbeerbäumen, Weiden und Pappeln begrenzt, die dichten,
+tiefen Schatten spendeten. Die Pappeln werden geköpft, um nicht in die
+Höhe zu wachsen, und bilden am oberen Teile des Stammes ein massiges
+Bündel aufwärtsstrebender Zweige. Auf weite Strecken hin vermag kein
+Sonnenstrahl durch das dichte Grün zu dringen, unter dessen kühlem
+Gewölbe es sich außerordentlich angenehm reitet. Der Weg glich an
+solchen Stellen einem Tunnel, durch welchen die Kamele, an einen Zug
+von lauter Güterwagen erinnernd, mit ruhigem, gleichmäßigem Gange
+hinschreiten und sich von dem grünen Hintergrund malerisch abheben. Es
+liegt etwas Feierliches über dem Marsche einer solchen Karawane dem
+Tode entgegen, der die meisten Kamele mit Gewißheit irgendwo in den
+Wüsten des fernen Ostens oder in den Berggegenden Tibets erwartet.
+Die Glocken läuten ihre abgemessene melancholische Melodie, welche
+unwillkürlich an eine Beerdigung erinnert; doch mit philosophischem
+Blick und ruhiger Haltung messen die prächtigen Tiere den Weg mit
+langen, langsamen Schritten unter ihren im Verhältnis zu ihren Kräften
+nicht schweren Lasten. Die Silberkamele tragen die schwersten Lasten,
+besonders ein Matador, dem allein 40 Jamben zuerteilt worden sind. Die
+Lasten sind ausgeglichen, und Unterbrechungen des Marsches kommen nicht
+mehr vor; nur hin und wieder muß, ohne daß das Kamel deshalb stehen
+zu bleiben braucht, eine Leiter etwas nach der einen oder anderen
+Seite hinübergerückt werden. Die Kamele haben starken Appetit und
+brandschatzen Weiden und Pappeln im Vorbeigehen, oft auf Kosten des
+Nasenstrickes. Wenn dieser zu hart angespannt wird, reißt er in der
+Mitte an seinem schwachen Punkte, wo seine beiden Hälften mit einer
+dünneren Schnur zusammengebunden sind, welch letztere reißt, ehe die
+Nase des Tieres hat Schaden nehmen können.
+
+Jeder Mann unserer Gesellschaft hat seinen bestimmten Platz im Zuge
+und seine bestimmte Aufgabe bei der Aufrechterhaltung der Ordnung.
+Voran reiten die beiden Durgas aus Kaschgar, dann kommt Faisullah auf
+dem ersten Kamele, an dessen Seite Nias Hadschi ein Pferd reitet; auf
+dem sechsten Kamele hockt der junge Kader, und hinter dem siebenten
+reitet Islam. Die zweite Abteilung wird von Turdu Bai geführt, in
+ihrem „Kielwasser“ reitet Musa. Die Kosaken decken die Flanken; ich
+reite gewöhnlich hinterdrein. So geht es vorwärts durch Gärten und
+Dörfer, zwischen Mais- und Weizenfeldern hindurch, über Kanäle mit
+oder ohne Brücken (Abb. 13), über öde Steppen und kleine Sandfelder,
+wo vereinzelte, gleichsam verirrte Dünenindividuen von ungefähr 3
+Meter Höhe ihre steilen Abhänge nach Osten kehren (Abb. 14). Im Dorfe
++Jupoga+, unserer nächsten Raststelle, suchte man in mehreren
+Bassins das kostbare Wasser des großen Kanals Chan-arik aufzufangen.
+
+Am 8. September erhielten die Tiere ihren ersten Ruhetag; ihre
+Packsättel waren seit Kaschgar nicht abgenommen worden, und man muß
+genau nachsehen, damit auf dem Rücken oder an den Seiten der Höcker, wo
+der mit Stroh gestopfte Sattel oder ein Teil der Last dicht anliegen
+und drücken kann, keine Scheuerwunden entstehen.
+
+Nach einer ganz sternenklaren Nacht erscheint die Morgenluft beinahe
+kalt; die Minimaltemperaturen sind in beständigem Fallen begriffen,
+aber die Tageswärme steigt allmählich, je mehr wir uns von den gut
+bewässerten Vegetationsgebieten und den Bergen entfernen. Unterwegs
+hatten die Dorfbewohner mehrmals Dastarchane aufgetischt in Gestalt
+von Zucker- und Wassermelonen, in der Hoffnung auf ein anständiges
+Trinkgeld, eine Artigkeit, die auf die Dauer recht lästig wird.
+
+Das Dorf ist bald zu Ende; dann folgt die hügelige Steppe, wo wir
+zahlreichen Landleuten begegnen, die den Ertrag ihrer Äcker und
+Gärten auf Eseln, Kühen und Pferden nach dem Markte in Jupoga
+bringen. Dann und wann wird die Steppe von einer unfruchtbaren
+Dünenreihe durchkreuzt; dazwischen sieht man Schafherden, Mais- und
+Baumwollfelder, trockene, jämmerliche Kanäle, die nur selten von der
+letzten Flut aus dem Chan-arik noch am Boden feucht sind. Rechts vom
+Wege zieht sich ein Gürtel hübsch blühender Tamarisken hin, eine
+wehmütige Erinnerung an das Heidekraut unserer Wälder. Die staubige
+Landstraße geht allmählich in einen Pfad über und zeigt damit an, daß
+der Verkehr nach Osten hin abnimmt. Am Rande von +Terem+ finden
+wir wieder den langen Bewässerungskanal Chan-arik mit 4 Meter breitem,
+gänzlich trockenem Sandboden und kleinen Brücken, die verraten, daß
+hier von Zeit zu Zeit auch Wasser fließt. Um den langen Wüstenmarsch
+des nächsten Tages, den ich schon von früher her kannte, abzukürzen,
+ritten wir durch das ganze Dorf und lagerten uns bei dem letzten nach
+der Wüste zu liegenden Gehöfte.
+
+Am 10. September machte ich, für eine Zeit von mehreren Monaten, die
+letzte Reise zu Lande. Die Temperatur fiel während der Nacht auf 8,3
+Grad, was einem nach einem Tage von über 30 Grad im Schatten grimmig
+kalt vorkommt. Als ich aufstand, war der größere Teil der Karawane
+schon marschfertig. Der Tag war heiß, der Marsch lang und ermüdend,
+und die Wassermelonen, die wir mitgenommen hatten, fanden reißenden
+Absatz. Steppen- und Wüstengürtel wechseln ab, die Dünen sind bald
+schwach mit Tamarisken bewachsen, bald völlig nackt; die ersteren
+heißen „Kara-kum“, die letzteren „Ak-kum“, was schwarzer und weißer
+Sand bedeutet (Abb. 15). Die Nachbarschaft des Flusses macht sich
+schließlich bemerkbar, indem kleine Gruppen von Pappeln (Tograk)
+auftreten und nach und nach immer frischer und laubreicher werden, je
+mehr wir uns der großen Wasserstraße nähern.
+
+Bei der Poststation +Lenger+ wurden wir von einigen neugierigen
+Chinesen begafft und in der Dämmerung erreichten wir die breite
+mächtige Flut des Jarkent-darja. Der Fluß war hier in Arme geteilt,
+von denen der linke, an dessen Ufer wir hinzogen, viel zu seicht war.
+Wir zogen daher noch eine Weile in der Dunkelheit nach Norden weiter;
+von den Tritten der Kamele knisterte und krachte es in den trockenen
+Zweigen des Unterholzes und des Gesträuches. Das Terrain wurde jedoch
+nicht besser, und als sich das silberne Horn des Mondes im Walde
+versteckte, machten wir aufs Geratewohl Halt und schlugen, ziemlich
+müde von der dreizehnstündigen Reise, am Ufer unser Lager auf.
+
+Endlich hatten wir den Fluß erreicht. Nun begann eine neue Abteilung
+der Reise und dazu eine Reisemethode, die ich bisher noch nicht erprobt
+hatte.
+
+[Illustration: 8. Durch die Furt des Kisil-su. (S. 16.)]
+
+[Illustration: 9. Nikolai Fedorowitsch Petrowskij,
+
+Wirklicher Staatsrat, kaiserlich russischer Generalkonsul in Kaschgar.
+(S. 18.)]
+
+[Illustration: 10. Die beiden Kosaken Sirkin und Tschernoff. (S. 19.)]
+
+
+
+
+Drittes Kapitel.
+
+Die Schiffswerft in Lailik.
+
+
+Jetzt folgte eine knappe Woche für die Vorbereitungen zu der langen
+Flußreise. Islam hatte in Merket eine längere Unterhandlung mit Beks
+und Kemitschi (Fährleuten). Ich hatte gefürchtet, daß die Chinesen
+Mißtrauen gegen mein Vorhaben hegen würden und daß die Erfahrungen
+der Wüstenreise des Jahres 1895, deren Ausgangspunkt Merket ebenfalls
+gewesen, die Dorfbewohner abschrecken würden, uns beim Aufbrechen
+zu helfen. Denn damals war der Bek zum Dao Tai gerufen, verhört
+und getadelt worden, weil er mir nicht einen zuverlässigen Führer
+mitgegeben. Nun aber hatte Merket einen neuen Bek erhalten, dem der Dao
+Tai Befehl erteilt hatte, uns weiterzuhelfen und uns wie vornehme Leute
+zu behandeln. Islam kehrte denn auch bald mit dem Bescheid zurück, daß
+ein Fährmann uns sein Fahrzeug für 1½ Jamba zu verkaufen bereit sei.
+
+Mit dem Kosaken Sirkin unternahm ich eine Probefahrt in dem englischen
+Segeltuchboote auf dem kleinen, abgeschnürten Flußarme, an dessen
+Ufer unser Lager aufgeschlagen war. Auch von Mast und Segel machten
+wir Gebrauch. Bei der schwachen Brise kam die vortreffliche kleine
+Jolle gut vorwärts; sie schien ein ziemlich sicheres Boot zu sein.
+Bei einem kleinen Nebenarme führten wir das Boot nach dem Hauptflusse
+hinaus, wo es ruhig und elegant, aber ziemlich schnell dahinglitt. Nur
+unbedeutende, langsam tanzende Wasserringel waren auf der Oberfläche
+des Flusses zu sehen und von Stromschnellen war nichts zu hören. Es war
+ein Genuß, sich so forttragen zu lassen, ein Vorgefühl des Behagens,
+womit die Flußfahrt später auf Hunderte von Meilen hin verknüpft sein
+sollte. Die Vereinigungsstelle des Seitenarms mit dem Hauptflusse
+schien noch fern zu sein, und wir hielten es für an der Zeit
+umzukehren. So schleppten wir denn das Boot in dem weichen, zähen Lehm
+bis an unseren Seitenarm. Doch auch in diesem herrschte eine Strömung,
+die kräftig genug war, um das Flußaufwärtsrudern zu schwer zu machen.
+Sirkin ging daher an Land und holte einen Mann und zwei Pferde. Mitten
+im Wasser reitend, zog er das Boot an einem Stricke nach. Manchmal
+blieb das Pferd in dem zähen Lehme beinahe stecken, und die Tiefe war
+stellenweise bedenklich groß. Einmal erreichte das Pferd den Grund
+nicht mehr; es wurde von der Strömung fortgerissen und war nahe daran
+sich zu überschlagen; der Reiter sprang ab und schwamm auf das Boot
+zu, das ich ihm entgegensteuerte. Doch ihm erschwerte die Kleidung
+die Bewegungen, und gerade als er nach dem Ruder griff, das ich ihm
+hinhielt, versank er ganz im Wasser. Endlich gewann er jedoch Halt am
+Bootrande und hätte die kleine Jolle beinahe umgerissen, als er sich
+hineinschwang. Alles ging so schnell vor sich, daß ich kaum dazu kam,
+mich zu beunruhigen. Doch was hätte es für ein Unglück geben können,
+wenn mein Kosak einen Starrkrampf bekommen hätte oder des Schwimmens
+unkundig gewesen wäre! Am Ufer war das Pferd, das seinen eigenen Weg
+geschwommen war, nahe daran, in dem zähen Schlamme umzukommen, aber es
+arbeitete sich ebenfalls wieder heraus. Sirkin war nach dem Bade ganz
+matt und angegriffen, aber seine kleine Schwimmtour hatte so einladend
+ausgesehen, daß ich mich entkleidete und ein erfrischendes Bad nahm.
+
+Unser Versuch, wieder nach dem Lager zu kommen, war also gescheitert;
+glücklicherweise waren aber einige unserer Leute am Ufer flußabwärts
+gegangen, um uns zu suchen. Sie mußten uns vom Ufer aus an einer
+langen Leine ziehen, während ich das Boot mit dem einen Ruder in der
+Stromrinne hielt.
+
+Das Lager bot bei unserer Ankunft ein lebhaftes Bild dar. Die Zelte
+waren von einer ganzen Volksversammlung von Besuchern umgeben (Abb.
+16). Ich fand dort viele alte Freunde von 1895 wieder, Lailiks
+On-baschi (Bezirkshauptmann, eigentlich Chef von 10 Mann) und
+Örtängtschis (Gastwirte), verschiedene Bewohner von Merket und Frauen
+in langen Hemden von dünnem, rotem Zeuge mit ihren Kindern auf dem Arme.
+
+Nachdem die Unterhaltung sich eine gute Weile um jene unglückliche
+Wüstenreise gedreht, wurden die Flußreise und die Fährfrage Gegenstand
+einer Diskussion. Um die Sache abmachen zu können, ritt ich mit einem
+großen Gefolge nach der Fährstelle zwischen Lailik und Merket, wo
+die von Islam vorgeschlagene Fähre lag. Ich fand sie vorzüglich, von
+kernfesten, ungehobelten Planken, die von mächtigen eisernen Krampen
+zusammengehalten wurden, neu erbaut und ganz dicht. Sie kam mir nur
+ein bißchen groß und schwer vor, was hier oben gewiß vorteilhaft
+ist. Doch wer konnte wissen, ob der Fluß überall gleich tief und
+wasserreich wäre, und viel wahrscheinlicher war es, daß es schwierig
+sein könnte, diesen schweren Koloß wieder flott zu machen, wenn er
+mit Unterwasserbänken in allzu innige Berührung gekommen wäre. Die
+Frage wurde mit den Lailiker Fährleuten von allen Gesichtspunkten aus
+erörtert; die meisten rieten uns, das „Schiff“ zu nehmen, wie es war.
+
+Der Beschluß, der gefaßt und schon am folgenden Morgen ins Werk gesetzt
+wurde, bestand darin, das Schiff nach einem Punkte am rechten Ufer,
+unserem Lager gerade gegenüber, zu bringen (Abb. 17). Wir mußten
+eine Schiffswerft anlegen, wo eine Ausrüstung und Rekonstruktion mit
+wirklichem Vorteil stattfinden konnte. Bei unserem Lager auf dem linken
+Ufer ließ sich dies nicht machen, denn dort floß nur ein Seitenarm,
+der vom Hauptflusse durch eine tiefliegende, feuchte Schlammzunge,
+hinter der das Wasser zunächst seicht war, getrennt war. Auch das
+rechte Ufer war insofern ungeeignet, als es infolge der Erosion des
+Flusses eine anderthalb Meter hohe steil abgeschnittene Wand bildete.
+Häkim Bek aus Merket bot neunzig Landleute auf, die mit ihren Spaten
+einen nicht allzusteilen Abhang herstellten, auf den Bretter gelegt
+wurden; auf dieser Unterlage wurde die Fähre unter Gesang und Geschrei
+mit vereinten Kräften aufs Trockene gezogen. Der Bek, dessen Adern
+reicher an chinesischem als an muhammedanischem Blute waren, stand
+die ganze Zeit über mitten auf der Fähre; sie wurde dadurch gerade
+nicht leichter, aber er imponierte durch seine hohe Gegenwart, hielt
+eine lange Rute in der Hand, klatschte und schlug nach allen Seiten
+und kommandierte wie ein Zirkusdirektor. Die Kinder des Wüstenrandes
+verdoppelten ihre Kräfte, und der schwere Prahm wurde ruckweise auf
+ebenen Boden gezogen, wo er zwischen den Hagedornbüschen auf einigen
+Querbalken ruhte.
+
+Als wir soweit gekommen waren, überlegten wir eine Weile, denn jetzt
+sollte der Beschluß gefaßt werden, der für den Ausgang der ganzen Reise
+wichtig sein konnte. Ein Mann erzählte nämlich, daß der größere Teil
+der an Lailik vorüberströmenden Wassermasse sich in einem breiten,
+seichten Arme in die kleinen Seen von Maral-baschi ergieße, deren
+Wasser durch Kanäle auf die Felder dieser Oase geleitet werden. Das
+eigentliche Bett des Jarkent-darja dagegen habe einen östlicheren Lauf
+nach Tschahrbag zu und sollte nur wenig Wasser in einem schmalen Bette
+mit großem Gefälle haben. Infolge dieser Aufklärungen wurde für den
+Anfang beschlossen, die oberste Planke an den beiden Längsseiten und
+die entsprechenden Teile vorn und hinten zu entfernen, wo dann mittelst
+der eisernen Zapfen neue Querhölzer festgemacht werden sollten. Für den
+Fall, daß wir infolge zu geringer Wassermenge die große Fähre würden im
+Stiche lassen müssen, wurde eine kleine Reservefähre gebaut. Zu dieser
+wollten wir im Notfalle unsere Zuflucht nehmen, damit wir die Flußreise
+nach dem Lop-nor, die ich um jeden Preis ausführen wollte, nicht
+abzubrechen brauchten.
+
+Um jeden Augenblick vom Lager nach der Werft hinüberkommen zu können,
+mieteten wir eine der Fähren, die die Verbindung zwischen den Ufern
+auf dem Wege von Lailik nach Merket aufrechthalten. Ich befand mich
+meistens bei der Werft, um die Arbeit zu überwachen und die Fähre so
+zu bekommen, wie ich sie wünschte, bequem und gemütlich, wie mein
+schwimmendes Heim für lange Monate sein mußte.
+
+Die Werft entwickelte sich allmählich zu einer Werkstatt, wo frisch
+gearbeitet wurde (Abb. 19). Schreiner aus Merket und sachverständige
+Leute aus Jarkent versammelten sich hier mit ihren Werkzeugen und
+verdienten so gut wie kaum je zuvor. Eine Schmiede mit einer kleinen,
+aus Ziegelsteinen aufgemauerten Esse und einem Blasebalge wurde
+zwischen den Büschen angelegt, und die Funken sprühten von den eisernen
+Krampen, die gerade gehämmert wurden. Der Bek war allgegenwärtig und
+führte mit milder Hand das Regiment über die, welche an der Arche
+zimmerten.
+
+Aus dünnen Planken von trockenem, starkem Pappelholz sollte das
+Vorderdeck der Fähre gebaut werden, eine Plattform, auf der mein Zelt
+aufgeschlagen werden sollte und von deren vorderem Teile aus ich einen
+freien Ausblick auf den Fluß haben würde.
+
+Hinter dem Vorderdeck wurde aus Stangen und Zweigen das Gerippe einer
+würfelförmigen Kajüte erbaut, die ich anfänglich zum Schlafzimmer für
+mich bestimmte; sie mußte in den kalten Herbstnächten leichter warm zu
+halten sein als das Zelt (Abb. 18). Sie erhielt jedoch schon während
+des Ganges der Arbeit eine ganz andere Aufgabe zu erfüllen, indem sie
+als photographische Dunkelkammer eingerichtet wurde. Drei kleine, mit
+Scheiben versehene längliche Fensterrahmen wurden in die Wände der
+Kajüte eingesetzt. In den einen Rahmen, mitten in der Wand, die an das
+Zelt grenzte, kamen dunkelrote Glasscheiben. Wenn ich nachts an diesem
+Fenster mit Entwickeln beschäftigt war, wurde draußen ein Stearinlicht
+davor, d. h. in das Zelt hinein, gestellt; vor Zug und Wind wurde die
+Flamme teils durch das Zelttuch, teils mittelst einer Holzkiste, die es
+wie ein Schilderhaus umgab, geschützt.
+
+Die beiden anderen Fenster mit weißem Glase wurden an der Außenwand
+und an der Hinterwand angebracht; wenn man aufrecht stand, hatte man
+bei Tag durch sie die Aussicht auf den Fluß und das rechte Ufer; sie
+waren aber so eingerichtet, daß sie beim Entwickeln vollständig bedeckt
+werden konnten. An der Hinterwand lief eine niedrige Bank entlang, auf
+der vier ziemlich große, eigens zu photographischen Zwecken gekaufte
+Zuber mit reinem Wasser standen. Was das Waschen der Platten anbetraf,
+so wurde folgende praktische Einrichtung getroffen. Auf der vorderen
+Backbordecke des Kajütendaches wurde auf eine verstärkte Plattform ein
+Bottich gestellt, von dessen Boden ein Gummischlauch in die Kajüte
+hinabführte und in einen Samowar mündete, unter dessen Hahn ich die
+Platten bequem abspülen konnte. Wenn der Samowar gefüllt war, wurde
+der Zufluß mittelst einer Klemme am Schlauche abgesperrt, und wenn der
+Bottich leer wurde, brauchte ich nur der Wache zuzurufen, ihn wieder
+zu füllen. Das Flußwasser, das stets trübgrau von Schlamm und Staub
+ist, war natürlich für photographische Zwecke unbrauchbar, doch ganz
+kristallklares Wasser zu finden, war keine Kunst; es gab solches längs
+des ganzen Weges flußabwärts in kleinen, abgeschnürten Uferlagunen.
+Dagegen konnte das gebrauchte Waschwasser nicht entfernt werden; es
+überschwemmte nach meinen Arbeitsnächten den Boden der Fähre und machte
+am nächsten Morgen ein Ausschöpfen notwendig. Mich selbst belästigte
+der feuchte Boden der Kajüte gar nicht, denn ich hielt mich meistens
+im Zelte auf, dessen Fußboden einen Meter über dem Boden der Fähre
+schwebte.
+
+Als das Holzgerippe der Kajüte fertig war, wurde es mit einer doppelten
+Schicht von schwarzen Filzmatten, die festgenagelt wurden, bekleidet;
+auch die Türöffnung konnte mit an ihrem oberen Teile befestigten
+Filzvorhängen verdeckt werden. Noch in der Mitte des September war die
+Hitze in der schwarzen Kajüte bei Tag unerträglich; es dauerte aber
+nicht lange, bis der Herbst dafür sorgte, daß dieser Unannehmlichkeit
+abgeholfen wurde. Bei Tage hatte ich dort selten zu tun, es sei denn,
+um zum Trocknen aufgestellte Platten zu überwachen oder Instrumente und
+andere im Laboratorium verwahrte Sachen zu holen.
+
+In der Mitte des Schiffes, hinter der Kajüte, wurden etwas Proviant,
+ein paar Sättel und die Sachen der Leute aufgestapelt; für meine
+Diener war reichlich Platz im Achter der Fähre, wo eine kleine, runde
+Herdplatte von Lehm aufgemauert wurde, die Küche. Da es im Spätherbst
+und noch mehr im Anfang des Winters sehr kalt wurde, zündeten die
+Männer dort ordentliche Scheiterhaufen an.
+
+So kleideten sich denn nach und nach meine Pläne in die Gestalt der
+Wirklichkeit, und schneller, als ich es zu hoffen gewagt, lag das
+stolze Drachenschiff fertig auf seinem Bette und sehnte sich, in sein
+Element zurückkehren zu dürfen. Während seiner Instandsetzung waren
+wir auf anderen Gebieten auch nicht untätig gewesen. In der Schmiede
+schmiedete Sirkin ein Paar fester Anker oder richtiger Dregganker mit
+sechs Armen, die uns später oft von großem Nutzen waren; namentlich
+war der kleinere Anker, der für die englische Jolle bestimmt war,
+jedesmal nötig, wenn die Geschwindigkeit des Wassers mitten im Flusse
+gemessen wurde und das Boot also still liegen mußte. Die kleinere
+Fähre wurde auch bald fertig. Ziemlich beunruhigend war es, zu sehen,
+wie der Wasserstand mit jedem Tage, der dahinging, ein paar Finger
+breit fiel; wir beeilten uns aber desto mehr und hofften, daß, wenn es
+uns nur gelänge, glücklich an den schmalen Stellen bei Maral-baschi
+vorbeizukommen, wir auch bis ans Ende des Flusses gelangen würden.
+
+Während der letzten zwei Tage in Lailik wurden alle Vorbereitungen
+abgeschlossen. Das Gepäck wurde geordnet, und es handelte sich jetzt
+darum, nur das Allernotwendigste mitzunehmen, das jedoch drei große
+Kisten füllte. Als alles fertig war, erhielten die Schmiede und
+Schreiner, die uns behilflich gewesen, reichlichen Lohn; der Bek aber
+war zugegen und sah zu, daß keine unberechtigten Forderungen gestellt
+wurden. Am 15. September liefen beide Fähren von Stapel; mit der
+größeren machte ich eine kleine Probefahrt, die in jeder Hinsicht
+befriedigend ausfiel. Es war ein Festtag für die Dörfler der ganzen
+Gegend, die sich bei der Werft massenweise versammelten, um dem
+feierlichen Stapellaufe beizuwohnen. Alle brachten „Geschenke“ ~in
+natura~ mit, Schafe, Hühner, Eier und Brot, Melonen, Trauben und
+Aprikosen; auf diese Weise wurden wir auf mehrere Tage verproviantiert.
+Abends veranstaltete ich den Vornehmeren des Dorfes und unseren
+Arbeitern ein Gastmahl; es gab Reispudding und Schaffleisch, Tee und
+Obst, und während der Mahlzeit hatten wir Tafelmusik von unserem großen
+Symphonion. In der Dunkelheit wurden zwischen den Zelten Papierlaternen
+aufgehängt, und nun ertönten die bizarren Töne der Nagara (Trommel),
+Dutar (zweisaitige Gitarre) und anderer Saitenspiele schwermütig durch
+die klare, stille Nacht und riefen meine alten Erinnerungen aus dieser
+Gegend wieder ins Leben. Auch 1895 hatte ich eine bedeutungsvolle
+Reise mit Lailik und Merket als Ausgangspunkt angetreten. Doch wie
+verschieden waren die beiden Reisen. Damals waren wir nach dem
+unheimlichen, mörderischen Wüstenmeere aufgebrochen, jetzt schlugen
+wir eine Richtung ein, wo wir wenigstens nicht an Wasser Mangel leiden
+würden. Und dieselben Spielleute weihten auch die neue Reise ein, und
+Tänzerinnen in langen weißen Hemden, die dicken schwarzen Zöpfe über
+den Rücken herabhängend, mit kleinen Zipfelmützen und nackten Füßen
+tanzten zum Takte der Musik ihren stoßweisen, langsamen Kreistanz. Sie
+wurden am Tage darauf photographiert, nahmen sich aber im Tageslicht
+weniger vorteilhaft aus als bei dem verschönernden Lichte der Lampions
+(Abb. 20).
+
+Noch ein Tag wurde Lailik geopfert wegen verschiedener Messungen
+und zur Feststellung einiger Werte, die uns späterhin von Nutzen
+sein konnten. Mit Bandmaßen wurde längs des rechten Ufers, dessen
+scharf abgeschnittener Rand 2½ Meter über der Wasserfläche lag,
+eine Basislinie von 1250 Meter Länge abgesteckt. Um diese Strecke zu
+treiben, brauchte die Fähre 26 Minuten, die kleine Jolle 22 Minuten 17
+Sekunden; der Unterschied beruhte darauf, daß sich die Fähre nicht
+während der ganzen Zeit in der stärksten Strömung halten ließ, in deren
+Sauggebiete man jedoch die kleine Jolle leicht festhalten konnte.
+Die Strömung betrug also auf dieser Strecke zirka 50 Meter in der
+Minute oder etwas über 80 Zentimeter in der Sekunde. Um die gemessene
+Wegstrecke in gewöhnlichem Marschtempo zurückzulegen, brauchte ich 13
+Minuten 45 Sekunden und machte im Durchschnitt 1613 Schritte; also
+waren 64 von meinen Schritten 50 Meter. Die Wassermenge des Flusses
+betrug hier bis zu 98,2 Kubikmeter in der Sekunde, die Maximaltiefe
+war 2,74 Meter (ganz dicht am rechten Ufer), das Bett war 134,70 Meter
+breit, und die größte Stromgeschwindigkeit betrug 0,893 Meter in der
+Sekunde. Für die Karte nahm ich als Norm an, daß 1 Minute Drift 50
+Meter Weglänge und 1 Millimeter auf der Karte entspräche; es versteht
+sich aber von selbst, daß die Drift später bedeutend variierte, was auf
+die berechneten Entfernungen jedoch nicht einwirkte, da ich auf der
+ganzen Fahrt täglich mehrmals die Stromgeschwindigkeit maß.
+
+Der Orientierung halber teile ich auch die wichtigsten Dimensionen der
+Fähre mit. Sie war 11,51 Meter lang, 2,37 Meter breit und 0,83 Meter
+hoch, wovon 0,23 Meter unter der Wasserlinie lagen, wenn das Schiff
+volle Last hatte und bemannt war. Bei 20 Zentimeter Wassertiefe mußten
+wir also festfahren, was auch täglich geschah. Die Reservefähre war 6
+Meter lang und 1 Meter breit. --
+
+Der 17. September war der große Tag der Abreise, und in früher
+Morgenstunde wurde die Karawane beladen. Die Kosaken und Nias Hadschi
+erhielten Auftrag, sie über Aksu und Korla nach Argan am untersten
+Laufe des Tarim zu führen, wo sie nach dritthalb Monaten eintreffen
+mußten und wo es uns nicht schwer werden konnte, durch Kuriere
+voneinander Nachrichten zu erhalten. Sie hatten Empfehlungsbriefe
+von Generalkonsul Petrowskij an die Aksakale (Konsularagenten) der
+beiden genannten Städte und ein paar gewaltige Pässe vom Dao Tai
+mit und wurden von ein paar chinesischen Untertanen, gewöhnlich
+muhammedanischen Beks oder Gendarmen, von Stadt zu Stadt eskortiert.
+Sirkin erhielt den Auftrag, ein kurzgefaßtes Tagebuch zu führen; er
+und Tschernoff bekamen ein Geldgeschenk und sollten, solange sie
+die Karawane eskortierten, ganz freie Station haben, so daß sie bei
+der Rückkehr nach Kaschgar ihren stehengebliebenen Lohn ohne Abzug
+einstreichen konnten.
+
+Die Kamele befanden sich in bestem Wohlsein und hatten sich in dem
+jungen Walde fettgegrast. Auf dem Wege nach Lop sollten sie mit der
+größten Sorgfalt gepflegt und nicht überanstrengt werden; wir waren der
+Ansicht, daß sie beim Eintreten des Winters in wenigstens ebenso guter
+Verfassung wie jetzt sein und den Feldzügen in den Sandwüsten ohne
+Schwierigkeit entgegengehen könnten. Nias Hadschi erhielt 4½ Jamben
+zum Unterhalt der ganzen Karawane und zum Einkaufen großer Vorräte
+an Reis, Mehl und anderen Dingen, deren wir später bedürfen würden.
+Sirkin sollte über die Ausgaben der Karawane Buch führen. Als alles
+fertig war, nahmen sie Abschied, schwangen sich auf den Sattel und
+verschwanden langsam im Unterholz, bis das Glockengeläute nach einer
+Weile in der Ferne erstarb.
+
+Mich begleiteten nur Islam, Koch, Bedienter und Faktotum in einer
+Person, und Kader, der eigentlich ein muhammedanischer Schreiber war,
+meistens aber als Islams Laufbursche fungierte. Die Besatzung der
+Flottille bestand aus vier mit langen, starken Stangen bewaffneten
+Männern (Sutschi, Wassermännern oder Kemitschi, Boots- oder
+Fährmänner). Einer hatte seinen Platz im Vorderschiffe, zwei im Achter
+der großen Fähre. Von ihnen wurde ununterbrochenes Aufpassen verlangt,
+denn an Stellen mit starker Strömung und scharfen Ecken zeigte die
+Fähre Neigung, gegen den stark unterwaschenen Uferwall zu stoßen, und
+dann mußte rechtzeitig von den Stangen Gebrauch gemacht werden. Der
+vierte Kemitschi führte die kleine Fähre und ging an der Spitze der
+Flottille, um die Tiefe zu untersuchen und uns vor seichten Stellen
+zu warnen; diese Fähre war vollgeladen mit Proviant, Mehl, Reissäcken
+und Früchten. Die Fährleute, die sich die ganze Zeit über vortrefflich
+führten, hatten 10 Sär (30 Mark) im Monat und alles frei, doch war es
+nicht leicht, sie zu überreden, mit nach Lop zu kommen; sie hegten eine
+kindische Furcht vor diesen fernen Gegenden, von denen sie noch nie
+hatten reden hören.
+
+[Illustration: 11. Ein Seiltänzer in Kaschgar. (S. 20.)]
+
+[Illustration: 12. Aufbruch der ersten Karawane aus Kaschgar. (S. 20.)
+
+Von links nach rechts: die beiden Kosaken Tschernoff und Sirkin, der
+junge Kader, der Verfasser und Islam Bai.]
+
+Nun wurde die letzte Hand an die Ausrüstung und Möblierung der Fähre
+gelegt, das Gepäck an Bord gebracht und das Küchengeschirr in der
+Nähe des Herdes auf dem Achterdeck geordnet. Das Zelt wurde auf der
+Plattform aufgeschlagen, seine herabhängenden Säume an den Außenrändern
+des Bretterfußbodens festgenagelt und im Inneren ein in munteren Farben
+gehaltener Teppich ausgebreitet. Das Möblement wurde so eingerichtet,
+daß das Feldbett an die Backbordlängsseite gestellt wurde und an
+seinem Fußende eine der Kisten stand; die beiden anderen standen auf
+der Steuerbordseite und dienten auch als Tische, auf denen stets eine
+Menge Instrumente, Karten und andere Dinge in malerischer Unordnung
+umherlagen. Am vorderen Rande der Plattform, in der Zeltöffnung selbst,
+hatte ich meinen aus der Proberöhrenkiste bestehenden Arbeitstisch,
+dessen Untergestell ein Koffer mit Winterkleidern bildete. Das Futteral
+des großen photographischen Apparates diente mir als Arbeitsstuhl.
+Öffnete ich die hintere Zelttür, so hatte ich freien Zutritt zum
+Kajütendach, auf dem allerlei Sachen, die nicht vom Wind fortgeweht
+werden konnten, wie Segel und Ruder, Strommesser u. dgl., aufbewahrt
+wurden. Hier war auch das Wetterhäuschen aufgestellt. Es umschloß
+den Baro- und Thermographen, die Maximal- und Minimalthermometer,
+das Psychrometer und drei Aneroide. Der Windmesser stand obendrauf;
+doch was er während der Flußreise mitzuteilen hatte, war von geringer
+Bedeutung, denn das Flußtal war durch Wälder und hohe Ufer geschützt,
+die den Wind zum großen Vorteile für den ungestörten Gang des Schiffes
+abhielten. Was Baro- und Thermograph auf vierzehntägigen Streifen
+aufzeichneten, war von größerem Interesse: man sah deutlich, wie das
+Barogramm das langsame Abfallen des Flusses nach Osten angab, während
+die gezähnte Linie des Thermogrammes immer niedriger wurde, je weiter
+der Herbst vorschritt und je mehr der Winter herannahte.
+
+Die Fähre lag dem linken Ufer so nahe, als es die hier angehäufte
+Sandbank erlaubte. Doch um dorthin zu gelangen, mußte man eine
+ziemliche Strecke in dem seichten Wasser waten. Mit aufgekrempelten
+Kleidern zog eine ganze Karawane von Dörflern und Kindern zum letzten
+Lebewohl hinaus und bestürmte uns noch einmal mit Geschenken, die
+eiligst bezahlt wurden (Abb. 21).
+
+Das Bild, das sich dem Blicke an Bord darbot, war so ansprechend und
+urgemütlich, daß ich die, welche im Wasser stehen blieben und uns
+lautlos die große Wasserstraße hinunterziehen sahen, beinahe bedauerte.
+Sie hatten den Vorbereitungen mit skeptischer Miene zugesehen und waren
+erstaunt darüber, wie gut sich schließlich alles gestaltet hatte.
+Es war Punkt 2 Uhr, als ich Befehl zum Aufbruch gab. Die Fährleute
+stießen das Schiff mit ihren langen Stangen in die Stromrinne hinaus,
+die Ufer glitten vorbei, und nach der ersten Biegung verschwanden die
+erinnerungsreichen Gegenden von Lailik und Merket.
+
+Ich ließ mich sofort am Schreibtische nieder, wo ich monatelang wie
+festgenietet sitzen sollte; hier hatte ich meine Kommandobrücke und
+meinen Observationsplatz (Abb. 23). Ein Stück weißes Papier lag bereit;
+das erste Kartenblatt, Kompaß, Uhr, Diopter, Zirkel, Feder, Messer,
+Gummi, Fernglas usw., alles war zur Hand, und der Tisch stand so weit
+vor in der Zeltöffnung, daß ich sowohl nach vorn wie nach den Seiten
+freie Aussicht auf die Landschaft hatte. Jolldasch und Dowlet fühlten
+sich vom ersten Augenblick an völlig heimisch; während der heißen
+Stunden des Tages lagen sie keuchend unter Deck, in der Dämmerung aber
+kamen sie hervor und leisteten mir im Zelte Gesellschaft.
+
+Wenn der Leser sich wundert, weshalb ich eigentlich diese Flußreise
+unternahm, und fragt, welchen Gewinn in geographischer Hinsicht ich
+von ihr erwartete, so antworte ich, daß dies erstens der einzige
+Weg durch ganz Ostturkestan war, den ich noch nicht kannte, und daß
+zweitens bisher noch nie eine Karte vom Laufe des Tarim aufgenommen
+worden war. Von Maral-baschi bis Jarkent waren Pjewzoff, ich und noch
+ein paar andere Reisende auf dem Karawanenwege am Flusse hingezogen,
+zwischen Schah-jar und Karaul waren Carey und Dalgleish und später
+auch ich durch die Uferwälder gegangen, und längs des untersten Teiles
+des Laufes war zuerst Prschewalskij, dann Prinz Heinrich von Orléans
+und Bonvalot, Pjewzoff, Littledale und zuletzt ich entlang gewandert.
+Aber die Wege und Stege, die dem Flusse folgen, berühren nur hin und
+wieder seine Krümmungen: die Wege sind, als wären sie zwischen den
+äußersten Kurven der Flußbiegungen auf einem der Ufer gezogen worden.
+Durch sie erhält man keinen Begriff von dem Verlaufe, dem Aussehen
+und den sonstigen Eigentümlichkeiten des Flusses. Unsere Kenntnis des
+Tarim war bisher auf derartige flüchtige Beobachtungen von geringem
+Werte gegründet gewesen. Als ich schließlich meine große Karte vom
+Tarim fertig hatte, fand ich, wie unähnlich ihr das bisherige Bild
+des Flusses war. Es war dies eine geographische Eroberung, die der
+Monate, die ihr geopfert worden, wohl wert war. Nie ist die Karte
+eines außereuropäischen Flusses so genau aufgenommen worden. Und
+wie interessant war es, das ganze Leben des Flusses so eingehend zu
+studieren, sein Steigen und Fallen, sein von verschiedenen Ursachen
+herrührendes Pulsieren, seine launenhaften Formationen und sein
+wechselndes Aussehen in verschiedenem Terrain! Nicht allein, daß ich so
+in täglicher, ununterbrochener Arbeit Material zu einer außerordentlich
+eingehenden Monographie über den größten Fluß des innersten Asien
+sammelte und einen Weg wählte, dem bisher noch nie jemand gefolgt war,
+sondern ich machte auch eine so idyllische, so angenehme Reise wie noch
+nie. Wenn man gewohnt ist, zu Pferd zu reisen oder die Gegenden von
+dem Rücken eines sich wiegenden Kameles aus zu betrachten, ist es ein
+Genuß sondergleichen, sich von der Strömung eines ruhigen, friedlichen
+Flusses befördern zu lassen, die ganze Zeit an seinem Arbeitstische im
+Schatten zu sitzen und sich die Landschaft entgegenkommen zu lassen,
+die sich selbst aufrollt wie ein ständig wechselndes Panorama, dem
+man wie von seiner abonnierten Theaterloge aus folgt und zusieht.
+Und es war ein großer Genuß, die ganze Zeit zu Hause zu sein, sein
+Arbeitszimmer, seine Schlafstube und seine Instrumente Tag und Nacht
+bei sich zu haben und sein Haus wie eine Schnecke durch das ganze
+innerste Asien mitzunehmen.
+
+Meiner Ansicht nach hatte ich es weit besser und gemütlicher als auf
+einem europäischen oder amerikanischen Flußdampfer. Denn erstens war
+ich allein und brauchte mich vor niemand zu genieren. Wenn es mir zu
+heiß wurde, konnte ich mich entkleiden und vom Schreibtische direkt
+ins Wasser springen, was auf einem europäischen Dampfer nicht üblich
+ist, und ich konnte bleiben, wo und wie lange ich wollte, wenn wir an
+einer Stelle vorbeiglitten, die in irgendeiner Beziehung einladend
+aussah. Meine Mahlzeiten wurden mir am Schreibtische serviert, wann
+es mir paßte, und wenn sie auch weniger lukullisch waren als die
+europäischen, so haben mir diese dagegen selten so gut geschmeckt wie
+die an Bord meiner eigenen Fähre. Frisches Wasser und eine Luft, die
+der balsamische Duft der Pappeln alle Augenblicke erfüllte, hatten
+wir reichlich zur Verfügung. Ich hatte Bilder von denen, welche ich
+liebte und für die ich betete, in meiner Nähe aufgestellt und begegnete
+täglich ihren Blicken, die mich auf meiner einsamen Wanderung mit ihrer
+Liebe und guten Wünschen begleiteten, und es war herrlich, sich außer
+Hörweite der Verleumdung und der eingebildeten Klugheit zu wissen,
+welche der Unternehmungslust ebenso treu und sicher folgen wie die
+Delphine im Kielwasser eines Schiffes. Auf den provisorischen Tischen,
+die jedoch ihren Zweck vollständig erfüllten, lagen Bücher; ich hatte
+aber selten Zeit, darin zu lesen, denn jede Minute war von Arbeiten,
+die getan werden mußten, in Anspruch genommen. Und diese Arbeiten
+interessierten mich in solchem Grade, daß der Fluß doppelt so lang
+hätte sein können.
+
+
+
+
+Viertes Kapitel.
+
+Zweitausend Kilometer auf dem Tarim.
+
+
+Unwiderstehlich trug die langsam und schwer dahingleitende Wassermasse
+unser Schiff auf ihrem breiten Rücken vorwärts; daß wir ebenso schnell
+wie die Strömung trieben, sah man leicht an den Treibholzstücken auf
+dem Flusse, die uns stundenlang begleiteten. Es war warm und still. Nur
+dann und wann ertönte das Gurgeln eines Wasserwirbels oder das Rauschen
+des Wassers gegen einen an einer Sandbank hängengebliebenen Baumzweig;
+ab und zu wurde die Stille von den Stangen unterbrochen, wenn die
+Fährleute, vom Avisomann Kasim gewarnt, sie ins Wasser stießen, um
+einer Untiefe auszuweichen.
+
+Wir waren noch nicht lange unterwegs, als auch schon Gruppen von
+Landleuten und Frauen mit ihren Melonen, Schafen und anderen Dingen
+die Ufer garnierten. Aber dies lockte uns nicht mehr; wir wollten
+nicht bleiben und brauchten keine Verstärkung unserer mehr als
+reichlichen Verproviantierung. Der Tarim macht die tollsten Krümmungen;
+nacheinander treiben wir nach Nordwesten, Südosten, Norden, Nordwesten
+und Nordosten. Schon lange Strecken vorher sieht man an den Grenzlinien
+des Waldes, wo sich der Flußlauf seinen Weg im Terrain gesucht hat. Bei
++Kalmak-jilgasi+ hatten sich eine Menge Leute versammelt. Da wir
+auch hier nicht hielten, liefen sie uns mit ihren Gaben nach, wateten
+schließlich an einer seichten Stelle in den Fluß (Abb. 22), kletterten
+auf die Fähre und legten ihre Waren auf dem Vorderdeck neben meinem
+Arbeitstische nieder. Es stellte sich heraus, daß es Frauen, Kinder
+und Verwandte unserer Bootsleute waren, die uns so überlistet hatten.
+Es gab keinen anderen Ausweg als anzunehmen, sich zu bedanken und zu
+bezahlen, was ich um so freigebiger tat, als ich es war, der die vier
+Männer ihren Familien entrissen hatte.
+
+Nach halbstündiger Fahrt saßen wir zum ersten Male fest, aber der
+Stoß war so schwach, daß man das Stillstehen der Fähre kaum bemerkt
+haben würde, wenn man nicht gesehen hätte, wie das Wasser auf beiden
+Seiten an uns vorbeiströmte. Die Leute sprangen ins Wasser und
+machten die Fähre ohne Schwierigkeit durch Schieben wieder flott.
+Bei jedem Festsitzen benutzte ich die Gelegenheit zum Messen der
+Stromgeschwindigkeit. In den konkaven Kurven ist die Uferterrasse bis
+zu 3 Meter hoch, und oft fallen große Lehm- und Sandklumpen plumpsend
+herunter. Noch bedurfte es keines Führers; die Fährleute kannten
+mehrere Tagereisen stromab den Namen jeder Uferstrecke und jeder
+Waldpartie. Die Namen sind stets in einer oder der anderen Beziehung
+bezeichnend und lehrreich. So heißt eine von einer scharfen Biegung
+gebildete Halbinsel Araltschi, weil sie beinahe einer Insel gleicht;
+eine Waldgegend Tonkuslik, weil dort Wildschweine vorkommen; ein
+schmaler Teil des Flusses Kalmak-jilgasi (Mongolenpassage), weil in
+alten Zeiten Mongolen an den Ufern gewohnt haben sollen. Bei einer
+nach ihrem Erbauer Muhammed Ili-lenger genannten Poststation an dem
+großen Karawanenwege, der uns hier bei einer Biegung nach links nahe
+ist, hat der Fluß vor zwei Jahren auf eine kurze Strecke seinen Lauf
+verändert; das alte Bette heißt Eski-darja (der alte Fluß). Solche
+Launenhaftigkeiten des Flußbettes wurden oft beobachtet und stets auf
+der Karte eingetragen. In den verlassenen Betten bleiben gewöhnlich
+kleine, klare Wasseransammlungen (Köll = See) stehen.
+
+Abends wurde man von dem starken Sonnenlicht in den westlichen
+Biegungen und der glänzenden Straße, die auf der Wasserfläche zitterte,
+etwas belästigt, ging es aber nach Norden oder Osten, so war die
+Beleuchtung herrlich.
+
+Die Proviantfähre gewährte mit all ihrem Gemüse und ihren Melonen
+einen ländlichen Anblick; dort gackerten Hühner und krähte ein Hahn --
+ihre Aufgabe war, mich mit frischen Eiern zum Frühstück zu versehen.
+Einige Schafe hatten ihre Freistatt auf der großen Fähre in einem
+kleinen Gehege auf dem Achterdeck, wo sie in schönster Ruhe ihr
+Futter verzehrten. Doch ihre Tage waren gezählt; das erste wurde in
++Gasanglik+ geschlachtet, wo wir die Nacht blieben.
+
+Wenn die Tagereise zu Ende ist, muß zuerst die Fähre festgemacht
+werden, damit sie während der Nacht nicht ins Treiben gerät (Abb. 24).
+Die Leute bringen am Ufer ihr Lager in Ordnung, um ein Feuer herum,
+auf dem bald die Teekannen summen und das Abendessen bereitet wird.
+Ihre Betten bestehen aus einer Unterlage von Filzmatten (Kigis) und
+das Deckbett bildet der Schafpelz (Pustun). Ich saß lange an meinem
+Schreibtisch und arbeitete in der stillen Nacht. Die Ruhe wurde nur
+unterbrochen durch Sandrutsche an den Biegungen, wo die Erosion
+ihre Minierarbeit ausführt. Manchmal klatscht es auf, als wäre ein
+Krokodil ins Wasser gegangen, doch solche Tiere gibt es im Tarim
+glücklicherweise nicht. Die Mücken waren lästig, bald aber würde ihnen
+die Nachtluft zu kalt für ihr Spiel. Der Mond goß sein Silberlicht über
+die breite Wasserstraße aus, die sich im Norden wie eine Gasse öffnete.
+
+18. September. Der erste Morgen an Bord war frisch und kühl. Ich
+schlief stets in meinem Zelte, und es war schön, nicht vor Skorpionen,
+die an den Ufern ziemlich häufig sind, auf der Hut sein zu müssen.
+Eine Folge der Strömungsverhältnisse am Lagerplatze war, daß sich im
+Laufe der Nacht eine Menge Sand und Schlamm um die Fähre herum anhäufte
+und die Männer eine gute Weile arbeiten mußten, um sie loszumachen.
+Währenddessen trank ich meinen Morgentee; erst um 9 Uhr waren wir flott
+und glitten wieder den großen Fluß hinab, der hier jedoch noch recht
+einförmig war. Nur wenn man an den steilen Ufern (Jar oder Kasch =
+Strandterrasse, vgl. Jarkent, Kaschgar) vorbeistreicht, die mit jungen
+Pappeln, Gesträuch und jungen Hagedornhecken bekleidet sind, deren
+Wurzeln aus dem Uferwalle herauswachsen und ins Wasser hinabhängen,
+kann man manchmal recht hübsche Partien passieren.
+
+Unsere Kemitschi sind ausgezeichnete Leute, die sich vorzüglich
+anlassen. Sie heißen Kasim Ahun, Naser Ahun, Alim Ahun und Palta; ein
+fünfter Mann, Kasim-on-baschi, begleitete uns nur die ersten Tage, um
+im Anfang mitzuhelfen. Alle sind ebenso mit dem Manövrieren der Fähre
+wie mit den Eigentümlichkeiten des Flusses vertraut und können es in
+den meisten Fällen schon der Form der Ufer und dem Kochen und Ringeln
+des Wassers auf der Oberfläche ansehen, wo es tief oder seicht ist. Oft
+werden die Sandbänke mitten im Flusse durch Treibholz, Pappelstämme,
+Reisigbündel und Schilfgarben, die in Drift geraten und hängengeblieben
+sind, angegeben. Liegt eine tückische Sandbank dicht unter der
+Oberfläche, so verrät sie sich doch gewöhnlich dadurch, daß das Wasser
+über ihr ruhig ist und dann gleich unterhalb der Bank eine Stromgasse
+bildet.
+
+Ich unterscheide in der Folge zwischen konkavem und konvexem Ufer; das
+konkave ist dasjenige, welches direkt der von der Zentrifugalkraft
+bestimmten Erosionskraft der Wassermasse ausgesetzt ist und wo die
+2 oder 3 Meter hohe Uferwand da lotrecht abgeschnitten ist, wo die
+Hauptmasse des Wassers strömt, wo wir also die größte Tiefe und die
+stärkste Geschwindigkeit finden. Das konvexe Ufer hingegen tritt in
+einer Biegung auf, sei es nach rechts oder nach links, und wird von den
+Eingeborenen fälschlich „Aral“ oder „Araltschi“ (Insel) genannt. Es ist
+eine flache, halbmondförmige, scharf markierte oder stumpfe Anhäufung
+von Schlamm, den seichtes, langsamfließendes Wasser hier während der
+Hochwasserperiode abgesetzt hat. Hätten wir die Reise anderthalb Monate
+früher angetreten, so wären diese Schlamminseln überschwemmt gewesen,
+der Weg wäre etwas kürzer und die Geschwindigkeit größer geworden.
+Schon jetzt war der Fluß so bedeutend gefallen, daß die noch vorhandene
+Wassermenge nur die eigentliche Erosionsfurche des Flusses füllte, die
+überall dicht an den konkaven Ufern hinläuft, d. h. zu alleräußerst in
+allen Krümmungen nach rechts und links, wodurch die Länge des Weges
+größer wird und das Abschneiden der äußersten Biegungen unmöglich
+gemacht ist. Für eine genaue Kartenaufnahme des Tarim war jedoch dieser
+Umstand ein Vorteil, denn die seichten Stellen lagen nun offen da, und
+man bekam einen deutlichen Begriff von der Plastik des Bettes.
+
+In den Gegenden, wo wir uns jetzt befanden, war der Lauf des Flusses
+noch einigermaßen gerade, und ich machte in 25 Minuten nur eine
+Peilung. Aber bald änderten sich die Verhältnisse, und die Pausen
+zwischen den Peilungen überstiegen selten 3 oder 4 Minuten. Ich konnte
+kaum die Aufzeichnungen abschließen, bis wieder eine Peilung gemacht
+werden mußte, und die Kompaßnadel schwankte von einer Zahl zur anderen.
+
+Der Fluß fällt nicht regelmäßig, sondern ruckweise, so daß um die
+Schlamminseln und die Halbinseln herum scharf markierte Erosionsränder
+entstehen. Doch sowie der Schlamm getrocknet ist, fällt er ab und man
+hört ihn überall ins Wasser plumpsen.
+
+Eine vorspringende Landspitze heißt „Tumschuk“. Unterhalb einer
+solchen entsteht gewöhnlich eine Unterwasserbank, die bei noch
+niedrigerem Wasserstande freigelegt ist. Für uns waren solche
+Stellen die schlimmsten. Fuhren wir trotz aller Anstrengungen der
+Leute fest, so sprangen sie sofort ins Wasser und schoben uns flott.
+Das Aufgrundstoßen war bei dem weichen Boden so unmerkbar, daß ich
+gewöhnlich erst dann etwas davon gewahr wurde, wenn die Männer
+riefen „Laiga tegdi“ (ist auf den Lehm geraten), „Toktadi“ (ist
+stehengeblieben) oder „Turdi“ (hat sich festgefahren), „Tüschdi“ (ist
+abgeglitten, eigentlich fiel). „Mangdi“ oder „Mangadi“ (es geht) sind
+Ausrufe, welche verkünden, daß wir die Fahrt wieder aufgenommen haben.
+Stieß das Vorderteil auf, so drehte sich die Fähre im Kreise herum
+und der Kopf wurde einem so schwindlig wie in einem Karussell. Die
+Landschaft veränderte ihr Aussehen in einem Augenblick, und die Sonne
+schien verrückt geworden zu sein; eben hatten wir sie im Rücken, und
+nun stand sie vor dem Vorderschiffe.
+
+Die Erscheinungen im Flusse, welche ständig wiederkehren, bezeichnen
+die Eingeborenen mit besonderen Namen. Kleine Strömungsanzeichen
+über einer Untiefe heißen „Kainagan-su“ (kochendes Wasser) oder
+„Kainagan-lai“ (kochender Schlamm). Wenn der Fluß sich teilt, spricht
+man einfach von dem linken und rechten Flußarme; ist der eine kleiner,
+heißt er „Kitschik-darja“ (kleiner Flußarm) oder „Partscha-darja“
+(Flußteil); eine Sackgasse heißt „Bikar-darja“ und ein verlassener Arm
+„Eski“- oder „Kona-darja“, und wenn er eine isolierte Wasseransammlung
+enthält, „Köll“. Wenn der Fluß sich teilte, schwebten wir gewöhnlich in
+der größten Ungewißheit darüber, welchen Arm wir wählen sollten, und
+wir machten dann nicht selten Halt, um die Stelle mit der Jolle genauer
+zu untersuchen und zu peilen.
+
+Im Vorderschiff hat mein Freund Palta (Abb. 25) seinen Platz; mit
+nackten Beinen und bereitgehaltener Stange saß er da, beobachtete
+aufmerksam den Fluß und folgte genau der von Kasim im Avisoboot
+angegebenen Richtung. Gewöhnlich sang er in schwermütigen Rhythmen ein
+Lied von den Abenteuern eines Königs, interessierte sich aber, ebenso
+wie seine Kameraden, stets sehr für das Navigieren und das Leben an
+Bord.
+
+In einer Linksbiegung berührten wir die Landstraße nach Maral-baschi
+und sahen von fern die Pappeln an dem Stationshause Meinet. Ein Mann
+saß auf einer Landspitze und erwartete uns, um Grüße von der Karawane
+auszurichten. Die Kosaken hatten ihn gebeten, uns einen Napf Milch zu
+bringen, den wir im Vorbeifahren auffingen; er muß aber lange auf uns
+gewartet haben, denn die Milch war schon sauer.
+
+Bei +Besch-köll+ (die fünf Seen) wurde eine Flußmessung
+vorgenommen. Das Bett war 86,4 Meter breit und hatte 2,22 Meter größte
+Tiefe, die Geschwindigkeit betrug 42,4 Meter in der Minute, und die
+Wassermenge belief sich auf 84,7 Kubikmeter in der Sekunde.
+
+Am 19. September wurden neue Erfahrungen in der Flußschiffahrt gemacht.
+Von frühmorgens an wehte eine lebhafte, frische Nordwestbrise, und
+wir fanden bald, daß sie die Fahrt der Fähre nicht nur in hohem Grade
+hemmte, sondern sie an breiten Passagen mit langsamer Strömung und
+Gegenwind auch gänzlich zum Stillstehen brachte. Das Zelt und die
+schwarze Kajüte gaben einen Windfang ab, und die kleine Proviantfähre,
+der jeglicher Oberbau fehlte, hatte jetzt stärkere Fahrt.
+
+Der Lauf des Flusses ging eine gute Weile nach Norden, und der
+Nordwestwind, der 3,71 Meter Geschwindigkeit in der Sekunde hatte, war
+uns hinderlich. Die Männer mußten unaufhörlich auf der Steuerbordseite
+stoßen und schieben, um einen Anprall an das rechte Ufer zu verhindern.
+Ein heftiger Windstoß entführte mein schönes Kartenblatt, das aber weit
+davon mit der Jolle wieder aufgefischt wurde; es war zu kostbar, um den
+Göttern des Flusses geopfert werden zu können.
+
+[Illustration: 13. Übergang über einen Kanalarm unterhalb Kaschgar. (S.
+23.)]
+
+[Illustration: 14. In der Wüste zwischen Terem und Lailik. (S. 23.)]
+
+Als wir später nach Osten und Südosten umbogen, hatten wir den Wind
+mit uns, und die Fähre ging 21 Meter schneller als die Strömung, die
+heute 38,4 Meter in der Minute betrug. Bei der nächsten Biegung nach
+Nordwesten war der Wind so heftig, daß wir halten mußten. Es ist
+klar, daß die Karte ein falsches Bild von dem Flusse geben würde,
+wenn man nicht stets den Einfluß des Windes auf den Gang der Fähre
+berücksichtigte. Doch dies ließ sich sehr leicht dadurch erreichen,
+daß während der Fahrt der Unterschied zwischen der Geschwindigkeit der
+Strömung und der des Schiffes gemessen wurde.
+
+Bei +Schäschkak+, wo wir lagerten, hatte das Ufer eine Höhe von
+2,3 Meter. Wir mußten eine kleine Treppe in seine Wand graben, um
+eine bequeme Verbindung zwischen der Fähre und dem Lande zu haben.
+Hier wohnen vier Hirtenfamilien, die 200 Schafe, sowie Ziegen und
+Kühe besitzen. Sie sind auch Ackerbauer und bauen Mais und Weizen bei
+den Hütten; die Felder bewässert ein gegrabener Kanal. Daß selbst
+diese schmalen Bewässerungskanäle den Fluß brandschatzen, versteht
+sich von selbst. Die Hirten mußten uns alles, was sie über den Fluß
+wußten, mitteilen und erzählten uns auch, daß ihre Waldgegend Hirschen,
+Antilopen, Wildschweinen, Wölfen, Füchsen, Luchsen, Hasen und Fasanen
+als Aufenthaltsort diene; Tiger gebe es dagegen hier nicht.
+
+Bei diesem Lager betrug die Breite des Flusses nur 42,6 Meter und
+die Wassermenge 67,16 Kubikmeter, was ein bedenkliches Fallen in
++einem+ Tage verriet. An den jetzt herannahenden Herbst denkend,
+begann ich zu fürchten, daß wir noch nicht bis ans Ende des Flusses
+gelangt sein würden, wenn uns der Winter in seine Eisbande schlüge,
+und es kam sehr darauf an, in Zukunft möglichst viel aus jedem Tage
+zu machen. Die Hirten sagten, es sei beinahe zwei Monate her, daß
+das Wasser seinen höchsten Stand gehabt habe, und der Fluß friere in
+dieser Gegend nun wohl in 75 bis 80 Tagen zu. Das Eis bleibe 2½ bis
+3 Monate liegen und im Frühling könne man an mehreren Stellen zu Fuß
+durch das Bett waten.
+
+Als ich am folgenden Morgen erwachte, sah der Himmel unheilverkündend
+aus. Die Nacht war die kälteste gewesen, die wir bisher gehabt (+2,9
+Grad), und die Luft war mit den Vorboten des Herbstes beladen, die das
+Gelbwerden des Laubes verursachen. Es lag wie eine Dämmerung über der
+Erde. Doch dies waren weder Wolken noch Nebel, sondern feiner Flugsand,
+der von einem Sarik-buran (gelber Sturm) über den Boden hingeführt
+wurde, von welchem Sturme man aber an Bord nichts merkte, weil die
+Fähre im Windschutz unter der Uferwand lag. Die Landschaft sah düster
+aus, und die Tamarisken und Schilfdickichte der Ufer verschwanden schon
+auf eine Entfernung von nur 200 Meter im Nebel. Die Fährleute glaubten
+mit Recht, daß es schwer sein würde, bei diesem Winde zu treiben, und
+wir beschlossen abzuwarten, wie das Wetter sich gestalten würde.
+
+Jetzt und später oft benutzte ich die unfreiwillige Ruhe zum Segeln
+mit der englischen Jolle, die jedoch für diesen Sport eigentlich nicht
+bestimmt war, da sie weder Kiel noch Steuer hatte. Sie konnte also
+nur bei günstigem Wind benutzt werden; ein im Achter festgebundenes
+Ruder diente als Steuer. Bei dem starken Winde flog sie fast wie
+eine Ente über das Wasser, und das Wasser zischte förmlich um den
+Vordersteven. Ich segelte flußaufwärts und hielt mich außerhalb der
+Strömung; die Ufer eilten an mir vorüber, ich wurde wie über große,
+offene Seen zwischen den niedrigen Schlamminseln hingetragen, das
+Wasser kochte um das Boot herum, und der Wald verschwand im Windstaube.
+Nach mehrstündiger, herrlicher Fahrt meinte ich, es sei nun Zeit,
+umzukehren. Ich nahm Mast und Segel ab und suchte die Strömung auf, um
+mich von ihr heimtreiben zu lassen. Dies ging jedoch nicht so leicht,
+wie ich gehofft; der Wind war so heftig, daß die Oberströmung gehemmt
+wurde und daher äußerst langsam war. Doch auch hiergegen gab es guten
+Rat; nur einen Fuß unter der Oberfläche war die Strömung ebenso stark
+wie gewöhnlich, und als ich die Ruder so festband, daß die Blätter
+vertikal ins Wasser herabhingen, trieb das Boot mit der Schnelligkeit
+der Unterströmung flußabwärts.
+
+An einer Stelle, wo ich zu landen beabsichtigte, war der Boden
+außerordentlich tückisch; er gab nach, und ich versank bis zu
+den Hüften und wäre noch tiefer eingesunken, wenn ich mich nicht
+rechtzeitig am Bootrande festgehalten hätte. Endlich tauchte das weiße
+Zelt der Fähre aus dem Staubnebel auf, und ich legte an ihrer Seite an.
+Um schnell zur Hand zu sein, wenn sie gebraucht würde, lag die Jolle
+stets am Achter angebunden im Schlepptau der Fähre. Man konnte mit
+ihr jeden Augenblick an Land gehen, ohne mit der großen Fähre anlegen
+zu müssen. Islam Bai pflegte sich in ihr ans Ufer rudern zu lassen,
+wo er dann stundenlang den Wald durchwanderte und oft mit Fasanen und
+Wildenten zurückkehrte. Für ihn war die Flußreise recht einförmig, und
+er ergötzte sich daher oft an kleinen Jagdausflügen.
+
+Am 21. September war das Wetter andauernd herbstlich und so
+unfreundlich und kalt, daß man die Winterkleider hervorholen mußte.
+Der Himmel war so finster und staubtrübe, als wäre er mit Regenwolken
+bedeckt. Es war, wie gewöhnlich, der östliche Wind, der den Staub
+mitführte; der Westwind ist stets klar und rein. Den ganzen Tag hielt
+der Ostwind an. Der Karawane war er sicher willkommen, uns aber war
+er es nicht, denn er wirkte sehr nachteilig auf den Gang der Fähre
+ein: hatten wir ihn mit uns, so ging es zu schnell, und hatten wir
+ihn entgegen, zu langsam, und sobald sich der Fluß schlängelt, hat
+man den Wind von allen möglichen Seiten. Die stauberfüllte Luft
+beschränkt den Umfang der Aussicht. Wo der Fluß für eine Weile gerade
+ist, verschwindet seine breite Wasserfläche wie in weiter Ferne, und
+man kann nicht, wie bei klarem Wetter, von den dunkeln, waldigen
+Landspitzen darauf schließen, nach welcher Seite die nächste Kurve
+abbiegt.
+
+In gewaltigen Krümmungen ging es weiter den Tarim hinunter. In einer
+scharfen Biegung unterhalb von +Scheitlik+, wo der Fluß nach
+Süden umschwenkt, wurden 6 Meter Tiefe gemessen, und die Strömung war
+trostlos langsam. Hätte ich nicht die Karte vor mir gehabt, so hätte
+ich aus dem Flusse gar nicht mehr klug werden können, denn er fließt
+nach allen Himmelsrichtungen. Im großen ganzen geht er nach Nordosten,
+doch nicht selten treiben wir eine Weile nach Südwesten.
+
+Dowlet leistet mir treu Gesellschaft, Jolldasch aber bleibt unter Deck.
+Er hat Schläge bekommen, weil er einen unverschämten Besuch bei der
+Proviantniederlage gemacht hat, und schämt sich jetzt. Wenn sich aber
+Männer und Herden und besonders Hunde an den Ufern zeigen, kommt er wie
+ein Pfeil hervorgeschossen, um Dowlet vom Vorderdecke aus bellen zu
+helfen. Mir machten die Gesellschaft der Hunde und auch ihre Streiche
+an Bord großes Vergnügen; sie hatten sich vollständig an unsere Art
+zu reisen gewöhnt und streiften wie kleine Hausgeister umher. Wenn
+ihnen die Ufer verdächtig erschienen, standen sie ganz vorn auf dem
+Vorderdeck und verübten entsetzlichen Lärm, und sobald wir uns für die
+Nacht lagerten, warteten sie nicht, bis die Landebrücke, eine Planke,
+ausgelegt worden, sondern sprangen an Land, um einander spielend im
+Walde zu jagen. Beim Abendessen leisteten sie mir Gesellschaft und
+schliefen stets im Zelte.
+
+Das Wasser war jetzt so kalt, daß die Männer nicht unnötigerweise
+hineinsprangen. In ruhigen Krümmungen (Bulung) und im Walde waren die
+Mücken schrecklich lästig und zudringlich. Es ist eine Art kleiner
+grauer Mücken, die man nicht eher sieht, als bis sie einem zu Leibe
+gehen und stechen; sobald es aber ein bißchen weht, sind sie fort. So
+hat selbst die Windstille ihre Schattenseiten.
+
+Am Ufer sahen wir eine große Schar Männer mit ihren Pferden; sie waren
+abgestiegen und schienen uns zu erwarten. Es stellte sich heraus, daß
+es der Bek von Aksak-maral war, der sich auf dem Wege nach Merket
+befand und die Gelegenheit benutzte, einen Dastarchan aufzutischen, den
+wir uns aus Höflichkeit gefallen lassen mußten.
+
+Auch an diesem Abend wurde der Fluß gemessen. Wir machen gewöhnlich
+etwas vor Sonnenuntergang Halt, damit wir fertig werden, ehe die
+Dämmerung in Dunkelheit übergeht, und der Lagerplatz wird stets so
+gewählt, daß alles Wasser in einem schmalen Bette von großem Gefälle,
+an dessen Ufer es Brennholz gibt, vereinigt ist.
+
+Zur Messung ist das kleine Boot mit seinen Rudern nötig, ferner der
+Anker mit seinem Tau, eine lange Stange, Strommesser, Bandmaß, Uhr und
+Notizbuch; Islam oder einer der Fährleute helfen dabei. Die Breite wird
+direkt mit dem 50 Meter langen Bandmaße gemessen; ist der Fluß breiter,
+so wird in den Grund eine Stange als Merkzeichen gestoßen. Nachher
+wird auf einer Reihe von in gerader Linie liegenden Punkten die Tiefe
+gemessen, und an denselben Punkten in zwei oder mehreren verschiedenen
+Tiefen die Geschwindigkeit des Wassers festgestellt. Beim Lager von
++Att-pangtsa+ betrug die Wassermenge 59,1 Kubikmeter in der
+Sekunde. Der Fluß nimmt also immerzu ab, was jedoch für das Auge nicht
+sichtbar ist; jeder Teil des Bettes enthält ungefähr ebensoviel Wasser
+wie bisher, aber die Geschwindigkeit nimmt ab.
+
+Am Morgen des 22. September flog eine Anzahl Gänse in wohlgeordneter
+Phalanx nach Südwesten; wahrscheinlich ist Indien ihr Ziel. Am rechten
+Ufer geht vom Flusse ein schmaler Kanalarm ab, der eine in der Nähe
+liegende Mühle treibt. Er zeigt das eigentümliche Verhältnis, daß das
+Land hier niedriger ist als die Oberfläche des Flusses, selbst bei
+dessen gegenwärtig niedrigem Wasserstande.
+
+Zwischen den Bäumen des linken Ufers erblickten wir einige Wanderer;
+sie schienen auf uns zu warten. Bald erkannten wir Sirkin, Nias Hadschi
+und den On-baschi von Ala-aigir. Sie wurden aufgefordert, uns nach
+diesem Orte, wo die Karawane seit ein paar Tagen der Ruhe pflegte, zu
+begleiten. Da sie an Wasserreisen nicht gewöhnt waren, machte ihnen die
+Abwechslung viel Vergnügen.
+
+Der Tograkwald war bedeutend größer als bisher, und manchmal glitten
+wir unter schattigen Gewölben so still und feierlich wie eine
+Prozession hin. Der Wald stand am üppigsten auf dem konkaven Ufer der
+scharfen Krümmungen, wo das Wasser sich das ganze Jahr hindurch den
+Wurzeln nähert.
+
+Als wir vor Ala-aigir vorbeifuhren, mußten unsere Männer wieder an
+Land gesetzt werden; nun erst waren wir endgültig von der Karawane
+abgeschnitten. Sie erhielten Auftrag, Parpi Bai, meinen alten treuen
+Diener von meiner ersten Reise durch Asien, der jetzt in Kutschar
+wohnte, nach Karaul zu schicken, um dort unsere Ankunft zu erwarten.
+
+In der +Togluk+ (Verdämmung) genannten Gegend blieben wir die
+Nacht. Sobald ich den Lagerplatz ausgewählt und „Halt“ gerufen habe,
+stößt Palta seine lange Stange in den Grund, stemmt den Fuß gegen einen
+Querbalken und zwingt mit seiner ganzen Schwere das Achter der Fähre,
+sich in einem Bogen nach dem Ufer hinzudrehen, wo einer der Leute mit
+dem Tau in der Hand an Land springt.
+
+In einer scharfen Biegung gerieten wir in den Wirbel der Gegenströmung
+und hatten alle Mühe wieder herauszukommen; die 5 Meter langen Stangen
+erreichen nicht den Grund, und der Wirbel versucht uns festzuhalten. Es
+bleibt uns kein anderer Ausweg, als mit einem Tau an Land zu rudern und
+dann die Fähre so weit zurückschleppen, bis sie wieder in der Strömung
+ist.
+
+Darauf erreichen wir den Punkt, wo sich der Fluß in zwei Arme teilt.
+Der linke, kleinere heißt Kona-darja; durch ihn strömt Wasser nach
+Maral-baschi; der rechte, Jangi-darja, ist das Hauptbett des Flusses
+und soll sich erst vor vier Jahren gebildet haben. Aksak-maral gerade
+gegenüber vereinigen sich beide Betten wieder. Der Jarkent-darja hat
+also auch hier einen Schritt nach rechts getan, und wir sollten bald
+finden, daß das Flußbett immer veränderlicher wurde, je weiter wir
+flußabwärts kamen. Diese Veränderlichkeit erreicht ihr Maximum im
+Lopgebiete, wo das Flußbett periodenweise wie ein Pendel hin und her
+schwankt, was mit Veranlassung zu der wechselnden Lage des Lop-nor gibt.
+
+Gleich unterhalb des Hauptarmes, der auch Kötteklik heißt, weil an
+seinen Sandbänken Treibholz und Stücke von verdorrten Pappeln in großer
+Menge hängengeblieben sind, rasteten wir eine Weile. Die Fährleute
+erklärten, wir seien einer gefährlichen Stelle, von der wir in der
+letzten Zeit viel reden gehört, ganz nahe. Schon in Lailik hatte man
+uns gesagt, daß im Kötteklik ein etwa 10 Meter hoher Wasserfall sei;
+jetzt schrumpfte er freilich auf einen Meter zusammen, wir würden aber
+doch, um glücklich hinüberzukommen, 30-40 Mann zur Hilfe brauchen.
+Die einzig mögliche Art weiterzukommen sei, das ganze Gepäck an Land
+zu bringen und die Fähre über den Fall zu ziehen. Der On-baschi von
+Ala-aigir wurde daher beauftragt, etwa 20 Mann aufzutreiben und sich am
+nächsten Morgen in aller Frühe mit ihnen einzustellen.
+
+Der ruhige, klare Tag war noch nicht weit vorgeschritten, und ich
+beschloß daher, mit der Fähre bis an den Wasserfall zu gehen, um die
+Stelle genauer in Augenschein zu nehmen. Wir glitten flußabwärts,
+zwischen Holmen von Treibholz hindurch, wo die Strömung stark und der
+Durchgang oft so eng war, daß die Fähre nur eben hindurchkam. Einen
+großen Teil des Weges mußten die Männer, im Wasser gehend, die Fähre
+schleppen, damit sie sich nicht festklemmte, und dennoch fuhr sie
+nicht selten an einem gesunkenen Pappelstamme fest. Blieb sie mit
+irgendeinem Punkte des Vorderteiles hängen, so drehte sie sich ganz
+herum. Es veranlaßte allgemeine Heiterkeit und eifriges Rufen, wenn die
+vordersten Männer ganz unvermutet in tiefes Wasser gerieten und ein
+gründliches Bad nahmen, ehe sie den Rand der Fähre ergreifen und über
+die Reling klettern konnten.
+
+So erreichten wir eine Stelle, wo das Wasser mit beunruhigendem Getöse
+brauste und rauschte. Die Männer erklärten, dies sei der erste Katarakt
+(+Scha-kurun+). Er sah sehr unschuldig aus, und seine Schwelle war
+nicht höher als 10 Zentimeter. Die Fähre glitt leicht hinüber, ohne
+sich im mindesten auf die Seite zu legen. Zwei folgende Fälle waren
+ebenso unbedeutend. Einer hatte freilich tiefes Wasser, aber ein paar
+Meter weiter unten war er wieder sehr seicht, weil das Wasser den Boden
+unter dem Wasserfalle aushöhlt und dann gleich wieder ablagert.
+
+Nachdem wir über diese „gefährliche“ Stelle hinweg waren, nahm der Fluß
+sein altes Aussehen wieder an, war jetzt aber schmal und tief. Die
+Fähre hatte die ganze Zeit über vortreffliche Fahrt. In einer scharfen
+Krümmung ging es so schnell und das Schiff steuerte so energisch dem
+konkaven Ufer zu, daß wir es nicht aufhalten konnten, sondern gegen das
+Ufer prallten und sofort stehenblieben. Meine obere Tischkiste wäre
+über Bord geschleudert worden, wenn Palta sie nicht noch rechtzeitig
+festgehalten hätte.
+
+Als wir bei einer einsamen Pappel in der Gegend von +Kötteklik-ajagi+
+lagerten, langte unser On-baschi mit 20 Reitern an. Sie waren ganz
+verdutzt, daß wir ohne ihre Hilfe über die Fälle gekommen, und mußten
+nun wieder nach Hause zurückkehren.
+
+Der Bek von Aksak-maral kam auf Besuch und wurde, da er in der Gegend
+gut Bescheid wußte, eingeladen, uns ein paar Tage zu begleiten. Unsere
+Art zu reisen interessierte ihn außerordentlich, er glaubte jedoch, daß
+es während der Hochwasserperiode mit großen Schwierigkeiten verbunden
+gewesen wäre, die Flußreise zu machen. Man hätte dann keine Stangen
+finden können, die bis auf den Grund reichten, und die Fähre wäre
+steuerlos mit der heftigen Strömung getrieben und in den Biegungen
+mit solcher Wucht angeprallt, daß die Kisten vom Deck herabgeglitten
+wären. Ein anderer Nachteil während einer früheren Jahreszeit wäre die
+Hitze gewesen, und vor allem die Mücken, die noch im Herbst sehr lästig
+waren. Wir hatten also die günstigste Jahreszeit gewählt.
+
+Der Jangi-darja oder Kötteklik-Arm hatte bloß noch 36,9 Kubikmeter
+Wasser in der Sekunde; 22,7 Kubikmeter, die durch den Kona-darja nach
+Maral-baschi gehen, hatten wir verloren. Sollte es uns gelingen, mit
+der Fähre weiterzukommen, wenn sich der Fluß noch einmal teilte?
+
+
+
+
+Fünftes Kapitel.
+
+Der verzauberte Wald.
+
+
+Am 24. September machten wir eine lange, interessante Fahrt auf einem
+neugebildeten Arme des Jarkent-darja. Wir brachen früh auf, nachdem wir
+Abschied von Kasim-on-baschi genommen hatten, der jetzt nach Lailik
+zurückkehrte und einen Teil des Lohnes der übrigen Leute mitnehmen
+mußte. Diese Vorschüsse sollten an die Familien oder Eltern der Männer
+abgeliefert werden.
+
+Schon am Anfang ist der Fluß sehr tief und schmal, kaum 20 Meter
+breit, und die Breite verringert sich später noch mehr. Nun führte
+uns das Wasser in einen schwierigen, ungemütlich schmalen Durchgang,
+der mit Treibholz überfüllt war. Oft war der fahrbare Kanal so eng,
+daß die Fähre beide Seiten streifte und mit größter Behutsamkeit
+manövriert werden mußte, um ihr Anprallen zu verhüten, was bei der hier
+herrschenden starken Strömung, die sehr oft schäumende Strudel bildete,
+hätte kritisch werden können. Auf jeder Ecke stand ein Mann mit einer
+langen Stange und hielt das Schiff von den Gestrüpphaufen ab, und Kasim
+diente mit der kleinen Fähre als Lotse. Die Jolle hatten wir an Bord,
+da sonst ein verräterisch lauerndes Treibholzstück ihr dünnes, sprödes
+Segeltuchgewebe hätte zerfetzen können. Am schlimmsten war es, wenn wir
+im schnellen Fahren zwischen zwei Treibholzhaufen sitzenblieben, ohne
+daß wir die Katastrophe verhindern konnten. Da mußten wieder alle Mann
+ins Wasser und schieben, brechen und beim gemeinschaftlichen Anfassen
+singen und das vor uns liegende Fahrwasser untersuchen.
+
+Der Strom war zu einem unbedeutenden Flüßchen zusammengeschrumpft,
+und es war Gefahr vorhanden, daß es uns nicht gelingen würde, alle
+Hindernisse zu besiegen, die unserer sicher noch warteten, ehe wir den
+Aksu-darja und den eigentlichen Tarim erreichten. An einigen Stellen
+teilt sich der Fluß um wirkliche, bewachsene Inseln, und man zerbricht
+sich den Kopf, ob einer der Arme trägt oder ob wir steckenbleiben und
+die Fähre werden zurückschleppen müssen.
+
+Schließlich erweiterte sich der Fluß, und man hat eine ausgedehnte
+Aussicht nach Nordosten, wo sich eine einsame hohe Düne, Karaul-dung
+(Wachthügel), erhebt. Vor sich hat man ein großes Haff oder seeartige
+Erweiterung des Flusses, der jedoch bald wieder schmal wird. Wir wählen
+einen Arm rechts herum, waren aber noch nicht weit gekommen, als wir
+uns auch schon oberhalb einer Stromschnelle mit nur 6 Zentimeter Wasser
+gehörig festfuhren.
+
+Wir versuchten die Fähre zu schieben und zu schleppen, aber vergebens;
+sie stand wie auf dem Grunde festgesogen. Alles schwere Gepäck wurde an
+Land gebracht und Kisten und Proviant am Ufer aufgetürmt; dann schoben
+wir mit vereinten Kräften, doch nur, um die Fähre noch tiefer in den
+Lehm hineinzuschieben. Nun wurde der Bek beauftragt, aus dem in der
+Nähe liegenden Aksak-maral Leute herbeizuschaffen. Einige seiner Diener
+hatten uns den ganzen Tag am Ufer reitend begleitet, und der Bek konnte
+sich also zu Pferd schleunigst nach dem Dorfe begeben. Er kam nach ein
+paar Stunden mit 30 Leuten zurück, die aus allen Kräften zugriffen. Ich
+ging mit gutem Beispiel voran, und unsere Bemühungen waren von Erfolg
+gekrönt: die Fähre glitt ruckweise über die Stromschnellen, aber nur,
+um eine Strecke weiter unten wieder unverbesserlich festzusitzen.
+
+Da standen wir nun wieder, und ich überlegte schon, ob dies der
+gefürchtete Punkt wäre, an dem wir von unserem Heim Abschied nehmen
+müßten. Was sollten wir dann anfangen? Die kleine Fähre reichte
+nicht entfernt für das Gepäck aus, und von der Karawane waren wir
+abgeschnitten. Es wäre uns wohl nichts weiter übriggeblieben, als eine
+neue Schiffswerft anzulegen, Schreiner und Schmiede aus Aksak-maral
+kommen zu lassen und eine neue, kleinere und leichtere Fähre zu bauen.
+Doch ich zitterte vor dem Zeitverluste, da ich wußte, daß das Wasser
+tagtäglich fiel, und der Gedanke, daß die stolze Tarimfahrt schon hier
+vielleicht unterbrochen werden müßte, schmerzte mich.
+
+Nein! Wir +mußten+ über diese seichten Stellen hinweg, wo es keine
+tieferen Stromfurchen gibt, wo das Wasser vielmehr über die ganze
+Breite auf seichtem Grunde brodelt. Wir drehten die Fähre ein paarmal
+im Kreise herum; hierdurch wurde der Tonboden so aufgelockert, daß wir
+weiterschieben konnten und endlich über die Schnellen hinauskamen.
+
+[Illustration: 15. Kurze Rast in der Wüste. (S. 24.)]
+
+[Illustration: 16. Das Zelt meiner Leute in Lailik. (S. 26.)]
+
+[Illustration: 17. Transport der Fähre nach dem rechten Flußufer. (S.
+27.)]
+
+[Illustration: 18. Bau der schwarzen Kajüte. (S. 28.)]
+
+Unterhalb dieser war es wenigstens so tief, daß die Fähre eine
+gute Strecke weit trieb, bis wir die letzten und größten Schnellen
+erreichten, deren Schwelle 20 Zentimeter hoch war und wo das Wasser
+einen geradlinigen Katarakt von Ufer zu Ufer bildete. Hier betrug die
+Tiefe überall wenigstens ½ Meter, und die Strömung war so reißend,
+daß die Männer ein Kentern der Fähre befürchteten. Der Sicherheit
+wegen wurde wieder das ganze Gepäck an Land getragen; ich blieb allein
+an Bord, um mit in den schäumenden Wasserfall hinunterzugehen, was die
+Leute für sehr bedenklich hielten, da sie glaubten, daß das Schiff in
+den kochenden Wirbeln unterhalb des Falles umschlagen würde. Sie zogen
+die Fähre bis an den Punkt, wo die Wassermasse sich über die Schwelle
+wälzte, und ließen sie los, nachdem sie ihr die rechte Richtung
+gegeben; sie glitt so artig wie nur möglich über die Schwelle. Als sie
+mitten darüber schwebte, fiel die vordere Hälfte klatschend auf das
+Wasser, während die hintere von dem nachdrückenden Wasser emporgehoben
+wurde. Gleich unterhalb des Falles wurde Halt gemacht.
+
+Die Mücken waren am Abend eine schreckliche Plage. Sie traten in
+ungeheuren Mengen auf, und vergebens versuchte man, sie sich vom Leibe
+zu halten. Sie sind widerwärtige Quälgeister, besonders wenn man die
+Hände voll Arbeit hat und halbnackt sein muß, um jeden Augenblick in
+den Fluß springen zu können. Es scheint, als warteten sie nur darauf,
+daß man komme, und man wundert sich, wovon sie leben, wenn man nicht da
+ist.
+
+Am anderen Tage fing der Ostwind wieder an. Der Wind und die Mücken
+sind unsere schlimmsten Feinde. Allen beiden konnten wir nicht
+entgehen, denn wenn es abends still ist, so wird man von den Mücken
+gepeinigt, und bleiben diese aus, so geschieht es, weil es windig
+ist. Weht es aber, so wird die Drift der Fähre gehemmt, und wird es
+gar zu toll, so müssen wir lange Zeit stilliegen und auf Windstille
+warten. Wir sehnen uns jetzt nur nach dem Punkte hin, wo unser Flußarm
+sich wieder mit dem Kona-darja vereinigt, wo wir mehr Wasser unter
+die Fähren zu bekommen hoffen und Hirten an den Ufern wohnen. Längs
+des neuen Armes fehlen die Menschen, denn er hat sich sein Bett durch
+frühere Einöden gegraben.
+
+Schließlich wurde der Wind zu unangenehm, und wir wollten nicht länger
+auf diese Weise mit uns scherzen lassen. In einer einladenden Gegend
+auf dem rechten Ufer, wo einige alte Pappeln im Sande wuchsen, lagerten
+wir, und ich beschloß, nicht eher weiterzugehen, als bis der gräßliche
+Wind aufgehört hätte. Der Ort hieß +Kum-atschal+ und lag in der
+Wildnis. Doch wir hatten genügende Vorräte, darunter vier Schafe,
+Hühner, Gemüse usw., und Brot wurde jeden Morgen am Lande auf dem
+Lagerfeuer gebacken.
+
+Eine Gans, die ursprünglich zum Proviant gehörte und bei Kasim auf
+der Avisofähre hauste, machte allmählich Karriere und wurde ihres
+tadellosen Betragens halber zur Schiffsgans ernannt. Sie war eine
+klassische Erscheinung und watschelte frei auf der großen Fähre umher;
+sie besuchte mich häufig im Zelte und war so zahm, daß sie kam, wenn
+man sie rief. Nie machte sie einen Versuch, uns durchzubrennen,
+obwohl sie eine gefangene Wildgans war, der man allerdings die Flügel
+beschnitten hatte; bei den Lagerplätzen schwamm sie auf dem Flusse
+umher, kehrte aber stets von selbst wieder nach ihrer Schlafstelle an
+Bord zurück. Sie war lange bei uns; ich kann mich im Augenblick nicht
+darauf besinnen, wo wir sie verloren, aber wir werden ihr im Laufe der
+Erzählung wohl wieder begegnen. Vielleicht träumte sie dann und wann
+von den Palmen und den Mangobäumen an den Ufern des Ganges, wenn sie
+ihre freien Kameraden auf der Reise nach Indien über den Wald hinsausen
+hörte.
+
+Als die Dämmerung kam, wurde die schwarze Kajüte eingeweiht und der
+Abend dem Entwickeln der Platten gewidmet. Alle die kleinen Löcher,
+durch die schwaches Licht eindrang, wurden verstopft und die Fenster
+mit schwarzen Filzmatten verhängt. Zuber und Bottiche wurden mit klarem
+Wasser aus einem See in der Nähe gefüllt und ein Licht im Zelte dicht
+vor dem roten Fenster angezündet. Das Atelier war auf diese Weise
+ausgezeichnet, und es gefiel mir darin so wohl, um so mehr als die
+Platten gut ausfielen, daß ich beschloß, noch den folgenden Tag zu
+bleiben und mit der Arbeit fortzufahren; wir konnten den Tag mit gutem
+Gewissen opfern, denn der Wind wehte noch ebenso eigensinnig.
+
+Ich arbeitete bis 3 Uhr früh und war daher ein wenig verdrießlich, als
+Islam mich am 27. September um 7 Uhr weckte. Als er mir aber mitteilte,
+daß das Wetter ruhig und schön sei, sprang ich pfeilschnell auf und gab
+Befehl, den Anker zu lichten.
+
+Hier wurde der Bek entlassen und zog mit seinen Leuten, die nun nicht
+länger gebraucht wurden, sondern nur am Proviantvorrate zehren halfen,
+wieder heim. Nur einer von ihnen, Muhammed Ahun, der ein Jäger (Pavan)
+war und die Gegend gut kannte, fuhr mit uns weiter.
+
+In einer Kurve mit gewaltiger Strömung wurde die Fähre dicht an
+das rechte Ufer getrieben, wo ein paar Meter davon im Flusse eine
+absterbende Pappel stand und dem Brodeln des Wassers um ihren Stamm
+herum lauschte. Wir wurden sie zu spät gewahr, und die Leute konnten
+das Schiff nicht rechtzeitig abbringen; es rieb sich knirschend an
+dem Stamme entlang, und die mächtigen Zweige hätten beinahe das
+Zelt heruntergefegt, begnügten sich aber damit, nur ein Stück davon
+abzureißen. Das meteorologische Häuschen schwebte einen Augenblick in
+der größten Gefahr, doch gelang es mir noch, es zu retten.
+
+Endlich mündet von links das breite, jetzt trockene Bett des Kona-darja
+ein, der von Maral-baschi kommt, aber nur im Hochsommer Wasser führt.
+
+Ist es windstill, so kann man an dem Muster und der Zeichnung der
+Wasserringel sehen, wo die Strömung geht; doch wenn es wie heute
+weht, so verschwindet diese wegweisende Zeichnung unter der leichten
+Kräuselung der kleinen Wellen. Man fühlt sich ordentlich erleichtert,
+wenn die Wassermasse des Flusses in einer einzigen Biegung strömt, man
+ungehindert und ohne Anstrengung auf tiefem Wasser an der Jar(Ufer)wand
+entlang gleitet und von Ufer und Wald geschützt wird.
+
+Im großen betrachtet geht der Jarkent-darja hier nach Nordosten,
+bisweilen richtet sich sein Lauf aber nach Norden, Ostnordost oder
+sogar nach Ostsüdost. Diese Strecken bilden die phantastische krumme
+Linie von Biegungen und Windungen; in diesen Krümmungen schlängelt
+sich noch dazu die Strömung von einem Ufer zum anderen, und alle diese
+Verhältnisse tragen dazu bei, unseren Weg zu verlängern.
+
+Heute war keine Spur von Menschen oder Vieh an den Ufern zu sehen. Ein
+Adler und einige Raben waren die einzigen Geschöpfe, die Leben in die
+feierliche Stille des Waldes brachten. Dagegen sah man im Ufersande
+frische Spuren von Wildschweinen und Rehen, die zum Trinken an den
+Fluß gekommen waren. Die Hunde kamen heute auf die revolutionäre Idee,
+ohne weiteres ins Wasser zu springen und an Land zu schwimmen. Sie
+folgten dann aber der Fähre, indem sie treu am Ufer nebenherliefen und
+gelegentlich Wildschweine oder andere Bewohner des Dschungels wütend
+anbellten. Als sie dessen müde wurden, schwammen sie wieder nach der
+Fähre zurück und wurden auf das Achterdeck hinaufgezogen. Dieses
+Manöver, das der Besatzung viel Spaß machte, wiederholte sich von nun
+an täglich. Anfänglich konnten die Hunde abgestorbene Pappelstämme
+mitten im Flusse oder im Grunde steckengebliebene Treibholzstücke
+durchaus nicht leiden. Sie legten den wütendsten Unwillen gegen diese
+an den Tag und bellten sie unerbittlich an. Nach und nach gewöhnten sie
+sich aber daran und ließen das Treibholz in Frieden.
+
+Die Mücken waren derart lästig, daß wir an einem bewaldeten Ufer nicht
+lagern konnten, sondern Ufer mit Ak-kum (weißer Sand) aufsuchen mußten,
+wo die Leute das Holz zum Lagerfeuer von weither zu holen hatten. Um
+mich ein wenig vor den blutdürstigen Insekten zu schützen, rauchte ich
+wie eine Lokomotive und schmierte mir das Gesicht mit Baumöl ein.
+
+Abends saß die ganze Besatzung auf dem flachen Ufer um ein Feuer von
+Treibholz und debattierte lebhaft darüber, ob wir noch das Lop-Gebiet
+erreichen würden, ehe der Fluß zufröre. Auch ich hätte dies gar zu gern
+wissen mögen, doch ich hatte keine Zeit, mich darüber zu beunruhigen.
+Wir mußten möglichst gleichen Schritt mit der jetzigen Wassermenge des
+Flusses halten, so daß deren Abnahme während der Nächte und Rasttage
+nicht zu großen Vorsprung gewann und uns das Wasser schließlich ganz
+im Stiche ließ. Ich rechnete hauptsächlich auf den Wasserzuschuß des
+Aksu-darja; kämen wir nur so weit, so würden wir uns schon weiter
+helfen.
+
+28. September. So glitten wir denn Tag für Tag auf dem großen, ruhigen
+Flusse dahin, und die Karte entwickelte sich nach und nach unter meinen
+Augen. Die Wassertiefe wird an jedem Lagerplatze gemessen, und zwar der
+Sicherheit halber nach zwei verschiedenen Methoden. Einerseits wurde
+an einer geschützten ruhigen Stelle ohne Strömung eine Meßstange in
+den Grund gestoßen, andererseits wurde eine solche in die lotrechte
+Uferwand eingerammt, an deren äußerstem Ende ein Lot an einer mit
+Teilung versehenen Leine, von der ich das Steigen oder Fallen des
+Wassers direkt ablesen konnte, in den Fluß hinabhing.
+
+Noch waren die Ufer unbewohnt und still; doch sahen wir ein paar
+Hirtenhütten (Söre), die gewöhnlich nur aus einem Dache auf vier
+Stangen bestehen und mit Reisig und Zweigen bedeckt sind. Sie ließen
+darauf schließen, daß die Gegend doch zu gewissen Zeiten von Menschen
+aufgesucht wird, die wieder fortziehen, sobald die Weide knapp wird.
+
+Der Fluß verändert heute sein Aussehen nicht. Stattlich fließt er in
+dem majestätischen Schweigen des Waldes in unbedeutendem Gefälle dahin
+und hält sich meistens in einem einzigen Bette mit Tiefen, die bis zu
+7 Meter betragen. Wir wurden daher nicht durch Festsitzen aufgehalten,
+und lautlos und mit guter Geschwindigkeit glitt die Fähre auf ihrer
+langen Reise durch Ostturkestan weiter.
+
+Schon vom vorigen Lagerplatze an sind die Ufer mit einem dichten,
+prachtvollen Walde von alten, ehrwürdigen, knorrigen Pappeln besetzt,
+deren grüne, verschlungene Kronen jetzt ins Rote und Gelbe zu
+spielen beginnen; es ist, als kleideten sie sich zu einem lustigen
+Herbstkarneval in bunte Gewänder. Die Leute von Lailik hatten nie
+einen solchen Wald gesehen und machten ihrem Erstaunen und Entzücken
+in lebhaften Ausrufen Luft. Sie nannten den Wald „Östäng-bag“, den
+„Baumgarten am Kanale“, wie die bewässerten Parke und Haine der Oasen
+gewöhnlich genannt werden. Sie hatten recht; es war ein Genuß für das
+Auge, diesem farbenprächtigen Uferschmucke zu begegnen, und in dem
+lautlosen Schweigen, das den ganzen Tag herrschte, konnte man glauben,
+in einem Triumphwagen von unsichtbaren Nixen und Elfen auf einer Straße
+von Saphiren und Kristall durch einen verzauberten Wald gezogen zu
+werden. Es war so still, daß man kaum zu sprechen wagte, um nicht den
+Zauberbann zu brechen. Feierlich standen die Pappeln in zahlreichen
+Reihen, wie sie in vielen hundert Jahren die Ufer bekränzt; aufrecht
+standen sie da wie Könige und spiegelten ihre Kronen aus falbem
+Herbstgold in dem lebenspendenden Flusse, der Nährmutter der Wälder,
+der Herden und Hirsche und des Königstigers, dem größten Gegensatze
+des Wüstenmeeres. Da stehen sie in einer dunkeln Mauer, würdevoll
+und still, als lauschten sie einer Hymne, die zwischen den Ufern zum
+Lobe des Allmächtigen leise erklingt, einer Hymne, die auch Wanderer
+und Reisende vernehmen können, wenn nur ihr Gemüt für die Größe der
+Natur empfänglich ist. Die Pappeln stehen da, als hätten sie sich nur
+deshalb hier aufgepflanzt, um dem merkwürdigen Flusse zu huldigen, ohne
+den ganz Ostturkestan eine einzige ununterbrochene Wüste sein würde.
+Sie huldigen dem Tarim in andächtiger Ehrfurcht, wie dem Ganges die
+Brahminen und die altersschwachen Pilger huldigen, die nach Benares
+eilen, nur um an den Ufern des heiligen Stromes zu sterben.
+
+Der Wald dehnt sich bis dicht an den Uferrand aus, aber den Erdwall
+bedeckt dichtes gelbes Kamisch (Schilf) und über demselben bildet das
+Buschholz ein ganz undurchdringliches Dickicht, wo nur Wildschweine
+durch dunkle Gänge, in die nie ein Sonnenstrahl fällt, hindurchkommen
+können. Zu oberst bildet der Wald eine grünende Mauer, die oft so dicht
+ist, daß die Stämme nur selten durch das Laubwerk schimmern. Die Kronen
+sind wie mit Sepia gepudert in Farbentönen, die schreiend wären, wenn
+die unklare Luft sie nicht dämpfte. Doch so wie es jetzt ist, bilden
+sie einen dem Auge angenehmen Farbenübergang zu dem blaugrauen Gewölbe
+des Himmels. All diese Pracht der Natur und der Farben wiederholt sich
+auf beiden Seiten und spiegelt sich im Wasser wider, und dennoch kann
+man sich nicht satt daran sehen.
+
+Nur an den konvexen Ufern, wo das Hochwasser flache Sand- und
+Schlammanschwemmungen abgelagert hat, tritt der Wald zurück; an dem
+konkaven Ufer streichen wir unter den Pappeln hin, die sich nicht
+selten über den Fluß lehnen, und wie in einem Parke gleitet die Fähre
+unter laubreichen Gewölben in kühlem Schatten vorwärts. Es ist, als
+streckten die Waldgötter Friedenszweige über unser Schiff aus und
+segneten seine wunderbare Reise -- denn eine Reise auf dem Wasser quer
+durch Ostturkestans Sandwüsten ist ohne Zweifel wunderbar; niemand
+hätte wohl geglaubt, daß man das innerste Asien zu Schiff durchkreuzen
+könnte.
+
+So gleiten wir Stunde um Stunde auf dem Spiegel des dunkeln Flusses
+weiter durch den schlafenden Wald, auf einer venezianischen Straße, wo
+die Paläste in Bäume verwandelt sind und die Kais aus goldig glänzendem
+Schilfe bestehen. Der Ruder bedarf es hier nicht; die Strömung selbst
+sorgt für unser Weiterkommen, und die Gondoliere schlafen der Reihe
+nach auf ihrem Posten, doch stets die Stange fest in der Hand. Alles
+ist so still, und unbewußt wird man von der Märchenstimmung beeinflußt.
+Man erwartet beinahe, Waldnymphen den ungestörten Frieden benutzen
+zu sehen, um, auf Pappelzweigen schaukelnd, ihren Spiegelbildern im
+Wasser zuzunicken, und man würde sich nicht wundern, wenn tief im Walde
+plötzlich ein Hirtengott auf der Flöte zu blasen anheben würde.
+
+Doch wie schweigend wir auch dahingetragen werden, wir überraschen doch
+keine Gestalten aus der Märchenwelt. Nur dann und wann werden von einem
+leichten Windhauch vertrocknete Blätter von einer überhängenden Pappel
+losgerissen, um vom Wasser nach Osten weitergetragen und vernichtet
+zu werden. Es sind die Waldgötter, die unseren Weg bestreuen, wie die
+Hindus dem Ganges Opfergaben von gelben Blumen darbieten; es sind die
+Pappeln, die bald sterbend im Winterschlafe erstarren und vorher dem
+Tarim, der ihnen die Nahrung für ihr Sommerleben geschenkt, einen Teil
+des Geschenkes zurückgeben wollen; man muß dabei an die verachtete
+Kaste der Leichenverbrenner denken, welche die Asche der Toten in den
+heiligen Ganges streut.
+
+Unsere Wasserstraße war unglaublich krumm. In einer Biegung mußten wir,
+um 180 Meter in unserer Hauptrichtung nach Nordosten zurückzulegen,
+einen Weg von 1450 Meter machen, wobei wir einen Kreis beschrieben,
+an dessen Vollständigkeit nur ein Neuntel der Peripherie fehlte. Bald
+gehen wir nach Nordosten, bald nach Südwesten und verlieren wieder,
+was wir eben gewonnen haben. Nur äußerst selten streckt sich der Fluß
+eine kleine Strecke weit gerade aus, meistens windet er sich wie
+eine Schlange im Grase. Diese zahlreichen Krümmungen machen, daß ich
+unausgesetzt die Angaben des Kompasses aufzeichnen und die Tausende von
+kleinen Stückchen des Laufes auf der Karte eintragen muß, damit diese
+absolut zuverlässig werde.
+
+Gegen Abend hatten die Mücken, wie gewöhnlich, Ball und Souper; ich
+wehrte mich, so gut ich konnte, mit dem Baumöle, die Besatzung aber,
+die stets nacktbeinig ging, wurde arg gepeinigt. Unaufhörlich ertönten
+Klatsche, die anzeigten, daß eine Mücke auf irgendeinem nackten
+Teile des Körpers plattgeschlagen wurde, und man konnte die Ausrufe
+„Annangnißke“, „Kissingnißke“ oder „Kaper“ hören, alles Worte, die
+durch Nichtübersetzung bedeutend gewinnen.
+
+Als wir bei +Jallgus-jiggde+ lagerten, wurde am Ufer um das Feuer
+herum Kriegsrat gehalten. Muhammed Ahun, der Jäger, der allein von uns
+die Gegend kannte, meinte, der Fluß werde in zwei Monaten zufrieren.
+Wir beschlossen, um noch mehr Zeit zu ersparen, morgens, sobald es hell
+würde, aufzubrechen, alle Mahlzeiten, das Abendessen ausgenommen, an
+Bord einzunehmen und auch das Brot morgens auf dem Achterdeckherde zu
+backen. Die Männer von Lailik waren mit warmen Tschapanen, Pelzen und
+Stiefeln schlecht versehen; daher wollten wir ihnen in Masar-alldi oder
+Awwat besorgen, was sie noch brauchten.
+
+Der Jäger teilte uns mit, daß 3 oder 4 Kilometer rechts vom
+Jarkent-darja das trockene Flußbett Chorem liege, dasselbe, in welchem
+ich 1895 Süßwassertümpel gefunden hatte. Im Südosten dieses Bettes
+dehnt sich das unabsehbare Wüstenmeer aus.
+
+Die Flußmessung ergab 28,6 Kubikmeter Wasser; wir können mit der
+Wassermasse nicht gleichen Schritt halten, sie überholt uns nachts, und
+wir bleiben hinter ihr zurück. Führen wir ununterbrochen Tag und Nacht,
+so würden wir theoretisch stets dieselbe Wassermenge haben, wenn nicht
+die Verdunstung und das Einsickern in den Boden für das Verlorengehen
+eines guten Teiles derselben sorgten.
+
+29. September. Jetzt gab es nachts viel Tau; schon gleich nach
+Sonnenuntergang begann er zu fallen, und morgens war das Vorderdeck so
+naß wie nach einem Regen.
+
+Der Morgen sah vielversprechend aus; der Fluß machte nicht so
+tolle Krümmungen wie gewöhnlich, und die Luft war ganz still. Aber
+diese vorteilhaften Umstände veränderten sich um die Mittagszeit
+völlig, da eine frische Brise einsetzte und der Flußlauf sich wieder
+außerordentlich schlängelte. In Biegungen, wo die Erosion des Wassers
+am größten ist, betrug die Tiefe mehrmals bis zu 9 Meter, und da hier
+an der Oberfläche Gegenströmung herrscht, kam es ein paarmal vor, daß
+wir ganz einfach in diesen Föll oder Bulung liegen blieben. Unter
+gewöhnlichen Verhältnissen geht die Fähre infolge ihrer Geschwindigkeit
+darüber hinweg, bei Gegenwind aber kann sie es nicht, und dann bleibt
+weiter nichts übrig, als einige Leute an Land zu schicken, um uns mit
+einem Tau loszuschleppen oder uns mit der Jolle zu bugsieren.
+
+Bei +Tusluk-kasch+ passierten wir ein Hirtenlager und erstanden
+für 48 Tenge (9 Mark) ein Schaf. Diese Hirten wohnen wie auf einer
+Insel, die von einer gewaltigen Krümmung gebildet wird, der zu
+einem vollständigen Kreise nur ein Zwölftel Peripherie fehlt. Die
+Flußwindungen sind schuld daran, daß der von uns zurückgelegte Weg
+über doppelt so lang wird als die Luftlinie. Heute rückten wir
+nur 8,36 Kilometer vor, trieben aber 19,38 Kilometer bei einer
+Durchschnittsgeschwindigkeit von 38 Meter in der Minute.
+
+Infolge der verminderten Schnelligkeit und der größeren Tiefen nimmt
+das Wasser an Klarheit zu. Um die Durchsichtigkeit zu bestimmen,
+konstruierte ich ein sehr einfaches Instrument, das aus einer runden,
+glänzenden Metallscheibe und einem senkrecht daran befestigten, mit
+Teilung versehenen Arme bestand. Die Tiefe, in welcher die Scheibe
+unter dem Wasser noch deutlich unterschieden wurde, ließ sich an dem
+Arme direkt ablesen.
+
+Wie langsam es auch ging, stets war es ein großer Genuß, wie auf der
+Veranda einer Sommerfrische vom größten Komfort umgeben zu sitzen
+und sich die Landschaft entgegenkommen zu lassen. Doch nicht einen
+Augenblick durfte ich meinen Posten verlassen, um mir die Beine zu
+vertreten. Selten dauerte eine Richtung länger als 10 Minuten; die
+gewöhnliche Pause zwischen den Kursänderungen betrug 2 oder 3 Minuten,
+und man mußte immer mit dem Kompasse folgen. Ich war in diesem Teile
+des Jarkent-darja so an den Beobachtungstisch gefesselt, daß wir um
+1 Uhr, wenn die meteorologische Ablesungsreihe aufgezeichnet werden
+sollte, eine Weile am Ufer anlegen mußten. Neben mir lag eine Kladde,
+worin die Aufzeichnungen des Tages mit Bleistift notiert wurden,
+um abends, nachdem wir Lager geschlagen, mit Tinte in das Tagebuch
+eingetragen zu werden. In den ärgsten Krümmungen folgten die Peilungen
+so dicht aufeinander, daß ich mir kaum dazwischen eine Zigarette
+anzünden oder sie, wenn sie ausgegangen, wieder anstecken konnte, und
+das Teegeschirr, das Islam eben gebracht, mußte auf seiner Kiste so
+lange auf mich warten, bis das erquickende Getränk kalt geworden war.
+
+Die Karte aber wurde hübsch, und es machte mir großes Vergnügen,
+daran zu arbeiten. Sie ist in so großem Maßstabe angelegt, daß alle
+Einzelheiten hervortreten: die Linie, welche die Drift der Fähre
+bezeichnet, ist in den Wasserweg eingetragen, so daß man sieht, wo wir
+am rechten oder linken Ufer entlang gefahren sind, wo wir mitten auf
+dem Flusse getrieben und wo wir ihn gekreuzt haben. Die markierten
+Jarufer, die der größten Erosion (die Grunderosion ist gleich Null oder
+wird von der Sedimentablagerung ausgeglichen) ausgesetzt sind, sind mit
+scharfgezeichneten schwarzen Linien angegeben, die Alluvialhalbinseln
+treten als weiße Halbmonde hervor, Holme, Bänke und kleine Wasserarme,
+alles ist angegeben. Pappelwald wird mit kleinen Kreisen bezeichnet,
+Kamisch mit kleinen Pfeilspitzen, Gebüsche und Dickichte mit Punkten,
+Tamarisken mit Widerhaken, Sanddünen mit schrägen Schraffen. Wo die
+Ufer, wie heute, lichten Wald tragen, ist jede Pappel auf der Karte
+eingetragen; ich würde bei einem neuen Besuche jeden einzelnen Baum wie
+einen alten Bekannten, einen Freund aus einer glücklichen, angenehmen
+Zeit, wiedererkennen können!
+
+Das heutige Lager hieß +Kijik-tele-tschöll+ (Einöde des
+Antilopen-Weidenbaumes). Hier gab es keine Hirten, doch schwaches
+Hundegebell verkündete, daß sie nicht besonders weit sein können. Die
+Wassermenge betrug 27,8 Kubikmeter.
+
+[Illustration: 19. Die Werft. (S. 28.)]
+
+[Illustration: 20. Tänzerinnen und Musikanten beim Abschiedsfest in
+Lailik. (S. 30.)]
+
+[Illustration: 21. Frauen und Kinder unserer Bootsleute auf dem Wege
+zur Fähre. (S. 33.)]
+
+[Illustration: 22. Die Fähre auf dem Jarkent-darja. (S. 36.)]
+
+Während der Nacht auf den 30. September fiel das Wasser wieder um 2,1
+Zentimeter; daher los vom Ufer in der kalten Morgenluft und weiter
+den Fluß hinunter, nach Osten hin! Heute trat endlich unser alter
+Masar-tag aus der ein wenig klarer werdenden Luft hervor und war leicht
+erkennbar; sein höchster Gipfel war in ungefähr Nordosten zu sehen.
+Der Berg trat nur in schwachen Umrissen hervor, die jedoch im Laufe
+des Tages deutlicher wurden, so daß man schließlich Schluchten und
+Vorsprünge und die braunrote Farbe unterschied. Nachdem der Masar-tag
+seinen Platz in der Landschaft eingenommen, brachte er auch einige
+Abwechslung hinein und bildete das Thema des Tagesgesprächs. Man
+zerbrach sich den Kopf darüber, wie weit es bis dahin sein könnte,
+ob wir ihn noch vor Abend oder, wie ich vermutete, erst in ein paar
+Tagen erreichen würden. Eine lange Strecke hatten wir den Berg gerade
+vor uns, darauf rechts und dann links von der Fähre; am tollsten aber
+war es, als wir ihn hinter dem Achter hatten und uns wieder von ihm
+entfernten. Erst wenn man eine derartige Landmarke hat, die alles
+andere überragt, wird einem ganz klar, wie sich der Fluß schlängelt.
+
+Das Terrain wird öder; der Wald hat aufgehört, und auf beiden Seiten
+des Flusses dehnt sich Gras- und Kamischsteppe aus, wo nur selten eine
+junge Pappel ihre Krone über verschmähten Weideplätzen erhebt. Unsere
+Jäger nehmen Spuren von Hirschen und anderen wilden Tieren wahr. Islam
+Bai brandschatzte selten anderes Wild als wilde Gänse und Enten; es
+war zwar sein Ehrgeiz, einmal einen Hirsch zu schießen, doch gelang es
+ihm nie. Er war alt geworden; auf der vorigen Reise hatte er besseres
+Jagdglück gehabt. Was mich betrifft, so habe ich nicht einmal das Leben
+einer Krähe auf meinem Gewissen. Ich feuerte auf der ganzen Reise
+keinen Schuß ab, und der geladene Revolver, den ich für einen etwaigen
+Überfall immer bei der Hand hatte haben wollen, lag tief unten in einer
+meiner Kisten verpackt; in welcher, wußte ich gewöhnlich nicht.
+
+Der Kasim der Avisofähre entdeckte auf einem öden Ufer ein verlassenes,
+verirrtes Lamm, das wir an Bord nahmen, um es dem ersten besten Hirten
+zu übergeben; es hätte sonst gewiß nicht lange auf den Wolf zu warten
+brauchen.
+
+Der Ostwind tat uns gelegentlich großen Abbruch, aber die Krümmungen
+waren nicht ganz so unberechenbar wie gestern. Ein eigentümlicher
+Zug an dem Bau des Flußbettes war, daß die Jarwände des Ufers viel
+auffallender waren als bisher und sich 4 und 5 Meter über die
+Wasserfläche erhoben. Sechs Meter lange Stangen erreichten meistens
+den Grund nicht, und um die Tiefe zu messen, mußten wir zwei
+zusammenbinden. Bisweilen waren beide Ufer gleich hoch, ohne eine Spur
+von Anschwemmungen; dies war natürlich nur an geraden Stellen der Fall.
+Wir glitten dann wie in einem Korridor dahin, vor dem Winde geschützt,
+aber ohne viel von der umgebenden Landschaft zu sehen.
+
+Die mittlere Geschwindigkeit dieses Tages war 35 Meter in der Minute
+und bei dem in namenloser Gegend gelegenen Lager Nr. 12 betrug die
+Wassermenge genau 25 Kubikmeter, 2,8 Kubikmeter weniger als zuletzt. In
+der Luftlinie hatten wir 11,2 Kilometer, in Wirklichkeit 18,2 Kilometer
+zurückgelegt, ein viel günstigeres Verhältnis als gestern.
+
+Mit jedem Tage wuchs die Spannung, ob wir, ehe der Fluß sich mit Eis
+bedeckte und uns in seinen unerbittlichen Banden finge, ans Ziel
+gelangen würden oder nicht.
+
+
+
+
+Sechstes Kapitel.
+
+Vierzig Kilometer zu Fuß.
+
+
+In der Nacht auf den 1. Oktober fiel das Wasser noch um 1,7 Zentimeter.
+Im Norden zeigten sich schwache Umrisse, die man für aufsteigenden
+Nebel hätte halten können, wenn ihr gezähnter Rand nicht die Bergkette
+des Tien-schan angekündigt hätte. Der Masar-tag stand immer deutlicher
+vor uns; seine Lichter und Schatten und sein ganzer Bau zeichneten sich
+mit jeder Stunde schärfer ab. Ich saß bequem an meinem Schreibtische
+und trug den Gebirgsstock auf der Karte ein, wobei die kulminierenden,
+leicht erkennbaren Spitzen mit römischen Ziffern bezeichnet wurden.
+
+Jetzt sind wir dicht bei dem nächsten Ausläufer des Berges, der auf
+dem Ufer selbst steht, so daß sein Fuß vom Wasser bespült wird.
+Dieser ungewöhnliche Anblick brachte eine angenehme Abwechslung in
+die Landschaft. Man hätte erwarten sollen, hier am Fuße der Felsen
+Schnellen und Fälle zu finden, doch es gab hier keine; der Fluß floß
+ebenso ruhig wie gewöhnlich dahin und machte nur einen Bogen nach
+Südosten, um dem Berge auszuweichen und dessen südliche Basis zu
+umgehen.
+
+Wir biegen längs des Berges um. Am Ufer erscheinen Hütten und Menschen,
+auf einem Abhange vier Gumbes (Mausoleen), ein alter Guristan
+(Begräbnisplatz). Bei den Hütten von +Kurruk-asste+ machten wir
+Halt (Abb. 28).
+
+Der Begräbnisplatz, der auch ein heiliger Masar war, hieß +Hasrett
+Ali Masar+, welcher Name auch zur Bezeichnung des ganzen Berges
+dient. Der trockene Flußarm, der unmittelbar unter dem Masar hinläuft,
+ist derselbe Kodai-darja, den ich 1895 besuchte. Seit zehn Tagen lag
+das Bett trocken, raubte uns also kein Wasser mehr; doch von Mitte Juli
+bis zum 20. September hat es als Abfluß für einen Teil des Wassers des
+Jarkent-darja gedient, welches aber zum großen Schaden mehrerer Dörfer
+am Wege nach Aksu, die von diesem Arme ihr Berieselungswasser erhalten,
+viel weniger war als sonst.
+
+Der Fluß zeigt also hier, wie sehr oft während seines Laufes, eine
+Tendenz, nach rechts überzufließen. Um diesem für das nächste Jahr
+vorzubeugen und die Ernte zu retten, hatte der chinesische Amban
+(Distriktsvorsteher) von Maral-baschi befohlen, quer über das Bett des
+Jarkent-darja einen Damm zu bauen, um das Wasser in den Kodai-darja
+abzuleiten. Fünf Mann lagen nun in Kurruk-asste, um ein Depot von
+1000 Balken und Stämmen, die aus dem nächsten Walde auf Arben hierher
+gebracht worden waren, zu bewachen, und sobald der Fluß genügend
+gefallen war, sollten Leute aus der ganzen Gegend aufgeboten und der
+Damm gebaut werden. Zu unserem Glücke konnte die Arbeit erst nach einem
+Monat beginnen. Es mußte uns also gelingen können, einen so großen
+Vorsprung zu gewinnen, daß die Absperrung des Jarkent-darja auf unsere
+Reise nicht mehr einwirken konnte.
+
+Wir beschlossen, in Kurruk-asste wenigstens einen Tag zu bleiben und
+der On-baschi des Ortes wurde beauftragt, sich sofort nach dem Basar
+von Tumschuk zu begeben, um dort Pelze und Stiefel für die Leute aus
+Lailik zu kaufen. Er sollte uns auch einen Vorrat von Reis, Mehl und
+Gemüse besorgen und am Abend des nächsten Tages wieder hier sein.
+Leider konnte keiner der Unseren ihn begleiten, da es in der ganzen
+Gegend nur ein Pferd gab, ich verließ mich aber auf den Mann und gab
+ihm Geld zu den Einkäufen.
+
+Nachdem ich bis morgens 3 Uhr Platten entwickelt und dann ordentlich
+ausgeschlafen hatte, wurde der Tag zu dem sehr notwendigen Ausruhen
+bestimmt. Im allgemeinen hatte ich während der Flußreise einen
+sechzehnstündigen Arbeitstag, und von dem ständigen Stillsitzen
+am Tische tat mir oft der Rücken weh. Schön war es daher, während
+des Rasttages eine Fußwanderung zu machen (Abb. 26) und das
+Hasrett-Ali-Masar-Gebirge zu ersteigen, um von einer seiner Höhen
+herab die Gegend ringsumher zu betrachten: die unendliche Steppe, die
+gelbe Wüste mit ihren hohen, unheimlichen Dünenwellen, die auch hier
+Takla-makan genannt wird, den sich schlängelnden Fluß, der von meinem
+hohen Aussichtspunkte aussah wie ein Graben oder ein feines blaues
+glänzendes Band durch die Steppe.
+
+In der Dämmerung wurde eine Flußmessung vorgenommen, die das glänzende
+Resultat ergab, daß wir jetzt 53,7 Kubikmeter Wasser in der Sekunde
+unter unserer Flottille hatten, also mehr als doppelt soviel wie bei
+der letzten Messung. Wir verdankten diesen reichlichen Zuschuß den
+beiden Armen des Jarkent-darja oberhalb Kurruk-asste, die aus einigen
+von dem Überschußwasser von Maral-baschi gespeisten Seen kommen.
+
+Auch spät am Abend ließ der On-baschi nichts von sich hören, und uns
+begann der Gedanke aufzusteigen, ob er am Ende nicht mit dem Gelde
+durchgebrannt wäre; wir konnten ihn in diesem Falle nicht verfolgen,
+da wir keine Pferde hatten. Er kam auch am nächsten Tage nicht wieder,
+und wir mußten warten. Die aufgezwungene Ruhe hatte den Vorteil, daß
+ich noch einen Ausflug machen konnte, diesmal nach Nordwesten auf dem
+linken Ufer des Flusses.
+
+Ich begab mich nach den obenerwähnten Armen, um zu sehen, wie unser
+Kasim Fische fing. Am Fangplatze vereinigen sich drei Abflüsse
+des unmittelbar oberhalb der Stelle liegenden Sees Schor-köll,
+den ebenfalls der Überschuß des Wassers von Maral-baschi speist.
+Der Schor-köll ist ein Steppensee oder, wenn man so will, ein
+Sumpfgewässer; man kann nicht an seine Ufer gelangen, denn in dem
+weichen, nassen Boden, in dem Kamisch und Gras üppig gedeihen, würde
+man versinken. In diesem zersplitterten, unregelmäßigen See mit seinen
+Tausenden von Ausläufern, Buchten, Inseln und Landzungen bleibt
+das Wasser stehen und klärt sich; daher ist es in den beiden Armen
+kristallklar und blau.
+
+Die Fische, Asmane, stehen hauptsächlich in dem Strudel unterhalb des
+Falles, in welchem sich das Wasser des östlichsten Armes am Fischplatze
+hinabstürzt, zeigen sich aber oft über dem Wasser, wo sie sich mit
+einer geschickten, elastischen Bewegung den Fall hinaufzuschnellen
+versuchen, gerade wie der Lachs bei uns. Sie werden mit einem Geräte
+gefangen, das einer Fischgabel gleicht und aus einem 5 Meter langen,
+feinen, geschmeidigen Speere oder einer Gerte (Sapp) besteht, die
+unten von zähem Tamarisken-, oben von biegsamem Weidenholz ist. Da, wo
+der untere Teil endet, sitzen die beiden Haken (Satschkak) mit nach
+unten gerichteten Spitzen und nach aufwärts gekehrten Widerhaken so am
+Schaft, daß sie leicht von ihm abspringen können, wenn sie treffen.
+Doch hängen sie noch mittelst einer 50 Zentimeter langen, starken
+Schnur an dem oberen Teile der Gerte.
+
+Kasim fing innerhalb einer Minute zwei gewaltige Asmane und dann noch
+eine ganze Menge. Er stand am Rande des Wassers, hielt das Fanggerät
+wie ein Speerwerfer und schnellte, sobald er einen Fisch erblickte,
+die Fischgabel, daß sie durch das Wasser pfiff (Abb. 27). Man sah
+den Speerschaft zittern, es spritzte und wirbelte im Schaume, und im
+nächsten Augenblick zog er einen zappelnden Asman ans Ufer, ein großes
+Ding, das am Ende der Gerte baumelte, als wäre es dorthin gezaubert
+(Abb. 29).
+
+Wir besuchten dann eine in der Nähe liegende Sattma (Hirtenhütte), die
+aus Stangen und Kamisch erbaut war und ein luftiges Zimmer mit offener
+Veranda bildete. Hier wohnten zwei Frauen mit sechs Kindern. Sie
+empfingen uns ohne Furcht und setzten uns ganz vorzügliche saure Milch
+vor. Im Sommer wohnen sie hier, um Vieh, das mehreren Leuten aus der
+Gegend gehört, zu hüten; im Winter halten sie sich auf dem rechten Ufer
+auf, wo sie besser gebaute Häuser und Höfe haben.
+
+Spät am Abend kam endlich der On-baschi angeritten und brachte alle
+ihm aufgetragenen Sachen mit. Er besorgte uns auch einen neuen Führer,
+einen Jäger, der sein Gewehr mitbrachte.
+
+4. Oktober. Während der Nacht herrschte heftiger Wind; es knackte in
+den Zeltstangen, und das Tauwerk schlug gegen das Deck. Der Tag wurde
+auch unangenehm durch den hemmenden Ostnordostwind, der so stark
+war, daß sich die Oberfläche des Flusses zu weißschäumenden Wellen
+kräuselte, die da, wo sie die Strömung trafen, kurz und abgeschnitten
+waren. Hierdurch wurde das Lotsen erschwert, da man nicht sehen konnte,
+wo die Strömung ging. Die Wellen plätschern und schlagen melodisch
+an den Vordersteven der Fähre; aber ihr klangvoller Gesang ist
+verräterisch und hält uns zurück; sie sind feindlich gesinnt und wollen
+unser Vorwärtskommen hindern. Das Zelt wirkte wie ein Segel, das die
+Fähre unaufhörlich nach der Leeseite hinüberdrängte, und wurde daher
+abgenommen, nachdem alle losen Gegenstände, die bei mir umherlagen,
+eingepackt worden waren. Nur im Schutze der Ufer war die Fahrt normal;
+sonst ging es nur langsam, was unsere Geduld sehr auf die Probe
+stellte. Wenn es wenigstens einmal einen Tag aus Westen wehen wollte,
+daß wir günstigen Wind hätten; aber immer hatten wir Gegenwind!
+
+Auch heute wurde ein Bogen gemacht, der sich einem Kreise näherte. Wir
+hörten im Walde unweit des Ufers hellen, wohlklingenden Hirtengesang;
+doch als wir nach Norden abbogen, verhallte der Gesang in der Ferne.
+Dann machte der Fluß einen neuen Bogen, der Gesang wurde wieder
+deutlicher und ertönte schließlich ganz dicht bei uns. Der Hirt hatte
+seinen Platz nicht verlassen; er saß im Walde und hütete seine Schafe,
+die zwischen den Bäumen weideten, aber der Fluß hatte eine Schlinge
+beschrieben, um uns noch einmal dem lebensfrohen Sange lauschen zu
+lassen.
+
+Im Osten tauchen jetzt neue, isolierte Berge über dem Horizont auf:
+der Tschokka-tag und der Tusluk-tag, von denen aus ich 1895 die
+unglückliche Wüstenreise angetreten hatte. Der See, an dem wir damals
+rasteten, trägt den Namen Jugan-balik-köll (der große Fischsee) und
+erhält sein Wasser von Armen, die vom rechten Ufer des Jarkent-darja
+ausgehen. Der See ist, wie der Name angibt, reich an Fischen, und
+im Frühling begeben sich daher Männer aus Tscharwak und Masar-alldi
+dorthin, um an dem Fange zu verdienen. Sie benutzen aus Pappelstämmen
+ausgehöhlte Kanus, die, wenn sie nicht gebraucht werden, im Schilfe
+versteckt liegen. Andere Dorfleute treiben Handel mit Steinsalz vom
+Tusluk-tag (Salzberg). Die Salzstücke werden auf Arben befördert, doch
+nur im Winter, wenn das Eis eine bequeme Brücke über den Fluß schlägt.
+
+Bei +Jugan-balik+ kommt der Königstiger häufig vor und hat in den
+letzten Jahren an Zahl zugenommen. Dieses Jahr hatte er fünf Pferde
+und viele Schafe geraubt, doch scheut er die Menschen und wagt deshalb
+nicht, in die Hürden einzubrechen.
+
+Der Abend war windstill und schön, und wir segelten weiter, bis die
+einbrechende Dunkelheit es unmöglich machte, die Konturen der Ufer noch
+länger zu unterscheiden. Die Luft war außerordentlich mild infolge des
+feinen Staubes, den der Wind mitgeführt und der nun wie ein Schleier
+über der Erde ruhte, die Ausstrahlung abschwächend und sogar im Zenith
+alle Sterne verdeckend.
+
+Am 5. Oktober näherten wir uns dem Tschokka-tag, aber sehr langsam,
+denn der Fluß machte wieder die eigentümlichsten Krümmungen. Zartes
+Jungholz begleitet in schmalen Gürteln beide Ufer, sonst dehnen
+sich, soweit das Auge reicht, überall gelbwerdende Kamischfelder
+aus. Der Wind, der die Weglänge gewöhnlich um ein Drittel verkürzt,
+fuhr unermüdlich fort, durch das Schilf zu sausen, aber auf meiner
+Kommandobrücke, wo er beinahe einer frischen Seebrise glich, war es
+herrlich.
+
+An unserem Rastorte in +Sorun+ trösteten uns einige Hirten (Abb.
+30) damit, daß der nächste Neumond Windstille bringen werde, denn dies
+pflege alljährlich der Fall zu sein. Da jedoch der Wind bis spät abends
+anhielt, beschloß ich, zu bleiben, wo wir waren und einen Ausflug nach
+dem Tschokka-tag und dem Sorunsee, der sein Wasser vom Jarkent-darja
+erhält, zu machen. Wenn der Spiegel des Flusses höher als die Seen
+liegt, so strömt diesen Wasser zu; ist der Fluß aber auf ein bestimmtes
+Niveau gefallen, dann kehrt das Wasser aus den Seen wieder in den Fluß
+zurück; in beiden Fällen geht es durch dieselben Kanäle. Noch war der
+Jarkent-darja so hoch, daß er bedenklich gebrandschatzt wurde, und er
+hatte von den 53,7 Kubikmetern, die uns bei Kurruk-asste so willkommen
+gewesen waren, jetzt nur noch 28 Kubikmeter behalten.
+
+Es war klug, daß wir blieben, denn am 6. Oktober herrschte ein
+wirklicher Sarik-buran, und die Luft war so mit Staub gesättigt, daß
+der ganz nahegelegene Tschokka-tag sich nur noch eben wie eine graue
+Scheibe mit überall gleichem Farbentone abzeichnete. Ich machte eine
+Fußwanderung nach dem Tusluk-tag und erklomm ein paar seiner Gipfel, um
+mich zu orientieren. Es ist derselbe Gebirgsstock, an dessen nördlichem
+Fuße wir 1895 entlang zogen, ohne den Sorun-köll zu sehen, der sich
+jetzt wie eine Karte unter mir ausbreitete.
+
+Die Aussicht über Berge und Seen war so einladend und verlockend,
+daß ich diese für mich so erinnerungsreiche Gegend, die ich wohl nie
+wiedersehen würde, gründlicher zu erforschen beschloß. Ich entschied
+mich deshalb dafür, auch noch den 7. Oktober zu bleiben. Und dabei
+sollten wir uns doch beeilen, um nicht festzufrieren.
+
+Es wehte auch vormittags gerade genug, um die Flußreise schwer,
+eine Segelfahrt in der kleinen Jolle über die Seen aber herrlich zu
+machen. Da es jedoch zum Zurückrudern zu weit werden würde, schickte
+ich morgens einen Mann mit Ochsen und Arba nach dem Ostufer des
+Sees, um aufzupassen, wo wir landen würden, und das Boot nach Hause
+zu befördern. Auf dieselbe Weise wurde das Boot nach dem Seeufer
+transportiert, doch da das Fahrzeug länglich rund war und der Seeboden
+aus Morast bestand, mußte es, um ungehindert schwimmen zu können, ein
+gutes Ende ins Wasser hinausgetragen werden. Als dies geschehen, kam
+die Reihe an mich, der von Naser Ahun getragen wurde; hinterdrein
+patschte Islam barfuß, indem er beinahe im Schlamme steckenblieb; er
+sollte auch mit. Nun wurde das Boot getakelt und alles Mitgenommene
+geordnet. Ich hatte auf dieser Fahrt mit gar vielem zu tun: zunächst
+mit Segel und Steuerruder, dann mit dem Kompasse, dem Kartenblatte
+und der Uhr, vom Fernrohr, dem Thermometer, der Pfeife und dem
+Tabaksbeutel gar nicht zu reden, alles Dinge, die einigermaßen freie
+Hände erfordern. Es ging gut; der Wind war so günstig und gleichmäßig,
+daß wir das Segel festmachen konnten und das Steuerruder nur hin und
+wieder einen Puff zu erhalten brauchte. Die für die Kartenarbeit
+nötigen Instrumente lagen auf einem improvisierten Tische vor meinem
+Sitze, und als wir einmal in Fahrt gekommen waren, hatte ich reichlich
+Zeit, die Pfeife zu stopfen, wenn es nötig war. Islam, der vorn seinen
+Platz hatte, besorgte das Loten und den Geschwindigkeitsmesser, den ich
+jedoch jedesmal selbst ablesen mußte. Die Tiefen waren so unbedeutend,
+daß das zweite, 2,1 Meter lange, mit Einteilung versehene Ruder überall
+ausreichte. Um von den Ansprüchen des Magens unabhängig zu sein, hatten
+wir eine gebratene Gans, Brot und Eier mitgenommen.
+
+Als alles bereit war, wurde das Boot losgelassen und glitt, von
+der frischen Brise geführt, gemächlich durch das sich allmählich
+lichtende Schilf, bis wir bald offene Wasserflächen erreichten. Es ging
+genügend rasch über diesen von Norden nach Süden gezogenen, seichten,
+schilfreichen See. Wir kamen überall bequem vorwärts; die Wasserflächen
+hingen in einer Kette zusammen, und es war eine Freude, so am Schilf
+vorbeizustreichen, daß das Boot nur die äußersten Stengel streifte. Das
+Seewasser ist ganz süß und so klar, daß der Grund mit seinen Algen und
+verrottenden Kamischstengeln überall sichtbar ist. Die größte Tiefe war
+genau 2 Meter; tiefere Stellen gab es wahrscheinlich nicht, denn wir
+hielten uns meistens in der Mitte des Sees. Die seichtesten Stellen
+waren leicht an dem gelben Farbenspiele der Wasserfläche erkennbar, und
+oft dienten uns absterbende, überschwemmte Tamarisken als Baken.
+
+[Illustration: 23. Der Verfasser an seinem Arbeitstisch an Bord der
+Fähre. (S. 33.)]
+
+[Illustration: 24. Lager am Strand. (S. 37.)]
+
+Einen schönen Anblick gewährte eine Schar von vierzehn schneeweißen
+Schwänen. Sie schwammen stolz und graziös beiseite; doch als wir ihnen
+allzu nahe kamen, erhoben sie sich mit schweren Flügelschlägen und
+ließen sich in größerer Entfernung wieder nieder.
+
+Dann und wann schimmerte das lehmige Ufer durch das Schilf, und kleine
+Holme mit Tamarisken oder ganz niedrigen, bewachsenen Sanddünen waren
+nicht selten. Wir kreuzten den See in beinahe gerader Linie. Sein
+südlicher Teil bildete eine große, offene Erweiterung, wo nur die Ufer
+mit dichtem Schilf umkränzt waren. Ein Fremder mußte glauben, hier
+sei der See zu Ende, aber einige Leute aus Sorun waren uns zu Pferde
+am Ostufer gefolgt und zeigten uns einen Arm oder natürlichen Kanal
+im Schilfe, der den Sorun-köll mit dem südlich gelegenen Tschöll-köll
+(Wüstensee) verband.
+
+In diesen glitten wir vom Winde getrieben hinein, und das Boot teilte
+die in dichten Büscheln stehenden Schilfstengel wie Gardinen. Es war
+ein höchst eigentümlicher Kanal mit einer nur 2 oder 3 Meter breiten,
+offenen Rinne in der Mitte, sonst aber voll hohen, üppigen Schilfes,
+das sich auf beiden Seiten wie eine Mauer oder ein Staket erhob. Fester
+Boden war jedoch nahe, so daß wir die ganze Zeit über mit den Reitern
+am Ufer reden konnten, wenn wir sie auch nicht sahen. Der Luftzug
+wehte ziemlich frisch in dem engen, malerischen Wasserkorridore,
+und das Boot glitt wie ein Schwan; die Stengel bogen sich unter dem
+ausgespannten Segel, wichen pfeifend beiseite oder zerknickten unter
+dem Vordersteven. Der Kanal war ziemlich gerade, aber die kleinen
+Bogen, die vorkamen, genügten doch, uns die Aussicht nach vorn zu
+nehmen, und auf den Seiten sah man nicht einmal die Bergkämme über den
+nickenden Schilfbüscheln. Oft glaubten wir, in eine Sackgasse geraten
+zu sein, doch stets öffnete sich eine Fortsetzung der Wasserstraße.
+
+Die Tiefen waren hier bedeutender als im See; die größte betrug 3,65
+Meter. Die Breite nahm allmählich zu, betrug nirgends weniger als
+10 Meter, stieg aber manchmal auf 50 Meter. Der Kanal sah wie von
+Menschenhand gegraben oder wie der Rest eines alten Flußbettes aus,
+doch war es augenscheinlich nur die von dem verschiedenen Wasserstande
+des Jarkent-darja abhängige Wasserverbindung von oder nach dem
+Tschöll-köll, welche die Passage offengehalten hat.
+
+Massen von Enten hielten sich hier auf; sie schwammen und tauchten vor
+uns, flogen bei unserem Herannahen auf, so daß das Wasser hinter ihnen
+schäumte und spritzte, schlugen wieder nieder wie ein Hagelschauer und
+tauchten und schnatterten.
+
+Islam konnte seinen Jagdeifer nicht bezähmen, als Tausende von
+Enten, die unser weißes Segel aufgescheucht, Wolken gleich über
+dem See kreisten. Daher erhielt er die Erlaubnis, nach dem Lager
+zurückzukehren, die vergessene Flinte zu holen und dann mit dem Boote
+in den Kanal hineinzurudern, der sich dicht bei dem Punkte, wo wir am
+Ostufer anlegten, trompetenförmig nach dem See öffnete.
+
+Ich dagegen verfiel auf die etwas abenteuerliche Idee, eine
+Fußwanderung über den Tschokka-tag nach Osten zu machen und dann
+nordwärts nach dem Lager zurückzukehren. Palta und ein Hirt sollten
+mich begleiten; der letztere versicherte, daß, obwohl die Bergkette
+ganz nahe erscheine, die Entfernung doch sehr groß sei und daß wir,
+wenn wir über dem Berge wären, noch einen ebenso langen Weg, wie wir
+eben in 4½ Stunden gesegelt, bis nach dem Lager zurückzulegen
+hätten. Seine Einwendungen waren vergeblich; ich hatte einmal den
+Entschluß gefaßt, und er sollte unter allen Umständen ausgeführt
+werden. Ich wollte mir die gute Gelegenheit, meine Karte von dieser
+Gegend zu vervollständigen, nicht entschlüpfen lassen. Es war 3½
+Uhr, und die Sonne näherte sich dem Gipfel des Tusluk-tag; ein Kind
+hätte einsehen können, daß wir vor Mitternacht das Lager nicht
+erreichen würden; zurück aber mußten wir, sonst wären die Chronometer
+stehengeblieben.
+
+So brachen wir denn nach Ostsüdost in der Richtung auf eine Einsenkung
+in dem Kamme der langen Kette auf. Mit raschen Schritten gingen wir
+auf den Paß zu. Die erste Stunde verrann, und die Kette erschien
+uns kaum näher gerückt; wieder eine Stunde, und wir erreichten die
+ersten Vorberge, die, vom See gesehen, mit der Kette scheinbar
+zusammengehangen hatten; jetzt aber sahen wir, daß eine tüchtige
+Strecke ansteigenden Terrains sie von der Hauptkette trennte.
+
+Zwischen dem See und den Bergen veränderte der Boden nach und
+nach sein Aussehen. Er bildete konzentrische Ringe von ungleichen
+Eigenschaften und verschiedenem Charakter. Dem Seeufer zunächst
+breitet sich ein niedriger, unfruchtbarer Gürtel aus, der während
+der Hochwasserperiode des Jarkent-darja überschwemmt ist, jetzt aber
+mit einem schwachen Anfluge von Salz bekleidet war, was verrät, daß
+dieser abflußlose See nicht ganz süß ist. Darauf folgt ein Gürtel
+dünnbestandener Kamischsteppe und dann wieder ein Ring von älteren,
+vertrockneten Salzkristallisationen (Schor), die spröde, unter den
+Füßen mit leisem Klang zerspringende Blasen bilden. Schließlich steigen
+wir den Schuttkegel am Westfuße des Gebirges hinan; er fällt nur 3
+Grad nach dem See ab, ist voll Kies und auch von zahllosen, kleinen,
+unbedeutenden, ausgetrockneten Erosionsfurchen durchschnitten, welche
+sich nach dem Ufer hin wie Deltaarme teilen und zersplittern. Je mehr
+wir uns dem Gebirge nähern, desto größer wurden diese Rinnen und
+schließlich hatten sie meterhohe Ränder, die wir oft umgehen mußten.
+
+Die Steigung fing an fühlbar zu werden, und ab und zu mußten wir
+stehenbleiben, um Atem zu schöpfen. Von dem oberen Teile des
+Schuttkegels hatten wir eine herrliche Aussicht über den See, der
+breiter war, als ich 1895 geglaubt hatte. Feierliche, wehmütige
+Gedanken bemächtigten sich meiner, als ich diese Gegend wiedersah, wo
+wir am 22. April 1895 gelagert hatten. Die Steppe, wo das Zelt an jenem
+denkwürdigen traurigen Tage stand, war von unserem Aussichtspunkte aus
+klar und deutlich zu sehen, und im Süden dehnte sich das mörderische
+Wüstenmeer aus, in dem unsere Karawane untergegangen war. Vor mir zog
+sich in philosophischer Ruhe dieser volle See hin, der sowohl den
+Leuten wie den Kamelen das Leben hätte retten können, wenn wir nur
+vorsichtig genug gewesen wären, genügenden Vorrat von seinem Wasser,
+das nutzlos in der trockenen Wüste verdunstete, mitzunehmen!
+
+In Purpur und Rot getaucht, glichen die hohen Dünenkämme jetzt in
+dem grellen Lichte der untergehenden Sonne glühenden Vulkanen. Sie
+erhoben sich wie Grabhügel über den Toten. Mit unwiderstehlicher
+Beklemmung folgten die Gedanken dem Blicke über den Wüstensand hin, wo
+ich meine Diener und Kamele in ihrem langen, ungestörten Todesschlafe
+ruhen wußte. Sie schliefen ruhig, und ihre Gräber waren längst von
+dem rastlos wandernden Zuge neuer Dünen eingeebnet. Können sie mir
+verzeihen, der ich, einer der drei Überlebenden von jener unglücklichen
+Reise, jetzt in aller Bequemlichkeit auf ihren Begräbnisplatz
+hinausblickte? Klagt er mich vielleicht noch an, der alte, redliche
+Muhammed Schah, während er seine vertrocknete Kehle unter den Palmen im
+Bihescht, im Paradiese, netzt? Denn ich trug die Verantwortung dafür,
+daß ich zum Aufbruche durch diesen verfluchtesten, mörderischsten
+Teil der ganzen Erdrinde Befehl erteilt hatte. Ich glaubte, aus
+der Tiefe der Wüste ein Grablied tönen zu hören, und erwartete nur
+noch, die gespenstischen Schatten der unter unsäglichen Qualen
+zusammengebrochenen Kamele zwischen den Dünenkämmen einherschleichen
+zu sehen, jenen suchend, der sie hinterlistig in diesen wahnsinnigen,
+verzweifelten, hoffnungslosen Kampf mit dem Tode gelockt hatte! Als
+wäre es gestern gewesen, erinnerte ich mich ihres fruchtlosen Spähens
+nach Wasser, um ihren brennenden Durst zu lindern. Wenn sie jetzt auf
+den saftigen Matten des Paradieses wandern, werden sie mir verziehen
+haben, daß ich sie einem so qualvollen Untergange entgegengeführt?
+
+Mit denselben Gefühlen, die einen Menschen beschleichen, der das
+Grab eines Freundes besucht, gegen den er im Leben, absichtlich oder
+unabsichtlich, unrecht gehandelt hat, und der dann seine Reue durch
+seine Wallfahrt zum Grabe und durch Streuen von Rosen zum Schweigen zu
+bringen und dem Toten gegenüber Buße zu tun sucht, riß ich den Blick
+von dem Schauplatze jener düsteren Erinnerungen los und wanderte,
+von meinen beiden Gefährten begleitet, schweren Schrittes bergauf.
+Der Schuttkegel war jetzt kupiert und spärlich mit Steppentamarisken
+bewachsen, deren lange, steife Nadeln an die der Kiefern des Nordens
+erinnern. Leicht wie ein Traum flüchteten zwei Rehe mit großen,
+elastischen Sprüngen, scheinbar kaum den Boden berührend, nach dem
+Tschokka-tag hinauf.
+
+Wir überschritten einen kleinen Kamm nach dem anderen, bis uns endlich
+ein Jilga (Erosionstal) nach dem Hauptkamme hinaufführte, auf dem
+wir wieder eine kurze Rast hielten, um uns zu orientieren und zu
+sehen, nach welcher Seite wir die Schritte lenken müßten. Von dem
+Passe, dessen Höhe über dem See zirka 200 Meter beträgt, fällt auf
+der Ostseite eine steile Kluft nach einem Tieflande ab, das sich nach
+Ostnordosten bis ins Unendliche erstreckt.
+
+Die Sonne war hinter dem Tusluk-tag versunken, und die Dämmerung
+begann. Dunkle Schatten, die wie ein Nebel aus der Erde aufzusteigen
+schienen, hüllten die schweigende Gegend ein, und die schwarze
+Sargdecke der Nacht breitete sich wieder über die Wüste und über diese
+Berge und Seen, die je wiederzuerblicken ich zu Anfang Mai des Jahres
+1895 so wenig Aussicht gehabt hatte.
+
+Dann galt es, in der Dämmerung einigermaßen heil von dem Kamme
+herunterzukommen; denn die Halde ist hier sehr steil, und die Männer
+wußten nicht recht, ob es gehen würde. Doch es ging; hinunter mußten
+wir auf irgendeine Weise; wir glitten, schleppten uns und rutschten
+auf unebenen Felsenplatten hinab, wobei mir der Geologenhammer, der
+mich auf derartigen Ausflügen stets begleitete, gute Hilfe leistete.
+Bald wurde das Gefälle weniger steil; wir kamen in das östliche Tal
+hinunter und erreichten mit eilfertigen Schritten seinen linken
+Bergvorsprung. Von hier sahen wir in der Ferne nach Norden zu dunkel
+einen neuen Ausläufer, an dem wir vorüber mußten, ehe wir den Sai-tag,
+einen kleinen einzelnen Berg in der Nähe des Lagers, erblicken konnten;
+auf ihm sollte, wie wir es mit den Unseren verabredet, heute abend ein
+Feuer brennen.
+
+Wir querten die Basis des Schuttkegels und erreichten ganz ebenen
+Sandboden, auf dem es sich in der Dunkelheit leichter ging. Da ich an
+so weite Fußtouren nicht gewöhnt war, fühlte ich mich sehr ermüdet, und
+nach je zweitausend Schritten streckten wir uns fünf Minuten auf dem
+nachtfrischen Sande zum Ausruhen aus. Ich zählte die Schritte, um die
+Entfernungen zuverlässiger zu bestimmen und den Kreis, dessen Ausgangs-
+und Endpunkt das Lager war, zu schließen.
+
+Links hatten wir den schwarzen Schattenriß der Bergkette, rechts den
+Sand, der auch hier so ansehnlich war, daß man seine unfruchtbaren
+Dünen für einen kleinen Ausläufer des Gebirges hätte halten können.
+Endlich erblickten wir in der Ferne den Widerschein eines Feuers,
+dessen Kern ein Hügel verdeckte. Weiß jemand, was es heißt, in
+dunkler Nacht einem Feuerscheine entgegenzugehen? Er ermutigt den
+Müden wie ein Leuchtturm, aber stundenlang kann man gehen, ohne daß
+sich der Abstand verkürzt. Nach Tausenden von Schritten passierten
+wir den davorliegenden Landrücken und sahen nun das Feuer und seine
+flackernden Flammen. Wenn aber das Feuer nicht gleichmäßig unterhalten
+und schwächer wird, scheint die Entfernung wieder zu wachsen. Und wenn
+dann wieder trockenes Brennholz und Reisig auf die Kohlen geworfen
+werden, flammt es von neuem auf, und wir glauben, nicht mehr weit von
+den hellen, deutlich erkennbaren Flammen zu sein. Wir blieben manchmal
+stehen und riefen, aber es kam keine Antwort. Schließlich erreichten
+wir doch die Grenze, bis zu der die äußersten Ringe der Schallwellen
+dringen, und vernahmen nun in der Ferne schwache Rufe.
+
+Als die Männer am Feuer uns erblickten, steckten sie eine ganze Reihe
+dürrer Pappeln an, und nach einer Stunde hielten wir unseren Einzug
+in den festlich erleuchteten Wald. Auch zwei Pferde erwarteten uns,
+und nie hat es mir so gut gefallen, im Sattel zu sitzen! Islam und
+die anderen, die unruhig geworden waren, kamen uns sogar mit Laternen
+entgegen und lotsten uns über Sümpfe und kleine Wasserarme.
+
+Vierzig Kilometer zu Fuß ist ziemlich viel, wenn man nicht daran
+gewöhnt ist. Erst um Mitternacht saß ich wieder in meinem schönen
+Zelte, erhielt mein Abendessen, trug meine Aufzeichnungen ein und ging
+dann zu Bett. Es war der erste strapaziöse Tag auf der Reise im Herzen
+von Asien, -- aber es werden ihrer wohl noch mehrere kommen!
+
+
+
+
+Siebentes Kapitel.
+
+Friedliche Heiligengräber.
+
+
+Der 8. Oktober brachte einen herrlichen, absolut windstillen Morgen
+mit so vollkommen klarer Luft, daß die Berge wieder in den kleinsten
+Einzelheiten hervortraten. Der Fluß liegt blank wie ein Spiegel vor
+uns und sucht in weiten Bogen zwischen scharf ausgemeißelten Ufern,
+auf denen lachender, jetzt gelber junger Wald und üppige Kamischfelder
+stehen, seinen weiten Weg nach dem Lop-nor (Abb. 30).
+
+Die Leute hatten also nicht viel zu tun; die Fähre glitt artig und
+ruhig stromabwärts, und nur bei den Biegungen mußte gelegentlich
+zu den Stangen gegriffen werden. Palta schläft langausgestreckt im
+Sonnenbrande auf dem Vorderdeck, während der junge Ibrahim, der Sohn
+unseres neuen Führers, der sich schlechtweg Mollah nennt, die Stange
+führen muß.
+
+Der Fluß liebkost den Fuß des kleinen, alleinstehenden Berges
++Sai-tag+, der in einem Winkel von 34 Grad nach dem Wasserspiegel
+abfällt und nur einigen jungen Pappeln und einem Hirtenpfade Raum
+gewährt (Abb. 32). Der Sai-tag setzt sich nach Norden in einigen
+kleinen Bodenerhebungen fort, die ebenfalls auf dem rechten Ufer des
+Flusses liegen. Auf einem dieser kleinen Rücken finden wir einen
+kleinen, von Stille und feierlichem Frieden umgebenen Begräbnisplatz
+(Abb. 31), wo unser Mollah, ein des Korans kundiger Mann, einige Gebete
+sprach, während welcher die anderen niederknieten. Über einem vornehmen
+Manne, der vielleicht ein berühmter Hirt oder Jäger gewesen, hatte man
+ein Mausoleum in Würfelform mit Kuppeln (Gumbes) auf dem Dache aus an
+der Sonne getrocknetem Lehm erbaut; um dieses herum sah man mehrere
+kleinere Grabdenkmäler. Auf dem eigentlichen Kamme des Landrückens
+lagen noch zwei Gräber, aber ohne jegliche Überdachung, nur durch
+einige Balken und Steine geschützt und nach Norden ganz offen, so daß
+man die Schädel der darin liegenden Gerippe sehen konnte. In dem einen
+Grabe teilten sich zwei Tote in den Raum. Diese Leichenstätten sahen
+nicht besonders alt aus.
+
+Mittags wehte ein schwacher Südwest, und da wir nach Nordosten
+gingen, hatten wir eine vortreffliche Fahrt. Ein Reh schwamm in einer
+Entfernung von zwei Flintenschüssen über den Fluß. Die Schützen, Islam
+und Mollah, lagen auf dem Vorderdeck mit ihren Waffen im Anschlag, doch
+das Tier schwamm schnell, war mit einem Satze am Ufer und verschwand
+wie der Wind im Schilfe. Bei +More+, wo wir in der Dämmerung auf
+dem linken Ufer lagerten, führte der Fluß 25,1 Kubikmeter Wasser in der
+Sekunde.
+
+An diesem Lagerplatze traf mich ein großer Kummer. Mein Lieblingshund
+Dowlet war in den letzten Tagen melancholisch gewesen; er hatte weder
+fressen noch spielen wollen, und sein Puls war gestern abend auf
+150 Schläge gestiegen. Er hatte, gegen seine Gewohnheit, nicht an
+der Exkursion teilnehmen wollen, und nachts schlief er nicht neben
+meinem Bette, sondern lief unruhig umher. Während des Tages streifte
+er mit herabhängendem Kopfe und eingeklemmtem Schwanze immer wieder
+vom Vorschiffe nach dem Achter und zurück. Als wir in More landeten,
+verließ er die Fähre für immer, lief heiser bellend im Gebüsche herum,
+als suche er etwas, versuchte zu beißen, wenn man sich ihm näherte,
+wurde immer unsicherer auf den Beinen und taumelte schließlich von der
+Jarwand in den Fluß, wurde aber von Alim gerettet. Wir legten ihn ans
+Feuer; sein Puls war auf 42 Schläge heruntergegangen, und er starrte
+jetzt ganz ohne Bewußtsein ins Leere. Alle meine Bemühungen waren
+fruchtlos; er fing schon an zu erkalten, und ich wachte bei ihm und
+streichelte ihn, solange noch ein Funke von Leben in ihm war.
+
+Der Verlust dieses Hundes schmerzte mich tief. Er hatte mir stets treu
+Gesellschaft geleistet, war lustig und freundlich, voll drolliger
+Streiche, und ich spielte abends immer eine Weile mit ihm. Er war ein
+mageres, häßliches Hündchen, als wir Osch verließen, unter meiner
+Pflege hatte er sich aber zu einem wirklich schönen Hunde entwickelt.
+Und nun entriß ihn mir diese heimtückische Krankheit!
+
+Am folgenden Morgen grub Mollah ein Grab, legte Dowlet, in ein
+Schaffell gehüllt, hinein und murmelte halblaut ein Gebet. Es tat
+mir sehr leid, als ich die feinen, seidenweichen Ohren in der Erde
+verschwinden sah. So seltsam es klingen mag, die Stimmung an Bord war
+den ganzen Tag so gedrückt wie nach einer wirklichen Beerdigung, und
+die Männer redeten nur im Flüstertone miteinander. Mir erschien es auf
+der Fähre öde und leer, seit Dowlet fort war, und erst nach mehreren
+Tagen kam ich wieder ins Gleichgewicht.
+
+Als wir am 9. Oktober frühmorgens More verließen, suchte Jolldasch
+vergeblich seinen Kameraden und wunderte sich, daß er nicht mitkam.
+Der Fluß machte auf dieser Tagereise ziemlich phantastische Krümmungen,
+die aber so ausgedehnt waren, daß ich oft lange Peilungen ausführen
+konnte, mehr freie Zeit als sonst hatte und mich mit Nacharbeiten,
+Aufzeichnungen und dergleichen beschäftigen konnte. Die Leute hatten
+nicht viel zu tun, sie schliefen abwechselnd. Ibrahim erhielt den
+Auftrag, sich nach dem Basare von Tschiggan-tschöll zu begeben und
+dort Schnupftabak (Nas) für die anderen, die an dieser unentbehrlichen
+Ware Mangel litten, zu kaufen. Er hatte bis dorthin 6 Potai (etwa 20
+Kilometer) und sollte nach zwei Tagen wieder zu uns stoßen.
+
+10. Oktober. Der Morgen war kalt, um 6 Uhr zeigte das Thermometer nur
++3 Grad; es war still wie im Grabe, als wir aufbrachen, nur einige
+Krähen sangen ihr wenig melodisches Morgenlied. Die Ufer waren öde;
+bisweilen aber verkündeten rauchgeschwärzte Stämme und Zweige, daß hier
+Hirten ihre Lagerplätze gehabt. Die gelbe Farbe herrschte jetzt im
+Walde vor, und die grünen Partien wurden immer weniger.
+
+Der Mollah war für uns ein wirklicher Schatz und diente mir als
+geographisches Lexikon über diese wenig oder gar nicht bekannte Gegend.
+Die Brille auf der Nase und ein großes Blatt Papier vor sich, zeichnete
+er eine Karte des Gebietes, auf der alle Namen und Wege angegeben
+waren, und zeigte uns, bei welchen Flußkrümmungen die Wüste uns am
+nächsten war. Ich konnte diese Karte später bei mehreren Gelegenheiten
+kontrollieren und fand sie sehr korrekt. Er hatte diese Wälder auf der
+Jagd vielfach durchstreift und war dreimal in Schah-jar gewesen. Auch
+von unserer Besatzung war er gern gesehen, denn er unterhielt sie in
+den langen, einsamen Stunden an Bord mit Vorlesen.
+
+Bei einer Bucht am Ufer vor uns überraschten wir eine Wildschweinherde.
+Ganz erstaunt über das große Ungetüm, das den Fluß hinuntergetrieben
+kam, betrachteten die Tiere uns einen Augenblick, setzten sich dann
+aber in raschen Trab und stoben in geschlossener Schar in das Dickicht
+hinein. Gegen Abend erreichten wir +Ak-sattma+, wo Kurban Bai
+sich am Fuße einer Sanddüne in der Nähe einiger einsamen Pappeln zwei
+Hütten erbaut hatte. Er ist Besitzer von 2000 Schafen und einer Anzahl
+Hornvieh und zieht Weizen und Melonen; wir konnten daher bei ihm
+unseren Proviant verstärken.
+
+[Illustration: 25. Das Innere meines Zeltes auf der Fähre;
+
+rechts der Schreibtisch, links das Bett und der Fährmann Palta. (S.
+40.)]
+
+[Illustration: 26. Hirtenhütte in der Nähe des Masar-tag. (S. 60.)]
+
+[Illustration: 27. Kasim beim Fischfang. (S. 61.)]
+
+[Illustration: 28. Unser Lager bei Kurruk-asste. (S. 59.)]
+
+Obwohl es spät war, beschlossen wir noch einen Tschugulup (Flußbogen)
+zurückzulegen. Die Dämmerung senkte sich auf den spiegelblanken
+Fluß herab, dessen Oberfläche die Ringel der Strömung nur schwach
+zeichneten, und die Gegend war so still, daß man sein eigenes Herz
+klopfen hören konnte. Um die Leute aufzuheitern, holte ich unser
+Symphonion und ließ Islam Bai für Musik sorgen. Die Männer hatten
+ihre Freude daran und hörten andächtig zu, und Kasim hielt sich mit
+der Avisofähre uns möglichst nahe. Die hellen Töne des Instruments
+klangen wehmütig und melancholisch, als die Cavalleria von Stapel ging,
+sie klangen voll und festlich, als Carmen durch den Wald hinzitterte;
+feierlich klang es, als die Töne der schwedischen Nationalhymne über
+dem schweigenden Wasser des Jarkent-darja erschollen, und als ein
+Parademarsch abschnurrte, war es, als glitte die Fähre im Siegeszuge
+langsam, aber sicher, von Fanfaren und Militärmusik begrüßt, gerade auf
+ihr Ziel zu. Es war ein entzückender, friedlicher Abend. Die Luft war
+von Waldgeruch und den Düften der Wiesen und Kamischfelder erfüllt, und
+in der Luft herrschte eine feierliche Stille wie in einer Kirche. Das
+kleinste Geräusch, das dieses großartige, einsame Schweigen unterbrach,
+machte sich geltend, Sandkörner, die vom Uferrande ins Wasser fielen,
+eine Ente, die in einer geschützten Bucht schwamm, ein Fisch, der in
+dem rabenschwarzen Schatten unter der Uferwand plätscherte, ein Fuchs,
+der im Schilfe raschelte. Während die Dunkelheit schnell hereinbrach,
+trug uns die Strömung immer tiefer in die geheimnisvolle Landschaft
+hinein, gleich Geistern und Schatten einer anderen Welt, und die
+Bewohner des Waldes lauschten den Tönen unserer Spieldose gewiß voller
+Erstaunen. Es war nicht die beste Musik, die man hören kann, aber
+in der Umgebung, in der sie ertönte, wirkte sie wunderbar und mit
+einschmeichelndem Zauber, während die große Stille zu kühnen Träumen
+einlud.
+
+Die Wassermassen, die uns im Laufe des Tages Gesellschaft geleistet
+hatten, sollten wieder eine Nacht Vorsprung gewinnen, als wir am
+linken Ufer unter herbstlich gelben Pappeln rasteten. Spät abends
+wurde eine Flußmessung vorgenommen, die 26,7 Kubikmeter in der Sekunde
+ergab. Nichts hindert den Fluß, an einem Tage wasserreicher als am
+vorhergehenden zu sein; teils kann der Zufluß aus dem Gebirge wechseln,
+teils können durch Verteilung des Luftdruckes und durch den Wind
+zufällige, natürliche Verdämmungen entstehen, die das nachdrängende
+Wasser für einige Zeit in seinem Fließen hindern oder aufhalten.
+
+11. Oktober. Leichter, feuchter Nebel lag über dem Jarkent-darja,
+als wir um 7 Uhr das Ufer verließen. Als wir durch diesen Nebel nach
+Süden gingen, fiel der Widerschein der Strahlen der aufgehenden Sonne
+verschleiert auf die Wasserfläche, und die kleine Fähre und die Jolle
+zeichneten sich mit den darinstehenden Männern und deren langen Stangen
+wie schwarze Schattenrisse auf dem mit Licht gesättigten Hintergrunde
+ab. In einer geschützten Bucht lag auf dem Wasser eine einsame Ente,
+die das sich ihr bietende, ungewöhnliche Schauspiel ruhig betrachtete,
+als unsere kleine Flottille an ihr vorbeitrieb. Sie mußte aber ihre
+Neugierde teuer bezahlen und schmeckte uns zu Mittag vorzüglich.
+
+Der Fluß verändert seine Eigenschaften nicht, er ist noch ebenso krumm,
+und da es obendrein heftig wehte, kamen wir nicht weit. Der Kopf kann
+einem bei diesen Windungen schwindeln; Sonnenschein und Schatten,
+Wind und Lee wechseln unaufhörlich ab; bald friert man, bald wird man
+gebraten, bald geht es verzweifelt langsam, bald mit schwindelnder
+Fahrt. In scharfen Biegungen verliert die Wassermasse durch die Reibung
+und den Druck gegen das Jarufer einen guten Teil ihrer Geschwindigkeit,
+welche Kraft in eine andere Arbeit, die Auswaschung des Ufers,
+umgesetzt wird. Auf diese Weise werden die Windungen im Laufe der Jahre
+immer größer. Man findet auch gewöhnlich, daß die Fahrgeschwindigkeit
+hinter den schärfsten Biegungen abnimmt.
+
+Bei +Duga-dschaji-masar+ stieß Ibrahim wieder zu uns. Außer einem
+ganzen Armvoll Melonen, Möhren, roten Rüben, Zwiebeln und Brot brachte
+er auch seine Mutter und seinen jüngeren Bruder mit, so daß wir neue
+Passagiere an Bord hatten.
+
+Die Uferterrasse beim Lager lag 2,1 Meter über dem Wasserspiegel, und
+trotzdem war der Waldboden noch vom Hochwasser des Sommers feucht.
+Der Fluß ist also seitdem an diesem Punkte über 2 Meter gefallen. Je
+weiter wir kamen, desto schmäler, tiefer und langsamer wurde er, und
+nicht selten betrug seine Breite nur 15 Meter. Wir sehnten uns nach
+dem Aksu-darja, wo Mollah uns dreimal soviel Wasser versprach, und wir
+fuhren jetzt gewöhnlich täglich 11 Stunden. Mir wurde der Rücken ganz
+steif, wenn ich den ganzen Tag am Schreibtisch saß, und ich ersann
+daher eine neue Methode, die wenigstens einige Abwechslung brachte.
+Ich setzte mich in die kleine Jolle, machte mir dort von Filzdecken
+und Kissen ein Ruhebett zurecht und hatte alles Zeichenmaterial und
+die nötigen Instrumente bei mir. Um wirklich ungestört zu sein, hielt
+ich mich weit vor der Fähre und glitt nun ruhig und friedlich den Fluß
+hinunter. Die Pfeife im Munde, die Feder in der Hand und die Karte auf
+den Knien, freute ich mich der großen Stille; bequemer kann man durch
+ein unbekanntes Land wirklich nicht reisen.
+
+Am 13. Oktober hatten wir die gewundenste Fahrt, die wir bis jetzt
+gemacht hatten. Man sitzt mit der Karte vor sich und fürchtet beinahe,
+eine Schleife einzeichnen zu müssen, dann aber biegt der Fluß im
+letzten Augenblick nach der entgegengesetzten Richtung ab. Die zweite
+Windung war noch toller; nach vierthalbstündiger Drift kamen wir wieder
+bei denselben Pappeln an, an denen wir vorübergefahren waren.
+
+Der Tag war naßkalt und unfreundlich, und wir müssen uns ordentlich
+in Pelze hüllen. Die Fährleute sitzen in ihre Tschapane eingewickelt
+da und geben acht, daß wir nicht auf Grund stoßen und sie ins Wasser
+springen müssen. Islam und Mollah zogen vor, auf kürzeren Wegen,
+welche die Flußbiegungen berührten, durch den Wald zu gehen. Sie waren
+sieben Stunden fortgewesen, als wir sie am Ufer, wo sie an einem Feuer
+schliefen, wieder auffischten. Sie hatten nur zwei Stunden gebraucht,
+um diesen Punkt zu erreichen, und hätten +wir+ nicht ihr Feuer
+erblickt, +sie+ würden uns nicht bemerkt, sondern dort ruhig
+weitergeschlafen haben.
+
+Die ersten Frostnächte prägten dem Walde, der jetzt überall gelb ist,
+ihren Stempel auf. Nach einer frischen Brise trieben wir auf einer
+wahren Laubstraße. Der Wind hatte Massen gelben Laubes in den Fluß
+gefegt, dessen Fläche eine lange Strecke weit gelbgetüpfelt war. Man
+braucht nur einen Blick auf die nächste Umgebung zu werfen, um zu
+sehen, daß der geringste Windhauch auf die Fähre einwirkt: bald treiben
+die Blätter an uns vorbei, bald sind wir die schnelleren; ist es aber
+völlig windstill, so haben wir gleiche Fahrt mit ihnen.
+
+Am 14. Oktober lagerten wir in der +Jiggdelik+ genannten Gegend.
+Am rechten Ufer erhebt sich im Walde eine mit Tamarisken bewachsene
+Düne, auf welcher eine Stange aufgerichtet ist, die anzeigt, daß sich
+in der Nähe ein Masar oder Heiligengrab befindet. Unser Mollah war
+wiederholt dort gewesen, um Rubine zu suchen, die in dem vom Sande
+abgeschliffenen Feuersteinschutte, der eine ausgedehnte offene Ebene
+zwischen der Grenze des Wüstenmeeres und dem Walde bedeckt, zu finden
+sein sollen. Er hatte in der Nähe des Grabes übernachtet und eine
+bleiche, flackernde Flamme über der Kuppel schweben sehen. Rubine
+scheint er aber nicht gefunden zu haben.
+
+Am 15. Oktober erinnerte der Fluß anfangs an eine verfitzte Schnur,
+nachher aber wurde er wieder ganz ordentlich. Es gilt als Regel, daß
+der Fluß da, wo er Bogen macht, auch schmal, tief und langsam ist, da
+aber, wo er eine gerade Richtung einhält, seicht, schnell und breit
+wird; das Gefälle ist hier größer. Manchmal sieht es aus, als sei das
+Wasser unschlüssig, nach welcher Seite es fließen solle; es scheint
+stillzustehen und zu überlegen, wohin der Boden sich neige.
+
+Die Lailiker fingen an, mutlos zu werden, als sie Tag für Tag immer
+weiter von Haus und Heim fort- und immer tiefer in unbekannte Einöden
+und Wälder hineingetragen wurden. Es belebte sie jedoch ein wenig,
+daß wir bei Kuiluschning-baschi auf einen braven Mann stießen, der
+Jussup Do Bek hieß, hier in der Gegend seine Schafherden hütete und
+meine Leute damit beruhigte, daß es für sie die einfachste Sache auf
+der Welt sei, auf der großen Karawanenstraße über Aksu nach Hause
+zurückzukehren. Der erste Dschigit aus Kaschgar, der meine Post nach
+Dural bringen sollte, mußte schon unterwegs sein und sollte mit Jussups
+Hilfe in Aksu angehalten und an den Fluß hinuntergeschickt werden,
+welches Arrangement denn auch vortrefflich gelang.
+
+Am 17. passierten wir einen der Mündungsarme des Kodai-darja, der uns
+aber nur wenig Wasser zuführte. Der Jarkent-darja läuft jetzt eine
+Strecke weit gerade nach Norden; die Windungen rauben uns nicht so
+viel Zeit wie bisher, doch wurde eine zurückgelegt, die sich einem
+vollständigen Kreise näherte und deren Landzunge nur zwanzig Klafter
+breit war. Ohne Zweifel wird das nächste Hochwasser diese Landzunge
+durchbrechen. Das Ufer ist 3½-4 Meter hoch, und seine Wand wird von
+beiden Seiten unterwaschen, so daß die Landzunge immer schmäler wird,
+bis sie schließlich einstürzt und der Fluß dann die Windung verläßt,
+die wie ein toter Schmarotzer liegen bleibt. Derartige tote Krümmungen
+oder Altwasser (Boldschemal) kamen in diesem Teile des Flußlaufes
+besonders häufig vor. In ihrem Bogen steht beinahe stets ein kleiner
+halbmondförmiger Köll mit klarem Wasser.
+
+Von einem an Reisig und verdorrten Bäumen reichen Punkte am rechten
+Ufer sahen wir Rauchwolken aufsteigen, und bald flackerten Feuerzungen
+zwischen den Bäumen. Der Mollah erklärte, es seien Hirten, die auf
+diese Weise Tiger und Wölfe zu verscheuchen suchen. Tigerspuren hatten
+wir in den letzten Tagen wiederholt auf den Ufern gesehen. Als wir
+gerade vor dem Platze waren, sahen wir denn auch richtig ein paar
+Hirten am Ufer. Doch sowie diese die Fähre, das gespenstische weiße
+Zelt und die rabenschwarze Hütte erblickten, ergriffen sie die Flucht
+und liefen, was das Zeug halten wollte, Schafe, Hunde und Feuer ihrem
+Schicksal überlassend. Soviel wir auch riefen und ihrer durch Späher
+habhaft zu werden suchten, sie waren und blieben verschwunden, und wir
+mußten also auf Aufklärung über diese Gegend verzichten. Was sollten
+diese einfachen, redlichen, halbwilden Waldmenschen übrigens auch beim
+Anblick der Fähre denken, die wie ein Riesenschwan am Waldrande entlang
+geschwommen kam! Sie konnten doch nur denken, es sei ein böser Geist
+aus der Tiefe der Wüste, der auf der Streife sei und suche, wen er
+verschlingen könne.
+
+Die Tendenz des Flusses, hier in der Gegend seine Windungen oft
+auszugleichen, ist in der Beschaffenheit des Bodens begründet.
+Dieser besteht aus Sand, und in dem losen, leicht niederstürzenden
+Material führt das Wasser ohne sonderlichen Widerstand seine
+Unterminierungsarbeit aus. Auf die Veränderlichkeit des Flusses
+gründet sich wieder der Umstand, daß der Wald spärlich ist und an den
+Ufern nicht alt werden kann. Die äußersten Pappeln stehen wie wartend
+da, bis die Reihe zu fallen an sie kommt, wenn die Jarwand unter ihnen
+abrutscht.
+
+Am 18. Oktober hatten wir wieder Pech mit dem Winde. Als wir nach
+Norden kamen, herrschte nördlicher Wind, als aber der Flußlauf sich
+nach Nordosten wendete, kam der Wind auch aus dieser Richtung, und
+schließlich sprang er sogar nach Osten um. Das Bett war ziemlich offen
+und flach, und wir hatten von den Ufern und ihrer Vegetation wenig
+Nutzen. Die Luvseite des Zeltes war wie ein Trommelfell nach innen
+gekehrt, und faßte man das Zelttuch an, so fühlte man sofort, mit
+welcher Kraft dieser saugende Wind die Fähre nach Lee hinüberpressen
+mußte. Die Leute hatten den ganzen Tag vollauf damit zu tun, uns vor
+Kollisionen mit den Ufern zu bewahren, und hatten kaum Zeit, ihr
+einfaches, aus Brot und Melonen bestehendes Frühstück zu verzehren.
+
+Auch am folgenden Tage tat uns der Wind großen Abbruch, und jetzt
+bereitete sich ein kleiner Sturm vor. Die Luft war mit Flugsand
+gesättigt, und die Sonnenscheibe zeichnete sich im Zenith nur wie ein
+schwach sichtbarer, gelbroter Schild ab. Man sah nicht, wohin es ging;
+die Ufer verschwammen in der dicken Luft, es sauste und pfiff in dem
+jungen Walde, und überall flogen gelbe, harte Blätter prasselnd umher.
+In scharfen Biegungen, wo die Gegenströmung einen Strudel bildet,
+sammeln sich diese Laubmassen zu kleinen Sargassoseen an; ein großer
+Laubkuchen dreht sich im Wirbel, und von seiner Peripherie sondert sich
+ein langer, schmaler Laubstreifen ab, der nach und nach wieder ins
+Treiben gerät, um dem nächsten Strudel zuzueilen.
+
+Wir mühten uns einige Stunden gegen den starken Wind ab und wollten
+gerade Halt machen, als der Mollah erklärte, der Fluß werde bald einen
+Bogen nach Süden machen. Er hatte recht, und bei reißendem, günstigem
+Winde sauste die Fähre an den Ufern vorbei, so daß das Wasser um den
+Vordersteven brauste. Es dauerte jedoch nicht lange, so machte der
+Fluß wieder einen Bogen und setzte seinen Weg nach Nordosten fort. Wir
+rasteten nun einige Stunden in einer ruhigen Bucht.
+
+Als der Wind sich etwas gelegt, ging es weiter. In der Dämmerung
+trat wieder völlige Ruhe in der Atmosphäre ein, und wir beschlossen,
+im Mondschein weiterzufahren. Die Route wurde beim Lichte der
+photographischen Laterne aufgezeichnet, die den Kompaß, die Uhr und
+die Karte schwach beleuchtete, aber nicht die freie Aussicht auf die
+mondbeglänzte Landschaft vor mir störte. Von hinten schwach von dem
+roten, von vorn grell von dem bläulichen Lichte beleuchtet, sahen die
+Männer phantastisch aus, und ihre sonst dunkeln Silhouetten hoben sich
+scharf gegen das glitzernde Spiel der Mondstraße auf dem Flusse ab.
+
+Spät abends legten wir am Ufer von +Jekkenlik-köll+ an, wo es
+vorzügliches Brennholz in Menge gab. Als wir am 20. Oktober früh vom
+Ufer abstießen, war von den mächtigen Stämmen, die wir zu unserm Feuer
+benutzt hatten, nur noch ein grauer, rauchender Aschenhaufen übrig. Das
+Bett des Jarkent-darja war heute außerordentlich regelmäßig gebaut, und
+dieselben Formationen, dieselben Krümmungen kamen abwechselnd immer
+wieder. Sie waren wie nach ein und demselben Muster gezogen.
+
+Beim +Masar Chodscham+, der ein Ende vom rechten Ufer liegt, wurde
+Rast gemacht, und wir alle, außer Kader, der die Fahrzeuge bewachen
+sollte, wanderten durch den lichten Wald dorthin. Der Masar ist über
+dem Grabe von Hasrett-i-Achtam Resi Allahu Anhu errichtet worden,
+eines Heiligen, der zur Zeit des Propheten diese Gegenden durchwandert
+haben soll. Man findet hier einige trockene, graugelbe Lehmhaufen,
+die wimpelgeschmückte Stangen und Antilopenschädel trugen und mit
+einem Reisiggehege umgeben waren, um Schafen und Rindern das Entweihen
+des Ortes unmöglich zu machen. Auf der Südseite erhob sich ein sehr
+einfaches Chaneka (Bethaus) aus lotrecht in die Erde geschlagenen
+Pfählen und Stangen mit einem Dache darüber.
+
+Die Muselmänner brachten dem Heiligen ihre Huldigung dar und hielten
+eine längere Andacht; hell erklang des Mollah „Allahu ekbär“ durch
+die tiefe Stille des Waldes. Es liegt wirklich etwas Feierliches in
+solchem Gottesdienst. Wir waren von dem tiefsten Schweigen umgeben;
+nur die schlummernden Blätter, die noch an ihren dünnen Stielen saßen,
+zitterten leicht in einem hier im Walde kaum merkbaren Winde. Ein
+Heiligtum kann keinen friedlicheren Platz finden als hier, fern von
+allen Fahrstraßen an einem Flusse, der jetzt zum erstenmal von Menschen
+befahren wird. Nicht das geringste Geräusch störte die Ruhe des Waldes,
+nur ein Hase war bei unserem Herannahen entflohen. „La illaha il allah“
+verkündete die tiefe Stimme des Mollah voller Überzeugung, und die
+Worte verhallten in der Ferne zwischen den Pappeln.
+
+Ende November wird der Tag des Heiligen von den Einwohnern von Awwat
+gefeiert, die sich dann in ziemlich großer Zahl hierher begeben und
+drei Tage im Walde bleiben. Der Scheik, der Wächter des Heiligengrabes,
+hält sich um diese Zeit in einer benachbarten Hütte auf, wohnt aber
+sonst in Awwat.
+
+Als wir nach den Schiffen zurückkehrten, tat es uns leid um den jungen
+Kader, der nichts von der Herrlichkeit zu sehen bekommen hatte, und
+er erhielt daher Erlaubnis, sich in unserer Spur allein nach dem
+Masar zu begeben und dann in der nächsten Flußbiegung mit der Fähre
+zusammenzutreffen. Doch wir waren noch nicht weit gelangt, als er
+schon angelaufen kam, als gälte es, sein Leben zu retten. Die düstere
+Waldeinsamkeit und die gespensterhaft wehenden Wimpel hatten ihn so
+erschreckt, daß er jede Lust verloren hatte, den Heiligen mit seinem
+Besuche zu beehren. Den jungen Helden erfüllte Angst, als Reiser unter
+seinen eigenen Tritten knackten, er hielt jeden Busch für einen Räuber
+und glaubte, lebende Wesen winkten mit den Lumpen der Grabstangen.
+
+Der Name des heutigen Rastortes, +Kalmak-kum+, zeugte wieder
+davon, daß in längst entschwundenen Zeiten einmal Mongolen an diesem
+Flusse gewohnt haben. Hier lebten drei Hirtenfamilien mit 300 Schafen.
+Sie hatten ein „Tor“, eine Art Falle, um Raubvögel zu fangen,
+aufgestellt, die aus vier, in der Erde quadratisch befestigten,
+elastischen Gerten bestand, deren Spitzen sich einander zukehren und
+die ein sackförmiges Netz ausgespannt halten. Oben entsteht also eine
+Öffnung, durch welche der Falke auf das unten im Netz festgebundene
+Huhn oder die Taube stößt. Wenn er sich mit seiner Beute aufschwingen
+will, drehen sich die elastischen Gerten, wodurch sich die Öffnung des
+Netzsackes schließt und das Netz über den Falken fällt, der nun darin
+verwickelt und gefangen ist.
+
+Während der folgenden Tagereise war der Fluß ungewöhnlich gerade. Im
+großen und ganzen waren jedoch die Tage einander ziemlich gleich. Man
+glaube aber nicht, daß ich die Reise einförmig gefunden und den Tag
+herbeigesehnt hätte, an welchem unsere Fähre im Eise einfrieren würde,
+welcher Tag früher oder später kommen mußte. Mir war jeder Tag, der
+hinging, von immer größerem Interesse. Ich lebte das Leben des Flusses
+mit und beobachtete gespannt seine ersterbenden Pulsschläge und seinen
+launenhaften Lauf durch Innerasiens innerstes Tiefland. Es machte mir
+Vergnügen, den Gang der Instrumente zu verfolgen, die das Herannahen
+des Winters, das Abnehmen der Wärme und das Kürzerwerden der Tage
+anzeigten, und die Karte des unendlichen Flusses entwickelte sich Blatt
+um Blatt.
+
+Obgleich meine Leute nicht aus demselben Grunde wie ich an der Drift
+der Flottille Gefallen finden konnten, folgten sie ihr doch mit großem
+Interesse. Immer lebhafter wurde abends am Lagerfeuer die Unterhaltung,
+und man rechnete die Tage bis zur Ankunft an den großen Stationen
+Awwat und den Mündungen des Aksu-darja und des Chotan-darja aus;
+Schah-jar war noch so weit entfernt, daß es noch nicht in Frage kam.
+Doch vergingen ihnen die Tage jedenfalls oft recht langsam. Es bedurfte
+indessen nur z. B. des Einfangens einer Wildente, um Leben in die
+Gesellschaft zu bringen und ihnen ein wenig Zerstreuung zu gewähren.
+Ein solches Kerlchen plätscherte heute im Schutze eines gestrandeten
+Reisigbündels, als die mit Kasim und Nasar bemannte Avisofähre
+vorbeitrieb. Letzterer hatte seinen Platz im Achter der großen Fähre
+verlassen müssen, weil er von dem ewigen Inswassersteigen wunde Füße
+bekommen hatte. Die Ente muß krank oder verängstigt gewesen sein, denn
+sie ließ sich mit den Händen greifen und wurde in mein Zelt gesetzt.
+Dort aber kam sie bald auf andere Gedanken, entwischte uns wieder und
+schwamm dann zwischen den Fähren, bis sie von neuem eingefangen und
+auf der Proviantfähre angebunden wurde, deren Menagerie sich so um ein
+neues Mitglied vergrößerte.
+
+Wir hatten jetzt nur noch 16,8 Kubikmeter Wasser unter der Flottille,
+und die Aussichten für die Fortsetzung der Fahrt begannen wieder
+bedenklich auszusehen.
+
+[Illustration: 29. Kasim mit seinem Fang. (S. 61.)]
+
+[Illustration: 30. Eingeborene am Ufer des Tarim. (S. 63.)]
+
+[Illustration: 31. Begräbnisplatz am Sai-tag. (S. 70.)]
+
+[Illustration: 32. Der Jarkent-darja am Sai-tag. (S. 70.)]
+
+[Illustration: 33. Falkner mit Jagdadler. (S. 82.)]
+
+[Illustration: 34. Die Fähre an der Mündung des Aksu-darja. (S. 83.)]
+
+
+
+
+Achtes Kapitel.
+
+Der große, einsame Tarim.
+
+
+Am 22. Oktober legten wir den geradesten Teil des ganzen Flusses
+zurück. Nur eine einzige Stelle war insofern kritisch, als das
+Wasser sich dort in zwei Arme teilte, von denen wir den kürzesten
+wählten. Ich untersuchte vorher mit der Jolle die Tiefen und fand
+den Arm passierbar. Die Wassertemperatur war jetzt bis auf +10 Grad
+heruntergegangen; ich hatte daher keine Lust zum Baden. Kasim dagegen
+hatte entschieden andere Ansichten von der Nützlichkeit eines Bades.
+Er stand wie gewöhnlich im Achter der Proviantfähre und schob sie mit
+der Stange vorwärts, wendete aber dabei zu große Kraft an und fiel
+rücklings in den Fluß, zur riesigen Freude der anderen.
+
+Gerade vor uns verschwindet die breite Straße des Flusses in
+unendlicher Ferne; es ist eine Serie horizontaler Striche, weißer und
+schwarzer; die ersteren sind in Verkürzung gesehene Wasserflächen, die
+letzteren aber Sandbänke und Anschwemmungen.
+
+So kurz die folgende Tagereise auch war, gewährte sie doch viel
+Abwechslung, und die Männer mußten die ganze Zeit die Augen offen
+halten. Je mehr wir uns Awwat nähern, desto zahlreicher treten Hirten
+auf, und ihre Hütten werden auf beiden Ufern immer häufiger. Auf dieser
+Tagereise passierten wir den Punkt, wo der Kaschgar-darja, unser alter
+Bekannter Kisil-su, sich in zwei engen, größtenteils von Sand, Schlamm
+und Vegetation verstopften Armen in den Jarkent-darja ergießt, wobei er
+ihm nur einen geringen Zuschuß von Wasser zuführt.
+
+Wir waren noch nicht weit gelangt, als ein Reiter am Ufer erschien.
+Doch sowie er uns erblickt hatte, verschwand er wieder zwischen den
+Büschen; wir entnahmen daraus, daß es ein Kundschafter gewesen. Nach
+einer Weile sprengte denn auch richtig ein ganzer Reitertrupp auf das
+Ufer zu; sie stiegen von den Pferden, breiteten Teppiche auf der Erde
+aus und luden uns zu einem aus Trauben, Melonen und Brot bestehenden
+Dastarchan ein. Es war der Joll-begi (Weginspektor) von Jangi-Awwat,
+der hierher geschickt worden war, um uns willkommen zu heißen. Nach
+kurzer Rast fuhren wir mit dem Weginspektor als Gast an Bord weiter,
+während seine Schar uns am linken Ufer begleitete.
+
+Bald darauf tauchte noch eine Schar Reiter in feinen, farbenprächtigen
+Chalaten und teilweise von ungewöhnlich distinguiertem Aussehen auf.
+Auch jetzt mußten wir Halt machen und wieder einen Dastarchan annehmen.
+Es war der Vornehmste der Andischaner Kaufleute in Awwat; auch er wurde
+an Bord genommen; seine Reiter ritten auf dem rechten Ufer. Wir hatten
+jetzt also auf beiden Ufern Gefolge.
+
+Noch eine Strecke weiter wurde unsere Ankunft von etwa 30 Reitern an
+einem Ufervorsprunge erwartet, der mit Früchten, Brot, Eiern und ganzen
+geschlachteten Schafen vollständig übersät war. Diesmal war es der
+Bek von Awwat, der in höchsteigener Person uns bewillkommnen wollte;
+auch er gesellte sich zu den übrigen Gästen auf dem Achterdeck, das
+jetzt reicher bevölkert war als je zuvor. An den Ufern folgten unserem
+Zuge ganze Reiterschwadronen. Eine so festliche, stattliche Prozession
+hatte der Jarkent-darja wohl noch nie gesehen. Acht Falkner zu Pferd
+waren mit; zwei trugen Adler (Abb. 33), die anderen Jagdfalken, deren
+wilde Augen unter Kappen verborgen waren; sie gehören bei Galaaufzügen
+mit zum Staate. Später gaben uns die Raubvögel und ihre Pfleger
+eine Tamascha (Vorstellung, Schauspiel), die vier Hasen und ein Reh
+einbrachte.
+
+Beim Dorfe +Mattan+ blieben wir einen Tag, der jedoch nicht
+unbenutzt geopfert wurde. Ich entwickelte Platten, machte eine
+astronomische Bestimmung, maß die Wassermenge und sammelte wichtige
+Aufklärungen über die Gegend und den Fluß bis zur Mündung des
+Aksu-darja. Die Leute wußten von keinem Hindernisse auf dem Wege
+dorthin zu erzählen und versicherten, daß wir dann so viel Wasser im
+Flußbette haben würden, daß es mit rascher Fahrt vorwärtsgehen würde.
+
+Nachdem alle für ihre Dienste entschädigt worden waren und der Bek
+uns einen neuen, in der Gegend heimischen Jäger und einen neuen Hund
+besorgt hatte, der den Namen „Hamra“ (Reisegefährte) erhielt, fuhren
+wir am 25. Oktober tiefer in die Einöden hinein. Die Wassermenge war
+auf 14,3 Kubikmeter gesunken.
+
+Eine Tatsache, die uns sehr zustatten kam und über deren Dasein
+und Erklärung man uns in Mattan Bescheid gab, war, daß der Fluß im
+Oktober wieder ein wenig zu steigen anfängt. Dies würde als Anomalie
+erscheinen, wenn man nicht eine befriedigende Erklärung dafür erhielte.
+Der Grund liegt darin, daß das Wasser vieler Bewässerungskanäle, das
+in dieser Jahreszeit nicht länger für die Äcker gebraucht wird, in
+Gestalt von Quellen in den Fluß zurückkehrt. Am 26. Oktober fanden wir
+17 Kubikmeter, fast 3 Kubikmeter mehr als gestern.
+
+Der 27. war ein interessanter Tag, denn wir wußten, daß wir am Abend
+an die Mündung des Aksu-darja gelangen würden. Es war ein stiller,
+herrlicher Herbstmorgen; der Fluß war blank wie ein Spiegel, in dem
+sich die Ufer so scharf widerspiegelten, daß man genau aufpassen mußte,
+um zwischen Spiegelbild und Wirklichkeit unterscheiden zu können.
+
+Alten Wald gibt es hier nirgends, nur junge Pappeln, dagegen aber
+Tamarisken und anderes Gesträuch in Menge. An einem Punkte, wo wir an
+Land gingen, ergriff Hamra die Flucht, und erst nachdem eine richtige
+Treibjagd auf ihn angestellt worden war, gelang es uns, ihn wieder
+einzufangen. Er war ein Wilder, der lange nicht heimisch wurde, und
+vergeblich versuchte Jolldasch, ihn zum Spielen zu bringen.
+
+Mit steigender Spannung spähten wir nach dem Erscheinen des großen
+Flusses aus, der für die Männer von Lailik ein Fremdling war, von
+dessen Dasein sie nur hatten erzählen hören und dem sie sich nun mit
+einem gewissen Respekt nahten. „Hinter jener Pappel dort,“ erklärte
+Mollah, „wird er erscheinen.“ Als er sich hierin irrte, versuchte er es
+mit der nächsten Biegung und verriet damit bloß, daß er hier weniger
+gut Bescheid wußte als bisher.
+
+Mittlerweile nahm die Stromgeschwindigkeit ab, und schließlich ging es
+so langsam, daß die Fähre mit den Stangen weitergestoßen werden mußte.
+Die Leute stießen, schoben und sangen im Takte, denn unser Ziel mußten
+wir zum Abend erreichen. Bei einer Gelegenheit blieb Alims Stange im
+Schlamme stecken, während die Fähre weitertrieb; er aber wußte guten
+Rat, er entledigte sich der Kleider, schwamm zu seiner Stange hin,
+machte sie los und kehrte dann schwimmend mit ihr nach der Fähre zurück.
+
+Mittags hatten wir in der absoluten Windstille echte Sommerhitze, und
+ich saß in Hemdärmeln und sog den Duft von Aprikosen, Trauben und
+Birnen ein, die in einer Schüssel auf dem Teppiche lagen.
+
+Nach ein paar letzten Krümmungen schien sich die Landschaft vor uns
+aufgetan zu haben, und jetzt trat der mächtige Aksu-darja in all
+seiner Herrlichkeit hervor (Abb. 34). Mit gespannter Aufmerksamkeit
+betrachteten die Männer von Lailik diesen Riesenfluß und fragten:
+„Sollen wir uns auf seine unruhige Fläche hinauswagen?“
+
+Merkwürdigerweise biegt der Jarkent-darja gerade beim Zusammenflusse
+nach Nordwesten ab. Der Aksu-darja kommt von Nordnordwest, und der
+vereinigte Fluß, der von da an meistens Tarim genannt wird, obwohl
+bis in die Lop-nor-Gegend noch hin und wieder der Name Jarkent-darja
+vorkommt, wendet sich nachher nach Osten. Der Aksu-darja ist
+hinsichtlich der Richtung der bestimmende und, nach Aussage der
+Eingeborenen, auch zu allen Jahreszeiten der wasserreichere der beiden
+Flüsse.
+
+Wir verließen den letzten Vorsprung des rechten Ufers und gingen nach
+dem linken Ufer hinüber. In dem untersten Teile hatte die Strömung
+nicht nur aufgehört, sondern kehrte unter dem mächtigen Drucke des
+Wassers des Aksu sogar um. Es hing an einem Haare, so wäre unser
+Fahrzeug in den nächsten Wasserwirbel hineingezogen worden. Es gelang
+uns aber noch im letzten Augenblick, am Ufer festen Fuß zu fassen und
+die Fähre zu vertäuen, sonst wären wir unfehlbar mit fortgerissen
+worden, und das hätte uns nicht gepaßt, da wir beabsichtigten, an der
+Stelle des Zusammenflusses selbst, +Jarkent-darjaning-kuilüschi+,
+Rast zu machen, um das Fahrwasser genauer zu untersuchen, bevor wir die
+Reise fortsetzten (Abb. 35).
+
+Der Ruhetag wurde zu allerlei Arbeiten benutzt; ich machte eine
+astronomische Bestimmung, entwickelte und kopierte Platten,
+photographierte, machte einen Ausflug mit der Jolle, um das geeignetste
+Fahrwasser zu sondieren, und kam erst lange nach Mitternacht zur
+Ruhe. In dem großen Flusse war das Wasser im Gegensatze zu dem des
+Jarkent-darja, das sich infolge des langsamen Fließens klären kann,
+sehr trübe. Massen von Wildgänsen flogen über das Lager weg in
+herrlicher, bewundernswert geordneter, pfeilspitzenförmiger Phalanx,
+zwischen deren Flügeln sich oft ein paar einzelne Vögel befinden.
+Ich habe die weiten Reisen dieser klugen Vögel stets bewundert und
+angestaunt; sie kommen vom Lop-nor und gehen über Jarkent nach Indien.
+Sie flogen etwa 200 Meter hoch und schrien die ganze Zeit, und ehe
+noch die eine Schar wie ein Punkt am Horizont verschwunden war,
+kam schon die zweite mit demselben ängstlichen Geschrei von Osten
+herangesaust. Diese eilfertigen Pilger finden ihren Weg durch die
+Luft so sicher, wie die Bächlein der schmelzenden Schneefelder und
+der Gletscher den Weg nach dem Lop-nor finden. Vielleicht sind sie,
+gleich den Wassertropfen, willenlose Sklaven einer ihnen innewohnenden
+Naturkraft. Ich ziehe indessen vor zu glauben, daß sie sich, wenn sie
+oben in der Luft schreien, über den Weg, den nächsten Rastort oder die
+ihnen drohenden Gefahren beraten. Gewiß ist, daß man der Phalanx, wenn
+sie auf unermüdlichen Flügeln über die Erdenmisere hinwegjagt, mit
+sehnsüchtigen Blicken folgt.
+
+Als wir am Morgen des 29. vom Lande abstießen, klang das „Bißmillah“
+der Muselmänner nachdrücklicher als gewöhnlich, und sie standen
+auf ihren Posten mit gespannten Muskeln und faßten die Stangen mit
+so festem Griffe, daß die Knöchel der Hände weiß aussahen. Es war
+jedoch nicht so gefährlich, als sie geglaubt hatten. Die Fähre wurde
+allerdings von einem ziemlich heftigen Wirbel erfaßt und drehte sich
+einmal rund herum, glitt dann aber ebenso sicher wie sonst weiter.
+
+Wir hatten nicht weit bis zu dem Punkte, wo der Weg zwischen Chotan und
+Aksu den Tarim kreuzt; dort gibt es eine Fähre, die sechs Kamele auf
+einmal überzusetzen vermag.
+
+30. Oktober. Der Fluß war heute wunderbar gerade; keine einzige Biegung
+betrug 60 Grad, alle waren stumpf und langgestreckt. Der Flußweg war
+daher nicht viel länger als der Pfad, der längs des linken Ufers nach
+der Gegend von Schah-jar geht. Die letzte Strecke vor der Dämmerung
+spähte ich gespannt nach rechts, nach Süden, um mir die Mündung des
+Chotan-darja nicht entgehen zu lassen. Endlich zeigte sich in dem
+jungen Walde eine breite Gasse, ein flaches, ein paar Meter über dem
+Spiegel des Aksu-darja liegendes Bett, das jetzt ganz trocken und leer
+war. Während der kurzen Zeit, in welcher der Chotan-darja Wasser führt,
+soll er ein gewaltiger Fluß sein, und tatsächlich wird der Aksu-darja
+unterhalb dieser Einmündung viel breiter und reich an Anschwemmungen.
+Doch die Richtung des Hauptflusses wird durch den Nebenfluß nicht
+im geringsten beeinflußt. Wieder wurde ich an die verhängnisvolle
+Wüstenreise von 1895 erinnert, doch ich sah in dem Chotan-darja einen
+treuen Freund wieder, der mir einst das Leben gerettet.
+
+Die Landschaft ist in dieser Gegend einförmig, offen und flach; alles
+ist groß angelegt: die Wasserflächen sind ausgedehnt, das Schwemmland
+endlos, die Ufer etwa einen Kilometer auseinander und der Wald so weit
+entfernt, daß man die Pappeln kaum in der Mittagsbrise rauschen hört.
+
+An Bord herrscht eine heitere Stimmung, und die Männer von Lailik
+betrachten mit größter Spannung die neue Welt, die sich vor ihren Augen
+aufrollt. Der Joll-begi ist noch bei uns; er sitzt vor meinem Zelte und
+gibt mir wertvolle Auskunft über die Gegend, die Namen der Ufer, Hirten
+und Dörfer und das Wechseln der Wassermenge im Laufe des Jahres. Der
+neue Hund Hamra fängt allmählich an, sich in sein Schicksal zu finden
+und sich umzugewöhnen. Er sieht Jolldasch beim Mittagessen sehr auf
+die Finger, läßt sich aber noch nicht herab, mit ihm zu spielen. Einer
+unserer Hähne pflegt auf dem First des Zeltes zu sitzen und zu krähen,
+und die Hühner, die jetzt auf der großen Fähre frei umherlaufen und
+picken dürfen, machen mir nicht selten eine Visite.
+
+Die Fähre glitt mit außergewöhnlicher Schnelligkeit den endlosen
+Fluß hinab, und es war schon tief in der Nacht, als wir nicht ohne
+Schwierigkeit an einem abschüssigen Ufer anlegten. Die ausgelassene,
+laute Unterhaltung der Leute am Lagerfeuer wurde von dem Bellen einiger
+verirrter Füchslein, die nach ihrer Mutter schrien, begleitet; so
+deutete ich mir wenigstens die eigentümlichen Töne, die aus dem Walde
+erschallten.
+
+Am Morgen des 31. Oktober hatten wir uns noch nicht weit vom Ufer
+entfernt, als der Wind aufsprang und in kurzer Zeit zu ungewöhnlicher
+Stärke anschwoll. Ich war winterlich angezogen, im Pelze, mit einer
+Reisedecke und in Filzstiefeln; trotzdem erfror ich beinahe in
+diesem heimtückischen Winde, der gerade ins Zelt hineinfuhr und
+dessen Leinwand wie einen Ballon zu zersprengen drohte. Die Finger
+erstarren vor Kälte, und man kann nicht so fein wie gewöhnlich
+zeichnen; man muß dann und wann aufstehen, sich die Hände reiben
+und die Füße warmstampfen. Das Flußbett ist so breit und flach, daß
+der Sturm ungehindert über das Land und die Wasserfläche hinfahren
+kann, welch letztere gestern noch ruhig wie ein Spiegel lag und
+jetzt zu schaumgekrönten Wellen aufgerührt ist, die so gegen den
+Vordersteven der Fähre schlagen, daß das ganze Schiff bebt. Da das Zelt
+fortzufliegen drohte und nicht einmal die Strömung länger gegen den
+Gegenwind ankonnte, ließ ich halten, obwohl wir nur ein paar Stunden
+unterwegs waren.
+
+Sobald wir am Lande angelegt, ein Feuer angezündet und uns etwas
+gewärmt hatten, ließ ich die Jolle auftakeln und eilte, zur großen
+Bewunderung der Männer, die das Segelboot bei solchem Wetter noch nicht
+fahren gesehen, auf dem Wege, den wir gekommen waren, wieder zurück.
+Das leichte Boot flog buchstäblich über das Wasser; die heftigsten
+Windstöße schienen es so zu heben, daß sein Boden die Wasserfläche nur
+streifte. Über einen Sandgrund glitt ich wie über ein Nichts hinweg; es
+knackte im Maste, und das Steuerruder wurde sehr angestrengt, aber es
+war herrlich in dieser wilden, großartigen Einsamkeit, und bald war die
+Fähre hinter einer Landspitze verschwunden.
+
+Nun war ich wieder ganz allein im Herzen von Asien; nur die schäumenden
+Schlagwellen, die herbstlich gelben Schonungen und der in ungezügelter
+Raserei dahinjagende Wind leisteten mir Gesellschaft, und ein Gefühl
+des Wohlbehagens erfüllte meine Seele, als gehörten diese unendlichen
+Strecken mir, und als könnte ich, unabhängig von Mandarinen und
+Häuptlingen, hier im Lande herrschen, wie ich wollte. Der Wind
+flüsterte mir ins Ohr, daß dieser gewaltige Fluß hier viele tausend
+Jahre auf mein Kommen gewartet habe und daß der Tarim, dem Gebote
+eines höheren Willens gehorchend, seine blanke Bahn nur deshalb durch
+die Wüste ziehe, damit er mir die beste Fahrstraße nach dem Herzen
+des Kontinents bieten könne. Wer konnte mir das Eigentumsrecht auf
+diesen Wasserweg streitig machen? Vielleicht die Hirten, die mit
+ihren Herden an den Ufern wanderten und wie erschreckte Antilopen
+entflohen, sobald wir lautlos hinter den Landspitzen auftauchten? Wer
+konnte uns anhalten, uns Zoll und Paß abfordern? Vielleicht die Tiger,
+deren smaragdgrüne Augen abends zwischen den Nadeln der finsteren
+Tamariskendickichte funkelten? Niemand kannte diesen Fluß besser als
+ich. Die Jäger, diese Kinder wilder Wälder, die wir tagelang mitnahmen
+und die wir verabschiedeten, sobald ihr Wissen erschöpft war, kannten
+nur die Gegend, innerhalb deren Grenzen sie der Spur des flüchtigen
+Hirsches zu folgen pflegten, aber jenseits dieser Grenzen verloren sie
+sich in Mutmaßungen über das für sie Geheimnisvolle und wußten weder,
+woher der Fluß kam, noch wohin seine unerschöpflichen Wassermassen
+eilten. Ich dagegen sammelte in meinen Tagebüchern alles, was die Söhne
+des Landes wußten; ich lebte Stück für Stück mit diesem rastlosen
+Flusse, ich fühlte ihm jeden Abend den Puls und maß seine Wassermenge
+genau, und ich wußte, daß, wenn der Fluß auch Jahrtausende hindurch
+derselbe geblieben war, er doch sein Bett veränderte, während sein
+Wasser seinem Untergange in dem fernen Lop-nor entgegeneilte, wo es in
+anderer Gestalt wieder auferstehen und seinen Kreislauf zwischen Himmel
+und Erde fortsetzen würde. Die Geschichte und der Lebenslauf des Tarim
+lagen bei mir in Wort, Bild und Karte wie in einem Archive verwahrt,
+und kein Tag verging, ohne daß sich das Material vermehrte und zu
+einer Monographie anwuchs, von der ich in dieser Arbeit nur einen ganz
+geringen Teil, ohne die ermüdenden Einzelheiten, mitteile.
+
+Auf einer solchen Eilfahrt bei günstigem Winde gedenkt man gar nicht
+der zunehmenden Entfernungen. Endlich aber erwachte ich aus meinen
+Träumen, steuerte nach dem nächsten Ufer, zog das Boot hinauf und
+vertäute es und ging dann in den jungen Wald hinein, um ein Feuer
+anzuzünden und mein mitgebrachtes Frühstück zu verzehren.
+
+Auf der Rückfahrt dachte ich an die nächste Zukunft und sah sie in
+den lichtesten Farben glänzen. Was sie in ihrem Schoße tragen konnte,
+wußte ich nicht, aber ich wußte, daß alle Pläne, um gut zu gelingen,
+klug ersonnen sein mußten, und deshalb drängten sich mir eine Menge
+Fragen auf: Würden wir mit dem ganzen Flusse vor Eintreten der
+Winterkälte fertig werden? Wo sollte das Hauptquartier, von dem die
+großen Exkursionen ausgehen sollten, aufgeschlagen werden? Würden die
+Dschigiten mich finden und mir gute Nachrichten aus der Heimat bringen?
+-- Zu rechter Zeit war ich wieder an Bord und kopierte Negative.
+Ich wollte der Sicherheit wegen von allem zwei Exemplare haben. So
+wurden z. B. die täglichen Aufzeichnungen erst mit Bleistift in kleine
+Bücher geschrieben und dann abends mit Tinte in das große Tagebuch
+eingetragen. Dies verursachte viel Extraarbeit, verlieh aber auch
+ein Gefühl der Sicherheit; +ein+ Exemplar wenigstens mußte doch
+glücklich mit heimgebracht werden können.
+
+Das einzige, was meine Geduld sehr auf die Probe stellte, war der Wind
+oder vielmehr, daß wir meistens Gegenwind hatten. Am 1. November
+machte der Fluß eine Biegung nach Norden, und der Wind kam aus
+derselben Richtung. Vorn im Zelte hatte ich den ganzen Tag Schatten,
+obwohl die Sonne gerade jetzt ein willkommener Gast gewesen wäre.
+Die Minimaltemperatur war auf -8,8 Grad heruntergegangen, das Wasser
+in dem auf meinem Nachttische stehenden Glase und die Tinte waren
+gefroren, und ich schauderte, wenn ich in die eiskalten Kleider kroch.
+Es wäre einfach gewesen, ein Kohlenbecken in das Zelt zu stellen,
+aber ich wollte dies so lange wie möglich vermeiden, um den Gang der
+selbstregistrierenden Instrumente nicht zu stören.
+
+Von +Kara-tograk+ an ist der Fluß so gerade wie noch nie. Er
+erstreckt sich unendlich weit nach Nordnordosten und vor uns, am
+Horizont, schien die Wasserfläche direkt in den Himmel überzugehen; es
+ist, als verließe sie die Erde und ergösse sich in den grenzenlosen
+Weltenraum.
+
+Während der letzten Tage hatten wir beobachtet, daß der Fluß ein wenig
+stieg, was davon kam, daß die Kanäle für dieses Jahr gesperrt worden
+waren und nun dem Flusse den Rest der Anleihe zurückzahlten. Die
+gewaltige Wassermasse arbeitete mit großer Energie in dem Bette, und an
+ein paar Stellen, wo die Sanddünen unmittelbar nach dem Ufer abfielen,
+sah man, wie sie an der Basis unterminiert wurden, so daß allmählich
+immer neuer Sand nachrutschte.
+
+Wo die Uferwand aus Lehm besteht, ist sie oft nicht nur lotrecht,
+sondern hängt sogar über. Gerade als wir an solch einem vorspringenden
+Tische vorbeistrichen, stürzte dieser ins Wasser, überschüttete die
+Steuerbordseite mit einer kalten Dusche und verursachte solchen
+Seegang, daß die schwere Fähre stark schaukelte. Ziemlich oft ertönen
+dumpfe Schüsse wie von einer fernen Festung, wenn Blöcke, die ihr
+Gewicht nicht mehr zu tragen vermögen, ins Wasser stürzen.
+
+Eine Strecke weiter unten tauchte eine einsame Wanderin aus dem Schilfe
+auf. Sie rief uns an und sagte, sie wolle uns zehn Eier schenken.
+Die Fähre wurde nur so nahe ans Ufer geschoben, daß ihr Achter das
+Schiff berührte, Islam nahm das Bündel mit den Eiern in Empfang und
+gab der Frau einige Münzen. Wir brauchten nicht einmal anzuhalten, um
+das Geschäft abzuschließen. Doch keiner an Bord konnte sagen, wer die
+Wanderin sei. Es ging uns mit ihr wie mit dem Winde, wir wußten nicht,
+woher sie kam, noch wohin sie ging.
+
+[Illustration: 35. Landung an der Mündung des Aksu-tarja. (S. 84.)]
+
+[Illustration: 36. Unser Nachtlager bei Ala Kunglei Busrugvar. (S. 92.)]
+
+An dem Lagerplatze dieses Abends, der +Leschlik+ hieß, führten
+die Fährleute zur Belustigung der anderen ein komisches Schauspiel
+auf. Zwei Männer tragen je einen Kameraden wie einen Mehlsack auf
+dem Rücken. Dieser wird, ohne den Zweck zu ahnen, an Händen und
+Füßen gebunden, jene haben sich mit Stöcken bewaffnet und prügeln
+aus Leibeskräften auf einander los. Die Schläge treffen die
+unglücklichen Mehlsäcke, die in Wut geraten und einander ausschimpfen.
+Wenn es dem einen Träger gelungen ist, dem Sacke seines Gegners einen
+Hieb zu versetzen, so sucht sich der Gegner zu rächen und prügelt den
+Sack des ersten Trägers so, daß der Stock pfeift. Das Opfer treibt
+dann seinen Träger an, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, und dieser
+schlägt nun wieder -- nicht den, der die Prügel ausgeteilt hat, sondern
+seinen gefesselten Reiter. Palta und Naser waren es, die schlugen, und
+Kasim und Alim diejenigen, welche die Schläge erhielten. Palta und
+Naser lachten, daß ihnen Tränen in die Augen traten, während Kasim und
+Alim vor Wut heulten und die Zuschauer, zu denen auch ich gehörte,
+vor Lachen beinahe erstickten. Um Gelegenheit zur Rache zu erhalten,
+schlugen Kasim und Alim vor, sie wollten nun auch eine Weile die Rolle
+der Träger spielen, wogegen aber die beiden anderen protestierten;
+sie hatten zu nachdrücklich drauflosgeschlagen und hatten nun ein
+schlechtes Gewissen. Diese Posse hatte den Vorteil, daß beide Parteien
+in der Abendkälte erwärmt wurden.
+
+
+
+
+Neuntes Kapitel.
+
+In schwindelnder Fahrt flußabwärts.
+
+
+Die Temperatur der Luft und des Wassers war in langsamem, aber stetigem
+Sinken begriffen, und es war klar, daß der Tag, an welchem das Treibeis
+seine größten Dimensionen annehmen würde, nicht mehr lange auf sich
+warten lassen konnte. Die Achterdeckspassagiere ließen sich von der
+Kälte nicht anfechten. Jetzt hatten sie immer ein größeres Feuer auf
+dem Herde und hockten in ihren Pelzen um die Glut herum, plaudernd,
+Märchen erzählend, Kader als Vorleser zuhörend oder Brot backend.
+Auch die Fährleute wärmten sich dort der Reihe nach ein bißchen, ich
+aber konnte meinen Schreibtisch nur zwischen langen Kompaßpeilungen
+verlassen, um ihrem Beispiele zu folgen.
+
+Der Joll-begi versäumte nie, mir alle Namen oder Flußbettveränderungen
+mitzuteilen, doch heute, 2. November, war er unpäßlich. Er bekam eine
+Dosis Chinin und hatte sie kaum hinuntergeschluckt, als er auch schon
+versicherte, er fühle sich bedeutend besser. Die Einbildung tut viel
+hier auf Erden. Der gute Mann war gewiß ganz einfach seekrank infolge
+der rasenden Geschwindigkeit unserer heutigen Fahrt.
+
+In der kalten, ruhigen Morgenluft, in welcher der Schall scharf und
+deutlich weithin über die Wasserflächen getragen wird, hörte es
+sich an, als würden in der Gegend eine Masse Häuser niedergerissen,
+denn unausgesetzt stürzten Sandmassen und Erdblöcke, die über Nacht
+gefroren, in der Sonne aber wieder aufgetaut waren, in den Fluß. Es
+ging prächtig. Nur einmal fuhren wir fest; es sah eigentümlich aus,
+als das Wasser plötzlich um die Fähre, die eben noch so schön mit dem
+Strome trieb, zu kochen und zu schäumen anfing. Es brauchte aber keiner
+hineinzuspringen, denn da das Vorderende aufgerannt war, drehte sich
+das ganze Fahrzeug im Kreise und wurde dadurch wieder flott.
+
+Kasim geht wie gewöhnlich voran und unaufhörlich ruft er und warnt vor
+Untiefen, steckengebliebenem Treibholz, abgestürzten Uferwällen oder
+anderen kritischen Punkten. Palta führt das Kommando auf der großen
+Fähre; er ist stets kaltblütig und guter Laune, brüllt aber die Männer
+im Achter fürchterlich an, wenn ein schnelles Manöver ausgeführt werden
+muß, um einen Zusammenstoß zu vermeiden. Die anderen setzen blindes
+Vertrauen in seine Seetüchtigkeit; er hat aber auch mehrere Jahre die
+Fähre zwischen Lailik und Merket geführt.
+
+Heute durfte keiner schlafen; alle standen mit festgefaßten Stangen
+spähend da, als ob sie eine Katastrophe erwarteten. Die Strömung ließ
+ihnen keine Ruhe, und immer schneller ging es den Tarim hinunter.
+
+Ein einziges Mal, in einer scharfen Biegung, in der die Strömung
+die Fähre mit wilder Hast gegen das Ufer drängte, konnten sie nicht
+ausweichen. Das schwere Fahrzeug trieb gerade auf das steile Ufer los,
+und nun galt es, rechtzeitig mit den längsten Stangen das Vorderschiff
+abzustoßen, die Fähre in einen spitzen Winkel mit dem Ufer zu bringen
+und sie so zu drehen, daß sie wieder mit der Strömung parallel
+lag. Doch die Leute kamen nicht mehr dazu; es ging zu schnell, das
+Vorderende stieß mit aller Kraft auf, und ein paar Purzelbäume waren
+die Folge. Weiter geschah kein Unglück, nur ein paar Schaufeln Erde
+fielen auf das Deck. Wir legten jetzt 78 Meter in der Minute zurück.
+
+Von der Walddüne +Balik-ölldi+ (der tote Fisch) an wird die
+Stromgeschwindigkeit noch größer. Hier hat sich der Fluß auf einer
+Strecke von zwei Tagereisen seit drei Jahren ein neues Bett gegraben.
+Das alte, Kona-darja, bleibt trocken und verlassen zur Linken liegen,
+mit ihm auch der Wald.
+
+In dem neuen Stromlaufe veränderte sich auf einmal der Charakter des
+Flusses. Er wurde schmal und gerade, und man sah alle Kennzeichen
+dafür, daß er von der Erosion des Wassers noch nicht genug
+ausgearbeitet worden war. Die Landschaft war öde, der Boden bestand
+aus Sand. Das Bett ist außerordentlich scharf markiert. Da wo die
+Krümmungen das Bett noch nicht haben erweitern können, gleicht es
+einem engen Korridor, und von den hohen, jähen Ufern stürzen Massen
+von Sand und ganze Blöcke in den Fluß, so daß es aussieht, als steige
+am Wasserrande Rauch auf. Wiederholt liefen wir Gefahr, von derartigen
+Erdrutschen ertränkt zu werden. Wenn je, so hieß es hier aufpassen; es
+ging mit schwindelnder Fahrt, und wir hatten das Gefühl, als würden
+wir widerstandslos in einen Strudel hineingerissen; doch es blieb uns
+nichts weiter übrig, als bereit zu stehen und die Stöße zu parieren.
+
+Nun hörten wir Kasim der großen Fähre ein verzweifeltes Halt zurufen.
+Der Fluß war nur 20 Meter breit, mitten im Fahrwasser war eine
+treibende Pappel auf Grund geraten, und auf derselben hatte sich eine
+solche Masse von Reisig und Schilfwurzeln aufgehäuft, daß das Ganze
+einen kleinen Holm bildete. Weißschäumend wirbelte das Wasser um den
+Holm, und wäre die Fähre der Strömung gefolgt, so hätte sie unfehlbar
+anprallen müssen und wäre dann von der Wucht des Stoßes und dem
+nachdrängenden Wasser zum Kentern gebracht worden.
+
+Nur 50 Meter trennten uns von der gefährlichen Stelle; die Katastrophe
+schien unvermeidlich. Die Angst schnürte mir die Kehle zusammen; ich
+fürchtete, daß in diesen kochenden Strudeln alles verloren gehen
+könnte, und an Bord herrschte ein entsetzlicher Wirrwarr. Im letzten
+Augenblick gelang es dem flinken Alim, mit einer Leine an Land zu
+springen. Das Ufer war sehr steil, und beinahe wäre er in den Strom
+hinuntergerutscht, faßte aber noch festen Fuß und zog die Leine aus
+Leibeskräften an, unterstützt von den anderen, die unter dem wilden Ruf
+„ja Allah“ die Stangen entgegenstemmten. Die Fähre machte kurz vor dem
+Holme Halt, und die Strömung kochte und wogte um sie herum.
+
+Um Kasim rekognoszieren zu helfen, stieg ich in die Jolle, die ich
+mitten in der Strömung verankerte, um auch mit dem Strommesser die
+Geschwindigkeit zu messen. Doch in dem hier herrschenden Sog war dieses
+Manöver ziemlich gefährlich, ehe man es richtig ausführen konnte. Das
+erste Mal war ich drauf und dran zu kentern; das Boot war halb voll
+Wasser und das in Arbeit befindliche Kartenblatt durchweicht. Sowie der
+Anker Grund gefaßt hatte, legte sich die Jolle so schief, daß die eine
+Längsseite gegen die Strömung lag; doch nachdem das Ankertau in das
+Vorderteil gezogen worden war, legte sich das Boot parallel mit ihr,
+ängstlich wie ein Pendel schwingend. Der Strommesser zeigte 101 Meter
+in der Minute, welche Geschwindigkeit sich während der ganzen Tagereise
+nicht verminderte.
+
+Unterdessen gelang es den Männern, den Vordersteven der Fähre von dem
+gefährlichen Holme abzuhalten, und nun ging es über die schäumende
+Stromschnelle hinweg. Nachher wurde die Fahrt durch dieses öde Land,
+wo kein lebendes Wesen an den Ufern zu sein schien, ungehindert
+fortgesetzt. Nicht weit südlich vom Jangi-darja sollen Jäger dann und
+wann Spuren von wilden Kamelen finden, doch an den Fluß selbst kommen
+diese scheuen Wüstentiere niemals.
+
+An dem Masar +Ala Kunglei Busrugvar+, wo sich einige Hirten
+aufhielten, erschien es uns passend, die Nacht zu bleiben, um so
+mehr, als die Männer dem Heiligen dafür danken wollten, daß er uns
+unbeschädigt über die Stromschnellen hatte kommen lassen.
+
+Die Fähre mitten in der reißenden Drift zum Halten zu bringen, war
+nicht leicht. Ich landete zuerst mit der Jolle, Alim warf mir eine
+Leine zu, und dann zog ich die Fähre so dicht ans Ufer, daß er an Land
+springen und das übrige besorgen konnte (Abb. 36).
+
+Als die Fähre vertäut war, rüttelte das Wasser an ihr; es knackte in
+ihrem Holzwerke, und um die Jolle herum, die vor dem Vordersteven
+angebunden war, brodelte weißer Schaum. Es dröhnt von den Jarufern,
+wo Blöcke herabstürzen, man hört den Sand sausend die Böschungen
+herunterrutschen, und es knistert in dem Lagerfeuer auf dem kahlen
+Ufer, sonst aber ist die Gegend friedlich, sogar die Hunde sind zur
+Ruhe gegangen, denn hier ist nichts anzubellen.
+
+Am 3. November schlängelte sich das Bett mehr, die Fahrt war aber
+ebenso gut. Es wurde uns nur schwer, in scharfen Buchten mit
+Gegenströmung glatt durchzukommen. In einer solchen wäre die Jolle
+beinahe zwischen den beiden Fähren zerquetscht worden, wenn ich sie
+nicht noch im letzten Augenblick hätte retten können. Morgens früh war
+eine kleine Wasseransammlung am Ufer mit dünnem, spiegelblankem Eise
+bedeckt, dem ersten, was wir bisher gesehen. Schließlich passieren wir
+den Punkt am linken Ufer, wo der Jangi-darja wieder in den Kona-darja
+mündet; damit wird die Geschwindigkeit des Wassers wieder die
+gewöhnliche. In +Tellpel+, dem heutigen Lagerplatze, wohnen neun
+Hirtenfamilien mit 8000 Schafen.
+
+Die Hirten dieser Gegend bedienen sich des folgenden Fischereigerätes.
+Es ist ein Netz, das fächerartig in einer dreizinkigen Gabel, die
+unmittelbar über der Wasserfläche an einer Achse befestigt ist,
+ausgespannt wird. Das Ganze gleicht einem Fledermausflügel, der
+mittelst einer Leine unter das Wasser herabgelassen und wieder in
+die Höhe gezogen werden kann. Wenn der Flügel heruntergelassen und
+aufgespannt ist, wird der Fisch in die Falle gejagt, und wenn man
+fühlt, daß er gegen das Netz stößt, schließen sich die Arme der Gabel,
+das Netz faltet sich wie eine Tüte und wird emporgezogen.
+
+Der Joll-begi war verabschiedet worden; ein Hirt, der in der Geographie
+des Landes weniger gut als wünschenswert gewesen wäre, bewandert war,
+hatte uns nur einen Tag begleitet, aber in Tellpel fanden wir einen
+alten Ehrenmann, der für uns unschätzbar war. Er hieß Mollah Faisullah,
+war 54 Jahre alt, hatte einen großen weißen Bart und trug eine
+gewaltige Hornbrille; er war stets heiter und gesprächig und las den
+Achterdeckpassagieren vor.
+
+Am 4. und 5. November nahm der Fluß wieder einen anderen Charakter an.
+Er war schmal, hatte ein deutlich ausgearbeitetes Bett und war ziemlich
+reißend. An beiden Seiten dehnte sich eine unendliche Steppe von gelbem
+Schilf, aus der einzelne, mit Tamarisken bewachsene Dünen wie Inseln
+hervortraten. Es war eine Zwischenstufe zwischen einem alten und einem
+neuen Bette, und tatsächlich sollte es auch erst acht Jahre alt sein.
+Der Tarim verändert also seine Lage, aber nur auf kurzen Strecken
+seines Laufes, und es ist interessant zu beobachten, daß wir die
+alten, verlassenen Flußbettstücke beinahe immer im Norden liegen lassen
+oder, mit anderen Worten, daß der Fluß nach rechts wandert. Daß an dem
+neuen Flußbette kein Pappelwald steht, ist natürlich, denn er hat noch
+nicht aufsprießen können. Doch an den verlassenen Strecken steht er
+dicht und üppig, obgleich er dort gewöhnlich zum Untergange verdammt
+ist, wenn das Wasser sich zurückgezogen hat.
+
+Was dazu beitrug, die Einförmigkeit an Bord zu unterbrechen, waren die
+plötzlichen Einfälle der Hunde. Sie pflegten ins Wasser zu springen,
+an Land zu schwimmen und dann die Fähre am Ufer ganze Tagereisen
+zu begleiten. Was sie jedoch nie begreifen lernen konnten, waren
+die sich regelmäßig wiederholende Topographie des Flusses und seine
+Erosionsgesetze. Wenn die Fähre an einem konkaven Ufer entlang ging,
+liefen sie oberhalb des Zeltes nebenher; wenn dann aber die Wassermasse
+das Bett kreuzte, um am anderen Ufer einen ebensolchen Bogen zu
+beschreiben, schwammen sie hinüber, um wieder in unserer unmittelbaren
+Nähe zu sein. Dieses Manöver wiederholte sich überflüssigerweise bei
+jeder Biegung, und es war unmöglich, ihnen begreiflich zu machen, daß,
+wenn sie nur warteten, wir bald wieder an ihr Ufer zurückkehren würden.
+An einigen Tagen kreuzten sie den Fluß zwanzigmal und waren schließlich
+so erschöpft, daß sie heulten. Jolldasch war lustig anzusehen, wenn er
+im Wasser plätscherte, nach Atem rang und nach jedem kalten Schluck
+hustete.
+
+Bei +Initschke+ hatte der Fluß 80,6 Kubikmeter Wasser in der
+Sekunde, und es war deutlich zu sehen, daß er allmählich stieg --
+in einer Nacht um 5 Zentimeter. Diese letzte Messung erforderte
+dreistündige Arbeit bei Laternenschein. Der Fluß war zu breit, als daß
+wir, wie sonst, ein Tau von Ufer zu Ufer hätten spannen und das Boot an
+den Messungspunkten daran festbinden können. Die Strömung, die bis zu
+86 Meter in der Minute betrug, war auch viel zu reißend, als daß sich
+das Tau überhaupt hätte hineinbringen lassen. Ich versuchte freilich,
+damit hinüberzurudern, doch gelang es mir nicht. Statt dessen wurde
+ein dünner, mit weißen Knoten eingeteilter Bindfaden von Ufer zu Ufer
+gespannt und an jedem Knoten die Jolle verankert.
+
+In der Nacht auf den 5. November stieg der Fluß noch um 2 Zentimeter.
+Der Tarim fließt jetzt wieder nach Nordost. Auf einer sandigen
+Alluvialhalbinsel bei Hässemet-tokai saßen zwölf dunkelgraubraune, fast
+schwarze Geier, gewaltige, plumpe Vögel, die uns ruhig betrachteten
+und nur die Köpfe wie Sonnenblumen drehten, während die Fähre um ihre
+Landzunge herumfuhr. Sie hatten sich hier bei dem Kadaver eines Pferdes
+zusammengefunden. Die Geier waren entschieden satt; sie saßen in
+Gruppen in einiger Entfernung von dem Kadaver, schienen zu verdauen
+und ließen sich von einigen dreisten Raben Gesellschaft leisten. Etwas
+weiter unten passierten wir wohl 40 Geier, die auf den dürren Zweigen
+abgestorbener Pappeln thronten; sie saßen wie Höllengeister oder
+Todesdämonen in dem struppigen Walde da, und die Umgebung paßte gut zu
+ihrer unheimlichen Erscheinung.
+
+Da war es angenehmer, den endlosen Karawanen der Wildgänse, die noch
+immer nach Westen zogen und aus Scharen von 80-100 Vögeln bestanden,
+mit den Blicken zu folgen. Sie fliegen in den feinsten Drachen- oder
+Pfeilspitzen, von denen gewöhnlich ein Flügel sehr lang und der andere
+kürzer ist. Stets sieht man an der Spitze einen Führer, der geradeaus
+fliegt und nie über die einzuschlagende Richtung unschlüssig zu sein
+scheint, während die Flügel, den Bewegungen des Führers entsprechend,
+hin und her wogen wie zwei im Winde flatternde Blätter.
+
+Charakteristisch für diesen Teil des Tarimlaufes war auch die Menge
+des steckengebliebenen Treibholzes und der auf Grund geratenen
+Pappelstämme. Viele von diesen gehen mit der Zeit unter, andere
+befinden sich in einem Stadium abnehmender Tragkraft. Nur das eine Ende
+ist untergegangen, während das andere noch in der Richtung der Strömung
+liegt und nickend über der Oberfläche auf und nieder steigt. Oft sah
+ein solcher Pappelstumpf wie eine auf uns zuschwimmende Seeschlange
+aus. Doch nur das um das Hindernis herum kochende Wasser täuschte
+das Auge; wir waren es, die sich näherten und darüber hinwegglitten,
+während der Stumpf wie ein Wasserkobold gegen den Boden der Fähre
+schlug.
+
+Aus dem Hirtengehöfte +Bostan+ nahmen wir am 6. November einen
+neuen Cicerone, einen Jäger, mit, aber Mollah Faisullah durfte trotzdem
+bei uns bleiben, denn er war lustig und heiter und las den anderen vor
+von den Taten und Leiden der Helden und von sagenhaften Städten mit
+tausend Toren und tausend Wächtern an jedem Tore. Die Bewohner von
+Bostan wollten uns Melonen schenken, wir nahmen sie aber nicht an, da
+solche Delikatessen jetzt nachts gefrieren. Dagegen ließen wir uns
+einen großen weißen Hahn gefallen, der kaum an Bord gebracht war, als
+er auch schon auf den alten Hahn losfuhr und ihn über Bord drängte. Da
+der neue Passagier entschieden alleiniger Herr im Hause sein wollte,
+mußte mein bisheriger Morgenwecker von Kasim in Obhut genommen werden.
+Von nun an waren sie die besten Freunde -- aus der Ferne; krähte der
+eine, so antwortete der andere sogleich; es klang ganz ländlich.
+
+In +Kara-daschi+, dem Lager vom 6. November, waren wir dicht bei
+dem Punkte, wo wir nach dem gefährlichen Zuge durch die Wüste nördlich
+vom Kerija-darja im Jahre 1896 zuerst Wasser gefunden hatten.
+
+7. November. Daß wir uns bevölkerten Gegenden näherten, sah man
+daran, daß hier und da Schilfhütten und sogar Lehmhäuser vorkamen
+und an den Ufern nicht selten Kähne angebunden lagen. Diese ähnelten
+immer mehr dem Lop-nor-Typus; sie waren aus einer einzigen Pappel
+ausgehauene, langgestreckte, schmale Fahrzeuge, die sich von den
+Lop-nor-Kähnen dadurch unterschieden, daß der Vorderrand in eine Art
+von durchbohrtem Handgriffe mit einer Leine auslief und das Hinterteil
+eine kleine Plattform, einen Sitzplatz, bildete (Abb. 37). Das Ruder
+ist schaufelförmig.
+
+Die Fährleute nahmen einen kleinen Kahn in Beschlag. Alim führte eine
+förmliche Wasserpantomime auf mit seinen verzweifelten Versuchen, des
+Bootes Herr zu werden; wie er auch ruderte, er konnte es nicht dazu
+bringen, gerade vorwärtszugehen, war aber desto öfter nahe daran, zu
+kentern. Bei Tschong-aral wurde das Boot gegen ein größeres vertauscht.
+Es war nicht unsere Absicht, den Kahn zu stehlen und so die friedlichen
+Ufer zu brandschatzen, wir bezahlten ihn vielmehr noch an demselben
+Abend. Islam und Mollah trieben nun in dem Kahne, und die Flottille
+hatte sich also um ein Fahrzeug vergrößert.
+
+In der Gegend von +Gädschis+ mündet links ein Arm des
+Schah-jar-darja (Mus-art), der vom Chan-tengri kommt. Er ist in der
+Mündung 29 Meter breit, und, soweit das Auge flußaufwärts reicht,
+sieht es nicht aus, als ob diese Breite sich verminderte. Das Bett war
+mit stillstehendem Wasser von 78 Zentimeter Durchsichtigkeit gefüllt,
+während das des Tarim nur bis 4 Zentimeter durchsichtig war. Das Wasser
+hatte infolgedessen eine herrliche rein blaue Farbe, und die Grenze war
+ziemlich scharf.
+
+Während ich damit beschäftigt war, den Arm von der Jolle aus zu
+untersuchen, erschien der Joll-begi von Tschimen, ein alter Mann in
+veilchenblauem Tschapan. Er brachte Briefe von Nias Hadschi und den
+Kosaken mit, die uns mitteilten, daß es der Karawane gut gehe.
+
+Bei dem Dorfe +Teres+ erwarteten mich am Ufer eine Menge
+Geschenke, wie Schafe, Früchte, zwei Kisten Birnen aus Kutschar, eine
+mit Granatäpfeln, ferner Hasen, Fasanen, Hühner, Eier und Milch, kurz
+eine willkommene Verstärkung des Proviants. Unser Transportmittel hat
+vor Kamelen den Vorzug, daß es nie knurrt, wenn man ihm auch noch
+soviel aufpackt; es geht darum doch ebenso weit und ebenso gut.
+
+Wir lagerten an dem Punkte, wo der Weg von Kara-dasch und
+Kungartschak-bel nach Tschimen, Schah-jar und Kutschar über den Fluß
+führt. Es war genau dieselbe Stelle, wo wir 1896 den zugefrorenen
+Fluß kreuzten. Chalil Bai, der alte Ehrenmann, in dessen Hause ich
+damals zu Gaste war, kam mir, auf einen Stock gestützt, trotz seiner
+73 Jahre entgegen. Es ist stets ein großes Vergnügen, alte Freunde
+wiederzusehen; es ist ein Band, das wiederangeknüpft wird. Ich saß
+lange mit dem Alten in gemütlicher Unterhaltung am Feuer.
+
+[Illustration: 37. Kähne auf dem mittelsten Tarim. (S. 96.)]
+
+[Illustration: 38. Der See Koral-dungning-köll. (S. 105.)]
+
+[Illustration: 39. Der Jumalak-darja von Koral-dung aus gesehen. (S.
+105.)]
+
+[Illustration: 40. Besuch des Beks von Schah-jar in Tschimen. (S. 97.)]
+
+Während der zwei Rasttage, die wir am Ufer von +Tschimen+
+zubrachten, wurde wie gewöhnlich eine astronomische Ortsbestimmung
+nebst verschiedenen Nacharbeiten ausgeführt und der Fluß gemessen.
+Hier fand uns Abdurahman, der erste Dschigit aus Kaschgar; er hatte in
+seiner versiegelten Posttasche lauter gute Nachrichten. Er nahm meine
+Post und außerdem noch einen hermetisch verlöteten Blechkasten mit
+Negativen mit nach Kaschgar zurück. Ein neuer Jäger wurde angenommen
+und ein Vorrat von Öl gekauft, für den Fall, daß nächtliche Fahrten mit
+Fackeln in Frage kommen würden.
+
+Der 10. November war der erste wirkliche Wintertag. Der Morgen war
+bitterkalt, feuchter Nebel lag über der Erde und verteilte sich erst
+unter dem recht scharfen Südwestwinde, der sich jetzt erhob und unsere
+Fahrt sehr beschleunigte. Der Boden war weiß bereift, und auch die
+Fähre und die schwarze Kajüte waren weiß. Die Luft war grau und neblig,
+der Himmel mit Wolken bedeckt, und die ganze Landschaft mit blauweißen,
+winterkalten Tinten gefärbt.
+
+Noch um 10 Uhr vormittags hatten wir -2 Grad und nachmittags um 5 Uhr
+wieder -1 Grad; nur fünf Stunden erhob sich die Quecksilbersäule ein
+wenig über den Nullpunkt. Das waren trübe Aussichten, denn wenn der
+Fluß jetzt zuzufrieren begann, wurden wir unvermeidlich vor Beendigung
+der Flußreise vom Eise eingeschlossen. Wir sehnten uns von diesem
+offenen, kahlen, jedem Wind und Wetter preisgegebenen Tschimen, wo
+das Brennholz sehr knapp ist, fort. Abdurahman, der Kurier, wurde in
+dem Kahne über den Fluß gesetzt, sein Pferd schwamm nebenher; ich war
+herzlich froh, als ich ihn mit der kostbaren Posttasche glücklich auf
+dem anderen Ufer sah.
+
+Der Bek von Schah-jar, der mit Reitergefolge hierher gekommen war, um
+mir seine Aufwartung zu machen (Abb. 40), schenkte mir einen Hund, ein
+junges Tier, das wie ein Fuchs aussah, den Namen Dowlet erhielt und
+ein komischer vierbeiniger Clown war. Gleich vom ersten Tage an hielt
+er wütende Wache an Bord und wurde der auserkorene Liebling aller
+zweibeinigen Passagiere mit Ausnahme des Hahnes.
+
+So lichteten wir denn unsere Anker und glitten fort von denen, die
+am Ufer standen und uns mit staunenden Blicken nachschauten. Die
+Flottille bestand jetzt aus vier Fahrzeugen. Da wir jetzt gewöhnlich
+zwei Wegweiser hatten, mußte der eine mit dem Kahne vorausgehen und
+Kasim mit der schwer belasteten Proviantfähre hinterdrein fahren. Die
+Tagereise wurde lang, aber der Wind half schieben. Das offene Bett
+erstreckte sich in Krümmungen nach Osten. Hier und da berührten wir
+Wälder auf beiden Seiten, sonst war das ganze Land eine Kamischsteppe
+mit ausgedehnten Hochwasseranschwemmungen.
+
+Es war schön, an diesem Abend die steifgefrorenen Glieder am Feuer
+wärmen zu können. Der Sicherheit halber wird jetzt stets ein kleiner
+Holzvorrat an Bord genommen, falls es dort, wo man lagert, kein
+Brennholz geben sollte.
+
+Am 11. November passierten wir verschiedene Hirtenlager, und am 12.
+begann der Uferwald wieder häufig und schön zu werden. Alle geschützten
+Buchten und Arme waren jetzt morgens überfroren, und manchmal sahen wir
+kleine Eisscheiben, die sich am Ufer gebildet hatten, auf dem Wasser
+schwimmen.
+
+Der Fluß heißt hier Ugen oder Ögen, aber auch Terem oder Tarim. Die
+Kähne haben schon genau dieselbe Form und dasselbe Aussehen wie im
+Loplande. Mehrere tausend Wildgänse schwebten täglich über unseren
+Häuptern hinweg. Oft waren die Flügel der Pfeilspitze mehrere hundert
+Meter lang, und manchmal schien der Führer den anderen um etwa 30 Meter
+voranzufliegen. Wahrscheinlich waren es die letzten Pilger, die sich
+durch die Kälte der letzten Tage hatten zum Aufbruch bestimmen lassen.
+An den Pappeln sitzt kaum noch ein einziges Blatt; sie haben ihr gelbes
+Herbstgewand abgeworfen und warten auf den Winter.
+
+Am nächsten Tage passierten wir den Punkt, wo der Intschikke-darja von
+links gerade in einer scharfen Biegung nach Norden einmündet. Es fängt
+an, im Zelte grimmig kalt zu werden, und ich pflege in der Jolle Platz
+zu nehmen, um mich ein bißchen der Sonne zu erfreuen. Die Temperatur
+des Wassers ist jetzt mittags nur 2 Grad über Null, und die langen
+Stangen haben unten eine Eishülse. In Biegungen, in denen die Südsonne
+nicht ankommen kann, ist die Uferlinie von einem fußbreiten, höchstens
+12 Millimeter dicken Eisrande eingefaßt, der jetzt ein wenig über der
+Wasserfläche schwebt, die gefallen war, seit er sich gebildet hatte.
+
+Wir mußten im Dunkeln lange nach einem geeigneten Lagerplatze suchen.
+Islam und Nasar gingen zu Fuß und waren bald außer Sicht. Doch spät
+abends leuchtete in der Ferne ein Feuer. Sie hatten an einer Uferstelle
+Halt gemacht, wo eine alte Sattma stand, und nährten nun, ohne
+Rücksicht auf die Hütte und ihren Besitzer, das Feuer mit dem dürren
+Holze.
+
+Unsere Tage flossen ruhig, still und einförmig dahin. Das Eintreten
+des Winters veränderte unsere Lebensweise nur wenig. Es ging nur mehr
+Brennholz drauf, aber unser Lieferant brummte nicht; es handelte sich
+bloß darum, im Dunkeln passende Stellen mit trockenem Holze zu finden,
+denn mit solchen, wo nur junge Bäume wuchsen, war uns wenig gedient.
+Ich wurde jetzt erst um 6½ Uhr geweckt, und es war wenig angenehm,
+bei 11-12 Grad Kälte aufzustehen und die eiskalten Kleider anzuziehen.
+Die Toilette wurde daher mit einer virtuosenhaften Geschwindigkeit
+abgefertigt, zu der die Gründlichkeit in umgekehrtem Verhältnis stand.
+War man angekleidet und hatte man um 7 Uhr die ersten meteorologischen
+Ablesungen gemacht, so war es um so schöner, nach dem Feuer eilen zu
+können, das in der Morgenkälte lebhaft brannte, nachdem es über Nacht
+den Boden um sich herum erwärmt hatte. Wenn ich ans Ufer komme, begrüßt
+mich von allen Seiten ein freundliches, höfliches „Salam aleikum“.
+Die Männer sitzen dann gewöhnlich beim Frühstück, das aus gekochtem
+Schaffleisch mit Bouillon, worin Brotstücke schwimmen, und Tee besteht.
+Auch ich verzehre nun mein Frühstück am Feuer. Darauf werden die
+gewöhnlichen Ufermessungen vorgenommen, und wenn alles fertig ist und
+die Lebensgeister wieder angeregt sind, kommandiere ich „Mangele“
+(Weiterfahren!), und in einem Augenblick sind die Taue gelöst, die
+Stangen im Wasser, und die Fähre setzt ihren langen Weg den Tarim hinab
+fort.
+
+Der Fluß ist glücklicherweise so tief, daß wir nur selten auf Grund
+stoßen, und in den meisten Fällen können wir uns mit den Stangen
+wieder flottmachen. Das Achterdeck gewährt einen recht malerischen
+Anblick. Männer, Schafe, Hühner, Säcke, Kisten durcheinander, und eine
+Rauchsäule zieht von ihrem Feuer über den Fluß hin, so daß die Fähre
+von fern wie ein Dampfer aussieht. Dort wird Brot gebacken, meine
+gewaschene Wäsche an ausgespannten Leinen getrocknet, schmutziges
+Geschirr abgewaschen und Werkzeuge und Hausgerät angefertigt. Naser
+war damit beschäftigt, mit dem Beile ein gewaltiges Steuerruder
+zurechtzuhauen, mittelst dessen man mit der in Gegenströmung geratenen
+Fähre würde ausbiegen können. Kasim und Kader haben sich in den Besitz
+zweier Kähne gesetzt, mit denen sie die kleine Fähre manövrieren, wenn
+die Stangen nicht bis auf den Grund reichen. Wenn der Tag einförmig zu
+werden beginnt, wird von allen Seiten ein Lied angestimmt, das in dem
+Schweigen der Wälder recht stimmungsvoll erklingt. Gegen Abend erstirbt
+jedoch der Gesang. Alle sehnen sich nach dem großen Lagerfeuer, aber
+wir fahren noch eine ziemliche Weile nach Sonnenuntergang im Mondschein
+weiter. Keine Feuer leuchten an diesen einsamen Ufern, nur die Reflexe
+des Mondes folgen geschäftig den Ringeln auf der Wasserfläche, und das
+Achterdeckfeuer wirft einen matten Schein auf das Schilf am Uferrande.
+
+Wenn ich endlich „Indi toktamiß“ (Anhalten) kommandiere, wird es an
+Bord lebendig. Im Nu wird die Fähre festgemacht, einige Feuerbrände
+und alles notwendige Küchengeschirr an Land getragen, in einem
+gewaltigen Topfe der Asch (Reispudding) mit Fleisch und Gemüse
+zubereitet und die Kiste mit meinem Service, Tee, Gewürzen und
+Konserven neben das Feuer gestellt, wo jetzt auch ich mein spätes
+Mittagessen zu verzehren pflege. Alle Zutaten zum Pudding sind an
+Bord vorbereitet worden, und es dauert daher auch nicht lange, bis
+Islam mit der Meldung „Asch taijar“ erscheint. Nicht lange währt es,
+so legen sich die Männer um das Feuer herum in ihren Pelzen schlafen;
+solange jenes groß und hoch ist, lassen sie den Pelz vorn offen,
+doch sobald sie schläfrig werden, hüllen sie sich ganz darin ein und
+kriechen näher an das verkohlende Feuer heran, das nachts sich selbst
+überlassen bleibt. Sie schnarchen schon eine gute Weile, ehe ich mit
+den Tagesaufzeichnungen fertig bin und ihrem Beispiele folgen kann.
+
+
+
+
+Zehntes Kapitel.
+
+Der Jumalak-darja auf dem Wege durch die Sandwüste.
+
+
+Am 14. November wurde die Tagereise mit einer mittleren Geschwindigkeit
+von 44 Metern zurückgelegt. Während der Nacht hatte sich Eis zwischen
+den Fahrzeugen der Flottille gebildet, die als festgefrorenes Ganzes
+am Ufer lag. Nur für die kleine Jolle war dies gefährlich, denn die
+scharfen Eisscheiben konnten wie Messer auf ihren straffgespannten
+Segeltuchrumpf wirken. Die Uferanschwemmungen sind steinhart und geben
+einen harten, scharrenden, fast klingenden Ton von sich, wenn sie mit
+den beeisten Stangen in Berührung kommen. Während des Tages wurde
+jedoch nur eine einzige Treibeisscholle beobachtet, die in dem trüben
+Wasser kaum zu sehen war. Noch geht der Erdfrost nicht tiefer als ein
+paar Zentimeter, wodurch gerade an der Uferlinie eigentümliche Leisten,
+Scheiben und Wülste entstehen, nachdem der darunterliegende lose
+Schlamm fortgespült worden ist. Doch sobald die Sonne etwas wärmende
+Kraft erhalten hat, werden sie wieder weich und fallen polternd ins
+Wasser. Wildgänse sind nicht mehr zu sehen.
+
+In einiger Entfernung von uns standen vier Männer wie Bildsäulen und
+betrachteten uns. Als wir jedoch näherkamen, nahmen sie Hals über Kopf
+Reißaus, ihre Habseligkeiten und vier böse Hunde zurücklassend, die uns
+wohl eine Stunde unter wütendem Bellen verfolgten. Später sahen wir
+ihre Pferde weiden; auch diese folgten uns am Ufer.
+
+Als es dunkel wurde, mußte Rehim Bai, der eine unserer Cicerones, mit
+dem Kahne vorausgehen und das Fahrwasser zeigen. Er hatte an einer
+schrägstehenden Stange eine gewaltige chinesische Papierlaterne, in
+der eine helleuchtende Öllampe brannte. Er mußte sich ein paar hundert
+Meter vor uns halten. Ich machte die Kompaßpeilungen an der Laterne
+ebenso sicher wie bei Tageslicht.
+
+Gleich unterhalb des Lagers +Teppe-teschdi+ passierten wir am
+Tage darauf die Grenze zwischen den Verwaltungsbezirken Schah-jar und
+Kutschar. Die Grenze war durch ein kegelförmiges Gebinde von Stangen
+und Stöcken bezeichnet; östlich davon dürfen nur Kutscharer Hirten ihre
+Schafe weiden.
+
+In der Nähe von +Källälik+ fanden wir inmitten mehrerer
+Schafhürden eine außergewöhnlich gut gebaute Lehmhütte. Ein Hund, eine
+Hühnerschar und einige Lämmer waren die einzigen Geschöpfe, die wir
+erblickten; aber wir sahen bald, daß die Bewohner die Flucht ergriffen
+hatten, sowie sich die Fähre an ihrem Ufer gezeigt hatte. Auf dem Herde
+in der Hütte brannte Feuer unter dem Topfe, und Kleidungsstücke und
+Werkzeuge lagen umher. Die benachbarten Dickichte wurden durchsucht,
+aber niemand gefunden. Schließlich zeigte sich von weitem ein Knabe,
+der nach einer energischen Treibjagd eingefangen wurde. Der Ärmste war
+aber so furchtsam, daß er nicht dazu vermocht werden konnte, den Mund
+aufzutun, noch weniger, uns Aufklärungen zu geben. Er zitterte an allen
+Gliedern und wagte nicht einmal aufzusehen.
+
+Was für phantastische Sagen und Märchen in den Wäldern des Tarim über
+unsere Fähre und ihre weite Reise wohl in Umlauf sein mochten! Wie oft
+passierten wir leere, verlassene Hütten, deren Einwohner sich eben
+erst aus dem Staube gemacht hatten! Was sollten diese einfachen Hirten
+denken, wenn sie ein solches Ungetüm herannahen sehen, ein ungeheueres
+Wassertier, das mit nach vorn und hinten ausgestreckten Fühlhörnern
+lautlos wie ein Tiger schleicht? Viele liefen kopflos davon, als sei
+ihnen der Böse selbst auf den Fersen, andere blieben in gemessener
+Entfernung am Waldrande stehen, um zu sehen, was hieraus werden würde,
+und noch andere liefen außer sich herum, als habe ein Waldgeist sie
+erschreckt. Doch wie dem auch sei, wenn man die Anlage der Orientalen
+für Übertreibungen und Aberglauben kennt, kann man davon überzeugt
+sein, daß in dem Kielwasser unserer Fähre eine ganze Menge Legenden
+und Geschichten entstanden, die, von der Tradition geschützt, mit
+der Zeit noch zu einer ungeheuerlichen Erzählung von dem den Tarim
+hinab erfolgten Siegeszuge des Flußgottes, des Wüstenkönigs oder des
+Waldgeistes verbessert werden.
+
+Im Lager +Chade-dung+ wurden am 16. November die Führer aus
+Tschimen entlassen, weil sie die Gegend und die Namen der Wälder hier
+nicht mehr kannten. Als wir das Lager verließen, hatten wir also keinen
+anderen Wegweiser als den gewundenen Lauf des Flusses, und es galt, um
+jeden Preis einen Mann zu finden, der mitkommen wollte. Endlich sahen
+wir einen Hirtenknaben mit seiner Herde und kamen ihm ziemlich nahe,
+ehe er uns gewahr wurde; da lief er aber auch schon davon, so schnell
+ihn seine Beine trugen. Wir mußten ihn jedoch haben, und so wurde
+wieder eine zeitraubende Treibjagd angestellt, die damit endete, daß
+er erwischt wurde. Er teilte uns mit, daß die Gegend +Sarikbuja+
+heiße und wir weiter unten auf dem linken Ufer noch vor Abend dort
+ansässige Menschen finden würden. Die Auskunft war richtig, und wir
+erhielten bald einen kundigen Lotsen.
+
+Jetzt tauen die Eisscheiben, die sich auf den ruhigen Uferlagunen
+ausbreiten, nicht mehr in der Sonne auf; sie nehmen ungestört an
+Dicke zu und tragen die Hunde, denen es auf ihren Schwimmtouren
+oft ordentliche Mühe macht, ein von dünnem Eis eingefaßtes Ufer zu
+erklimmen. Diese Eisränder werden jetzt sichtlich größer und scheinen
+stillschweigend übereingekommen zu sein, daß sie eine Brücke über den
+ganzen Fluß spannen und uns unerbittlich den Weg versperren wollen.
+
+Es wurde jetzt Regel, daß die Fahrt jeden Tag mindestens zwölf Stunden
+dauerte, und die Papierlaterne half dem Monde abends beim Leuchten.
+Heute abend loderte in der Ferne ein einsames Feuer am Ufer; es war in
++Dung-kotan+, welchen Punkt ich 1896 berührt hatte und der aus
+diesem Grunde für die Karte von Bedeutung war. Der hier wohnende Bai
+Kader erteilte mir manche wichtige Auskunft über die mit der Jahreszeit
+wechselnden Eigenschaften des Flusses.
+
+Kader erzählte uns auch, daß der Tiger in der Gegend ziemlich häufig
+vorkomme. Ich kaufte von ihm das schöne Fell einer großen Bestie, die
+hier vor vierzehn Tagen erlegt worden war. Man erstaunt darüber, daß
+diese einfachen Waldmenschen mit ihren primitiven Vorderladern es
+fertig bringen, einem Tiere wie dem Tiger den Garaus zu machen. Ohne
+List würde es jedoch nicht gehen; denn der Tiger ist zu stark für
+sie. Er raubt ein Pferd, eine Kuh oder ein Schaf und schleppt seine
+Beute ins Schilf hinein. Hier frißt er sich satt und läßt den Rest
+bis auf weiteres liegen, und wenn er seiner Wege geht, benutzt er
+stets einen ausgetretenen Hirtenpfad. Infolge dieser Eigentümlichkeit
+wird er Joll-bars (joll = Weg, Steig, bars = Tiger) genannt. Aus der
+Fährte sieht man, wohin er gegangen ist und von woher man ihn erwarten
+kann, und an den Resten der Beute erkennt man, ob er zurückzukommen
+beabsichtigt, wenn er wieder hungrig wird. Dann wird auf dem Wege das
+Fangeisen oder die Falle (Kappgan oder Tosak) aufgestellt, unter ihr
+eine 50 Zentimeter tiefe Grube gegraben und das Ganze sorgfältig mit
+Zweigen, Reisig und Blättern bedeckt. Der Tiger tritt, wenn er Pech
+hat, in das Eisen und sitzt dann fest. Die Falle ist von Stahl und
+so schwer, daß der Gefangene sie nur mühsam mitschleppen kann, wenn
+er sich zurückzieht. Sie loszuwerden ist unmöglich, denn sie packt
+sehr fest und ist mit scharfen Widerhaken versehen. Die Spur ist sehr
+deutlich und leicht zu verfolgen, doch die Jäger lassen ihn mindestens
+eine Woche damit gehen, bevor sie sich ihm zu nahen wagen. Der Tiger,
+der jetzt der Fähigkeit, sich frei zu bewegen, beraubt ist, kann sich
+nicht länger Nahrung verschaffen und ist ausgehungert und elend. Er muß
+die unschuldige Kuh, die er ins Dschungel geschleppt hat, verwünschen
+und fühlt, wie ihm die Tatze abstirbt. Endlich wagen sich die Männer zu
+Pferd mit geladenen Flinten an ihn heran und schießen nun gewöhnlich
+vom Sattel aus, um weniger angreifbar zu sein, wenn der Tiger es mit
+dem Reste seiner Kraft versuchen sollte, sich auf sie zu stürzen. Der
+Tiger, dessen Fell ich jetzt kaufte, war ganz erschöpft gewesen, als
+sich die Jäger bis auf 40 Meter Schußweite an ihn herangewagt hatten,
+und nach der ersten Kugel, die ihm ins linke Auge ging, hatte er sich
+auf die Seite gelegt. Doch solchen Respekt hatten sie vor ihm, daß sie
+ihm vom Sattel herab noch fünf Kugeln gaben, ehe sie sich ihm zu nähern
+wagten. Man kann sich ihre Befriedigung denken, als sie den ärgsten
+Feind ihrer Herden getötet hatten.
+
+Der Tosak ist ein sinnreiches Instrument, ein Tellereisen oder
+richtiger eine Kneifzange, deren beide Bogen mittelst zweier stählerner
+Federn von großer Spannkraft zum Zusammenklappen gebracht werden. Die
+Schneiden der beiden Bogen tragen scharfe ineinandergreifende Zähne.
+Die Federn spannen mit so großer, elastischer Kraft, daß man sich aufs
+äußerste anstrengen muß, um beide Bogen in die Lage zu bringen, die
+sie beim Aufstellen der Falle haben müssen. Die Bogen liegen nun an
+dem Stahlringe und werden einfach durch einen Bindfaden und einige
+Holzpflöckchen in dieser Lage festgehalten. Der Bindfaden bildet den
+Durchmesser des Rings; auf ihn muß der Tiger treten, wenn die Zange
+augenblicklich zusammenklappen und seine Tatze festklemmen soll. Einmal
+war ein Tiger nur mit den Zehen darin sitzengeblieben, hatte diese
+abgerissen und war, wenn auch als Krüppel, doch noch entkommen.
+
+Nach dem Lop zu tritt der Tiger häufiger auf, besonders auf dem
+Südufer; bei Tage zeigt er sich selten, doch nachts streift er
+geisterhaft auf den Hirtensteigen umher.
+
+Der Tigertöter begleitete uns am 17. nach Ostnordosten. Der Fluß ist
+schmal und gewunden, und seine nächsten Umgebungen bilden ein Gewirr
+von Altwassern, Armen, die sich nur während der Hochwasserperiode
+füllen, und von Uferseen, umgeben von Schilf und Wald. Im großen und
+ganzen ist meine Karte über den Fluß eine Augenblicksphotographie,
+denn kein Jahr vergeht, ohne daß neue Arme entstehen, alte Krümmungen
+verlassen werden und Uferlagunen sich bilden oder austrocknen. Es
+ist ein unruhiger Fluß; das Land ist flach, und das Bett verändert
+launenhaft seine Lage.
+
+[Illustration: 41. Frühstücksrast auf dem Jumalak-darja. (S. 105.)]
+
+[Illustration: 42. Rekognoszierender Kahn. (S. 108.)]
+
+[Illustration: 43. Ördek und Palta als Lotsen. (S. 108.)]
+
+Nach Sonnenuntergang stieg der Mond rotgelb an einem blauen Himmel
+auf, der jedoch immer dunklere Schattierungen annahm, während der
+Mond immer weißer und heller wurde. Gegen diesen Hintergrund stachen
+die Umrisse der Ufer so scharf ab, als seien sie aus schwarzem Papier
+ausgeschnitten; alles sah in dem winterlich farblosen Tone, der in der
+Natur herrschte, kalt und frostig aus. Der Tarim lag blank und glänzend
+da, und nur um steckengebliebene Treibholzstücke herum war die Strömung
+zu erkennen. Wenn der Mond tief stand, schien seine Scheibe vom einen
+Ufer zum anderen zu rollen, je nachdem der Fluß einen Bogen nach rechts
+oder nach links machte.
+
+Am 18. November trafen wir bei +Lämpa-akin+ die ersten Lopleute.
+Es war ein Greis mit seinen beiden Söhnen, die in drei Kähnen mit
+Netzen und anderen Geräten auf dem Wege flußaufwärts waren, um zu
+fischen. Sie waren ganz verdutzt, als wir sie mitten in einer Biegung
+überraschten, gewannen es aber nicht über sich, davonzurudern, obgleich
+dies mit ihren schnellen, leichten Nußschalen eine Kleinigkeit gewesen
+wäre. Die Jünglinge durften weiterfahren, den Alten aber nahmen
+wir nach vielem Wenn und Aber mit. Er kannte die Gegend bis in die
+kleinsten Einzelheiten.
+
+Bei +Koral-dung+ (Wachthügel) wurde auf dem rechten Ufer
+längere Rast gemacht. Hier ist die Grenze zwischen Kutschar und
+Lop. Unmittelbar im Süden des Hügels glänzt im Sonnenscheine der
++Koral-dungning-köll+ mit grünblauem, kristallhellem Wasser, zur
+Hälfte mit Eis bedeckt und von Tamariskenhecken und außerordentlich
+dichten Kamischfeldern umgeben, in denen zahlreiche Tigerspuren von
+den nächtlichen Wanderungen des schwarzgestreiften Raubtieres Zeugnis
+ablegen (Abb. 38). Im Sommer werden diese Felder überschwemmt, und der
+Boden war noch feucht; aber jetzt stehen nur noch die seichten Uferseen
+voll Wasser. Der Fluß, der von hier an +Jumalak-darja+ (der runde
+Fluß) genannt wird, zieht sich nach Nordosten, macht aber bald wieder
+einen Bogen nach Südosten und gleicht einem schmalen Bande zwischen den
+Schilffeldern (Abb. 39, 41).
+
+Hinter +Atschal+ veränderte er wieder sein Aussehen und schrumpfte
+auf nur 20 Meter Breite zusammen, war 7 Meter tief und hatte keine Spur
+von Anschwemmungen. Die Uferterrassen sind steinhart gefroren, und
+stößt die Fähre dagegen, so ist es, als schramme sie an einem Marmorkai
+entlang. Hier haben wir rechts den Ufersee +Ak-kumning-jugan-köll+
+(der große See im weißen Sande), der zwischen unfruchtbaren Dünen
+eingebettet liegt und so groß ist, daß die Stimme vom einen Ufer
+nicht bis zum anderen dringt. Auch am 19. passierten wir eine Reihe
+Uferseen, und es ist ein charakteristisches Zeichen des Tarim, daß
+diese immer zahlreicher werden, je mehr er sich dem Lop-nor nähert.
+
+Der Sonnenuntergang rief merkwürdige Beleuchtungen hervor. Die ganze
+Steppe leuchtete in so intensivem, feurigem Gelb, als wäre das Schilf
+ringsumher in Brand geraten. Dunkel und schweigend schlängelte sich
+der Jumalak-darja mit pechschwarzem Wasser durch die Schilfdickichte,
+in denen der Königstiger hinterlistig versteckt liegt. Es pfeift und
+knistert in den Eisscheiben, die alle Lagunen bedecken. Manchmal
+leuchtet es in dem dunkeln Wasser vor uns wie ein Blitz auf, wenn
+eine vorher unsichtbare Treibeisscholle sich in einem Wasserwirbel
+querstellt und sich eine glashelle Ecke, in der die Strahlen der
+untergehenden Sonne sich widerspiegeln und wie in einem Prisma spielen,
+über die Oberfläche des Wassers erhebt. Kahl und schwarz stehen die
+Pappelstämme da und strecken ihre knorrigen, dürren Arme über den Fluß
+hin, noch im Tode seine lebenspendende Flut segnend.
+
+Wieder wurde der Fluß so krumm, daß ich täglich oft ein paar hundert
+Kompaßpeilungen machen mußte, um alle Bogen auf der Karte eintragen
+zu können. Wir hatten noch einen Lopmann als Cicerone angestellt, der
+uns in einer mit Eis bedeckten Lagune im Vorbeifahren einige Fische
+fing. In derartigen klaren, stillen Wasseransammlungen pflegen die
+Fische sich gern aufzuhalten. Das Netz wird quer vor der Mündung der
+Bucht ausgespannt, und es war lustig anzusehen, wie geschickt der
+Fischer seinen Kahn führte. Im Achter stehend trieb er den Kahn mit dem
+breitblätterigen Ruder in sausender Fahrt über das Netz hinweg auf das
+in der Mündung spröde Eis, das unter dem Gewichte des Kahnes brach und
+dann mit dem Ruder bis ans Binnenende der Bucht zerschlagen wurde. Die
+Schollen wurden in die Strömung hinausgeschoben und die Fische mit dem
+Ruder nach dem Netze hingejagt, das dann in den Kahn gezogen wurde. Ist
+das Eis zu stark, so werden die Fische nur durch Ruderschläge gegen
+seine Decke aufgescheucht. In den großen Uferseen wird der Fischfang
+auch im Winter und selbst wenn sie ganz vom Flusse abgeschnürt sind,
+betrieben.
+
+Am 20. November führte die Richtung des Jumalak-darja auf der letzten
+Strecke der Tagereise ganz gerade nach Ostnordost. In weiter Ferne
+entdeckten wir mit dem Fernrohre etwa zehn Männer am Strande, bei
+denen wir Halt machten. Es waren die Beks der in der Nähe des Flusses
+liegenden Ortschaften Tograk-mähälläh und Kara-tschumak. Sie teilten
+uns mit, daß sie von Fu Tai, dem Generalgouverneur von Urumtschi,
+Befehl erhalten hätten, einem „Tschong mähman“ oder vornehmen Gaste,
+der den Jarkent-darja herunterfahre, entgegenzukommen. Die Chinesen
+behielten uns also, wenn auch sehr von weitem, im Auge, und das
+Gerücht von der Reise auf dem Wasser hatte sich weit verbreitet. Doch
+niemand wußte, woher wir kamen und wo unsere Reise enden sollte; alle
+fanden nur, daß wir sehr sonderbare Geschöpfe seien. Mehr als zwei
+Jahre später fragten mich indische Kaufleute in Ladak, ob ich nichts
+von einem weißen Manne wüßte, der mehrere Monate lang einen großen Fluß
+im Norden hinabgesegelt sei; auf dem Indus, erklärten sie, würde eine
+solche Fahrt unmöglich sein.
+
+Junus Bek, der vornehmste unserer neuen Freunde, erwartete uns seit
+mehreren Tagen und war schon flußaufwärts geritten, aber wieder
+umgekehrt, da er von einer Fähre nichts hatte erblicken können.
+
++Ketschik+, der Punkt, an dem wir jetzt lagerten, ist von großem
+Interesse. Der Name bedeutet „Furt“, weil hier die Straße zwischen
+Kakte und Karaul den Fluß kreuzt, wie gewöhnlich an einer geraden
+Stelle, wo der Grund keine tiefen Gruben hat. Hier gähnt links ein
+mächtiges, mit Schlamm gefülltes Bett. Ich erfuhr, daß dieses Bett
+der frühere Lauf des Tarim gewesen und der Fluß darin mindestens 50
+Jahre geströmt habe, da die Greise es schon in ihrer Kindheit gekannt
+hätten. Vor vier Jahren habe der Fluß seinen Lauf verändert und dieses
+alte Bett so vollständig verlassen, daß nicht einmal während der
+Hochwasserperiode ein Tropfen dort hineinlaufe. Der neue Lauf, dessen
+Wiedervereinigung mit dem alten Bette wir erst nach mehreren Tagen
+erreichen sollten, zieht sich nach Südosten durch öde Gegenden, wo
+es früher nur Uferseen gegeben hatte. Es ist eine neue Illustration
+der Veränderungen der Gewässer dieser Gegenden, die zunehmen, je
+weiter abwärts wir kommen und je geringer der Fallwinkel des ganzen
+Tarimbeckens wird. Wenn der Fluß schließlich im Lop-nor-Gebiete selbst
+in völlig ebenes Terrain übergeht, hört alle Ordnung auf, und eine
+Karte hat nur während der Zeit ihrer Aufnahme Gültigkeit. Flüsse wie
+Seen verändern hier ihre Lage und Wassermenge von Jahr zu Jahr, und
+derjenige, welcher den Lauf des Flusses bis zu seiner Auflösung und
+Vernichtung mitgelebt hat, versteht, daß auch sein Endpunkt, der
+Lop-nor, ein wandernder See sein +muß+, ein See, der periodisch
+von Norden nach Süden und von Süden nach Norden wandert, ganz wie das
+Messinggewicht am Ende eines schwingenden Pendels. Das Pendel hier ist
+der Tarim. Es mag sein, daß die Perioden ein paar hundert Jahre lang
+sind, aber in der Geschichte der Erde verschwinden sie wie Schwingungen
+des Sekundenpendels.
+
+Die seltsame Gegend, die wir in den folgenden Tagen durchstreifen
+sollten, war auch den meisten Eingeborenen ein unbekanntes Land, denn
+dort hätten sie nichts zu tun, erklärten sie. Doch so viel wußten sie,
+daß der neue Wasserlauf an einigen Punkten Gefahren und Schwierigkeiten
+biete, und Junus Bek hatte daher einige Kundschafter mit Kähnen
+vorausgeschickt, um uns da, wo es aufpassen hieß, zu warnen (Abb. 42).
+
+Der 21. November war unser erster Tag auf dem neuen Flusse, wo die
+Stromgeschwindigkeit manchmal 100 Meter in der Minute überstieg. Die
+Beks mit allen ihren Geschenken wurden an Bord verstaut, und vor uns
+gingen zwei Lopkähne, der eine davon mit vier Ruderern. Dieser sah von
+hinten prächtig aus, denn er war schmal wie eine Wanne, alle Männer
+ruderten im Stehen, aber nur der letzte Mann war sichtbar, und die
+vier Ruder wurden ohne Takt ins Wasser getaucht. Noch wuchs das Schilf
+ziemlich dicht aber struppig durcheinander und stand in Gürteln und
+unterbrochenen Feldern. Die Richtung des Bettes ist unbestimmt; große,
+abgerundete Bogen gibt es nicht, wohl aber kleine, die sozusagen nach
+dem einzuschlagenden Kurse umhersuchen und tasten. Die Wassermasse
+teilt sich unaufhörlich um kleine Holme, wo man den verkehrten Weg
+einschlagen könnte, wenn nicht die Kähne vorausgingen und die Ruderer
+mit den Rudern sondierten (Abb. 43). Enge Passagen, steckengebliebene
+Pappelstämme, Anhäufungen von Kamischwurzeln und Reisig, scharfe Ecken
+und rauschende Stromschnellen halten uns in beständiger Spannung. Daß
+das Bett sich neugebildet hat, sieht man auch daran, daß hier und dort
+mitten darin frische Pappeln stehen, die aber zum Tode verurteilt
+sind. Sie waren so gefährlich und drohend, daß wir das Zelt und das
+meteorologische Häuschen abnehmen mußten. Rechts hatten wir eine ganze
+Reihe Seen; der letzte von ihnen heißt +Buja-köll+ und mündet
+wieder in den Hauptfluß ein; der Vereinigungspunkt bildet ein Labyrinth
+von kleinen Eilanden.
+
+Hinter dieser Stelle tritt die +Tschong-ak-kum+, wie die große
+Sandwüste hier genannt wird, auf. Die Dünen rücken uns auf beiden
+Seiten immer näher, und der Vegetationsgürtel schrumpft plötzlich
+zusammen.
+
+Als die Dämmerung hereinbrach, siedelte ich in die Jolle über und
+folgte dem Geschwader der Lopleute. Mit schwindelnder Fahrt ging es
+über kleine Wasserfälle, und man befand sich in ununterbrochener
+Spannung. Als wir in die Sandwüste hineinkamen und auf beiden Seiten
+hohe Dünen hatten, wurde es Nacht, und wir machten Rast. Die Lopleute
+hatten Treibholz in ihren Kähnen gesammelt, und bald erhellten zwei
+schöne Feuer die Wüstenlandschaft und ihren unverhofften Gast, den
+Jumalak-darja. Der Fluß wird hier auch Tärim, Jangi-darja oder
+Tschong-darja genannt.
+
+22. November. Der Jumalak-darja fließt nach Südosten; sein vier
+Jahre altes Bett bohrt sich durch die peripherischen Teile des öden
+Wüstenmeeres, und die Dünen, die es gewagt haben, sich ihm in den Weg
+zu stellen, sind von unwiderstehlichen Wassermassen über den Haufen
+geworfen worden. Der Sand ist ohnmächtig dieser wilden Kraft gegenüber,
+die, den Fallgesetzen gehorchend, die tausendjährige Wüste durchbricht,
+sich zwischen den aufgestellten Sandwogen einen Weg bahnt und an ihrer
+Basis zehrt.
+
+Auf beiden Seiten erheben sich Dünen bis zu 15 Meter Höhe, auf
+dem rechten Ufer aber, wo der Sand mächtiger ist, ist er oft auch
+unfruchtbar. Dann und wann passieren wir eine einsame Pappel, während
+die Tamarisken, diese Kinder des Wüstensandes, recht zahlreich
+auftreten und schmale Kamischbänder sich meistens an beiden Ufern
+hinziehen. Es ist merkwürdig, daß die Dünen eine so feste Basis
+haben können, daß sie aus der Wasserfläche als ganz senkrechte Wand
+emporsteigen können; dies kommt daher, daß sie unten feucht sind.
+Höher hinauf ist der Sand ebenso lose wie gewöhnlich; er rieselt in
+kleinen Furchen an der Düne herunter und bildet da, wo die senkrechte
+Wand anfängt, kleine Kaskaden und Fälle, und er fährt so lange fort zu
+rinnen, als er von oben herab Zufuhr erhält; läuft aber das Stundenglas
+ab, so ist die Düne tot und von Wind und Wellen fortgetragen. Doch
+unter anderen Formen wird sie wieder auferstehen und ihre rastlose
+Wanderung fortsetzen. Auch das Wüstenmeer hat sein Leben, das hier
+ebenso gesetzmäßig pulsiert wie im Schatten der Palmen.
+
+Auf diesen unglaublich öden Ufern sah alles tot aus; keine Menschen,
+keine Tiere, nicht einmal Raben und Geier, diese Gäste der Einöden. Nur
+ein „Saldam“ war in einer Pappel zu sehen; es ist eine aus Ästen und
+Zweigen geflochtene Art Nest, in dem sich der Schütze versteckt, wenn
+er auf die Antilopen wartet, die bei Sonnenaufgang zur Tränke kommen.
+Wieder sind wir von Friedhofstille umgeben; kein Gruß dringt aus der
+Tiefe der Wüste zu uns, nur die Strömung singt dem Sande ihr murmelndes
+Lied, das auf den Lippen des Tarim bald im Froste erstarren wird.
+
+Dieselbe Strömung führt uns mit jeder verrinnenden Stunde immer tiefer
+in die Dünen hinein. Mit seltsamen Gefühlen gleitet man in diesem
+unbekannten Lande, das nicht einmal unsere Lopmänner je besucht hatten,
+auf dem Wasser dahin. Jetzt, wenn jemals, dienten sie als Avisos.
+Sie senken die Ruder ins Wasser und verschwinden in der nächsten
+Biegung, sie sind eine Weile außer Sicht, tauchen aber wieder vor uns
+auf, sobald sie eine kritische Stelle bemerkt haben. Sie umfahren
+uns wie Schaluppen eine Fregatte, gehen dann voraus und zeigen das
+Fahrwasser. Und die schwere Fähre gleitet ruhig den Jumalak-darja
+hinab. Wunderbar, diese Sandwüste -- auf dem +Wasser+ zu
+durchkreuzen; einst war ich in derselben Wüste aus Mangel an Wasser
+fast verschmachtet!
+
+Einmal verkündeten die Kahnleute, daß sich der Fluß in fünf Arme teile.
+Sie führten uns nach demjenigen, den sie für den größten hielten.
+Das Wasser schäumte weiß zwischen ein paar Reisigholmen; es galt,
+den rechten Kurs zu halten. Die Fähre glitt in den Durchgang hinein,
+schrammte auf beiden Seiten, gelangte wieder in offenes Wasser und
+stieß dort auf Grund. Das Bett war querüber gleichmäßig seicht, aber
+vorwärts mußten wir, und wir kamen auch über diese Stelle hinweg, dank
+den wenigen Zentimetern, die das Wasser während des letzten Tages
+gestiegen war; wäre es um ebensoviel gefallen, so wäre es uns schlimm
+gegangen. Wie oft streifte der Boden der Fähre unmittelbar über Bänke
+und Untiefen hin, ohne daß wir es ahnten! Vielleicht oft so dicht, daß
+nicht ein Blatt Papier dazwischen Raum gefunden hätte. Noch war uns
+aber der Fluß gewogen, noch führte er uns vorwärts, dem Ziele entgegen.
+
+In einem Tograkhaine, wo wir eine Weile landeten, waren sehr viele
+Tigerspuren. Wir gingen eine Strecke landein und hielten von Hügeln
+Ausschau, doch ist es mir nie geglückt, dieses grausame, in seiner
+imponierenden Kraft dennoch fesselnde Tier zu Gesicht zu bekommen.
+
+Der ganze Jangi-darja oder „neue Fluß“ gibt uns wieder einen Beweis für
+die Neigung des Flusses, nach rechts zu drängen. Am linken Ufer finden
+wir, daß das Wasser nach dem Flusse zurückstrebt, am rechten, daß es
+sich von ihm zu trennen sucht, um das Terrain immer weiter nach rechts
+hin vorzubereiten. In alten Zeiten ergoß sich der Tarim in den alten,
+nördlichen See Lop-nor, jetzt mündet der Fluß in den südlichen; diese
+Verlegung der Mündung war ein Riesenschritt nach rechts.
+
+Während der letzten Tage sahen wir nicht viel Eis; die Strömung war
+zu reißend, als daß es sich hätte ansetzen können. Doch ging die
+Temperatur schon gegen 8 Uhr auf -6 Grad herunter. Mit jedem Tage
+wird der Wettlauf zwischen uns und dem Zufrieren des Flusses immer
+interessanter. Viele Tage konnten wir nicht mehr vor uns haben, denn
+die Kälte wurde von Nacht zu Nacht größer. Doch so lange wir die Fähre
+behalten durften, war es herrlich, und mit Zittern und Zagen dachte
+ich an den Tag, an welchem wir gezwungen sein würden, uns von unserem
+gesicherten Heim zu trennen und unsere schwimmende Wohnung im Stiche zu
+lassen. Wie man das Haus liebt, in dem man lange behaglich gewohnt hat,
+so würde ich diese Flotte, die uns so treu durch Ostturkestan getragen
+hatte, vermissen. Ich würde die große Annehmlichkeit vermissen, Tag
+und Nacht das Lager aufgeschlagen zu wissen, alles fertig und alles
+bereit zu haben, keine Arbeit zu haben mit Belasten und Abladen,
+Zeltaufschlagen und Füttern der Karawanentiere. Jeden Augenblick hatte
+ich die Dunkelkammer zur Verfügung und brauchte nur meine Hand mit
+einem Becher auszustrecken, um ihn mit süßem, kaltem Wasser gefüllt
+zurückzuziehen.
+
+Am 23. November hatten wir noch immer 70,7 Kubikmeter Wasser. Es langte
+also noch, aber das Eis -- wann würde dieses uns den Weg abschneiden?
+Wir wollten vorwärtsgehen, bis wir die Eisfesseln nicht mehr sprengen
+konnten, und wenn wir dann einfrören, würden wir ins Winterquartier
+gehen, ein großes Lager anlegen und die Karawane aufsuchen. Landeten
+wir in einer waldlosen Gegend, so sollte der Rumpf der Fähre Stück für
+Stück als Brennholz verwendet werden. Die alte, gute Fähre! Es sollte
+ihr Lohn sein, daß sie uns, nachdem sie uns ans Ziel getragen, auch im
+Loplande an den Winterabenden Licht und Wärme spendete!
+
+
+
+
+Elftes Kapitel.
+
+Im Kampf mit dem Treibeise.
+
+
+Am Anfange unserer Fahrt vom 24. November machte der jetzt von Wald
+begleitete Tarim ein paar große Bogen und nahm darauf die Form eines
+ziemlich regelrechten ~W~ an. Dann und wann begegneten wir
+Lopfischern; an Stangen vor ihren provisorischen Hütten sahen wir lange
+Reihen von zum Trocknen aufgehängten Fischen. Hier und dort hing eine
+getrocknete Fischhaut an einer Stange am Ufer. Dies bedeutete, daß
+hier nicht von jedermann gefischt werden durfte und daß der, welcher
+herkömmlicherweise hier Anspruch auf die Fischereigerechtigkeit erhob,
+sein Wahrzeichen aufgerichtet hatte.
+
+An einer gefährlichen Stelle hing es an einem Haar, daß wir Schiffbruch
+gelitten hätten. Es war eine scharfe Biegung, wo die ganze Strömung
+unmittelbar am Fuße der Erosionsterrasse entlang ging. Eine dadurch
+unterminierte gewaltige Pappel war über den Fluß gefallen und lag, etwa
+einen Meter über der Wasserfläche, wagerecht gerade über demjenigen
+Drittel der Breite, wo die Strömung war (Abb. 44). Die übrigen beiden
+Drittel nahm ein langsam kreisender Wirbel mit Gegenströmung ein. Ein
+Lopkahn konnte mit Leichtigkeit unter dem Stamme durchgleiten; wäre
+aber die Fähre damit in Kollision geraten, so wären Zelt, Kisten und
+schwarze Kajüte unfehlbar über Bord gefegt worden, und wäre die Fähre
+dabei in eine schräge Lage gekommen und hätte ihr Oberbau genügenden
+Widerstand geleistet, so wäre sicher die ganze Herrlichkeit gekentert.
+Es wäre zu einer Kraftmessung zwischen dem Oberbau und der Pappel
+gekommen, und der Baum war so massiv, daß er ganz danach aussah, es mit
+jedem aufnehmen zu können.
+
+[Illustration: 44. Drohender Schiffbruch. (S. 112.)]
+
+[Illustration: 45. Kähne auf dem unteren Tarim. (S. 115.)]
+
+[Illustration: 46. Tokkus-kum, das Nordufer der Sandwüste. (S. 115.)]
+
+[Illustration: 47. Dorf Al-kattik-tschekke. (S. 116.)]
+
+Gerade an diesem Punkte ging die große Fähre der Flottille voran und
+glitt sorglos auf ihrer ruhigen Bahn dahin, ohne an einen Hinterhalt
+zu denken, als Palta just in dem Augenblicke, da wir in den Sog der
+Strömung hineintrieben, einen verzweifelten Schrei ausstieß, denn
+wir hatten nur einige zehn Meter die Pappel wie eine Barriere vor
+uns. Die Stangen reichten hier nicht bis auf den Grund, weshalb
+die Männer paarweise zu den neugezimmerten Stoßrudern griffen. Das
+war ein Geschrei und eine Aufregung! Mit rascher Fahrt trieben wir
+auf die Pappel zu und sahen, wie ernst die Lage war. Die Strömung
+bildete gerade an dieser Stelle einen kleinen Wasserfall, und die
+Geschwindigkeit war so groß, daß ein Schiffbruch das Werk eines
+Augenblickes hätte sein können. Der Gedanke durchzuckte mich, daß ich
+wenigstens die fertigen Kartenblätter und die Notizbücher retten müßte,
+denn bei einem Schiffbruche in diesem Strudel würde alles in der trüben
+Wassertiefe verloren gehen. Die Leute arbeiteten mit grimmiger Kraft.
+Islam und der Bek standen vorn, bereit, die Pappel anzupacken und so
+den Stoß abzuschwächen. Da gelang es den Lailikmännern im letzten
+Augenblick, die Fähre mit Gewalt aus der Strömung heraus- und in den
+Wirbel hineinzustoßen, wo sie sich langsam im Kreise drehte und in die
+Gegenströmung hineinglitt. Natürlich wäre sie wieder nach der Pappel
+hingetrieben, wenn nicht Alim ins Wasser gesprungen, das nur 1,4 Grad
+warm war und ihm bis an die Achselhöhlen reichte, und mit einem Tau
+auf das linke, niedrige Ufer geklettert wäre. Er zog uns dann an der
+gefährlichen Stelle vorbei.
+
+Während wir uns im Wirbel drehten, sausten Kasim und Kader mit der
+kleinen Fähre und der Jolle an uns vorbei, ebenfalls gerade auf die
+Pappel los. Sie führten jetzt ein geschicktes Manöver aus. Sie waren
+vor dem Ungetüm gewarnt worden und hatten rechtzeitig die Jolle
+losgemacht, die sie im Vorbeifahren mit einem kräftigen Stoße nach der
+großen Fähre hintrieben. Mit Hilfe ihrer Ruder war es ihnen gelungen,
+so dicht an das rechte Ufer heranzukommen, daß Kasim mit einer Leine
+an Land springen konnte. Die kleine Fähre war indessen schon bei der
+Pappel angelangt, und es fehlte nicht viel zu einer Havarie, um so mehr
+als Kasim sich an den Ästen festhalten mußte, um nicht über Bord gefegt
+zu werden.
+
+Hätte dieses Abenteuer in dunkler Nacht stattgefunden, so wäre das
+Zufrieren des Flusses an der Unterbrechung der Wasserreise unschuldig
+gewesen. Doch auch diesmal hatten wir das Glück als Gast an Bord und
+trieben flußabwärts weiter. Mit jedem Tage stieg die Verwunderung
+der Lailikmänner. Sie meinten, der Fluß müsse doch einmal ein Ende
+nehmen, aber er eile immer weiter nach Osten. Es schwindelte ihnen
+beim Gedanken an die wachsende Entfernung, und sie konnten sich keinen
+klaren Begriff davon machen. Es war ihnen nur, als sei ihr Haus und
+Heim in Lailik in weiter Ferne hinter Stürmen und Nebeln, Sandwüsten
+und undurchdringlichen Wäldern verschwunden.
+
+An Bord war es wieder ruhig, und die Klänge des Symphonions
+beherrschten bei Sonnenuntergang die Stimmung. Islam brachte mir
+gerade einen Teller mit frischgekochtem Fisch, der delikat duftete:
+da ertönten wilde Hilferufe von flußaufwärts, wo Kasim und Kader
+hinter uns zurückgeblieben waren. Das Geschrei war so durchdringend
+und angstvoll, daß wir alle bestürzt waren. Ich gab Befehl sofort
+zu landen, aber die Fähre befand sich mitten auf dem Flusse, und es
+dauerte eine Weile, ehe die Leute sie ans rechte Ufer bringen konnten.
+Ich fürchtete, daß einer der Männer am Ertrinken oder schon ertrunken
+sei.
+
+Sofort nach dem Landen eilten alle Männer durch Schilf und Gestrüpp das
+Ufer hinauf. Ich sollte unverzüglich Nachricht über das Vorgefallene
+erhalten. Bald kam einer der Lopmänner mit dem Berichte, daß die
+Proviantfähre an einem aus dem Flußgrunde aufragenden Baumstumpfe,
+der kaum bis an die Oberfläche reichte und nicht beachtet worden sei,
+gekentert sei. Da kein Menschenleben verloren gegangen, war ich wieder
+beruhigt und verzehrte meine inzwischen kaltgewordene Portion Fisch.
+
+Jetzt folgte ein tragikomisches Schauspiel. Auf der Oberfläche der
+Strömung kamen viele unserer Sachen in vergnügtem Durcheinander
+fröhlich angetanzt; ihnen auf den Fersen folgten die Lopkähne, um
+aufzufischen, was sich noch retten ließe. Da sah man Eimer und
+Schüsseln, Kisten mit Mehl und Obst, Brotfladen, schwimmenden gelben
+Seerosen vergleichbar, Stangen, Ruder und andere leichte Dinge. Einige
+Sachen waren an der Unglücksstelle selbst, wo auch unsere beiden Schafe
+an Land geschwommen waren, gerettet worden, verschiedenes aber, wie
+eine Metallaterne, eine Axt, ein Spaten u. dgl., war unwiederbringlich
+verloren.
+
+Jetzt lagerten wir da, wo wir waren, und Islam und Alim zündeten ein
+paar gewaltige Feuer an. Erst spät abends, nachdem ich mehrere Stunden
+in der Dunkelkammer gearbeitet hatte, kehrten die anderen mit den
+verunglückten Booten und deren klatschnassem Inhalt zurück. Kasim war
+sehr niedergeschlagen; er habe aber dem Mißgeschicke nicht vorbeugen
+können. Sie waren in einen Stromwirbel geraten, wo sie einem auf Grund
+gestoßenen Stamme auszuweichen versucht hatten, und waren darauf von
+der Strömung unwiderstehlich einem anderen zugetrieben worden, den sie
+nicht gesehen und vor dem sie sich nicht mehr hatten hüten können. Die
+Jolle erhielt den ersten Stoß und einen langen Riß an der einen Seite,
+glücklicherweise über der Wasserlinie. Kader, der nicht schwimmen
+konnte, hatte sich in die Jolle gerettet, als die Fähre kenterte,
+Kasim aber schwang sich auf den Stamm und blieb dort, um Hilfe rufend,
+sitzen, bis der Kahn anlangte. Sie hatten dann nach den verlorenen
+Sachen gesucht, das Wasser aus der Fähre und der Jolle geschöpft und
+sich schließlich zu uns begeben, wo Männer und Sachen an den Feuern
+nach und nach trocken wurden.
+
+25. November. Die „Schang-ja“ oder Beke von Tschong-tograk und Arelisch
+erwarteten uns heute und hatten ein paar Kähne mitgebracht, so daß
+unser Geschwader jetzt zehn Fahrzeuge zählte, die in feierlicher
+Prozession den Fluß hinabglitten (Abb. 45). Die beiden Beke nahmen
+rechts und links von Palta Platz und halfen beim Rudern, so daß wir
+jetzt etwas schneller als die Strömung gingen. Meine eine Jollenhälfte
+wurde zur allgemeinen Heiterkeit von einem ungeübten Schiffer
+manövriert, während Islam damit beschäftigt war, ein Stück Leder über
+den Riß der anderen Hälfte zu nähen. Bei +Tokkus-kum+ (neue Dünen)
+lagerten wir (Abb. 46). Unsere muhammedanischen Freunde glaubten, wenn
+das Wetter still bleibe, könnten wir die Reise noch 20 Tage fortsetzen;
+nach einem Buran aber könne der Fluß in einer einzigen Nacht zufrieren.
+Er gefriere von der Mündung aufwärts, also gegen die Strömung. Sie
+wollten beobachtet haben, daß das Wasser um so schneller fließe, je
+kälter es sei, was theoretisch richtig sein mag, für das Auge aber kaum
+bemerkbar ist.
+
+Am folgenden Tage trieben wir gerade auf die höchsten Partien von
+Tokkus-kum zu, riesenhafte, außerordentlich imponierende Anhäufungen
+von gelbem Flugsand. Sie sind ein Ausläufer der großen Wüste, die hier
+bis an das rechte Ufer des Flusses heranreicht: die Basis der Dünen
+wird vom Wasser zerfressen und unterwühlt. Es war die gewaltigste
+Sandanhäufung, die ich gesehen habe. Die Fähre legte am linken Ufer an,
+und wir ruderten in Kähnen hinüber und erstiegen die losen Abhänge,
+auf denen man in den Sand einsinkt und mit ihm abrutscht. Endlich
+erreichten wir doch den Kamm der äußersten Düne, die sich wie eine
+steile Wand über dem Flusse erhebt. Hier liegt dem Beschauer eine
+selten großartige Landschaft zu Füßen, und man erstaunt über die
+eigentümlichen Formen, in welchen die tätigen Kräfte der Erdrinde
+Gestalt angenommen haben. Wohl bin ich früher durch das Meer der Wüste
+und über berghohe Dünenkämme gewandert und habe über ihre erstarrten
+Wogen von Sand und wieder Sand hingeschaut, und nach Süden hin breitete
+sich auch jetzt eine solche Landschaft aus. Hier aber standen wir an
+der nördlichsten Grenze der Sandwüste, und zwar an einer so scharfen
+Grenze, wie man sie nur an den Küsten eines Meeres oder an den Ufern
+eines Sees findet. Die äußerste Dünenreihe bildet eine Mauer, einen
+Wall, einen geschweiften Bogen von lauter Sand, der in einem Winkel
+von 32 Grad unmittelbar nach dem Wasser abstürzte. Die Feuchtigkeit,
+die das Flußband sowohl in Gestalt reichlicher fallenden Taus wie
+als mechanisch aufgesogene Nässe begleitet, verleiht hier dem Sande
+kräftigeren Halt als im Inneren der Wüste; dadurch entsteht das
+eigentümliche Relief von Einsenkungen, Terrassen und Kegeln, das
+man auf der Abbildung 46 sieht. Die Erosion an der Basis der Düne
+verursacht unaufhörlich Sandrutsche; der Sand stürzt hinunter und
+bildet Kegel. Der fortgeschwemmte Sand lagert sich nicht weit davon
+ab und bildet Bänke und Anschwemmungen. Wenn man diese Sandmauer von
+dem gegenüberliegenden linken Ufer betrachtete, sah sie ganz senkrecht
+aus, und man glaubte, die Männer würden sich den Hals brechen, als sie
+ungestüm den Abhang hinunterliefen und neue Abstürze und Rutsche des
+Sandes verursachten. Die Dünen waren hier ungefähr 60 Meter hoch; die
+Männer oben auf dem Kamme erschienen verschwindend klein.
+
+Die Aussicht über den Fluß war großartig. Tief unter uns schlängelte
+sich das Wasser wie in einem Kanal und verschwand im Osten in bizarren
+Bogen. Auf der östlichen Flanke dieser kolossalen Sandanhäufung war
+die Grenze ebenso scharf; dort setzte ohne jeden Übergang Tograkwald
+ein, und die Pappeln standen in üppigen Gruppen unmittelbar am Fuße der
+Ostabhänge der Dünen.
+
+In +Al-kattik-tschekke+ wohnt Bek Istam und mit ihm zehn Familien
+in Hütten von Stangen und Kamisch (Abb. 47). Die Hütten liegen alle
+auf einem Haufen, um Kälte, Wind und Sommerhitze möglichst abzuhalten.
+Die ganze Bevölkerung -- etwa 40 Personen, Männer, Weiber und Kinder
+in schreienden Farben, zerlumpt und häßlich -- wurde auf einer Platte
+verewigt; darunter war ein neunzigjähriger Greis, der vor 60 Jahren
+vom Kara-köll hierher gekommen war. Er kauerte am Feuer, war blind und
+klagte darüber, daß er seine Söhne verloren habe und sich jetzt niemand
+seiner annehme. Er erzählte von den wechselnden Betten des Tarim, aber
+das Gedächtnis hatte nachgelassen, und seine Angaben waren daher nicht
+zuverlässig.
+
+Nachdem wir den Fluß gemessen hatten, der jetzt 75,4 Kubikmeter Wasser
+in der Sekunde führte, fischte Istam Bek in einer mit 4 Zentimeter
+dickem Eise bedeckten Bucht innerhalb einer Schlammbank. Die Fischerei
+wurde wie Seite 106 angegeben betrieben, mit dem Unterschiede, daß
+jetzt zwei Netze benutzt wurden. Das erste wird in die Mündung
+gelegt, dann wird ein etwa 10 Meter breiter Eisgürtel aufgehauen;
+an dem neuen Eisrande wird das zweite Netz hinabgesenkt und mit dem
+ersten verbunden. Das Wasser ist nur einen Meter tief. Es ist jedoch
+wahrscheinlich, daß sich die Fische bei dem Lärm in den innersten
+Teil der Bucht zurückziehen. Nun wird wieder ein Gürtel von 10 Meter
+Breite aufgehauen und an dem neu entstandenen Eisrande das erste Netz
+ausgespannt. Dieses Manöver wird so lange wiederholt, bis nur noch
+der innerste Teil der Bucht freibleibt; es ist dann leicht, alle dort
+vorhandenen Fische zu fangen. Das Netz wird durch am unteren Rande
+angebrachte Steine und am oberen befestigte trockene Binsen im Wasser
+vertikal gehalten. An dem Schwanken dieser Binsen sieht man, wenn ein
+Fisch sich in den Maschen gefangen hat; dann wird der verdächtige Teil
+des Netzes behende mit dem Ruder emporgehoben und der Fisch mit einem
+Knüppel auf den Kopf geschlagen und ins Boot geworfen.
+
+Unsere Tage waren jetzt gezählt, das war sonnenklar; denn wenn sich
+auch die Temperatur des Wassers bei Tag ein wenig über Null hielt,
+so war sie doch nachts unter dem Gefrierpunkt, und morgens waren die
+Fähren eingefroren und mußten erst losgehauen werden. Die Lopleute
+hatten uns darauf vorbereitet, daß, sobald das erste Treibeis sich zu
+zeigen anfinge, es nur noch zehn Tage bis zum gänzlichen Zufrieren
+dauern würde. Mit steigender Spannung erwarteten wir diesen Augenblick.
+Er trat am 28. November ein. Als ich am Morgen aus dem Zelte kam, fand
+ich den ganzen Fluß mit porösem, weichem Eisschlamme übersät, kleinen
+Nadeln und Kristallen, die sich auf dem Grunde, jedenfalls unter der
+Wasserfläche bilden und sich zu Fladen und Schollen, die auf der
+Oberfläche oft schneeweiß sind, vereinigen. Dieses Treibeis, welches
+ein sicheres Anzeichen des nahe bevorstehenden Zufrierens des Flusses
+ist, wird „Kömul“ oder „Kade“ genannt. Es treibt die Fische aus dem
+Flusse in die Buchten und die Uferlagunen. Wenn sich Kömul zeigt, weiß
+man also, wo man mit größter Aussicht auf guten Fang die Netze auslegen
+muß. Dann sind auch alle Lopleute draußen, um ihren Vorrat für den
+Winter einzusammeln.
+
+Der Morgen war düster und kalt und der Himmel umwölkt. Mit Beilen und
+Brechstangen wurden die Boote aus ihren nächtlichen Banden befreit,
+doch sie hatten an der Wasserlinie einen Eisrand, der den ganzen Tag
+sitzenblieb. Um ihre Kähne zu schützen, ziehen die Lopmänner sie nachts
+aufs Land. Alles ist gefroren; unsere Seile sind hart wie Holz, und der
+Strommesser steckt in einer Eishülse, die vor der Benutzung aufgetaut
+werden muß. Wir heizten vorn und im Achter und froren trotzdem, aber
+die Leute waren guten Mutes und sangen den ganzen Tag; ich argwöhne,
+daß die Männer von Lailik gar nichts gegen das Einfrieren hatten, für
+sie bedeutete es ja, daß die Reise zu Ende war und sie wieder nach
+Hause zurückkehren konnten.
+
+Wir schoben die Fähre in das Treibeis hinaus und folgten seinen
+tanzenden Schollen. Das Beobachten ihrer Bewegungen bot eine
+Abwechslung, ein neues Interesse für die Besatzung. Wie die Fähre
+waren auch die Schollen gehorsame Sklaven der Launen der Strömung. Sie
+wurden in die Stromfurche hineingezogen, wo sie stets am zahlreichsten
+waren; sie gerieten in Wirbel hinein, wo sie sich im Kreise drehten,
+bis es dort so voll wurde, daß einige wieder in die Strömung
+hinausgedrängt wurden; sie blieben stecken, wo Bänke unmittelbar unter
+der Oberfläche lagen, und sie sagten uns oft, nach welcher Richtung die
+Fähre gesteuert werden müsse. Munter, kleinen Inseln gleich, trieben
+sie den Fluß hinab, mit einem schnarrenden Geräusche schlugen sie
+gegeneinander, sie stießen gegen unsere Boote, zerschellten, taten sich
+wieder zusammen, trieben gegen die Ufer und drehten sich dort wieder
+im Kreise. Das Treibeis nahm jedoch im Laufe des Tages ab; um 1 Uhr
+war der größte Teil verschwunden, und um 4 Uhr sahen wir keine einzige
+Scholle mehr. Wir hatten jedoch die erste Warnung erhalten; in zehn
+Tagen würde der Fluß zugefroren sein.
+
+Während dieser Tagesfahrt war der Tarim außergewöhnlich launenhaft. Er
+erstreckte sich erst auf vielversprechende Weise nach Nordosten, dann
+aber machte er ganz unerwartet einen Bogen nach links, bis er auch am
+linken Ufer auf mächtigen Sand stieß, der ihn zwang, sich in tollen
+Krümmungen nach Nordnordosten zu wenden.
+
+In der Gegend +Siwa+ rasteten wir des Flußmessens wegen eine
+Weile. Vermutlich war es das letzte Mal, daß ich diese Arbeit nach
+der alten Methode ausführen konnte, denn die kleine Jolle, welche die
+Muhammedaner Kagas-kemi, das Papierboot, nannten, vertrug es nicht,
+zuviel mit dem Treibeise in Berührung zu kommen. Die Messung ergab
+72,45 Kubikmeter Wasser. Stellt man unter Berücksichtigung der vom
+Hochwasser stehengebliebenen Anzeichen eine annähernde Berechnung an,
+so findet man, daß der Fluß hier in der Hochwasserperiode mindestens
+173 Kubikmeter in der Sekunde führen muß.
+
+29. November. An diesem Morgen hatte der Winter wieder einen großen
+Schritt vorwärts gemacht. Die Kälte stieg jetzt nachts bis auf -16
+Grad, und das Wasserthermometer zeigte null Grad. Der Fluß sah seltsam
+fremd aus; seine Oberfläche war so mit weißen Treibeisschollen
+belastet, daß man glauben konnte, er sei über Nacht zugefroren und
+dann mit einer dicken Schneeschicht bedeckt worden. So schlimm war
+es jedoch nicht. Die weiße Masse war in unausgesetzter Bewegung wie
+eine rotierende Stufenbahn; es war wieder „Kade“ oder „Kömul“, das
+von Tag zu Tag mehr und größer wurde. Stand man am Ufer und fixierte
+diesen vorbeieilenden, weißglänzenden Streifen, so schwindelte es einem
+vor den Augen, bis der Streifen unbeweglich erschien, während man
+anscheinend selbst den Fluß hinabglitt.
+
+Wir hatten am Abend vorher einen sehr unglücklichen Lagerplatz
+gewählt, eine kleine Bucht, die am Morgen so fest zugefroren war,
+daß man ungehindert um die Boote herumspazieren konnte. Es dauerte
+infolgedessen eine ziemliche Zeit, bis ein Kanal in dem Eise nach dem
+Flusse hinaus aufgehauen war. An dem äußeren Rande der Eisscheibe
+leckte die Strömung, die auf ihm einen ganzen Wall von Treibeis
+auftürmte, der kreideweiß glänzte wie Schnee. Die Eisschollen waren
+größer und kompakter als gestern und wenn sie aneinander stießen,
+klirrte es wie zerbrochenes Porzellan. Auf der ganzen Fahrt klang
+es heute um uns herum wie das Glockenspiel einer fernen Kirche, und
+Millionen von Eiskristallen funkelten und spielten wie Diamanten im
+Sonnenschein. Das ununterbrochene Sausen und Pfeifen, das durch das
+Schmelzen der Eisnadeln entstand, und der blendende Lichtschein, der
+von ihnen ausging, wirkten betäubend, fast hypnotisierend auf die Sinne.
+
+Betrachtet man das „Kade“ genauer, so findet man, daß es aus lauter
+kleinen, außerordentlich dünnen, zusammengeballten Schuppen und Nadeln
+von Eis besteht, die nur da, wo sie sich über die Wasserfläche erheben,
+schneeweiß werden, unter dem Wasser aber dieselbe Farbe haben wie
+dieses. Die aus diesem leichten, wassergetränkten Materiale bestehenden
+Treibeisschollen haben selten mehr als einen Meter Durchmesser und eine
+runde Form, was von ihrem unaufhörlichen Reiben aneinander und an den
+Ufern kommt. Aus demselben Grunde trägt jede Scholle an der Peripherie
+einen etwa 10 Zentimeter hohen Wall, der weiß glänzt, während das
+Innere in der Höhe des Wasserspiegels eine gleichmäßige, blaugraue
+Fläche bildet und nach und nach zu einem festeren Fladen zusammenfriert.
+
+Wir sind von zahllosen weißen Ringen umgeben, den Grabkränzen des
+Flusses, welche verkünden, daß er bald unter seinem kalten Leichentuche
+zur Ruhe gehen wird (Abb. 48). Wie wir monatelang das Leben des Tarim
+mitgelebt haben, werden wir auch an seinem Begräbnis teilnehmen.
+
+Auch heute zehrte die Sonne energisch an den Eiskränzen, aber noch
+um 12 Uhr war die halbe Oberfläche des Flusses mit Treibeis bedeckt,
+und es verschwand nicht mehr; es fuhr fort zu schwimmen, wenn auch in
+gelichteteren Reihen.
+
+Der Fluß hat hier dieselben Charakterzüge wie der Jarkent-darja
+unterhalb Lailik; die großen, breiten Alluvialhalbinseln und Holme
+treten wieder auf, das Bett ist breit und wird von kräftigen
+Erosionsterrassen, auf denen dichter, alter Wald steht, eingeschlossen.
+
++Ansasch-kum+ ist eine hohe, unfruchtbare Sandpartie am rechten
+Ufer, so genannt nach einem alten, längst verstorbenen Pavan, der
+diese Düne zu besteigen pflegte, um nach Antilopen und wilden Kamelen
+auszuschauen. Letztere, die sich jetzt nie an den Ufern des Tarim
+zeigen, waren früher dann und wann durch die Wüste an den Fluß
+gekommen. Die Hirten in den Wäldern des Tarim haben keine Kenntnis von
+dem Vorhandensein des wilden Kamels; nur wenn man sie danach fragt,
+pflegen sie manchmal zu antworten, sie hätten gehört, daß es tief
+drinnen in der Wüste ein solches Tier gebe.
+
+Wohl eine Stunde trieben wir im Dunkeln bei Laternenschein, aber es
+gab ein nervenangreifendes Rufen und Schreien bei jeder Bank und jeder
+Untiefe. Als ich abends am Schreibtisch die Aufzeichnungen für den Tag
+machte, prallte jede vorbeitreibende Scholle gegen die Fähre, die dabei
+jedesmal knackte und erschüttert wurde.
+
+Längs der Ufer hat das feste Zufrieren endgültig begonnen, und die
+Eisränder nehmen täglich an Breite zu. Sie beschränken jedoch ihr
+Gebiet einstweilen noch auf stille Ufer, an denen keine Strömung
+entlang geht, oder auf Anhäufungen von im Flußbett steckengebliebenem
+Treibholz und Reisig.
+
+30. November. Das Treibeis fuhr die ganze Nacht fort, gegen die Fähre
+zu klirren und zu scheuern, aber es störte mich nicht in meinem
+ruhigen Schlafe. Der Fluß war kaum zur Hälfte damit bedeckt, und
+merkwürdigerweise verschwand es größtenteils, obgleich der Himmel
+bewölkt war und die Einwirkung der Sonne also fehlte. Der Tarim strömte
+außergewöhnlich schnell dahin; wir machten eine lange Fahrt und hatten
+zur Rechten immerfort den hohen Sand, der einer Bergkette glich, deren
+Formen an die nordtibetischen Ketten erinnerten. Menschen waren nicht
+zu sehen, auch kein Rauch, nur einige aufgerichtete Stangen, auf denen
+ein Pavan geschossene Antilopen aufzuhängen pflegt, um sie vor den
+Raubtieren zu schützen. Ein Fasan, ein Falke und einige Raben waren das
+einzige Leben, das wir bemerkten. Wildenten und Gänse sind schon längst
+spurlos verschwunden.
+
+Ich arbeitete täglich 14 Stunden von 6½ Uhr an, zu welcher Zeit das
+erste Kohlenbecken ins Zelt gebracht wird. Das Frühstück, gekochter
+Fisch, wird erst gegessen, wenn wir wieder abgestoßen haben, und auch
+das Mittagmahl wird an Bord serviert, weil das Geschirr dort nahe bei
+der Hand ist und die Landungsplätze in der Dunkelheit nicht immer
+leicht zugänglich sind. Die Zeit war jetzt so kostbar, daß keine
+Minute verloren gehen durfte. Mein „Friseur“ Islam mußte mir sogar am
+Schreibtische die Haare schneiden.
+
+[Illustration: 48. Treibeis auf dem unteren Tarim. (S. 119.)]
+
+[Illustration: 49. Blick vom rechten Tarimufer flußaufwärts (1.
+Dezember). (S. 120.)]
+
+[Illustration: 50. Die Fähre an der Mündung des Ugen-darja. (S. 126.)]
+
+[Illustration: 51. Begrüßung Parpi Bais und Islam Bais. (S. 126.)]
+
+1. Dezember. Der Tarim verändert seinen Charakter nicht. Er fließt in
+weitem Bogen nach Nordosten, von üppigem Wald begleitet, hinter welchem
+der gelbe Sand noch mächtiger zu werden scheint. Der Wasserstand ist
+derselbe geblieben. Wir gingen in einer Biegung an Land und machten
+von der Höhe des Sandes aus ein paar photographische Aufnahmen, von
+denen eine hier (Abb. 49) beigefügt ist. Der Unterschied zwischen den
+verschiedenen Teilen des Flusses tritt hier schärfer als je hervor.
+Das eigentliche Strombett ist grau und reich an weißen Eisringen; die
+Lagunen an den Seiten und innerhalb der Schlammablagerungen sind klar
+grünblau und mit 10 Zentimeter dickem, glashellem Eis bedeckt, das
+knackt und klingt, wenn man darauf geht. Im Südosten verliert sich der
+Blick in unendlich weite Ferne über unzählige Dünenkämme, und auch im
+Nordwesten zieht sich ein Sandgürtel hin, der jedoch nicht besonders
+umfangreich sein kann. Zwischen diesen beiden Gebieten erreicht die
+Breite des Vegetationsgürtels höchstens zwei Kilometer, obwohl einzelne
+Tamarisken sich hie und da ein wenig weiter fort vom Ufer verirren.
+Unmittelbar am Flusse hat das Ufer gewöhnlich einen Schilfrand.
+
+Ich wurde in aller Frühe von einem gewaltigen Knattern gegen den
+Boden der Fähre geweckt; es war das aufsteigende „Kade“. Es steigt
+fast gleichzeitig mit der aufgehenden Sonne; nachts ist es nicht
+zu sehen. Wenn man frühmorgens mit einer Stange auf dem Grunde
+entlang fährt, ist dieser hart und glatt wie Eis, später am Tage
+aber fühlt er sich weich und uneben wie gewöhnlicher Sand an. Dann
+ist das Kade bereits hochgegangen. Wenn das Treibeis an den Seiten
+der Fähre entlang schrammte, klang es ungefähr, als ob man mit einer
+Zuckerschneidemaschine Zucker zerkleinerte. Anfangs waren die Hunde
+auf diese neue, unerklärliche Erscheinung wütend und bellten die
+unschuldigen Eisschollen ohne Unterschied an, bald aber gewöhnten sie
+sich daran und liefen, als diese zahlreicher und dichter geworden,
+sogar auf ihnen an Land.
+
+Oft werden wir von dem Treibeise gewarnt. Es geht ebenso tief wie die
+Fähre und bleibt selbst stehen, häuft sich an, knattert und kracht,
+sobald das Wasser nicht tief genug ist. Die Lopmänner behaupteten, das
+Kade erhöhe die Geschwindigkeit des Wassers, was ich jedoch bezweifle,
+da diese ewigen Kollisionen eher die entgegengesetzte Wirkung haben
+müssen.
+
+Am 2. Dezember legten wir bei einer Geschwindigkeit von 66 Zentimeter
+in der Sekunde 23,17 Kilometer zurück, und die Windungen waren so
+unbedeutend, daß die Luftlinie nicht viel kürzer sein dürfte. Der Fluß
+stieg über Nacht ein wenig, aber das Wasser war noch immer ebenso
+trübe, was wohl zu einem nicht geringen Teile der auf dem Grunde
+vor sich gehenden Eisbildung zugeschrieben werden muß. Die äußerste
+Dünenwand des Sandmeeres tritt etwas zurück und ist schließlich nicht
+mehr zu sehen. Uferlagunen kommen noch immer vor; sie stehen mit dem
+Flusse durch einen schmalen Kanal in Verbindung, aber die Mündung des
+Kanals ist jetzt verstopft, so daß die dem Kade entflohenen Fische in
+einer Falle sitzen. Die kleinen Seen sind beinahe immer nach ihren
+Besitzern genannt, die hier allein das Fischrecht haben.
+
+Zur Linken war es jetzt nicht weit nach dem früher von mir besuchten
+Tarimarme Ugen-darja, den mächtige Wälder umgeben. Das nördliche
+Sandgebiet hat auch aufgehört, und die Waldgebiete beider Flüsse bilden
+jetzt eine zusammenhängende Waldgegend.
+
+Eine schwache Brise genügte, um die Kälte fühlbar zu machen; die über
+dem Kohlenbecken erwärmte Luft wurde fortgetragen, und die Tinte
+gefror unaufhörlich in der Feder. Den Himmel bedeckten dichte Wolken,
+die wie Tücher über der Erde lagen, ohne eine Schneeflocke von sich
+zu geben. Abends aber glänzte die Sonne wie eine Kugel von glühendem
+Golde unter diesem düsteren Thronhimmel hervor, und ihre Strahlen
+erzeugten großartige Lichtwirkungen. Die ganze Lufthülle schien wie ein
+brennbares Gas Feuer gefangen zu haben; die Schilffelder leuchteten
+purpurn, die Pappeln breiteten ihre Zweige wie geöffnete Arme aus
+und schienen sich an dem Abschiedskusse der untergehenden Sonne zu
+berauschen, und die untersten Teile des Himmels glänzten in intensiv
+violetten Schattierungen. Das schöne Schauspiel währte jedoch nur
+einige Minuten, dann kam die Dämmerung und hüllte alles in ihren
+gedämpften, eisengrauen Ton ein, und die Schilfstauden, die eben noch
+ihre langen Speere wie eine Leibgarde zu Fuß bei festlicher Parade
+geschultert hatten, standen wieder so einförmig und langweilig da wie
+Gartenzäune bei uns zu Hause.
+
+Wir sehnten uns nach Menschen, denn die Ufer waren so traurig still.
+Gab es denn keine Hirten in dieser verlassenen Gegend? Das Wissen
+unserer Wegweiser ging auf die Neige, und wir bedurften neuer Leute,
+die das Land besser kannten.
+
+Als die Dunkelheit undurchdringlich wurde, kommandierte ich Halt. Die
+Kähne huschten wie Irrlichter über das Wasser, die Laternen schaukelten
+auf ihren Stangen hin und her, und ihre Bilder im Wasser beleuchteten
+die Stromringel auf der Oberfläche des Flusses und glänzten auf
+den Eisschollen. Man sieht nichts weiter als diese Lichtpunkte vor
+sich. Sie bleiben stehen und scheinen wie Leuchtkäfer auf das Ufer
+hinaufzufliegen und dort im Schilfe umherzuhuschen. Wir folgten den
+Kähnen und wählten einen Lagerplatz aus, der jedoch nicht recht für uns
+paßte, da es dort an dürrem Holze fehlte. Um die Landschaft zu erhellen
+und mit besserem Erfolge nach Brennholz suchen zu können, steckten die
+Männer das ungeheuer dichte Schilf, welches die Uferterrasse bedeckte,
+in Brand. Wie Bambusrohr knisternd, knallend und pfeifend wurde dieses
+dürre Kamisch von den entfesselten Flammen verzehrt. Es wurde ein
+riesenhaftes bengalisches Feuer, und sein wilder, gelbroter Schein fiel
+auf das dunkle Wasser, wo er die Tausende von Treibeisschollen, die in
+rastlosem Zuge vorbeitrieben, scharf beleuchtete. Diese schienen auf
+der Pilgerfahrt nach einem gemeinschaftlichen Wallfahrtsorte begriffen
+zu sein; sie folgten alle derselben großen Heerstraße, auf der sie
+geboren werden und sterben, aber sie wetteiferten nicht miteinander,
+sie gingen in schönster Ordnung, alle in demselben Takte. Sie zogen
+vorbei wie Wassergeister, welche jeden Abend eine muntere Polonaise
+tanzten, um die Beendigung der Jahresarbeit des Flusses zu feiern und
+sich vor dem langen Winterschlafe noch gründlich zu amüsieren. Sie
+glitten dahin wie eine Prozession friedloser Muselmänner mit weißen
+Turbanen um die Köpfe, wie Freier, geschmückt mit Kränzen von kleinen
+weißen Immortellen aus vergänglichem Eise.
+
+Recht eigentümlich wirkte die große Fähre sowohl auf dem Fluß wie auf
+das Ufer unseres Lagerplatzes +Ilek+ ein. Das Treibeis trieb
+gerade gegen ihre eine Längsseite und strich so an ihr entlang, daß
+es nachher eine ganze Strecke flußabwärts eine ganz gerade Richtung
+beibehielt, die jedoch nach und nach wieder eingebüßt und in der
+Strömung zerstört wurde. Gegen die 1,35 Meter hohe Uferterrasse
+erzeugte die Fähre, die wie ein Wellenbrecher dämpfte, einen
+Stromwirbel, der schon an demselben Abend begann, das lose Erdreich der
+Terrasse zu unterminieren, so daß es nach und nach ins Wasser plumpste.
+Ich fürchtete, daß es zu einem verhängnisvollen Rutsche kommen würde,
+aber die Terrasse hielt.
+
+Am 3. Dezember war der Fluß zu drei Vierteln mit Treibeis bedeckt,
+welches Verhältnis natürlich im Laufe des Tages unaufhörlich wechselt.
+Wo der Fluß schmal ist, wird die ganze Masse so zusammengedrängt, daß
+vom Wasser gar nichts zu sehen ist; dann scheint es, als lägen die
+Fahrzeuge eingefroren in einem treibenden Eisfelde. Was macht es uns
+jetzt aus, ob es weht, wir werden von dieser nachdrängenden Schlange,
+die sich zwischen den Ufern hinwindet, widerstandslos mitgenommen.
+Dort jedoch, wo der Fluß wieder breiter wird, zerstreuen sich auch die
+Eisschollen, und offenes Wasser kommt wieder zum Vorschein.
+
+Die Eisschollen klirren munter gegen die gefrorenen Ufer; man wird
+nicht müde, die streifige Marmorierung, diese glänzenden Eismuster,
+diese Schlingen, Girlanden und langsamen Karusselle zu betrachten,
+lauter wechselnde Muster, die von dem gesetzmäßigen Laufe des Stromes
+vorgeschrieben werden. Die Geschwindigkeit war den ganzen Tag über die
+beste, und wir schwebten ungehindert an üppigen Wäldern und mächtigen
+Sandausläufern vorbei, die sich beständig in neuen, wunderbaren
+Perspektiven zeigten. Doch es war nicht mehr so wie früher auf dem
+ruhigen, spiegelblanken Jarkent-darja; jetzt erfüllte die Luft ein
+Sausen, das immer stärker wurde, je mehr sich der Fluß verschmälerte,
+und das von diesen Massen von Treibeis verursacht wurde. Die Eisränder
+der Ufer näherten sich einander immer mehr, und es kann nur noch ein
+paar Tage dauern, bis die Brücke fertig ist. Jetzt liegen sogar die
+Teile des Flusses, in denen das Wasser langsam fließt, unter einer
+Eisdecke, die so hell wie Glas schimmert. Der Wald wird wieder dünn,
+der Fluß breiter, die Landschaft offener; man hat nach allen Seiten hin
+freie Aussicht. Oft scheint der Fluß vor uns gar kein Ende zu nehmen;
+er erstreckt sich geradeaus in die weite Ferne wie ein wunderbares,
+weißes Band, eine wahre Milchstraße.
+
+An der Kanalmündung +Daschi-köll+ überraschten uns zwei Reiter
+am Ufer. Hassan Bek von Teis-köll hatte sie ausgeschickt, um uns
+ausfindig zu machen. Der Sohn des Beks mit einem Gefolge von zehn
+anderen Männern erwartete uns eine ziemliche Strecke weiter unten bei
++Momuni-ottogo+. Er hatte mit den beiden Spähern verabredet,
+daß diese, falls sie uns träfen, ihn durch angezündete Feuer davon
+benachrichtigen sollten. Sie ritten nun wieder zurück, und wir sahen
+eine Rauchsäule nach der anderen aufsteigen, und als wir Momuni-ottogo
+erreichten, brannte dort ein Feuer, und die ganze Gesellschaft
+erwartete uns mit einem Dastarchan.
+
+Hassan Beks Sohn brachte wichtige Nachrichten. Meine Karawane hatte
+sich drei Tage in Teis-köll aufgehalten und sollte gestern nach
+Jangi-köll und von dort weiter nach Argan, dem in Lailik festgesetzten
+Vereinigungspunkte, ziehen. Da wir aber jeden Augenblick einfrieren
+konnten und es von Wichtigkeit war, die Kamele nahe zur Hand zu haben,
+schickte ich an Nias Hadschi und die Kosaken einen reitenden Eilboten
+mit dem Befehl, sie sollten da, wo sie sich gerade befänden, bleiben.
+Ferner erfuhr ich, daß sich mein alter Freund Chalmet Aksakal aus Korla
+bei der Karawane befinde und Parpi Bai mich in Karaul erwarte.
+
+Über die Eigenschaften des Flusses in diesen Gegenden wurde mir
+mitgeteilt, daß er von Anfang Dezember bis Anfang März zugefroren
+und dann noch einen halben Monat mit porösem Eise bedeckt sei. Das
+Hochwasser erreiche diese von den Quellen so weit entfernten Gegenden
+erst Anfang August und stehe Ende September oder Anfang Oktober am
+höchsten. Nachher falle der Wasserstand täglich, sei aber einige Zeit
+vor dem Zufrieren keinen Veränderungen unterworfen. Wenn der Fluß
+zugefroren sei, steige das Wasser, was seinen Grund darin haben solle,
+daß das Treibeis sich nach der Mündung hin zusammenpacke und zu einer
+Art Damm aufstaue. Wenn dieses sich wieder verteilt habe, falle das
+Wasser von neuem. Während des Juni habe es seinen tiefsten Stand, und
+man könne dann an mehreren Stellen den Fluß zu Pferd durchwaten.
+
+Es versteht sich von selbst, daß die Unterschiede zwischen dem
+Hochwasser und dem niedrigsten Wasserstande im unteren Tarim, der so
+weit vom Gebirge liegt, viel unbedeutender sein müssen als z. B. im
+Jarkent-darja bei Jarkent oder im Aksu-darja bei Aksu. Je weiter
+abwärts wir kommen, desto mehr gleichen sich diese Unterschiede
+aus, und die Wassermenge wird auch in wesentlichem Grade von jenen
+unzähligen Lagunen und Uferseen reguliert, welche die Ufer des
+Tarim wie Schmarotzer, die sein Blut aufsaugen, begleiten. Die im
+Jarkent- und Aksu-darja, im Chotan-darja und Kisil-su so gewaltige
+Frühlingsflut verliert daher unterwegs nach und nach ihre ungestüme
+Überschwemmungskraft. Denn erst müssen die Lagunen, die im Sommer
+ausgetrocknet sind, neu gefüllt werden, wozu ungeheure Wassermengen
+gehören. Erst nachdem sie den ihnen zukommenden Anteil erhalten haben,
+macht sich das Hochwasser in den unteren Regionen fühlbar. Wenn der
+Zufluß von oben sich verringert und aufhört, wirken diese Behälter
+wieder als Reservoire. Um die Zeit, als wir Lailik verließen, hatte
+das Hochwasser Momuni-ottogo und Karaul erreicht, jetzt aber, Anfang
+Dezember, hatte es schon vor ein paar Monaten seine trübe Flut in die
+äußersten Seen des Tarimsystems ergossen.
+
+Bei Momuni-ottogo waren wir wieder mit freundlichen, dienstwilligen
+Eingeborenen in Berührung gekommen. Die Nacht war dunkel und
+bitterkalt, und der eintönige Zug des Treibeises wurde dann und wann
+von einem eigentümlichen Laute übertönt, der dadurch hervorgebracht
+wurde, daß unsichtbare Kräfte neue Netze von glashellem Eise über die
+ruhigen Flächen des Flusses spannten. Der Tag war im ganzen hell und
+freundlich gewesen; wir hatten eine lange lehrreiche Fahrt gemacht
+und erfreuliche Nachrichten von den Unseren erhalten. Es war aber
+auch schon der erste Adventsonntag, und wir standen auf der Schwelle
+des Grabgewölbes des Tarim, das immer mehr mit Kränzen von weißen
+Immortellen überhäuft wurde.
+
+
+
+
+Zwölftes Kapitel.
+
+Wir frieren fest und gehen ins Winterquartier.
+
+
+Während der letzten drei Tagereisen nahm die Strömung an Schnelligkeit
+zu; am 4. Dezember legten wir im Durchschnitt 1 Meter in der Sekunde
+zurück, bisweilen aber war die Fahrt beinahe unangenehm stark,
+und die Fähre strich längs der Ufer hin, daß es in den Eisrändern
+krachte. Der Pappelwald hört nach und nach auf, und bei Karaul, wo der
+Ugen-darja mündet (Abb. 50), ist das Land entweder ganz kahl oder mit
+Kamischfeldern, kleinen Sanddünen (Abb. 52) und Tamarisken bedeckt.
+
+Wir lagerten bei +Karaul+, denn dort erwarteten uns Parpi Bai
+und eine große Zahl anderer Eingeborener. Mein alter, treuer Diener
+von 1896 eilte an Bord, ergriff meine Hände und führte sie an seine
+Stirn; er war so gerührt über das Wiedersehen, daß er lange kein Wort
+hervorbringen konnte. Wie Islam Bai war auch er gealtert und graubärtig
+geworden, aber er sah ebenso prächtig aus wie früher, um so mehr als
+er jetzt eine besonders kleidsame Tracht trug, eine mit Pelz verbrämte
+blaue Mütze und einen dunkelblauen Tschapan (Abb. 51).
+
+Den nächsten Tag blieben wir in Karaul. Ich mußte eine astronomische
+Beobachtung vornehmen und die Wassermenge des Ugen-darja und des Tarim
+messen. Jener führte gar kein Treibeis, dieser aber war voll davon, und
+das Messen war schwerer als gewöhnlich. Der Hauptfluß hatte jetzt 55,7
+Kubikmeter, der Ugen-darja nur einige wenige. Das Wasser des Ugen ist
+bis zu 69 Zentimeter Tiefe durchsichtig, das des Tarim bloß bis auf 8
+Zentimeter. Noch 300 Meter unterhalb des Zusammenflusses kann man den
+Unterschied zwischen dem Wasser beider Flüsse deutlich wahrnehmen.
+
+Der Aksakal von Korla kam mir hier auch entgegen und brachte ein paar
+Kisten mit Birnen und Trauben mit, sowie einige hundert Zigaretten, die
+der russische Konsul in Urumtschi mir vor vier Jahren geschickt hatte,
+die aber jetzt erst ihren Bestimmungsort erreichten.
+
+Karaul ist der Punkt, wo der Tarim sein scharfes Knie macht, um nach
+dem Lop-nor abzubiegen. Die Richtung ist Südost, und zeitraubende Bogen
+kommen nicht vor. Die Stromgeschwindigkeit war stark, und als wir
+einmal gegen einen im Grunde steckengebliebenen Pappelstamm stießen,
+half das nachschiebende Treibeis der Fähre darüber hinweg. Es war
+aber eine ungemütliche Geschichte; die ganze eine Seite wurde über
+das Wasser gehoben, schrammte auf der Pappel entlang und knallte dann
+förmlich auf die Wasserfläche nieder.
+
+Der 7. Dezember war der letzte Tag auf dem Tarim im Schifffahrtsjahre
+1899, das wußten wir schon am Morgen, denn die Karawane erwartete
+uns bei Jangi-köll, wohin wir nur noch eine Tagereise hatten, und
+kurz unterhalb dieses Punktes war der Fluß seit zwei Tagen in seiner
+ganzen Breite zugefroren. Wir traten also die Fahrt mit gemischten
+Gefühlen an; die Lailiker freuten sich, daß die Stunde ihrer Befreiung
+geschlagen hatte, Islam und Kader sehnten sich nach ihren Kameraden
+und nach dem Leben auf festem Boden, ich selbst war froh, daß die
+Reise so gut geglückt war und an einem für meine Pläne so geeigneten
+Orte endete; andererseits begann ich aber die letzte Tagereise mit
+wehmütigen Gefühlen, denn ich würde die Fähre, die dritthalb Monate
+mein friedliches Heim gewesen, mit Bedauern verlassen.
+
+Drei Beke von den nächsten Dörfern und eine unabsehbare Reiterschar
+begleiteten uns auf dem Ufer, doch an Bord durfte nur der Bek von
+Jangi-köll, mit dem wir später noch viel zu tun haben werden.
+
+Die letzte Tagesfahrt war eine der interessantesten der ganzen
+Flußreise, denn sie führte uns in ganz anders geartete Gegenden,
+als wir bisher passiert hatten. Der Fluß strömt beinahe gerade nach
+Südosten. Links dehnen sich endlose Gras- und Kamischsteppen aus, auf
+denen sich sehr selten eine einsame Pappel erhebt, rechts türmt sich
+ununterbrochen der hohe, unfruchtbare Sand auf, dessen Basis vom Flusse
+bespült wird. Das Ungewöhnliche ist, daß dieser Sand nichtsdestoweniger
+einer ganzen Reihe höchst eigentümlicher, von lauter öden Dünen ohne
+Spur von Vegetation umgebener Seen Raum gewährt. General Pjewzoff hatte
+auf seiner Reise einige von ihnen bemerkt, aber weder er noch ich
+hatten geahnt, daß ihre Zahl so groß sei, und es gehörte daher jetzt
+noch zu meinem Reiseprogramm, sie näher zu untersuchen, eine Karte von
+ihnen aufzunehmen und sie auszuloten.
+
+Der Fluß war jetzt ganz mit Treibeis erfüllt, und nur ein Drittel
+der Fläche, wo sich die Stromfurche hinzog, war eisfrei, sonst war
+alles zugefroren. An einigen Stellen kamen wir nur mit Mühe hindurch
+auf Kosten der Eisränder, die klirrend wie Glas zersplitterten. Den
+Eisschollen wurde der Platz knapp; sie prallten aneinander und
+schoben sich übereinander, wobei sie Miniaturterrassen oder auf dem
+Eisbande der Ufer weiße Wälle bildeten. Die ganze Masse trieb mit
+unwiderstehlicher Kraft vorwärts; die Blöcke, die nicht mitkommen
+konnten, waren auf sich selbst angewiesen, während wir uns mitten in
+der Bahn hielten und sicher auf das Ziel losgingen.
+
++Tus-algutsch-köll+, der „See, wo Salz genommen wird“, ist die
+erste der langen Reihe von Wüstenlagunen, die gleich Trauben an
+einem Stengel am rechten Ufer des unteren Tarim hängen. Obgleich ich
+später reichlich Gelegenheit finden werde, diese seltsamen Gebilde
+zu besuchen, konnte ich mich nicht enthalten, schon jetzt an Land zu
+gehen, um wenigstens einen Blick auf den See zu werfen. Der Kanal,
+der den See mit dem Flusse verbindet, war an der Mündung mit Lehm
+und Reisig verstopft. Das Wasser wird auf diese Weise 2-3 Jahre lang
+isoliert, und die darin eingeschlossenen Fische sollen fett und
+schmackhaft werden, sobald das Wasser einen schwachen Anflug von Salz
+bekommen hat. Der zweite See ist der +Seit-köll+; er zieht sich
+beinahe eine Tagereise weit landeinwärts in den Sand hinein; seine drei
+Kanäle waren ebenfalls abgesperrt worden, um das nächste Hochwasser zu
+verhindern, mit dem See in Verbindung zu treten.
+
+In der Nähe der Mündung dieser Seen sahen wir mehrere verlassene
+Dörfer. Die aus Pappelholz und Kamisch gebauten Hütten (Abb. 53)
+standen noch da und sahen ziemlich neu und brauchbar aus, aber nicht
+ein einziges lebendes Wesen war zu sehen, und in dem Sand, der sich
+ringsumher schneewehenartig angehäuft hatte, war nicht einmal eine
+Fußspur zu entdecken. Mir wurde erzählt, daß die Bewohner dieser, wie
+auch die einer ganzen Reihe anderer, weiter flußabwärts liegender
+Dörfer vor sieben Jahren fortgezogen seien, nachdem die Pocken
+(Tschitschek) die Bevölkerung in schrecklicher Weise dezimiert hätten.
+Den Überlebenden wurden von den chinesischen Behörden Wohnsitze auf
+dem linken Ufer angewiesen. Sie hatten vorher hauptsächlich vom
+Fischfang gelebt, nun aber wurde ihre Lebensweise eine ganz andere; sie
+bestellten ihr Feld, säten Weizen und erwarben sich ihren Unterhalt
+auch mit Viehzucht. Der Boden ist jedoch mittelmäßig, und obwohl sich
+ohne Schwierigkeit Kanäle vom Flusse ziehen lassen, reicht der Ertrag
+des Bodens doch nicht für ihren Unterhalt aus, und sie müssen oft ihre
+Schafe verkaufen, um sich Mehl aus Korla zu verschaffen. Die reichsten
+Eingeborenen besitzen bis zu tausend Schafen, aber die meisten sind arm
+und begeben sich im Sommer nach ihren alten Seen, um dort zu fischen.
+Hierbei bewohnen sie jedoch nicht ihre alten Hütten, an denen für die
+meisten so traurige Erinnerungen hängen, sondern lagern unter freiem
+Himmel. Jetzt haben die Chinesen Zwangsimpfung eingeführt, welcher die
+skeptische Bevölkerung sich und ihre Kinder unterwerfen muß.
+
+[Illustration: 52. Kleine gebundene Dünen bei Karaul. (S. 126.)]
+
+[Illustration: 53. Verlassene Hütten am Seit-köll. (S. 128.)]
+
+[Illustration: 54. Unser Hauptquartier Tura-sallgan-ui. (S. 135.)]
+
+[Illustration: 55. Winterquartier in Jangi-köll mit meinen Leuten. (S.
+133.)]
+
+Auch am Seit-köll gingen wir an Land und bestiegen eine hohe Düne,
+von der man eine prächtige Aussicht über den See hat, der sich nach
+Südsüdwesten hinzieht und einem Fjorde zwischen steilen Felsen gleicht.
+
+Die Flußkrümmung, an welcher der Seit-köll liegt, ist außerordentlich
+energisch in den Sand eingeschnitten, wo sie gleichsam eine
+vorgeschobene Bucht des Flusses bildet. Früher hatte das Sandmeer sich
+weit nach Nordosten erstreckt, war aber nach und nach von dem Flusse,
+der also auch hier nach rechts zu wandern scheint, zurückgedrängt
+worden.
+
+Über die Bildung der Wüstenseen gaben mir die Landeskinder ziemlich
+phantastische Aufklärungen. Sie behaupteten, erst seien die Kanäle
+gegraben worden, dann habe sich der Fluß während der Hochwasserperiode
+durch sie neue Bahnen gesucht; große Wassermassen hätten sich in den
+Sand hineingewälzt, die Dünen verdrängt und jene großen Seen gebildet,
+die gewöhnlich nach dem Manne heißen, dem sie ihre Entstehung verdanken
+sollen. Es versteht sich von selbst, daß trotz alles Grabens keine
+Seen entstehen würden, wenn es in der Plastik des Bodens nicht schon
+gewisse notwendige Vorbedingungen gäbe. Auch der +Dasch-köll+
+ist in hydrographischer Hinsicht sehr eigentümlich. Dieser See liegt
+ganz dicht am Ufer des Flusses, ist aber noch durch einen bedeutenden
+Sandwall von ihm getrennt. Neulich hat der Fluß einfach die ganze Düne
+fortgespült, und seine Wasserfläche hängt jetzt unmittelbar mit dem
+Spiegel des Sees zusammen. Die Fläche des Sees steigt und senkt sich
+mit der des Flusses. --
+
+An einem Punkte namens +Arelisch+ begegneten uns Tschernoff
+und Faisullah und weiter abwärts Nias Hadschi und mehrere der
+Karawanenleute und begleiteten uns auf dem Ufer mit einer ganzen Reihe
+neuangeschaffter Hunde. Ihre Freude, uns gesund und munter auf der
+alten Fähre wiederzusehen, läßt sich nicht beschreiben. Sie hatten es
+kaum für möglich gehalten, daß mich dieses Ungetüm Hunderte von Meilen
+würde transportieren können, während sie auf staubigen Wegen so manchen
+ermüdenden Schritt getan. Jetzt konnten wir bleiben, wo wir wollten,
+denn wir waren wieder mit der Karawane in Verbindung. Da mir aber
+Tschernoff sagte, wir hätten nur noch ein paar Stunden bis an einen
+Punkt, wo das Treibeis sich zusammengepackt habe und zu einer dichten
+Masse zusammengefroren sei, durch die nicht hindurchzukommen sei,
+beschloß ich, beim Scheine der Laternen weiterzufahren.
+
+Die letzte Nacht unserer Flußreise war schon einige Stunden unter ihrem
+schwarzen Schleier dahingeschritten, als ein großes Feuer am linken
+Ufer aufflammte. Es war von unseren Karawanenleuten an einem geeigneten
+Landungsplatze gleich oberhalb der Eisbarre angezündet worden. Hier
+legten wir zum letztenmal an und gingen müde und frierend nach dem
+Feuer hinauf, wo wir bald in lebhaftem Gespräche mit den Unseren waren.
+
+So hatte denn diese märchenhafte, friedvolle Reise ihr Ende erreicht!
+Wie im Traume konnte ich zurückblicken auf alle die verflossenen Tage
+mit ihren reichen Erfahrungen, auf unser einsames Leben an Bord,
+unsere Abenteuer und Exkursionen, unsere venezianischen Abende und den
+endlosen Wald, der unseren Weg mit seinen gelben Blättern bestreute.
+Nie hat sich eine Reise so glücklich und bequem ausführen lassen; sie
+bildete in der Tat einen passenden Übergang zwischen dem stillsitzenden
+Leben in Stockholm und den mühevollen Jahren, die jetzt vor mir lagen.
+Ich war wie auf einem Triumphwagen mitten in das Herz von Asien geführt
+worden und nun war ich dort; und wohin ich mich wendete, lockte das
+Unbekannte mit magischer Anziehungskraft. Es war ein eigentümliches
+Zusammentreffen, daß uns das Eis gerade an dem Punkte, an dem sich
+die Karawane befand, den Weg versperrte. Sie war vor drei Tagen hier
+angekommen und hatte durch ausgesandte Kundschafter Kenntnis vom
+Herannahen der Fähre erhalten, worauf sie im ersten besten Dorfe
+geblieben war. Es war durchaus keine Enttäuschung, daß wir den anfangs
+bestimmten Vereinigungspunkt Argan nicht vor dem Zufrieren des Flusses
+erreicht hatten, sondern im Gegenteil ein großer Vorteil. Es stellte
+sich nämlich heraus, daß Jangi-köll der vorzüglichste Ausgangspunkt
+für die großen, gefährlichen Expeditionen war, die ich nach den Wüsten
+im Osten und Westen plante, und daß es überdies noch den Vorzug hatte,
+nicht sehr weit von Korla entfernt zu liegen, der nächsten Stadt, wo
+wir das, was wir zur Ausrüstung der Karawane brauchten, finden konnten.
+
+Jetzt war keine Eile mehr nötig, und es war zu schön, am Morgen des 8.
+Dezember ruhig ausschlafen zu dürfen. Die Kosaken suchten einen sehr
+geeigneten Platz für das Winterquartier aus, der einige hundert Meter
+oberhalb des Punktes, an dem wir Halt gemacht hatten, ebenfalls auf
+dem linken Ufer des Flusses lag. Dorthin wurde das ganze Gepäck der
+Karawane gebracht, und hier schlugen die Leute ihre Zelte auf. Dort war
+ein vorzüglicher, jetzt fest zugefrorener kleiner Hafen mit steilen
+Ufern, dessen Eis mit Äxten und Stangen aufgebrochen wurde. Die Fähre,
+die während der Nacht auch tüchtig festgefroren war, wurde aus ihren
+Banden befreit und nach dem Hafen gezogen, wo sie am Ufer vertäut
+wurde, welche Vorsichtsmaßregel jedoch überflüssig war, da sie sehr
+bald von fußdickem Eise eingeschlossen war. Im Laufe des Winters gefror
+das Wasser hier zum Teil bis auf den Grund, und unsere weitgereiste
+Wohnung lag wie auf einem Bette von Granit.
+
+Der erste Abend im Winterlager führte eine jener unangenehmen
+Entdeckungen herbei, die jedoch etwas ganz Gewöhnliches sind, wenn man
+so naiv oder gutmütig ist, allzu großes Vertrauen auf die Ehrlichkeit
+eines Muhammedaners zu setzen. Nias Hadschi hatte in Lailik 4½
+Jamben bekommen, mit denen er teils den Lebensunterhalt der Karawane
+bestreiten, teils allerlei Einkäufe machen sollte. Die Summe war so
+reich bemessen, daß ein hübsches Stück Geld hätte übrigbleiben müssen.
+Statt dessen aber hatte mein Karawan-baschi unterwegs noch eine Anleihe
+von gegen 4 Jamben gemacht. Jetzt wurde am Feuer Gericht abgehalten;
+ich hatte auf dem Richterstuhle -- einem Mehlsacke -- Platz genommen,
+und der angeklagte Sünder, seine Ankläger, die Zeugen und Zuhörer
+standen um mich herum; es war feierlich und tragisch, und gern hätte
+ich noch ein paar Jamben dazubezahlt, wenn ich mit meinem Diener nicht
+hätte ins Gericht zu gehen brauchen. Doch um ein Exempel zu statuieren,
+den anderen zur Warnung, und die Autorität, die der Führer haben muß,
+aufrechtzuhalten, nahm ich Nias Hadschi vor und verlangte von ihm
+Rechenschaft darüber, wie er die ihm anvertrauten Gelder verwaltet
+habe. Wie er diesem Verlangen nachkam, wird jeder sagen können, der je
+mit Muhammedanern zu tun gehabt hat; er suchte mir auseinanderzusetzen,
+daß nicht ein Tenge unnötig ausgegeben sei und daß er ehrlich und treu
+seinen Auftrag ausgeführt habe -- aber er log. Sirkin hatte auf meinen
+Befehl auf der Reise Buch geführt, und es war leicht, die Ausgaben zu
+kontrollieren. Außerdem wurde ihm zur Last gelegt, daß er hochmütig und
+stolz gegen die anderen gewesen sei. In Aksu hatte er seine eigenen, in
+Korla seines Sohnes Schulden bezahlt, und dieses Herrchen hatte er mir
+noch obendrein als Geschenk mitgebracht. Ich wollte ihm nicht an diesem
+Tage, der für mich so glückbringend gewesen, ein zu strenges Urteil
+sprechen; überdies hatte ich ihn ja selbst in Versuchung geführt,
+indem ich ihm soviel Geld anvertraut hatte. Das Urteil lautete auf
+Entlassung; im Laufe des folgenden Tages sollte er das Lager verlassen.
+
+Eigentümlich sind diese Muselmänner; man wird nie recht klug aus ihnen.
+Dieselben Männer, die ihn eben noch angeklagt hatten, legten nun
+Fürbitte für ihn ein und baten, ich möchte ihn doch nur degradieren
+und als Koch der Muselmänner behalten. Es nützte ihnen jedoch nichts;
+das Urteil war gesprochen, und ich wollte meinen Entschluß nicht
+ändern. Es tat mir freilich leid, den alten Mann, den Mekkapilger, den
+Freund des Propheten und Prschewalskijs einstigen Diener, allein in
+den öden Winter hinauszuschicken. Ich versprach, der ganzen Geschichte
+nicht mehr zu gedenken, und als er abzog, gab ich ihm noch eine
+halbe Jamba mit auf den Weg, die seine Tränenfluten stillte. Hiermit
+war seine kurze Geschichte zu Ende, und er war sicher der Ansicht,
+noch gut davongekommen zu sein. Er hatte bei unserer herumziehenden
+Theatertruppe von Karawane als ein Schauspieler figuriert, der nur
+im ersten Akte auftritt. Doch im Laufe des Stückes werden immer neue
+Schauspieler die alten ablösen und ihre Rollen mit wechselndem Glück
+spielen. Der Souffleur ist das Gewissen, die Bühne das innerste Asien,
+und die Zuschauer sind die Sterne des Himmels und die am Tage heulenden
+Stürme. Wenn man den Himmel als Zuschauer hat, muß man gut spielen und
+muß mild gegen schlechte Spieler sein. --
+
+Während der drei Tage vom 9. bis zum 11. Dezember wurde das Lager und
+die Zusammensetzung der Karawane für die nächste Zukunft geordnet.
+Chalmet Aksakal erhielt den Auftrag, uns von Korla eine Verstärkung
+einiger unserer Vorräte, zwei mongolische Filzzelte und fünf Maulesel
+zu besorgen, sowie einige Silberbarren in Kleingeld umzuwechseln,
+und zwar in Tengestücke aus Jakub Beks Zeit, die zwischen Korla und
+Tscharchlik noch gangbar sind und von denen 21 auf 1 Sär gehen. Musa
+Ahun sollte ihn nach Korla begleiten und mit den Sachen zurückkehren.
+Ferner sollte Chalmet Aksakal meine große Post mitnehmen und nach
+Kaschgar weiterschicken.
+
+Die vier Männer aus Lailik, unsere guten, prächtigen Fährleute, traten
+jetzt vom Schauplatze ab und kehrten in ihre ferne Heimat zurück. Ihr
+vereinbarter Monatslohn wurde verdoppelt, und ich bezahlte ihnen die
+Heimreise. Ihre Dankbarkeit war groß, und mit Tränen in den Augen
+beteten sie „Dua“ und „Allahu ekbär“ für mich; mit Bedauern trennte
+ich mich von diesen Männern, die in jeder Hinsicht ein gutes Andenken
+hinterließen. Sie wollten zu Fuß nach Korla gehen, wo der Aksakal ihnen
+beim Einkaufen guter Reitpferde helfen sollte. Ich habe nachher nichts
+wieder von ihnen gehört, hoffe aber, daß sie glücklich nach Hause
+gelangt sind.
+
+Trotz dieser großen Verminderung des Karawanenpersonals bot das
+Lager doch ein außerordentlich lebhaftes Bild dar. Die mir am
+nächsten im Range Stehenden der Leute waren die Kosaken und Islam
+Bai als unser Karawan-baschi. Parpi Bai wurde zum Oberaufseher der
+Pferde ernannt und benutzte seine freie Zeit zur Falkenjagd. In
+Friedenszeiten wurde der Falke mit lebendigen Hühnern gefüttert, ein
+greuliches Schauspiel. Turdu Bai und Faisullah waren für die Kamele
+verantwortlich und hielten abwechselnd an den Weideplätzen derselben
+Wache. Kurban, ein sechzehnjähriger, hübscher, offener und heiterer
+Junge aus Aksu, war Laufbursche, führte die Pferde zur Tränke und
+brachte denen, die draußen die Kamele hüteten, Essen. Ein mit diesen
+Gegenden außerordentlich gut bekannter Loplik, der treffliche Ördek,
+wurde für die grobe Arbeit im Lager, wie Wassertragen für die Küche,
+Holzfällen in dem nächsten dürren Walde und Futterholen für die
+Pferde, angenommen. Im Hafen wurde eine Wake aufgehauen und ständig
+offengehalten, das Kochwasser aber wurde stets aus dem Flusse geholt,
+wo es, weil fließend, frisch und rein war. Die Kamele trugen das
+Brennholz ins Lager, und unsere nächsten Loplik-Nachbarn verschafften
+uns auf Veranlassung des Beks der Gegend schon am ersten Tage tausend
+Bündel Klee und tausend Bündel Heu. Auch ein Schmied wurde für diverse
+Arbeiten angenommen; er mußte anfangs Sirkin helfen, mir Schlittschuhe
+zu machen. Ich hatte mir nämlich gedacht, mit diesem Transportmittel
+über die Seen zu ziehen, doch sie fielen nicht so aus, daß ich sie
+zu etwas anderem hätte benutzen können, als mir in der Nachbarschaft
+Bewegung zu machen.
+
+Das Lager bekam Besuch von ganzen Scharen von Lopliks (Abb. 55). Sobald
+unsere Nachbarn gehört, daß wir uns in ihrem Lande niedergelassen und
+in der Wildnis ein kleines Dorf angelegt hatten, wallfahrteten sie
+scharenweise dorthin; sie brachten stets Geschenke mit und gaben uns
+so viele Aufklärungen, wie sie nur konnten. Es war ein fortwährendes
+Kommen und Gehen, und wenn ich an Bord im Zelte arbeitete, hörte ich
+ein ununterbrochenes Stimmengewirr wie von einem Marktplatze.
+
+Das Zelt der Leute war unter der einzigen Pappel, die es im Lager gab,
+aufgeschlagen; dahinter lagen alle Kamellasten auf ihren Saumleitern
+aufgestapelt. Die Küche der Leute war ein Feuerherd unter freiem
+Himmel, umgeben von einer hohen Einfriedigung von Brennholz, die
+mit dem Winterbedarfe an Umfang zunahm. Das Ganze wurde von fünf
+Hunden bewacht, denn die Karawane hatte fünf Hunde aus Kutschar und
+Korla mitgebracht. Zwei von diesen waren unübertreffliche, schöne,
+sympathische Windhunde; sie wurden Maschka und Taigun genannt und
+waren schon vom ersten Tage an meine erklärten Günstlinge. Sie waren
+groß, hochgewachsen, weiß und sehr kurzhaarig, so daß sie im Winter
+beständig das Feuer aufsuchten und nachts bei mir in eigens für sie
+angefertigten Mänteln aus weißem Filz schliefen. Es war komisch
+zu sehen, mit welcher Gewandtheit sie ohne Hilfe in die Mäntel
+kriechen lernten und wie dankbar sie waren und wie wohlgefällig sie
+stöhnten, wenn man sie zudeckte. Auf dem Kriegspfade aber waren sie
+unüberwindlich und verbreiteten geradezu Entsetzen unter den Hunden
+der Umgegend. Ich habe nie Hunde auf so raffinierte Weise Krieg führen
+sehen wie Maschka und Taigun. Sie umkreisten ihren Gegner, bis sie ihn
+an einem Hinterbeine packen konnten, drehten ihn daran um sich selbst
+und ließen ihn erst los, wenn die Geschwindigkeit so groß war, daß
+der Ärmste kopfüber eine Strecke weit hintaumelte und dann heulend auf
+drei Beinen davonhinkte. Beim Füttern wagte keiner der anderen Hunde
+die Fleischstücke auch nur anzusehen, solange die Windhunde sich noch
+nicht sattgefressen hatten. Mir waren sie Gesellschafter und ein guter
+Ersatz für den ersten Dowlet, leider waren aber auch ihre Tage gezählt.
+Nach ihrer Ankunft im Lager fiel Jolldasch zwar nicht in Ungnade, er
+zog sich aber freiwillig ins Privatleben zurück und wagte mein Zelt nie
+zu betreten, wenn die Neuen dort waren. Er schlief aber getreulich vor
+dem Zelte, und wenn ich ihn beim Hinausgehen streichelte, sprang und
+bellte er vor eitel Dankbarkeit und Entzücken. Jollbars, der „Tiger“,
+war ein kolossaler schwarzbrauner Hund, ein Sohn des Lopdschungels
+mit Wolfsblut in den Adern, der immer an einer eisernen Kette bei den
+Kamellasten lag und so wild war, daß sich niemand in den Radius der
+Kette hineinwagte. Er war ein Hofhund furchtbarster Art, ein Ritter
+von den mörderischsten Reißzähnen, aber ich wurde selbst mit ihm bald
+gut Freund. Er spielte eine gewisse Rolle in der Karawane, begleitete
+mich auch auf dem Wege nach Lhasa, und als er zwei Jahre später spurlos
+verschwand, trauerten alle um ihn. Ich liebe die Hunde; sie gehen mit
+ihrem ganzen Wesen in den Mühen des Karawanenlebens auf und tun stets
+ihre Pflicht.
+
+Als ich am Morgen des 10. aus dem Zelte trat, das noch immer an Bord
+stand, fand ich zu meinem Erstaunen das Holzgerüst zu einem ganzen
+Hause am Ufer aufgeschlagen. Der Bek von Jangi-köll hatte diese
+vorzügliche Idee gehabt; er hatte seine Leute aufgeboten, Bauholz
+besorgt und die Arbeit beim Morgengrauen anfangen lassen. Das Gerippe,
+das aus Pfählen, schmalen Stangen und Latten bestand, wurde im Laufe
+des Tages mit vertikal gestellten Schilfbündeln ausgefüllt, und sogar
+die Dachbalken wurden mit Kamischgarben bedeckt. Es wurde eine ideale
+Hütte von der im Loplande üblichen Bauart; sie enthielt zwei große
+Zimmer. Die Männer hatten sich das eine als meine Küche und Backstube,
+das andere als Aufbewahrungsort für mein ganzes Gepäck gedacht. Mir
+fiel jedoch ein, wie der bekannte Afrikaforscher Schweinfurth einmal
+Aufzeichnungen und Sammlungen von vielen Jahren dadurch eingebüßt hat,
+daß er sie in einer sehr feuergefährlichen Hütte aufbewahrte; ich
+ließ das Gepäck daher den ganzen Winter im Freien, es wurde aber mit
+Segeltuch und Filzdecken zugedeckt. Hätte es in meiner Absicht gelegen,
+in Jangi-köll zu überwintern, so hätte ich natürlich ein vollständiges,
+bequemes Holzhaus, in das die Fenster der Dunkelkammer hätten
+eingesetzt werden können, bauen lassen, aber ich hatte andere Pläne
+und sollte bloß einige Tage, zu drei verschiedenen Malen, an diesem
+schönen Orte Gastfreiheit genießen. Doch während dieser Tage kam mir
+die Hütte sehr zustatten, und sie erlangte einen gewissen Ruf im ganzen
+Loplande. Unser Lagerplatz wurde allgemein +Tura-sallgan-ui+
+(das von dem Herrn erbaute Haus) genannt (Abb. 54), und mir ist von
+Lopliks versichert worden, daß dieser Name sich für alle Zeiten in der
+geographischen Nomenklatur der Gegend einbürgern werde, geradeso wie
+eine Stelle am Kuntschekkisch-Tarim noch heute Urus-sallgan-sal oder
+„Der Russe baute eine Fähre“ heißt, weil dort einst Kosloff auf einem
+Floße von dürren Tograkstämmen den Fluß überschritten hat.
+
+Die Hütte sollte jedoch die Vergänglichkeit aller anderen irdischen
+Dinge teilen. Als die nächste Frühlingsflut das Bett des Tarim
+füllte, überschwemmte er hier seine Ufer und zerstörte nicht nur
+den Bootshafen, sondern riß auch unsere Hütten und die Pappel mit
+fort; da waren wir aber schon abgezogen und hatten unsere Penaten
+auf festerem Boden aufgestellt. Es war dies jedoch eine schlagende
+Bekräftigung meiner auf jahrelange Beobachtungen gegründeten Theorien
+über die hydrographischen Unberechenbarkeiten in den unteren Teilen
+des Tarimsystems; nicht ein Stück blieb von Tura-sallgan-ui übrig,
+keine einzige Spur wird in Zukunft von unserem langen Besuche an diesem
+reizenden, aber trügerischen Ufer Zeugnis ablegen.
+
+Wie friedlich vergingen mir die Tage in Tura-sallgan-ui! Ich hätte als
+Gast des Schahs von Persien in den Spiegelhallen und Marmorsälen seines
+Palastes nicht in gehobenerer Stimmung sein können als hier zwischen
+den Kamischmauern dieser luftigen Wohnung, wo der Wind seine unendlich
+melancholischen Trauermärsche in den Schilfstengeln pfiff, dem Klagen
+unzähliger, friedloser Luftgeister vergleichbar.
+
+Für unsere acht Pferde wurde aus demselben Material ein geräumiger
+Stall erbaut, dessen eine Längsseite nach dem Hofe zu offen blieb.
+Unsere Hühner erhielten neue Kameraden, und wir kauften auch Schafe und
+Kühe, die uns mit Milch versahen. Das Ganze wurde schließlich der reine
+Gutshof, der, wenn er auch gerade nicht als Muster eines solchen gelten
+konnte, doch der gemütlichste und behaglichste war, mit dem ich je zu
+tun gehabt habe. Zwischen den Hütten, dem Zelte, den Kamellasten, der
+Küche und dem Hafen entstand ein freier Platz, der Markt des Dorfes;
+dort brannte Tag und Nacht ein Feuer, um das herum Matten ausgebreitet
+waren und Gäste empfangen wurden; dies war der „Klub“. Das Feuer
+durfte erst im Mai des folgenden Jahres ausgehen; es wurde nicht von
+jungfräulichen Vestalinnen, sondern von bärtigen Barbaren unterhalten.
+Die Nachtwachen, die alle zwei Stunden abgelöst und von den Kosaken
+kontrolliert wurden, speisten die Flammen während der nächtlichen
+Stunden und wärmten sich dort in den kalten Winternächten.
+
+Schon seit unserer Ankunft hatte ich Erkundigungen über die Wüste im
+Südwesten eingezogen, aber die Bevölkerung wußte von den Geheimnissen,
+die sich hinter dem hohen Sande verbargen, herzlich wenig. Längs des
+rechten Ufers erstreckte sich eine berghohe Wand von unfruchtbaren
+Dünen und lockte mich mit geradezu unwiderstehlicher Gewalt. Das
+einzige, was ich gewiß wußte, war, daß ich jetzt einen gefährlichen
+Streich auf ihre Verschanzungen wagen, einen Kampf auf Leben und Tod
+mit dem breitesten Gürtel der Wüste Takla-makan beginnen würde. Aber,
+wie gesagt, irgendwelche Auskunft von Wert konnte ich nicht erhalten.
+Was mich am meisten in Erstaunen setzte, war das Entsetzen, mit dem das
+Volk von der Wüste sprach, die gewöhnlich schlechtweg Kum, Tschong-kum
+oder, nach einer sagenhaften Stadt, die in ihrem Inneren begraben
+liegen soll, Schahr-i-Kettek-kum genannt wurde. Man hielt es für das
+Schlimmste, was einem Menschen passieren könne, wenn er sich freiwillig
+oder unfreiwillig dorthin verirrte; keiner war je dort gewesen;
+ehemalige Kameljäger und die heutigen Goldsucher hatten sich nur zwei
+Tagereisen weit vom Flusse zu entfernen gewagt und waren dann stets
+schleunigst wieder umgekehrt, von Entsetzen über diesen unheimlichen,
+gar kein Ende nehmenden Sand überwältigt. Wir wurden für Selbstmörder
+angesehen, als wir dorthin zu wollen erklärten, und man prophezeite
+uns, daß wir nie mehr zurückkehren würden. Ich beruhigte die Leute
+jedoch ein wenig, indem ich ihnen erzählte, es sei nicht das erste Mal,
+daß ich mich erdreiste, den Kampf mit der Sandwüste aufzunehmen.
+
+Von Tura-sallgan-ui sah man im Südwesten eine Unterbrechung in dem
+Sandwalle. In ihr sollte das Becken des Basch-köll liegen, und am
+Ufer davor ist ein Dorf +Jangi-köll-ui+, in dem mehrere unserer
+Lieferanten und neuen Freunde wohnten. Das Wenige, was mir erzählt
+wurde, erhöhte nur noch mein Verlangen, die Wüste zu besuchen. In
+der Verlängerung der Seen in dieselbe hinein sollten sich offene,
+kahle Bodeneinsenkungen hinziehen, die trockenem Seeboden glichen,
+nach Ansicht der Eingeborenen aber durch Nordostwinde, die den Sand
+fortfegen, entstanden waren. Diese Senkungen werden „Bajir“ genannt,
+doch wie weit sie gehen, wußte niemand. Man hatte nur von früher
+gehört, daß vor vielen hundert Jahren fern im Südwesten ein heidnisches
+Volk unter dem Herrscher Atti Kusch Padischah gewohnt habe. Heilige
+Imame hätten sich zur Verbreitung des Islam dorthin begeben; da das
+Volk aber die neue Lehre nicht annehmen wollte, hätten die Imame den
+Fluch und die Rache des Himmels über das ganze Land herabgerufen; dann
+habe es tagelang Sand geregnet und Land, Volk und Städte seien darunter
+begraben worden.
+
+[Illustration: 56. Zusammentreffen mit dem Franzosen Bonin. (S. 144.)]
+
+[Illustration: 57. Bonin im Hauptquartier. (S. 145.)]
+
+[Illustration: 58. Parpi, Palta und Islam auf den äußersten Dünen des
+Sandmeeres am Jangi-köll. (S. 150.)]
+
+Bevor ich endgültig aufbrach, wollte ich eine kürzere Versuchsexkursion
+machen, um zu rekognoszieren, und berief daher abends alle nach dem
+„Klub“, wo ich folgenden Tagesbefehl für den 11. Dezember erteilte.
+Die Kamele, die die Exkursion mitmachen sollten, mußten über den
+Fluß geführt werden, der notwendige Proviant war zu ordnen, und die
+Verbindung zwischen beiden Ufern offen zu halten. Während meiner
+Abwesenheit sollte die Hütte wohnlich eingerichtet werden. Das große,
+dem Flusse zugekehrte Zimmer sollte in zwei kleine geteilt werden,
+von denen das innere doppelte Kamischwände erhalten und mit Filz
+ausgeschlagen werden sollte, um es zugfrei zu machen. Der Fußboden
+sollte mit Binsen und Teppichen belegt werden, in der Mitte aber eine
+Feuerstelle und darüber ein Loch im Dache sein. Das neue Haus war bis
+zu meiner Rückkehr fertigzustellen.
+
+Während ich am 11. meine wissenschaftlichen Beobachtungen machte,
+wurden Anstalten zum Überführen der Kamele getroffen, was durchaus
+nicht leicht war. Unsere Annahme, daß das Eis tragen würde, erwies
+sich als unrichtig. Ein heftiger Wind hatte die gefrorenen Stellen
+wieder aufgerissen; darauf war der Fluß in der letzten Nacht von neuem
+zugefroren, aber das Eis war noch nicht genügend tragfähig. Die Kamele
+hinüberschwimmen zu lassen, wäre ihr Tod gewesen. Der einzige Ausweg
+war, sie auf der großen Fähre zu transportieren, aber diese lag so fest
+wie in einem Schraubstock. Die Kosaken wußten aber Rat; sie boten Leute
+auf, die eine Rinne durch die fußdicke Eisdecke in unserer kleinen
+runden Bucht schlugen. An einer schmalen Stelle unmittelbar oberhalb
+des Lagers wurde ein Tau viermal über den Fluß gespannt. Die Strömung
+betrug hier beinahe einen Meter in der Sekunde, und gerade dieser
+Punkt war der letzte, der im Winter zufror. Die Stelle war bis auf ein
+ziemlich breites Eisband an dem niedrigen rechten Ufer noch vollständig
+offen. Die Fähre wurde an dem Tau hinübergezogen und nahm ein Kamel auf
+dem Achterdeck mit. Sie landete an der Eisdecke des rechten Ufers, die
+so fest war, daß sie die Kamele trug.
+
+Gegen Abend besuchte mich ein chinesischer Siah (Schreiber); er war von
+dem Amban von Kara-schahr hergeschickt, um sich nach meinem Befinden
+zu erkundigen, eigentlich aber war er ein unschädlicher Spion, der
+ausfindig machen sollte, was für ein Kunde ich sei. Nasar Bek, mein
+alter Freund und Wirt von Tikkenlik, kam spät abends und blieb über
+Nacht, so daß wir lange gemütlich miteinander plaudern konnten. Er
+teilte mir allerlei Interessantes mit. Zuerst wußte er zu erzählen,
+daß ein Russe von Dung-chan (Sa-tscheo) nach Tscharchlik gekommen sei
+und in einer Woche ungefähr hier sein werde; ich ahnte, daß dies kein
+Russe, sondern der französische Reisende Bonin sei.
+
+Nasar Bek erzählte auch, daß sich in der Nachbarschaft von Jing-pen und
+Tikkenlik in der letzten Zeit einige Male wilde Kamele gezeigt hätten,
+und einmal hatte der Bek selbst eine Herde von fünf Tieren in der Nähe
+der Straße nach Turfan gesehen. Er wußte, daß zu den Zeiten seiner
+Vorfahren Beke aus Turfan gekommen waren, um von der Lopbevölkerung
+einen Tribut von Otterfellen für die Chinesen einzufordern. Sie
+pflegten östlich um den Bagrasch-köll über den Kurruk-tag und den
+Kum-darja, dann bei Turfan-köbruk über den Ilek zu gehen und am
+Kara-köll Halt zu machen. Aus chinesischen Quellen wissen wir, daß
+diese Angabe mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Der Otter (Kama)
+kommt im Tschiwillik-köll und mehreren andern Seen der Gegend vor,
+dagegen aber, soviel ich habe erfahren können, im Kara-koschun nicht;
+man muß sich dies merken, denn es läßt vermuten, daß die nördlichen
+Seen mit den südlichen, die ein ganz neues Gebilde ausmachen, nicht in
+Verbindung gestanden haben. Der Otter wird des Felles wegen mit einer
+Art Fischgabel (Sendschkak) auf dem Eise nach Schneefall gefangen. Man
+sieht dann in dem Schnee, dessen Menge in diesen Gegenden übrigens
+sehr unbedeutend ist, wo ein Otter gegangen ist; hat er sich z. B. in
+eine Wake begeben, um Fische zu fangen, so lauert der Jäger mit der
+Fischgabel an dem Loche oder er hat rings um das Loch eine Schlinge
+gelegt, die zugezogen wird, sobald das Tier wieder den Kopf aus dem
+Wasser steckt. Gibt es mehrere Waken, so werden an allen Schlingen
+gelegt und Wachen ausgestellt, da man nicht wissen kann, wo sich der
+Otter zu zeigen gedenkt.
+
+Nasar Bek war vor ein paar Jahren in Tusun-tschappgan gewesen und
+hatte dort von einem Hügel herab ungefähr einen Tagesritt weit nach
+Nordosten eine Wolke oder Nebelwand (Bulut) gesehen, die seiner Meinung
+nach von einem im Norden des Kara-koschun liegenden unbekannten See
+herrühren mußte. Er glaubte, daß der Kum-darja, das ausgetrocknete Bett
+am Südfuße des Kurruk-tag, früher in diesen See gemündet habe, welche
+Vermutung von guter Urteilskraft zeugte und, wie ich später nachweisen
+konnte, vollkommen richtig war.
+
+Vor 18 Jahren war der Bek in drei Tagen von Argan nach Lop geritten,
+wobei er das trockene Bett des Ettek-tarim als Straße benutzte. Vor 12
+Jahren kamen noch wilde Kamele von Westen her an dieses Bett. Damals
+gingen öfters Kameljäger von Wasch-schahri nach Argan durch die Wüste,
+in der noch Tamarisken waren; über das Innere der Tschertschenwüste
+konnte aber auch Nasar Bek keine Auskunft geben.
+
+Dies und vieles andere erzählte der dicke Nasar Bek, und ich merkte mir
+seine Worte; sie sollten nicht ohne Einfluß auf meine künftigen Pläne
+bleiben.
+
+
+
+
+Dreizehntes Kapitel.
+
+Eine französische Visite.
+
+
+Der 12. Dezember, an dem die Exkursion beginnen sollte, setzte mit
+wenig einladendem Reisewetter ein, denn es stürmte heftig aus Südwest,
+und sobald man ins Freie trat, erstarrte man vor Kälte. Durch die
+Talsenkung des Basch-köll strich der Wind wie durch einen Flintenlauf.
+Die Kosaken, die sich wie Polarreisende eingehüllt hatten, nahmen
+unsere Jagdgewehre mit. An dem Ausfluge beteiligten sich außerdem
+nur Faisullah, Ördek und Pavan Aksakal (der weißbärtige Jäger), ein
+hochgewachsener, heiterer Greis aus dem Dorfe Jangi-köll, der bald
+einer unserer besten Freunde wurde und alles tat, um sich uns aufs
+beste nützlich zu machen. Die Karawane bestand aus vier Kamelen, auf
+denen wir abwechselnd ritten. Die Hunde Maschka und Taigun begleiteten
+mich zum ersten Male.
+
+Meine Ausrüstung war so einfach wie nur möglich: eine kleine Kiste
+mit den notwendigen Instrumenten, Kodak, Fernglas und Küchengeschirr;
+ein Bündel Kissen, Filzdecken und Pelze bildeten mein Bett. Das
+Gepäck wurde in der kleinen Fähre hinübergebracht, die stets, solange
+es noch offenes Wasser gab, die Verbindung zwischen beiden Ufern
+aufrechterhielt und so fleißig benutzt wurde, daß wir eigens einen
+Loplik als Fährmann anstellen mußten. Die Kamele wurden auf dem rechten
+Ufer beladen; dann zogen wir nach dem Dorfe Jangi-köll. Ein Vorrat von
+Eis wurde mitgenommen, denn das Wasser des Basch-köll ist salzig, seit
+sein Kanal vor 10 Jahren abgesperrt wurde.
+
+Das jetzt 20 Familien zählende Dorf lag früher am Kanale des
+Jangi-köll, als aber vor acht Jahren elf Einwohner an den Pocken
+starben, zogen die Überlebenden nach der Mündung des Basch-köll und
+nahmen den Dorfnamen mit. Erkrankt jemand an den Pocken, so ergreift
+alles, was in der Nähe ist, die Flucht.
+
+Unsere Reise ging längs des Südostufers des Basch-köll weiter. Dieser
+war am Rande schon so fest zugefroren, daß er gerade einen Mann tragen
+konnte; im übrigen glich die Eisdecke einer sehr dünnen, schwankenden
+Scheibe, und in der Mitte des Sees sah man noch große, offene Stellen
+klaren, blauen Wassers, das jetzt in Wellen ging und den Eisrand
+zerfetzte. Daß der See nicht ganz zugefroren war, kam von seinem
+leichten Salzgehalte.
+
+Einige Enten und Schwäne draußen auf dem Wasser hatten wohl das
+Fortziehen vergessen. Der See ist 20 Kilometer lang und an einigen
+Stellen nur einen, selten zwei Kilometer breit. Er zieht sich ganz
+gerade nach Südsüdwest hin und gleicht einem in die Sandwüste
+einschneidenden Fjord; in seinem fernen Hintergrunde erheben sich die
+Dünen kaum über den Horizont. Das Seeufer reicht jedoch nicht bis an
+die Basis der Dünen heran; ein Gürtel von sehr langsam abfallendem
+Erdreich liegt zwischen beiden und besteht aus mit Sand untermischtem
+Schlamm, in welchem man um die Sommerzeit einsinkt, der aber jetzt
+festgefroren war. Wenn man den Kanal, der vom Flusse nach dem See
+führt, jetzt öffnete, würde das Wasser um Manneshöhe steigen und diesen
+tiefliegenden Gürtel überschwemmen. Am Ostufer, wo wir wanderten,
+fallen die Dünen steil ab, am Westufer aber steigen sie treppenförmig
+auf, welches Verhältnis seinen Grund in dem im ganzen Loplande
+vorherrschenden östlichen Winde hat.
+
+In einiger Entfernung vom Ufer sah man einige Brunnen, welche
+Schafhirten aus Jangi-köll gegraben hatten, weil das Brunnenwasser
+weniger salzhaltig sein soll als das des Sees. Diese Hirten besuchen
+auch von Zeit zu Zeit die Steppen am Kontsche-darja.
+
+Wir machten am Südende des Sees, wo es gutes Brennholz gab, Halt, und
+das Biwak unter freiem Himmel -- wir hatten kein Zelt mitgenommen --
+war wirklich gemütlich. Was machten wir uns daraus, daß es in der
+dunkeln Nacht um uns herum stürmte. Wir hatten in der Dunkelheit
+einen gewaltigen Arm voll trockener Tamariskenzweige gesammelt. Die
+Kosaken hatten ein vortreffliches, aus Rebhühnern, Reispudding und Tee
+bestehendes Mittagessen bereitet, und nachdem ich die auf dem Marsche
+gemachten Beobachtungen in das Tagebuch eingetragen hatte, legten wir
+uns schlafen, von dem Zufußgehen ziemlich müde. Sirkin deckte mich so
+sorgfältig zu, daß ich mir wie ein in Papier eingewickelter Hering
+vorkam.
+
+Am nächsten Morgen war die ganze Landschaft mit einer gewaltigen
+Reifschicht überzogen, und die Dünen sahen wie beschneit aus. Die
+aufgehende Sonne drang nicht bis zu uns, sie wurde von den mächtigen
+Dünen im Osten verdeckt, und es war ein etwas ungemütliches Aufstehen,
+da wir 8 Grad Kälte hatten.
+
+Im Süden des Sees steigt der Sand in nicht allzu steilen Absätzen an,
+und die Vegetation hört mit einem Schlage auf. Von der Höhe sieht man
+im Westen eine Bodeneinsenkung (Bajir), die etwa 1 Kilometer lang und
+½ Kilometer breit sein mochte, mit feuchtem, unfruchtbarem Salzboden
+in der Mitte und vereinzelten Grasbüscheln am Rande. Sie hat die Form
+eines Kessels, da sie auf allen Seiten von kolossalen, steilen Dünen
+umschlossen ist, und gleicht dem Boden eines alten Sees, den der
+Flugsand sorgfältig zu vermeiden scheint.
+
+Im Süden und Südwesten erscheint ein Meer von Sand mit außerordentlich
+markierten Protuberanzen oder kulminierenden Anhäufungen von Dünen, die
+den Wellen des Ozeans gleichen. Man kann sich vorstellen, daß in den
+zwischen ihnen liegenden Tälern zahlreiche Bajire liegen müssen. Die
+Protuberanzen sind hier näher aneinander als in den westlichen Teilen
+der Takla-makan, und oft sind die Dünen auf beiden Seiten steil, was
+eine Folge wechselnder Winde ist. Jedoch zeigen die großen Sandwogen,
+daß der Ostwind vorherrscht und kräftiger ist als alle anderen.
+Nachdem ich einen Überblick über das Terrain erhalten hatte und zu
+der Überzeugung gelangt war, daß dieser Punkt sich nicht eignete, um
+von hier aufzubrechen, da die Bajir des Basch-köll uns nur eine kurze
+Strecke weit bequemen, ebenen Boden bot, beschloß ich, für die große
+Wüstendurchkreuzung einen anderen Ausgangspunkt zu wählen und längs des
+Sees Jangi-köll nach Tura-sallgan-ui zurückzukehren.
+
+Wir wandten uns also nach Osten, in welcher Richtung die steilen Seiten
+der Dünen uns zugekehrt lagen. Wir mußten über alle diese abschüssigen
+Treppenstufen hinüber und machten lange Umwege, um die Kamele über die
+Riesenwelle, welche die beiden Seebecken scheidet, hinüberbringen zu
+können. Die Tiere hatten vor dem unsicheren Boden Angst, und über die
+höchsten Pässe rutschten zwei von ihnen auf den Knien, wohl um dem
+Boden näher zu sein, wenn sie fallen sollten.
+
+Während die Karawane weiterzog, führte mich Pavan Aksakal auf eine gut
+100 Meter hohe Düne hinauf, die das ganze Land weit umher beherrschte
+und von der aus die Kamele in der Tiefe wie kleine Käfer aussahen. In
+der südwestlichen Verlängerung des Jangi-köll zeigten sich drei große,
+durch ansehnliche Sandmassen getrennte Bajire. Im Nordosten trat der
+See selbst mit graublauem, glänzendem Eise hervor und in größerer Ferne
+der mächtige Sandwall, der sich zwischen dem Jangi-köll und dem rechten
+Ufer des Tarim erhebt.
+
+Mit Mühe lotsten wir die Kamele über einen gewaltigen Sandrücken und
+stiegen dann nach der großen viereckigen Bajir hinab, die dem innersten
+Teile des Jangi-köll am nächsten liegt. Ihr Boden ist ganz sandfrei und
+besteht aus konzentrischen Ringen. Zu äußerst, an der Basis der Dünen,
+haben wir weiche Stauberde, in welche die Tiere fußtief einsinken,
+dann folgt ein Ring sumpfigen Bodens, und zuletzt schneeweiße
+Salzkristallisationen. Im nordöstlichen Teile der Senkung finden
+wir einen großen und mehrere kleine Tümpel mit bitterem Salzwasser.
+Im Nordosten breitet sich ein Gürtel von zwei Meter hohem Schilfe
+aus; dort fanden wir einen vorteilhaften Lagerplatz mit einer Menge
+trockenen Brennholzes.
+
+Vom See ist unsere Bajir durch eine 30 Meter hohe Sandenge getrennt,
+an deren Basis süße Quellen sprudeln; das Wasser derselben wird aber
+salzig, nachdem es sich im Grunde der Senkung gesammelt hat. Die
+ungewöhnliche Landschaft gewährte, vom Sandrücken aus gesehen, einen
+außerordentlich ansprechenden Anblick. Der Jangi-köll ist so lang
+und gerade, daß sein nördliches, dem Flusse zunächst gelegenes Ende,
+an dem es keinen Sand gibt, gar nicht zu sehen ist, und man hätte
+ebensogut glauben können, an einem Fjord mit dem Meere vor sich zu
+stehen wie an einem Wüstensee, der von gewaltigen Dünen eingefaßt wird.
+Das Wasser ist süß und soll höchstens 7 Meter tief sein. Es ist zwei
+Jahre abgesperrt gewesen und sollte, zum Besten des Fischfanges, noch
+sieben bis acht Jahre isoliert bleiben. Einige kleine, im Nordosten
+offengebliebene Stellen ließen jedoch auf unterirdische Quellen
+schließen. Doch der Zufluß durch sie hält nicht gleichen Schritt mit
+der Abnahme des Sees; daß sein Spiegel fällt, sieht man schon an den
+Rändern der Eisscheibe, die an den Ufern umgebogen zu sein scheinen.
+
+Wir folgten dem Westufer nach Nordnordost. Der See hat dieselbe Form
+und Größe, sogar dasselbe Aussehen wie der Basch-köll und gleicht einem
+breiten Flusse. An einem Fischereiplatze mit Feuerspuren lag etwa ein
+Dutzend Kähne eingefroren am Ufer. Streckenweise wanderten wir auf dem
+Eise, das rein und durchsichtig wie Spiegelglas über kristallklarem
+Wasser lag. Bis in drei Meter Tiefe traten die kleinsten Einzelheiten
+auf dem Grunde hervor, und anfangs fühlte man sich unsicher, als
+sollte man über das Wasser einer ruhigen Bucht gehen. Es glich einem
+riesengroßen Aquarium mit Algen, die regungslos waren wie Korallen,
+und mit großen schwarzrückigen Fischen, die in den Algenbüschen
+schlummerten und von den Kosaken durch Stampfen aus ihrem starren
+Winterschlafe aufgeweckt wurden. Sie bewegten dann langsam die Flossen
+und zogen sich ruhig und gemächlich in die Tiefe zurück. Die kleinen
+Fische schossen in ganzen Schwärmen am Ufer entlang, wo das Eis 10,2
+Zentimeter dick war, während es nur hundert Schritte weiter seeeinwärts
+bloß 3 Zentimeter Dicke hatte. Nie habe ich einen so wunderbar schönen
+Eisspiegel gesehen. Ich fühlte mich beinahe versucht, mich hier für den
+Winter niederzulassen, nur um in einer provisorischen Eisjacht über
+seine glatte Bahn hinzusegeln, statt mich in den mörderischen Sand
+hineinzuwagen!
+
+An den Kanälen des Jangi-köll vorbei begaben wir uns längs des rechten
+Tarimufers nach dem Ausgangspunkte der Exkursion, wo der Fährmann uns
+mit seinem Fahrzeuge erwartete und Islam Bai und Parpi Bai uns in
+Empfang nahmen. Im Lager war alles ruhig.
+
+Der Tagesbefehl für den 15. Dezember lautete, daß Tschernoff, Islam
+und Ördek zu Pferd den Seit-köll untersuchen und nachsehen sollten, ob
+das Land in seiner südwestlichen Verlängerung sich zum Ausgangspunkte
+der Wüstenreise eignete. Sie führten ihren Auftrag schnell und gut
+aus. Tschernoff und Ördek, die beide Rekognoszierungen mitgemacht
+hatten, konnten infolgedessen Vergleiche über die Güte beider Wege
+anstellen. Nach anderthalbtägiger Abwesenheit kehrten sie mit einer
+in großen Zügen entworfenen Kartenskizze über ihre Tour zurück.
+Meine Kundschafter versicherten, daß solcher Sand, wie wir ihn am
+Jangi-köll gesehen, dort weit und breit nicht zu erblicken sei und daß
+die Anhäufungen, welche die Bodensenkungen trennen, sogar zu Pferde
+passiert werden können. Von ihrem äußersten Südpunkte aus hatten sie
+noch einige Bajirmulden sich nach Südwest hinziehen sehen; durch diese
+würden uns wenigstens die ersten Tagereisen in hohem Grade erleichtert
+werden. Auch jetzt waren die Dünen weißbereift gewesen, und Ördek
+sprach den Gedanken aus, daß man bei Wassermangel seinen Durst mit Reif
+stillen könne. Ich vermutete indessen, daß der Reif nur in der Nähe des
+Flusses so reichlich sei und nach den zentralen Teilen der Wüste hin
+abnehmen werde.
+
+So wurde denn beschlossen, das Seebecken des Tana-bagladi zum
+Ausgangspunkte der Wüstenreise zu wählen.
+
+Bei meiner Rückkehr von der Rekognoszierung hatte sich das Aussehen des
+Tarim in einiger Hinsicht verändert. An der Fährstelle war jetzt nur
+noch ein Drittel der Breite offen, und das Treibeis hatte sich noch
+mehr vermindert, seit sowohl oberhalb wie unterhalb des Lagers große,
+ruhige Strecken des Flusses zugefroren waren. Das Wasser wurde klarer
+und war auf 19 Zentimeter durchsichtig, aber es war im Fallen begriffen
+und in einer Woche 24 Zentimeter gesunken, so daß die Eisfläche eine
+Schale mit klaffenden Rissen bildete.
+
+In Tura-sallgan-ui verbrachte ich wieder ein paar herrliche Ruhetage,
+und die Hütte wurde zu einer behaglichen Wohnung eingerichtet.
+Das innere Zimmer, wo meine Kisten, Instrumente, Schreibsachen
+usw. geordnet wurden und das von dem äußeren durch einen von einem
+Dachbalken herabhängenden, dicken Vorhang von rotem Filz getrennt
+wurde, war jedoch nicht warm zu bekommen. Inmitten all dieses trockenen
+Schilfes wagte ich nicht einen Ofen aufzustellen, da es nur einiger
+Funken aus seinem Rohre bedurfte, um das Ganze in Brand zu setzen.
+Daher wurde in die Hinterwand des Gemaches eine Tür gebrochen und
+unmittelbar vor dieser das Zelt aufgeschlagen; hier war die Benutzung
+des Ofens nicht mit Feuersgefahr verbunden. Die Außenseite des Zeltes
+wurde zusammengenäht, und rundherum schütteten wir einen Wall auf, um
+alle Zugluft abzusperren. Hier wurde mein Bett ausgebreitet; auf einem
+Tische hatte ich einige Arbeitsgeräte usw. Ich residierte demnach in
+einer Wohnung von drei Zimmern und fühlte mich in meinem eigenen Dorfe
+so wohl, daß es einer guten Portion Energie bedurfte, um alles zu
+verlassen und das Weihnachtsfest in der Wüste zu feiern.
+
+Doch wer konnte der „Urus Tura“ (der russische Herr) sein, der sich
+unseren Gegenden nähern sollte? Da ich wußte, daß Charles Eudes Bonin
+von China aufgebrochen war, um den Kontinent über Sa-tscheo, Lop und
+Urumtschi zu durchqueren, nahm ich an, daß er es sein müsse, und
+schickte ihm daher einen Eilboten entgegen, mit der Einladung, zu
+mir zu kommen und bei mir zu wohnen. Dieser Auftrag wurde Parpi Bai
+anvertraut, weil es Bonin interessieren mußte, einen Mann zu sehen,
+der den Prinzen von Orléans und Bonvalot auf ihrer Reise durch Tibet
+begleitet hatte und der Zeuge der Ermordung von Dutreuil de Rhins
+gewesen war.
+
+Am Abend des 16. kam Parpi Bai mit einer von französischer Artigkeit
+überfließenden Antwort wieder. Bonin -- er war es in der Tat -- war
+in dem 10 Kilometer nördlich von unserem Dorfe gelegenen Örtäng
+(Gasthause mit Posthalterei) von Dschan-kuli angekommen. Bei hellem
+Mondschein ritt ich dorthin und fand den berühmten Reisenden, von
+seinen anamitischen, französisch sprechenden Dienern umgeben, in einer
+Gaststube, die ein mitten auf dem Fußboden brennendes Feuer mit Rauch
+erfüllte.
+
+Auf einer langen Reise durch öde Gegenden kann es nichts Angenehmeres
+geben, als einen Europäer zu treffen. Jetzt war es mehr als je der
+Fall, denn Bonin war ein reizender, heiterer, witziger und gelehrter
+Herr, und es war für mich ein unvergleichliches Vergnügen, seinen
+interessanten Erfahrungen und Hypothesen zu lauschen. Er hatte eine
+alte Pilgerstraße über den Astin-tag nach Tibet gefunden und eine
+ehemalige Heerstraße, die von Sa-tscheo nach der Gegend führte, wo
+der alte Lop-nor gelegen hatte, und in betreff der Wanderung dieses
+Seebeckens hatte Bonin dieselben Ansichten wie ich.
+
+Bonin lud mich zu einem vortrefflichen Abendessen ein; am folgenden
+Morgen nach dem Frühstück begaben wir uns nach Tura-sallgan-ui, wo
+wir einen außerordentlich gemütlichen Tag verlebten (Abb. 56). Mein
+französischer Gast nahm mit großem Interesse das Dorf und seine
+Sehenswürdigkeiten, die Hütten, den Klub und den Hafen mit den
+eingefrorenen Booten in Augenschein. Die ganze Karte über den Tarim
+mit seinen zahllosen Krümmungen passierte Revue, und als der Mond
+aufging, machten wir sogar eine kleine Bootfahrt zwischen dem Treibeise.
+
+[Illustration: 59. Sandsturm in der Wüste. (S. 152.)]
+
+[Illustration: 60. Abstieg über den steilen Abfall einer Sanddüne. (S.
+155.)]
+
+Doch als der Abend kalt wurde, lud ich meinen Gast in das Zelt ein, und
+nun wurde im Ofen so eingeheizt, daß es in dem eisernen Rohre krachte.
+Ein „lukullisches“ Mahl wurde aufgetragen und alles, was das Haus
+vermochte, hergegeben, alle Speicher und Vorratskammern gebrandschatzt.
+Die Hauptgerichte waren schwedische Kaisersuppe, tatarischer
+Schißlick und turkestanischer Reispudding, dann folgte eine ganze
+Reihe Konserven, die wir mit dem Inhalte der einzigen, meinen ganzen
+Weinkeller bildenden Flasche, die Oberst Saizeff in einem unbewachten
+Augenblick in eine meiner Kisten eingeschmuggelt hatte, anfeuchteten;
+nach dem Essen gab es Tee und Zigarren. Es war der vergnügteste Abend,
+den ich im innersten Asien verlebt habe; erst nach Mitternacht endete
+das Gelage, das auch durch Tafelmusik verschönt wurde; Bonin machte es
+sich im Zelte bequem, und ich übernachtete im kalten „Salon“.
+
+Am Morgen des 18. fuhr Bonins weitgereister chinesischer Karren
+vor; die Abschiedsstunde schlug, und wir trennten uns: er, um in
+sein Vaterland zurückzukehren, ich, um in der Tiefe der Wüste zu
+verschwinden. Er hatte sein gut ausgeführtes Tagewerk hinter sich, vor
+meinem Blicke wogte in undurchdringlichem Nebel eine ganze Welt von
+Rätseln. Als alles fertig war, wurden Bonin und seine Diener unter
+der großen chinesischen Laterne, die an einem Pfahle in der Mitte des
+Marktes hing, photographiert (Abb. 57). Er trug einen langen, roten
+Mantel und ein ebenfalls rotes Baschlik und glich einem lamaistischen
+Pilger. Ein kräftiger Handschlag, und ~au revoir~! Er verschwand
+in seinem Karren, der zwischen den Gebüschen fortrollte. So war ich
+denn wieder allein, aber ich bewahrte unser Zusammentreffen als eine
+der angenehmsten Episoden der ganzen Reise in meinem Gedächtnis.
+Ein Hauch aus Europa war mit der Morgenröte über den Lop-nor zu
+mir gedrungen und mit der untergehenden Sonne wieder im Westen
+verschwunden. --
+
+Der stolze Tarim machte jetzt seine letzten Anstrengungen, um vor dem
+langen Winterschlafe noch ein bißchen zu leben. Gleich oberhalb des
+Lagers war der Fluß jedoch schon so fest zugefroren, daß man auf dem
+Eise hinüberreiten konnte, und infolge der großen Wassermassen, die auf
+diese Weise in dem Bette gebunden worden waren, fiel der Wasserstand
+am Lager immerfort. Wenn dieses kompakte Wintereis an der Lenzsonne
+schmilzt, entsteht eine erste Frühlingsflut, die „Mus-suji“ (Eiswasser)
+genannt wird; diese reichliche Flut war es, die der Fähre im nächsten
+Jahre weiter nach Südosten verhelfen sollte.
+
+Der 19. Dezember war für längere Zeit unser letzter Tag in
+Turasallgan-ui und verging unter Vorbereitungen zur Wüstenreise. Nach
+den Rekognoszierungen hatten wir den Tana-bagladi zum Ausgangspunkte
+bestimmt; doch lange hatten wir hin und her überlegt, ehe wir soweit
+gelangt waren. Die Eingeborenen, denen das Ganze als ein unheimliches,
+wahnsinniges Unternehmen erschien und die augenscheinlich nicht
+wünschten, daß Selbstmörder gerade von ihren friedlichen Hütten aus
+aufbrächen, rieten mir, die Wüste zu umgehen und die Durchquerung von
+Tschertschen aus nach dem Jangi-köll hin zu beginnen, und auch meine
+eigenen Leute fanden, daß dies ein kluger Vorschlag sei -- sie könnten
+uns dann mit einer kleinen Entsatzexpedition entgegenkommen und von
+einem bestimmten Tage an, wenn unsere Ankunft bevorstehe, allabendlich
+auf einer himmelhohen Düne einen Holzstoß anzünden, der unsere Schritte
+in die rechte Richtung lenken würde. Der Gedanke an diese Fackel der
+Winternacht, die auf der äußersten Klippe des Wüstenmeeres brennen und
+wie ein Leuchtturm ihren blendenden Schein über die Dünenkämme werfen
+sollte, war malerisch, phantastisch und recht verlockend. Wie festlich
+könnte dann unser Einzug in die warmen Hütten von Jangi-köll sein, wenn
+wir erschöpft, auf dem Schiffe der Wüste schaukelnd gerade auf das
+freundlich lockende gelbe Licht zusteuerten, dessen Schein uns das Ende
+unserer Mühsal verkündete! Doch ich ließ mich dadurch nicht verlocken;
+es war besser, mit ausgeruhten Tieren und von einem festen, sicheren
+Punkte aus aufzubrechen, und dabei blieb es.
+
+Mein alter erfahrener Diener aus den Takla-makan-Tagen, Islam Bai,
+wurde auch jetzt Karawan-baschi; die übrigen Teilnehmer waren Turdu
+Bai, Ördek und Kurban. Wir hatten nur sieben Kamele und ein Pferd, und
+von den Hunden durften nur Jolldasch und Dowlet ~II~ mitkommen, da
+ich die empfindlichen Windhunde der Mittwinterkälte unter freiem Himmel
+nicht aussetzen wollte.
+
+Eine aus Parpi Bai, Faisullah und einem Loplik namens Chodai Verdi
+nebst drei Kamelen bestehende Hilfskarawane sollte uns die vier ersten
+Tage begleiten und dann nach Hause zurückkehren.
+
+Die Kisten, die in der Hütte gestanden hatten, wurden für den Winter
+an Bord der Fähre gebracht, um gegen Feuersgefahr geschützt zu
+sein, und auf dem Dache der Dunkelkammer hatte das meteorologische
+Häuschen seinen ständigen Platz; dort arbeiteten der Thermograph
+und der Barograph ununterbrochen den ganzen Winter hindurch. Sirkin
+hatte es lernen müssen, mit ihnen umzugehen, und hatte seit dem 7.
+Dezember gründlichen Unterricht in meteorologischer Beobachtungskunst
+erhalten. Er wurde Oberhaupt und Leiter des Winterlagers; sein
+meteorologisches Journal führte er so genau, daß die Daten desselben
+als Stütze meiner eigenen, auf der Reise gleichzeitig ausgeführten
+Beobachtungen von großem Werte waren. Die Kosaken, die ich blutenden
+Herzens als Bedeckung des Lagers zurücklassen mußte, logierten in
+ihrem Zelte, in das sie den Ofen setzten, erhielten zwei Jamben zur
+Bestreitung der Haushaltkosten und hatten Überfluß an Proviant. Sie
+übernahmen auch die Verantwortung für den Wachtdienst und die Pflege
+unserer zurückbleibenden Tiere, deren Zahl sich um drei junge Maulesel
+vergrößert hatte, die wir für den außergewöhnlich billigen Preis von 70
+Sär bekommen hatten und die 3½ Jahre aushielten.
+
+Die Ausrüstung wurde mit größter Sorgfalt gewählt; es galt, mit
+leichtem Gepäck in den hohen Sand hineinzugehen, nichts Überflüssiges
+durfte mitgenommen werden. Wir hatten Reis und Mehl für zehn Tage,
+fertiggebackenes Brot für vierzehn Tage und für ebensolange „Talkan“,
+geröstetes Weizenmehl, das so wie es ist verzehrt wird. Ich nahm einige
+Konservenbüchsen, Tee, Zucker und Kaffee mit, die Männer einen Block
+chinesischen Ziegeltee. Der Proviant sollte also nur bis Tschertschen
+reichen, wo wir unsere Vorräte leicht erneuern konnten.
+
+In der einzigen Kiste, die ich mitnahm, lagen das Universalinstrument
+mit Stativ, meteorologische Instrumente, Nivellierspiegel, Kodak,
+Marschroutenbücher, Bandmaße, Proberöhren, Karten über Ostturkestan,
+eine Menge Kleinigkeiten und Kleider. Die Chronometer trug ich stets
+bei mir.
+
+Am 20. Dezember morgens um 7 Uhr weckte mich Islam mit der Frage,
+ob wir reisen wollten, da es heftig aus Südwest stürme. Es war dies
+deutlich zu merken, denn das Zelt blähte sich wie ein Gummiball und der
+Rauch drang aus dem Ofenrohre in meine Behausung; aber der Aufbruch
+war auf diesen Tag festgesetzt, und es ist nicht klug gehandelt, eine
+einmal beschlossene Sache auf die lange Bank zu schieben. Ich aß also
+ein letztes Frühstück in meinem warmen Zelte, dann wurde das Gepäck
+nach dem rechten Ufer gebracht, wo sich die Beke und die Bevölkerung
+der Gegend versammelt hatten, um uns zu einem Abenteuer aufbrechen zu
+sehen, von dem wir, wie sie fest glaubten, nie wieder zurückkehren
+würden!
+
+Das Beladen der Kamele begann. Meine Instrumentkiste, mein Bettsack
+und die Kiste mit dem Küchengeschirr bildeten eine Kamellast, der
+Hauptproviant und die Kleider der Leute eine zweite; das dritte Kamel
+war mit massiven Holzklötzen beladen, das vierte mit Mais für die Tiere
+und die drei übrigen mit Eis, das in kompakten Klumpen in Tulumen
+(Schläuchen von Ziegenfell) verwahrt wurde. Die drei Reservekamele
+hatten tüchtige Lasten, die aus lauter Holz und Eis bestanden. Alle
+Reisenden waren mit guten Winterkleidern und warmen Pelzen ausgerüstet.
+
+
+
+
+Vierzehntes Kapitel.
+
+Ins Herz der Wüste Takla-makan.
+
+
+Mit dem Flusse zur Rechten und dem gewaltigen Sande zur Linken zogen
+wir gerade nach Westen. Der Tarim war auf dem ganzen Wege stromaufwärts
+fest zugefroren; wir verließen ihn aber bald und bogen in den Sand
+ein, dem Südostufer des Tana-bagladi-Sees folgend. Eine 20 Zentimeter
+dicke Eisscheibe bedeckte ihn; offenes Wasser war nirgends zu sehen.
+An unserem Ufer war die Tiefe so bedeutend, daß wir trotz des klaren
+Wassers nicht bis auf den Grund sehen konnten. Als wir die äußerste
+Seebucht im Süden erreichten, wurde eine kurze Rast gemacht; vier
+kleine Waken wurden in das Eis gehauen, und die Kamele durften noch
+einmal, das letzte Mal für längere Zeit, so viel trinken, wie sie
+konnten. Sie schienen zu wissen, daß sie Durst leiden würden, denn
+sie tranken lange und mit langem, saugendem Schlürfen. Nach jeder
+Wiederholung schnaubten sie und bewegten ihre weichen Lippen, daß
+die Wassertropfen weit umherspritzten und Eiszapfen in ihrem üppigen
+Winterbarte hingen. Sie waren ein wenig ängstlich davor, sich mit ihrem
+ganzen Gewicht über das spiegelblanke Eis zu beugen, das deshalb erst
+mit Sand bestreut werden mußte. Auch der kleine Schimmel von Kaschgar,
+die Hunde und die Männer benutzten die Gelegenheit, um sich ordentlich
+satt zu trinken; denn wenn wir auch für 20 Tage Eis mitgenommen hatten,
+konnte es dennoch sein, daß wir später mit dem kostbaren Getränke
+würden vorsichtig umgehen müssen.
+
+So wurde denn dieses letzte Wasser verlassen. Wir gingen über die
+Dünen, welche das Seebecken im Süden begrenzen, und lagerten an einem
+zugefrorenen Salztümpel, in dessen nordöstlichem Teile Kamisch wuchs,
+in welchem die von ihren Lasten befreiten Kamele weiden durften.
+
+In dem dichtesten Schilfe wurde ein kleiner, runder Aushau gemacht, in
+welchem wir uns niederließen, vor dem Winde geschützt, aber nur mit
+dem Himmel als Dach. Von dürrem Schilfe wurde ein Feuer angezündet
+das dann haushälterisch mit Spänen von dem ersten Holzklotze genährt
+wurde. Parpi Bai war Koch. Er wusch den Reis, legte ein Stück Fett in
+den Topf, in dem kleine Fleischstücke, Zwiebel und Suppenkraut kochten,
+streute den Reis hinein und fügte eine Kanne Wasser hinzu, worauf er
+den Topf mit einem Deckel zudeckte; der Pudding muß kochen, bis das
+Wasser teils verdampft, teils in den Reis eingezogen ist; so wird ein
+orthodoxer Reispudding bereitet. Einige nette Lopleute, die uns aus
+eigenem Antriebe begleitet hatten, überraschten uns abends mit je einem
+Armvoll Brennholz und Eis. Wir brauchten also unsere eigenen Vorräte
+von diesen beiden wichtigen Dingen nicht gleich am ersten Abend in
+Anspruch zu nehmen.
+
+Als ich am folgenden Morgen aus meinem Bette kroch, tobte noch immer
+der Sturm aus Südwest, aber die natürliche Schilfhütte schützte uns vor
+ihm, und das Feuer verbreitete wohltuende Wärme in dem Halbdunkel. Die
+Tagereise ging in jeder Beziehung gut, da das Terrain wider Erwarten
+günstig war. Unser Weg war uns vollständig durch jene eigentümlichen
+Bajirmulden vorgeschrieben, die in einer Reihe nach Südwesten laufen.
+Im Südwesten unseres Lagerplatzes gehen wir über eine sehr niedrige,
+bequeme Sandschwelle nach der ersten Bajir, an deren Anfang einige
+von Salzkristallisationen umgebene Salzwassertümpel liegen -- wie
+gewöhnlich in dem Teile der Bodensenkung, der dem Flusse zunächst
+liegt. Die zweite und dritte Bajir waren ein wenig kleiner. Man konnte
+fürchten, daß dies ein Zeichen des Aufhörens der Bajire sei und wir
+wieder in lauter Sand wie in der Takla-makan würden waten müssen, aber
+die Bajir Nr. 4 beruhigte uns; sie war ebenso groß wie die drei ersten
+zusammengenommen. Diese Mulden, deren Boden in gleicher Höhe zu liegen
+und vollständig eben zu sein scheint, sind voneinander durch schmale
+Landgürtel getrennt.
+
+Der Bajirboden ist selten fest; hier bestand er aus feinem, feuchtem
+Staube, in den die Kamele 40 Zentimeter tief einsanken, und die
+Wanderung war langsam und ermüdend; wir brauchten vier Minuten zu
+einer Strecke von 200 Meter, legten also nur 3 Kilometer in der Stunde
+zurück. Das erste Kamel hat es am schlimmsten, denn es muß einen Weg
+für die anderen auspflügen, das letzte dagegen geht beinahe wie auf
+einem angelegten Fußpfade, den ich auf meinem kleinen Schimmel auch
+benutzte. Meine Männer gingen zu Fuß, außer Parpi Bai, der auf einem
+Kamele oben auf einem Holzhaufen saß.
+
+Der Gestalt nach sind alle diese Bajire einander gleich, und man
+findet, daß dieselben Naturkräfte sie alle gebildet haben. Denn
+dasselbe Relief kehrt mit bewunderungswürdiger Regelmäßigkeit
+wieder. Sie erstrecken sich von Nordosten nach Südwesten und sind im
+allgemeinen nur einen Kilometer breit. Wir wandern stets an einem
+der „Ufer“ hin, weil der Boden da, wo der Sand in den Staub übergeht,
+am härtesten zu sein pflegt. Gleich den Seen sind sie überall von
+Sand umgeben, aber die Dünen des südöstlichen Randes bilden eine
+fortlaufende zirka 33 Grad steil abfallende Wand, während im Nordwesten
+die Luvseitenabhänge der Dünen langsam zu einer Kulmination ansteigen,
+an deren Westfuße man sicher darauf rechnen kann, noch eine Bajir zu
+treffen. Es versteht sich von selbst, daß die von uns eingeschlagene
+Richtung die einzig mögliche war; sie mußte uns gerade auf unser Ziel,
+das Dorf Tatran am Tschertschen-darja, eine Tagereise unterhalb der
+Stadt Tschertschen führen. Nach Osten oder Westen zu gehen, ist in
+dieser Wüste sogar für einen Fußgänger beinahe ganz unmöglich.
+
+Wir schreiten schwer und langsam beim Klange der Glocke des letzten
+Kameles dahin. Die Landschaft ist unsagbar tot und öde; selbst die
+Sandwüsten auf dem Monde, wenn es solche gibt, können nicht jeglichen
+organischen Lebens barer sein als diese hier. Es ist nichts, absolut
+nichts vorhanden, was darauf schließen ließe, daß hier je Leben
+in irgendeiner Gestalt existiert habe. Nur die Spuren der drei
+Kundschafter, die ich ausgeschickt hatte, bewirkten eine Unterbrechung
+der leblosen Einförmigkeit; auch sie hörten bald auf (Abb. 58).
+
+Kurz vor dem Ende der Bajir Nr. 4 machten wir Halt -- Lager Nr. 2 --,
+aber jetzt fehlte uns die Schilfhecke, und wir waren dem wirbelnden
+Flugsande völlig preisgegeben. Die Kamele wurden angebunden, damit sie
+nicht ihrer Gewohnheit gemäß nachts nach den üppigen Weideplätzen am
+Flusse durchbrannten. Zwei kleine Feuer wurden angezündet; es waren
+unser zu viele, um an einem Feuer Platz zu finden.
+
+Das große, alles beherrschende Gesprächsthema ist: wie weit erstrecken
+sich diese gesegneten Mulden? Denn so weit sie reichen, hat es keine
+Not. Ich erklomm die nächste hohe Düne. Die Landschaft, die sich nach
+Osten hin aufrollt, ist geradezu unheimlich; dem Blicke begegnen auf
+dieser Seite nur die steilen Abhänge auf den südöstlichen „Ufern“ der
+Bajire, und man sieht nur ein aufgeregtes Sandmeer in riesenhaften
+Wogen, die im Begriffe gewesen zu sein scheinen, gerade auf den
+Zuschauer loszurollen, aber unterwegs erstarrt waren und jetzt nur eine
+erlösende Zauberformel abwarten, um nach Westen weiterzurauschen. Nach
+meinen topographischen Arbeiten von der vorigen Reise mußten wir bis
+Tatran 285 Kilometer haben, also beinahe doppelt so weit wie von den
+Seen des Masar-tag nach dem Chotan-darja, welche Entfernung hingereicht
+hätte, eine ganze Karawane zu töten! Islam und ich, die jene Reise
+nie vergessen konnten, sahen nur zu wohl ein, wie gewagt diese neue
+Wüstenwanderung tatsächlich war.
+
+Man bedenkt sich erst noch, ehe man aus den Pelzen kriecht, wenn ein
+frischer westlicher Buran weht und die Luft mit Flugsand erfüllt
+ist, so daß sich das Tageslicht in Dämmerung verwandelt und wenn
+es obendrein -11 Grad kalt ist. Auf dieser ganzen Expedition, die
+zwei Monate dauerte, schlief ich jede Nacht, außer in Tschertschen,
+unter freiem Himmel, was mir in keiner Weise schlecht bekam. An den
+Holzspänen und Eisstücken wurde schon jetzt gespart.
+
+Parpi Bai war kränklich, und ich wollte ihn schon vom Lager Nr. 2
+zurückschicken, aber er konnte in seinem schweren Pelze nicht gehen und
+Tura-sallgan-ui in einem Tage nicht erreichen; eines der Kamele mußte
+sich seiner erbarmen. Es war die einzige meiner Wanderungen, an der er
+teilnahm; seine Tage waren gezählt.
+
+Heute wurden 22,4 Kilometer zurückgelegt, größtenteils auf ebenem
+Bajirboden; die Sandengen zwischen den Mulden wurden nach und nach
+höher und breiter. Das einzige nicht recht Gute war, daß die Depression
+sich fortlaufend nach Südwesten erstreckte; hielt diese Richtung an,
+so würden wir in das grenzenlose Sandmeer hineingeraten und in die
+diagonale Richtung nach Nija hinüber gezwungen werden, was mehr wäre,
+als eine Karawane auch unter den günstigsten Verhältnissen würde
+aushalten können. Andererseits aber wäre es töricht gewesen, von der
+von den Bodensenkungen vorgeschriebenen Richtung abzuweichen, denn ein
+günstigeres Terrain konnte man sich in einer Sandwüste nicht wünschen.
+
+Die schwindelnd hohen, unendlichen Sandmassen, die sich in diesem
+Teile des inneren Ostturkestan ausbreiten, gleichen in ihrer
+Anordnung einem Netze, in dessen Maschen die Bajire liegen. Wo wir
+auch vom Flusse aus die Reise angetreten hätten, stets wären wir in
+eine ununterbrochene Rinne von Mulden hineingeraten, die alle auf
+derselben Linie nach Südsüdwesten liegen. Die Depressionen erleiden
+schon jetzt eine deutliche Veränderung. Ihr Boden wird härter und
+bequemer für die Kamele, trockener und sandreicher. Ferner tauchen an
+den „Ufern“ Lehmränder in Gestalt von 1½ Meter hohen Tafeln und
+Terrassen oder nur unter dem Sande hervorspringenden Leisten auf; sind
+sie kein Gebilde der Winderosion, so können sie ihre Entstehung nur
+dem Wasser verdanken; sie gleichen uralten Uferlinien, die auf Seen
+oder Flüsse schließen lassen. Für die Annahme, daß die Bajirmulden
+alte Seedepressionen anzeigen, spricht ihre Beckenform und die
+konzentrisch angeordneten Gürtel von Terrassen aus mit Salz gemischtem
+Staube (Schor) und Salz, welches Aussehen auch die jetzigen Uferseen
+Jangi-köll, Basch-köll, Tana-bagladi usw. erhalten würden, wenn sie
+austrockneten.
+
+Ich selbst neige mehr zu dem Glauben, daß wir jetzt auf dem
+Grunde eines riesigen Binnensees wanderten. Dafür sprechen die
+Niveauverhältnisse des ganzen Tarimbeckens, die Stromrichtung des
+Tarimflusses und des Tschertschen-darja und die Lage der Bajirketten;
+denn jede Bajirreihe bildet einen Bogen, dessen Mittelpunkt zwischen
+dem alten Lopsee und dem Kara-koschun, wo wir auch die tiefste
+Depression des Tarimbeckens finden, gelegen ist.
+
+Von der sechsten Bajir an wurde der Boden so, daß man die Depression an
+jedem Punkte überschreiten konnte; die vorhergehenden waren in ihren
+inneren Teilen so weich und tückisch gewesen, daß man in ihnen spurlos
+hätte versinken können, wenn man sich zu weit vom Rande entfernt hätte.
+Ein interessanter Fund wurde in der Bajir Nr. 8 gemacht: einige poröse
+spröde Skeletteile von einem wilden Kamele.
+
+Im Lager Nr. 3 wurde versuchsweise ein Brunnen gegraben, der schon
+auf 1,2 Meter Tiefe reichlich Wasser von +4,8 Grad gab, es war aber
+bitteres, konzentriertes Salz. Der Boden ist nirgends gefroren, obwohl
+die Feuchtigkeit bis an die Oberfläche reicht; er ist aber auch überall
+stark mit Salz vermischt.
+
+23. Dezember. Heute weckte uns wieder ein richtiger Buran. Der Himmel
+war mit Wolken bedeckt und die Luft so mit Flugstaub gesättigt, daß
+die Landschaft, wenn man diese Heimat der Todesstarre so nennen kann,
+auf einige hundert Meter Entfernung verschwand und nur die nächsten
+Gegenstände seltsam und unheimlich hervortraten (Abb. 59). Die einzigen
+menschlichen Gäste, welche diese Wüste je gehabt, erstaunten darüber,
+daß der Flugsand, der besonders während der Frühlingsstürme in Menge
+treiben muß, die Bajire nicht ganz und gar ausfüllt und sie ganz von
+der Erdoberfläche vertilgt. Doch in Wirklichkeit scheint jedes Sandkorn
+ebenso treu, wie der elektrische Strom durch sein Kabel eilt, gewissen
+Bahnen zu folgen, die ihm nicht erlauben, sich in den Depressionen
+niederzulassen, sondern es zwingen, sich auf einem der Dünenabhänge
+niederzulassen. Es ist, als scheute der Sand die nackten Flächen.
+Natürlich werden diese Verhältnisse vom Winde diktiert.
+
+Vom Lager Nr. 3 wurde die Richtung der Bajirreihe Südsüdwest, und ich
+hielt immerfort den Kurs auf das Dorf Tatran. Es war jedoch deutlich,
+daß wir uns immer höher werdendem Sande näherten; schon jetzt wuchsen
+die Engen zwischen den Bajiren an Höhe und Breite, und wir gingen
+längere Strecken in diesem Sande als auf ebenem, nacktem Boden. Ein
+paarmal suchten wir sogar vergebens nach einer Bajir; wir waren
+offenbar vom Wege abgekommen und hatten uns auf Protuberanzen zwischen
+Depressionen, die wir in der dicken Luft nicht sahen, verirrt. Die
+Karawane mußte Halt machen, während wir einen Übergang suchten und
+darauf die anderen anriefen.
+
+[Illustration: 61. Das endlose Wüstenmeer. (S. 159.)]
+
+[Illustration: 62. Karawane auf dem Astin-joll. (S. 174.)]
+
+[Illustration: 63. Hirtenhütten in Schudang. (S. 176.)]
+
+[Illustration: 64. Das alte Bett des Tschertschen-darja. (S. 182.)]
+
+Die Bajire 9-12 waren tief wie Kessel, aber so klein, daß sie unsere
+Wanderung wenig erleichterten, um so mehr, als ein System von kleinen
+Dünen in der Richtung von Nordosten nach Südwesten ihren Boden kreuzte.
+Als wir die zwölfte Depression gekreuzt hatten, sah es bedenklich aus;
+wir keuchten lange auf dem Wege über die nächste Schwelle, die kein
+Ende nehmen wollte, und die Kamele blieben immer öfter stehen; aber
+schließlich erreichten wir den höchsten Rücken, der uns einen angenehm
+überraschenden Anblick bot: vor uns und tief unter uns dehnte sich die
+dreizehnte Depression aus; ihr Boden war ganz sandfrei, und ihr anderes
+Ende verschwand im Staubnebel; sie mußte uns also ein gutes Stück
+weiterhelfen. In der Mitte dieser großen Bajir erhoben sich einzelne
+Terrassen von Tonerde in horizontalen Schichten, aus der Ferne Häuser-
+und Mauerruinen gleichend.
+
+Wir lagerten zwischen zwei solchen Blöcken. Solange der Kochtopf und
+die Teekanne auf dem Feuer brodeln, hocken wir alle um dasselbe herum;
+nach dem Abendessen plaudern die Muselmänner über die Aussichten
+für den nächsten Tag, während ich beim Scheine einer Laterne meine
+Aufzeichnungen mache. Nur drei Holzstücke dürfen in jedem Lager
+draufgehen, zwei am Abend und eines am Morgen, sonst würde der Vorrat
+nicht zwei Wochen reichen.
+
+Der Sturm legte sich während der Nacht, und als ich in aller Frühe aus
+meinem Pelzneste guckte, warf der Mond seine silberglänzenden Strahlen
+auf unser stilles Lager, wo alle fest schliefen und nur die schweren
+Atemzüge der Kamele das tiefe Schweigen unterbrachen. Ich mußte daran
+denken, daß der Mond, wenn er überhaupt die Fähigkeit besäße, auf
+menschliche Weise zu sehen und zu reflektieren, sich sehr über die
+armen Würmer wundern würde, die sich in den ewigen Sand hinein verirrt
+haben und die in ihrem Trotze über Teile der Erdoberfläche ziehen, die
+nicht für Menschenkinder geschaffen sind. Ich dachte mit Neid an seinen
+erhöhten Platz im Weltraume, der ihm nicht nur auf dieses Sandmeer im
+innersten Asien hinabzusehen erlaubte, sondern auch auf mein Heim im
+Norden, nach welchem meine Gedanken gerade an diesem Abend mit ganz
+besonderer Sehnsucht eilten, war doch heute der heilige Abend.
+
+Müde von dem anstrengenden Sandmarsche des gestrigen Tages schliefen
+wir uns alle gemütlich aus, und die Sonne stand schon über den Kämmen
+der Dünen, als ich am Morgen erwachte. Alle Wolken und aller Flugstaub
+waren fortgezaubert worden, und das Sandmeer um uns herum glühte wie
+ein Lavastrom. Die Kamele, die stets dicht zusammengedrängt lagen, um
+sich aneinander zu wärmen, warfen lange, grelle Schatten auf den Boden,
+jenen seltsamen, öden Boden, auf dem man ein hilfloser, linkischer
+Gast ist und den zu betreten man sich kaum berechtigt fühlt. Es ist,
+als gehörte er einem anderen Planeten an.
+
+Jetzt wurde es im Lager lebendig; das Gepäck wurde wieder geordnet,
+aber die Auslese war schon so gründlich getroffen, daß nichts mehr
+entbehrt werden konnte. Parpi Bai, Faisullah und Chodai Verdi kehrten
+mit den drei Reservekamelen zurück. Es war die Rede davon, daß Kurban
+mit ihnen ziehen sollte, aber er war so heiter und vergnügt, daß das
+Weihnachtsfest ohne ihn noch einsamer geworden wäre, weshalb er bleiben
+durfte. Die Leute schienen ebenso verhext zu sein wie ich, sie wollten
+alle mit durch die Wüste.
+
+Die Zurückkehrenden erhielten ein paar Eisstücke, einen Holzklotz
+und einige Brotfladen, eine sehr knappe Beköstigung für den heiligen
+Abend; sie sollten die Entfernung in zwei Tagereisen zurücklegen und
+versuchen, den Seit-köll zu erreichen, welcher von hier aus der nächste
+Punkt war, an dem es Wasser gab. Im Sande waren unsere Spuren verweht,
+in den Bajiren würden sie jahrelang erhalten bleiben. Gefahr war nicht
+vorhanden; wohin sie sich auch nach Norden wendeten, stets würden sie
+an den Tarim gelangen. Es war mir eine Beruhigung, sie in Sicherheit
+zurückkehren zu wissen, und auch für uns war ein großer Vorteil dabei;
+der Wasservorrat würde nun länger reichen, da sechs Personen weniger
+davon zehrten. Bald entschwanden sie unseren Blicken wie schwarze
+Punkte auf dem Gipfel der nächsten Sandenge.
+
+Unsere sieben übrigen Kamele wurden nun mit schweren Lasten beladen,
+die jedoch mit jedem Tage leichter werden sollten. Bis der Proviant
+sich nicht bedeutend verringert hatte, durfte keiner reiten.
+
+Rasch durchschritten wir den Rest der dreizehnten Bajir. Ihr Boden ist
+leicht gekörnt, knisternd, hart und trocken, hier und dort mit einer
+dünnen, reifähnlichen Salzschicht bedeckt. Doch gräbt man nur ein paar
+Dezimeter tief, so stößt man auf ein ziemlich mächtiges Lager von
+gediegenem Salze, das deutlich das Bett eines verschwundenen Salzsees
+anzeigt. Die Tafeln und die Terrassen, die selten mehr als 2 Meter Höhe
+erreichen, sind mit einer völlig horizontalen Schicht von gelbrotem,
+beinahe steinhartem Tone von ein paar Dezimetern Dicke bedeckt.
+
+Die fünfzehnte Bajir war im Südwesten von gewaltigem Sand
+abgeschlossen. Wir arbeiteten uns hinauf; es war eine harte Anstrengung
+für die Kamele, diese zahllose Folge von Abhängen hinauf und hinunter
+zu überwinden.
+
+Ich ging zu Fuß voraus, aber von einer Bajir war nichts zu sehen; ich
+hoffte eine wirklich große, ebene Fläche als Weihnachtsgeschenk zu
+erhalten, aber immer höher ging es hinauf in immer tiefer werdendem
+Sande, und schließlich erkannte ich, daß ich auf die Protuberanz
+zwischen zwei Depressionen geraten war.
+
+Unvergeßlich ist mir das Gefühl des Ärgers, das mich überkam, als ich
+von der 60 Meter hohen, abschüssigen Düne unsere sechzehnte Bajir
+erblickte, die wie ein kohlschwarzer Topf unter mir gähnte; ihr Boden
+war bis an die Oberfläche durch und durch naß, um ihren Rand herum lief
+ein Ring von weißem Salze und ringsumher erhoben sich hohe Dünen; es
+war ein Höllenpfuhl, ein Loch, das ganz gut ins Reich der Toten hätte
+hinabführen können.
+
+Doch nachdem mich die Karawane eingeholt, rutschten wir an dem
+Sandabhange nach dieser unheimlichen Mulde hinunter (Abb. 60) und
+folgten, wo der Boden trug, ihrem Rande. Nach einem Marsche von 15½
+Kilometer hatten wir genug und lagerten an der südlichen Dünenschwelle
+der Bajir.
+
+Wie düster der Tagemarsch auch gewesen sein mag, sobald ich Halt
+geboten habe, wird die Stimmung immer gleich fröhlicher. Islam macht
+sofort mein Bett am Feuer zurecht, Kurban sorgt für mein Reitpferd,
+Turdu Bai und Ördek laden die Kamele ab, deren Lasten so gelegt werden,
+daß sie sich am folgenden Morgen bequem wieder aufladen lassen. Darauf
+werden die Kamele in unserer unmittelbaren Nähe angebunden, die beiden
+Holzklötze in kleine Scheite zerspalten, Feuer angemacht und die
+Eisstücke zum Schmelzen in den Eisentopf und in einen eisernen Eimer
+gelegt, dann bereitet Ördek den Reispudding. Das Wasser, in welchem der
+Reis gewaschen wird, erhalten das Pferd und die Hunde; kein Tropfen
+darf umkommen. Nachdem das letzte Holzscheit des Abends verbrannt ist,
+bleibt nichts weiter übrig, als in die Koje zu kriechen. Wenn die
+Kamele nicht gar zu durstig werden, haben wir noch Wasser für 15 Tage
+und Holz für 11 Tage.
+
+Nie habe ich den heiligen Abend in einer düsterern, einsamerern
+Umgebung zugebracht. Nichts weiter als die Kälte erinnerte an dieses
+frohe Fest, an dem sich alle Erinnerungen aufrollen und an dem
+Blicke, der sich in der ersterbenden Glut des Lagerfeuers verliert,
+vorüberziehen. Das fröhlichste, glücklichste aller Feste verbrachte ich
+in einem Höllenloche, wo nur der Tod oder der Mangel jeglichen Lebens
+einen seiner größten Triumphe feierte. Wie Fledermäuse im Winter saßen
+wir zusammengekauert um das spärliche Feuer, über dessen Kohlen nur
+noch die letzten blauen Flammen züngelten; wir hüllten uns dichter
+in die Pelze, um den eisigen Pfeilen der Mittwinternacht die Spitze
+abzubrechen, doch der Weihnachtsengel ging an uns vorüber, obwohl ihm
+alle Türen weit geöffnet waren. Es war ein Weihnachtsfest der Wüste,
+und selbst am Pol kann es nicht einsamer verlaufen.
+
+Während des ersten Festtages war das Terrain so günstig, daß wir 18,2
+Kilometer zurücklegen konnten. Hinter der Sandenge des Weihnachtslagers
+kamen drei kleine Mulden, aber die Bajir Nr. 20 lag groß wie ein Tal
+vor uns. Ihre Längsrichtung ging gerade nach Süden, und ihre östliche
+Sandmauer stieg bis gegen 100 Meter hoch direkt vom „Ufer“ auf. Wenn
+nur Ostwinde in der Gegend herrschten, würde man diese Regelmäßigkeit
+verstehen, doch im Winter waren südliche und nördliche Winde häufiger,
+und man sollte denken, daß diese die Mulden mit der Zeit ausfüllen
+mußten. In der westlichen Takla-makan hatten wir nur in dem dem
+Chotan-darja am nächsten liegenden Teile Flecke mit freiem Boden
+gefunden, also in einer Gegend, wo östlicher Wind vorherrscht.
+
+Als wir die ganze Bajirreihe hinter uns hatten, gerieten wir wieder
+in gewaltigen Sand hinein, auf dem es beständig bergauf ging. Auf
+beiden Seiten unseres Kurses sahen wir Mulden; da sie uns aber nichts
+nützen konnten, zogen wir auf dem höchsten Kamme der Protuberanz
+weiter. Wenn man auf dem Kamme selbst bleibt, wo der Sand eine feste,
+zusammengepackte Masse bildet, wird der Marsch leichter, doch lag der
+Sand an mehreren Stellen so ungünstig, daß für die schwerbeladenen
+Kamele mit dem Spaten ein Pfad gegraben werden mußte. Obgleich wir uns
+alle durch Gehen warm zu halten suchten, erstarrten wir beinahe vor
+Kälte in dem heftigen Südwestwinde, der keinen Augenblick nachließ.
+Straußenfedern vergleichbar wirbelte der Sand von den Dünenkämmen,
+und alles verschwand in graugelbem Nebel. Man sieht, wie die scharfen
+Kammlinien unter der Einwirkung des Windes ihre Lage verändern. Der
+Sand durchdringt alles; er juckt auf der Haut des ganzen Körpers, er
+knirscht zwischen den Zähnen, und noch heute fallen Sandkörner aus
+meinem Tagebuche, wenn ich darin blättere.
+
+Am 26. Dezember überschritten wir nicht weniger als acht Bajire, aber
+sie waren alle klein und von keinem Nutzen für uns, da wir erst nach
+ihnen hinunter und dann auf der anderen Seite gleich wieder hinauf
+mußten. Es tat mir leid zu sehen, wie dies die Kamele anstrengte, aber
+ich hoffte, daß ihre Kräfte ausreichen würden, und ihr Lohn sollte
+groß sein, wenn wir erst die üppigen Weiden des Tschertschen-darja
+erreichten. Wir wanderten also meistens zu Fuß im Sande, und nur auf
+ebenem Bajirboden benutzte ich die Gelegenheit, ein paar Kilometer zu
+reiten.
+
+Die Sandengen werden auf Kosten des ebenen Bodens immer höher und
+breiter; für uns ist es ein Glück, daß ihr steiler Abhang immer nach
+Süden und ihr allmählich ansteigender nach Norden liegt. Bei jeder
+neuen Bajir gelangen wir an den Rand einer solchen jähen Sandklippe.
+Ohne sich zu besinnen, lassen sich die Kamele beinahe Hals über Kopf
+den Abhang hinabgleiten. Der Sand fängt dann an nachzugeben und
+gleitet wie in einem Wasserfall hinab, in dem sie mit steifen Beinen
+hinunterrutschen. Sie sind schon daran gewöhnt, balancieren sicher und
+fürchten sich nicht mehr vor den hohen Dünenkämmen.
+
+Islam, mein alter erfahrener Wüstenlotse, geht gewöhnlich voraus und
+sucht die Kurve, die unser Weg bildet, soviel wie möglich auf derselben
+Ebene zu halten. Auf jedem neuen Kamme, nach welchem wir uns mühsam
+hinaufgearbeitet haben, machen wir Halt und schauen uns um, stets
+hoffend, in der Richtung des Weges eine neue Bajir zu finden, sehen
+uns aber meistens in der Hoffnung getäuscht und folgen dann den besten
+Dünenkämmen.
+
+Im Lager Nr. 7 konnte ich meinen Dienern zu ihrer Beruhigung mitteilen,
+daß wir schon 2 Kilometer über die Hälfte des Weges nach dem alten
+Bette des Tschertschen-darja hinaus waren, von dessen Vorhandensein der
+russische Reisende Roborowskij vor einigen Jahren hatte erzählen hören
+und das nach seiner Karte etwa 65 Kilometer nördlich von dem jetzigen
+Flußbette liegen mußte. Noch besaßen wir 2½ Kamellasten Eis, was
+ausreichen mußte; dafür aber war zu befürchten, daß uns das Brennholz
+ausgehen und uns damit die Möglichkeit genommen werden könnte, das Eis
+zu schmelzen.
+
+Am 27. Dezember brachen wir früh auf; die Leute fühlten sich in dieser
+endlosen Wüste entmutigt und hielten es für das beste, den Marsch zu
+beschleunigen, um in gastfreundlichere Gegenden zu gelangen, ehe unsere
+Vorräte gar zu sehr zusammenschmolzen. In der Nacht sank die Temperatur
+unter -20 Grad, und als wir aufbrachen, war es noch -18 Grad kalt. Doch
+der Sonnenaufgang war schön und der Himmel klar. Das Tagesgestirn war
+aber noch nicht viele Grade über den Horizont emporgestiegen, als auch
+schon die gewöhnlichen Wolkenbänke heraufzogen, um die Nachtkälte, die
+die Sonne noch nicht hatte vertreiben können, auf der Erdoberfläche
+festzuhalten.
+
+Nachdem ich meinen Morgentee eingenommen, brach ich, gut eingehüllt,
+als Vorhut auf. Es wehte nicht, und mir wurde bald so warm, daß ich
+den Ulster fallen ließ, damit die Karawane, die meinen Spuren folgte,
+ihn mitnehme. Über zahllose Kämme hinweg erreichte ich endlich die
+Höhe der Schwelle, wo ich überlegend stehenblieb und das Terrain mit
+dem Fernglase untersuchte. Hinten in der Richtung des Kurses erschien
+eine Bajir, deren Boden ein außergewöhnliches Aussehen hatte und ganz
+schwarzpunktiert war. Voller Neugierde, was dies sein möchte, eilte
+ich von den Dünen hinab, und meine Verwunderung wurde noch größer, als
+ich vom Winde verwehte Kamischblätter und die Spuren eines kleinen
+Nagetieres fand, das nicht größer sein konnte als eine Ratte. Als ich
+näherkam, sah ich zu meiner Freude, daß in dieser Bajir Kamisch wuchs,
+wenn auch dünn und in welken, verdorrten Stauden. Doch es gab dort auch
+lebendes, gelbes Schilf; es hatte sich nur gegen die ebenso gelben
+meterhohen Dünen, welche die Bodensenkung in der Diagonale kreuzten,
+von fern nicht abgehoben.
+
+Mich an dem Anblicke von Leben freuend, erwartete ich die Karawane.
+Die Männer waren froh, als sähen sie vor sich ein Paradies winken, und
+die Kamele blähten, die Weide witternd, ihre Nasenlöcher auf. Jetzt
+hielten wir Rat; Turdu Bai schlug vor, hierzubleiben, damit sich die
+Tiere ordentlich satt fressen könnten. Da wir jedoch vermuteten, daß
+die nächste Bajir noch besser sein würde, mußte Islam vorausgehen, um
+zu rekognoszieren, indes wir langsam seiner Spur folgten und die Kamele
+im Gehen fressen ließen. Der Kundschafter gab uns ein Zeichen ihm
+nachzukommen, und wir lagerten mitten in der Bajir Nr. 31, obwohl sie
+nicht besser war als die vorige.
+
+Es war eine in hohem Grade unerwartete, staunenswerte Entdeckung,
+mitten in der Wüste, 120 bis 140 Kilometer vom nächsten Wasser
+entfernt, Vegetation zu finden. Daß dies nicht die äußerste
+„Strandinsel“ des Tarim sein konnte, lag auf der Hand, denn
+stark salzhaltiger Untergrund und wüstester Sand trennten uns
+von diesem Flusse. Ebensowenig konnte es einer der Vorposten des
+Tschertschen-darja sein, denn bis an diesen Fluß hatten wir noch 150
+Kilometer. Vielleicht befanden wir uns in einer Gegend, welche einst
+der Fluß Kara-muran durchzogen hatte. Wie dem auch sei, alle lebten
+wieder auf, und wir sahen die nächste Zukunft in den hellsten Farben.
+
+Die Kamele erhielten jedes seinen Eimer mit 30 Liter Wasser, das sie
+austranken wie unsereiner eine Tasse Tee. Es war ein tiefer Griff in
+unseren Eisvorrat. Die Blöcke wurden im Eisentopfe über Kamischfeuer
+geschmolzen, und die Lasten wurden dadurch leichter. Bei Tagesanbruch
+durften die Kamele auf die Weide gehen. Auch wir zogen aus dem dürren
+Schilfe Nutzen. Solange es noch Tag war, sammelten wir ganze Haufen
+davon und brauchten abends die vorgeschriebenen drei Holzklötze nicht
+in Anspruch zu nehmen.
+
+Der Sonnenuntergang war an diesem Abend von einer ungewöhnlichen
+Farbenpracht. Die schweren Wolken, die den Himmel den ganzen Tag
+erfüllt hatten, verzogen sich; sie waren oben grauviolett mit einem
+goldglänzenden Rande, aber ihre Unterseite war ebenso schmutziggelb wie
+die Dünen, und man glaubte, das Spiegelbild der Wüste am Himmelsgewölbe
+widerscheinen zu sehen.
+
+
+
+
+Fünfzehntes Kapitel.
+
+Das endlose Wüstenmeer.
+
+
+Das unfreundliche Wetter hielt noch immer an. Nach einer -21 Grad
+kalten Nacht erwachten wir am 28. Dezember wieder bei östlichem Winde,
+dicker Luft und bleischweren Wolken, an denen nicht einmal eine
+schwache hellere Färbung verriet, wie hoch die Sonne schon gestiegen
+war. Wir waren in das Land der ewigen Dämmerung hineingeraten. Auch am
+Kerija-darja hatte ich im Winter 1896 solches Nebelwetter gehabt; es
+muß wohl ein charakteristisches Zeichen des Winters der inneren Wüste
+sein. Man täuscht sich leicht in den Entfernungen und hält eine Bajir,
+in die man hinuntergekommen ist, für lang, weil ihr anderes Ende in
+weiter Ferne verschwindet; doch man ist noch nicht weit gelangt, so
+steigen schon die sie begrenzenden Dünenwände wie Gespenster aus dem
+Boden auf. Die Sandprotuberanzen vor uns gleichen im Staubnebel fernen
+Bergketten, und doch sind sie uns ganz nahe. Man täuscht sich beständig
+und weiß nicht, wohin man am besten seine Schritte lenkt, und auf dem
+Sattel wird man so vom Winde durchkältet, daß man vorzieht, zu Fuß zu
+gehen und das Pferd zu führen.
+
+In der Anordnung des Sandes herrscht beständig dieselbe Regelmäßigkeit
+(Abb. 61). Gibt es auch sonst nichts in dieser Wüste, so treffen wir
+doch hier eine Kraft, die mit souveräner Allmacht aus diesem flüchtigen
+Material ein phantastisches Gebilde -- ein Mittelding zwischen Gebirge
+und Meer -- gestaltet. Jede einzelne Düne gibt die Form der großen
+Protuberanzen wieder, und die Form der Düne wiederholt sich in den
+unzähligen kleinen Wellen, die ihren Rücken kräuseln. Der tiefste Teil
+des Wellentales ist stets der, welcher der Basis der steilen Leeseite
+zunächst liegt, welches Gesetz auch für die Bajirmulden, die größte
+Wellentälerform der Wüste, gilt. Der Sand, der von granitharten Bergen
+stammt, muß treu denselben Gesetzen gehorchen wie das wenig beständige
+Wasser. Er wälzt sich in Wogen dahin, die denen des aufgeregten Ozeans
+gleichen; auch die seinen rollen unwiderstehlich vorwärts, nur ist die
+Bewegung unendlich viel langsamer.
+
+In der Bajir Nr. 33 konnte ich ein gutes Stück vorausreiten. Mich
+lockte ein schwarzer Gegenstand, der sich höher erhob als das
+tote, vertrocknete Kamisch. Dieses ist selten mehr als ein paar
+Dezimeter hoch und sieht aus, als wäre es abgeweidet worden, obwohl
+es nur verkümmert und abstirbt, sobald seine Wurzeln nicht mehr zum
+Grundwasser hinabreichen. Der schwarze Gegenstand stellte sich als die
+erste Tamariske heraus. Noch lebte sie ein schwaches Leben, aber rund
+umher lagen längst abgestorbene, vertrocknete Zweige, ein willkommener
+Zuschuß zu unserem Holzvorrat.
+
+Noch eine Stunde konnte ich reiten, ohne diese angenehme Bajir endigen
+zu sehen. Auch das Kamisch nahm kein Ende. Es lebt, ja besitzt sogar,
+besonders in der Nähe von Flugsand, vom Sommer her einen Anflug von
+Grün, ist aber auf ebenem Staubboden abgestorben. Es scheint beinahe,
+als sei der Sand für sein Gedeihen erforderlich oder trage dazu bei,
+es am Leben zu erhalten. Weitere Tamarisken sind nicht zu sehen; ich
+machte daher an einem Punkte Halt, wo das Schilf etwas dichter stand
+und gegen den Wind schützte; hier band ich das Pferd an und zündete ein
+kleines Feuer an.
+
+Erst in der Dämmerung kam die Karawane herangezogen. Eines der Kamele,
+ein prächtiges Männchen, das beste von den fünfzehn Kaschgarern, war
+seit vier Tagen kränklich und ging daher langsamer als gewöhnlich.
+Einen Kilometer vom Lager hatten sie es, von der Last befreit,
+zurückgelassen, und Kurban war bei ihm geblieben. Doch, als es dunkel
+geworden, kam Kurban uns nach, weil es ihm allein bei dem kranken Tiere
+zu unheimlich geworden war. Nach dem Abendessen mußten Islam und Turdu
+Bai mit einer Laterne und einem Beutel voll Häcksel, der eigentlich
+für das Pferd bestimmt war, nach jenem Platze zurückkehren. Sie fanden
+jedoch das Kamel tot; es lag mit offenem Maule und halbgeschlossenen
+Augen da und war noch warm. Es war rührend, Turdu Bai Tränen vergießen
+zu sehen; er liebte die Kamele wie ein Vater und er war von allen
+Männern derjenige, der sich am wenigsten am Feuer sehen ließ, da er
+sich stets bei den Kamelen zu schaffen machte. Das Tier, welches
+zuerst auf dieser Reise verendete, erlag weder der Überanstrengung
+noch dem Mangel wie seine vielen Nachfolger. Die Muselmänner sagten:
+„Choda kasseli värdi“ (Gott hat ihm eine Krankheit gegeben), und
+wahrscheinlich würde es ebenso sicher auf den Steppen des Tarim
+gestorben sein wie hier in der Wüste. Die übrigen sechs Kamele befanden
+sich vorzüglich. Und doch war es der neunte Tag. In der Takla-makan
+waren gerade am neunten Tage zwei Männer, vier Kamele und das ganze
+Gepäck liegen geblieben, damals aber waren wir vor Hitze und Durst
+verschmachtet, jetzt erstarrten wir fast vor Kälte und hatten Wasser
+in genügender Menge.
+
+[Illustration: 65. Eine alte Tograk am Tschertschen-darja. (S. 182.)]
+
+[Illustration: 66. Auf dem Eise des Tschertschen-darja. (S. 184.)]
+
+[Illustration: 67. Am Ufer des Tschertschen-darja. (S. 184.)]
+
+[Illustration: 68. Sattma in Araltschi. (S. 187.)]
+
+[Illustration: 69. Tränken der Pferde an einer Wake. (S. 189.)]
+
+[Illustration: 70. Schilfhütten in Scheitlar. (S. 193.)]
+
+Wir hatten jetzt den Abschnitt der Wüstendurchquerung erreicht, in
+welchem man die großen Schwierigkeiten hinter sich hat und jedes neue
+Anzeichen von Leben und Wasser mit Spannung und Interesse wahrnimmt.
+Derartige Zeichen blieben auch heute nicht aus. Wir hatten schon das
+erste Kamisch und die erste Tamariske passiert. Ich ritt jetzt als
+Vorhut über die große, lange Bajir Nr. 33, die sich noch immer wie ein
+ausgetrocknetes Flußbett vor mir hinzog.
+
+Den Boden kreuzten in allen Richtungen Spuren von Hasen, welche Tiere
+des Wassers gar nicht zu bedürfen scheinen; auch Fuchsfährten waren zu
+sehen. Dann traten einige Steppenpflanzen, Grasflecke und „Tschigge“,
+eine am Lop-nor vielfach vorkommende Binsenart, auf. Schließlich
+zeigten sich wieder Tamarisken, teils frische, geschmeidige, teils
+abgestorbene, die auf den charakteristischen Kegeln thronen, die ihre
+längst verdorrten Wurzeln umschließen.
+
+Das Terrain war eben und vorzüglich; wer hätte ahnen können, daß man
+ein solches im Herzen dieser Sandwüste finden würde! Es wehte jedoch
+aus Osten so kalt, daß ich bisweilen zu Fuß gehen mußte, um nicht Hände
+und Füße zu erfrieren.
+
+Diese schöne Bajir endete jedoch in einer Sackgasse, und ein ziemlich
+hoher Sandpaß war ihr im Süden vorgelagert. Da das Terrain aussah, als
+könne hier das Grundwasser erreicht werden, beschloß ich, hierzubleiben
+und zu versuchen, einen Brunnen zu graben.
+
+Islam und Ördek machten sich sogleich ans Brunnengraben, während Turdu
+Bai die Kamele versorgte und Kurban Holz sammelte. In einer Tiefe von
+1,38 Meter stand Wasser. Es war fast ganz süß und hatte +8,2 Grad
+Temperatur, es quoll aber so langsam aus dem Boden des Brunnens, daß
+man bei der Verteilung Geduld haben mußte. Abends durften zwei Kamele
+nach Herzenslust trinken, jedes nämlich sechs Eimer.
+
+Jetzt hatten wir alles, was wir brauchten: Wasser, Brennholz und Weide;
+es war eine wirkliche Oase in der Tiefe der Wüste. Zwei große Feuer
+loderten den ganzen Abend in dem intensiven Winde und erhellten mit
+ihrem rötlichen Scheine die Dünenkämme, von denen Flugsand auf uns
+herabregnete. Als die Männer meiner Spur folgten, hatten auch sie ein
+neues, erfreuliches Anzeichen besserer Gegenden erblickt: einen großen,
+schwarzen Wolf, der über die Dünen im Westen fortgelaufen war.
+
+Dieser Ruhetag war für Menschen und Tiere außerordentlich schön und
+notwendig. Wir waren meistens zu Fuß gegangen, die Kamele hatten
+schwere Lasten schleppen müssen, und die Kälte greift den Körper an,
+wenn man nicht hinreichend Brennholz hat, um sich zu erwärmen.
+
+Wir machten das Lager so gemütlich, wie es die Umstände erlaubten.
+Der weiße Filzteppich, auf welchem mein Bett ausgebreitet zu werden
+pflegte, wurde in ein improvisiertes, mit ein paar Tamariskenzweigen
+gestütztes Zelt verwandelt, das uns Schutz gegen den Sturm gewährte,
+der den ganzen Tag tobte. Auf der vor dem Winde geschützten Seite hatte
+ich ein gewaltiges Feuer. Die Leute kampierten auf dieselbe Weise.
+Während ich den Tag lesend auf meinem sandbedeckten Bette verbrachte,
+tränkten sie die Kamele, was geraume Zeit in Anspruch nahm.
+
+Das während der Nacht hervorgesickerte Wasser war am Morgen gefroren,
+und die ausgegrabene Erde war steinhart. Aus den Stangen eines
+Packsattels wurde eine Leiter gemacht, die bis auf den Boden der
+Grube reichte, wo Ördek die Eimer mit einer Schale allmählich füllte.
+Die Kamele tranken nicht weniger als je neun Eimer, zwei von ihnen
+sogar elf, und man sah sie förmlich anschwellen, während sie sich die
+Flüssigkeit einverleibten. Ihre Stimmung veränderte sich sichtlich.
+Sie wurden munter, spielten miteinander, liefen umher und grasten dann
+tüchtig in dem spärlichen Schilfe.
+
+Der letzte Tag des neunzehnten Jahrhunderts sah am Morgen, als es
+noch dunkel war, recht vielversprechend aus; ich sah die Sterne auf
+das Biwak herabfunkeln, wo die Tamarisken sich auf ihren Kegeln
+gespensterhaft erhoben. Als wir uns aber zum Aufbruch rüsteten, war das
+Wetter wieder ebenso unfreundlich wie gewöhnlich. Klare, ruhige Nächte
+und wolkenschwere, windige Tage charakterisieren den Winter und halten
+die Kälte an der Erdoberfläche fest.
+
+Heute bedeckte sich die Karawane mit Ruhm; sie legte 24,3 Kilometer
+zurück, die längste Tagereise auf dem ganzen Wüstenzuge.
+
+In den Bajiren Nr. 34, 35 und 36 kam andauernd Vegetation vor, aber die
+Tamarisken standen dort zerstreuter. Von dem Grenzpasse der letzten
+Mulde scheint sich eine Bajir nach Südosten zu erstrecken; sie lag aber
+nicht auf unserem Wege und wurde links liegen gelassen. Ich merkte
+allerdings, daß es eine Enttäuschung für die Leute war, sie nicht
+benutzen zu dürfen, sondern nach Südsüdwest abbiegen und einen hohen
+Paß erklettern zu müssen, doch ihre Überraschung war ebenso groß wie
+die meine, als wir von der Höhe herab die Bajir Nr. 37 erblickten, die
+groß, breit und offen wie ein Feld war und nicht mehr den Eindruck
+einer geschlossenen Arena machte. Der sie im Süden begrenzende Paß
+sah aus wie eine sehr niedrige Schwelle, und hinter ihm erhob sich
+kein Sand mehr, was ich der bedeutenden Entfernung und der unklaren
+Luft zuschrieb. Als wir diese Schwelle endlich überschritten hatten,
+zeigte sich vor uns die Depression Nr. 38 ebenso groß und offen. Es
+war herrlich; eine unsichtbare Hand schien eine Riesenfurche durch den
+Wüstensand gepflügt zu haben, um der Karawane den Weg zu bahnen.
+
+Wir lagerten vorn in der Mulde, wo wir reichlich Brennholz fanden.
+Islam wollte uns von der letzten Kamellast Holz befreien, aber Turdu
+Bai, der ein vorsichtiger General war, schlug vor, sie noch eine
+Tagereise weit mitzunehmen, eine kluge, verständige Rede.
+
+So ließen wir uns denn in dieser wunderbaren Neujahrsnacht in Ruhe und
+Frieden an zwei großen Feuern nieder in einer Gegend, die so still und
+ungestört war, daß nicht einmal die Stille eines weit abseits vom Wege
+liegenden vergessenen Grabes ihr darin gleichkam. Unsere Freunde wußten
+nicht, wo wir waren, und in Tura-sallgan-ui waren sie ganz gewiß in
+Aufregung über unser Schicksal, um so mehr, als ihre Phantasie durch
+Islams haarsträubende Beschreibungen über unseren früheren Wüstenzug
+und Parpi Bais Schilderung unserer ersten Wüstentage schon erhitzt
+worden war. Auch die Kosaken hatten während der Rekognoszierung
+gesehen, wie es dort aussah, und gestanden nachher, sie hätten
+gefürchtet, daß der Sand uns auf allen Seiten den Weg versperren werde
+und wir von unserem eigenen Mute verurteilt seien, vor Durst, Müdigkeit
+und Kälte umzukommen. Meine vier Begleiter sagten diesen Abend, daß
+sie erst jetzt, nun wir in sicheres, eine Küste anzeigendes Fahrwasser
+gekommen, von ihrer Unruhe befreit seien; sie konnten aber nicht
+begreifen, wie ich die Entfernung nach Tatran mit solcher Sicherheit
+zu beurteilen imstande war. Sie glaubten entschieden, daß meine
+Versicherungen und Versprechungen eigentlich nur wohlwollende Versuche
+seien, sie zu beruhigen.
+
+Und nun ging die Sonne in diesem Jahrhundert zum letztenmal unter
+-- das konnte man nur daran sehen, daß der trübe, neblige Tag in
+nächtliche Schatten überging, die das erste Morgenrot des zwanzigsten
+Jahrhunderts verjagen sollte.
+
+Wenn der erste Tag eines neuen Jahres oder noch mehr der eines
+neuen Jahrhunderts eine Vorbedeutung enthalten oder ein Wahrzeichen
+zukünftiger Dinge sein soll, so sah die Zukunft an diesem 1. Januar
+1900 für uns in Wahrheit düster aus. Der Himmel war in ein schwarzes
+Trauergewand gehüllt, und von Morgenrot war nichts zu sehen. Die
+Temperatur ging um 7 Uhr jedoch bis -15 Grad hinauf, und als ich
+aufstand und mich ankleidete, befand ich mich dank dem großen Feuer in
+einem noch gemäßigteren Klima.
+
+Das einzige, was die Neujahrsstimmung hob, war, daß unsere 38.
+Bajir sich vor uns bis ins Unendliche hinzog, und leichten
+Schrittes zogen wir in ihrer Mitte dahin. Die Leute hegten sogar
+die eitle Hoffnung, dies sei der Anfang der Steppen, die sich am
+Ufer des Tschertschen-darja ausdehnen. Die Vegetation wurde jedoch
+magerer, nur hie und da ein Grasbüschelchen, einige Schilfstengel
+oder eine Tamariske, und zwischen kleinen Löchern in dem hier mit
+Sand untermischten Boden huschten Feldmäuse, von den Muselmännern
+„Säghisghan“ genannt, hin und her.
+
+Von dominierenden Punkten aus spähten wir vergebens nach der nächsten
+Bajir, doch diese Bildungen schienen jetzt aufgehört zu haben. Der
+Blick reichte weit nach Süden: das Sandmeer war wie in der Takla-makan
+mehr kompakt, die gewaltigen Sandwände, die wir bisher zur Linken
+gehabt hatten, fehlten, weitere Depressionen waren nicht zu sehen, die
+ganze Bauart hatte sich mit einem Schlage verändert, aber die Dünen
+lagen glücklicherweise immer noch im Norden und Süden.
+
+Wir hatten es bisher gut gehabt, wir hatten es gehabt wie ein Schiff,
+das von der offenen See in Gürtel von Treibeis und Tang hineingekommen
+ist. Die Wogen gingen haushoch, und wir kamen verzweifelt langsam
+vorwärts, es ging bergauf und bergab über große Dünen. Die Vegetation
+hörte beinahe ganz auf. Ich fing wieder an zu vermuten, daß die Oasen,
+die wir eben durchquert, von den äußersten in die Wüste vorgeschobenen
+Vorposten des Kara-muran herrührten und daß diese Landstrecke auch
+wohl bald im Sande begraben sein würde. In diesem Falle konnten wir
+uns darauf vorbereiten, bis in die Nähe des Tschertschen-darja nur
+schwieriges Terrain zu finden.
+
+Fern im Osten schien es noch Depressionen zu geben, aber diese lagen
+außerhalb unseres Weges. Nach Süden hin war alles gleichmäßig hoher
+Sand, nur hie und da dominierten pyramidenhohe Dünenkämme, und der
+Horizont glich einem Sägeblatt mit gezähnter Schneide. Noch tauchte
+gelegentlich eine verdorrte Tamariske auf ihrem Kegel zwischen den
+Dünen auf, aber die Entfernungen zwischen diesen abgestorbenen Bäumen
+wurden immer größer. Als wir nach einer mühsamen Wanderung von nur
+vierzehn Kilometer wieder eine von etwas Kamisch und trockenen Zweigen
+umgebene Tamariske trafen, machten wir daher Halt.
+
+2. Januar 1900. Als ich bei Tagesanbruch geweckt wurde, umgab mich
+eine vollständige Winterlandschaft; es schneite leicht, der Boden
+war kreideweiß, und die Dünen hätten ebensogut kolossale Schneewehen
+sein können, denn vom Sand war gar nichts zu sehen. Islam war so
+vorsichtig gewesen, eine Decke über meine Kiste zu legen, auf deren
+Deckel Instrumente und Aufzeichnungsbücher nachts gewöhnlich liegen
+blieben. Es war noch halbdunkel, als das Morgenfeuer vor meinem Bette
+angezündet wurde, und seine Flammen ließen die feinen Schneekristalle
+wie Diamanten glitzern und funkeln. Es waren nicht gewöhnliche
+Schneesternchen, sondern Nadeln, als wenn Reif in außerordentlicher
+Menge gefallen wäre.
+
+Während der ersten Marschstunden blieb die Landschaft auf allen Seiten
+blendend weiß; ich hatte noch nie Sanddünen in diesem ungewöhnlichen
+Gewande gesehen, in diesem weißen Leichentuche, das nur dazu beitrug,
+ihre totenähnliche Einsamkeit und Nacktheit zu erhöhen. Gegen Mittag
+verschwand die dünne Decke von allen nach Süden gekehrten Abhängen, und
+gleich nach Mittag hatten auch die anderen ihren gewöhnlichen gelben
+Farbenton wieder angenommen; nur hier und dort in Vertiefungen lag noch
+ein kleiner, weißer Streifen.
+
+Der Sand wurde immer beschwerlicher, und es tauchte keine Bajir mehr
+auf, die uns einige ermüdende Schritte hätte ersparen können; alles war
+jetzt Sand. Freilich lagen die steilen Leeabhänge stets nach Süden und
+Westen, auf zwei ein Netz von Vierecken bildende Dünensysteme deutend,
+aber alle Depressionen waren hier längst versandet. Augenscheinlich
+herrschten hier weniger regelmäßige Windverhältnisse als in der
+nördlichen Hälfte der Wüste. Es war ein Glück, daß wir den Marsch nicht
+von Süden her begonnen hatten, denn dies wäre nie gegangen; wir hätten
+uns zur Umkehr gezwungen gesehen, und auch noch so große Feuer hätten
+den in diesem Winter herrschenden Nebel auf größere Entfernung hin
+nicht durchdringen können.
+
+Um 4 Uhr begann es zu schneien, jetzt aber ordentlich. Wir waren nicht
+verurteilt, an Wassermangel zu sterben. Es herrschte ein regelrechtes
+Schneetreiben mit Wind aus Südsüdwest. Welch ein Unterschied gegen
+die Sandstürme in der Takla-makan! Nach einer halben Stunde war die
+Landschaft wieder kreideweiß, und die Schneedraperien schienen von den
+Wolken herab auf dem Boden zu schleppen. Die Dämmerung breitete sich
+über diesem Chaos von Sand und Schnee aus, und wir suchten und spähten
+nach einem Platze, wo wir die Kamele über Nacht anbinden konnten.
+Endlich erschien im Süden in einer Entfernung von zwei Kilometer ein
+schwarzer Punkt; dorthin mußten wir um jeden Preis. Eine gutgemessene
+Stunde gehörte dazu, und es war pechfinster, als wir bei einer
+Tamariske anlegten und Brennholz fanden.
+
+Der fallende Schnee zischte nicht einmal im Feuer, er verwandelte sich
+in Dampf, ehe es dazu kam, aber auf den Blättern meines Tagebuches
+ließ er sich häuslich nieder. Die freundlichen Oasen hatten gänzlich
+aufgehört, und um uns herum lag lauter unfruchtbarer Sand. Ein paar
+Stunden lang waren wir an zwei Fuchsfährten entlang gegangen, einer
+älteren, nach Norden gehenden, und einer frischen, welche die Rückkehr
+des Fuchses nach dem Tschertschen-darja anzeigte. Was mochte er in
+der Wüste gesucht haben? Er mußte doch wohl am Flusse ein viel
+einträglicheres Jagdrevier haben.
+
+Ich konnte Ördeks Gedankengang verstehen, wenn ihm in dieser Wüste,
+die gar kein Ende nahm, in der nicht einmal die Sonne schien, und in
+die wir uns immer tiefer hineinverirrten, unheimlich zumute wurde.
+Er sprach mit Begeisterung von den Ufern des Tarim, den Seen, den
+Kähnen und den Fischnetzen wie von einem Paradiese, in das er nie
+zurückkehren würde. Er sprach von den Schwänen, jenen himmlischen,
+gefühlvollen Vögeln, welche die Seen zu besuchen pflegen. „Wird das
+Männchen erschossen,“ erzählte er, „so grämt sich das Weibchen zu
+Tode und weicht nicht von dem Platze, wo sein Beschützer ermordet
+worden ist.“ Er habe einmal einen Jäger eine Kugel in eine fliegende
+Schar hineinschicken sehen, worauf zwei Schwäne herabgestürzt seien.
+Das Männchen sei tödlich getroffen gewesen, und das Weibchen sei ihm
+gefolgt, sich in der Verzweiflung mit dem Schnabel die Brust zerfetzend.
+
+Die Kamele waren jetzt so angegriffen, daß wir ihnen einen Ruhetag
+gönnen mußten. In einer Tiefe von 1,13 Meter fanden wir Wasser mit
+schwach bitterem Beigeschmack, und Schnee war auch genug da. Der Boden
+war 33 Zentimeter tief gefroren. Es schneite den ganzen Tag heftig in
+dichten, großen Flocken. Die Leute machten kleine Entdeckungsreisen in
+die Nachbarschaft, und in der Dämmerung kam Turdu Bai mit zwei Kamelen
+zurück, die je eine volle Last trockenen Brennholzes, das er in der
+Nähe gefunden hatte, trugen. Die Flocken prasselten auf die uralte
+Zeitung, die ich in der Hand hielt, und glitten an ihr herunter. Oft
+mußte ich das Blatt schütteln, um die Worte unterscheiden zu können.
+Auch um die Mittagszeit herrschte Halbdunkel, und Dünen, Erdboden und
+Himmel verschmolzen zu einem einzigen, weißen, wirbelnden Durcheinander
+in höchst unangenehmer, matter, ungleichmäßiger Beleuchtung. Noch am
+späten Abend dauerte das Schneewetter an.
+
+Die Nacht wurde für uns im Freien Liegende recht kalt; das
+Minimumthermometer zeigte -30,1 Grad, um 7 Uhr -27 Grad und um 8½,
+als ich aufstand, -24 Grad. Das ist recht kühl für ein Toilettenzimmer,
+besonders, da ich mich stets entkleidete und im Schlafrocke schlief.
+Am scheußlichsten ist das Waschen und Anziehen, wenn man auf der
+Feuerseite +30 Grad und im Rücken -30 Grad hat. Die ganze Nacht
+schneite es gleich stark, und am Morgen war ich so vollständig im
+Schnee begraben, daß Islam mich mit Spaten und Kamischbesen aus
+der Schneehülle befreien mußte. Dafür hatte der Schnee aber dazu
+beigetragen, mein Nest warm zu halten; ich hatte gar nichts von der
+nächtlichen Kälte gemerkt. Es ist zu schön, wenn man erst einmal in den
+Kleidern steckt und mit dem Pelze über den Schultern vor dem Feuer
+sitzt und seinen Tee trinkt!
+
+Der Schnee fiel den ganzen Tag, und die Temperatur brachte es nur zu
+-13 Grad, was bitterkalt ist, wenn man den Wind gerade entgegen hat.
+Das Terrain war nicht unvorteilhaft. Wir konnten oft zwischen den
+schlimmsten Dünen hindurchkreuzen, und schließlich zeigten sich wieder
+einige kleine Mulden, die jetzt nach Südsüdost gerichtet und voller
+Sand waren. In einer solchen, Nr. 43, lagerten wir, obwohl dort keine
+Spur von Feuerungsmaterial war. Wir besaßen jedoch noch eine halbe
+Kamellast von unserem ursprünglichen Vorrat; da alle halb erstarrt
+waren, mußte sie diesen Abend draufgehen, geschehe, was da wolle.
+
+Auf den nach Süden gerichteten steilen Dünenabhängen vermag sich der
+frischgefallene Schnee nicht lange zu halten. Nur auf den Nordseiten
+der Dünen bleibt er liegen, und in den Dünentälern ist er mehrere
+Zentimeter tief. Wirft man einen Blick nach Norden, so sieht man fast
+nur Sand, nach Süden bloß Schnee.
+
+5. Januar. Endlich hatten die Wolkenmassen, die uns während der ganzen
+Wüstenreise verfolgt hatten, sich entschlossen, sich von ihrem Inhalte
+zu trennen, denn der Schnee fuhr die ganze Nacht fort, lautlos wie
+Watte zu fallen, und am Morgen waren sogar die Stellen, wo unsere Feuer
+gebrannt hatten, verschneit. Alle unsere Sachen mußten unter dem Schnee
+hervorgesucht werden. Auch die Kamele lagen überschneit im Kreise da
+und sahen mit den kleinen Schneewehen auf dem Rücken, Puder in der
+Perücke und Eiszapfen im Kinnbarte und am Maule ganz barock aus.
+
+Jetzt war nicht einmal ein Streifen gelben Sandes zu sehen. Am
+Vormittag lagen die steilen, nach Westen gerichteten Abhänge im
+Schatten und hatten eine prachtvolle Färbung -- stahlblau in
+verschiedener Schattierung, je nach der wechselnden Abschüssigkeit des
+Hanges, -- zu oberst aber wölbten sich die weißen Kuppeln der Dünen,
+intensiv von der Sonne beleuchtet.
+
+Die hohen Sandprotuberanzen hatten auffallende Ähnlichkeit mit dem
+in ewigen Schnee gehüllten Kamme einer Bergkette; ich glaubte hier
+ein Miniaturbild des Transalai mit dem durch eine hohe Dünenpyramide
+dargestellten Pik Kauffmann wiederzuerkennen. Das blaßblaue Farbenspiel
+war dasselbe. Es blendete die Augen. Ich hatte eine doppelte
+Schneebrille, und alle Männer trugen dunkle Brillen. Doch war die Luft
+nicht rein, wie sie es im Gebirge an klaren Tagen ist. Die feinen
+Kristallnadeln erlaubten uns nicht, Umrisse und Formen über eine
+Entfernung von einem Kilometer hinaus deutlich zu unterscheiden; weiter
+fort verschwindet alles in undurchdringlichem Schneenebel. Und das war
+gut, denn das Terrain war nach Süden hin wenig ansprechend. Lauter
+immer höher werdende Berge von Sand, kein sandfreier Fleck von auch nur
+einem Quadratmeter Größe, keine Vegetation, weder lebende, noch tote.
+
+Im Laufe des Tagemarsches erlitt die Schneedecke gewisse Veränderungen.
+Trotz des Schmelzens und der Verdunstung wurde sie um so dicker, je
+weiter wir nach Süden gelangten, was seinen Grund darin hat, daß die
+Schneemenge mit der Entfernung von den Bergen, denen wir uns jetzt
+langsam näherten, abnimmt. Manchmal hatte der Schnee eine harte Kruste,
+und man hätte lange Strecken auf den Schneeschuhen zurücklegen können.
+Wer hätte geglaubt, daß dies in einer Sandwüste möglich sein würde!
+
+Im allgemeinen wurde unser Marsch durch den Schnee erleichtert, denn
+infolge der Regelierung an den Berührungsflächen des Schnees und des
+Sandes wurde die Tragkraft des Bodens größer. Namentlich waren alle
+Kämme hart wie Eis, und auf die steilen Abhänge brauchte man nur
+den Fuß zu setzen, so rutschten schon Schollen von 20 Quadratmeter
+Größe hinunter. Jetzt hätte nicht einmal der heftigste Buran den Sand
+aufzuwirbeln vermocht, denn der Schnee wirkte wie Öl auf die Wellen.
+
+Am 6. Januar blieb das Sandmeer sich gleich, ja seine Wogen gingen wenn
+möglich noch höher. Islam wandert an der Spitze, wird aber müde und
+besteigt ein unbeladenes Kamel. Turdu Bai ist unermüdlich, er führt die
+Karawane wie eine Lokomotive ihre Güterwagen. Wenn ich gehe, um mich
+warm zu halten, darf Kurban auf meinem munteren Pferdchen reiten.
+
+Der Lagerplatz war von allen, die wir bisher gehabt hatten, der
+schlechteste, eine Grube im Sandmeere, in der nicht einmal ein vom
+Winde verschlagenes Blatt zu entdecken war. Es ist im Bette, wenn man
+sich schlafen legt, beinahe -20 Grad kalt, und man muß sich eine Weile
+gedulden, ehe die Glieder wieder so elastisch werden, daß man sich der
+Situation gewachsen fühlt und alle die Diebslöcher, durch welche die
+Nachtkälte eindringt, zustopfen kann. Diese Nacht ließen die Kälte
+und der Wind uns kaum schlafen, und am Morgen hatten wir der -24 Grad
+starken Kälte nur noch ein paar Scheite entgegenzusetzen. Die Leute
+lagen auf einem Haufen, um sich aneinander zu wärmen, und waren von
+der Bekanntschaft mit diesem unheimlichen Lande, in das wir uns wie
+Holzwürmer in eine Planke hineingebohrt hatten, völlig entmutigt.
+
+Am nächsten Morgen waren wir erst um 10 Uhr hinreichend aufgetaut, um
+unseren Weg fortsetzen zu können. Die Luft war außergewöhnlich klar,
+und im Süden zeigte sich zum ersten Male die äußerste, Tokkus-dawan
+genannte Kette des Kwen-lun. Im Norden war der Himmel rein und blau,
+im Süden aber zogen tiefhängende weiße Wolken, die man oft kaum von den
+beschneiten Dünen unterscheiden konnte.
+
+[Illustration: 71. Meine Kosaken Tschernoff, Sirkin und Schagdur. (S.
+195.)]
+
+[Illustration: 72. Meine burjatischen Kosaken Tscherdon und Schagdur
+mit tibetischer Jagdbeute. (S. 198.)]
+
+[Illustration: 73. Basch-tograk. (S. 202.)]
+
+[Illustration: 74. Tamariskendickicht. (S. 203.)]
+
+[Illustration: 75. Der Teich bei Kurbantschik. (S. 204.)]
+
+Von dem Gipfel einer Düne aus machte ich eine erfreuliche Entdeckung.
+Als ich den fernen südlichen Horizont mit dem Fernglase musterte, fiel
+mir etwas auf, das sich gegen den Schnee wie schwarze Baumstümpfe
+abhob und nichts anderes sein konnte als toter Wald. Die Stelle lag
+etwas aus unserem Wege, gegen Südost, aber ich ließ die Karawane
+nichtsdestoweniger dorthin ziehen, und wir schlugen am Abend unser
+Lager unter Massen von abgestorbenen, verdorrten Pappelstämmen auf.
+
+Mit vermehrter Lebenslust und frischem Mute gingen die Leute an die
+Arbeit. Sie schaufelten den Schnee fort und ließen die Äxte zwischen
+den Tograkbäumen tanzen, so daß wir bald ganze Stöße von Brennholz
+hatten. Ein unmittelbar neben dem Lager stehender Stamm war zum Fällen
+zu dick; er wurde deshalb, so wie er war, in Brand gesteckt und
+beleuchtete wie eine Riesenfackel das weiße Leichentuch der Wüste.
+Quer über mein Feuer wurde eine hohle Pappel gelegt, durch welche die
+Flammen wie durch ein Rohr leckten. Sie glühte, krachte, wurde von
+innen erleuchtet und glänzte wie Rubine, bis die Rinde platzte und
+sich wie in Verzweiflung unter der rasenden Gewalt des losgelassenen
+Elementes wand. Gewaltige Rauchsäulen stiegen zum Monde empor, der
+jetzt seit langer Zeit zum ersten Male wieder aus seinem Wolkenversteck
+hervortrat. Meine Leute überlisteten diesen Abend die nächtliche
+Kälte; sie schaufelten Gruben in den Sand, füllten sie mit glühenden
+Holzkohlen, schütteten sie wieder zu und legten sich dann darauf
+nieder. Die Kamele haben seit zwei Tagen kein Futter erhalten, und die
+Hunde bekommen nur Brot.
+
+Am 8. Januar sollten wir aus der Macht der Wüste befreit werden. Als
+wir aufbrachen, sagte ich den Leuten, daß sie diese Nacht am Ufer
+des Tschertschen-darja schlafen würden. Wir nahmen kein Brennholz
+mit, da wir vor uns überall dürre Stämme sahen, doch sie wurden immer
+vereinzelter, und bei dem letzten, wo der hohe Sand wieder anfing,
+beluden wir ein Kamel mit Holz.
+
+Als wir den Gipfelpunkt eines dominierenden Dünenkammes erreicht
+hatten, zeigte sich im Südosten das erste Anzeichen des ersehnten
+Zieles: eine dunkle Linie am Horizont, die sich scharf gegen die ewige,
+weiße Schneedecke abhob. Das mußte der Waldgürtel am Tschertschen-darja
+sein!
+
+Nachdem wir noch eine Stunde marschiert, gelangten wir an die ersten
+Tamariskenkegel; ihre Grenze war außerordentlich scharf, kein einziger
+Strauch überschritt sie, und der Sand, dessen letzte Abhänge langsam
+nach dem Vegetationsgürtel abfielen, hörte ebenso plötzlich auf. Nun
+zogen wir in ein vollständiges Labyrinth von Tamarisken hinein; sie
+standen so dicht, daß zwischen ihnen nur schmale, gewundene Gänge
+waren; auf diesen zwängten wir uns in unzähligen Zickzackbiegungen
+durch, wobei die Kamellasten so dicht an den trockenen Zweigen
+vorbeischrammten, daß diese krachten.
+
+Die Leute wollten gern in einem Haine von uralten Pappeln bleiben, wo
+alles, dessen wir bedurften, im Überfluß vorhanden war; ich gab ihnen
+jedoch die Versicherung, daß, wenn sie sich noch eine Weile geduldeten,
+wir am Flußufer selbst lagern würden. Nach einer Viertelstunde
+erreichten wir auch den Weg, der von Tschertschen nach dem Lop führt
+und auf dem wir im Schnee frische Spuren von Kühen und Schafen
+erblickten. Wir folgten diesem Wege eine Strecke, bis er das Flußufer
+berührte, und schlugen hier auf einem kleinen Hügel, von dem wir die
+schneebedeckte, 100 Meter breite, in dem Rahmen der dunkeln Uferwälder
+kreideweiß erscheinende Eisdecke des Tschertschen-darja überschauen
+konnten, das Lager auf. Es war sehr angenehm, am Fuße dieser gewaltigen
+Bäume rasten und die schöne Aussicht genießen zu können. Die Berge
+zeichneten sich scharf und deutlich ab, und der Schnee glitzerte im
+Mondschein. Am allerbesten war es jedoch, daß unsere sechs Kamele und
+das Pferd sich jetzt in die Schilffelder vertiefen konnten, nachdem sie
+die Probe so rühmlich bestanden hatten. Meine Leute waren verwundert,
+daß ich die Entfernung fast bis auf eine „gulatsch“ (Klafter) hatte
+berechnen können, und erklärten, daß sie mir jetzt überallhin folgen
+würden, ohne sich auch nur einen Moment zu bedenken.
+
+Der Punkt, an dem wir den Fluß erreichten, liegt nach meiner früheren
+Karte (Petermanns Mitteilungen Ergänzungsheft Nr. 131) 285 Kilometer
+von dem Punkte entfernt, an dem wir den Tarim beim Tana-bagladi
+verlassen hatten. Nach dem jetzt aufgenommenen Bestecke betrug die
+Entfernung 284,5 Kilometer. Eine größere Genauigkeit kann man bei
+solchem Terrain nicht verlangen.
+
+Es war mir also gelungen, die große, breite Tschertschen-Wüste zu
+durchqueren, und zwar ohne weitere Verluste als den eines Kameles und
+ohne die übrigen, die noch wohlbeleibt waren, zu überanstrengen. Den
+höchsten Sand hatten wir im Norden gehabt, den schwersten aber im
+Süden, wo sich die Dünen auf keine Weise hatten umgehen lassen. Daß
+alles so gut gegangen, hatte seinen Grund in dem unerwarteten Vorkommen
+von Mulden, die etwa zwei Drittel des Weges ausmachten, sowie darin,
+daß wir mitten in der Wüste Wasser, Brennholz und Kamisch gefunden
+hatten. In einer älteren Auflage der Karte des russischen Generalstabs
+über die südlich von der sibirischen Grenze liegenden Gebiete hatte ich
+einen Weg eingetragen gefunden, der diese Wüste von Tatran nach einem
+Punkte im Westen von Karaul kreuzt. Diese Angabe, die wohl begründet
+sein mußte, hatte mich zuerst auf den Gedanken gebracht, diese
+gefährliche, lange Wüstenwanderung zu versuchen, und ich halte es jetzt
+nicht für unmöglich, daß ein solcher Weg früher wirklich hat vorhanden
+sein können.
+
+Die Kamele verdienten einen ganzen freien Tag in den üppigen
+Kamischfeldern; dies traf sich auch insofern gut, als ich eine
+astronomische Beobachtung machen mußte, die den ganzen Tag und Abend in
+Anspruch nahm. Die Temperatur erhob sich nicht über -14 Grad, und da es
+obendrein noch leicht aus Norden wehte, konnte ich mit dem Theodoliten
+nicht arbeiten, ohne mir zwischen den Ablesungen die Hände am Feuer
+wieder geschmeidig zu machen. Als ich am Abend bei -25,1 Grad den
+Sirius observierte, klebten meine Fingerspitzen an dem Instrumente, das
+sich glühend heiß anfühlte, fest.
+
+Ördek machte sich auf die Suche und fischte wirklich einen von Kopf
+bis zu Fuß in Schaffelle gehüllten Hirten auf. Dieser war über so
+unerwartete Gäste in seinem friedlichen Walde ganz verdutzt. Wir
+wurden aber bald bekannt und gute Freunde; er verkaufte uns ein Schaf,
+das eine angenehme Abwechslung in unseren Küchenzettel brachte, und
+erschien abends noch mit einer Kanne Milch für uns. Die ergiebigen
+Schneefälle der letzten Tage waren für die 400 Schafe, die er und
+seine beiden Kameraden hüteten, verhängnisvoll geworden; mehrere waren
+erfroren, und die übrigen hatten nur mit Schwierigkeit an ihre Weide
+gelangen können. Die Waldgegend nannte er +Keng-laika+ (das
+breite Überschwemmungsgebiet). Der Fluß war schon 20 Tage zugefroren
+und würde es noch 2½ Monate bleiben. Der Tschertschen-darja friert
+also bedeutend später zu als der Tarim, er hat aber auch ein größeres
+Gefälle und liegt südlicher.
+
+Wir hatten nur noch 7 Kilometer bis Tatran; nach dem Bestecke hätte
+die Entfernung ungefähr eine Tagereise mehr betragen müssen. Der
+Unterschied beruht auf der Mißweisung des Kompasses, die in dieser
+Gegend 6 Grad nach links von der Richtung des Weges ausmacht, d. h.
+daß man, wenn man nach dem Kompasse z. B. direkt nach Süden zu gehen
+glaubt, in Wirklichkeit nach Süden 6 Grad Osten geht.
+
+Der 10. und 11. Januar brachten uns auf dem Wege, den ich von meiner
+vorigen Reise her kannte, nach Tschertschen.
+
+Zu meiner Freude hörte ich, daß Tschertschen vor einem Monate einen
+Bek erhalten hatte, der kein anderer war als mein alter Freund aus
+Kapa, Mollah Toktamet Bek. Nach seinem Hause begaben wir uns und
+wurden dort herzlich empfangen. Er war mit seinen 72 Jahren und
+seiner aristokratischen Erscheinung noch ganz derselbe sympathische,
+liebenswürdige Greis wie früher und stellte uns sofort sein Haus zur
+Verfügung. Ich ließ mich an dem offenen Herde in einem Hinterzimmer
+nieder, die Leute mit dem Gepäcke in einem vorderen. Dies war das
+erste von den wenigen Malen, die ich auf der ganzen Reise im innersten
+Asien unter einem Dach schlief.
+
+Die Einwohnerschaft von Tschertschen war jetzt auf etwa 500 Familien
+angewachsen. Unter ihnen rasteten wir vom 12. bis zum 15. Januar, denn
+sowohl die Leute wie die Tiere bedurften der Ruhe. Ich benutzte jedoch
+die Zeit gut und zog Erkundigungen über die umliegenden Gegenden ein.
+Unaufhörlich erreichten uns unbestimmte Gerüchte von in der Wüste
+begrabenen Städten und Schätzen und besonders von einer alten Stadt,
+die am unteren Andere-terem, 170 Kilometer westlich von Tschertschen,
+liegen sollte. Doch wie ich auch die Eingeborenen verhörte, bestimmte,
+zuverlässige Angaben konnte ich nicht erhalten. Sie fürchten, man
+könne dorthin gehen und all das Gold finden, das ihre Phantasie so
+freigebig unter den Dünen ausbreitet, zugleich aber glauben sie auch,
+daß die alte Stadt der Wohnsitz der Wüstengeister sei und nach deren
+Belieben ihre Lage verändere. Ein Mann erzählte, er habe sich nach dem
+Andere-terem begeben und dort einen 15 Klafter hohen, zylinderförmigen
+Turm von blauer Fayence gesehen; dieser habe ihm aber so seltsam und
+unheimlich ausgesehen, daß er es nicht gewagt, näher heranzugehen.
+Nachdem er sich beruhigt habe und, fest entschlossen, drinnen nach
+Gold zu suchen, dorthin zurückgekehrt sei, sei der Turm verschwunden
+gewesen. Er wollte es daher nicht unternehmen, mich dorthin zu führen,
+denn er war felsenfest davon überzeugt, daß der Turm in der Wüste
+umherwanderte und alle Nachforschungen vereiteln würde.
+
+Die Gegend zwischen Tschertschen und Andere war eine der wenigen
+Landstrecken Ostturkestans, die ich noch nicht bereist hatte; ich
+beschloß daher, einen Abstecher dorthin zu machen, obschon es sich um
+einen anstrengenden Ritt von 340 Kilometer handelte. Außer dem Führer,
+den der Bek zum Mitkommen zwang, wollte ich nur drei Diener mitnehmen,
+Ördek und Kurban, sowie Mollah Schah, einen Einwohner von Tschertschen,
+der mit Littledale durch Tibet gereist war. Drei neue Pferde wurden
+gekauft und ebenso viele für unser Gepäck gemietet. Islam Bai, Turdu
+Bai, die Kamele, das Wüstenpferd und Dowlet II sollten in Tschertschen
+bleiben und sich ordentlich ausruhen, während Jolldasch seinem Herrn,
+wohin dieser auch ging, treu folgte.
+
+Vorher wartete meiner in Tschertschen noch eine große Freude. Am
+Morgen des 13. Januar traf einer der Winterdschigiten des Konsuls
+dort ein, Musa, derselbe Mann, der 1896 in Chotan mein Dolmetscher
+bei den Chinesen gewesen war. Er brachte eine gutgefüllte Posttasche
+mit. Ich hatte also reichliche Lektüre an Briefen und Zeitungen aus
+der Heimat und verschlang ihren Inhalt mit großem Genusse vor dem
+lodernden Herdfeuer im Hause des Beks. Wie es Musa gelungen ist, mich
+so leicht zu finden, ist mir noch heute ein Rätsel. Es war verabredet
+worden, daß die Kuriere über Aksu nach der Lopgegend gehen sollten;
+aber Musa erklärte einfach, er habe „es im Gefühle gehabt“, ich müsse
+im südlichen Teile des Landes sein. Islam Bai wollte gehört haben, daß
+Musa in Tschertschen eine Herzallerliebste habe und diese wohl auf
+dem Wege habe besuchen wollen. Gesegnet sei die Schöne, wenn ich ihr
+meine Post verdankte! Wäre Musa zwei Tage eher angekommen, so hätte
+ich die Post erst bei der Ankunft in Tura-sallgan-ui in Jangi-köll
+erhalten, denn weder der Bek noch sonst jemand in Tschertschen hatte
+die geringste Ahnung davon, daß wir aus der Tiefe der Wüste auftauchen
+würden, und Musa hätte dann seinen Weg nach Osten fortgesetzt.
+
+
+
+
+Sechzehntes Kapitel.
+
+Dreihundertvierzig Kilometer in 30 Grad Kälte.
+
+
+Auf kleinen, munteren, ausgeruhten Pferden traten wir am Morgen des
+16. Januar den kleinen Ausflug von 340 Kilometer an. In langsamem Trab
+ging es auf dem +Astin-joll+ (unterer Weg) (Abb. 62) nach Nija.
+Auf demselben Wege war im Jahre 1889 Hauptmann Roborowskij von General
+Pjewzoffs Expedition geritten; es war so gut wie das einzige Mal auf
+meiner ganzen Reise, daß ich auf dem von mir eingeschlagenen Wege nicht
+der erste war.
+
+Rasch lassen wir Tschertschens äußerste Gehöfte hinter uns und sind nun
+draußen in einer öden, unfruchtbaren Gegend auf einem Wege, der rechts
+und links von durch Winderosion entstandenen Lehmterrassen eingefaßt
+ist. Der Pfad ist einem dunkeln Bande gleich in dem weißen Schnee
+leicht erkennbar. An dem zugefrorenen Brunnen von +Kallaste+ (der
+aufgehängte Schädel) wird am ersten Abend Rast gemacht.
+
+Als ich am Morgen bei 22 Grad Kälte geweckt wurde, standen Sonne und
+Mond gleich hoch über dem Horizont und hatten genau dieselbe rotgelbe
+Färbung. Hätte man nicht die Himmelsrichtungen gekannt, so hätte man
+beim ersten Anblick in Zweifel sein können, welches das Tages- und
+welches das Nachtgestirn sei.
+
+Schnell wieder in den Sattel! Ein greulicher Westwind erhob sich
+und durchkältete Mark und Bein. Man versuche nur, bei 20 Grad Kälte
+gegen den Wind anzureiten und dabei sklavisch an das Marschroutenbuch
+gebunden zu sein. Die Hände erstarren, und man muß die Feder anfassen
+wie den Stiel eines Hammers, sonst hat man keine Kraft in den Fingern.
+Einen solchen Tag vor sich zu haben, ist eine recht schöne Aussicht.
+Länger als eine halbe Stunde hintereinander im Sattel zu sitzen, geht
+nicht an; man muß absteigen, laufen und mit den Füßen stampfen, um
+nicht zu erfrieren.
+
+Bei dem Brunnen von +Kettme+ waren wir schon so erschöpft,
+daß wir eine Viertelstunde rasten mußten, um uns an einem kleinen
+Feuer zu erwärmen; dann ging es in schnellem Trab über den schwach
+wellenförmigen Boden nach +Jantak-kuduk+, wo wir wieder eine
+Weile rasten mußten, um warm zu werden. Dasselbe Manöver wurde am
+Brunnen von +Ak-bai+ wiederholt.
+
+Am Tage darauf lag eine neue Schneedecke so leicht und weich wie
+Daunen über der alten, hartgefrorenen. Die Landschaft ist trostlos
+einförmig und öde; kein Tier war zu sehen, nur Spuren von Hasen
+und Wolfsfährten zeigten sich im Schnee. Dünnes Kamisch, in weiten
+Zwischenräumen stehende Tamarisken und vereinzelte Pappeln wechseln
+mit unfruchtbarem Boden und Sandgürteln ab. +Tailak-tuttgan+ ist
+ein größerer Brunnen; schon sein Name ist interessant, er bedeutet
+„das gefangene wilde Kameljunge“ und verrät, daß diese Herrscher der
+Wüste hier vorzeiten vorgekommen sind; jetzt fehlen sie ganz. Namenlose
+Brunnen sieht man häufig; sie sind von verschmachtenden Sommerreisenden
+gegraben, die nicht bis zum nächsten größeren Brunnen haben warten
+können.
+
++Osman Bai-kuduk+ trägt den Namen des Mannes, der diesen Brunnen
+grub und damit seinen Namen der Nachwelt überlieferte, obwohl er
+selbst längst vergessen ist und niemand weiß, wer er war. Gleich
+hinter dieser Raststelle nimmt der Sand zu, und es folgt ein Gewirr
+von Tamariskenkegeln, zwischen denen sich der Pfad verliert wie ein
+gewundener Hohlweg, in dem sich gut Verstecken spielen läßt.
+
+Das Bett des Kara-muran war leer und ausgetrocknet; nicht einmal
+eine Eisscholle war zu sehen. Es ist 1-2 Meter tief in den Lehmboden
+eingeschnitten, hat eine Breite von 70-100 Meter und soll im Sommer
+zeitweise bedeutende Wassermassen in die Wüste führen.
+
+Bei +Toktekk+ wurde in der Dämmerung gelagert, weil wir frische
+Spuren von Hirten sahen. Auf der ganzen Tagereise hatten wir nur einen
+einsamen Wanderer erblickt. Es war ein armer Schlucker, der, nur von
+seinem Hunde begleitet, zu Fuß nach Kerija ging. Der Hund hinkte in
+jämmerlichem Zustand einher; er war blutüberströmt, sein eines Ohr war
+abgerissen, das andere baumelte wie ein Lappen. Der Mann erzählte, daß
+der Hund in der Nacht mit einem Wolfe im Kampfe gewesen und von ihm so
+zugerichtet worden sei. Es muß unheimlich sein, mitten im Winter allein
+und unbewaffnet den Weg zwischen Tschertschen und Kerija zurückzulegen.
+Der Mann sagte aber ganz ruhig, an sein mit Feuerstein und Zunder
+angezündetes Feuer wagten sich die Wölfe nicht heran, und bei Tage
+hielten sie sich gewöhnlich abseits.
+
+Nach 28 Grad Kälte in der Nacht auf den 19. mußten wir wieder in
+kleinen Entfernungen zwischen den Rastfeuern vorwärts. Wir haben eine
+Gegend erreicht, die durch die Flüsse von den Nordabhängen des Kwen-lun
+reichlicher bewässert wird und daher reicher an Vegetation ist.
+Links haben wir noch immer unfruchtbaren Sand, rechts aber Steppe und
+bewaldete Hügel.
+
+In +Pakka-kuduk+ hörten wir von Norden her Rufe, und Mollah Schah
+machte bald einen netten, braunbärtigen Hirten ausfindig, der uns nach
+einer luftigen Hütte führte, in welcher der Bai, der Besitzer der in
+dieser Gegend weidenden Schafherden, mit seiner Familie wohnte. Nur im
+Winter hält er sich hier auf, im Sommer wohnt er am Andere-terem; dann
+herrscht in diesem ganzen Landstrich eine gräßliche Hitze mit Myriaden
+von Mücken und Moskitos. Die Wölfe bereiten den Schafbesitzern große
+Verluste; gegen größere Rudel können die Hunde nichts ausrichten. Man
+sagt, daß, wenn der Wolf ein Schaf nur streife, dieses schon vor Angst
+und Schrecken sterbe. Komme nicht rechtzeitig Hilfe herbei, so werde
+die ganze Herde zerrissen.
+
+Am Brunnen von +Schudang+ fanden wir auch einen Hirten, der etwa
+zehn Esel tränkte. Der Brunnen ist 3 Meter tief, liegt in einer Mulde
+und hat ganz süßes Wasser. Hier steht eine Lenger (Herberge), welche
+die Chinesen vor vier Jahren erbaut haben. In den auf einer Terrasse
+gelegenen Lehmhütten der Hirten von Schudang ließen wir uns nieder
+(Abb. 63). Wir hatten es hier warm und gut; abends kam der Bai und
+verkaufte uns zwei Schafe, die sofort geschlachtet wurden.
+
+In Schudang holten wir einen Reisenden aus Tschertschen ein, einen
+chinesischen Siah (Schreiber), der auf dem Wege nach Kerija war, um
+dort vor dem Amban Rechenschaft über sein Amt abzulegen. Gleich uns
+blieb er dort, um sich einen Tag auszuruhen, und wir tauschten Visiten
+aus. Als wir am folgenden Morgen aufbrachen, hatte er von seinem
+Opiumrauchen gräßliche Kopfschmerzen.
+
+Der +Mölldscha+ ist, wie ich in „Durch Asiens Wüsten“ mitgeteilt
+habe, da, wo er den oberen Weg schneidet, ein mächtiger Fluß, hier
+aber, auf dem Astin-joll, gewahrt man ihn kaum, weil er sich deltaartig
+in mehrere veränderliche Arme teilt. Hierdurch wird die Bewässerung
+wirkungsvoller und die Vegetation reicher. Doch scheint der Kara-muran
+ein mächtigerer Fluß zu sein, der sich wahrscheinlich tiefer in die
+Wüste hinein erstreckt und auch wohl seinerzeit die Vegetation erzeugt
+hat, die in den von uns durchzogenen Bajirmulden noch ein kümmerliches
+Dasein fristet.
+
+Bei +Tschaltschik+ lagerten wir in einer kleinen Hütte, durch
+deren aus einigen Zweigen bestehendes Dach es ebenso stetig schneite
+wie draußen. Von jetzt an begleitete uns ein Eingeborener zu Fuß, um
+dem Wegweiser Turduk beim Führen zu helfen.
+
+[Illustration: 76. Tal zwischen Kurbantschik und Budschentu-bulak. (S.
+204.)]
+
+[Illustration: 77. Tograk-bulak. (S. 204.)]
+
+[Illustration: 78. Ruine bei Jing-pen. (S. 205.)]
+
+[Illustration: 79. Tschernoffs wildes Kamel. (S. 213.)]
+
+[Illustration: 80. Eines unserer zahmen Kamele. (S. 213.)]
+
+Die Hirten, die in diesen vor den Blicken der Welt so abgesperrten
+Gegenden ihre Tage verleben, sind gutmütige, freundliche Leute, die
+nur anfänglich eine gewisse Scheu vor dem Fremdling zeigen, aber,
+nachdem sie sich überzeugt haben, daß er keine bösen Absichten hegt,
+bald zutraulich werden. Sie sprechen alle mit weicher, milder, durchaus
+nicht unangenehmer Stimme, die den Eindruck macht, selten zu ertönen
+und beinahe vor ihrem eigenen Klange zu erschrecken. Unser Hirt
+hatte eine wirklich schön klingende Stimme, die er übrigens in allen
+möglichen Nuancen und so leise und vorsichtig ertönen ließ, als fürchte
+er sich vor dem Sprechen. Hätte man nur seine Stimme gehört, so würde
+man ihn für einen Mann von weit höherem Bildungsgrad gehalten haben,
+aber sein Aussehen zeigte, daß er ein echter Wilder war. Er trug einen
+Schafpelz, eine Pelzmütze und Schuhe von demselben Material, sah mit
+seinem nie gewaschenen Gesichte so dunkel wie ein Indianer aus, hatte
+schmale, schrägliegende Augen, eine dicke Nase und fleischige Lippen
+und war völlig bartlos. Religion hatte er jedoch, denn als wir an einem
+Masar vorbeiritten, blieb er stehen und strich sich mit den Handflächen
+über das Gesicht, wie es die Muselmänner bei ihrem „Allahu ekbär“ immer
+tun.
+
+Am Morgen des 22. Januar waren wir wieder ganz eingeschneit. Wir
+verlassen jetzt die Straße und schlagen auf ungebahnten Wegen die
+Richtung nach der „alten Stadt“ ein. Das Terrain war scheußlich.
+Zwischen einem Chaos von Tamariskenkegeln liegen kleine, lockere
+Sanddünen, die im Verein mit dem frischgefallenen Schnee das Vordringen
+entsetzlich langsam und anstrengend machen. Die Pferde waten im Sande
+und sinken bei jedem Schritte fußtief ein.
+
+Auf solchem Terrain gelangten wir schließlich an die Ruine eines
+Hauses, das zwei quadratische Zimmer enthalten hat. Die aus Lehm
+bestehenden Mauern und ein Gerippe aus Pfählen und Stangen standen noch
+aufrecht bis zu einer Höhe von 5,8 Meter. Sie waren so dick und stark,
+daß man in ihnen eine Festung früherer Zeiten vermuten konnte. Wir
+lagerten in geringer Entfernung bei den Ruinen einiger uralter Türme.
+Der Schnee lag so hoch, daß er die genauere Untersuchung dieses an und
+für sich armen Ruinenfeldes in hohem Grade erschwerte.
+
+Im Laufe des Abends nahm das Schneien so zu, daß wir, die wir kein
+Zelt hatten, einige Vorsichtsmaßregeln ergreifen mußten. Mein Bett
+wurde, wie gewöhnlich, auf der Erde aufgeschlagen, nachdem der Schnee
+fortgeschaufelt worden war, und meine kleine Kiste vor das Kopfende
+gestellt. An dieser wurde eine Filzdecke befestigt, deren anderes
+Ende ein paar Tamariskenzweige trugen, und die wenigstens meinen Kopf
+schützte, während der untere Teil des Bettes sich allmählich mit
+richtigen Schneewehen bedeckte. Während der Nacht weckte mich plötzlich
+etwas, das mein Gesicht wie eine eiskalte Hand berührte. Es stellte
+sich heraus, daß es die Filzdecke war, die infolge des Gewichtes des
+Schnees heruntergeglitten war; ein Teil der kalten Niederschläge hatte
+längs meines Halses seinen Weg in das Bett hinein gefunden. Nahe am
+Feuer sind die Filzdecken wie in Schlamm getaucht.
+
+Am andern Tage wurde die Kona-schahr (alte Stadt) in Augenschein
+genommen. Eine ziemlich massive Lehmmauer ragte aus dem Schnee hervor,
+und mehrere Wälle und Trümmerhaufen zeigten die Plätze früherer
+Häuser an. Wir fanden Spuren von einem Kanal, der anscheinend aus dem
+nahegelegenen Flusse Bostan-tograk nach diesem Orte hingeleitet worden
+war. Die am besten erhaltene Ruine war ein zirka 10,5 Meter hoher Turm
+von 24,2 Meter Umfang mit einer Öffnung oder Schießscharte oben an der
+einen Seite, wohin man jedoch nicht ohne Leiter gelangen konnte, da das
+Innere des Turmes kompakt war. Im Südosten sah man noch zwei Türme.
+Sie hatten also alle in einer Reihe gelegen und wahrscheinlich einen
+alten Weg markiert. Rote und schwarze Scherben von gebrannten Ziegeln
+kamen in großer Menge vor. Spuren von Inschriften oder Ornamenten waren
+nirgends zu entdecken, und alles war sehr von der Zeit mitgenommen.
+Leider wurde eine genauere Untersuchung durch den fußhohen, alles
+nivellierenden Schnee erschwert.
+
+Es mag hier eingeschaltet sein, daß ~Dr.~ Stein von Rawalpindi
+während der höchst interessanten, verdienstvollen und ergebnisreichen
+Reise, die er 1900-1901 hauptsächlich zu archäologischen Zwecken
+durch Ostturkestan machte, auch den unteren Andere-darja besuchte und
+dort die Ruinen eines alten Ortes entdeckte. Von besonders großer
+Bedeutung sind die von ihm ausgegrabenen Manuskripte. Ich empfehle
+jedem, der sich für die archäologischen Probleme in Innerasien
+besonders interessiert, aufs wärmste Steins vortreffliche Arbeit.
+«~Archæological Exploration in Chinese Turkestan. Preliminary
+Report~» (London 1901), um so mehr als die von mir am Lop-nor
+gemachten Entdeckungen durch Steins gründliche Untersuchungen an
+anderen Stellen in klarerem und vielseitigerem Lichte erscheinen. --
+
+Wir ritten am Abend nach dem +Bostan-tograk+ weiter, dessen
+Flußbett bis zu 8 Meter tief in den Boden eingeschnitten und 141 Meter
+breit ist; es war mit Eis gefüllt, das einen halben Meter dick war und
+direkt auf dem Schlammgrunde ruhte. Daß das Eis so dick wird, beruht
+darauf, daß eine Quelle den ganzen Winter hindurch das Bett hinabfließt
+und nach und nach gefriert, wobei das Eis an Dicke zunimmt. Bei Andere
+führte dieser Quellstrom 3 Kubikmeter Wasser in der Sekunde. Der
+Bostan-tograk ist also auch in seinem Unterlauf ein ansehnlicher Fluß;
+wo der Fluß aufhörte, ein solcher zu sein, eine gute Strecke weiter
+nach Norden, lag früher die Ansiedlung Andere-terem, die aber jetzt
+verlassen ist.
+
+Wenn das Lager fertig ist, macht sich Turduk allabendlich seine Pfeife
+zurecht, wozu recht originelle Anstalten nötig sind. Er schneidet sich
+zwei Stäbchen und steckt sie so in die Erde, daß das eine senkrecht,
+das andere in einem Winkel von 45 Grad nach oben zeigt, beide aber
+von demselben Punkte ausgehen. Dann wird feuchter Lehmteig um sie
+herumgelegt und dicht an sie herangedrückt, worauf die Stäbchen
+entfernt werden. In die Öffnung des so gebildeten vertikalen Ganges
+wird eine Fingerspitzevoll von dem sauren, schlechten Tabak des Landes
+gelegt, an dem Ende des schrägen Ganges wird der Rauch eingesogen. Die
+Stellung desjenigen, der sich dieses raffinierte Genußmittel zu Gemüt
+führt, ist jedoch weder bequem noch graziös. Der Raucher muß der Länge
+nach auf dem Bauche an der Erde liegen. --
+
+Am folgenden Tage setzten wir unseren Weg längs des Bostan-tograk nach
++Andere+ und dem +Baba-köll+ fort, von wo aus wir den Rückweg
+nach Tschertschen antraten. Unterwegs trafen wir nur eine Eselkarawane,
+die Häute von wilden Yaken und Kulanen aus den nordtibetischen Bergen
+nach Kerija brachte. Es wurde ein kalter Ritt. In der Nacht auf den 25.
+Januar hatten wir -29,6 Grad, und das Maximum stieg selten über -14
+Grad. Man ist der Kälte und dem Winde völlig preisgegeben und gerät
+in einen Zustand apathischer Gleichgültigkeit. Jetzt brauchte ich
+wenigstens keine Wegaufnahme zu machen, denn wir kehrten auf demselben
+Wege, den wir gekommen, wieder zurück, und ich konnte also die Hände in
+die Ärmel meines sartischen Wolfspelzes stecken.
+
+In der Nacht auf den 27. sank die Temperatur auf -31,2 Grad, und
+als sie um 1 Uhr auf -16 Grad stieg, erschien uns die Luft, da es
+windstill war, beinahe temperiert. Wir ritten schnell. Die Hufe
+schlugen dumpf und eintönig auf die gefrorene Erde. Vornübergebeugt,
+zusammengekauert, saßen wir mit gekreuzten Armen im Sattel und ließen
+den Pferden freie Zügel. Erst im Lager wurde bemerkt, daß Kurban und
+ein Packpferd fehlten. Um Mitternacht kam er jedoch zu Fuß an, halbtot
+vor Kälte. Sein Pferd war zu müde gewesen, und er hatte es bei Turduk
+zurückgelassen.
+
+Den letzten Tag ritten wir von +Jantak-kuduk+ nach Tschertschen
+in 10 Stunden, nachdem wir nachts eine Minimaltemperatur von -32,2
+Grad gehabt hatten, was in diesem ganzen Winter das Minimum blieb.
+Wir brachen indessen erst spät auf, so daß wir noch mehrere Stunden
+in finsterer Nacht reiten mußten und die nächtliche Kälte wieder
+anfing. Es war schneidend kalt und dazu herrschte noch Gegenwind, der
+freilich schwach war, aber hinreichte, um uns im Sattel fast vor Kälte
+erstarren zu lassen. Ich versuchte, mein Gesicht durch ein Halstuch
+zu schützen; aber der Atem gefror und erstarrte im Barte und an der
+Nase; das Tuch schützte jedoch ein wenig gegen den schneidenden Wind.
+Am schlimmsten ist es für die Augen, denn wenn sie vom Winde tränen,
+kleben die Wimpern zu kleinen Eisklumpen zusammen, die man von Zeit zu
+Zeit entfernen muß, um die Augen öffnen zu können.
+
+Schön war es daher, endlich an Ort und Stelle zu gelangen und sich an
+den Feuern im Hause des Bek erwärmen zu können, heißen Tee mit frischen
+Eiern, Brot und Honig zu bekommen und dann in die Koje zu kriechen,
+um noch ein paar Stunden schwedische Zeitungen zu lesen und sich an
+dem züngelnden, gemütlichen Spiele des Feuerscheines an den Wänden zu
+freuen, während Jolldasch, müde von der langen, kalten Reise, lang
+hingestreckt am Feuer schnarchte.
+
+Das Ergebnis dieser Rekognoszierung war weniger reich, als ich gehofft,
+und kaum die dreizehn Tage, die ich geopfert hatte, wert. Dennoch waren
+mehrere wichtige geographische Beobachtungen gemacht worden, besonders
+hinsichtlich der Ausdehnung der Sandgürtel in diesem Teile des Landes,
+der Breite der Vegetationsgebiete und der Größe der Flüsse nebst ihrer
+Richtung, die nördlicher ist als auf Roborowskijs Karte, was seinen
+Grund in dem langsamen Gefälle des Tarimbeckens nach dem Lop-nor hat.
+
+
+
+
+Siebzehntes Kapitel.
+
+Zwischen vergessenen Gräbern und ausgetrockneten Flußbetten.
+
+
+Der 30. Januar war ein wenig einladender Tag zum Aufbruche von
+Tschertschen: Wind, dichte Wolken, Schneefall und ein eiskalter,
+feuchter Nebel und dabei mittags um 1 Uhr noch -15 Grad. Wir brachen
+indessen doch auf. Wir waren eine recht stattliche Karawane mit sechs
+Kamelen, fünf Pferden und einer ganzen Schar Bürger von Tschertschen,
+die uns bis an den Fluß begleiteten. Mollah Schah wurde fest bei mir
+angestellt; er schien mir sehr brauchbar für die Reise nach Tibet. Sein
+Abschied von der Vaterstadt, von seiner Frau und seinen sechs Kindern
+war so ruhig, als handelte es sich um einen Ausflug von ein paar Tagen.
+So leicht verläßt kein Europäer sein Heim, wenn er es erst in 2½
+Jahren wiedersehen soll.
+
+Wir folgten nicht dem gewöhnlichen Wege auf dem linken Ufer des
+Flusses, sondern überschritten ihn und durchzogen in den ersten beiden
+Tagen die Steppen des rechten Ufers, um in +Keng-laika+ zu lagern,
+wo wir zuerst an den Fluß gelangt waren und wo ich einen astronomisch
+bestimmten Punkt hatte.
+
+Es war jetzt meine Absicht, so genau wie möglich das alte Bett des
+Tschertschen-darja festzustellen, das nach Roborowskij, der es jedoch
+nie selbst gesehen hatte, etwa 65 Kilometer nördlich von dem jetzigen
+liegen sollte. Dies war das Problem, das jetzt zu lösen war und das zu
+dem ursprünglichen Programme gehörte. Es stellte sich nachher heraus,
+daß die Angaben, welche Roborowskij von den Eingeborenen erhalten
+hatte, unzuverlässig gewesen waren und einer Revision bedurften.
+
+Um uns ordentlich vorzubereiten und uns vor allem zwei zuverlässige
+Führer zu sichern, opferten wir einen Rasttag in Keng-laika. Fanden
+wir das alte Bett, so mußten wir auf eine neue, wenn auch kleinere
+Wüstenreise vorbereitet sein, denn wir mußten dem Bette folgen, um zu
+sehen, wohin es führe.
+
+Von den Hirten erhielten wir sofort die unerwartete Auskunft, daß die
+nördliche der beiden Bodensenkungen, die wir in der Wüste gesehen,
+sich schon bei Su-ößgen, eine Tagereise abwärts, mit dem Flusse
+vereinige. Unterhalb dieses Punktes gebe es ihres Wissens im Norden des
+Flusses kein altes Bett, sondern nur lauter hohen Sand, und was dieser
+verberge, wisse niemand; dies hatten wir auf unserer Wüstenwanderung
+selbst schon zur Genüge gesehen.
+
+Bei einem kleinen Salztümpel, dem +Schor-köll+, verließen wir am
+2. Februar den Tschertschen-darja und gingen durch Tamariskensteppen
+und toten Wald nach dem +Tschong-schipang+, wie das hintere
+alte Bett genannt wird (Abb. 64). Es ist sehr deutlich, hat ungefähr
+dieselbe Breite wie der jetzige Fluß, bildet eine wenig gewundene
+Rinne im Boden und hat hohe, deutliche Uferwälle oder nivellierte
+Erosionsterrassen mit Tamarisken oder vereinzelt stehenden, teils
+lebenden, teils verdorrten Pappeln (Abb. 65). Nach Norden hin erstreckt
+sich in unabsehbarer Ferne das Sandmeer. Auf dem rechten Ufer des
+Bettes fanden wir einige größtenteils versandete Hirtenhütten, die wohl
+ein- bis zweihundert Jahre alt waren.
+
+Weiter oben teilt sich das Bett in zwei Arme, von denen der rechte
+nach dem Tschertschen-darja zurückgeht, der linke aber nach Ostnordost
+weiterzieht. In diesem befinden sich die wohlerhaltenen Reste zweier
+aus Reisig und Pfählen hergestellter Dämme; ihr Zweck ist gewesen, den
+Fluß zu zwingen, sich nach rechts zu wenden, was jedoch, wenigstens
+hier, nicht gelungen ist. Auch dieser Arm führte uns allmählich wieder
+nach dem Tschertschen-darja, den wir bei Su-ößgen erreichten.
+
+Als wir festgestellt hatten, daß in dieser Gegend nördlich vom Flusse
+kein altes Bett vorhanden ist, zog ich es vor, am rechten Flußufer,
+wo es keinen Weg gibt, entlang zu wandern. Hier entdeckten wir indes
+einen Kona-darja oder alten Fluß, ein Beweis dafür, daß sich der
+Tschertschen-darja nicht immer nach rechts wendet, wenn er seinen Lauf
+verändert.
+
+In der Nähe des verlassenen Bettes trafen wir die massigsten Pappeln,
+die ich in ganz Ostturkestan je gesehen habe. Sie sind nicht mehr
+als 6 oder 7 Meter hoch, aber zwei, die wir maßen, hatten an der
+Erdoberfläche einen Umfang von 4,75 und 6,80 Meter. Der eigentliche
+Stamm ist nicht viel mehr als einen Meter hoch, worauf er sich in
+bizarre, knorrige, dichtbelaubte Zweige teilt. Das Vorkommen derartiger
+Bäume beweist, daß der Fluß hier jahrhundertelang geströmt hat. Denn
+wenn man sich der Altersbestimmung der Eingeborenen, daß die Tograk
+tausend Jahre lebe, tausend Jahre verdorrt auf ihrer Wurzel stehe
+und tausend Jahre umgestürzt liegen bleibe, ehe sie vergehe, auch
+nicht gerade anschließt, so kann man doch überzeugt sein, daß diese
+Veteranen verschiedene Jahrhunderte auf dem Nacken haben.
+
+Gleich hinter diesen Pappeln, die als Einsiedler unter lauter
+Tamarisken standen, führten uns die Wegweiser nach einem alten
+muhammedanischen Begräbnisplatze mit mehreren Gumbes und den Überresten
+einiger Häuser, von denen das größte 15 × 13 Meter maß. Durch den Platz
+lief ein deutlicher Kanal nach ebenso deutlichen Ackerfeldern.
+
+Wir lagerten an ein paar Gräbern, die wir am 4. Februar genauer
+untersuchten. Vor drei Jahren waren sie von einigen Hirten
+ausgegraben worden. Diese hatten natürlich geglaubt, Gold oder andere
+Wertsachen darin zu finden. Jetzt standen drei Särge am Fuße des
+Tamariskenkegels, in dem sie begraben gewesen waren. Zwei von den
+Leichen, die eines älteren Mannes und die einer Frau in mittleren
+Jahren, waren gut erhalten. Die Haut umschloß dicht das Skelett und
+war hart wie Pergament. Die Frau war mir besonders interessant. Ihr
+vollkommen unbeschädigtes Haar war im Nacken mit einem roten Bande
+zusammengebunden und hatte eine rotbraune Farbe, die bei den Asiaten,
+an die man hier denken könnte, deren Frauen ihr Haar überdies stets in
+Flechten tragen, selten vorkommt. Der Schädel hatte indoeuropäische
+Form, die Stirn war hoch, die Augen lagen gerade, die Jochbeinbogen
+standen wenig hervor, und die schmale Adlernase hatte längliche,
+beinahe parallele Nasenlöcher. Es ging daraus unzweideutig hervor,
+daß man keine Chinesin oder Mongolin vor sich hatte. Dazu kam, daß
+ihre Kleidung nicht asiatisch war. Sie hatte eine Art Hemd von grober
+Leinwand an, das enganliegende Ärmel hatte und sich nach unten
+rockartig erweiterte. Die asiatischen Frauen haben weite Ärmel und
+bauschige Beinkleider, aber nie Röcke, weil diese ihnen, die nach
+Männerweise reiten, nur hinderlich sein würden. Um die Stirn hatte sie,
+ebenso wie der Mann, eine kleine dünne Binde gehabt, die jetzt beinahe
+ganz zu Staub geworden war. An den Füßen trug sie rote Strümpfe. Bei
+beiden Leichen waren die Nägel beschnitten, nicht wie bei den Chinesen
+langgewachsen.
+
+Von der Kleidung des Mannes war nicht mehr viel vorhanden. Das weiße
+Haar war nicht wie bei den Chinesen teilweise abrasiert, noch weniger
+in einen Zopf geflochten. In seinem Sarge lag ein einfacher Holzkamm.
+Die Särge waren schnell und provisorisch zusammengeschlagene Laden von
+sechs Pappelbrettern mit parallelen Seiten, ebenso hoch wie breit und
+etwas länger als die Leichen. Ganz in der Nähe sahen wir die Überreste
+einer alten Hütte, deren Wände aus ineinander geflochtenem Reisig
+bestanden.
+
+Alles schien anzudeuten, daß die Toten Russen waren, und mir stieg
+gleich der Gedanke auf, es könnten zwei von den Raskolniken, den
+russischen Schismatikern, sein, die in den zwanziger Jahren des
+19. Jahrhunderts von Sibirien nach dem Lop-nor flohen und von deren
+weiteren Schicksalen nichts bekannt ist. Der Tamariskenkegel, in
+den die beiden Särge hineingestellt gewesen, hatte damals, als das
+Begräbnis stattfand, wohl ebenso ausgesehen wie jetzt.
+
+Unter den jetzigen Bewohnern Ostturkestans findet man oft Typen, die
+durch Kreuzung mit arischem Blut einen großen Teil der Kennzeichen
+der mongolischen Rasse verloren haben; doch daß diese Leichen keine
+muhammedanischen waren, bewiesen die Särge, denn die Muselmänner
+begraben ihre Leichen nicht in Särgen. Die Hirten behaupteten, daß
+mehrere andere Kegel ebenfalls Gräber umschlössen, konnten uns aber
+keine mehr zeigen. Vielleicht hat einmal eine ganze Raskolnikengemeinde
+diesen vor jeder Religionsverfolgung geschützten Ort aufgesucht. Leider
+fehlte den Särgen jede Spur von Inschrift.
+
+So überließen wir denn diese geheimnisvollen Gräber ihrer ewigen Ruhe
+in der Einöde und gingen auf dem rechten Ufer weiter.
+
+Während der letzten Stunden gingen wir auf dem Eise des
+Tschertschen-darja, das uns beinahe wie ein eigens für uns angelegtes
+Asphalttrottoir erschien, -- so eben und gut ging es sich dort nach
+all dem Gestrüpp und den trockenen Ästen, die im Walde umherlagen
+(Abb. 66). Nur in den nach Nordosten gerichteten Krümmungen hatte
+der Wind den Schnee vom Eise gefegt; sonst lag dieser überall
+dezimeterhoch, und die auf dem Eise ungeschickten und hilflosen Kamele
+hatten also hier nichts zu fürchten. An diesem Flusse vermissen
+wir die energischen Züge des Tarim; das Bett ist nicht so kräftig
+ausgemeißelt, wird aber auf den Ufern von den unvermeidlichen Pappeln,
+Tamarisken und Kamischfeldern begleitet. Auf dem rechten Ufer ist der
+Vegetationsgürtel breiter als auf dem linken, wo er von dem von Norden
+herandrängenden Sande, dessen hohe, unfruchtbare Dünen gewöhnlich über
+dem Walde zu sehen sind, stark beeinträchtigt wird.
+
+Am 5. Februar marschierten wir teils auf dem Eise, teils auf dem
+rechten Ufer in alten Betten, die den verlassenen Krümmungen des Tarim
+entsprechen (Abb. 67). Tigerspuren kreuzten wir oft. Auf dem Eise lag
+mitten in einer großen Blutlache das Fell eines Rehs, und um die Lache
+herum sah man die Spuren von drei, vier Wölfen. Sie hatten ihrem Opfer
+augenscheinlich auf dem Eise aufgelauert, um es zum Ausgleiten zu
+bringen, es auf diese Weise überrumpelt und dann einen Schmaus gehalten.
+
+[Illustration: 81. Eisschollen in der Oase Altimisch-bulak. (S. 222.)]
+
+[Illustration: 82. Abdu Rehims Beute. (S. 223.)]
+
+In einem anderen verlassenen Bette, das seit Menschengedenken
+kein Wasser mehr geführt hat, hing an der Spitze einer Stange ein
+Hirschschädel; die Gegend heißt infolgedessen +Kallaste+ (der
+aufgehängte Schädel), welcher Name sich im innersten Asien oft
+wiederholt. Der Zweck dieses Nischan (Zeichen) ist zu zeigen, wo
+der Weg geht, wenn dieser aus irgendeinem Grunde, wie Flugsand,
+Überschwemmung, Buschholz oder dergleichen, schwer erkennbar ist.
+
+Die Kälte dauerte an. In der Nacht auf den 6. hatten wir -29 Grad,
+aber unerschöpfliche Vorräte von vorzüglichem Brennholz. Bei
++Ak-ilek-lenger+ gingen wir nach dem linken Ufer hinüber.
+Über der Stromrinne knackte das Eis unter dem Gewichte der Kamele
+recht beunruhigend. Die Karawane begab sich von hier direkt nach
++Buguluk+ am Tschertschen-darja, während ich mit zwei Begleitern
+in dem alten Bette weiterritt, das bei Ak-ilek anfängt und ein paar
+Kilometer nördlich von dem jetzigen Flusse liegt. Es ist reich an
+lebender, frischer Vegetation. Als wir gerade vor Buguluk waren,
+ließen wir das Bett linkerhand liegen und vereinigten uns wieder mit
+den Unsrigen, die schon an dem Punkte lagerten, wo die Straße von
+Tscharchlik nach Tschertschen den Fluß kreuzt. Ich hatte diesen Punkt
+1896 besucht; wir blieben jetzt einen Tag dort.
+
+Leider mußten wir hier von unseren beiden Führern, welche die Gegenden,
+in die wir jetzt kamen, nicht genau kannten, Abschied nehmen und
+unseren Weg allein suchen, bis wir wieder Menschen trafen.
+
+Der eine unserer Führer wußte nur zu erzählen, daß sich einmal ein
+Hirte aus dem unteren Keng-laika nordwärts in den Sand hineinbegeben
+habe und schließlich an eine „Kona-schahr“ gelangt sei. Hier habe er
+acht Tschugune (Kupferkannen) und 40 Ketmene (Spaten) gefunden und
+mit so viel von der Beute, wie er zu tragen vermocht, den Rückzug
+nach seiner Hütte angetreten. Während seiner Abwesenheit hätten
+Wölfe seine Schafe zerrissen, was man allgemein als Strafe für seine
+Habgier angesehen habe. Er sei darauf nach dem Fundort zurückgekehrt
+und habe Spaten und Kannen wieder an den Platz gelegt, von dem er sie
+fortgenommen habe.
+
+Auf derartige Erzählungen kann man natürlich keine Pläne bauen, und es
+ist überhaupt am besten, nur das zu glauben, was man selbst gesehen und
+erlebt hat.
+
+Toktamet Bek hatte mir auch eine Räubergeschichte erzählt, die
+jedoch den Eindruck der Wahrheit machte. Er war einmal in seinem
+Hause in Tschertschen von sieben Dieben, die in später Nacht bei ihm
+angeklopft hatten, überfallen worden. Auf seine Frage, wer da sei,
+hatten sie den Namen eines seiner Bekannten genannt, weshalb er sofort
+öffnete. Da hatte einer aus der Bande ein Messer gezogen und ihn
+mit dem Tode bedroht, wenn er nicht schweige und sich binden lasse.
+Unterdessen plünderten die anderen sein Haus und setzten sich in den
+Besitz aller Wertgegenstände, sowie einer Summe von 2000 Tenge in
+geprägtem Silber. Dann hatten sie die Flucht ergriffen und den Bek
+gebunden mitgeschleppt, damit er keine Gelegenheit habe, Leute zur
+Verfolgung aufzubieten. Das Interessanteste aber war, daß die Bande von
+Wasch-schahri den Tschertschen-darja überschritten und sich nordwärts
+nach dem Tarim begeben hatte, wobei sie einem alten Bette, anscheinend
+dem Ettek-tarim, gefolgt war. Es war sicher nicht das erste Mal,
+daß dieses Bett, dessen Bekanntschaft wir bald machen sollten, von
+flüchtigen Missetätern als Rückzugslinie benutzt wurde.
+
+8. Februar. Jetzt wanderten wir am linken Ufer des Tschertschen-darja
+abwärts, teils um nicht denselben Weg zurückzulegen wie Roborowskij,
+teils um zu erforschen, ob sich auf dieser Strecke alte Betten vom
+Flusse abzweigen oder sich mit ihm vereinigen. Der Fluß ist oft mächtig
+angeschwollen, und das Ufergebiet bildet eine Terrasse, die ein paar
+Meter über der Eisfläche liegt. Nur an einem Punkte trat der Sand dicht
+an den Fluß heran; dort fielen 10 Meter hohe Dünen steil nach dem
+Eise ab. In einem kleinen Tograkhaine wurde das Lager aufgeschlagen.
+Obgleich der Tag wie gewöhnlich trübe gewesen, war der Sonnenuntergang
+doch herrlich, und ein purpurnes Licht ergoß sich über die Dünen, die
+wie auf dem Sprunge standen, auch dieses kleine Vegetationsband, das
+der Fluß speist, zu verschlingen.
+
+Der junge Kurban, der anfangs einen so vielversprechenden Eindruck
+machte, schien in Wirklichkeit ein Schlingel zu sein. So verschwand
+er z. B. an diesem Abend, nachdem es dunkel geworden war. Alle Tiere
+befanden sich im Lager, so daß er nicht bei ihnen sein konnte, und
+sein Pelz war auch da, obwohl es 18 Grad Kälte hatte. Als er Stunde
+auf Stunde ausblieb und man befürchten mußte, daß Wölfe ihn überfallen
+hätten, wurden Leute auf die Suche nach ihm ausgeschickt. Nach langer
+Zeit kehrten sie mit dem Jüngling zurück, der während des Tagemarsches
+ein Paar Stiefel von einer Kamellast verloren hatte. Islam Bai
+hielt dem Bengel, der sich später zu einem ausgewachsenen Schelme
+entwickelte, eine Strafpredigt. Es war ja nichts dabei, daß er ein Paar
+Stiefel verloren hatte, aber es war dumm von ihm, nicht zu sagen, daß
+er sie zu suchen beabsichtige. Wir hatten gefürchtet, er sei irgendwo
+eingeschlafen und könne über Nacht erfrieren.
+
+9. Februar. Erst diese Nacht ließ uns hoffen, daß die ärgste
+Winterkälte vorüber sei; das Minimumthermometer zeigte nur -20,1
+Grad, und die Temperatur hob sich im Laufe des Tages auf -7,6 Grad;
+so warm hatten wir es seit dem 28. Dezember nicht gehabt. Das Terrain
+war gut, und wir konnten 30 Kilometer zurücklegen -- am Tage vorher
+wurden es nur 26 --, aber das Land ist trostlos einförmig, und
+vergebens schaut man nach Menschen aus. Ich war dieser Wüstenei recht
+überdrüssig und sehnte mich nach einem dankbareren Felde. Wir zogen
+rasch und in geraden Peilungen über die Steppe zwischen 30 Meter hohen,
+unfruchtbaren Dünen zur Linken und dem Flusse zur Rechten. Der Fluß
+gleicht noch immer einem kreideweißen Bande, doch große Strecken sind
+Anschwemmungen, die jetzt, da alles mit Schnee bedeckt ist, von der
+Eisdecke fast gar nicht zu unterscheiden sind.
+
+Am folgenden Tage stieg die Temperatur um 1 Uhr auf -2,2 Grad, und
+wir hatten den ersten Frühlingssturm aus Nordosten, der indessen nur
+ein schwacher Vorläufer der heftigen Stürme war, die den Frühling im
+Loplande charakterisieren. Auf der Wanderung nach Nordosten fanden
+wir ein augenscheinlich ganz verlassenes Bett. Seine Breite betrug 32
+Meter, und es war 6½ Meter tief in den Boden eingeschnitten. Es hat
+also eine völlig andere Gestalt als der jetzige Fluß, der seicht und
+wohl fünfmal so breit ist, was sich sicher darauf zurückführen läßt,
+daß der neue Fluß sein Bett noch nicht hat vertiefen können. An den
+Ufern stand dichter, toter, noch wurzelfester Pappelwald. Im Grunde des
+Bettes war der Boden an einigen Stellen recht heimtückisch. Zwei Kamele
+versanken geradezu in losem, leichtem, kartoffelmehlähnlich trockenem
+Staube. Sie mußten mit Spaten wieder herausgegraben werden.
+
+Vom Anfange dieses alten Bettes an, das sich längs der Grenze
+des Sandmeeres hinzieht, hört aller Pappelwald an den Ufern des
+Tschertschen-darja auf; die wenigen dort vorkommenden Bäume sind nicht
+älter als 30 Jahre. Der ehemalige, jetzt tote Wald begleitet dagegen
+das verlassene Bett.
+
+Am 11. Februar trafen wir bei der Sattma von +Araltschi+ am linken
+Ufer des Tschertschen-darja endlich Menschen (Abb. 68). Es waren ein
+Mann, zwei Knaben und zwei Frauen mit 600 Schafen, sechs Kühen und
+einigen Pferden und Eseln. Sie teilten uns mit, daß das alte Bett,
+dem wir gestern gefolgt waren, sich in das äußerste Gebiet des Sandes
+hineinziehe und sich weiter abwärts mit dem Ettek-tarim vereinige. In
+einem Monate erwarten sie die „Mus-suji“, die Eisschmelzflut, die zehn
+Tage lang so gewaltig dahinströmt, daß der Tschertschen-darja dann
+nicht durchwatet werden kann; wenn diese Frühlingsflut vorbei ist,
+bleibt nicht viel Wasser in dem Bette zurück und es ist sehr seicht,
+bis im Spätsommer das eigentliche Hochwasser aus dem Gebirge kommt und
+es aufs neue füllt.
+
+Jetzt zogen wir auf dem zugefrorenen Flusse weiter nach Osten. Dieser
+ist so breit wie ein See, und sein Boden liegt beinahe in gleicher Höhe
+mit den Ufern; im Schilfe des Ufers waren große, jetzt zugefrorene,
+überschwemmte Strecken zu sehen. Der Name +Keng-laika+ (das
+ausgedehnte Anschwemmungsgebiet) ist eine sehr passende Bezeichnung
+für das ganze ausgedehnte Delta des Tschertschen-darja. Daß dieser
+Teil des Flusses ein sehr junges Gebilde ist, sieht man ganz deutlich;
+es kann nicht lange her sein, seit der Fluß in dieses südliche Bett
+übergesiedelt ist.
+
+In einem kleinen Pappelhaine bei +Jiggdelik-agil+ ließen wir uns
+in der Nähe von zwei Hütten nieder und richteten uns für einen Rasttag,
+der der Ortsbestimmung gewidmet werden sollte, häuslich ein.
+
+Ich schlief mich an diesem Ruhetage gründlich aus. Man darf nicht durch
+Gardinen verwöhnt sein, wenn man unter freiem Himmel schläft, besonders
+nicht, wenn man erst am hellen Tage und bei schon hochstehender Sonne
+erwacht. Und man darf sich nicht vor den Hirten und ihren Familien
+genieren, die sich die Morgentoilette des Fremden mit der größten
+Verwunderung ansehen, während die frei umhergehenden Kamele dicht neben
+dem Bette vorjährige Pappelblätter auflesen.
+
+Mollah Chodscha, der Herr des Ortes, wußte gut Bescheid; als ich ihn
+aber bat, uns den Weg nach dem Ettek-tarim, dem früheren Bette des
+Tschong-tarim, zu zeigen, leugnete er hartnäckig, ihn zu kennen. Er log
+offenbar, um uns nicht begleiten zu müssen. Meine Leute wollten ihm
+eine Tracht Prügel verabreichen, um ihn gefügiger zu machen; da mir
+dieses gewiß wirksame Verfahren jedoch nicht zusagte, beschlossen wir,
+ihn beim Aufbruch ganz einfach gebunden mitzunehmen und ihn mit dem
+jetzt bedeutend zusammengeschmolzenen Gepäck auf eines der Kamele zu
+laden.
+
+Indessen rettete ihn ein für beide Teile glückliches Ereignis von allen
+Schikanen. Mein alter Freund aus Tscharchlik, Togdasin Bek, kam abends
+in unserm Lager an, weil er vom Amban jener Stadt Befehl erhalten
+hatte, nach mir Ausschau zu halten und mir seine Dienste zur Verfügung
+zu stellen. Daher war es ihm ein Vergnügen, mich nach dem Ettek-tarim
+zu führen, dessen Bett ihm schon zweimal als Straße gedient hatte, und
+er machte mir über dieses Bett höchst unerwartete Mitteilungen, die mit
+denjenigen, die ich 1896 von Kuntschekkan, dem Bek von Abdall, erhalten
+hatte, genau übereinstimmten. Der Ettek-tarim, sagte er, ist erst seit
+30 Jahren verlassen. Vor dieser Zeit strömte die Hälfte der Wassermenge
+des Tarim (Jarkent-darja) durch dieses Bett.
+
+Togdasin Bek war einmal auf diesem Wege, wo es jetzt keinen Tropfen
+Wasser gibt, sogar in einem Boote gerudert. Das zweite Mal hatte er
+den Ettek-tarim 1877 gesehen, als der berühmte Nias Hakim, Bek von
+Chotan, der Vertraute und Mörder Jakub Beks, mit einer Karawane von
+Kamelen, Eseln und Mauleseln von Chotan nach Korla flüchtete, bei
+welcher Gelegenheit Togdasin Bek ihm diesen Ogri-joll (Diebsweg) zeigen
+mußte, auf dem alle diejenigen entlang schleichen, die auf dem großen
+Karawanenwege den Dienern der Gerechtigkeit in die Hände zu fallen
+fürchten.
+
+13. Februar. Noch immer hoher Sand zur Linken. Der gute alte Bek zeigte
+uns jetzt den Weg, und es war merkwürdig, wie gut er Bescheid wußte,
+obwohl er seit 23 Jahren nicht hier gewesen war. Der Ortssinn der
+Asiaten ist oft unglaublich scharf ausgebildet. Togdasin konnte z. B.
+sagen. „Wenn wir noch ein paar “joll„ gehen, kommen wir an eine Stelle
+mit besserer Weide“ und er irrte sich dabei nie.
+
+Die Kamele sind während der Brunstzeit, deren Höhepunkt gerade
+im Februar ist, gefährlich und boshaft. Wir haben bloß Hengste
+und müssen aufpassen, daß sie einander nicht verletzen. Im Lager
++Koschmet-kölli+ wurden jedoch zwei Bestien handgemein. Sie
+kämpften in blinder Wut, die Köpfe am Boden hinstreckend, wickelten
+ihre Hälse umeinander wie Schlangen, rangen und stießen aus allen
+Kräften, bissen und schlugen nach allen Seiten aus, und der Geifer
+spritzte dabei wie Seifenschaum umher. Der Stärkere fuhr seinem Gegner
+mit dem Kopfe zwischen beide Vorderbeine, um ihn umzuwerfen. Gelingt
+dies, so kann der Besiegte froh sein, wenn er ohne ernste Verletzungen
+davonkommt. Das muß jedoch verhindert werden. Alle Männer eilen herbei.
+Am Nasenstricke ziehen nützt nichts, denn dies fühlt das Kamel, wenn
+es vor Wut schäumt, gar nicht. Nein, sie schlagen die Kämpfenden so
+lange mit Knüppeln auf die Nase, bis sie voneinander ablassen und
+schaumbespritzt und blutig mit vor Haß glühenden Augen nach ihren
+Weideplätzen zurückkehren. Wir mußten, wenn wir lagerten, den ärgsten
+Raufbolden stets die Vorderbeine zusammenbinden und ihnen auf dem
+Marsche Halftern anlegen.
+
+Am 14. Februar machten wir einen ganz kurzen Tagemarsch von nur 15
+Kilometer, weil wir bei +Basch-agis+, dem letzten Punkte, wo wir
+Wasser bekommen konnten, Halt machen mußten (Abb. 69). Der nördlichste
+Arm des Tschertschen-darja biegt an diesem Punkte nach Südosten ab nach
+dem Lop-kölli, wie der Kara-buran hier ausschließlich genannt wird. Wir
+hatten drei Tagereisen in wasserloser Gegend vor uns und mußten für
+unseren eigenen und den Bedarf der Pferde ein paar Säcke Eis mitnehmen.
+
+Um 1 Uhr zeigte das Thermometer +0,4 Grad; es war das erste Mal seit
+dem heiligen Abend, an dem wir +0,1 Grad hatten, daß das Quecksilber
+über Null stand. Doch ging die Temperatur in der Nacht bis -24 Grad
+herunter.
+
+Als wir am 15. Februar nach Nordosten wanderten, entfernten wir uns
+nach und nach von dem hohen Sande, der jedoch noch immer in etwa 5
+Kilometer Entfernung zu sehen war.
+
+Am +Julgunluk-köll+ (Tamariskensee) erreichten wir den
+Ettek-tarim, dessen Bett von hier an nach Süden geht und der seinerzeit
+unweit des jetzigen Fischerdorfes Lop in den Kara-buran mündete. Wir
+folgten seinem Laufe den ganzen Tag nach Norden. Hier wächst frisches,
+saftiges Buschholz ziemlich üppig, obwohl der Erdboden überall so
+trocken wie Zunder ist. Daß jedoch das Grundwasser nicht fehlt, sieht
+man schon an dem Julgunluk-kuduk, der gegenwärtig versandet war.
+Ein aus einem Pappelstumpfe ausgehöhlter Wassertrog für Pferde und
+Esel zeigte auch, daß dieser Schleichweg gelegentlich benutzt wird,
+besonders von Leuten, die „Jiggde“(~Elaeagnus~)-Beeren sammeln.
+Die das Bett umgebenden Sanddünen sind höchstens 4 Meter hoch. Das
+Bett des Ettek-tarim ist sehr deutlich, und man sieht gleich, daß es
+nicht länger als einige dreißig Jahre her sein kann, seit der Fluß es
+verlassen hat. Es markiert sich als eine nackte, von lichten Wäldern
+und Dickichten eingefaßte Rinne. Auch der gewundene Verlauf der letzten
+Stromrinne tritt in dem Bette als deutliche Vertiefung hervor. Sogar
+Treibholz steckt hier und dort noch im Boden.
+
+Ein paar geophysische Charakterzüge, auf die ich nur flüchtig hinweisen
+will, dienen zur Beleuchtung meiner Theorien über die Wanderungen des
+Lop-nor. Erstens beweist die Tatsache, daß der Ettek-tarim reich an
+lebenskräftigem Pappelwalde ist, während an dem entsprechenden Teile
+des Tarim jeder Wald fehlt, daß letzterer ein neugebildeter Fluß ist,
+an dem der Wald noch nicht hat groß werden können. Zweitens beweist die
+kolossale Anhäufung von Flugsand, die wir an dem heutigen Lagerplatze
+fanden und die den bezeichnenden Namen +Tag-kum+ (Berg-Sand)
+trägt, daß der Tarim in früherer Zeit im Osten dieser Stelle noch nicht
+existiert hat, denn sonst hätte der hier herrschende Ostwind nicht
+solche Massen von Sand hierher treiben können. Dies hat nur zu einer
+Zeit geschehen können, als sich der Tarim noch in den alten, jetzt
+ausgetrockneten Lopsee ergoß. Schließlich ist zu beachten, daß der Sand
+zwischen dem Ettek-tarim und unteren Tarim vom Tag-kum an nach Norden
+wesentlich abnimmt. Er hat sich in den Gegenden, die auf der Leeseite
+des alten Lopsees lagen, nicht anhäufen können.
+
+Das Vegetationsgebiet des Ettek-tarim bildet einen 3 Kilometer breiten
+Gürtel, gegen welchen im Osten der hohe Sand steil abfällt; im Westen
+dagegen erheben sich die Dünen langsam zu den gewaltigen Protuberanzen,
+die wir weiter westlich in der innersten Wüste gesehen hatten.
+
+16. Februar. Während meine Leute die Kamele beluden, erstieg ich am
+Morgen den höchsten Kamm des Tag-kum, der wohl 50 oder 60 Meter über
+den Wald emporragt. Man hat von hier eine orientierende Aussicht. Im
+Nordosten erscheint eine Bajir von dem gewöhnlichen Aussehen dieser
+Mulden und mit den charakteristischen konzentrischen Ringen. Im Osten
+wird diese Bodensenkung von einer Sandmauer begrenzt, die nur halb so
+hoch ist wie der Tag-kum. Weiter nach Osten hin nimmt der Sand ab in
+der Richtung nach dem rechten Ufer des Tarim, dessen Vegetationsgürtel
+man an dem dunkleren Farbentone erkennt. Im Osten des Tarim taucht
+wieder Sand auf, der stets nach Westen steil abfällt.
+
+Es liegt die Annahme nahe, daß diese Bajirmulden in der ganzen Wüste
+verstreut liegen und ein Werk des Windes sind. In dem Bette des
+Ettek-tarim haben sich bisher nur unbedeutende Dünen anhäufen können,
+aber im Walde sind sie schon 3 bis 4 Meter hoch. Einstweilen liegt
+das Bett noch geschützt vor der großen Flutwelle von Sand, die sich
+langsam nähert und es zu begraben droht. Teilweise ist es jedoch schon
+geschehen; die Welle des Tag-kum hat einen Teil des Ettek-tarim-Bettes
+begraben, und weiter nach Norden hin verschwindet das Bett oft unter
+dem nachdringenden Sande. Die Bajirmulden sind nicht stationär,
+sie wandern nach Westen über den Boden der Wüste. Sie entstehen an
+seinem Ostrande und verschwinden im fernen Westen, wo andere, weniger
+regelmäßige Windverhältnisse herrschen. Eine Bajir erhält sich also
+während ihres ganzen Daseins, obwohl ihr Boden sich im Laufe von 100
+Jahren erneuert, wenn man die Geschwindigkeit der Wanderung der Dünen
+auf zirka 5 Meter im Jahre veranschlagt. Wenn auch die Wellen der Dünen
+denselben Windgesetzen wie die Wogen des Meeres gehorchen, so liegt
+doch ein großer Unterschied darin, daß sich bei den Meereswogen nur die
+Wellenbewegung fortpflanzt, das Wasser aber an seiner Stelle bleibt,
+während sich bei den Sandwogen auch das Material weiterbewegt, vorwärts
+gestoßen wird und überschwemmt. Würde der Wind nicht neues Material
+zuführen, so würde der vorhandene Sand weggefegt werden.
+
+Gegen Norden zeigt der Wald Neigung zum Absterben. Die Wurzeln
+scheinen nur noch gerade bis zum Grundwasser hinunter zu reichen;
+doch ist er noch dicht, und Stämme von 2,45 Meter Umfang sind nichts
+Außergewöhnliches. Am östlichen Ufer des Ettek-tarim ist der Wald
+unvergleichlich viel reicher als auf dem westlichen, weil jenes im
+Windschatten geschützt liegt, während die Vegetation des letzteren vom
+Sande langsam erstickt wird.
+
+Auf der letzten Tagereise in diesem alten lehrreichen Bette kam toter
+Wald ebenso häufig vor wie lebender, und die Vernichtung ist hier im
+allgemeinen weiter vorgeschritten, indem sich die Sandmassen beider
+Ufer einander bis auf 300 Meter genähert haben. Sie haben hie und da
+schon eine Brücke von kleineren Dünen zueinander hinübergespannt.
+
+Bei +Tana-baglagan+ zeigten sich frische Spuren von Wasser.
+Im vorigen Jahre hatte man von Basch-argan am Tarim einen Kanal
+gegraben, in der Absicht, das ausgetrocknete Bett des Ettek-tarim
+wieder zu füllen, um ausgedehntere Weidegründe zu erhalten und die noch
+vorhandene Vegetation zu retten. Aber der kleine Kanal war nur mit
+Mühe bis Tana-baglagan geführt worden, und man hatte das Unternehmen
+aufgegeben.
+
+Endlich erreichten wir bei Basch-argan wieder unseren alten Freund, den
+Tarim. Wie klein und unansehnlich zeigte sich jetzt dieser Fluß, der
+im Herbst auf uns einen so mächtigen Eindruck gemacht hatte! Gefesselt
+und regungslos lag er da, einem schmalen, eisbedeckten Kanale ohne
+Alluvialbildungen gleichend. Die Eisdecke sah aus wie eine Rinne mit
+emporstehenden Rändern -- das Wasser war nämlich gefallen, seit der
+Fluß zugefroren war. Als der Tarim zufror, hatte er eine Breite von 43
+Meter, aber jetzt war er nur 23,6 Meter breit. In der Wake, aus der wir
+die Kamele, die drei Tage gedurstet hatten, tränkten, war die Eisdecke
+52 Zentimeter dick. Dann gingen wir durch Wald, Dickicht und Unterholz
+nach +Argan+ oder +Airilgan+, wo wir Lager schlugen.
+
+Der 18. Februar, ein Sonntag, wurde zur Ruhe bestimmt. Der Tarim
+hatte beim Zusammenfluß eine Breite von 59 Meter; der Kontsche- oder
+Kun-tschekkisch-tarim war 24 Meter, und der vereinigte Fluß, der nach
+dem Kara-buran hinuntergeht, 76,8 Meter breit. Unser Lager stand auf
+der Landspitze zwischen dem Tarim und dem vereinigten Flusse, welchen
+Punkt wir bei zwei späteren Gelegenheiten wieder besuchen sollten und
+der also sowohl für topographische wie für astronomische Messungen ein
+wichtiger Knoten- und Kontrollpunkt wurde. Von hier zog der prächtige
+alte Togdasin Bek wieder heim, der uns anderthalb Jahre später noch
+mehr Dienste leisten sollte.
+
+[Illustration: 83. Gebäude auf Tonsockeln (S. 228.)]
+
+[Illustration: 84. Tschernoff und Abdu Rehim bei einem Tora in der
+Wüste. (S. 229.)]
+
+[Illustration: 85. Aufrechtstehender Türpfosten. (S. 230.)]
+
+[Illustration: 86. Der Platz von Ördeks Entdeckung;
+
+ein Jahr später photographiert. (S. 232.)]
+
+[Illustration: 87. Einige von Ördeks Trophäen.
+
+Das Maß auf der rechten Seite des Bildes stellt einen Meter dar. (S.
+232.)]
+
+
+
+
+Achtzehntes Kapitel.
+
+Die Ankunft der burjatischen Kosaken in Tura-sallgan-ui.
+
+
+Mit einer Beschreibung des Netzes der Wasserwege, welche die
+Landstrecken durchkreuzen, über die wir den Rückzug nach Jangi-köll
+antraten, werde ich den Leser nicht ermüden. Eine verwickeltere,
+verworrenere Hydrographie läßt sich nicht denken. Namen, die auf
+„köll“, „tscholl“, „daschi“, „akin“, „kok-ala“ (= See, Tümpel,
+Salztümpel, Strom, Flußarm) endigen, kommen unausgesetzt vor, selbst
+da, wo das Land jetzt trocken liegt.
+
+Das Dorf +Scheitlar+ zählt drei Familien, die von Fischfang
+und Schafzucht leben. Eine alte Frau saß vor den Schilfhütten (Abb.
+70) und schlug Pflanzenfasern (Tschigge, ~Asclepias~), bis sie
+eine baumwollartig feine, weiche Masse bildeten, aus der ein grober,
+aber haltbarer Stoff gewebt wird. Sie erzählte, daß ihre Eltern am
+Tschiwillik-köll gewohnt hätten, der früher sehr viel größer gewesen
+sei als jetzt und noch der größte See sei, den die Leute hier überhaupt
+kennen.
+
+Unser Weg führte jetzt nach Nordwesten. Bei +Arelisch+ teilt sich
+der Kun-tschekkisch-tarim in zwei Arme, von denen der östliche nach dem
+obenerwähnten See geht; der westliche ist der Kok-ala, an dem wir zum
+Teil hingezogen sind. Die Tage werden immer frühlingshafter, obgleich
+die nächtliche Kälte noch auf -18,8 Grad herunterging. Am 21. Februar
+erreichten wir +Dural+, wo der Amban von Lop residiert, und am
+Tage darauf +Tikkenlik+, wo Kirgui Pavan zu mir stieß. Er war es,
+der mir 1896 den Weg nach den großen Seen im Osten gezeigt und mir
+dadurch Gelegenheit gegeben hatte, eine so bedeutungsvolle Entdeckung
+zu machen.
+
+Im Lager +Turduning-söresi+ wurden wir wieder vom Glück
+begünstigt. Ein Mann aus Singer im Kurruk-tag, Abdu Rehim, hatte sich
+dort mit acht Kamelen niedergelassen, um einige Tage im Walde zu
+rasten. Ich brauchte gerade für die nächste Expedition einen Führer
+nach dem trockenen Flußbette Kum-darja, dessen Vorhandensein sowohl der
+russische Reisende Kosloff wie ich festgestellt hatte, doch bisher nur
+dadurch, daß wir es an einigen Punkten berührt hatten. Es stellte sich
+jetzt heraus, daß Abdu Rehim derselbe Mann war, der Kosloff den Weg von
+Norden nach Altimisch-bulak gezeigt hatte, der Quelle im Kurruk-tag,
+die dem Kum-darja zunächst liegt.
+
+Es war wirklich ein außergewöhnlich glückliches Zusammentreffen,
+daß ich gerade diesem Manne begegnen mußte, der einer von den zwei
+oder drei Jägern im ganzen Lande war, die nach Altimisch-bulak
+hinzufinden wissen. Ganz leicht ließ sich jedoch nicht mit ihm einig
+werden, denn er taxierte seine eigene Bedeutung ganz richtig, und als
+wir den Vorschlag machten, ihm seine Kamele abzukaufen, verlangte
+er unverschämte Preise. Islam Bai, der in seiner Art, mit seinen
+Glaubensgenossen umzugehen, etwas von Tamerlans rücksichtslosem
+Despotismus hatte, geriet infolgedessen in eine Schlägerei mit Abdu
+Rehim, der anfänglich den Eindruck eines Freibeuters und unbändigen
+Gesellen machte. Als dieser sich grollend entfernte, rief ich ihn zu
+mir, und nun machten wir die Angelegenheit unter vier Augen ab -- ohne
+Handgreiflichkeiten. Er sollte mir sechs seiner Kamele für täglich
+½ Sär pro Tier vermieten und mich durch das Bett des Kum-darja
+nach Altimisch-bulak führen, von wo er nach Singer, seiner Heimat,
+weiterziehen sollte. Seine Kamele trugen keine Lasten; er hatte
+seine Schwester und ihre Aussteuer einem Bek in Dural gebracht und
+kehrte jetzt mit leeren Händen wieder nach Hause zurück. Islam Bai
+prophezeite, daß mir dieser Mann Unannehmlichkeiten bereiten würde,
+aber er hatte unrecht. Einen besseren, zuverlässigeren, tüchtigeren
+Führer habe ich nie gehabt. Es war das erste Mal, daß ich Veranlassung
+hatte, mit Islam unzufrieden zu sein; es sollte aber noch schlimmer
+kommen.
+
+Unsere Kamelhengste waren nach der Erwerbung dieser neuen weiblichen
+Gesellschaft für die Karawane kaum mehr zu regieren. Besonders ein
+kräftiges baktrisches Kamel war störrisch und wollte seine Kameraden
+unaufhörlich beißen. Es war wild geworden, und der Schaum stand ihm vor
+dem Munde, als sei es von einem Barbiere eingeseift worden. Es brüllte
+und seufzte den ganzen Weg in den sehnsüchtigsten, schwermütigsten
+Tönen. Sobald wir lagerten, mußte es mit dem Nasenstricke und starken
+Verschnürungen um die Füße an einer Pappel verankert werden.
+
+Auf dem letzten Tagemarsche (24. Februar) begegneten uns ganze
+Scharen von Dorfbewohnern der Gegend, Beke mit Gefolge, Kundschafter
+und Kuriere. Alle waren ebenso froh wie erstaunt, uns lebendig
+wiederzusehen, nachdem wir spurlos und still in der Tiefe der Wüste
+verschwunden waren. Noch feierlicher aber war es, als drei Kosaken auf
+schwarzen, schnaubenden Pferden heransprengten. Es waren Sirkin und
+die beiden neuen Kosaken aus Transbaikalien; sie waren wie zur Parade
+gekleidet, in dunkelgrüner Uniform, das Wehrgehenk über der Schulter,
+mit schwarzen Lammfellmützen und blanken Reiterstiefeln! Trotz ihrer
+ausgeprägt mongolischen Züge sahen sie auf ihren hohen Pferden, die sie
+mit überlegener Sicherheit lenkten, stattlich aus. Ich kam mir neben
+ihnen ganz zerlumpt vor. Sie hielten vor mir, grüßten militärisch und
+statteten in vorschriftsmäßiger Weise Rapport ab.
+
+Sirkin, der Höchstkommandierende im Winterquartier, meldete, daß ein
+Kamel durchgebrannt und einer der Windhunde auf der Jagd von einem
+Wildschweine schwer verwundet worden sei; im übrigen stehe im Lager
+alles gut. Der älteste der beiden neuen Kosaken rapportierte, ihm und
+seinem Kameraden sei von ihrem kommandierenden General in Tschita
+Befehl erteilt worden, sich zu mir nach dem Loplande zu begeben.
+
+Dann hielten wir unseren festlichen Einzug in Tura-sallgan-ui, wo
+Tschernoff und eine große Anzahl unserer Nachbarn sich auf dem Markte
+versammelt hatten (Abb. 71). Das Lager sah größer aus, der Stall hatte
+einen Anbau, und ein neues Zelt war aufgeschlagen. Alles war sauber
+und zu unserer Heimkehr geschmückt, mein Haus gereinigt und der Ofen
+im Zelte geheizt. Alle befanden sich wohl, die Maulesel waren dick und
+fett, und die Kamele und das Dromedar hatten an Umfang zugenommen, aber
+wild waren sie, namentlich das letztere, das auf eine „unterirdische“,
+unheimlich dumpf rollende Weise brüllte, mit den Zähnen knirschte und
+schäumte, daß ihm der Geifer in großen Flocken vom Maule herabtropfte;
+es rollte die Augen und versuchte zu beißen. Wehe dem, der ihm zu nahe
+kam! Es duldete nur Faisullah in seiner Nähe. Doch seine Füße waren
+mit einem Tau festgebunden, das um einen in die Erde gerammten Pflock
+geschlungen war, und die Bestie konnte sich nicht von der Stelle
+bewegen.
+
+Parpi Bai, der sich sofort, als das entlaufene Kamel vermißt worden
+war, aufgemacht hatte, um es zu verfolgen, kehrte unverrichteter
+Sache wieder zurück. Dieses Kamel, eines der fünfzehn, verschwand
+auf rätselhafte Weise vom Schauplatze. Es spukte nachher noch lange
+in der Gegend. Bald dieser, bald jener versicherte, es gesehen zu
+haben; es sei stets verschwunden, sobald man versucht habe, sich ihm
+zu nähern und es einzufangen. Parpi Bai hatte seine Spur ein paar
+Wochen hindurch bis nach Schinalga verfolgt, von wo das Tier ins
+Gebirge hinein, dann aber wieder abwärts in der Richtung nach Kutschar
+gelaufen war, wo Parpi Bai diesem fliegenden Holländer noch einen
+ganzen Tag in gestrecktem Galopp nachgesetzt war. Dann aber hatte er
+das Tier völlig aus den Augen verloren, und keiner der Bewohner der
+Gegend hatte ihm Auskunft über dasselbe geben können. Nur bei Tschadir
+hatte ein Jäger es gesehen, für ein wildes Kamel gehalten und gerade
+schießen wollen, als er den Packsattel gewahrte. In diesem Augenblick
+hatte das Tier seinen Verfolger erblickt und war hinter dem nächsten
+Berge verschwunden. Bei Schinalga war ihm ein anderer Reiter ganz nahe
+gewesen; als sich aber das verängstigte Kamel nur noch einen Steinwurf
+vor dem Lasso, den der Mann bereithielt, befand, war es auf einmal
+dahingestürmt, als habe es Feuer hinter sich, und war wie der Wind
+entflohen. Gegen Ende des Frühlings wurde uns erzählt, es sei nach dem
+Juldustale gelaufen und dort von Kalmücken aufgegriffen worden. Wir
+sahen es nie wieder.
+
+Es ist weder vorher noch nachher je vorgekommen, daß mir ein Kamel
+aus der Karawane einfach entlaufen ist, aber Turdu Bai und Faisullah,
+die die Lebensgewohnheiten der Kamele aus langjähriger Erfahrung
+kannten, sagten, es komme gelegentlich vor, daß das Kamel, wenn es von
+Wildschweinen oder Tigern erschreckt werde, vor Angst ganz von Sinnen
+sei. Es sei dann so verwirrt und verängstigt und fliehe, als sei der
+Teufel und sein ganzer Anhang ihm auf den Fersen. Etwas Derartiges
+hatte augenscheinlich unser Kamel betroffen.
+
+Daß der Tiger auch hier vorkommt, davon erhielt ich einen beinahe
+lebenden Beweis. Nicht weit vom Lager hatte Mirabi, einer unserer
+Freunde, kürzlich in einer Falle einen Tiger gefangen, der jetzt mit
+Haut und Haar, gefroren und steif wie ein Turnpferd, mitten auf dem
+Markte paradierte. Nachdem er im Frühling aufgetaut war, bewahrten wir
+uns das Fell auf.
+
+Da gerade von den Tieren die Rede ist, will ich noch erwähnen, daß
+meine Menagerie sich um eine Katze und zwei neugeborene Hündchen, die
+wir von Pavan Aksakal bekamen, vergrößert hatte. Sie wurden Malenki und
+Maltschik (der Kleine und das Bübchen) getauft, weil sie so klein und
+niedlich waren. So hießen sie auch noch, als sie schon ausgewachsen und
+ein paar Riesen ihrer Gattung geworden waren. Sie waren in der Karawane
+geboren, verbrachten ihr Leben in der Karawane und wurden vorzügliche
+Karawanenhunde und meine besonders guten Freunde, die alle ihre
+Kameraden überlebten. Wir hatten jetzt auch eine Menge Hühner, die dazu
+beitrugen, das ländliche Bild noch gemütlicher zu machen; der Jagdfalke
+hatte sich eingewöhnt, und die Lailiker Gans, unsere Reisegefährtin
+von der Flußfahrt, hatte es in jeder Beziehung gut. Sie schien ihre
+früheren Verwandten vergessen zu haben und schenkte den Wildgänsen gar
+keine Aufmerksamkeit mehr.
+
+Diese hatten schon im Februar angefangen, von Westen her
+wiederzukommen. Es sind dieselben Scharen, die wir im Herbst nach
+Indien ziehen sahen, in der entgegengesetzten Richtung, aber auf
+demselben Wege, über dieselben Seen und Flüsse hin, vorbei an
+denselben Pappeln und Waldgruppen, die sie seit Generationen kennen.
+Der Tarim ist ihre große Heerstraße, und sie scheinen selten den
+geraden Weg über die Wüste einzuschlagen. Sie flogen jetzt massenweise
+über Tura-sallgan-ui hinweg; wir hörten ihr Geschrei und ihre
+schnatternde Unterhaltung zu jeder Tages- und Nachtzeit, bei jedem
+Wetter, in pechfinsterer Nacht, wenn die Wolken Mond und Sterne
+hinderten, die Erdoberfläche zu erhellen; wir sahen sie am Tage bei
+Windstille wie bei Sturm, wenn die Sonne verhüllt war oder zwischen
+zerrissenen Wolken hervorguckte; sie zogen in eilender Fahrt vorbei,
+ohne Rast und Ruh. Die Lopleute sagten, daß dieselben Scharen Jahr für
+Jahr nach denselben Nistplätzen zurückkehren und gerade so wie die
+Loplik selbst bestimmte Gesetze über das Besitzrecht haben. Durch ihre
+viermonatige Abwesenheit entgehen sie der kontinentalen Kälte, die alle
+Seen und Flüsse verschließt.
+
+An Wild litt ich also keinen Mangel. Täglich gingen die Kosaken auf die
+Jagd, und nie kehrten sie mit leeren Händen heim. Sie erlegten mehrere
+Wildschweine und brachten uns Fasanen, Enten und Gänse, gelegentlich
+auch ein Reh. Von allen Seiten erhielten wir landwirtschaftliche
+Erzeugnisse, Eier, Milch, Sahne, Schafe, Hühner, Heu usw., und Fische
+hatten wir stets im Überfluß.
+
+Tura-sallgan-ui war ein Marktplatz, ein im ganzen Loplande bekannter
+Ort von Bedeutung geworden. Außerhalb unserer eigenen Grenzen
+entstanden kleine „Vorstädte“, in denen Tischler, Schmiede und
+andere Handwerker sich niederließen. Ali Ahun, ein Schneider aus
+Kutschar, gründete ein wohllöbliches Etablissement, in dem eine kleine
+Nähmaschine den ganzen Tag rasselte. Parpi Bai, der gelernter Sattler
+war, hatte seine Werkstatt neben dem Stalle und war damit beschäftigt,
+vorzügliche Packsättel für Kamele und Maulesel anzufertigen. Von
+Kutschar und Korla kamen Kaufleute mit Waren, die wir, wie sie wußten,
+brauchen konnten, wie Zucker, Ziegeltee, chinesisches Porzellan,
+russische Teekannen, Zeugstoffe usw. Ein Kaufmann aus Andischan baute
+sich hier sogar ein eigenes Haus, eine Strohhütte, deren Wände mit
+rotem russischem Kattun tapeziert wurden und in welcher ganze Stapel
+von Zeugballen, Tschapanen, Mützen und Stiefel standen, ganz wie in den
+Läden der Basare. Dieser „Laden“ wurde sehr beliebt, und man sah dort
+unsere Muselmänner und Kosaken oft plaudern, Tee trinken, rauchen und
+kaufen.
+
+Und erst alle die Reisenden, die hier vorbeizogen! Die große Landstraße
+führte freilich über Dschan-kuli, aber der dortige Herbergsvater
+hatte in uns einen gefährlichen Konkurrenten bekommen, und der Weg
+fing allmählich an, über Tura-sallgan-ui zu gehen. Alle Reisenden
+wollten natürlich in unserem Dorfe übernachten; für sie war es ein
+willkommenes Tama-schah, beobachten zu können, wie es bei uns aussah.
+Reiter ritten täglich in das Dorf ein und boten auf dem Markte Pferde
+aus, von denen mehrere gekauft wurden.
+
+So wuchs die Bedeutung unserer kleinen Stadt mit amerikanischer
+Schnelligkeit, und noch am späten Abend war es ein ewiges Kommen und
+Gehen und ein Lärm ohnegleichen. Die einzige Laterne des Marktes mußte
+brennen, bis der letzte Fremdling abgezogen war. Dann hörte man nur
+noch die Schritte des Nachtwächters und das Bellen der Hunde.
+
+Während meiner Abwesenheit hatte Sirkin das meteorologische Journal mit
+musterhafter Genauigkeit geführt, und da es ein großer Vorteil war,
+einen festen Punkt für die Beobachtungen zu haben, erhielt er Befehl,
+es während der nächsten Exkursion fortzusetzen und auch dann Chef im
+Winterquartier zu sein. Tschernoff wurde zu meinem Leibkoch ernannt und
+bereitete kleine vorzügliche Koteletten und Pilmen (Fleischklöße). Er
+sollte mich auf der nächsten Reise begleiten.
+
+Streng genommen hätte ich diese beiden Kosaken, die dem Konsulatskonvoi
+in Kaschgar angehörten, jetzt zurückschicken müssen, denn ich hatte nur
+das Recht, sie bis zur Ankunft der beiden Burjaten zu behalten. Doch
+ich hatte sie so liebgewonnen und gesehen, wie ehrlich und gewissenhaft
+sie die ihnen anvertrauten Aufträge ausführten, daß ich mich mit dem
+Gedanken, mich von ihnen zu trennen, nicht vertraut machen konnte. Ich
+schrieb daher an Generalkonsul Petrowskij und bat ihn, sich an die
+betreffende Behörde mit dem Gesuche zu wenden, daß ich die Kosaken noch
+behalten dürfe, und überzeugt, daß mein Gesuch bewilligt würde, behielt
+ich Sirkin und Tschernoff bis auf weiteres.
+
+Islam Bai sollte im Lager als Oberbefehlshaber der Muselmänner bleiben.
+Er und Sirkin erhielten den Auftrag, sich nach meiner Abreise nach
+Korla zu begeben, um 25 Pferde, einige Maulesel und Proviant für die
+Sommerkampagne in Tibet zu kaufen.
+
+Die beiden neuen Kosaken waren Vollblutburjaten. Ihre Sprache
+unterscheidet sich nur wenig vom Mongolischen, aber sie sprachen auch
+fließend Russisch, und während der Zeit, die sie in meinem Dienste
+waren, lernten sie ganz vorzüglich Dschaggataitürkisch. Der Religion
+nach sind sie Lamaisten, und ihre Augen strahlten vor Begeisterung, als
+ich ihnen einmal anvertraute, daß wir später südwärts nach dem heiligen
+Tibet ziehen würden.
+
+Nikolai Schagdur und Tseren Dorschi Tscherdon (Abb. 72) waren jeder
+24 Jahre alt und gehörten dem transbaikalischen Kosakenheere an, das
+zu nicht geringem Teile aus Burjaten besteht. Ihre Dienstzeit ist
+vier Jahre, von denen meine beiden Kosaken erst die Hälfte hinter
+sich hatten, als sie diesen außergewöhnlichen, verlockenden Auftrag
+erhielten, der ihnen Gelegenheit geben sollte, eine ihnen unbekannte
+Welt zu sehen. Ihren Sold für zwei Jahre hatten sie in 1000 Goldrubeln
+erhalten, denn der russische Kaiser hatte bestimmt, daß die Eskorte
+mich nichts kosten solle. Ich nahm indessen ihr Gold in Verwahrung,
+gewährte ihnen freie Station, solange sie bei mir waren, und gab ihnen
+nachher, außer anderen Geschenken, ihre 1000 Rubel wieder, so daß die
+Abkommandierung ihnen noch bedeutenden pekuniären Gewinn brachte. Aber
+ihre Dienste waren auch unschätzbar, und ihre Aufführung war über jedes
+Lob erhaben.
+
+Sie hatten die Reise von Tschita hierher in 4½ Monaten gemacht, mit
+der Eisenbahn, mit der Post, zu Pferde und zuletzt in der Arba. Als
+Kosaken in Dienst hatten sie auf russischem Gebiete freie Reise. Die
+Reise war über Irkutsk, Krasnojarsk, Kuldscha und Urumtschi gegangen,
+an welch letzterem Orte sie von dem großen Sinologen, dem nunmehr
+verstorbenen Konsul Uspenskij, zwei Monate aufgehalten worden waren,
+weil dieser meine Spur verloren und nicht gewußt hatte, wohin er sie
+schicken sollte.
+
+Nach beendeter Dienstzeit, während welcher sie in Sprache und Disziplin
+völlig russifiziert werden können, kehren die burjatischen Kosaken in
+ihre Stanitzen (Dörfer) zurück, nehmen die Tracht und die Sitten ihrer
+Heimat wieder an und leben hauptsächlich von Viehzucht. Schagdurs und
+Tscherdons Stanitza war Ataman Nikolajewska, 200 Kilometer nordwestlich
+von Troizkosawsk. Diese beiden Männer wären für mich in den Tod
+gegangen, und ich schloß mich ebenso an sie an wie an ihre russischen
+Kameraden. Besonders Schagdur war das Ideal eines Menschen und ein
+guter, treuer Diener. --
+
+Während meines kurzen Aufenthalts in Tura-sallgan-ui war das Wetter
+noch recht winterlich. Schon am 25. Februar tobte der erste wirkliche
+„Kara-buran“. Es war schön, im Hause sitzen zu können, während
+der Sturm um unsere Schilfhütten heulte und unsere einzige Pappel
+umzubrechen drohte. Flugsand und Staub trieben über das Eis des Tarim
+hin, und die Dünenwand im Süden war im Nebel gar nicht zu sehen. Am
+26. fiel Schnee in Gestalt von runden Körnern, die knatternd auf das
+Zelttuch schlugen. Die Landschaft wurde wieder kreideweiß, und die
+Dünenwand sah aus wie eine schneebedeckte Bergkette. Schließlich aber
+wurde das Wetter schön, und ich konnte mich an die astronomischen
+Observationen machen; für die Kartenarbeit war Tura-sallgan-ui der
+wichtigste Knotenpunkt der ganzen Reise.
+
+Am 4. März stieg die Temperatur auf +7 Grad. Der feste Eispanzer des
+Flusses begann allmählich porös zu werden, und das Schmelzwasser
+stand nicht nur hoch auf dem Eise, sondern strömte auch in nicht
+unbedeutenden Mengen von den Ufern hinab. Die im ersten Eise
+festgefrorene Fähre lag infolgedessen mit ihrer Reeling in gleicher
+Höhe mit dem auf dem Eise stehenden Wasser und war schon halb
+vollgelaufen.
+
+Wo die Stromgeschwindigkeit groß war, öffnete sich wieder eine Rinne
+im Eise. Sirkin und die anderen wurden ermahnt, wenn die erste
+Frühlingsflut komme, sehr vorsichtig zu sein. Meine Kisten sollten für
+den Fall, daß dem Lager eine Überschwemmung drohte, an Bord gestellt
+werden. Falls auch die Fähre in Gefahr sein würde, sollte sie an einen
+sicheren Platz gebracht werden.
+
+Kurban, der Unglücksrabe, wurde jetzt entlassen und verschwand, sobald
+er seinen Lohn erhalten hatte. Der junge Spitzbube verstand, sich seine
+Heimreise nach Kaschgar besonders bequem einzurichten. In Kutschar war
+er in das Serai der Andischaner gegangen und hatte sich dort als mein
+Expreßkurier an den Konsul vorgestellt, worauf ihm die freundlichen
+Kaufleute alles, was er verlangte, gegeben hatten. In Aksu war er zu
+der jungen Frau eines Beks in recht intime Beziehungen getreten und
+hatte Prügel bekommen, war aber vom chinesischen Amban, der sicher
+gedacht hatte, gegen den Kurier eines Europäers müsse man klugerweise
+höflich sein, gut behandelt worden. Aus der letztgenannten Stadt
+verschwand er auf einem gestohlenen Pferde. In Kaschgar erreichte seine
+Frechheit den Höhepunkt, indem er dem Konsul einen ganzen Räuberroman
+auftischte. Er hatte den Verzweifelten gespielt und erzählt, daß er
+von mir beauftragt worden sei, dem Konsul eine besonders wichtige Post
+zu überbringen, auf dem Wege aber von Banditen überfallen worden sei,
+die ihm die Postsachen und alles Geld geraubt hätten. Doch Petrowskij
+war an Räubergeschichten gewöhnt und setzte den Jüngling hinter Schloß
+und Riegel, um ihm Gelegenheit zu geben, über sein hartes Schicksal
+nachzudenken! Weiteren Gewinn hatte er von seinem Wagestücke nicht,
+und die Armen, die sich unterwegs von ihm hatten beschwindeln lassen,
+mußten allein für ihre Unvorsichtigkeit büßen und ihre Ansprüche, so
+gut sie konnten, mit dem jungen Kurban ausmachen.
+
+[Illustration: 88. Ein Tschappgan auf dem Kara-koschun. (S. 240.)]
+
+[Illustration: 89. Im Schilf unterhalb Kum-tschappgan. (S. 240.)]
+
+[Illustration: 90. Nordufer des Sees Kara-koschun. (S. 240.)]
+
+
+
+
+Neunzehntes Kapitel.
+
+Der Kurruk-tag und der Kurruk-darja.
+
+
+Als das Wetter frühlingshaft zu werden begann, schickte ich Faisullah
+und Abdu Rehim mit den Kamelen und dem schwereren Gepäcke nach Dillpar
+am Kontsche-darja voraus, damit sie einen guten Weideplatz aussuchten
+und dort unsere Ankunft erwarteten. Ich selbst brach mit Tschernoff,
+Ördek und Chodai Kullu, einem Loplik, der nachher zwei Jahre in
+meinem Dienste war, sowie einer ganzen Schar Begleiter am 5. März
+auf. Diesmal nahmen wir zwei Zelte und einen Ofen mit, im übrigen
+aber nur das gewöhnliche Gepäck, die Instrumentkiste, zwei Kisten mit
+Küchengeschirr, zwei Jagdgewehre usw. Chodai Kullu galt für einen
+gewaltigen Jäger und hatte ein eigenes Gewehr. Weil mehrere Pferde von
+Jing-pen, wo die Wüste anfängt, wieder zurückgeschickt werden sollten,
+mußte der Dschigit Musa uns bis dorthin begleiten.
+
+Unsere erste Tagereise auf dieser neuen Expedition führte uns nach
+Norden quer über das Steppenland, das sich zwischen Tarim und
+Kontsche-darja ausdehnt. Wir brachen spät auf, wie es der Fall zu sein
+pflegt, wenn man ein Hauptquartier auf längere Zeit verläßt; es ist
+so vieles zu ordnen und zu besorgen, und in der letzten Minute noch
+sind eine Menge Kleinigkeiten zu erledigen. Die drei zurückbleibenden
+Kosaken und die Muselmänner standen in Reih und Glied, als ich ihnen
+Lebewohl sagte und Parpi ermahnte, sich nicht in eine der Töchter des
+Landes zu verlieben -- er war nämlich wegen seiner Schwäche in dieser
+Beziehung bekannt. Hochaufgerichtet stand er in seinem blauen Tschapan
+da und erwiderte lächelnd, ich könne ganz ruhig sein. Er hatte recht,
+seine Liebesabenteuer waren für immer zu Ende -- zwölf Tage später
+starb er nach kurzer Krankheit und wurde feierlich auf dem stillen
+Friedhofe beerdigt; Eingeborene und Kameraden folgten seiner Leiche,
+und Stangen mit Wimpeln und Yakschwänzen schmücken jetzt sein Grab.
+
+Er hatte also keine Gelegenheit, sich auf dieser Expedition so
+auszuzeichnen wie auf der vorigen, als er noch ein kräftiger Mann
+war, aber ich bewahre ihm ein gutes, freundliches Andenken. Ich habe
+vielleicht manchen Diener, der während meines Karawanenlebens bei mir
+angestellt gewesen ist, vergessen, aber die Verstorbenen vergesse ich
+nie; ihr Andenken liegt mir warm am Herzen, sie sind auf ihrem Posten
+zusammengebrochen und haben in meinem Dienste alles hingegeben, was sie
+besaßen -- ihr Leben. Möge er sanft am Fuße der Dünen ruhen, der alte,
+redliche Parpi Bai. --
+
+Es war mittlerweile dunkel geworden, bevor Faisullahs Lagerfeuer
+zwischen den Pappeln am Ufer des Kontsche-darja aufloderte. Der Fluß
+war noch fest zugefroren, und wir lagerten am linken Ufer in der
+Waldgegend +Dillpar+, wo wir auch den folgenden Tag blieben. Die
+uns begleitenden Beke kehrten am Morgen wieder um, und wir waren jetzt
+von neuem auf uns selbst und unsere Vorräte angewiesen.
+
+Als wir am 7. März nach Nordnordost weiterzogen, war die Karawane
+folgendermaßen zusammengesetzt: Abdu Rehim und seine beiden jüngeren
+Brüder mit acht Kamelen, von denen sechs zu unserer Verfügung standen,
+die beiden übrigen trugen ihre Besitzer; ferner Faisullah mit unseren
+fünf Kamelen, Tschernoff, Ördek, Chodai Kullu und Musa mit je einem
+Pferde und ich auf demselben kleinen starken Schimmel, der mich durch
+die Tschertschenwüste getragen hatte. Jolldasch und Maschka war das
+Nachtwächteramt übertragen.
+
+Unweit Dillpar kreuzten wir drei alte Betten des Kontsche-darja.
+
+Darauf lassen wir die Wälder des Kontsche-darja hinter uns zurück und
+reiten auf hartem, salzhaltigem, knisterndem Boden mit spärlichen
+Tamarisken und einer dünnen Sandschicht. +Basch-tograk+ ist ein
+kleiner Waldsee in der Einöde mit mächtigen, wenn auch niedrigen,
+absterbenden Pappeln (Abb. 73). Westlich davon erscheint eine in
+dem ebenen Terrain weithin erkennbare Tora (Wegpyramide), die auf
+der alten Straße gestanden hat, die von den Bewohnern des Loplandes
+Kömur-salldi-joll (der Weg, auf dem Steinkohlen ausgebreitet worden
+sind) genannt wurde und die Korla und Sa-tscheo verband und sich jetzt
+am Ufer des alten Lop-nor hinzieht. In „Durch Asiens Wüsten“ habe ich
+den Teil dieser Straße, der nach Nordwesten von Jing-pen bis Korla
+führt, beschreiben können. Ihre Fortsetzung nach Osten, von Jing-pen
+an, zu erforschen, war einer der Zwecke dieser neuen Reise.
+
+Nachdem wir die letzten Tamarisken (Abb. 74) hinter uns haben, beginnt
+die von den Eingeborenen „Sai“ genannte Terrainform, die am Fuße
+aller zentralasiatischen Bergketten gewöhnlich vorkommt, eine fürs
+Auge unmerklich langsam ansteigende Bodenerhebung, hart wie Asphalt,
+unfruchtbar und mit feinem, dünnschichtigem Gruse bestreut. Durch den
+Boden zog sich eine trockene Erosionsfurche, die aus dem Sugett-bulak,
+einem Quertale des Kurruk-tag, kam, welches Tal das Ziel unserer
+Tagereise war; in dieser Furche fanden wir einen bequemen Weg nach dem
+Fuße des Gebirges.
+
+Eben wie das Meer dehnt sich der wüste Sai um uns her aus. Fern im
+Süden unterscheidet man noch als dunkle Linie den Vegetationsgürtel
+des Kontsche. Einige scheue Antilopen entflohen bei einem Fehlschusse,
+sonst gab es kein Tierleben. Der Boden wird steiniger, der Anstieg
+nimmt zu; in dem Bette liegt Treibholz von Tamarisken und Weidenbäumen,
+welches eine Sil (Regenflut) mitgeschwemmt hat.
+
+Endlich haben wir auf beiden Seiten Berge und machen in der
+trompetenförmigen Mündung des Sugett-bulak-Tales Halt, wo ein kleiner
+Bach 88 Liter Wasser in der Sekunde führt. Hier steht ein einsamer
+Weidenbaum, daher der Name +Sugett-bulak+ (Weidenquelle). Wir
+hatten 33 Kilometer zurückgelegt; die Temperatur war auf 13,1 Grad
+gestiegen, und Mäntel waren nur abends nötig. Die Quelle, die den Bach
+speist, liegt eine Tagereise talaufwärts; es sind zwei Tagereisen bis
+zu den nächsten mongolischen Nomaden, die sich ständig in den größeren
+Tälern zwischen den Parallelketten des Kurruk-tag, wo es vorzügliche
+Weide geben soll, aufhalten.
+
+Ein frischer Talwind wehte die ganze Nacht über unseren schönen,
+angenehmen Lagerplatz. Zum erstenmal im Jahre blieb die
+Minimaltemperatur über Null, nämlich auf +1,3 Grad. Unsere Tiere
+waren während der Nacht hoch oben im Tale umhergestreift, wo Gras und
+Weidenbäume wachsen, und es kostete Zeit, sie wieder herunterzutreiben.
+
+Der heutige Tagemarsch führte nach Osten am Fuße des Gebirges
+entlang, wo wir unzählige trockene Erosionsfurchen überschritten.
+Wir sahen Hasen, Antilopen und Archaris (Bergschafe); letztere
+verschwanden gewandt und leichtfüßig in einer Klamm, als Tschernoff
+sie zu überraschen suchte. Zur Linken lösen ständig wechselnde
+Bergperspektiven einander ab; unzählige Gipfel werden passiert und
+verschwinden, und neue tauchen vor uns auf. Die dominierenden Gipfel
+werden von verschiedenen Punkten aus gepeilt. Die nächsten Vorberge
+verdecken jedoch die hinter ihnen liegenden Hauptkämme, deren Gipfel
+nur in den Quertälern sichtbar sind. Die Berge sind braun, violett,
+rot, grau und gelb in stets wechselnder Skala, die sich auch durch die
+Schatten verändert, welche entstehen, wenn Wölkchen unter der Sonne
+hinsegeln.
+
+Zur rechten Hand fällt das Terrain langsam ab, nach der Ebene
+hinunter, wo der Kontsche sich nach dem Kara-köll hinschlängelt.
+Nach Passierung mehrerer kleiner, schwach eingeschnittener, durch
+Hügelreihen voneinander getrennter Betten stehen wir am Rande des
+besonders kräftig eingeschnittenen Gebirgstales +Kurbantschik+,
+das 40 Meter unter unseren Füßen liegt. Ein Bach rieselte zwischen
+porösen Eisschollen hin. Unser Lager an seinem linken Ufer hatte
+eine entzückende Lage. Im Norden öffnete sich der breite Schlund
+der Talmündung, im Süden standen die Jarterrassen wie dunkle Wände.
+Hinter einem Hügel hat sich ein kleiner Teich mit herrlichem, reinem,
+smaragdfarbigem Wasser gebildet, der so tief ist, daß man in seiner
+Mitte nicht bis auf den Grund sehen kann (Abb. 75). Ein kleiner Arm des
+Baches ergießt sich in ihn und tritt auf der anderen Seite wieder aus
+ihm heraus; es ist ein Bagrasch-köll im kleinen. Das Becken befindet
+sich gerade in der Mündung einer Erosionsfurche, und nach Regen muß
+hier ein ziemlich hoher Wasserfall herabrauschen; da aber Niederschläge
+in diesen „trockenen Bergen“ eine große Seltenheit sind, so kann man
+sich denken, welche Zeit dazu gehört, das Becken auszumeißeln. Die
+Berge der Umgebung bestehen aus Diorit.
+
+Von Kurbantschik sollen es zwei Tagereisen bis an den Kamm der
+Hauptkette sein, wo ein Weg über einen Paß führt, der Dawan, von
+den Mongolen aber Többwe genannt wird. Vom Passe sind es anderthalb
+Tagereisen nach dem Bagrasch-köll.
+
+Am 9. März mußten wir noch das Kurbantschiktal eine ziemliche Strecke
+hinabreiten, ehe wir durch ein Seitental auf seine linke Terrasse
+hinaufgelangen konnten (Abb. 76). In südöstlicher Richtung kommen
+wir über eine holperige Steppe in einen gewundenen, trocknen Hohlweg
+hinunter, den abgerundete Höhen von weichem Material, das jedoch weiter
+oben in festes Gestein übergeht, einfassen.
+
++Tograk-bulak+ ist eine reizende Stelle in diesem stillen Tale
+(Abb. 77). Wir rasteten in einem Pappelhaine, wo es eine Quelle gab,
+die jetzt mit dickem Eise, aus dem dichtes Schilf hervorguckte, bedeckt
+war.
+
+Stunde auf Stunde wandern wir nach Osten, zur Linken das Gebirge. Der
+Sai wird nicht von bedeutenderen Furchen durchschnitten, wohl aber
+von Tausenden kleiner Betten, die nur einen Fuß tief in den Boden
+eingeschnitten und mit Schutt gefüllt sind. Die Sonne ging glutrot
+unter, dann trat Dämmerung ein; aber noch hatten wir einen weiten Weg
+bis an die Bergpartie, wo die nächste Quelle sein sollte. Chodai Kullu
+hatte sie früher besucht und führte jetzt die Karawane. Im Dunkel der
+Nacht hörten wir ihn rufen, und wieder standen wir am Rande einer
+gewaltigen Erosionsfurche, deren Uferhang die Kamele hinunterrutschten.
+Es stellte sich heraus, daß wir in der Dunkelheit in ein falsches Tal
+gelangt waren; es war ganz unfruchtbar, und es gab dort keinen Tropfen
+Wasser. Doch wir hatten heute schon 42 Kilometer zurückgelegt und
+lagerten trotz alledem.
+
+Am folgenden Morgen machten wir die Entdeckung, daß die Quelle von
++Budschentu-bulak+ nur einen Kilometer weiter östlich lag, und die
+Tiere wurden daher dorthin geführt. Ich selbst wurde bei Sonnenaufgang
+geweckt, und zwar gründlich. Tschernoff war, wie gewöhnlich, in mein
+Zelt gekommen und hatte, während ich schlief, den Ofen geheizt,
+aber nicht darauf geachtet, daß der abwärtsgehende Talwind das
+Zelttuch gegen das erhitzte Kaminrohr drückte. Ich erwachte von einer
+unleidlichen Wärme und sah das Zelt in Flammen stehen. In demselben
+Augenblick stürmten auch schon die Männer herbei, rissen das Zelt um,
+während Tschernoff die Kisten und die herumliegenden Sachen und Papiere
+hinaustrug, und ich selbst warf über das Zelt eine Filzdecke, die das
+Feuer erstickte. Meine luftige Wohnung sah nach diesem Abenteuer wenig
+einladend aus; die Männer wußten jedoch Rat. Sie nahmen ein Stück
+Sackleinwand, schnitten die Ränder der angebrannten Stelle weg und
+machten das Loch mit dem Sackleinen zu. Glücklicherweise hatte das
+Feuer noch nichts anderes vernichten können.
+
+Der Bach von Budschentu-bulak war in mehrere Arme geteilt, die unter
+einer umfangreichen Eisscholle rieselten. Wir entfernten uns jetzt
+von den Bergen und zogen in südlicher Richtung weiter. In der Ferne
+zeichnete sich die „Kona-schar“ von +Jing-pen+ auf dem Nebel der
+hinter ihr liegenden Sandwüste ab. Die Ruinen lagen in einer Linie
+von Norden nach Süden, so daß ich sie im Vorbeiziehen alle besehen,
+messen und abzeichnen konnte. Die beiden ersten sind Tora oder Türme
+aus Lehm, 4,5 Meter hoch und 15 Meter im Umfang (Abb. 78). Ein Guristan
+(Begräbnisplatz) war, wie schon aus der Lage der Leichen hervorging,
+von Muhammedanern angelegt. Die Füße lagen nach Süden, der Kopf nach
+Norden und das Gesicht nach der Kibla gewendet. Die Gräber sind mit
+zigarrenkistenförmigen Denkmälern von an der Sonne getrocknetem Lehm
+geschmückt. Spätere Überschwemmungen haben die Außenseite der Terrasse,
+in welcher die Gräber liegen, zerstört, so daß mehrere derselben
+freigelegt sind und die Schädel wie aus Schießscharten in einer Mauer
+herausgucken. Das Skelett eines ungefähr fünfzehnjährigen Jünglings
+war aus seiner Grabhöhle herausgefallen; es konnte etwa 200 Jahre alt
+sein. Dicht daneben stand etwas, das ein „Mesdschid“ oder „Chanekah“,
+ein „Gumbes“ oder Monument auf dem Grabe eines Vornehmen hätte sein
+können und von dem nur noch drei Mauern ohne Dach standen; die vierte
+Mauer war anscheinend gleich dem Außenrande der Terrasse vom Wasser
+fortgespült worden. Die Hinterwand war 6 Meter lang, die Höhe der
+Mauern betrug 4,13 Meter. Um die Ruinen herum lagen eine Menge Scherben
+von Krügen aus gebranntem Ton, rote sowohl wie schwarze; an einigen
+von ihnen saß noch der runde Henkel. Darauf fanden wir ein Tora von 8
+Meter Höhe und 31,4 Meter Umfang. Sieben solche von kleinerem Umfange
+thronten auf einem isolierten Hügel; entweder sind sie als Denkmäler
+auf den Gräbern hervorragender Persönlichkeiten errichtet worden, oder
+sie sind chinesische Potai (Meilensteine), die, wie noch heute an
+wichtigeren Plätzen, durch ihre Anzahl die Entfernung bis zur nächsten
+größeren Station der Gegend in Li (etwa 450 Meter) angeben.
+
+Die interessanteste dieser Ruinen war eine Ringmauer von demselben
+Aussehen wie die, welche ich bei Sai-tschekke und Merdek-schahr gesehen
+hatte. Sie war aus an der Sonne getrocknetem Lehm erbaut, dem ein
+Skelett von horizontalen Balken Festigkeit verlieh, und besaß vier
+Tore. Der Durchmesser betrug 182 Meter, die Dicke der Mauern 11 Meter
+und die Höhe 6,6 Meter; die Tore lagen im Norden, Süden, Osten und
+Westen. Im Zentrum stand eine kleine Lehmpyramide.
+
+Welchen Zweck eine solche Mauer gehabt hat, ist schwer zu sagen.
+Für eine Stadtmauer ist sie zu klein, und überdies fehlt im Innern
+jegliches Anzeichen von Häusern. Für eine Festung dürften die vier
+offenen Tore überflüssig sein. Ich bin daher eher geneigt anzunehmen,
+daß hier eine Art Wirtshaus oder Posthalterei gewesen und die
+Bewohner in Zelten oder Holzhäusern im Schutze dieser provisorischen
+Mauer gewohnt haben. Die Lop-nor-Straße ist wahrscheinlich mitten
+hindurch gegangen, denn das Ost- und das Westtor liegen gerade in der
+Längsrichtung dieses Weges. Alte Lopleute bewahren noch eine Tradition,
+wonach die große Heerstraße nach Peking über Jing-pen und weiter nach
+Dung-chan oder Sa-tscheo geführt habe.
+
+Wenn wir von den Ruinen nach Jing-pen gegen Ostsüdost ziehen, haben
+wir weit nach rechts einen üppigen Gürtel von ansehnlichen Pappeln,
+der das trockene Bett begleitet, dessen Untersuchung der wichtigste
+Punkt des Programmes war. Alle Jäger im Lande, die es kennen, nennen
+es Kurruk-darja (trockener Fluß), manchmal auch Kum-darja (Sandfluß),
+welchen Namen auch Kosloff gebraucht.
+
+Die Örtäng von Jing-pen ist eine chinesische Poststation, die seit
+einem Jahre öde und leer steht. Die Behörden versuchten vor einiger
+Zeit, den Verkehr auf dem alten Wege zwischen Lop und Turfan wieder ins
+Leben zu rufen, doch diese Straße wird äußerst selten benutzt und ist
+überdies überflüssig, da der Weg über Korla, wenn auch länger, viel
+angenehmer und bequemer ist.
+
+Jing-pen ist eine wahre Oase, die auf allen Seiten von Wüsten eingefaßt
+wird; wir brauchten nicht zu fürchten, daß unsere Tiere uns während
+der beiden Ruhetage, die wir ihnen gewährten, fortlaufen würden. Die
+Posthalterei liegt auf einer scharf markierten Terrasse, die sich ein
+paar Meter über einen langgezogenen reichbewachsenen Salzsumpf erhebt.
+
+In geographischer Hinsicht ist dieser Punkt von größtem Interesse,
+denn man findet bald, daß der Sumpf in der Biegung eines alten
+Flußbettes liegt und auf beiden Seiten, ganz wie der Tarim, mit alten
+Pappelgruppen eingefaßt ist. Sogar die Eingeborenen erkannten, daß wir
+uns hier an dem früheren Laufe jenes Flusses befanden. Weiter nach
+Osten hin erstreckt sich die Feuchtigkeit jedoch nicht; das Bett liegt
+trocken wie Zunder da, bis es sich in dem ebenso trockenen Becken des
+alten Lop-nor verliert. Enten, Gänse und Rebhühner bevölkern die Oase,
+und süßes Wasser erhält man aus einem Brunnen.
+
+Die Temperatur stieg am 12. März auf +21,4 Grad; Fliegen und Spinnen
+fingen an sich zu zeigen, und mit Bangen sah ich der Zeit entgegen,
+da man täglich von Hitze und Insekten gequält werden und nur nachts
+Kühlung finden würde. Diese deutlichen Anzeichen des Sommers mahnten
+uns indessen, das Gepäck wesentlich zu erleichtern. Musa, der von hier
+mit allen Pferden, meinen kleinen erprobten Wüstenschimmel ausgenommen,
+und einem Kamele, das schlechten Appetit hatte, zurückkehren sollte,
+mußte auch meinen Pelz, meinen Regenrock, den Ofen usw. mitnehmen, was
+ich jedoch später bei ein paar Gelegenheiten sehr zu bereuen hatte.
+
+Der Zweck dieser langen Rast war, daß die Tiere ordentlich weiden
+sollten, denn auf der ganzen Strecke nach dem Kara-koschun konnten
+wir nach Abdu Rehims Aussage nur an zwei Stellen gute Weide finden.
+Anhaltender Westwind mit 8 Meter Geschwindigkeit in der Sekunde und
+undurchdringlicher Nebel erschwerten jegliche Arbeit im Freien.
+
+Doch die Stunden vergehen schnell, und am 13. März konnten wir uns
+wieder in Bewegung setzen. Abends sprang der Wind nach Osten um
+und riß um Mitternacht das Zelttuch in die Höhe, so daß es wie ein
+losgerissenes Segel flatterte. Darauf wurde das Zelt an der Windseite
+mit Stricken und Pflöcken festgemacht und auf den am Boden schleppenden
+Saum des Zelttuches große Lehmschollen gelegt.
+
+Während des Tages schwoll der Wind immer mehr an und artete abends
+in einen vollständigen Orkan aus. Wir wanderten auf der linken
+Uferterrasse nach Osten; die Anordnung der Pappelgruppen bezeichnete
+den Verlauf des Bettes. Eine seiner Biegungen war so deutlich, daß sie
+gut erst im vorigen Jahre hätte verlassen worden sein können. Ihre
+salzige, eisfreie Wasseransammlung bildete einen Halbmond, ganz wie in
+den Bold-schemal des Tarim, und auf dem linken Ufer stand eine Gruppe
+von Pappeln mit bis zu 4,10 Meter Umfang an der Basis. Eine Schar Enten
+flog auf, bevor Tschernoff hatte schießen können, und die Hunde liefen
+sich außer Atem, um eine Antilope zu erjagen, die mit elastischen
+Sprüngen wie ein Gummiball über die Steppe flog.
+
+Dann ist es mit Wasser und lebendem Walde vorbei -- der noch
+vorhandene ist tot, aber die Stämme stehen noch auf ihrer Wurzel, wie
+Grabdenkmäler auf einem Kirchhof. Der Boden ist mit feinem, losem
+Staub bedeckt, der sich wie ein Kometenschwanz hinter der Karawane
+erhebt. Schon um 2 Uhr herrschte Dämmerung; der Sturm wurde ärger, und
+Abdu Rehim erklärte, daß wir Halt machen müßten, weil es den Tieren
+zu schwer werde, gegen diesen Luftdruck anzukämpfen. Wir machten also
+Halt, und es galt nur noch, einen einigermaßen geschützten Lagerplatz
+zu finden.
+
+Die Lehmwüste hat hier eigentümliches Relief. Sie ist vom Winde
+modelliert. Würfel, Terrassen und Tische in horizontaler Lage erheben
+sich überall ein paar Meter hoch, und Holz von toten Bäumen liegt auf
+der Erde umhergestreut.
+
+Beim Suchen nach einem geschützten Platze hätten wir einander beinahe
+verloren. Ich ging nach Südwest oder wurde vielmehr dorthin geweht; es
+ging sich so leicht, daß ich nicht merkte, wie ich mich von den anderen
+entfernte; doch als ich keinen geeigneten Platz fand und umkehrte,
+kam mir der ganze Sturm mit rasender Heftigkeit entgegen und jagte
+mir einen horizontalen Regen von Sand und feinem, rotgelbem Staub ins
+Gesicht, und von der Karawane war keine Spur zu sehen. Es war dieselbe
+Empfindung wie beim Gehen durch Wasser oder Schlamm, und trotz all
+meines Bemühens entfernte ich mich nur von den Meinen. Alle Spuren
+sind sofort verwischt. Augen, Mund und Nase werden von Sand und Staub
+verstopft, und ich mußte stehenbleiben, um Atem zu schöpfen. Da sah ich
+im Nebel eine Gestalt erscheinen und erkannte Tschernoff, der auf der
+Suche nach mir war.
+
+Nachdem wir die anderen gefunden hatten, lagerten wir da, wo wir
+uns befanden. Im Schutze eines Tamariskenkegels wurde mein Zelt
+aufgeschlagen, wobei nur die halben Zeltstangen benutzt und ihre
+oberen Enden mit Tauen befestigt wurden. Die Seitenstricke wurden um
+massive Wurzelstämme gebunden und Stücke von trockenem Holz auf die
+Säume gelegt, so daß schließlich alles fest war und den Sturm aushalten
+konnte. Doch feiner Sand sickerte durch das Zelttuch und bedeckte das
+Bett und die Sachen im Zelte.
+
+[Illustration: 91. Transport der Kähne über Land. (S. 242.)]
+
+[Illustration: 92. Hütten bei Jekken-öi. (S. 245.)]
+
+[Illustration: 93. Flußmessung bei Schirge-tschappgan. (S. 246.)]
+
+[Illustration: 94. Brücke über den Ilek. (S. 247.)]
+
+Die Männer hüllten den Kopf in den Mantel, als sie sich niederlegten;
+sie konnten ihr Zelt, dessen Stangen nicht zerlegbar waren, nicht
+aufschlagen. Die Kamele lagen in einer Reihe da, den Hals in der
+Windrichtung ausgestreckt und den Kopf vor dem Winde geschützt. Am
+Boden betrug die Geschwindigkeit des Windes 18,1 Meter in der
+Sekunde, auf einem nur 2 Meter hohen Hügel aber 26,1 Meter. Dort mußte
+ich auf den Knien liegen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
+Der Sturm kam jetzt aus Nordosten, und man konnte sich leicht davon
+überzeugen, was für ungeheuere Massen von Sand und Staub von diesem
+kräftigen Träger nach Westen und Südwesten befördert wurden. Sobald
+man sich nur niederkauert, wird man von den sausenden Wolken, die am
+Boden hinfegen und im Windschatten wirbeln, beinahe erstickt. Zweige,
+entwurzelte Grasbüschel und erbsengroße Sandkörner treiben im Winde und
+schlagen einem ins Gesicht.
+
+In der Dämmerung schien der Sturm des Tobens überdrüssig zu sein,
+er schien sich die Sache zu überlegen und Atem schöpfen zu wollen;
+die Luft klärte sich für ein paar Minuten auf. Es berührte uns ganz
+eigentümlich, als wir uns überzeugten, was für Irrtümer man beim
+Schätzen vertikaler und horizontaler Dimensionen begeht, wenn man
+überall von Nebel umgeben ist. Wir hatten in einer Talmulde zu lagern
+geglaubt und fanden nun, daß wir uns inmitten eines wenig kupierten
+Geländes befanden.
+
+Da pfiff es schon wieder um die Ecken und heulte und sauste um meine
+Höhle, wo ich wie in Nacht und Nebel verschwand. An Kochen des Essens
+war nicht zu denken, und ich mußte mich mit Wasser und Brot und dem
+Inhalte einer Konservendose begnügen.
+
+Maschka und Jolldasch rollten sich jeder in seiner Zeltecke zusammen.
+Als ich beim Scheine der Laterne in meinem Tagebuche schrieb, trocknete
+die Tinte sofort von dem darauf fallenden Sand, und die Feder
+kratzte und quietschte in den kleinen Dünen, die sich auf dem Blatte
+bildeten. Die ausgepackten Sachen waren nach einer halben Stunde total
+verschwunden. Es war nicht besonders angenehm, sich in diesem Gestöber
+von Sand, von dem auch das Bett voll war, entkleiden zu müssen, und es
+war in der schwülen, staubschweren Luft zum Ersticken.
+
+Woher kamen wohl diese Milliarden von Kubikmetern Luft, und wo
+zogen sie hin? Welche Kräfte verursachten eine so revolutionäre
+Umwälzung in der Atmosphäre? Hatte dies seinen Grund darin, daß die
+westlichen Wüsten schon stärker von der Sonne erwärmt worden waren
+als die östlichen, welche daher Luft liefern mußten, um den durch die
+aufsteigende warme Luft entstandenen leeren Raum zu füllen? Oder war
+es eine lokale Erscheinung, ein Wind, der kaskadenartig vom Kamme
+des Kurruk-tag herabstürzte, um auf anderen, höheren Bahnen wieder
+dorthin zurückzukehren, nachdem er hier unten die Erdoberfläche nur
+gestreift hatte. Man konnte es nicht wissen; sicher aber ist, daß der
+Wind in diesen Gegenden die stärkste physische Kraft ist, die an der
+Umgestaltung der Erdoberfläche arbeitet.
+
+14. März. Die Minimaltemperatur sank auf -7,1 Grad, und obgleich der
+Sturm bedeutend nachgelassen hatte, war es doch schneidend kalt; es war
+notwendig, ein ordentliches Feuer von Baumstämmen anzuzünden und dann
+eine tüchtige Strecke zu Fuß zu gehen -- hatte ich doch meine Pelze zur
+Unzeit heimgeschickt.
+
+Im Südosten des Lagers war das Bett des Kurruk-darja an ein paar
+Stellen noch feucht; dort wuchsen lebende Tamarisken und etwas Schilf,
+der Wald auf den Ufern aber war tot, teils noch auf der Wurzel stehend,
+teils schon umgefallen. Wir verirrten uns in einem wüsten Durcheinander
+von Lehmterrassen mit scharfen Kanten. Die Eingeborenen nennen sie
+„Jardang“, ein bezeichnender Name, dessen ich mich fernerhin auch
+bedienen werde. In einem solchen Terrain zu wandern, ist ermüdend und
+zeitraubend; man muß unausgesetzt hinauf und wieder hinunter von diesen
+Terrassen, die ursprünglich vom fließenden Wasser erodiert, dann aber
+vom Winde phantastisch und launenhaft geformt worden sind. Daher ist
+es nicht immer ganz leicht, ein fortlaufendes Flußbett zwischen diesen
+Jardang herauszufinden und zu verfolgen. Sie scheinen sich weit nach
+Süden hinzuziehen, wo nur ein paar isolierte Sanddünen aus der ebenen
+Wüste emporragen.
+
+Weiterhin überschreiten wir wieder ein paar gut erhaltene
+Flußkrümmungen, deren Ufer dichter toter Wald begleitet. Die
+liegenden Stämme sind gewöhnlich dicker als die stehenden, die
+Wind und Wetter mehr ausgesetzt und der vernichtenden, feilenden
+Einwirkung des Flugsandes direkt preisgegeben sind. Sie stehen da wie
+balsamierte Mumien ehemaliger Bäume, und die Landschaft gleicht oft
+einem Stoppelfelde von riesigen Dimensionen. Nur längs des Laufes
+des Kurruk-darja tritt dieser tote Wald auf, der seinerzeit von dem
+trügerischen Wasser des Flusses gelebt hatte und abgestorben war,
+als dieses sich einen südlicheren Ablauf suchte und die neuen Seen
+Kara-buran und Kara-koschun bildete.
+
+Unmittelbar zur Linken haben wir die äußersten Vorberge des Kurruk-tag.
+Ihre unterste Terrasse bot uns einen ebenen, bequemen Weg. Eine
+dominierende Bergpartie heißt Tschartschak-tag (der Berg der Müden),
+weil Tausende von chinesischen Soldaten, die von Turfan nach dem
+neuangelegten Tscharchlik kommandiert worden waren, hier gelagert
+und, nachdem sie ihren ganzen Proviant verzehrt, Uniform und Gewehr
+weggeworfen haben und nach Turfan durchgebrannt sein sollen.
+
+Rechts zieht sich noch immer das Bett des Kurruk-darja hin, links ein
+anderes, dessen linke Uferterrasse außerordentlich scharf ausgeprägt
+ist. Wir gehen demnach auf einer langen, schmalen Erhöhung zwischen
+zwei Betten, von denen das linke älter ist als der Kurruk-darja; dies
+sah sogar Abdu Rehim ein, der wußte, daß es sich noch eine weite
+Strecke nach Osten erstreckte. Manchmal lichtet sich der tote Wald,
+und seine noch aufrechtstehenden Stämme haben von fern täuschende
+Ähnlichkeit mit Telegraphenstangen. In vor dem Winde geschützten Tälern
+sahen wir jetzt zum ersten Male Spuren von wilden Kamelen.
+
+Unter den toten Bäumen kommen jetzt häufig Jiggde-Büsche (Ölweide,
+~Elaeagnus hortensis~) vor. Nach der ganz richtigen Auffassung der
+Eingeborenen bilden sie den besten Beweis für eine frühere Bewässerung,
+denn die Jiggde ist die erste unter Büschen und Bäumen, die eingeht,
+wenn die Bewässerung aufhört, und schon verdorrt, wenn das Wasser
+salzhaltig ist. Tograk (Pappeln) und Julgun (Tamarisken) sind weit
+zäher und leben noch lange Zeit auf den Wurzeln.
+
+Auch heute rasteten wir in einer absolut öden Gegend, aber wir hatten
+sieben Tulume (Schläuche von Ziegenleder) voll Eis mitgenommen, von
+denen zwei täglich draufgingen, wenn die Kamele nichts erhielten.
+
+Am 15. März herrschte wieder starker Ostwind. Seine Geschwindigkeit
+betrug nur 7 Meter in der Sekunde, aber er machte sich bei -1,1 Grad um
+7 Uhr morgens fühlbar und drang durch unsere dünnen Frühjahrsanzüge.
+Selbst wenn man den halben Tag zu Fuß geht, kann man nicht warm werden.
+Um 1 Uhr stieg die Temperatur nur auf +6,8 Grad. In Jing-pen hatten
+wir bei Westwind +21,4 Grad gehabt. Es ist wahrscheinlich, daß dieses
+Verhältnis mit der verschiedenen Erwärmung des Kontinents in enger
+Verbindung steht. Im Jahre 1897 hatte ich in der östlichen Mongolei
+um diese Jahreszeit noch einen bitterkalten Winter mit tiefem Schnee
+gehabt. In den zentralen Wüsten dagegen bildet sich ein barometrisches
+Minimum, das seine Saugkraft auf die Randgebiete ausübt. Diese
+Ungleichheit des Luftdrucks ist im Frühling am größten und gleicht sich
+im Sommer aus. Daher treten im Lopgebiete im Frühling heftige östliche
+und nordöstliche Stürme ein.
+
+Abdu Rehim kannte eine Quelle in den niederen Bergen, die wir seiner
+Ansicht nach besuchen mußten. Wir verließen daher den Kurruk-darja bis
+auf weiteres und schlugen den Weg nach Nordosten ein. Nachdem wir einen
+niedrigen Bergrücken passiert hatten, erblickten wir eine ausgedehnte
+offene Arena. Im Norden derselben sah man merkwürdigerweise kaum etwas
+vom Gebirge, so niedrig sind die Hügel, die sich auf dieser Seite
+schwach abzeichnen. Mitten in diesem flachen Kesseltale finden wir die
++Oase Oi-köbruk+, wo Kamisch wächst. Wasser gibt es jedoch nicht,
+und die Vegetation lebt von den Regenfluten, die sich dann und wann
+hier ansammeln.
+
+Spuren von wilden Kamelen kamen jetzt in solcher Menge vor, daß wir
+ihnen kaum noch Aufmerksamkeit schenkten. An einer Stelle hatte vor ein
+paar Tagen ein großes Tier im Sande gelegen und sich dort behaglich
+eingewühlt. Wahrscheinlich waren alle diese Wanderer auf dem Wege von
+oder nach Jardang-bulak gewesen, dem einzigen Punkte der Gegend, wo
+Wasser offen zu Tage tritt.
+
+Ein Kamm, bestehend aus einer grobkristallinischen Gesteinsart,
+durchzogen von Diabasgängen, alles stark verwittert, trennte uns
+noch von Jardang-bulak, und nachdem wir ein unfruchtbares Gebiet
+überschritten hatten, lagerten wir in dem Talgange dieser Quelle.
+
+Hier wächst auf einem ganz kleinen Flecke üppiges Schilf. Es war der
+eine von den beiden Plätzen, wo wir Weide und Wasser finden sollten;
+daher beschlossen wir, den Tieren hier zwei Ruhetage zu gewähren. Drei
+andere ähnliche Quellen -- doch ohne nennenswerte Vegetation -- liegen
+ganz in der Nähe. Unsere Quelle heißt +Atschik+ (die bittere). Das
+Wasser derselben rieselt in einer Erosionsfurche zwischen niedrigen
+Granitplatten hin und trägt eine dezimeterdicke Eisdecke, deren
+Oberfläche wilde Kamele und Antilopen, die hier zur Tränke gegangen
+sind, beschmutzt haben. Das Eis mußte daher gewaschen werden, ehe wir
+es verwenden konnten, aber sein Schmelzwasser war vorzüglich und hatte
+keinen Beigeschmack, obwohl das Aräometer in dem Quellwasser direkt am
+Ursprung 1,012 spezifisches Gewicht zeigte.
+
+Abdu Rehim, unser Wegweiser, ist ein gewaltiger Kameltöter; er benutzte
+daher den ersten Rasttag zu einem Jagdausfluge. Er blieb vierzehn
+Stunden fort und erzählte bei seiner Rückkehr, daß er auf ein großes
+männliches Kamel gestoßen sei, welches er, nach der blutigen Spur zu
+urteilen, schwer verwundet habe. Der Jäger hatte das Wild bis weit
+über den Kurruk-darja hinaus verfolgt, und es war ihm dabei mehrmals
+gelungen, sich dem Tiere bis auf 300 Schritt zu nähern, welcher Abstand
+für asiatische Flinten jedoch zu groß ist. Schließlich war das Kamel
+südwärts nach den ersten Sanddünen gelaufen, wo es Abdu Rehim bald
+aus den Augen entschwand, und da es auch zu dämmern begann, hatte er
+umkehren müssen. Er sagte, daß die Kamele, wenn sie verwundet worden
+sind, stets südwärts nach der offenen Wüste laufen, und glaubte, daß
+sie sich auch dann, wenn sie den Tod auf natürliche Weise kommen
+fühlen, nach den Dünen begeben, um dort ihr Grab zu finden. Er glaubte
+dies, weil er in den Bergen des Kurruk-tag selten oder nie Kamelgerippe
+gefunden hatte. Vielleicht wissen sie, daß, wenn ihr Todeskampf
+lang wird, sie sicher sein können, ihn in der Sandwüste in Ruhe
+auszukämpfen, während sie im Gebirge Belästigungen leichter ausgesetzt
+sein würden.
+
+Abdu Rehim hatte auch ganz frische Spuren einer Herde von sieben
+Kamelen gesehen, eines alten Männchen mit zwei Weibchen und vier Tailak
+(Jungen).
+
+Besser glückte es Tschernoff. Frühmorgens hörte ich die Männer äußerst
+lebhaft, aber mit leiser Stimme davon reden, daß die Hunde angebunden
+werden müßten. Darauf wurde es ganz still, und dann krachten dicht
+beim Lager fünf Schüsse. Mit dem Winde hatte sich ein Kamel, ohne
+einen Hinterhalt zu ahnen, der Quelle genähert. Tschernoff und Chodai
+Kullu legten an, aber das Kamel machte kehrt und entfloh, nur leicht
+verwundet, in östlicher Richtung. Tschernoff verfolgte es; das Tier
+blieb bisweilen stehen und betrachtete ihn neugierig. Auf 500 Schritt
+Entfernung wurde ein letzter Schuß abgefeuert und traf aufs Blatt. Das
+Kamel lief langsam nach Süden, fiel ein paarmal, erhob sich wieder und
+brach schließlich, als die Jäger ihm schon ganz nahe waren, etwa 2
+Kilometer vom Lager tot zusammen (Abb. 79).
+
+Es war ein junges Weibchen. Es hatte eine sehr weiche, feine Wolle,
+die jetzt, zu Anfang der Zeit des Haarens, beinahe von selbst abfiel;
+die Männer sammelten sie, um Schnüre und Stricke daraus zu drehen.
+Darauf wurde das Tier zerlegt; sein Fleisch war uns sehr willkommen,
+da unser Vorrat an Schaffleisch, das in den letzten Tagen schon etwas
+verdorben gewesen war, jetzt gerade ein Ende genommen hatte. Die Hunde
+hielten von den Fleischresten und Eingeweiden einen Festschmaus, und
+die Füchse der Gegend werden sich gewiß auch noch eingestellt haben. Am
+Tage darauf kreiste ein Geier über dem Platze, wo das arme Tier den Tod
+gefunden hatte. Abdu Rehim glaubte, daß die wilden Kamele die Gegend,
+wo einer ihrer Kameraden gefallen war, noch lange scheuen würden. Zum
+Vergleich mit dem erbeuteten Kamele habe ich eines unserer zahmen
+Kamele mit abgebildet (Abb. 80). Dieses Tier hatte schon 1896 an meinem
+Zuge durch die Kerijawüste und zum Lop-nor teilgenommen; es starb 1901
+im Innern von Tibet.
+
+Abends schoß Tschernoff ein paar prächtige Rebhühner, die uns gut
+zustatten kamen. Die Fleischverproviantierung ist nämlich während der
+heißen Jahreszeit stets eine heikle Frage. Ich hatte mit Kirgui Pavan
+und zwei anderen Jägern, die Jardang-bulak kannten, vereinbart, daß sie
+sich dort mit fünf Schafen nebst Hühnern und Eiern einfinden sollten.
+Da sie jedoch nichts von sich hören ließen, konnten wir nicht länger
+warten. Bei unserer Rückkehr erfuhren wir, daß sie zwar aufgebrochen
+waren, sich aber in der Wüste verirrt und während des Sturmes drei
+Schafe verloren hatten. Die übrigen waren halbtot, als sie endlich
+Jardang-bulak erreichten, wo sie auch unsere Feuerstelle fanden; da war
+es aber zu spät, und sie traten daher den Rückweg nach Tikkenlik an.
+Wir regten uns aber ihres Nichtkommens wegen nicht auf, denn wenn wir
+nur wohlbehalten den Kara-koschun erreichten, brauchten wir keine Not
+zu leiden.
+
+
+
+
+Zwanzigstes Kapitel.
+
+Das gelobte Land des wilden Kamels.
+
+
+Abdu Rehim gab mir manche Auskunft über die Eigenschaften des wilden
+Kamels, die mit dem übereinstimmte, was ich 1896 von dem alten
+Kameljäger am unteren Kerija-darja darüber erfahren hatte.
+
+In der gegenwärtigen Jahreszeit muß das Kamel alle acht Tage saufen, im
+Winter aber kann es zwei Wochen dursten. Doch kann es auch im Sommer
+das Wasser einen halben Monat entbehren, wenn es saftige Weide hat.
+Daß es den Durst im Winter nicht länger als 14 Tage ertragen kann, hat
+seinen Grund darin, daß das Futter dann vertrocknet ist. Die Tiere
+kennen die Lage der Quellen so genau, als richteten sie sich nach
+Karte und Kompaß. Die Jungen sind von ihren Müttern dorthin geführt
+worden, und die Reliefverhältnisse des Terrains verwachsen mit ihrem
+Bewußtsein. Auch stark salzhaltiges Wasser saufen sie mit großem
+Behagen. Zwischen Tamarisken und im Schilfe, wie auch überall, wo der
+Schütze Deckung findet, kann er gegen frischen Wind bis auf 30 Schritt
+an das Tier herankommen, und im allgemeinen schießt er nicht gern aus
+größerer Entfernung als 50 Schritt.
+
+Der Geruch ist der feinste Sinn des Kamels, und es soll den Menschen
+in einer Entfernung von 20 Kilometer wittern können; wenn es merkt,
+daß etwas nicht geheuer ist, entflieht es mit Windesschnelle. Gleich
+seinen Vettern am Kerija-darja hegt es große Furcht vor dem Rauche
+von Lagerfeuern. Es flieht auch vor dem zahmen Kamele mit Packsattel,
+ja selbst, wenn dieser abgenommen ist, denn es wittert sogleich den
+fremden Geruch des zahmen Kamels. Dagegen war es bisweilen vorgekommen,
+daß junge, noch nicht zur Arbeit verwendete Kamele sich in wilde Herden
+hineinverirrt und dort Aufnahme gefunden hatten. Bei einer solchen
+Gelegenheit hatte einmal Abdu Rehims Bruder ein seinem Vater gehöriges
+Kamel in dem Glauben, es sei ein wildes, geschossen. Im großen und
+ganzen scheinen die Kamele des Kurruk-tag dieselben Eigenschaften zu
+haben wie die vom Kerija-darja. Sie vermeiden bewohnte Gegenden sowie
+Stellen, welche Menschen, wenn auch noch so selten, passieren. In
+Verbindung hiermit sei erwähnt, daß nach Prschewalskij wilde Kamele in
+der Kum-tag-Wüste östlich vom Sumpfe des Kara-koschun häufig vorkamen.
+Jetzt fehlen sie in dieser Wüste oder sind wenigstens sehr selten
+geworden, was seinen Grund in dem Austrocknen des Sees, wie auch darin
+haben kann, daß die noch vorhandenen Wasserflächen bewohnten Gegenden
+zu nahe liegen.
+
+Die wilden Kamele nähern sich einem Platze, wo Jäger gelagert haben,
+für längere Zeit nicht wieder. Abdu Rehim glaubte, sie würden nicht
+eher als nach dem nächsten Regen wieder nach Jardang-bulak kommen oder
+dort wenigstens nicht eher weiden, als bis die Stelle reingewaschen
+und jede Spur unserer Feuer fortgeschwemmt worden sei. Im allgemeinen
+bleibt die Kamelherde bloß 2-3 Tage an einem Platze mit Weide und sucht
+dann einen anderen auf. Nach einer Quelle gehen sie nur, um zu trinken,
+und bleiben nie länger dort, selbst wenn die Weide noch so gut ist.
+Mein Gewährsmann behauptete, dem Kamele sage sein Instinkt, daß es bei
+den Quellen die größte Gefahr laufe, mit Menschen zusammenzutreffen.
+Wenn es solche gesehen oder gewittert hat, flieht es mehrere Tage
+ohne Aufenthalt, bewerkstelligt seinen Rückzug aber im ganzen mit
+großer Ruhe. Findet es auf der Flucht Weide, so hält es sich dort eine
+Weile auf und frißt sich satt, bevor es weiterläuft. Wenn die Nacht
+hereinbricht, legt es sich neben eine Tamariske, wo der Boden weich
+ist, und setzt seine Flucht erst fort, wenn es wieder hell ist. Es
+frißt alles mögliche aus dem Pflanzenreiche, am liebsten aber trockene,
+losgerissene, vom Winde verwehte Grasbüschel. Auch die Weideplätze
+findet es mit überraschender Sicherheit auf und begibt sich in gerader
+Linie vom einen zum anderen, selbst wenn sie mehrere Tagemärsche weit
+voneinander entfernt liegen und die Gegend keine Anhaltspunkte für die
+Orientierung zu bieten scheint.
+
+Während der Brunst, die in die Monate Dezember, Januar und Februar
+fällt, kämpfen die Männchen förmliche Schlachten. Sie beißen sich, wo
+sie sich nur treffen. Der im Streite Unterliegende muß oft einsam und
+allein abziehen, während dem Sieger dann bis zu acht Weibchen zufallen
+können. Geraten zwei gleich starke Männchen aneinander, so trennen sie
+sich nicht eher, als bis eines oder beide kampfunfähig geworden sind.
+Sie richten einander mit den Zähnen gräßlich zu und ziehen sich blutig
+und zerbissen zurück; oft reißen sie einander ganze Fleischstücke aus
+dem Leibe, und selten trifft man ein ausgewachsenes Männchen, das nicht
+durch scheußliche Narben entstellt ist.
+
+Oft stößt man auf einzelne Kamele, auch auf Paare; aber Herden von
+4 oder 6 Tieren sind die Regel, während Herden von 12-15 selten
+sind; stets ist jedoch ein starkes Männchen der Führer. Das zahme
+Kamelweibchen geht ein Jahr lang trächtig, bei dem wilden soll es 14
+Monate dauern. Man ist der Ansicht, daß das zahme jeden 18. Monat ein
+Junges gebären kann, und zwar zum ersten Male im Alter von 8 und zum
+letzten Male mit 15 Jahren. Das Junge wird 40 Tage gesäugt, ehe es Gras
+fressen lernt, setzt das Säugen aber noch über ein Jahr fort. Bevor
+es anderthalb Monate alt ist, kann es mit dem Maule kaum an die Erde
+kommen. Bei den wilden soll es ebenso sein.
+
+Das zahme Kamel ist bis zum Alter von 20 Jahren arbeitsfähig. Das wilde
+soll 50 Jahre alt werden, was jedoch unsicher und unwahrscheinlich ist.
+Doch Abdu Rehim hatte einmal in den Muskeln eines alten Kamelmännchens
+eine mongolische Kugel gefunden, deren Form erkennen ließ, daß sie
+dort 40-50 Jahre gesessen haben mußte, denn solange bedienten sich die
+Mongolen schon nicht mehr solcher Kugeln. Seinen Beschreibungen nach
+schienen die Kamele der Berge schwerer zu schießen zu sein als die der
+Takla-makan. Tschernoff glaubte, dies könne darauf beruhen, daß die
+Jäger des Landes weniger reichliche Pulverladung in ihren Flinten haben
+als wir und daß ihre Waffen unvollkommener sind. Die Kugel dringt nicht
+tief genug ein und bleibt oft sitzen, ohne ein empfindliches Organ
+verletzt zu haben.
+
+Zwischen Jardang-bulak und Chami kommt das wilde Kamel überall vor.
+Es geht nach Westen hin nie über den Weg zwischen Jing-pen und Turfan
+hinaus. Unser Lager Nr. 6 (am 13. März) kann als sein westlichster
+Verbreitungspunkt im Bette des Kurruk-darja betrachtet werden. Im
+Kurruk-tag findet man es am häufigsten im Tale von Altimisch-bulak
+und östlich von diesem. Es ist aber ein unruhiges Tier, das ein
+Nomadenleben im großen Stile führt.
+
+Abdu Rehim war 6 Jahre Kameljäger gewesen und hatte in dieser Zeit
+13 Kamele erlegt, was darauf schließen läßt, daß sie eine keineswegs
+leicht zu gewinnende Beute sind. Sein Vater hatte einmal versucht, ein
+Junges zu fangen, um es aufzuziehen und zu zähmen. Geduldig legte er
+sich auf die Lauer. Sobald das Junge geboren war, witterte jedoch die
+Mutter Unrat, nahm das Neugeborene zwischen Hals und Kinn und entfloh
+mit solcher Geschwindigkeit, daß sie nicht einzuholen war.
+
+[Illustration: 95. Unsere Kähne auf dem Ilek. (S. 247.)]
+
+[Illustration: 96. Pappeln am Ufer des Ilek. (S. 247.)]
+
+[Illustration: 97. Im Schilf auf dem Suji-sarik-köll. (S. 248.)]
+
+[Illustration: 98. Unsere Kähne bei einem Nachtlager. (S. 248.)]
+
+[Illustration: 99. Brücke bei Tikkenlik. (S. 250.)]
+
+[Illustration: 100. Der Kalmak-ottogo-Arm. (S. 250.)]
+
+Bevor uns der prächtige junge Abdu Rehim verläßt, seien noch ein paar
+Worte über seine Familie gesagt. Er ist ein Sohn des Pavans Ahmed,
+der seit 40 Jahren in Singer mit seinen vier Söhnen wohnt, die alle
+dort geboren und von denen drei verheiratet sind. Alle Bewohner des
+Dörfchens sind demnach Mitglieder der Familie Ahmeds. Der älteste Sohn
+ist Karaultschi, der vom Amban von Dural eingesetzte Stationswächter
+des Dorfes. Wenn in der Gegend etwas Unerlaubtes oder Verdächtiges
+geschieht, ist es seine Pflicht, darüber Bericht zu erstatten. Er ist
+Besitzer von 200 Schafen, die ein Mongole in der Gegend von Argan unter
+der Bedingung hütet, daß die Hälfte der im Jahre geborenen Lämmer dem
+Mongolen, die andere Hälfte aber Ahmed zufällt, welch letzterer auch
+noch so viel Wolle beansprucht, wie zur Herstellung von drei Kigis
+(Filzdecken) erforderlich ist. Den Rest darf der Mongole, der selbst
+große Herden besitzt, behalten.
+
+Ferner ist Ahmed Besitzer von 27 Kamelen, mit denen er nicht selten
+Geschäfte macht, indem er neue ankauft, wenn sie billig sind, und sie
+teuer verkauft, sobald sich die Gelegenheit dazu bietet. Schließlich
+hat er noch 2 Pferde und 10 Kühe. Er baut Weizen, Gerste, Melonen,
+Zwiebeln und andere Gemüse in Singer, wo der Boden besonders ergiebig
+sein soll, so daß sie dort jedes Jahr auf Ernte rechnen können, während
+man in anderen Gegenden die Äcker einige Jahre ruhen lassen muß. Die
+Leute sind von ihrem Dorfe entzückt und möchten mit keinem anderen
+tauschen.
+
+Abdu Rehim war ein hübscher, munterer, kräftiger und zuverlässiger
+Mensch, und was ich an ihm besonders schätzte, war seine Wahrheitsliebe
+und die Zuverlässigkeit seiner Angaben. Konnte er eine gewünschte
+Auskunft nicht erteilen, so antwortete er, daß er es nicht wisse. Sonst
+pflegen die Muselmänner in einem solchen Falle rasch eine Geschichte
+zu erfinden. Er besorgte seine acht Kamele mit bewundernswerter
+Geschicklichkeit, war überall bei der Hand, belud und lud ab wie ein
+Sklave und fand den geraden Weg zwischen den Quellen wie ein wildes
+Kamel. Ihn zu sehen, wie er sich mit der schweren, plumpen Flinte auf
+der Schulter auf sein Reitkamel schwang, war ein wahres Vergnügen; er
+war geschmeidig und stark wie ein Tiger. Jeden Abend pflegte ich ihn
+in mein Zelt zu rufen, um ihn eine Stunde lang über seine Erfahrungen
+auszuhorchen. Ich versuchte, ihn noch länger an unsere Karawane zu
+fesseln, aber er sehnte sich nach seinem Heim in den Bergen zurück.
+
+Beim Aufbruch am 18. März wurden sieben Ziegenfellschläuche und
+zwei Säcke mit Eis mitgenommen, sowie zwei Säcke Kamisch, um an
+Lagerplätzen ohne Weide sparsam an die Kamele verteilt zu werden.
+Unterwegs sahen wir Spuren von einem alten und einem jungen Kamele,
+und zwar so frische, daß die Tiere am selben Morgen dort gegangen sein
+mußten. Tschernoff brannte vor Eifer und verschwand, von Chodai Kullu
+begleitet, hinter den Hügeln. Abdu Rehim ritt wie gewöhnlich an der
+Spitze, seine Kamele anführend, ihm folgte Faisullah mit unseren vier
+Tieren; ich war der letzte. Ördek ging gewöhnlich zu Fuß.
+
+Plötzlich machte der Vortrab Halt, und die Männer saßen ab. Sie hatten
+ein großes, liegendes Kamel wahrgenommen. Abdu Rehim kroch mit der
+Flinte auf dem Rücken am Boden entlang. Ich schlich mich zu ihm hin
+und beobachtete mit dem Fernglase eine Herde, die aus einem großen
+schwarzen Bughra (Männchen) und fünf helleren Kamelen bestand. Das
+Bughra hatte sich gerade erhoben und wendete den Kopf mit aufgeblähten
+Nüstern unruhig und aufmerksam nach unserer Seite. Drei von den anderen
+lagen wiederkäuend, und zwei weideten.
+
+Während wir anderen in einer Entfernung von 800 Schritt auf einem
+gutversteckten Aussichtspunkte, von dem man allen Bewegungen der Herde
+folgen konnte, stehenblieben, schlich Abdu Rehim nach dem Platze,
+wohin auch Tschernoff durch die Spuren geleitet worden war. Doch der
+Wind kam gerade von hier, und das Männchen witterte offenbar Unrat. Es
+ging nach Westen, wo die Weibchen lagen, blieb stehen, schnüffelte,
+den Blick unverwandt nach unserer Seite gerichtet, in der Luft und
+ging dann weiter; die anderen, zwei ausgewachsene Weibchen und drei
+Jährlingsfüllen, merkten nichts.
+
+Jetzt krachte ein Schuß. Er traf nicht, die Entfernung war zu groß;
+aber, erschreckt von dem Knall, ergriff das Bughra schleunigst die
+Flucht. Die Weibchen zögerten einen Augenblick, schnellten darauf wie
+Sprungfedern in die Höhe und schwenkten in so starkem Galopp ab, daß
+der Staub hinter ihnen aufwirbelte. Das Bughra lief allein, die anderen
+dicht aneinander gedrängt 100 Schritt rechts von ihm. Ich betrachtete
+die Schar durch das Fernglas, aber nach wenigen Minuten waren die
+großen Tiere zu kleinen schwarzen Punkten zusammengeschrumpft, und
+nachher sah ich nur noch die Staubwolke, die ihren Weg angab. Die
+Tiere flohen mit großer Schnelligkeit und ohne sich zu verschnaufen;
+sie waren in den Wind hineingekommen, der ihnen den Karawanengeruch
+zuführte, und hatten die Gefahr erkannt. Abdu Rehim glaubte, daß sie
+drei Tage in der Sandwüste bleiben würden, ehe sie sich auf einem
+weiten Umweg wieder in die Berge wagten.
+
+Sehr weit waren wir auch am folgenden Morgen noch nicht gelangt, als
+die Schützen wieder anhielten und nach Süden zeigten, wo ein einsames
+Kamel philosophierend zwischen toten Tamariskenkegeln umherspazierte.
+Drei Flintenläufe wurden auf das Tier gerichtet, und drei Schüsse
+krachten, aber die Entfernung war zu groß, und das Kamel lief in wenig
+hastigem Trabe nach Nordosten; dabei kreuzte es unseren Weg, so daß
+wir es jetzt zur Linken hatten, wo es plötzlich stehenblieb und sich
+die Friedensstörer der Wüste betrachtete. Daß die Hunde auf das Kamel
+losstürmten, ließ es sich mit merkwürdiger Ruhe gefallen. Tschernoff
+schoß wieder, worauf das Tier zusammenzuckte, alle Beine spreizte, den
+Schwanz aufrichtete und ziemlich langsam, die Hunde auf den Fersen,
+nach Osten lief. Verwundet war es, das sah man an den spärlichen
+Blutspuren, aber die Verwundung schien nur leicht zu sein, und es
+entschwand uns bald aus dem Gesichte.
+
+Wir hatten einen neuen Beweis von der unbegreiflichen Dummheit und
+Unvorsichtigkeit des wilden Kamels erhalten. Das jetzt in Frage
+kommende schien sich außerordentlich für unsere Kamele zu interessieren
+und stand nach der ersten Salve einige Augenblicke ganz still.
+Tschernoff verfolgte es zu Pferd und näherte sich ihm auf 50 Schritt,
+aber die Hunde verdarben ihm die Jagd. Das Kamel, eines jener einsamen
+Männchen, die von einem stärkeren Nebenbuhler besiegt worden sind, war
+wohl gerade an die Quelle gekommen, um zu saufen. Es hatte sicherlich
+nur eine ungefährliche Schramme erhalten.
+
+Zur Linken haben wir noch immer die untere Terrasse und finden auf ihr
+unzählige tiefe Regenwasserrinnen. Zur Rechten schlängelt sich der
+Kurruk-darja mit seinem toten Walde und seinen Jarterrassen. Von dieser
+Gegend an sind Schneckengehäuse (Limnaea) außerordentlich häufig.
+Hier hat es also an den Seiten des früheren Flusses Uferseen gegeben.
+Diese Behauptung bedarf keines anderen Beweises als des Vorkommens von
+Süßwassermollusken, die sich nicht in schnell strömendem Flußwasser,
+sondern nur in stillen Seen und Lagunen mit reichlicher Vegetation
+aufhalten.
+
+Dann überschreiten wir das Bett und gehen nach Südosten, um ein Bild
+von dem Aussehen der Wüste nach dieser Seite hin zu erhalten. Der harte
+Felsboden ist außerordentlich unangenehm und höckerig. Die Jardang
+werden niedriger, die Furchen zwischen ihnen sind nur einen Fuß tief
+eingeschnitten, aber die Kamele stolpern über diese ewigen Schwellen.
+Sand tritt auf, bildet aber keine Dünen. Ördek fand einige Scherben
+eines an starkem Feuer gebrannten Tongefäßes und eine Art von Schiefer.
+Noch aufrechtstehende Pappelstämme sind nicht ungewöhnlich, aber sie
+sind tot und grau, spröde und zerbrechlich. Sie sind stets dünn, als
+ob nur ihr innerstes Mark der Beschädigung durch die Atmosphärilien
+zu widerstehen vermöchte. Der Boden ist mit Limnaeaschalen bestreut.
+Tschidschegan (totes Kamisch), gestutzt wie die Borsten einer
+Scheuerbürste, bedeckt große Flächen; es sind die früheren, üppigen
+Felder auf den Ufern dieses Flusses und seiner Lagunen.
+
+Es kam uns sehr unerwartet, daß wir in einer Bodensenkung ein Dutzend
+lebender Pappeln fanden, die allerdings kümmerlich aussahen, aber doch
+Wurzeln hatten, um ihren Lebenssaft aus dem Grundwasser zu saugen.
+Um sie herum kreuzten sich mehrere Kamelspuren, und man sah auch die
+Fährte eines Wolfes, der von Süden gekommen war, wohin auch ein paar
+Kamelspuren gingen. Abdu Rehim glaubte, daß es nach dieser Richtung hin
+Weide gebe oder daß dort ein See liege. Er hatte nie vom Awullu-köll
+gehört und ahnte gar nicht, wie recht er hatte.
+
+Wir ziehen dann zwischen 3 Meter hohen, steil nach Westsüdwest
+abfallenden Dünen hindurch, die außerordentlich regelmäßig gebildet
+sind, eine hübsche Halbmondform haben und isoliert liegen. Im Süden
+dieses noch in den Windeln liegenden Übersandungsgürtels erscheinen
+höhere Dünen, zwischen denen jedoch noch immer toter Wald auftritt.
+Es war nicht unsere Absicht, uns jetzt in dieser Richtung noch weiter
+zu begeben, sondern wir kehrten nach Nordosten zurück und lagerten in
+einer wüsten Gegend, wo die Kamele, die hier in der Heimat ihrer wilden
+Verwandten stets angebunden wurden, Kamisch aus den Säcken erhielten.
+
+Oft verlieren wir das alte Bett ganz, um uns dann nach stundenlangem
+Suchen plötzlich wieder am Rande einer Biegung zu befinden.
+Wahrscheinlich finden wir in dem gegenwärtigen Relief der Landschaft
+verschiedene hydrographische Epochen abgespiegelt. Die außerordentlich
+scharf markierte Terrasse am Fuße des untersten Sai ist eine
+Uferlinie, die seinerzeit von den Wellen eines sehr ansehnlichen Sees
+bespült worden ist. Dieser ist nach und nach flacher geworden und
+zusammengeschrumpft; die Schneckenschalen sind liegen geblieben und
+zeigen, welche Gegenden früher unter Wasser standen.
+
+Die Wüste wird immer unfruchtbarer. Oft kreuzen wir nach Süden führende
+Kamelspuren; es ist nicht unwahrscheinlich, daß das Kamel sich nach
+dem Awullu-köll, der selten von Lopleuten besucht wird, zu begeben
+pflegt. Und dann geht unser Zug wieder durch ein Stück Flußbett,
+das bewundernswert deutlich ist. Es ist 94 Meter breit, 6,5 Meter
+tief eingeschnitten und trägt auf seinen Ufern toten Wald. Es ist
+ein fossiler Fluß. Nimmt man ein Stück vom Tarim, läßt sein Wasser
+verschwinden und seinen Wald welken und verdorren, so wird das Resultat
+genau dasselbe sein, das wir hier vor uns hatten.
+
+Wir rasteten in einer Bodensenkung.
+
+Von diesem Lager folgten wir einem Kamelpfade, der jedoch
+wahrscheinlich nur einmal von einer Herde benutzt worden war, denn es
+liegt nicht in der Natur des wilden Kamels, sich an bestimmte Wege
+zu halten, sondern es pflegt im Gegenteil seine Sicherheit dadurch
+zu vergrößern, daß es sich davon ganz unabhängig macht. In dieser
+Beziehung ist es schlauer als der Tiger, der sich in Fallen fangen
+läßt, weil er stets alte Wege benutzt.
+
+Die Landschaft verändert sich wenig. Die Berge sehen eher aus wie eine
+niedrige Hügelreihe mit eingekerbtem Kamme. Toter Wald ist spärlich,
+aufrechtstehende Stämme selten. Rechts ein Meer von Jardang mit
+Milliarden von Schneckenschalen. Ördek fand einen Tonkrug, Stücke einer
+großen Schüssel mit einem glasierten Rankenornament und ein Stück von
+einem großen Kupferkessel mit horizontal umgebogenem Rande. Hier hat
+ein Gehöft oder ein kleiner Weiler gelegen; jedenfalls zeigte der Fund,
+daß die Gegend bewohnt gewesen ist. Die Gefäße waren chinesische Arbeit.
+
+Während des heutigen Tages hörte das Bett des Kurruk-darja ganz auf,
+und der Boden, den wir jetzt betraten, war ehemals vom Wasser des alten
+Lop-nor-Sees überschwemmt. Daher endigte der Wald hier, die Schnecken
+aber waren noch zahlreicher als früher. Die Jardang bildeten jetzt ein
+paar Meter breite und einen Meter hohe Rücken von ziemlich festem,
+horizontal geschichtetem gelbem Tone, deren Richtung Nordost-Südwest
+war und die einander bis ins Unendliche folgten. Furchen oder
+Rinnen von derselben Breite und Tiefe trennten sie voneinander. Die
+Richtung dieser eigentümlichen Bodenform läßt uns vermuten, daß sie
+ausschließlich ein Werk des vorherrschenden Nordostwindes ist, dessen
+Flugsand an dem leicht vergänglichen Tone beständig feilt und frißt.
+Alle Ränder und Seiten dieser langen Tafeln zeigen deutlich vom Winde
+abgeschliffene Flächen. Anhäufungen von Treibsand fehlen jedoch, weil
+der See erst vor relativ kurzer Zeit verschwunden ist. Marco Polos
+Behauptung, daß zur Durchquerung der Lopwüste ein Jahr erforderlich
+sei, ist nicht so übertrieben, wenn man bedenkt, daß dazumal Kara-buran
+und Kara-koschun noch nicht existierten und man also von der
+Takla-makan bis nach der Mandschurei von einer ununterbrochenen Wüste
+sprechen konnte.
+
+Unweit des Lagers Nr. 12 wurden dicke, graublaue Scherben von einem
+großen Tongefäße mit kleinen Henkeln gefunden. Es war das dritte Mal,
+daß wir an diesen ausgetrockneten Wasserwegen Spuren von Menschen
+fanden. Der Boden ist hier und da mit Salzablagerungen bedeckt, an
+denen man sieht, daß der See, nachdem er seines Zuflusses beraubt
+worden war, allmählich salzig geworden ist. Daß die Salzschichten so
+selten sind, hat seinen Grund darin, daß der Wind die Oberschicht des
+Bodens beständig abhobelt.
+
+Jetzt galt es, Altimisch-bulak (die sechzig Quellen) zu finden. Wir
+schlugen daher den Weg nach Nordnordost ein, die niedrigen Ausläufer
+und Hügel des Kurruk-tag ersteigend, von wo aus der Blick sich auf der
+absolut ebenen, aber rauhen Fläche der Wüste verliert. Nur zweimal
+während aller seiner Wanderungen in diesen Gegenden hatte Abdu Rehim
+fern im Süden einen schneebedeckten Kamm gesehen, aber er hatte nie
+etwas vom Astin-tag gehört.
+
+Gegen Abend erhob sich ein heftiger Nordwind; der Himmel bedeckte sich
+mit Wolken, und es war bei der herrschenden Finsternis nicht möglich,
+die Quelle zu finden, weshalb wir nach einem Marsche von 38 Kilometer
+in einer gänzlich unfruchtbaren Tonwüste lagerten. Seit fünf Tagen
+hatten wir keinen Tropfen Wasser gefunden, und das bißchen, das sich
+noch in den Schläuchen befand, war verdorben. Der Fleischvorrat war
+auch zu Ende, und die Bewirtung fiel an diesem Abend kärglich aus.
+
+Der Wind hielt die ganze Nacht an; das Zelttuch war straffgespannt,
+es flatterte und riß an den Tauen, und ich hatte alle meine Papiere
+und Karten eingepackt, denn wenn der Wind das Zelt umstürzte, wären
+sie fortgeflogen und nicht wieder zu erlangen gewesen. Noch am Morgen
+betrug die Windstärke 11 Meter in der Sekunde.
+
+Als ich bei Tagesanbruch aus dem Zelte trat, lag eine trostlose
+Landschaft vor mir. Im Nordosten erstreckt sich ein niedriger Rücken,
+im Südosten fällt das Terrain nach der Wüste ab, im übrigen sieht man
+in weiter Ferne unbedeutende Kämme und Landrücken; der Boden ist mit
+Schutt bedeckt, keine einzige Pflanze; alles ist verwittert, kahl und
+öde. Die Chinesen haben diese Landrücken auf ihren Karten nicht als
+Gebirge verzeichnet, nur der Hauptkamm weit hinten im Norden ist darauf
+angegeben.
+
+Heute war es Melik Ahun, Abdu Rehims Bruder, der den Zug führte.
+Schweigend und ruhig thronte er auf seinem hohen Kamele an der Spitze,
+den ganzen Zug hinter sich, wie ein Lotse ein ganzes Geschwader leitet.
+
+Nachdem wir einen Hügel passiert hatten, erblickten wir ein großes,
+offenes Feld, und in der Mitte desselben glänzte der Boden gelb -- es
+war die gesegnete, herrliche Oase +Altimisch-bulak+!
+
+Mit ihren durch ständiges Leben im Freien geschärften Augen hatten Abdu
+Rehim und Melik sogleich eine am Ostrande weidende Kamelherde erblickt
+-- ich konnte die Tiere kaum mit dem Fernglase erkennen. Jetzt übernahm
+der erfahrene Kameljäger die Führung und gab der Karawane Anweisung,
+einen Umweg hinter einem niedrigen Bergrücken herum zu machen. Abdu
+Rehim und Tschernoff eilten nach dem Kamischfelde der Oase; ich folgte
+ihnen, um mir den Verlauf der Jagd als passiver Zuschauer anzusehen.
+Wir kreuzten das Bächlein der „sechzig Quellen“, wo, wie unser
+Wegweiser schon vor einem Monate richtig prophezeit hatte, noch große
+schöne Eisschollen lagen (Abb. 81) und gingen dann in das Schilf und
+die Tamarisken hinein.
+
+Auch diese Herde bestand aus einem großen dunkeln Bughra und fünf
+hellen Kamelen; vielleicht war es dieselbe, die wir schon gesehen
+hatten. Das alte und eines der Jungen weideten eifrig, die übrigen
+lagen, die Köpfe uns zugewandt. Wir waren 300 Schritt von ihnen
+entfernt und der Wind kam gerade von ihnen, weshalb weder Gehör noch
+Geruch sie warnen konnte; für uns war es das Wichtigste, uns nicht
+sehen zu lassen. Eigentlich war es feige, sich auf diese Weise an
+die edeln Tiere heranzuschleichen und sie aus dem Hinterhalte zu
+überfallen.
+
+Mich interessierte es am meisten, möglichst viel von ihren Bewegungen
+und Gewohnheiten im Freien zu sehen, aber ich wollte den Männern nicht
+das Schießen verbieten, denn dies würde in der Karawane Unzufriedenheit
+und Ärger erweckt haben, die verdrießliche Folgen haben konnten. Dazu
+kam, daß Abdu Rehim Kameljäger von Beruf war. Die Muselmänner besitzen
+keine Spur von Gefühl für die Leiden eines Tieres und hätten das
+Verbot sicherlich als einen gegen sie selbst gerichteten launenhaften
+Einfall aufgefaßt. Für einen Jäger mußte auch die Jagd auf ein solches
+Tier ein Fest sein, das sah man unseren Schützen an; sie sahen und
+hörten nichts anderes, wenn sie Kamele beschlichen, und ihre Augen
+strahlten vor leidenschaftlicher Freude. Ich aber seufzte erleichtert
+auf, wenn sie fehlten, denn meine Sympathien waren ganz auf seiten der
+Kamele. Diesmal stand es jedoch in den Sternen geschrieben, daß ein
+unschuldiges Leben erlöschen sollte.
+
+Abdu Rehim bat uns, dort, wo wir uns befanden, zu warten, während er
+einen großen Umweg machte, um ungesehen an einer Lücke im Dickicht
+vorbeizukommen. Lautlos und unsichtbar wie ein Panther glitt er
+durch die Büsche; wir konnten weder sehen noch hören, wo er blieb.
+Mittlerweile hatte ich vortreffliche Gelegenheit, die Bewegungen der
+Tiere zu beobachten. Die beiden Weidenden gingen mit gesenktem Kopfe,
+erhoben ihn manchmal, wenn das Maul voll war, kauten langsam und
+kräftig, so daß das dürre Kamisch zwischen den Zähnen knisterte, und
+ließen den Blick über den offenen Horizont gleiten. Sie zeigten keine
+Spur von Unruhe und hatten keine Ahnung von dem, was ihnen bevorstand.
+
+Jetzt krachte Abdu Rehims Flinte, und fünf Kamele liefen in langsamem
+Trab auf unsere Büsche zu; doch wahrscheinlich hielten sie den Punkt
+für verdächtig, denn sie machten plötzlich kehrt und rannten in wildem
+Laufe bergauf, gerade gegen den Wind. Dies war eine ebenso kluge wie
+natürliche Strategie, denn gegen den Wind wittern sie die Gefahr,
+während in der entgegengesetzten Richtung alle möglichen Fallstricke
+verborgen sein können.
+
+Das jüngere weidende Kamel hatte eine Kugel in den Bauch erhalten und
+bekam eine zweite in den Hals, als es sich erhob, um sich den anderen
+zuzugesellen.
+
+Als wir es erreichten, lag es auf allen vier Knien und kaute an dem,
+was es noch zwischen den Zähnen hatte. Manchmal erhob es sich auf
+den Hinterfüßen, fiel dann aber, weil ihm die Vorderbeine den Dienst
+versagten, auf die Seite. Der Blick war ruhig und resigniert, ohne
+Furcht oder Verwunderung; nur wenn man ihm über die Nase strich,
+versuchte es zu beißen. Es glich auffallend den zahmen Kamelen aus
+Singer und hatte gerade angefangen, Wolle zu verlieren. Nachdem
+es von verschiedenen Seiten photographiert worden war (Abb. 82),
+öffnete ihm Abdu mit einem kräftigen Schnitte die Adern am Halse;
+das Blut spritzte in einem dicken Strahle heraus, es folgten einige
+Todeszuckungen, und dann ging dieser Sohn der Wüste, der noch vor ein
+paar Minuten so friedlich und ruhig in dieser einsamen Gegend geweidet,
+in die ewigen Weidegründe ein. Die anderen waren unseren Blicken schon
+entschwunden. Abdu Rehim war selig, seinen alten Vater nun mit einem
+großen Vorrate von Kamelfleisch überraschen zu können.
+
+Das erlegte Kamel war ein etwa vierjähriges Männchen. Wie bei den
+zahmen, kann man bei den wilden Kamelen das Alter mit ziemlich großer
+Sicherheit am Aussehen der Vorderzähne erkennen. Daß es bei einer
+Herde weilte, in der ein Bughra das Szepter führte, läßt sich dadurch
+erklären, daß es ein für allemal durch einen scheußlichen Biß in den
+Nacken gezüchtigt worden und überdies noch so jung war. Sonst weiden
+Bughrakamele nur während des Sommers friedlich zusammen, in der
+Brunstzeit duldet keines ein anderes Männchen in seiner Nähe.
+
+Die Kamele aus Singer wurden nachts angebunden und tags bewacht, sonst
+wären sie heimgelaufen. Ihr Ortssinn ist scharf entwickelt, und sie
+würden sich selbst dann dorthin finden, wenn man sie in eine ihnen ganz
+unbekannte, dreißig Tagereisen von Singer entfernte Gegend führte. Abdu
+versicherte, es seien die Kamele gewesen, die uns im Dunkeln an jenem
+Abend, als wir in der Steinwüste lagerten, direkt nach Altimisch-bulak
+geführt hätten, und sie würden sicher weitergegangen sein und die
+Quelle gefunden haben, wenn ich nicht Halt kommandiert hätte.
+
+Der Reichtum an wilden Kamelen am Fuße des Kurruk-tag wechselt in
+verschiedenen Jahren sehr. Werden sie in der Gegend von Luktschin sehr
+von Jägern bedrängt, so begeben sie sich hierher und umgekehrt. In
+diesem Jahre waren sie zahlreich. Läßt man sie in Ruhe, so besuchen sie
+die Quellen alle drei Tage. Eine Herde von acht Kamelen kam von Süden
+her an die unterste Eisscholle, um Eis zu kauen. Die Männer kamen mit
+ihren Flinten erst dorthin, als die Tiere schon wieder fort waren.
+
+[Illustration: 101. Jugend am Ufer des Tarim. (S. 254.)]
+
+[Illustration: 102. Malenki und Maltschik. (S. 254.)]
+
+[Illustration: 103. Dünen auf dem rechten Tarimufer. (S. 258.)]
+
+[Illustration: 104. Gewaltige Sanddünen am rechten Tarimufer. (S.
+258.)]
+
+
+
+
+Einundzwanzigstes Kapitel.
+
+Der frühere See Lop-nor.
+
+
+Unsere Zelte wurden zwischen Tamarisken und Schilf unmittelbar neben
+der Quelle aufgeschlagen. Nach der Wüstenwanderung war dies ein
+reizender, einladender Lagerplatz, und ein Genuß war es zu sehen, wie
+die Kamele und mein Pferd in der üppigen Weide schwelgten und von Zeit
+zu Zeit an die Quelle kamen, um an der Eisrinde zu knabbern. Hier
+wollten wir einige Zeit bleiben, um die Tiere zu der bevorstehenden
+Wüstenreise nach Süden Kräfte sammeln zu lassen. Wir selbst litten
+beinahe Mangel an Nahrungsmitteln. Reis und Brot waren allerdings noch
+im Überfluß vorhanden, aber bekommt man weiter nichts, so wird das
+Menü sehr einförmig. Tschernoff und ich konnten uns nicht überwinden,
+Kamelfleisch zu essen, das den Muselmännern jedoch gut schmeckte.
+
+Die Leute aus Singer sehnten sich nach Hause, aber es gelang mir
+dennoch folgendes Übereinkommen mit ihnen zu treffen. Melik und sein
+jüngerer Bruder sollten mit vier Kamelen in Altimisch-bulak bleiben,
+während Abdu uns mit den übrigen vier Kamelen zwei Tagereisen weit
+begleitete, um unseren Kamelen die Last zu erleichtern und Säcke mit
+Eis zu transportieren. Weiter wagte er nicht mitzukommen; er hatte
+riesigen Respekt vor der Wüste, die er nicht kannte.
+
+Vom 23.-27. März blieben wir in dieser wunderbaren Oase, der
+herrlichsten, die ich je besucht hatte. Nach dem angestrengten Marsche
+von Jardang-bulak hierher war es schön sich auszuruhen. Die Atmosphäre
+war in Aufruhr, aber das genierte mich wenig; mein Zelt war von
+undurchdringlichem Kamisch und Tamarisken umgeben, und lieblich klang
+es, wenn der Wind durch das Dickicht ringsum sauste und pfiff.
+
+Unsere Jäger streiften nach Wildenten und Antilopen umher, aber mit
+beiden Wildarten war es hier gleich schlecht bestellt. Ein einsames
+Kamel kam von Nordwesten nach der Quelle herunter; einige von Abdus
+Kamelen wurden, von ihren Packsätteln befreit, auf den Sai getrieben
+und gingen dem wilden neugierig entgegen. Es näherte sich vorsichtig,
+beobachtete unverwandt die unseren und hatte entschieden die Absicht,
+sich zu ihnen zu gesellen. Dann aber kam es auf andere Gedanken, kehrte
+um und verschwand im Westen.
+
+Nur ein Fuchs, der an der Kamelleiche geschmaust hatte, wurde die Beute
+der Jäger. Er hatte ein großes Fleischstück im Maul und wollte damit
+wohl in seinen Bau gehen, als er statt dessen ins Gras beißen mußte.
+
+Ich benutzte die Ruhetage zu einer astronomischen Beobachtung in
+mehreren Serien und zum Lesen. Die Luft fing an, frühlingshaft
+zu werden. Am 25. hatten wir mittags +17,2 Grad, obgleich die
+Minimaltemperatur in der Nacht vorher auf -7,1 Grad heruntergegangen
+war. Abdu Rehim bereicherte meine Kenntnisse in der Geographie der
+Gegend und zählte die Namen aller Quellen, die er kannte, auf, wobei
+er auch ihre Lage zueinander genau beschrieb. Von der Zuverlässigkeit
+seiner Angaben erhielt ich ein Jahr später deutliche Beweise. Er sagte
+mir nämlich, daß er nach Osten hin nur drei namenlose Quellen in einer
+Entfernung von zwei kleinen Tagereisen jenseits Altimisch-bulak kenne.
+Ich fand sie alle drei, und sie retteten uns im rechten Augenblick aus
+einer kritischen Lage. Ferner beschrieb er alle alten Wege, die er im
+Kurruk-tag kannte. Sie werden durch Steinpyramiden bezeichnet, welche
+die Singerleute „Ova“ (das mongolische Wort „Obo“) nennen. Ein solcher
+Weg führte über Singer nach Südsüdwest und ist wahrscheinlich mit dem
+alten Weg der chinesischen Steuereinnehmer nach dem Lop-nor identisch.
+
+Nachdem alle Vorbereitungen getroffen, ein großer Eisvorrat und vier
+Tagare (Säcke) Kamisch beschafft worden waren, brachen wir am Morgen
+des 27. März wieder auf.
+
+Unsere Absicht war, die Lopwüste von Norden nach Süden zu durchqueren
+und dabei einen klaren Überblick über die Ausdehnung des früheren Sees
+und unwiderlegliche Beweise für das Vorhandensein des Seebeckens zu
+erhalten. Schon durch den Marsch im Bette des Kurruk-darja und die
+Feststellung, daß dieser schließlich in einen See mündete, war die
+Richtigkeit der chinesischen Karten, sowie der Ansichten v. Richthofens
+und meiner eigenen in dieser geographischen Streitfrage bewiesen
+worden; es blieb nur noch übrig, ein Profil der Gegend, wo der See sich
+früher ausgedehnt hatte, zu erlangen.
+
+Mit eigentlichen Gefahren war diese neue Wüstendurchquerung nicht
+verknüpft. Die Entfernung nach dem Kara-koschun, wo wir Wild und
+weiter westwärts auch Lopfischer finden sollten, ließ sich in einer
+Woche zurücklegen, und selbst wenn der mitgenommene Wasservorrat sich
+als unzureichend erwies, würden wir kaum vor Durst verschmachten
+können. Die Tagare waren so dicht mit Eis gefüllt, daß alle Ecken
+straff gespannt waren; doch wie wir sie auch vor der Sonne zu
+schützen suchten, ein paar Eimer vertropften wohl während des ersten
+Tagemarsches.
+
+Wir zogen das Bett des Rinnsals von Altimisch-bulak hinunter nach
+Ostsüdost. Der Quellbach verschwindet schon etwa 100 Meter vom Lager
+unter Sand und Schutt. In einer gleich links liegenden Rinne, wo
+auch eine kleine Quelle aufsprudelte, ließ sich gerade, als wir dort
+vorbeizogen, eine Schar Enten nieder. Tschernoff schlich sich mit der
+Doppelflinte dorthin und erlegte fünf Stück mit einem Schusse; sie
+waren recht fett und eine willkommene Verstärkung unseres mageren
+Proviants.
+
+Die 30 Kilometer lange Tagereise führte uns vom Fuße des Gebirges
+auf die ebene Wüste hinunter, wo Tonformationen drei verschiedene
+Stockwerke bilden. Das unterste bilden die Bodenfläche oder die Rinnen,
+in denen wir nach Südwesten hinziehen, das mittlere die gewöhnlichen
+Jardang von 2 bis 3 Meter Höhe, welche die Hälfte des ganzen
+Wüstenareales einnehmen; das oberste besteht aus mächtigen Tischen,
+Türmen und Würfeln von rotem Tone, die sich 15-20 Meter über den Boden
+erheben und östlich von unserem Wege am zahlreichsten sind. Sie stehen
+hier in langen Reihen und sehen Mauerruinen so täuschend ähnlich, daß
+wir sie ein paarmal ganz nahe betrachten mußten, um uns vom Gegenteil
+zu überzeugen.
+
+Es ist beachtenswert, daß die Rinnen zwischen den Jardangrücken in
+jeder Hinsicht den Bajiren der Tschertschenwüste entsprechen. Beide
+eigentümliche Terrainformationen verdanken ihre Entstehung dem Winde.
+
+Nach Osten hin erscheint keine eigentliche Fortsetzung des Kurruk-tag,
+sondern nur ein isolierter Bergstock. Ich hatte allen Grund, die
+gewaltige Bergkette, die in dieser Richtung auf unseren Karten des
+innersten Asien angegeben ist, schon jetzt als apokryph zu betrachten.
+
+Die Wüste ist gänzlich unfruchtbar, nicht einmal dürres Holz kommt vor.
+Schnecken liegen hier und dort, aber nirgends so zahlreich wie weiter
+westlich.
+
+Während des Marsches am 28. veränderte sich das Aussehen des
+Seebeckens. Schnecken wurden immer zahlreicher, und toter Wald trat
+wieder ziemlich häufig auf. In den Tonablagerungen sind noch zwei
+Stockwerke zu unterscheiden. Sie lassen verschiedene Perioden und den
+verschiedenen Wasserstand in dem früheren See erkennen und enthalten
+auch Schneckenschalen. In dem Maße, wie der Wind an dem Tone frißt
+und zehrt, fallen die Schnecken heraus, und der Boden ist oft ganz
+weißpunktiert von ihnen. Eine dünne Sandschicht, selten einen Fuß
+dick, bedeckt stellenweise den Boden. Eine kleine eiserne Tasse wurde
+gefunden, und Scherben von Tongefäßen sind so häufig, daß wir ihnen gar
+keine Aufmerksamkeit mehr schenken. Darüber steht toter Wald in einem
+Gürtel, den man deutlich nach beiden Seiten verfolgen kann und der eine
+wichtige, lange bestehende Uferlinie des Lop-nor bezeichnet.
+
+So schritten wir zwischen den Tonrücken hin, während das Wasser in
+beunruhigender Weise aus den Eistagaren tropfte. Es war erst 3 Uhr,
+als Tschernoff und Ördek, die zu Fuß vorausgingen, um den besten Weg
+auszusuchen, stehenblieben und uns zu sich riefen. Sie hatten die
+Ruinen einiger Häuser gefunden!
+
+Die Rinne, der wir gefolgt waren, hatte uns gerade zu dieser
+merkwürdigen Entdeckung hingeführt; wären wir einige hundert Meter
+westlicher oder östlicher in die Wüste hineingezogen, so hätten wir
+die Ruinen nicht sehen können, um so mehr als sie dem gewöhnlichen
+toten Walde so sehr glichen, daß man dicht davor stehen mußte, um zu
+erkennen, was es war: menschliche Wohnungen am Nordufer des Lop-nor!
+
+Natürlich schlugen wir sofort das Lager auf und sahen uns den Platz
+erst flüchtig an, um einen allgemeinen Überblick zu gewinnen. Drei
+Häuser hatten hier gestanden, aber ihre mächtigen Balken und Pfosten,
+ihre Dächer und Bretterwände waren eingestürzt, arg von der Zeit
+und den Stürmen mitgenommen und teilweise im Sande begraben. Die
+Grundbalken hatten jedoch ihre Lage noch beibehalten, so daß ich leicht
+einen Grundriß der Häuser zeichnen und ihre Maße nehmen konnte.
+
+Ein Umstand, der sogleich ein recht bedeutendes Alter angab, war,
+daß die Gebäude auf Tonsockeln (Abb. 83) standen, die 2½ Meter
+hohe Hügel bildeten, an Areal und Form gleich der unteren Fläche der
+Häuser. Ursprünglich waren diese auf ganz ebenem Boden erbaut gewesen,
+welcher aber, nachdem er ausgetrocknet, vom Winde so ausgehöhlt und
+abgefeilt worden war, daß nur die von den Häusern geschützten Teile
+stehenblieben. Scherben von Tongefäßen und kleine irdene Tassen, wie
+sie noch heute vor den Buddhabildern oder an anderen heiligen Orten
+hingestellt werden, lagen massenweise umher. Auch einige chinesische
+Münzen und ein paar eiserne Äxte wurden gefunden.
+
+Bei dem östlichsten dieser drei Häuser fanden wir beim Graben
+verschiedene merkwürdige Holzschnitzereien, die zur Verzierung seiner
+Wände gedient hatten. Darunter war das Bild eines Königs mit einer
+Krone auf dem Kopfe und einem Dreizacke in der Hand, sowie ein Mann
+mit einem Kranze, außerdem allerlei Muster und Ornamente, Gitter und
+Lotosblumen, alles kunstfertig geschnitzt, aber sehr von der Zeit
+mitgenommen. Von den verschiedenen Mustern wurden Proben beiseite
+gelegt, die um jeden Preis mitgenommen werden mußten.
+
+In Südosten erhob sich ein Tora, das wir besuchen mußten, um
+nachzusehen, ob auch dort Entdeckungen zu machen wären. Es war
+kuppelförmig und teilweise eingestürzt; wahrscheinlich war es ein Weg-
+oder Signalzeichen gewesen (Abb. 84). Drei andere ebensolche bildeten
+mit dem ersten dieselbe Figur wie die vier Hauptsterne im Sternbilde
+des Löwen; die Entfernungen zwischen ihnen betrugen 5-7½ Kilometer.
+Weitere Spuren von alten Häusern trafen wir nicht. Die Nacht hatte
+schon ihren dunkeln Schleier über die Wüste gebreitet, als wir nach dem
+großen Signalfeuer des Lagerplatzes zurückkehrten, müde und erschöpft
+von dreistündiger Wanderung auf ungünstigem Terrain, denn alle die
+unzähligen Jardang mußten unter rechten Winkeln gekreuzt werden.
+
+Indessen hatten wir so durch eine glückliche Fügung die Fortsetzung
+des Kömur-salldi-joll gefunden, jenes alten Weges, der von Korla am
+Nordufer des Lop-nor entlang nach Sa-tscheo und Peking führte.
+
+Abdu Rehim sollte uns jetzt verlassen und seine Bezahlung erhalten.
+Sein Lohn belief sich auf 1½ Jamba, was allerdings viel war, aber
+durch seine vortrefflichen Dienste und die unschätzbaren Aufklärungen,
+die er mir gegeben hatte, mehrfach aufgewogen wurde. Chodai Kullu
+erhielt den Auftrag, ihn nach Altimisch-bulak und Singer zu begleiten
+und sich von dort mit den Holzschnitzereien auf irgendeine Weise nach
+Tura-sallgan-ui zu begeben. Er entledigte sich seines Auftrages wie ein
+ganzer Mann und erreichte das Hauptquartier lange vor uns. Als er dort
+ankam, erzählte er, er habe in Altimisch-bulak ein Kamel getötet, wurde
+aber gehörig ausgelacht, da man dies für erlogen hielt; keiner von uns
+hatte ihn auch nur einen Hasen töten sehen. Er hatte jedoch später
+Gelegenheit, nicht nur zu beweisen, daß er die Wahrheit gesprochen,
+sondern auch, daß er ein sehr guter Schütze war.
+
+Am folgenden Morgen zogen die beiden Männer nach Norden. Sie sollten
+versuchen, in einem Tage nach Altimisch-bulak zu kommen, denn sie
+erhielten keinen Tropfen aus unserem Vorrat, der schon so klein war,
+daß ich leider nicht noch einen Tag an dieser interessanten Stelle
+bleiben konnte. Die Karawane war jetzt noch mehr zusammengeschmolzen.
+Ich hatte nur Tschernoff, Faisullah und Ördek, vier Kamele, ein Pferd
+und zwei Hunde bei mir.
+
+Wir brachen sehr spät auf, denn der halbe Tag ging mit verschiedenen
+Nacharbeiten bei den Ruinen hin. Einige Einzelheiten wurden
+abgezeichnet, ein paar Ansichten aufgenommen und die Maße gemessen.
+
+Das kleinere Haus, das, seiner Ausschmückung und dem Vorkommen der
+Opfertassen nach zu urteilen, ein Tempel gewesen war, maß an den Seiten
+5,6 und 6,6 Meter.
+
+Das größere Haus hatte in seinem Grundriß die Dimensionen 52,4 × 18
+Meter; seine Längsrichtung war Südwest nach Nordost. Seine Grundbalken
+waren über den Hügel, an dem der Wind ständig zehrt, vorgeschoben. Das
+Haus war in mehrere Zimmer von verschiedener Größe geteilt gewesen.
+Wie der Sand das Bauholz konserviert, sah man leicht daran, daß
+verschüttete Teile sehr gut erhalten, die freiliegenden aber übel
+zugerichtet, porös und oft an den Enden besenförmig aufgesprungen sind.
+An viereckigen Löchern in Balkenrahmen (Abb. 85), in welche vertikale
+Eckpfosten hineinpaßten, sah man sogar die Striche des Stiftes, mit
+dem die Form der Löcher einst aufgezeichnet worden war. Mehrere solche
+Pfosten waren hübsch verziert und so rund gedrechselt, daß sie einer
+Menge übereinandergestellter Kugeln und Scheiben glichen.
+
+Einer der äußeren Räume hatte wahrscheinlich als Schafstall gedient,
+denn dort lag eine fußdicke Schicht von Schafdung. Dieser wird von den
+Chinesen zur Feuerung benutzt, aber in einer so holzreichen Gegend,
+wie die Uferwälder des Lop-nor es gewesen sind, wäre eine solche
+Sparsamkeit überflüssig gewesen. Alle Dachteile lagen in je einem
+Haufen auf der Westseite der Häuser. Der letzte Oststurm, dem sie nicht
+länger hatten widerstehen können, hatte sie dorthin geschleudert.
+Alles Bauholz war Pappelholz aus der unmittelbaren Nachbarschaft. Nach
+der Bodengestalt zu urteilen, hatten diese beiden Gebäude und ein
+drittes, das beinahe zerstört war, auf einer Halbinsel in einem See
+oder auf einer Landenge zwischen zwei Seen gelegen. Man hat allen Grund
+zu der Vermutung, daß der Verlauf der Uferlinie beim Lop-nor ebenso
+unregelmäßig und launenhaft gewesen ist wie beim Kara-koschun.
+
+Man wird fragen, welchen Zweck diese Häuser erfüllt und was für Leute
+sie erbaut und dort gelebt haben. Mein erster Eindruck war, daß sie
+eine „Örtäng“ oder größere Poststation auf der Straße nach Dung-chan
+(Sa-tscheo) gebildet haben. Eingehenderes darüber behalte ich mir für
+ein späteres Kapitel vor.
+
+Während ich und Tschernoff mit Messungen beschäftigt waren, hatten die
+beiden anderen Männer von frühmorgens an die Umgegend abgestreift, ohne
+noch mehr Entdeckungen zu machen. Daher wurden die Kamele beladen,
+und wir zogen nach Südwesten, in einer durch die Lage der Jardang mit
+absoluter Notwendigkeit vorgeschriebenen Richtung; wir mußten den
+zwischen ihnen vom Winde ausgemeißelten Furchen sklavisch folgen. Die
+Schwellen werden jedoch allmählich niedriger, und unausgebildete Dünen
+treten auf. Toter Wald ist sehr häufig, aber er steht in Gehölzen, die
+sicher Inseln in dem alten See gewesen sind. Welch ein Unterschied
+gegen den Kara-koschun, an dem es jetzt keine einzige Pappel gibt.
+Milliarden von Schnecken liegen umher, und die harten, scharfen
+Kamisch- und Binsenstoppeln sind nicht gut für die Fußschwielen der
+Kamele. Solche Kamischstoppeln werden auch stehenbleiben, wenn der
+Kara-koschun einst austrocknet.
+
+Darauf hört der Sand wieder auf; es war nur ein erster Gürtel, den wir
+eben gekreuzt hatten. Alles ist tot und öde, erstickt und verdorrt in
+dieser Gegend, die früher so reich bewässert und so reich an üppiger
+Vegetation war.
+
+Nach einer Wanderung von 20 Kilometer blieben wir in einer
+unbedeutenden Bodensenkung, wo ein paar lebende Tamarisken wuchsen und
+wir also Hoffnung hatten, an das Grundwasser zu kommen. Als aber der
+Brunnen gegraben werden sollte, stellte sich heraus, daß der Spaten bei
+den Ruinen vergessen worden war. Ördek, der sich diese Nachlässigkeit
+hatte zuschulden kommen lassen, erbot sich sofort, ihn zu holen.
+
+Ich hatte großes Bedenken, ob ich ihm erlauben sollte, allein einen so
+weiten Gang zu machen, noch dazu in einer Jahreszeit, wo man nie vor
+Sandstürmen sicher ist; da aber unser Wasservorrat gering war und der
+Spaten für uns alle noch von unschätzbarem Nutzen sein konnte, sagte
+ich ihm, er solle sich aufmachen und unseren Spuren folgen. Doch sollte
+er sich erst durch ein paar Stunden Schlaf stärken, und ich ermahnte
+ihn, wenn er uns nicht wiederfände, nur gerade nach Süden zu gehen, da
+er dann früher oder später das Ufer des Kara-koschun erreichen würde.
+Wir selbst konnten nicht auf ihn warten, um ihm aber seine Aufgabe zu
+erleichtern, gab ich ihm das Pferd. Nach einem tüchtigen Abendessen
+ritt er um Mitternacht durch die Wüste nach Norden zurück.
+
+Was ich gefürchtet hatte, trat schon gegen 2 Uhr morgens ein; ein
+halber Sturm aus Nordost weckte mich und hielt den ganzen Tag mit
+Sandgestöber und Staubnebel an. Man sah nicht weit vor sich, und die
+Spuren konnten nicht lange erhalten bleiben. Ich hoffte jedoch, daß
+Ördek bei Beginn des Sturmes so klug gewesen sei, den Spaten seinem
+Schicksal zu überlassen und sofort umzukehren.
+
+Uns, die wir nach Südwesten weiterzogen, war der Sturm willkommen; er
+schob uns, erleichterte das Gehen und nahm einen Teil der stechenden
+Glut der Mittagssonne fort. Die Wüste wurde jetzt immer öder; sogar der
+tote Wald hörte fast ganz auf, der Sand wurde zusammenhängend und nur
+selten von kleinen Bajiren unterbrochen, die Dünen waren aber nur noch
+5 Meter hoch. Von ihnen aus sieht man, daß der Sand gegen Westen und
+Südwesten, wohin der Wind ihn beständig trägt, immer höher wird. Das
+tote Kamisch, an dem wir dann und wann vorüberziehen, ist vom Winde
+nach Südwesten niedergeschlagen, als sei es mit einer Riesenbürste nach
+dieser Seite niedergebürstet worden.
+
+An einem Punkte, wo wir ein paar Holzstücke fanden, wurde das Lager Nr.
+18 aufgeschlagen. Während wir noch damit beschäftigt waren, stellte
+sich der prächtige Ördek wieder ein; er brachte den Spaten mit und
+führte das Pferd, das, wie er selbst, von dem 60 Kilometer weiten
+anstrengenden Ritte auf schlechtem Terrain vor Müdigkeit beinahe
+umfiel. Das Allermerkwürdigste aber war die wichtige Neuigkeit, die
+Ördek, nachdem er sich eine Weile ausgeruht hatte, zu erzählen wußte.
+
+Er hatte sich während des Sturmes verirrt, unsere Spuren verloren und
+einen Tora erreicht, in dessen Nähe er die Ruinen mehrerer reich mit
+geschnitzten Planken verzierter Häuser gefunden hatte (Abb. 86, 87).
+Dort hatten auch irdene Tassen, Spieße, Beile, Metallstücke, Münzen und
+dergleichen gelegen, von denen er einiges mitgenommen hatte und uns
+nun zeigte. Er hatte auch zwei geschnitzte Planken mitgenommen, und
+zwar die besten der vorhandenen, und dann das Suchen nach der ersten
+Ruinenstelle fortgesetzt, die zu finden ihm schließlich auch gelungen
+war. Vergebens hatte er die Bretter auf das Pferd zu binden versucht;
+dieses scheute so davor, daß er sie schließlich selbst hatte tragen
+müssen. Seine Schultern waren noch blutig von den Stricken. Als er
+unser Lager Nr. 17 erreicht hatte, versuchte er wieder, seine Last
+dem Pferde aufzubürden, dieses riß sich aber los und ging durch. Nach
+vielen Bemühungen gelang es ihm, das Pferd wieder einzufangen; er war
+aber so müde, daß er die Bretter liegen ließ und uns aufsuchte.
+
+Daß diese Nachricht das Programm für das nächste Jahr umgestalten
+würde, war mir sofort klar. Zunächst wurde der arme Ördek beauftragt,
+den zurückgelassenen Fund am nächsten Morgen zu holen, welcher Auftrag
+schon ausgeführt war, bevor wir aufbrachen. Die Planken waren sehr gut
+erhalten und mit geschnitzten Blumen und Girlanden verziert. Ich hatte
+jetzt sehr große Lust zum Umkehren, was jedoch eine Torheit gewesen
+wäre, da unser Wasservorrat nur noch für ein paar Tage reichte und die
+warme Jahreszeit mit großen Schritten nahte.
+
+[Illustration: 105. Sandsturm auf dem Beglik-köll. (S. 263.)]
+
+[Illustration: 106. Die Fähre sitzt auf dem Tuwadaku-köll im Schilfe
+fest. (S. 261.)]
+
+[Illustration: 107. Frauen und Kinder in Tscheggelik-ui. (S. 273.)]
+
+[Illustration: 108. Stall in Tscheggelik-ui. (S. 273.)]
+
+Nein, der ganze Reiseplan mußte geändert werden. Nach den Ruinen
+mußte ich zurückkehren, koste es was es wolle, aber den Sommer über
+wollten wir nach Tibet gehen und uns im Winter dann wieder nach dem
+Lop-nor begeben. Würden wir die Stelle in dieser ebenen Wüste, wo
+das Auge vergebens nach einem einzigen Anhaltspunkte sucht, auch
+wiederfinden? Ich zweifelte nicht daran, denn ich vertraute fest auf
+meine Ortsbestimmungen. Wenn ich es nur übernähme, den Weg nach
+Altimisch-bulak zu zeigen, so würde Ördek, wie er fest behauptete, die
+von ihm so glücklich entdeckten Ruinen ganz bestimmt wiederfinden.
+Schon jetzt sehnte ich mich dorthin zurück, mußte mich aber noch acht
+Monate gedulden. Ich segnete den Spaten, der vergessen worden war und
+dadurch Veranlassung zu dieser großartigen Entdeckung gegeben hatte.
+
+31. März. Die Temperatur ist nachts noch unter 0 Grad, bei Tage aber
+steigt sie bedeutend. Der Sturm hatte aufgehört, und die Luft war klar,
+der Himmel prunkte in der reinsten türkisblauen Farbe, die grell gegen
+die trostlos graugelbe Wüste absticht. Der tote Wald hat aufgehört;
+Bruchstücke, die sein ehemaliges Vorhandensein ahnen lassen, kommen
+nicht mehr vor; wir haben das Vegetationsgebiet des Lop-nor hinter uns
+gelassen. Ich gehe zu Fuß voraus und gewinne dadurch Zeit; denn mein
+Vorsprung übt eine gewisse Zugkraft auf die Karawane aus, und außerdem
+trage ich als Führer die Verantwortung. Wir pflegten den Marsch barfuß
+anzutreten, aber die Füße sind auf dem erhitzten Boden bald wie
+verbrannt, und man muß wieder Schuhe anziehen. Abkühlung spürt man nur,
+wenn man als letzter im Zuge in die Spuren der Kamele tritt, die den
+nachtkalten Sand aufgewühlt haben.
+
+Die Lopwüste ist öder als die Tschertschenwüste, denn dort fanden wir
+wenigstens Weide und Brunnenwasser; hier hätte das Graben nirgends
+Erfolg gehabt. Bei einer toten Tamariske lagerten wir. Die Kamele sind
+müde und matt, denn seit fünf Tagen haben sie nicht getrunken; am
+Morgen des 1. April aber erhielten sie jeder einen Eimer Wasser, worauf
+der Vorrat nur noch einen Tag reichte. Auch den letzten Kamischsack
+durften sie leer fressen. Wir mußten nach dem Kara-koschun eilen, wohin
+es noch 60 oder 70 Kilometer sein mußten. Wie gewöhnlich brach ich
+früher auf und ging direkt nach Süden. Wüste Dünen auf allen Seiten,
+dieselbe trostlose Wüstenperspektive, die ich schon so oft gesehen
+hatte.
+
+So erreichte ich eine hohe Düne, auf der ich mich ermüdet niedersetzte
+und den Horizont mit dem Fernglase absuchte. Lauter Sandrücken.
+Doch was war dies! Im Südosten breiteten sich zwischen Dünen und
+Jardangterrassen große Wasserflächen aus. Wasser in dieser Wüste! Ich
+traute kaum meinen Augen; es mußte eine Luftspiegelung sein!
+
+Jetzt mußte ich mich sputen und eilte sofort dorthin. Nein, es war
+richtig ein See mit den bizarrsten Einschnitten, Buchten, Inseln,
+Holmen und Sunden, dem tollsten Gewirre von Wasserflächen, wie sie
+nur auf ebenem Terrain zwischen Dünen und vom Winde ausgearbeiteten
+Terrassen entstehen können. Außer ein paar jungen Tamariskensprossen
+auf dem weichen sumpfigen Uferrande und etwa 20 Kamischstengeln war
+die Gegend jedoch ebenso unfruchtbar wie bisher.
+
+Ich ging an dem gebuchteten Ufer entlang nach Südwesten. Der See
+verengerte sich manchmal bedeutend, erweiterte sich aber bald wieder
+zu größeren Flächen. Das Wasser hatte einen leichten Anflug von Salz,
+wurde aber von allen Tieren gern getrunken. Darauf wandte sich unser
+Ufer nach Norden, und wir mußten ihm dorthin folgen, denn eine Furt
+fanden wir nicht, und die Kamele wären im Schlamme versunken.
+
+Der See streckte seine schmalen Buchten wie Finger nach Nordosten
+aus, die uns ärgerliche Umwege verursachten. Der Boden ist feucht und
+schwankt unter den ängstlichen Kamelen; er geht auf und nieder, als sei
+eine Gummihaut über ein verborgenes Wasser gespannt, und man hat das
+Gefühl, als bedürfe es nur eines Loches darin, um die Karawane in den
+Fluten verschwinden zu lassen.
+
+Das Land ist gänzlich unfruchtbar. Der See zeigt einen auffallenden
+Parallelismus mit Bajirmulden und Jardangterrassen, mit Dünen,
+Dünentälern und Windfurchen; alles zieht sich von Nordosten nach
+Südwesten, und ziemlich oft sieht man die Jardangrücken unter dem
+Wasser.
+
+Daß dies nicht der Anfang des Kara-koschun sein konnte, schien mir
+keinem Zweifel zu unterliegen, denn sonst hätte es hier Kamisch im
+Überflusse gegeben. Doch woher kommt dann dieses Wasser? Sein geringer
+Salzgehalt zeigte, daß es ziemlich neu war. Wäre es alt, so sähe
+man hier schon junges aufkeimendes Kamisch, das sich so unglaublich
+schnell mit dem Wasser verbreitet. Ich vermutete, daß der See von dem
+neugebildeten Arme von Schirge-tschappgan herrührte.
+
+So merkwürdig diese Entdeckung auch war, indem sie mich der Lösung
+der verwickelten Lop-nor-Frage einen Schritt näher führte, so hatten
+wir doch unter den gegenwärtigen Umständen wenig Nutzen davon; wir
+bedurften jetzt vor allem der Weide für die Tiere und der Lebensmittel
+für uns selbst, denn wir hatten nur noch Reis und Tee, und bei so
+kärglicher Kost konnten wir nicht anders als hungrig sein. Statt die
+Schritte rasch südwärts nach dem Kara-koschun zu lenken, hatten wir
+uns von diesem unfruchtbaren See aufhalten lassen -- ein richtiger
+Aprilscherz!
+
+Da der See sich immer weiter nach Westen hinzog, beschloß ich Halt zu
+machen, um zu sehen, ob sich keine Furt würde entdecken lassen. Wir
+standen augenscheinlich an einem ganz neuen Wasserarme des Tarim und
+mußten hinüber. Eine Strömung war allerdings nicht wahrzunehmen, wohl
+aber eine ganz frische Wasserlinie, die zeigte, daß der Wasserspiegel
+um einen Meter gesunken war, was seinen Grund im Fallen des Tarim
+während des Winters hatte. Die bedeutenden Dünen, die den See auf allen
+Seiten einrahmen, ja bisweilen kleine Inseln bilden, beweisen, daß sie
+sich an Ort und Stelle befunden haben, als diese Überschwemmung das
+Land unter Wasser setzte. Die Anordnung der Dünen würde sonst eine ganz
+andere sein; sie hätten im Süden und im Südwesten des Sees gefehlt, wo
+sie nun statt dessen am höchsten waren.
+
+2. April. Tschernoff gab sich nicht eher zufrieden, als bis er eine
+90 Zentimeter tiefe Furt mit tragfähigem Sandboden gefunden hatte.
+Den Kamelen gefiel das Bad. Auf der anderen Seite drangen wir wieder
+in hohe Dünen ein, und der See entschwand uns bald aus den Augen. Der
+Sand wurde immer gewaltiger; 8-11 Meter hohe Dünenkämme wurden mit dem
+Nivellierspiegel gemessen.
+
+Die Muselmänner waren mißmutig und glaubten, der See, den wir verlassen
+hatten, sei der Kara-koschun gewesen. Ich selbst begann unwillkürlich
+darüber nachzugrübeln. War es so, dann waren wir verloren! Die Kamele
+keuchten in dem weichen Sande und sahen so melancholisch aus, als
+zerbrächen sie sich den Kopf darüber, warum wir den See sogleich
+verlassen hatten. Die Hitze war unerträglich, und die Sonne schien uns
+gerade ins Gesicht.
+
+So gefährlich war es jedoch nicht. Das Terrain veränderte sein Aussehen
+in erfreulicher Weise. Der Sand nahm ab, ein Gürtel von toten Pappeln
+wurde durchquert, und dann kam einer von lebenden Tamarisken. Vor uns
+erhob sich ein 5 Meter hoher Hügel. Ich sagte Faisullah, er solle mich
+hinaufbegleiten, um den Kara-koschun in Augenschein zu nehmen. Und
+richtig! Von dieser Anhöhe sah man im Südwesten, Süden, Südosten und
+Osten große und kleine Flächen reinen, blauen Wassers, die durch gelbe
+Kamischfelder voneinander getrennt waren.
+
+Auf einer Landzunge in dem nächsten großen See wurden die Zelte
+unmittelbar am Strande aufgeschlagen. Mit Genuß betrachtete ich von
+meinem Zelte aus durch das Fernrohr die Scharen von Gänsen, Enten und
+Schwänen, die auf dem See schwammen und tauchten. Ein Wüstenreisender
+kann sich keine schönere Aussicht träumen. Leider waren die
+Schwimmvögel zu weit vom Ufer entfernt. Aus ihrer Art zu tauchen konnte
+man schließen, daß der See nicht sehr tief war. Sein Wasser war ganz
+süß.
+
+Das Zelttuch flatterte im Seewinde. Welch ein Unterschied gegen den
+Wüstenwind und seinen Staub! Das Wasser plätscherte so herrlich am
+Ufer, und halb träumend lag ich da, über diese jetzt so glücklich
+beendete Fahrt nachdenkend. Das Vorhandensein des Seebeckens des alten
+Lop-nor war festgestellt, ein ehemals bewohnter Ort war entdeckt, ein
+neuer See in der Wüste angetroffen worden. Weder Menschen noch Tiere
+waren dabei verloren gegangen.
+
+Was das Profil quer durch die ganze Lopwüste betraf, so fand ich, daß
+es nicht genügte. Man kann die Ergebnisse des Kochthermometers und des
+Aneroids in einem Lande mit so unbedeutenden Höhenunterschieden nicht
+verwerten. Mein schon gefaßter Entschluß, diese Gegend noch einmal zu
+untersuchen, wurde nur noch fester, denn nur ein Präzisionsnivellement
+des Beckens konnte über die äußerst unbedeutenden Höhenunterschiede
+zwischen dem Lop-nor und dem Kara-koschun Auskunft geben. Ich hatte
+nach meiner früheren Reise gerade deshalb betont, daß der Lop-nor ein
+wandernder See sein müsse, weil dieses ganze Gebiet nahezu in ein und
+derselben Fläche liege.
+
+
+
+
+Zweiundzwanzigstes Kapitel.
+
+Fünfundzwanzig Tage im Kahn.
+
+
+Am 3. April stürmte es den ganzen Tag heftig aus Nordosten. Der See
+lockte mich mit unwiderstehlicher Gewalt; ich wollte mich nach all dem
+erstickenden Sande und der Hitze auf seinen frischen Wogen tummeln
+und seine Tiefe messen, aber wir hatten kein Boot. Hätten wir nur die
+eine Hälfte der Segeltuchjolle mitgenommen, so hätte es damit keine
+Not gehabt. Es mußte sich aber mit den Ziegenlederschläuchen und den
+Leitern, an denen sie befestigt gewesen, ein Floß oder jedenfalls eine
+Art Fahrzeug herstellen lassen, in welchem man mit dem Winde über
+den See treiben konnte. Mit Tschernoff und Ördek ging ich am Strande
+entlang. Die Leitern wurden mit Stricken an zwei Stangen festgebunden,
+und das auf diese Weise hergestellte Floß wurde von den sechs
+Ziegenlederschläuchen getragen, die mit Luft gefüllt waren, die Ördek
+hineingeblasen hatte. Tschernoff und ich nahmen an Bord Platz, jeder
+auf einer Leiter reitend. Als Tschernoff seinen Platz einnahm, wäre
+die ganze Herrlichkeit beinahe umgeschlagen; die Ziegenlederschläuche
+lagen schon auf dem Wasser, die Leitern etwas unter diesem, und wir
+saßen halbnackt da und ließen die Beine ins Wasser herunterhängen.
+Unsere breiten Rücken dienten als Segel. Wir trieben gerade auf das
+Lager zu. Hunderte von Enten flogen, erschreckt durch die ungewöhnliche
+Erscheinung, in lärmenden Scharen auf. Wir mußten uns festhalten
+und balancieren, um nicht zu kentern, wenn die großen Wellen an uns
+vorüberrauschten. Binnen kurzer Zeit waren auch unsere Oberkörper
+völlig durchnäßt, denn jede Schlagwelle ging über das Floß weg und gab
+uns eine ordentliche Dusche.
+
+Die Fahrt dauerte 2½ Stunden. Das Wasser war jetzt weder vollkommen
+süß noch ganz klar, denn von diesem Winde wird aus den östlichen
+Seegebieten stagnierendes Wasser nach Westen getrieben und durch den
+Wellenschlag getrübt.
+
+Beim Lager war der Strand so seicht, daß Ördek eine Strecke weit in
+den See hineinwaten und uns dann an Land ziehen mußte. Wir waren
+derart steifgefroren, daß wir kaum nach dem Feuer hinaufgehen konnten.
+Mich überfiel ein sehr heftiger Schüttelfrost; meine Zähne klapperten
+und die Hände flogen, ich zog die nassen Kleider aus, trocknete mich
+am Feuer und ging dann zu Bett. Erst nach einer Stunde, als ich mich
+wieder warm angezogen und eine große Tasse brühheißen Kaffee getrunken
+hatte, fühlte ich mich am Lagerfeuer wieder einigermaßen normal.
+
+Beim Sonnenuntergang nahm der Himmel einen seltsamen Farbenton an. Er
+leuchtete gelbrot über den Dünen im Norden. Der schon vorher heftige
+Wind schwoll zum richtigen Buran an. In zügelloser Wut stürmten die
+Wogen gegen das Ufer und überschütteten die Zelte mit Spritzwasser.
+Wir mußten mit den Zelten eine Strecke landeinwärts ziehen und ihre
+Befestigungen in der gewohnten Weise verstärken.
+
+Noch einen Tag durften die Kamele sich ausruhen, während der Sturm
+zu heulen fortfuhr. Im Norden und Süden des Kara-koschun flammt der
+Horizont in unheimlichem, brandgelbem Farbentone, in der nordöstlichen
+Verlängerung des Sees aber ist er dunkelstahlgrau, was darauf schließen
+läßt, daß sich die Wasseransammlungen ziemlich weit nach dieser
+Richtung hin erstrecken und daß es dort keinen Flugsand gibt.
+
+Als wir am 5. aufbrachen und am Strande entlang zogen, hoffte ich, daß
+es bis zu den ersten Menschenwohnungen am Kum-tschappgan nicht mehr
+weit sein würde.
+
+Wildenten, Gänse, Schwäne, Taucher, Möwen, Seeschwalben und besonders
+Krähen kommen in Menge vor; Hasen und Igel sind nicht selten. Spuren
+von Füchsen, Rehen, Luchsen und Wildschweinen sieht man beständig an
+den Ufern. Zwei Jäger waren vor einigen Monaten auf dem Eise gewesen;
+ihre Spuren waren in den feuchten Uferlehm eingedrückt.
+
+Längs des Ufers und auch ziemlich weit davon entfernt findet man
+Schneckenschalen und abgestorbenes Kamisch. Daß das Leben aus
+diesen Organismen entflohen ist, beruht darauf, daß sie einer
+längstvergangenen Periode angehören und älter sind als der jetzige See.
+
+Am folgenden Tage wurde die Wanderung längs des Sees fortgesetzt.
+Ich ging schnell zu Fuß voraus, fest entschlossen, nicht eher Halt
+zu machen, als bis wir Menschen träfen. Nach solchen sehnten wir uns
+eigentlich nicht, wohl aber nach Fischen, Geflügel und Eiern und nicht
+zum wenigsten nach einem Boote, mit dem ich die jetzige Ausdehnung des
+Sees untersuchen konnte.
+
+Als ich gegen Abend mitten in den unabsehbaren Sümpfen, die sich
+südlich von unserem Wege ausdehnten, eine gewaltige Rauchwolke
+erblickte, blieb ich daher sofort stehen und erwartete die anderen.
+Sicherlich hatten sich einige Lopfischer dorthin begeben und das dürre,
+vorjährige Schilf angezündet, einmal wohl, weil es ihnen irgendwo
+den Zutritt zu ihren Fischplätzen versperrte, dann aber auch in der
+Absicht, den frisch aufkeimenden Pflanzen Raum zu verschaffen. Während
+wir das Lager aufschlugen, mußte sich Ördek zu Pferd in der Richtung
+nach dem Rauche auf den Weg machen, obwohl ich lebhaft bezweifelte,
+daß er durch dieses Labyrinth von Sümpfen durchkommen würde. Er hatte
+Streichhölzer bei sich, um uns, falls er nicht zu den Lopfischern
+gelangen konnte, dies mittels eines Signalfeuers mitzuteilen.
+
+Tschernoff machte sich mit der Flinte auf der Schulter auf und kam nach
+ein paar Stunden mit einer prächtigen Gans wieder, die er auf einem See
+geschossen hatte und zu der er dann hinausgeschwommen war. Er hatte
+auch das Pferd gefunden, das Ördek angebunden zurückgelassen hatte, um
+seinen Kundschafterweg zu Fuß und schwimmend fortzusetzen. Ördek gelang
+es schließlich doch, eine Fischergesellschaft ausfindig zu machen, und
+er kehrte noch am Abend mit acht Männern und ganzen Säcken voll des
+sehr nötigen Proviantes, bestehend aus drei Gänsen, vierzig Eiern,
+Fischen in Menge, Mehl, Reis und Brot, zurück.
+
+Am 7. zeigten uns die redlichen Lopleute den Weg nach dem
+Kum-tschappgan. Am Kum-tschappgan lagerten wir da, wo sich der Tarim
+in zwei Arme teilt, in den Kum-tschappgan und den Tusun-tschappgan.
+Die Hütten standen noch an derselben Stelle wie 1896, die Verteilung
+der Gewässer war in der Hauptsache dieselbe, und alles war sich
+gleichgeblieben. Ich hatte wieder einen Punkt erreicht, wo ich
+die Marschrouten von dieser und der vorigen Reise vergleichen und
+aneinanderfügen konnte. Während der Nacht trat das in diesen Gegenden
+ziemlich wunderbare Phänomen ein, daß ein ziemlich heftiger Regen fiel
+und auf mein Zelt klatschte. Meine Leute, die unter freiem Himmel
+lagen, eilten in die nächste Sattma.
+
+Schon am folgenden Morgen stellten sich zwei alte Bekannte ein,
+Numet Bek von Abdall und Tokta Ahun, der Sohn des alten redlichen
+Kuntschekkan Bek, der vor zwei Jahren tief betrauert von all seinen
+Leuten gestorben war. Numet Bek sollte uns jetzt in vieler Beziehung
+von großem Nutzen sein. Er wurde beauftragt, für die Kamele und das
+Pferd zu sorgen, sie nach den Weideplätzen von Mian zu schicken, sie
+dort bewachen zu lassen und uns später, wenn wir nach Tibet zogen, in
+gutem Zustande wieder abzuliefern. Ferner sollte er uns Proviant und
+Führer für die Rückreise nach Tura-sallgan-ui, die ich in Kähnen zu
+unternehmen beabsichtigte, besorgen.
+
+Die Ruhezeit in Kum-tschappgan wurde zu zwei großen Bootexkursionen
+benutzt, die erste nach derselben Richtung wie 1896, die zweite durch
+den Tusun-tschappgan und über den südlichen Teil des Sees in Gegenden,
+die ich bisher noch nicht besucht hatte.
+
+Tschernoff und ich nahmen in einem großen Kahne mit drei Ruderern
+Platz, Faisullah mit dem Proviant und zwei Ruderern in einem kleineren.
+Wie Aale glitten wir durch das Schilf, das vom Regen naß war und uns im
+Vorbeifahren ab und zu eine Dusche gab (Abb. 88, 89).
+
+Es war unmöglich, diese Landschaft von Wasser, Sand und Schilf
+wiederzuerkennen, so hatte sie sich in den vier Jahren verändert.
+Seen, die damals offen und frei dalagen, waren jetzt ganz mit Kamisch
+zugewachsen, während sich neben ihnen andere gebildet hatten, die neue
+Namen trugen (Abb. 90). Kum-köll (Sandsee) und Jangi-köll (neuer See)
+sind Benennungen, die für sich selbst sprechen. Alles ist in diesem
+flachen Anschwemmungsgebiet veränderlich. Die größten während dieser
+Fahrt gemessenen Tiefen betrugen 4,85 und 5,15 Meter; sie befanden sich
+in einem ganz neugebildeten Seebecken namens Tojagun, was beweist, daß
+es neben dem Kara-koschun tiefere Senken geben kann, während ältere
+Teile des Sees allmählich versanden und zuwachsen.
+
+Auf der ganzen Tagereise sahen wir Massen von toten Fischen, die
+bald auf dem Wasser trieben, bald im Schilf staken, bald, den Bauch
+nach oben, weiß auf dem Grunde schimmerten. In einigen Durchgängen
+war die Luft mit dem ekelhaften Gestanke verfaulter Fische erfüllt,
+die immer zahlreicher wurden, je weiter wir nach Osten kamen; man
+sagte mir, die Massen von Krähen, die wir überall erblickten, seien
+dadurch hierhergelockt worden. Einige unserer Ruderer glaubten, eine
+unbekannte Krankheit habe unter den Fischen gewütet, ein anderer aber
+erklärte, die große Sterblichkeit sei auf die ungewöhnliche Schneemenge
+des letzten Winters zurückzuführen. Der Schnee hatte fußhoch auf dem
+Eise gelegen, und unmöglich ist es nicht, daß dies den Fischen in
+den seichten Becken geschadet hat. Mit Recht klagten die Leute über
+Fischmangel und konnten sich nicht erinnern, je ein so schlechtes
+Fangjahr gehabt zu haben.
+
+Wir ruderten auf neuen Wasserwegen auf den +Kanat-baglagan-köll+
+hinaus, wo das Schilf so dicht und dick stand, daß jedes weitere
+Vordringen eine absolute Unmöglichkeit war. Im Jahre 1896 konnte ich
+dieses Becken, das jetzt zugewachsen war, noch ungehindert befahren.
+
+[Illustration: 109. Die umgebaute Fähre. (S. 274.)]
+
+[Illustration: 110. Der Bau der Pontonfähren. (S. 274.)]
+
+[Illustration: 111. Sattma in Abdall. (S. 275.)]
+
+[Illustration: 112. Die Pontonfähren auf dem Wege nach Abdall. (S.
+275.)]
+
+Auf der Rückfahrt schaute ich mit großer Spannung zu, wie die Ruderer
+einen großen schönen Schwan mit den Händen griffen. Wir sahen ihn
+auf dem offenen Wasser am Schilfrande schwimmen; er tauchte aber
+unter, als wir uns näherten. Die Leute senkten die Ruder mit aller
+Kraft ins Wasser und ruderten nach der Stelle hin, wo der Schwan
+sich wahrscheinlich wieder zeigen würde, was an den Ringeln auf der
+Wasserfläche zu sehen war. Als der Schwan wieder emporkam, waren
+wir ihm so nahe, daß er sich in seiner Verwirrung in das Schilf
+hineinbegab; damit war er verloren, denn dort konnte er nicht die
+Flügel zur Flucht ausbreiten. Der Kahn flog ihm wie ein Pfeil nach; der
+alte Jaman Kullu sprang ins Wasser, das ihm bis an die Hüften reichte,
+fiel über das arme Tier her und schleppte dann seine Beute in das Boot.
+Der Schwan war so verängstigt, daß er mit schlaffem Halse und hängendem
+Kopfe wie tot dalag; er wurde sofort getötet.
+
+Zahllose Wildenten und Gänse bevölkerten den See. Vielleicht hatten
+sich einige von ihnen schon zu Prschewalskijs Zeit hier als Junge
+aufgehalten. Die Generation der menschlichen Eingeborenen, die damals
+in ihrer vollen Kraft stand, ist jetzt zu Greisen und Greisinnen
+geworden, und ein neues Geschlecht ist seitdem herangewachsen. Nicht
+einmal die Seen sind dieselben geblieben, sie sind geschrumpft
+und zugewachsen und haben die Lage gewechselt; die Sanddünen sind
+vorgerückt, alles hat sich in der kurzen Zeit von 20 Jahren verändert,
+und das Bild, das man von einem flüchtigen Besuche mitnimmt, ist, genau
+genommen, nur eine Momentphotographie.
+
+Wir verbrachten die Nacht an einem sehr notwendigen Feuer auf einem
+kleinen Eilande im „See der vergessenen Fischhaut“ und kehrten am
+nächsten Tage bei starkem Winde und hohem Seegange nach Kum-tschappgan
+zurück. Faisullah, der nie in einem Boote gesessen hatte, wurde bleich
+und sehnte sich, wieder an Land zu kommen.
+
+Am 10. April wurde an dem Punkte, wo der Fluß sich in Sümpfe auflöst,
+die Wassermenge des Tarim gemessen; sie betrug 29,7 Kubikmeter in der
+Sekunde. Im Jahre 1896 hatte ich an derselben Stelle und um dieselbe
+Zeit 50,5 Kubikmeter gefunden. Der bedeutende Unterschied beruht teils
+auf dem neugebildeten Schirge-tschappgan-Arme, teils auf einer Menge
+von natürlichen Kanälen, die sich seit meinem vorigen Besuche oberhalb
+des Kum-tschappgan vom Hauptflusse abgetrennt haben.
+
+Die Sanddüne, die dem Kum-tschappgan seinen Namen gegeben hat, ist
+10,24 Meter hoch. Die größte Tiefe des Sees beträgt 5,15 Meter. Man
+kann diesen Vertikalunterschied von 15,39 Meter als den größten im
+ganzen unteren Lop-nor-Becken betrachten.
+
+Am 11. April unternahmen wir eine Kahnfahrt nach den südlichen Teilen
+des Kara-koschun, die den nördlichen sehr unähnlich sind. So betrug
+die größte gemessene Tiefe nur 1,90 Meter, aber während des ganzen
+späteren Teiles der Fahrt hatten wir nur 0,3 und noch weniger. Der
+Grund besteht aus feinem gelbem Schlamm, der auf schwarzem Moore oder
+blauem Tone ruht; sobald das Ruder ihn streift, steigt es wie Tinte
+im Wasser auf. Als das Wasser so seicht wurde, daß die Kähne nicht
+mehr darauf schwammen, mußten die Leute aussteigen und sie an Stricken
+weiterziehen; als aber auch dies bald unmöglich war, mußten wir
+umkehren. Man sinkt 10 Zentimeter tief in den Schlamm ein, findet dann
+aber einen festen, aus einer dünnen Salzschicht bestehenden Untergrund.
+Der Sate-köll ist eine ausgedehnte, seichte Wasserfläche mit wenig
+Schilf und liegt ganz in der Nähe des Wüstenweges, der am Südufer von
+Abdall nach Sa-tscheo führt. Weder Seevögel noch Fische gibt es in
+diesen sterilen Seebecken, die zu baldigem Verschwinden verurteilt
+sind; keine Algen bedecken ihren Boden. Während des Sommers trocknen
+sie vollständig aus, und ihr Bett verwandelt sich dann in eine harte,
+rissige Lehmschicht. Der ganze Kara-koschun wandert langsam nach Norden
+zurück.
+
+Den Tag darauf ruderten wir nach Abdall und lagerten auf dem westlichen
+Ufer, wohin auch die Kamele geführt wurden. Der Tarim führte hier
+nicht weniger als 93,3 Kubikmeter in der Sekunde, verlor also auf der
+kurzen Strecke bis Kum-tschappgan 63,5 Kubikmeter, die sich in vielen
+Tschappganen oder Kanälen von dem Hauptflusse abtrennen. Das Tarimdelta
+wandert flußaufwärts, wie auch die Seen, die von den vielen Armen
+gebildet werden. Der Fluß hatte hier jetzt infolge der Eisschmelze
+seinen höchsten Wasserstand und war ungefähr ebenso hoch angeschwollen
+wie beim Hochwasser im Herbst vor dem Zufrieren. Im Sommer steht die
+Wasserfläche volle 2 Meter niedriger.
+
+Eine kurze Tagereise nördlich von der Gegend von Abdall wird die Wüste
+von einem neugebildeten Arme durchschnitten, der von Schirge-tschappgan
+am unteren Tarim ausgeht. Dieser Flußarm war bisher nur von Jägern aus
+Abdall besucht worden; ich wollte eine Karte von ihm aufnehmen. Da das
+Gebiet aber nur mit Kähnen untersucht werden konnte, mußten solche
+auf irgendeine Weise über den Wüstenstreifen, welcher den neuen Arm
+vom Tarim trennte, mitgenommen werden; es handelte sich nun darum,
+wie dies zu bewerkstelligen sei. Einen schweren Kahn auf einem Kamele
+zu balancieren, ist unmöglich, und zwei hintereinander gehende Kamele
+mit zwei Kähnen in der Länge zu beladen, gelang ebensowenig; durch den
+ungleichen Takt ihres Ganges war es ein ständiges Hin- und Herreißen,
+und die Tiere scheuten auch vor diesen ungewöhnlichen Lasten.
+
+Die einzige Möglichkeit war, sie wie Schlitten auf der Erde
+weiterzuziehen, wobei vor jeden Kahn ein Kamel gespannt wurde (Abb.
+91). Die Tiere mußten vorsichtig geführt werden, damit sie nicht
+scheuten und durchgingen. So gelangten die Fahrzeuge mit ein wenig
+abgescheuertem Boden, sonst aber in gutem Zustand an Ort und Stelle.
+
+Unser Zug nahm sich recht komisch aus. Die Kamele hatten den größten
+Teil ihrer Wolle verloren und waren, ein paar hier und dort noch
+sitzende Haarbüschel abgerechnet, nackt. Sie zogen die langen,
+knirschenden Kähne geschickt durch den Sand, in welchem dadurch eine
+abgerundete Furche entstand. Alle Mann gingen zu Fuß; ein drittes
+Kamel trug das Gepäck, alle notwendigen Instrumente und Proviant für
+sieben Tage.
+
+Faisullah sollte die Kamele wieder zurückführen und dafür sorgen, daß
+sie nach Mian gebracht würden, worauf er und Ördek uns wieder bei
+Schirge-tschappgan zu treffen hatten.
+
+Ich, Tschernoff, Tokta Ahun, Jaman Kullu und noch zwei Ruderer lagerten
+bei +Jangi-jer+ (neue Stelle), wo wir die erste seeartige
+Anschwellung des Schirge-tschappgan-Armes erreichten, die größtenteils
+mit Schilf zugewachsen war, im Norden aber von ziemlich hohem Sand
+begrenzt wurde.
+
+Die Kähne wurden sofort ins Wasser gebracht, und die Männer machten
+eine kleine Rekognoszierung, um die Strömung zu suchen, der wir
+aufwärts folgen mußten, um uns in diesen Irrgängen von Kamisch und
+Wasser nicht ganz zu verlieren.
+
+Der Tag war so weit vorgeschritten, daß wir unser Nachtlager da, wo wir
+uns befanden, aufschlugen. Die Nacht unter freiem Himmel war jedoch
+wenig angenehm. Ein heftiger Nordoststurm erhob sich und brachte
+starken Regen. Als Tschernoff mich gegen 4 Uhr mit einem Filzteppiche
+bedeckte, war ich schon ziemlich durchweicht, hatte einen kleinen See
+an den Füßen und ein paar kleine Bäche auf dem Kopfkissen, schlief aber
+wieder ein, ohne mich um den Regen zu bekümmern.
+
+Unsere erste Beschäftigung am Morgen war, unsere Kleider an einem
+schönen Feuer zu trocknen, worauf das Geschwader ausgerüstet wurde.
+Ich hatte die Instrumente in meinem Kahne, Tschernoff den Proviant in
+dem seinen; dieser war aber so schwer belastet, daß die Reling nur 4
+Zentimeter über dem Wasser lag, und an offneren Stellen des Flusses
+schlugen die Wellen dann und wann in den Kahn. Jolldasch, der ohne
+Erlaubnis bei uns geblieben war, durfte auch mitkommen, fiel uns aber
+nur lästig; wenn es ihm im Kahne zu langweilig wurde, sprang er ins
+Wasser und schwamm in das Schilf hinein, und wir hatten viele Mühe, ihn
+wieder zu erwischen.
+
+Die Fahrt war ziemlich mühsam. Der Buran fuhr fort, im Schilfe zu
+heulen und zu pfeifen, und wir mußten an dem dichten Schilfbestande
+entlang rudern, um Schutz zu finden. Auf offenem Wasser drohten die
+Kähne sich selbst bei ziemlich unbedeutendem Wellenschlage mit Wasser
+zu füllen und unterzugehen. In dem Schilfdickicht war es halbdunkel.
+Hier und dort plätscherte ein Fisch; Schwäne und Gänse eilten fort, und
+bei ein paar Gelegenheiten wurden sie ihrer Eier beraubt.
+
+Solange die Strömung deutlich war, ging alles gut; dann aber wurden
+wir durch ein vollständiges Labyrinth von dichtem Kamisch, aus dem
+Wasser herausguckenden Tamariskenkegeln, Anschwemmungen, Landzungen
+und Landengen gehemmt. Über drei Stunden lang suchten wir hier kreuz
+und quer nach einem Durchgange, gingen denselben Weg, den wir gekommen
+waren, wieder zurück, verloren uns in schlängelnden Buchten, wo wir
+wieder umkehren mußten, forcierten den Schilfbestand, indem wir
+die Kähne mit den Rudern durch seine knackenden Wände trieben, und
+schleppten sogar die Fahrzeuge über schilfbewachsene Landengen, die
+benachbarte Wasserflächen voneinander trennten. Jede Düne, die dabei
+passiert wurde, mußte einer von uns besteigen; doch der Blick reichte
+bei dem Nebel nicht weit, und die ganze Umgebung war ein einziges
+dichtes Dschungel.
+
+Als dieses Suchen umsonst war, steckten wir das Kamisch in Brand. Es
+gab in dieser mit Dämmerung gesättigten Atmosphäre ein großartiges
+Schauspiel, als sich die Flammen in die regenfeuchten Schilfhecken
+hineinwarfen und diese knallten, knisterten und dampften und
+rabenschwarze Wolken emporsteigen ließen, die vom Sturme zerzaust
+wurden und wie ein Trauerflor über diese irreführenden Sümpfe mit ihren
+überwachsenen Irrgängen führten. Rußflocken erfüllen die Luft, und
+man wird ebenso schmutzig wie naß, während man in dem seichten Wasser
+umherpatscht und die Kähne in die vom Feuer gebahnte Gasse schleppt,
+die jetzt auch einen Blick nach vorn gestattet und uns sehen läßt, wo
+wir den nächsten Weg zum offenen Wasser haben (s. bunte Tafel).
+
+Endlich waren wir wieder auf dem rechten Wege, wo das Wasser
+tüchtig strömte. Die Strömung war so saugend und so schnell, daß
+die Ruderer all ihre Kraft aufbieten mußten, um den Kahn gegen sie
+vorwärtszubringen. Gegen Abend sahen wir uns nach einem geeigneten
+Lagerplatze an dem hier überall feuchten Ufer um; da es uns aber nicht
+gelang, einen solchen zu finden, blieben wir bei einigen Tamarisken
+und legten, um wenigstens trocken zu liegen, Kamisch auf die Erde. In
+schneidendem Wind machte ich meine Aufzeichnungen beim Scheine des
+Lagerfeuers, und der Sturm peitschte den Flußarm derart, daß von den
+Wogenkämmen weißer Gischt sprühte.
+
+Der Morgen war wenig verlockend zur Fortsetzung der Fahrt. Im Norden
+war der Himmel schwarzgrau von Flugsand, und bei Wellenschlag läßt
+sich die Strömung schwer unterscheiden. Erst um 11 Uhr konnten
+wir aufbrechen und zogen nun nach Nordwesten über langgestreckte
+Seen, die uns wieder in ein deutliches Flußbett führten. Manchmal
+verengte sich dieses bis nur auf 10 Meter Breite und hatte dann eine
+Stromgeschwindigkeit von 0,9 Meter. Dann folgt eine verwickelte
+Strecke, von den Jägern Tokkus-Tarim (neun Flüsse) genannt, weil der
+Strom hier in mehrere Arme geteilt ist.
+
+[Illustration: In brennendem Schilfe.]
+
+Der größte See auf dem ganzen Wege zog sich glücklicherweise von Norden
+nach Süden hin. Indem wir seinem östlichen, von hohen Dünen eingefaßten
+Ufer folgten, blieben wir vor dem Sturme geschützt. Gerade über den
+See hinüberzufahren, wäre unmöglich gewesen; er war ganz weiß von den
+schäumenden Wellen, und es war mehr Glück als Geschicklichkeit, daß
+wir uns auf der anderen Seite wieder in den Flußarm hineinfanden. Der
+Wasserweg lief alsdann nach Südwesten, und der Wind neutralisierte den
+hemmenden Einfluß der Strömung. Bei dem Lager Nr. 30 führte dieser Arm
+10,6 Kubikmeter Wasser, die dem unteren Tarim entzogen worden waren.
+
+Auch die folgende Tagereise war verwickelt, und der Wind dauerte
+fort. Die Minimaltemperatur war auf -0,3 Grad heruntergegangen. Wir
+ruderten längs des Ufers weiter, gerieten aber oft in Sackgassen. Ein
+junger Hirt, auf den Tokta Ahun gestoßen war, diente uns als Lotse,
+bis wir eine Sattma erreichten, von welcher aus ein alter Fischer
+uns zu Boot begleitete. Ohne seine Hilfe wäre es uns nicht möglich
+gewesen, die Mündung des Flußarmes zu finden, denn sie war total vom
+Schilfe verdeckt. Ein wenig weiter aufwärts lotste er uns durch einen
+kaum meterbreiten Kanal, wo die Kähne an einer Stelle auf das Land und
+durch das Schilfdickicht gezogen werden mußten, um an einem etwa 55
+Zentimeter hohen Wasserfalle vorbeizukommen. Ein zweiter Katarakt hatte
+eine Höhe von 60 Zentimeter.
+
+Man erhält durch diese Wasserfälle den Eindruck, daß der
+Schirge-tschappgan-Arm stärkeres Gefälle hat als der Hauptfluß, sich
+also auf einem etwas höheren Niveau befinden muß. Hierdurch erklärt
+sich auch die Tendenz des ganzen hydrographischen Systems, nach Norden
+zu wandern und sich nach diesen flachen Depressionen hinüberzuwerfen.
+Ein Niveauunterschied von einem Meter spielt in einem Lande, das
+beinahe ganz horizontal ist, eine sehr große Rolle.
+
+Bei +Jekken-öi+ fanden wir ein Dörfchen (Abb. 92) von 4 Sattmen
+und 20 Einwohnern, ausschließlich aus Greisen, Frauen und kleinen
+Kindern bestehend, denn die kräftigere männliche Bevölkerung hatte
+sich nach Tscharchlik begeben, um Ackerbau zu treiben. Die Bevölkerung
+lebt hier von Fischfang, Wildenten, die sie massenweise fangen, und
+Enteneiern. Sie besitzen auch 150 Schafe und eine Anzahl Kühe. Vor vier
+Jahren waren sie von Tscheggelik-ui hierher gezogen und sie erzählten,
+daß der neue Flußarm erst vor sieben Jahren angefangen habe, sich von
+ihrem See aus einen Arm nach Osten zu bahnen.
+
+Von einem ganzen Geschwader von Kähnen begleitet, steuerten wir am
+18. nach Südwesten über eine Seenreihe, die Tiefen bis zu 4,6 Meter
+zeigten. Diese Seen sind dadurch eigentümlich, daß das Wasser sich von
+ihnen nach zwei Seiten teilt; die Bifurkation findet nach Osten und
+Westen statt. Die Hauptmasse geht ostwärts und bildet den Arm, dem
+wir gefolgt waren, ein Teil aber fließt bei Schirge-tschappgan in den
+Tarim, und der Spiegel des Sees liegt 60 Zentimeter über dem Niveau des
+Tarim.
+
+Allmählich kommen wir in einen Kok-ala (kleinen Flußarm) hinein, der
+sich nach dem Tarim hinunterschlängelt, wo sein kristallhelles Wasser
+sofort in den trüben Fluten des Flusses verschwindet.
+
+Eine Strecke weiter abwärts machen wir an den Hütten von
++Schirge-tschappgan+ Halt und haben eine prachtvolle Aussicht
+über den gewaltigen Fluß, der hier gerade und regelmäßig ist und von
+ehrwürdigen dichtbelaubten Pappeln eingefaßt wird. Hier werden 5,6
+Kubikmeter Wasser aus den Seen von Jekken-öi wieder an den Tarim
+abgegeben, der selbst an diesem Punkte 108,4 Kubikmeter in der Sekunde
+führte, die größte Wassermenge, die ich bis dahin in dem Flusse
+gefunden hatte (Abb. 93).
+
+In der Nacht auf den 20. April ging die Temperatur wieder auf -4 Grad
+herunter, was für diese Jahreszeit recht ungewöhnlich ist. Nachdem wir
+uns mit Faisullah, Ördek und Maschka wiedervereinigt hatten, war unser
+Plan, auf den östlichen Seen, die ich das vorige Mal entdeckt hatte,
+nach Tikkenlik zurückzurudern. Es war recht ärgerlich, zwei Tage lang
+denselben Weg wie damals gehen zu müssen, nach Kum-tschekke, aber die
+hydrographischen Verhältnisse hatten sich so verändert, daß ich auf
+mehrere neue Erfahrungen hoffen konnte.
+
+So ließen wir denn jetzt den Nias-köll zur Linken liegen und ruderten
+über den Tschong-köll, der seinen Namen (großer See) mit Recht führt
+und auf dem man sich mit den wenig seetüchtigen Kähnen nicht zu weit
+hinauswagen darf.
+
+Sodann gehen wir einen mächtigen Flußarm hinauf, der lauter Sand
+durchschneidet und Lailik-darja heißt. Indem ich von Zeit zu Zeit
+die Wassermenge in diesem östlichen Arme auf dem Wege aufwärts maß,
+würde ich allmählich seinen Charakter erforschen und ausfindig machen
+können, wieviel Wasser unterwegs in den Seen verloren geht, sich durch
+Verdunstung verflüchtigt, in den Boden einsickert usw.
+
+Der Sadak-köll hatte sein Aussehen in den vier Jahren vollständig
+verändert. Er war mit Schilf zugewachsen und voller Sand und
+Anschwemmungen, in denen ein Flußarm mit starker Strömung entstanden
+war. Die Hütten, bei denen ich damals vom Sturme aufgehalten wurde,
+standen noch. Ihre Bewohner waren größtenteils noch dieselben; sie
+erkannten mich wieder und empfingen uns mit der größten Freundlichkeit.
+Sie nennen ihr mit 26 Menschen bewohntes Dorf +Merdektik+,
+nach einem neugebildeten Arme des Merdek-köll. Schritt für Schritt
+sehen wir, wie das ganze hydrographische System nach Norden und
+Osten wandert, um dereinst wieder in das Seebecken des alten Lop-nor
+zurückzukehren.
+
+Von dem Dorfe begleitete uns ein Fischer in seinem Kahne und zeigte uns
+den gegen die ziemlich reißende Strömung angehenden Weg nach Norden.
+Tschernoff hatte uns eine 6 Meter lange Stange besorgt, die er in Meter
+und Dezimeter eingeteilt hatte, so daß er die Tiefen direkt ablesen
+konnte, wenn ich Sondieren für wünschenswert hielt. Längs der Ufer
+stand reicher Tograkwald in seinem ersten, zarten Lenzgrün und wirkte
+da, wo er, wie hier, die gelbe, öde Sandwüste als Hintergrund hatte,
+besonders anziehend.
+
+In +Kulaktscha+ machten wir eine kurze Frühstücksrast; dort
+wohnten noch immer fünf Familien, lauter alte Bekannte von 1896. Seit
+meinem vorigen Besuch hatten die Hirten der Gegend eine ziemlich
+feste Brücke (Abb. 94) von Balken, Ästen und Kamisch über den Fluß
+geschlagen, um ihr Vieh im Sommer von einem Ufer nach dem anderen
+hinübertreiben zu können. Sie ist so niedrig, daß man mit belasteten
+Kähnen nur gerade unter ihr durchfahren kann; aber sie ist pittoresk,
+wie sie ihre Pfähle und Balken in dem Ilek spiegelt, dessen Wasser
+schwarz wie Tinte, aber auch klar wie Kristall ist.
+
+Dann ruderten wir mit einer Geschwindigkeit von 1,8 Meter in
+der Sekunde zwischen üppigen Wäldern und undurchdringlichen
+Schilfdickichten weiter und langten bei Sonnenuntergang unter
+Mückentanz in +Kum-tschekke+ an, wo wir gleichfalls von Freunden
+aus dem Jahre 1896 empfangen wurden.
+
+Mit ihnen machte ich am folgenden Tage eine Fahrt nach dem Merdek-köll,
+um von diesem eine Karte aufzunehmen. Dieser Fluß empfängt sieben
+Kubikmeter Wasser vom Ilek und hat Tiefen bis zu 7,4 Meter, also viel
+bedeutendere als der Kara-koschun.
+
+Von Kum-tschekke gingen wir weiter den Fluß hinauf, der noch immer
+außergewöhnlich tief ist und von prächtigen Wäldern eingefaßt wird. Es
+ist eine sehr schöne Gegend, die mit ihrem Kanale und ihrem blanken,
+dunkeln Wasserspiegel einem Parke gleicht, und es ist eine Freude, die
+unaufhörlich wechselnden Uferszenerien zu betrachten (Abb. 95, 96).
+
+Von dem See und Dorfe +Tosgak-tschantschdi+ an nahmen wir neue
+Ruderer, und ich machte einen Ausflug nach dem auf der vorigen Reise
+entdeckten Arka-köll.
+
+Auf der folgenden Tagereise wurde mitten im Flusse eine der größten
+Tiefen gelotet, die ich im ganzen Tarimsysteme je gefunden habe, 12,55
+Meter. Von dem Punkte, wo wir am Ufer lagerten, unternahm ich wieder
+eine Bootexkursion nach dem nahegelegenen +Tajek-köll+. Ich hatte
+nur einen Mann bei mir, und der Kahn mußte einen halben Kilometer über
+Land von dem Flusse nach dem See getragen werden. Der Tajek-köll, an
+dessen östlichem Ufer wir 1896 mit Kamelen durch mühsames Terrain
+wanderten, ist ziemlich offen und hat in der Mitte Tiefen von 5,7
+Meter, 6,9 Meter und 9,5 Meter, die also beinahe doppelt so groß sind
+wie die tiefsten Stellen des Kara-koschun.
+
+Als ich wieder ins Lager kam, war das Zelt so voller Mücken, daß sie
+ausgeräuchert werden mußten, worauf die Leinwand auf allen Seiten
+zugezogen und Jolldasch angebunden wurde, damit er nicht, wie er zu
+tun pflegte, aus und ein liefe und diese verwünschten Insekten, die
+uns jetzt abends zu plagen begannen, mitbrächte. Es ist eine Art
+großer hellgrauer Mücken, die ihr Opfer mit unglaublicher Energie und
+unglaublichem Eigensinn umschwärmen; sie hinderten mich am Schreiben
+sowie an jeder anderen Beschäftigung. Man ist ihrem Blutdurste, gegen
+den der eines Tigers nichts ist, völlig preisgegeben. Sie zeigen eine
+Todesverachtung, die nicht Mut, sondern Dummdreistigkeit ist, greifen
+von allen Seiten an und gehen gern in den Tod, wenn sie nur erst eine
+tüchtige Mahlzeit Blut haben einsaugen können.
+
+Am 27. brachen wir bei Tagesgrauen aus diesem unwirtlichen Mückenneste
+auf. Es dauerte nicht lange, so fegte ein warmer, dunstiger Südwestwind
+über das Wasser in diesem unheimlich verwickelten Labyrinthe von
+Seen, Sümpfen und Flüssen hin. Wir folgten unserem alten Ilek
+aufwärts; er gleicht kaum einem Flusse, sondern eher einer offenen
+Gasse in einem Sumpfsee. Unsere Richtung ist anfangs nördlich, aber
+beim +Suji-sarik-köll+ (See des gelben Wassers) biegen wir nach
+Westen ab, um in ungeheuer verwickelten Dickichten und Dschungeln von
+Kamisch, durch die ein schlecht instandgehaltener Tschappgan führt, zu
+verschwinden (Abb. 97). Drinnen ist es dunkel und schwül; das Kamisch
+ist von den Stürmen über den engen Wasserweg gelegt worden und ist mit
+Staub und Flugsand bedeckt. Stellenweise bildet das Ganze eine Brücke,
+auf der man bequem weite Strecken über das im allgemeinen 2 Meter tiefe
+Wasser gehen kann. Es war jedoch nicht immer ganz leicht, unter diesen
+mächtigen natürlichen Gewölben, wo man so staubig wird wie auf einer
+Landstraße, vorzudringen. Zwischen Milliarden von Schilfstengeln rinnt
+das Wasser nach dem Ilek hinab. Diesen Abend lagerten wir im Dorfe
++Scheitlar+, das wir auch im Winter besucht hatten (Abb. 98); ich
+erhielt also einen Anknüpfungspunkt an die Karte der Expedition nach
+Tschertschen.
+
+[Illustration: 113. Tokta Ahun und seine Mutter in Abdall. (S. 275.)]
+
+[Illustration: 114. Tamarisken bei Tattlik-bulak. (S. 292.)]
+
+[Illustration: 115. Frauen und Kinder der Loplik. (S. 278.)]
+
+[Illustration: 116. Das Gerüst meiner Jurte. (S. 292.)]
+
+Von diesem Punkte aus machte ich am folgenden Tage mit zwei Führern
+einen Ausflug nach dem +Kara-köll+. Wir mußten 4,1 Kilometer
+zu Fuß gehen, ehe wir an sein Ufer gelangten, wo ein Kahn im Schilfe
+angebunden lag. Auch jetzt hatten wir einen Nordoststurm von der
+schlimmsten Sorte uns gerade entgegen. Wir ruderten um die größte
+offene Wasserfläche des Sees herum, indem wir uns längs des Schilfes
+oder innerhalb seines äußeren Randes, wo der Wellenschlag gemildert
+war, bewegten. Im Kara-köll sieht man ganze Fladen von Kamischwurzeln,
+die mit Lehm, Schlamm und verfaulten Algen vom Seeboden zusammengeballt
+sind und teils auf dem Wasser, teils ein wenig unter der Oberfläche
+treiben. Sie werden von der Bevölkerung „Sim“ genannt und sehen oft
+aus, als könnten sie einen Mann tragen. Sie zeigen jedenfalls deutlich,
+daß die Wasservegetation einer der Faktoren ist, die zur Verseichtung
+dieser ausgedehnten, wenig tiefen Sumpfseen beitragen.
+
+Mit Tschernoff als Gehilfen maß ich jeden Arm, jeden Kanal, der Wasser
+nach dem Ilek und nach Argan führte und gewann die interessantesten
+Resultate, unter anderem den Beweis, daß das Wasser des Tarim sich
+seit meinem vorigen Besuche in immer größerer Menge in dieses östliche
+System hinübergezogen hatte.
+
+Mit neuen Booten und Ruderern fuhren wir am 29. nach Westen und
+Nordwesten, den gewaltigen See Tschiwillik-köll kreuzend, der
+bedeutende offene Wasserflächen besitzt, aber gleich den anderen
+größtenteils von Schilf und Binsen überwuchert ist. Bei dem Dorfe
++Kadike+, das 40 Bewohner zählt, durften die anderen lagern,
+während ich mit zwei Kähnen nach dem Awullu-köll weiterfuhr, um seinen
+Zusammenhang mit den übrigen Wasserwegen zu untersuchen.
+
+In Kadike gesellten sich am nächsten Tage Kirgui Pavan und Schirdak
+Pavan, meine alten Führer, zu uns, und erst jetzt erhielten wir die
+Nachricht von Parpi Bais Tod. Als wir uns vor ein paar Tagen von
+Faisullah trennten, der sich schleunigst nach Tura-sallgan-ui begeben
+sollte, hatte er den Befehl an Parpi Bai und Tscherdon mitgenommen,
+mit der Hauptmasse der Karawane nach Tschimen vorauszugehen, damit die
+Tiere nicht unnötig von Bremsen und Mücken gepeinigt würden. Doch Parpi
+Bai sollte von dem Vertrauen, das ich zu seiner Fähigkeit hegte, eine
+große Karawane leiten zu können, nie Kenntnis erhalten.
+
+Am 1. Mai hatten wir wieder neue Boote und neue Leute, darunter
+Kirgui und Schirdak. Die Fahrt ging auf dem Kuntschekkisch-Tarim nach
+Westnordwest. Bei Dargillik sind im Walde noch Spuren von etwa 20
+Hütten, nach denen die Beke von Turfan sich unter der chinesischen
+Herrschaft vor Jakub Beks Zeit über Turfan-köbruk am oberen Ilek
+begaben, um die hauptsächlich in Otterfellen bezahlten Steuern für den
+Kaiser einzutreiben. Sie pflegten Geschenke in Gestalt von Mehl für
+die Beke und die Bevölkerung des Landes, die sich in ihren Kähnen von
+allen Seiten hier einfanden, mitzubringen. Dargillik war damals eine
+Art Marktplatz, und alle sehnten sich dorthin, in der Hoffnung, mit
+einem Beutel Mehl zurückzukehren, denn damals wurde im Loplande noch
+kein Ackerbau getrieben.
+
+Bei dem Lager +Dillgi+ fanden wir, daß jetzt 84,3 Kubikmeter
+Wasser dem Tschiwillik-köll zuströmten, aber ein paar Tage vorher
+hatten wir 91 Kubikmeter gemessen, die aus ihm abflossen. Dieses beim
+ersten Anblick seltsame Verhältnis beruht darauf, daß der Zufluß schon
+angefangen hat, abzunehmen, so daß der See, der als Reservoir wirkt,
+sich noch eine Zeit lang mehr Wassers entledigt, als er empfängt.
+
+Die drei folgenden Tage ruderten wir angestrengt flußaufwärts. Am 4.
+Mai lagerten wir bei dem alten Naser Bek in +Tikkenlik+ (Abb.
+99) und erhielten gute Nachrichten aus dem Hauptquartier. Der 5.
+wurde Tikkenlik geopfert, denn am Morgen langte die erste Karawane
+aus Tura-sallgan-ui unter Tscherdons Oberbefehl hier an und mußte
+inspiziert werden. Die übrigen Teilnehmer waren Faisullah, Mollah
+Schah, Musa, Kutschuk und zehn Loplik samt 35 Pferden, 5 Mauleseln und
+5 Hunden; Menschen wie Tiere waren in gutem Zustand. Das Gepäck der
+Karawane war imponierend und bestand aus Reis, Mehl, Konserven usw.,
+der privaten Habe und den Kleidungsstücken der Leute, einem großen
+mongolischen Filzzelte und unzähligen anderen Dingen. Eine kleine
+Strecke außerhalb des Dorfes hatte die Karawane ihr großes Lager
+aufgeschlagen. Nach dem von mir durch Faisullah gesandten Befehl sollte
+sie den großen Karawanenweg bis Abdall benutzen und von dort direkt
+nach Tschimen in Nordtibet gehen, ein passendes Standlager aussuchen
+und meine Ankunft dort abwarten, wobei vor allem dafür gesorgt werden
+sollte, daß die Tiere gut gepflegt wurden, damit sie die Strapazen, die
+ihrer im Sommer warteten, aushalten konnten.
+
+Der Amban von Tscharchlik, Dschan Daloi, passierte Tikkenlik während
+meiner dortigen Anwesenheit. Er war auf dem Wege nach seiner
+Residenzstadt und zeigte sich als ein ungewöhnlich liebenswürdiger,
+artiger, feiner Chinese, der mir später von großem Nutzen sein sollte.
+
+Am 6. Mai wechselten wir zum letzten Male auf dieser langen Fahrt die
+Ruderer und Kähne. Wir brauchten leichte Fahrzeuge und starke Muskeln,
+denn ich beabsichtigte, die uns noch von Jangi-köll trennende Strecke
+möglichst schnell zurückzulegen. Über den +Kalmak-ottogo+-Arm
+(Abb. 100) gelangten wir wieder in den Tarim, wo wir am 7. gute Hilfe
+vom Winde hatten, was bei der starken Strömung, die jetzt nach der
+Eisschmelze herrschte, auch sehr nötig war.
+
+Den letzten Tag lag wieder Staubnebel schwer über dem Lande. Bei
++Artillma+ ersparten wir uns eine große Flußbiegung dadurch,
+daß wir die Kähne über eine schmale Landzunge schleppten. Als wir
+schließlich an unseren wohlbekannten Strand mit der einsamen Pappel
+gelangten, standen alle Mann zu unserem Empfang bereit. Sirkin
+berichtete über alles Vorgefallene und überreichte das meteorologische
+Journal nebst seinen Aufzeichnungen und Beobachtungen über die
+Veränderungen des Flusses während meiner Abwesenheit. Auf dem Korso
+hatten sie eine hübsche kleine mongolische Jurte aufgeschlagen, in der
+ich von nun an wohnte. Die Kosaken logierten in der Kamischhütte, Islam
+und Turdu Bai im Zelte. Die Fähre lag im Hafen vertäut und sollte jetzt
+wieder zu Ehren gelangen.
+
+
+
+
+Dreiundzwanzigstes Kapitel.
+
+Gefährliche Wasserfahrten.
+
+
+Durch die Rückkehr in das alte Winterquartier war ein neues Glied in
+die Kette der Exkursionen eingefügt worden und hatte ein neues Kapitel
+der Reise seinen Abschluß gefunden. Der unschätzbaren Operationsbasis,
+die wir in Jangi-köll gehabt hatten, bedurften wir jetzt nicht länger,
+denn jetzt sollte all unser lebendes und totes Hab und Gut nach anderen
+Gegenden Asiens, in eine neue Welt und neue Verhältnisse übersiedeln:
+auf die unwirtlichen Berge zwischen dem Himalaja und dem Kwen-lun,
+welche die mächtigste Erhebung der Erdrinde bilden.
+
+Die zehn Tage, die ich jetzt im Hauptquartiere zubrachte und die
+zur Ruhe so sehr notwendig waren, vergingen sehr schnell unter
+mannigfaltigen Beschäftigungen. Zuerst wurden alle Geschäfte mit
+Chalmet Aksakal von Korla abgeschlossen, der uns Pferde und Proviant
+auf lange Zeit hinaus besorgt hatte und der, als er uns verließ, meine
+große Post nach Europa mitnahm.
+
+Unterdessen waren die Kosaken durchaus nicht müßig. Sie veränderten
+den Oberbau der Fähre in besonders bequemer, gemütlicher Weise. Unser
+altes Schiff sollte nämlich bald wieder in Gebrauch treten, da die
+Reise den Tarim hinunter fortgesetzt werden sollte. Statt des Zeltes
+wurde auf dem Vorderdeck eine ordentliche Hütte errichtet, die ganz
+wie die Dunkelkammer aussah, nur mit dem Unterschiede, daß die Latten
+mit weißen Filzdecken tapeziert wurden. Die Vorderwand bildeten zwei
+Filzvorhänge, von welchen der rechte vor dem Schreibtische nur nachts
+heruntergelassen wurde. Hier wurde auch eine kleine Markise gegen die
+Sonne, die mir sonst auf der Fahrt nach Süden sehr lästig geworden
+wäre, angebracht. An die aus Brettern bestehende Backbordlängswand
+wurden drei meiner Kisten gestellt, von denen eine als Eßtisch diente.
+Das Bett hatte seinen Platz an der Steuerbordlängswand, die nur aus
+einer großen herabhängenden Filzwand bestand. Ein Teppich wurde dagegen
+nicht auf den Boden gelegt; die Behausung sollte so luftig wie möglich
+sein. Das meteorologische Observatorium hatte denselben Platz wie
+früher, und die Instrumente ließen sich bequem von drinnen ablesen,
+wenn ich nur den kleinen Filzvorhang ein wenig zurückschlug. Die
+Decke bildeten sieben mit einem Teppiche bekleidete Latten. Von einer
+derselben hing an Stahldrähten ein mehr als einfacher „Kronleuchter“
+herab.
+
+Als die neue Residenz fertig war, wurden all meine Habseligkeiten
+dorthin gebracht, außer den Sachen, deren ich auf dem Flusse nicht
+bedurfte und die mit der Karawane gingen. Meine kleine Mongolenjurte
+wurde zusammengelegt und an Bord verstaut, denn ich wollte von ihr auf
+der Reise nach dem neuen Hauptquartier im Gebirge Gebrauch machen.
+Das neue Studierzimmer war so einladend und gemütlich, daß ich nicht
+begriff, wie ich mich auf der langen, kalten Herbstreise mit dem Zelte
+hatte begnügen können; die Filzdecke, die das Eindringen der Sonnenglut
+verhinderte, hielt auch die Wärme im Zimmer fest. Am besten von allem
+war, daß ich in dieser angenehmen Wohnung auf dem Tarim bis an den
+Punkt bleiben konnte, wo wir früher oder später unsere gute alte Fähre
+würden im Stiche lassen müssen, was sich, wie ich hoffte, noch recht
+lange würde hinausschieben lassen.
+
+Auf dem Achterdeck bauten sich die Kosaken aus Brettern und Filzdecken
+eine ähnliche Kajüte, in der sie ihre Sachen unterbrachten. Sirkin
+hatte dort seinen kleinen Beobachtungstisch mit Aneroiden, einer
+Uhr, Wasserthermometern, Strommessern, Bandmaßen, Papier und
+Schreibmaterial. Er war mir auf der Reise nach Abdall ein unschätzbarer
+Sekretär.
+
+Die Arbeit an der Fähre war schnell erledigt. Weil die Kosaken vor dem
+Aufbruche nicht müßig gehen sollten, gab ich ihnen ein neues Problem zu
+lösen. Die kleine englische Segeltuchjolle taugte zu allem, nur nicht
+zum Kreuzen; da aber unsere Freunde, die Fischer und die Bootsleute, es
+einstimmig für unmöglich erklärten, ohne Zuhilfenahme der Ruder gerade
+gegen den Wind anzugehen, fühlte ich mich versucht, sie in Erstaunen zu
+setzen und ihnen einen schlagenden Beweis von der Richtigkeit meiner
+Behauptung des Gegenteils zu geben.
+
+Ich schnitzte daher ein kleines Modell, und nach dieser Vorlage hieben
+die Kosaken aus einem Pappelstamme ein Segelboot zurecht, dessen
+Rumpf nach allen Regeln der Kunst geformt wurde. Mit eisernen Krampen
+wurde am Boden ein loser Kiel und unter diesem ein paar Eisenstangen
+befestigt. Darauf wurde das Boot mit Leder gedeckt, das so fest
+gespannt wurde wie ein Trommelfell; ein abnehmbarer Mast hatte seinen
+Platz am Vorderteil, und das Fahrzeug trug ein einziges Segel. Unser
+Schmied verfertigte ein vortreffliches Steuer mit Ruderzapfen, drehbar
+auf zwei Stiften. Am Boden wurden zwei Sandsäcke festgemacht, um dem
+an und für sich schwankenden Fahrzeuge etwas Halt zu geben. Es trug nur
+einen Mann und war so schmal, daß der Segler kaum im Achter Platz fand
+und, so gut er konnte, mit den Beinen auf der Reling balancieren mußte.
+
+Während all dieser Arbeiten hatte sich der freie Platz in unserem
+Dorfe, wo abends treu die chinesische Laterne brannte, aus einem Markte
+in eine Werft verwandelt, und mit Interesse und Neugierde verfolgten
+die Eingeborenen unser Tun (Abb. 101). Als das Boot fertig war und bei
+starkem Winde auf dem Flusse probiert wurde, versammelten sie sich
+an den Ufern und legten die größte Verwunderung über meine Manöver
+an den Tag. Das Boot kreuzte leicht und gehorchte willig dem Steuer,
+aber man durfte nicht gegen Nässe empfindlich sein, denn die Reling
+tauchte gewöhnlich unter die Oberfläche, und das Wasser stürzte in den
+Achterraum, den es bald füllte. Das Boot ging ausgezeichnet schnell,
+und seine Benutzung war ein erquickender Sport an den Tagen, da wir mit
+der großen Fähre starken Windes halber nicht weiter konnten.
+
+Am Abend des 17. Mai besuchten alle Muselmänner Parpi Bais Grab
+und sprachen dort ihre Gebete; es war ihr letzter Abschiedsgruß
+an den alten Kameraden. Darauf wurde die Bevölkerung der Gegend
+zusammengetrommelt, und Holzfäller, Wasserträger, Hirten und alle, die
+uns sonst Dienste geleistet hatten, erhielten ihre Bezahlung.
+
+Als ich am folgenden Morgen aus meiner Kajüte trat, standen die neun
+Kamele bereit und warteten auf ihre Lasten, die schon geordnet und
+an den Leitern festgebunden waren. Es war ursprünglich beabsichtigt,
+daß sie nachts marschieren sollten, um von den Bremsen verschont zu
+bleiben, die sie besonders jetzt, da sie nach dem Haaren nackt und
+empfindlich sind und mit den vereinzelten Haarbüscheln auf Kopf und
+Höckern wie junge Krähen aussehen, entsetzlich peinigen. Da sie aber
+lange geruht hatten und an das Gehen mit Lasten noch nicht gewöhnt
+waren und daher wahrscheinlich anfangs spielen und bocken würden,
+beschlossen wir, daß sie die ersten Märsche bei Tag zurücklegen und
+erst, sobald sie sich eingewöhnt hatten, nachts marschieren sollten.
+
+Islam, Turdu Bai, Chodai Kullu und zwei Lopleute führten die Karawane;
+Tschernoff hatte den Auftrag, sie nach dem Gebirge zu eskortieren.
+Maschka, Jolldasch und die beiden, jetzt schon tüchtig gewachsenen
+jungen Hunde Malenki und Maltschik wurden angebunden, damit sie nicht
+mit der Karawane liefen (Abb. 102). Als meine besonderen Lieblinge
+sollten sie mir auf der Fähre Gesellschaft leisten. Die übrigen Hunde
+dagegen durften die Karawanenreise mitmachen; Jollbars, dem ein
+Wildschwein einen schlimmen Riß in der Seite beigebracht hatte, sollte
+nach seinem Belieben handeln. Er lag, seine Wunde leckend, in meiner
+alten Hütte, erholte sich aber wieder und begleitete mich später auf
+dem Wege nach Lhasa.
+
+Als die Kamele mit ihren hohen Lasten und die Männer in farbigen
+Gewändern, von einer Menge Schaulustiger umgeben und von berittenen
+Lopleuten und Beken begleitet, durch Schilf und Unterholz fortzogen,
+boten sie ein schönes, farbenprächtiges Schauspiel. Doch in
+Tura-sallgan-ui war es, als sie fort waren, öde und leer geworden. Das
+Dorf lag verlassen, und sogar die Laterne war fort; auf dem Markte,
+wo es eben noch so lebhaft zugegangen war, spazierten jetzt nur noch
+ein paar Krähen umher. Die Ställe standen leer, die Kaufleute, die
+in unserer Nähe ihre Läden aufgeschlagen gehabt, hatten sich nach
+dankbareren Handelsplätzen begeben und nur aus der alten Küche der
+Muselmänner stieg noch der Rauch des letzten Feuers.
+
+Die Hütten aber, in denen jetzt nur Skorpione und Spinnen hausen
+würden, sollten nicht niedergerissen werden; Chalmet Aksakal hatte
+erklärt, daß sie reisenden Kaufleuten von Nutzen sein könnten. Ein
+Jahr darauf wurde jedoch, wie schon erwähnt, die ganze Herrlichkeit
+durch die Frühlingsflut zerstört; die Hütten wurden dem Erdboden
+gleichgemacht, und selbst die Pappel ging den Weg alles Irdischen.
+
+Der Klang der Kamelglocken war kaum verhallt, als Sirkin, Ördek und ich
+mit ein paar Ruderern in zwei Kähnen die Fähre, die für die Zukunft
+unser Lager bilden sollte, verließen. Wir eilten in sausender Fahrt
+flußabwärts und in den schmalen Kanal hinein, der nach dem Göllme-ketti
+(See des verlorenen Netzes) führte, wo Tiefenmessungen vorgenommen
+werden sollten. Merkwürdigerweise nahmen die Tiefen nach Süden zu, wo
+sie bis zu 7 Meter betrugen, also bedeutend mehr als gerade gegenüber
+im Flusse. Die größten Tiefen findet man im allgemeinen am östlichen
+Ufer, wo auch die Dünen steil nach dem See abfallen.
+
+Während wir den Göllme-ketti hinabfuhren, nahm der Wind schnell an
+Heftigkeit zu und ging in einen halben Sturm über mit Dämmerung
+und Wolken von Staub und Sand, der wie Besen von allen Dünenkämmen
+aufwirbelte. Die Wellen schlugen in die Kähne, die bald hinter einem
+Vorsprunge an Land gezogen und leergeschöpft werden mußten.
+
+Nachdem dies getan war, fuhren wir weiter; es wurde aber eine
+abenteuerliche Fahrt. Weit nach Süden hin erstreckte sich der See mit
+weißschimmernden, hellgrünen Wogen. Die Lage war insofern kritisch,
+als der See manchmal ziemlich flach war; wenn der Kahn an solchen
+Stellen den Sandboden streifte, konnte das Fahrzeug im Wogenschwalle
+kentern. Um eine solche Katastrophe zu vermeiden, mußten wir ziemlich
+weit vom Lande abhalten. Die Wellen schlugen über die niedrige Reling,
+und nach einer Weile saßen wir pudelnaß in einem erfrischenden Bade.
+Ich zitterte für das Skizzenbuch und die Instrumente, fand aber sonst
+die Lage höchst amüsant und spannend. Auf die Dauer wurde sie jedoch
+unhaltbar, denn die Kähne waren halb voll Wasser, und je tiefer sie
+lagen, desto leichter konnten die Wellen hineinströmen. Auf einmal sank
+Sirkins Boot und wurde von der Brandung hin und her geworfen, nachdem
+die Leute hinausgesprungen waren und ihre Sachen zu retten versucht
+hatten, was ihnen teilweise auch geglückt war. Wir sahen sie nachher
+ihr Fahrzeug ganz ruhig auf das Trockene ziehen, wo sie das Wasser aus
+ihren Kleidern wrangen. Wir anderen fuhren noch etwas weiter, bis auch
+unsere Lage höchst bedenklich wurde. Der Kahn wurde wie eine Nußschale
+von den Wellen hin und her geworfen. Noch hoben ihn jedoch die Kämme,
+und ich schöpfte, während die anderen ruderten, was das Zeug hielt;
+aber seine lange, schmale Form verursachte, daß jede Welle wenigstens
+mit ihrer Spitze hineinschlug und unter den Filzdecken, die meinen
+Sitzplatz bildeten, Spritzwasser zurückließ.
+
+Der Atem stockt einem unwillkürlich, wenn eine gewaltige,
+weiß-schäumende Woge gegen die Seite des Kahns anstürmt; man glaubt,
+das leichte Fahrzeug müsse im nächsten Augenblick unfehlbar kentern
+oder vollständig von dem Schaumfalle unter Wasser gedrückt werden; es
+hält aber den Anprall noch aus und hebt sich wieder. Bald aber mußte es
+unfehlbar untergehen. Wir trieben daher den Vordersteven dem Lande zu,
+wobei die ganze Wassermasse auf das Achter drängte, und der Schiffbruch
+fand auf seichtem Wasser mit Sandboden statt, wo man an Land waten
+konnte, ohne mehr als bis zur Mitte naß zu werden, und so noch mit Mühe
+und Not alle Papiere zu retten vermochte.
+
+Hier zogen wir uns nackt aus und breiteten unsere Anzüge und Sachen auf
+dem noch sonnendurchglühten Sande zum Trocknen aus. Die Leute benutzten
+die Gelegenheit zu einem Schläfchen, während ich auf besseres Wetter
+wartete. Da der Sturm sich aber nicht legte, wir keinen Proviant hatten
+und ich der Chronometer halber rechtzeitig wieder daheim sein mußte,
+mußten zwei Ruderer die Kähne am Lande entlang führen, während ich die
+Kartenarbeit zu Fuß fortsetzte.
+
+[Illustration: 117. Hauptquartier bei Mandarlik. (Blick talabwärts.)
+(S. 299.)]
+
+[Illustration: 118. Lager bei Mandarlik. Blick talabwärts. (S. 299.)]
+
+[Illustration: 119. Landschaft oberhalb von Mandarlik. (S. 299.)]
+
+[Illustration: 120. Hauptkamm des Tschimen-tag, oberhalb von Mandarlik
+gesehen. (S. 300.)]
+
+Wenn auch die Tiefenmessungen auf dieser Exkursion mangelhaft gewesen
+waren, so hatte ich wenigstens die Überzeugung gewonnen, daß die Kähne
+bei starkem Wellenschlag geradezu lebensgefährlich sind. Es ist recht
+lustig, nach seinen eigenen „Seekarten“ zu manövrieren, aber auf dem
+Rückwege hatten wir wenig Nutzen von ihnen. Die Gegend verschwand in
+undurchdringlicher Finsternis. Die Männer schienen nach dem Gefühle
+zu rudern; sie müssen aber auch Katzenaugen gehabt haben, denn sie
+stießen nicht ein einziges Mal an. Schagdur, der Haus und Heim behütet
+hatte, zündete auf der Hafenspitze rechtzeitig ein Feuer an, und als
+wir an der Fähre anlegten, strahlte es aus den Kajüten so hell wie aus
+den Salons eines Flußdampfers.
+
+Nachts stürmte es so heftig aus Südosten, daß die Fähre im Hafen
+schlingerte. Der Wasserstand stieg in den letzten Tagen um einige
+Zentimeter. Die Einwohner sagen, daß, wenn die große, durch das
+Auftauen des Eises verursachte Frühlingsflut vorbei sei, ein zweites,
+wenn auch unbedeutendes Hochwasser alljährlich beobachtet werde,
+und zwar gerade um die Zeit, wenn die Ölweidenblüten aufbrechen und
+die jungen Wildgänse selbständig zu werden beginnen. Wahrscheinlich
+hängt diese Erscheinung mit der Verteilung des Luftdruckes während
+dieser Jahreszeit zusammen. Uns war jeder Zuschuß zu der Wassermenge
+willkommen. Am 16. Mai hatten wir 73,4 Kubikmeter, oder 22 Kubikmeter
+weniger als am 7. Mai. So schnell fällt der Fluß, wenn die große
+Frühlingsflut vorbei ist.
+
+Wir mußten uns sputen. Am 19. Mai befahl ich, die Anker zu lichten,
+nachdem die noch rückständigen Schulden und Belohnungen ausbezahlt
+worden waren. Die neuen Fährleute, Ak Käscha, Sadik, Tokta Ahun und
+Atta Kellgen, sahen angenehm und verständig aus und waren mit ihrer
+Ausrüstung und ihren Stangen bereit. Die englische Jolle manövrierte
+ein Loplik, das mit unserem großen Kahne zusammengebundene Segelboot
+nahm ein zweiter in seine Obhut, die kleine Lailiker Proviantfähre
+und unsere übrigen, jetzt überflüssigen Kähne wurden den Bewohnern
+von Jangi-köll geschenkt. Auf der großen Fähre war Ördek Kemi-baschi
+(Schiffskommandant), und vor dem Schreibtische hatte der alte Aksakal
+Pavan, der uns gern begleiten wollte, seinen Platz.
+
+Die Frauen der Gegend hatten sich in unseren verlassenen Hütten
+versammelt, von wo aus sie uns zwischen dem Schilf hindurch begafften,
+und als die Fähre von der Strömung erfaßt wurde und mit flotter Fahrt
+flußabwärts trieb, begleitete uns am Ufer die männliche Bevölkerung,
+die sich jedoch nach und nach verlor, um nach Hause zurückzukehren.
+
+Während der ganzen ersten Tagereise zog sich der Fluß unmittelbar
+längs hohen Sandes hin. Wir lagerten auf dem Westufer, der Mündung des
+Karunalik-köll gerade gegenüber. Das Programm der jetzt beginnenden
+Reise bestand darin, vom untersten Laufe des Tarim und möglichst
+vielen der an seinen Ufern liegenden Seen Karten aufzunehmen. Dies
+sollte die dritte Marschlinie in dieser Gegend werden. Nur bei
+Argan, Schirge-tschappgan und Abdall würde ich Punkte der beiden
+vorhergehenden Expeditionen berühren. Beunruhigende Gerüchte waren
+freilich in Jangi-köll in Umlauf gewesen. Man hatte gesagt, daß der
+Fluß sich immer mehr in neue, östliche Betten hinüberziehe und daß
+das Wasser kaum ausreiche, um die Fähre bis an das Ende des Flusses
+zu tragen. Wir waren jedoch entschlossen, die Fähre nicht eher zu
+verlassen, als bis jedes weitere Vordringen mit ihr wirklich unmöglich
+sein würde.
+
+Am 20. Mai machte ich eine Fahrt nach dem See +Karunalik-köll+,
+die in jeder Hinsicht glücklich ausfiel und von herrlichem Wetter
+begünstigt wurde. Die Lotungen konnten daher kreuz und quer über
+den See auf planmäßig ausgewählten Linien gemacht werden. Schon im
+Einlaufskanal wurde eine interessante Beobachtung gemacht. Nicht
+weniger als 2,3 Kubikmeter Wasser in der Sekunde strömten vom Flusse
+in den See, der also um diese Zeit den Tarim um eine Wassermenge von
+200000 Kubikmeter im Tage brandschatzte. So vielen Wassers bedarf es,
+um den See auf gleiches Niveau mit dem Flusse zu bringen. Man bekommt
+dadurch einen Begriff davon, wieviel Wasser selbst in einem so kleinen
+See durch Verdunstung und Einsickern in den Sand verloren geht.
+
+Der See besteht aus zwei elliptischen Becken und gleicht an Gestalt
+einer Acht, welches Relief sich bei diesen eigentümlichen Wüstenseen
+wie auch bei den trockenen Bajirmulden oft wiederholt. Man findet
+daher bei ihnen ständig dieselben Bezeichnungen wie „Bolta“, d. h.
+Abschnürung oder schmale Passage zwischen den beiden Becken des
+Sees, „Kakkmar“ oder Buchten an den Seiten von „Modschuk“, welcher
+Name vorspringende Landspitzen oder Zungen bedeutet usw. Die größten
+Depressionen liegen wie bei den Bajiren an den steil abfallenden Dünen
+im Osten. Die meisten, wenn nicht alle Pappeln stehen auch am östlichen
+Ufer, oft im ärgsten Sande, so daß man sich wundern muß, daß sie nicht
+davon erstickt werden. Ihr Schicksal ist aber doch besiegelt, denn
+die Dünenmasse wälzt sich unter dem Drucke der Oststürme unausgesetzt
+westwärts. Tamarisken und Ölweiden kommen vereinzelt vor, und auf dem
+Westufer steht viel Schilf, obgleich nur auf dem Trockenen.
+
+Die Höhe des nächsten dominierenden Dünenkammes wurde mit dem
+Nivellierspiegel gemessen; sie belief sich auf 89,5 Meter. Dabei ist
+jedoch zu bemerken, daß ich mit dem Spiegel die Höhe einiger anderen
+naheliegenden Dünen auf 10 bis 15 Meter mehr schätzen konnte, so daß
+diese Dünen auf dem rechten Ufer des Tarim also eine Höhe von zirka 100
+Meter erreichen (Abb. 103, 104).
+
+Nachdem wir abends mit der Fähre noch bis an den Einlauf des Ullug-köll
+(großer See) gefahren waren, lagerten wir und bestimmten den folgenden
+Tag zu einem Ausfluge dorthin. Gleich mehreren anderen Seen auf dem
+rechten Tarimufer hat auch dieser in seinem südlichsten Teile zwei
+durch eine gewaltige Sanddüne getrennte Buchten.
+
+Fische sind sehr reichlich vorhanden, aber regelmäßiger Fischfang
+wird erst dann betrieben, wenn der Fluß so weit gefallen ist, daß der
+See abgeschnürt wird und zusammenschrumpft. Dann sollen die Fische
+fetter werden und wohlschmeckender sein. Sie werden auf andere Weise
+gefangen als in den schilfreichen Seen, wo man in jedem Tschappgan
+Netze auslegt. Hier fängt man sie mit einem Schleppnetze, das bis zu 80
+Meter lang ist und von zwei Kähnen in seichtem Wasser gerudert wird.
+Man bildet erst einen Halbkreis, dann aber schwenkt das eine Boot in
+diesen hinein wie in eine Spirale, während andere Ruderer die Fische
+mit den Rudern in diesen Schneckengang hineinjagen, wo sie dann in
+dem Schleppnetze hängenbleiben, mit diesem aufgenommen und mit einem
+Knüttel totgeschlagen werden.
+
+An den Ufern ist das Tierleben durch Rehe und Wildschweine vertreten,
+die sich dort jedoch nur sporadisch zeigen. Adler, Seeschwalben und
+einige kleine Sumpfvögel waren die einzigen Vögel, die wir sahen. Enten
+und Gänse würden hier vergeblich nach Nahrung suchen.
+
+Diese ganze Reihe von Seen, die am rechten Ufer des Tarim wie Blätter
+an einem Zweige hängen, sind Schmarotzer, Auswüchse an dem Leibe des
+Flusses; sie erhalten von ihm ihre Lebenskraft und würden sterben und
+verschwinden, wenn der Fluß eine andere Richtung einschlüge. Im Herbst
+sind sie zur Hälfte ausgetrocknet und müssen wieder gefüllt werden. Der
+Fluß wird also jährlich ungeheuerer Wassermengen beraubt, die sonst
+dem Kara-koschun zugute kommen und der Karte ein ganz anderes Aussehen
+geben würden. Man kann sich daher denken, daß, als die Seenreihe noch
+nicht vorhanden war, die Lopseen viel größer gewesen sein müssen
+als jetzt, und ihre Zunahme ist eine der Ursachen des langsamen
+Verschwindens der unteren äußersten Seen.
+
+Am 22. Mai sollte eine lange Fahrt flußabwärts gemacht werden, aber
+schon gegen 11 Uhr jagte uns ein toller Südwest in eine Bucht hinein,
+in der wir fast den ganzen Tag bleiben mußten. Erst um 6 Uhr konnten
+wir weiterfahren. In den ziemlich gerade nach Osten laufenden Teilen
+des Flusses ging es mit reißender Geschwindigkeit vorwärts, denn der
+Wind half, und wir legten 1,52 Meter in der Sekunde zurück, was von
+der Schnelligkeit, mit welcher die Kähne gewöhnlich gerudert werden,
+nicht weit entfernt ist. Es war ein Genuß, die Ufer wieder vorbeieilen
+zu sehen, und es ging so geschwind, daß ich mit dem Kompaß und der Uhr
+aufpassen mußte, um nicht mit der Karte im Rückstand zu bleiben. Sirkin
+war mir eine unschätzbare Hilfe; er führte Tiefenmessungen aus, maß
+die Stromgeschwindigkeit und von Zeit zu Zeit auch die Geschwindigkeit
+der Fähre.
+
+Das Leben an Bord war ebenso ruhig und friedlich wie im Herbst; alle
+taten ihre Pflicht. Die Kosaken, die damals noch nicht bei mir gewesen
+waren, fanden diese Fahrt höchst vergnüglich. Sie saßen plaudernd vor
+ihrer Kajüte oder umkreisten zu Kahn die Fähre, gingen an Land, um in
+den Buchten Wildenten zu schießen und belustigten sich nach beendeter
+Tagereise mit Fischfang. Wir leben beinahe ausschließlich von Fischen
+und Enten, doch konnten wir von den Hirten an den Ufern auch Schafe und
+Milch bekommen. Schagdur war mein Koch und Kammerdiener. Ördek, der
+Kapitän, kommandierte ein wenig geräuschvoll, versah aber sein Amt in
+vortrefflicher Weise. An den Lagerplätzen schliefen die Muselmänner an
+Land, die Kosaken und ich an Bord. Jeden Abend wurden die jungen Hunde
+gebadet, zum großen Vergnügen der Zuschauer, aber zum Entsetzen für die
+kleinen Sündenböcke selber.
+
+Am 23. Mai machten wir eine außergewöhnlich lange Fahrt. Gerade als
+wir am Abend mit dem Messen des Flusses beschäftigt waren, erschienen
+Nasar Bek, Kirgui Pavan und Temir Schang-ja in ihren Kähnen. Der letzte
+wurde sogleich fortgewiesen, weil er ein ausgemachter Schuft war, der
+durch seine dressierten Spießgesellen Chalmet Aksakal um eine Partie
+Zeugstoffe und andere Waren hatte bestehlen lassen und der überdies die
+Bevölkerung seines Distrikts gewohnheitsmäßig aussog. All sein Bitten
+half ihm nichts; ich zeigte ihn beim Amban von Tscharchlik an, der ihm
+seine Amtstracht und sein Amt entzog.
+
+In Verbindung hiermit möge man es nicht für vermessen halten,
+wenn ich sage, daß so lange wir unseren Wohnplatz im Loplande
+aufgeschlagen hatten, dort Ordnung und Ruhe herrschten; ich duldete
+keine Ungerechtigkeiten gegen die arme, aber redliche Bevölkerung.
+Es wurde auch eine Gewohnheit, daß die, denen ein Unrecht zugefügt
+worden und die nicht die Kraft und die Mittel besaßen, sich ihr Recht
+zu verschaffen, sich mit Bittschriften um Hilfe und Beistand an mich
+wandten, und Tura-sallgan-ui ist daher seinerzeit auch der Sitz eines
+„Landgerichts“ gewesen, das unserem Lager mit Übergehung von Dural,
+Kara-schahr und Tscharchlik, wo chinesische Ambane regieren, den
+Anstrich einer Metropole des Landes gab. Bei schwereren Fällen pflegte
+ich an die Ambane zu schreiben und sie daran zu erinnern, daß es
+ihnen schlimm gehen würde, wenn sie meinen Wünschen nicht nachkämen;
+leichtere Rechtsstreitigkeiten aber konnten wir selbst schlichten. Die
+Lopbevölkerung wird tatsächlich mehr von ihren Beken und Ambanen als
+von Bremsen und Mücken gepeinigt.
+
+Wir bekamen jetzt recht viele Passagiere, unter anderen auch einen
+Mann, der nach Kum-tschappgan wollte und es für bequem hielt, auf
+diese Weise dorthin zu gelangen; er mußte aber als gewöhnlicher
+Matrose gegen freie Station an Bord dienen. Ein Geschwader von neun
+Kähnen war aufgeboten worden, um uns einen Weg über die Seen, die wir
+heute zu passieren hatten, zu bahnen und uns durch ihre verwickelten
+Schilflabyrinthe zu führen. Bei +Keppek-ui+ begann dieses Gewirr
+von neugebildeten Seen, die voller Kamisch waren, in dem wir nur mit
+Schwierigkeit vorwärtskamen. Alle überflüssigen Passagiere mußten in
+die Kähne steigen, und alle Fischer und Ruderer, die das Geschwader
+bemannten, begaben sich ins Wasser, zogen aus Leibeskräften und preßten
+die Fähre zwischen den kompakten Schilfbeständen hindurch. Über die
+Seen Kurban-dschajiri und Süssük-köll ging es dagegen gut, dank dem
+nachschiebenden Winde und unseren Leuten, welche die Stangen mit Rudern
+vertauschten und die Fähre über ziemlich offenes Wasser ruderten.
+
+Auf der anderen Seite mußten wir uns wieder durch einen Korridor
+zwängen, wo das 4 Meter hohe Schilf einer dichten Hecke glich. Das
+war ein Geschrei und Lärm in diesem Hohlwege, wo wir drauf und dran
+waren, wie in einer Mausefalle steckenzubleiben, ohne vorwärts oder
+rückwärts zu können; wir hatten allen Grund zu fürchten, daß dies der
+unglückselige Punkt sei, an dem wir die Fähre zurücklassen mußten!
+
+Solange wir festsaßen, hatten wir es schön in dem kühlen Schatten.
+Dagegen bildeten die durch die Luft schwärmenden Bremsen (Kökkön)
+eine wirkliche Landplage. Unaufhörliches Brummen ertönt in den Ohren;
+sie setzen sich klatschend auf das Kartenblatt, lassen sich in meiner
+Kajüte häuslich nieder und stechen und quälen uns wie böse Geister.
+Ich hätte mich freilich mit dem Moskitonetze schützen können, schämte
+mich aber vor den Leuten, die nackt im Wasser gingen und sich gar
+nicht beklagten. Bei Sonnenuntergang verschwinden diese scheußlichen
+Insekten, aber nur, um Mücken und Moskitos Platz zu machen. In dieser
+Jahreszeit hat man im Loplande weder Tag noch Nacht vor den Insekten
+auch nur eine Stunde Ruhe.
+
+In den See Tuwadaku-köll war nicht leicht hineinzukommen. Die Passage
+war gerade 1½ Meter zu schmal, dazu seicht und winkelig; aber
+dies war der einzige Weg, der sich uns bot (Abb. 106). Etwa 20 Leute
+arbeiteten ein paar Stunden mit Spaten an der Vertiefung des Kanals
+und hieben das Schilf auf beiden Seiten fort; auf diese Weise drang
+die Fähre Fuß für Fuß vor. Um die Arbeit zu erleichtern, steckten
+wir nach und nach das Schilf in Brand, wodurch kolossale Feuersäulen
+und Rauchwolken von dem See aufstiegen. Dieses Verfahren ist jedoch
+manchmal recht unangenehm und konnte nur auf der Leeseite der Fähre
+vorgenommen werden. Man begab sich sozusagen mit Hab und Gut auf einen
+brennenden See hinaus; wäre uns das Feuer zu nahe gekommen, so hätte
+der Oberbau der Fähre ebenso hell gebrannt wie das Schilf.
+
+Bei dem Dorfe +Jekkenlik+, das auf einer Insel inmitten des
+gleichnamigen Sees liegt und von zwei Familien bewohnt wird, ließen wir
+nach einem sehr anstrengenden Tage die Anker fallen.
+
+Die Exkursion, die wir am 25. Mai nach dem Beglik-köll unternahmen,
+wurde eine ziemlich muntere Fahrt. Früh am Morgen war die Luft
+außergewöhnlich frisch, obwohl das Minimumthermometer nicht unter +16
+Grad heruntergegangen war; es ist merkwürdig, wie schnell sich der
+Körper an die verschiedenen Temperaturen gewöhnt; im Winter war es
+uns bei -10 Grad oft warm vorgekommen. Die Atmosphäre war vollkommen
+ruhig, und der Jekkenlik-köll lag spiegelblank, als wir nach dem Dorfe
++Kattik-arik+ hinüber ruderten. Dieses besteht aus zwei Sattmen
+mit drei Familien, die uns freundlich begrüßten und uns halfen, die
+Kähne über eine schmale Landenge nach dem alten, jedoch noch mit
+stillstehendem, klarem Wasser gefüllten Bette des Jarkent-darja zu
+schleppen.
+
+Der Abwechslung halber hatte ich Schagdur mitgenommen. Er war im
+Ablesen der Tiefen und Geschwindigkeiten schon ebenso geschickt wie
+Sirkin; nur eine Eigenschaft machte ihn für diese abenteuerlichen
+Seefahrten ungeeignet, und diese bestand darin, daß er nicht schwimmen
+konnte.
+
+Still und ruhig lag der Beglik-köll da, und man ahnte kaum, daß
+dieser Wasserspiegel von den Mächten des Himmels zu schäumenden Wogen
+aufgepeitscht werden könne. Es tat mir beinahe leid, die Spiegelbilder,
+die sich naturgetreu wie Photographien auf der Wasserfläche zeigten,
+zerstören zu müssen. Heißer denn je brannte die Sonne. Ich mußte meinen
+weißen Anzug unaufhörlich mit Wasser bespritzen, um es einigermaßen
+kühl zu haben. Der ganze Tag wurde diesem See gewidmet, und dennoch
+kamen wir nicht mehr dazu, die Messungen auf ein paar Fjorden ganz zum
+Abschlusse zu bringen. Einer von ihnen wurde von einem Dünenkamme aus
+in die Karte eingetragen. Der Sand war glühend heiß, er brannte durch
+die Schuhsohlen, und es war daher schön, eine Weile auf der Kahnreling
+zu sitzen, mit den Füßen im Wasser zu plätschern und eine Pfeife
+Virginia zu rauchen.
+
+Wir hatten dort noch nicht lange gesessen, als mein alter Freund Kirgui
+Pavan, auch Kurban genannt, auf die hohen, steilen Dünen des uns gerade
+gegenüberliegenden östlichen Ufers zeigte und mit fragendem Tone
+„Kara-buran“ (schwarzer Sturm) sagte. Dort sah man eine dunkle, ein
+wenig schräge Säule mit einem Kapitäl aus helleren Wolken am Horizont
+aufsteigen. Ähnliche Säulen tauchten nach und nach in langen Reihen
+auf beiden Seiten der ersten auf, Händen und Fingern vergleichbar; sie
+zogen sich allmählich zu einer zusammenhängenden Wand mit gezähnten
+Konturen zusammen, die immer höher wurde. Wir schwebten nicht länger
+über das, was uns bevorstand, in Ungewißheit.
+
+Einen Augenblick überlegten wir die Situation. Die Lopleute stimmten
+dafür, zu bleiben, wo wir waren; darauf konnte ich aber durchaus nicht
+eingehen, nicht weil wir nicht genügend Proviant hatten und ich die
+Nacht lieber in meiner bequemen Hütte zugebracht hätte, sondern einzig
+und allein, weil die Chronometer zur bestimmten Zeit aufgezogen werden
+mußten. Kirgui Pavan war gar nicht dafür, bei einem von Osten kommenden
+Sturme am Westufer zu liegen. Er war außerordentlich vorsichtig und
+klug, hatte aber nie Angst, und wenn Gefahr vorhanden war, verlor er
+nie seine Kaltblütigkeit. Jetzt machte er seine Berechnungen und schlug
+dann vor, wir sollten versuchen, die Mündung des schmalen Kanales zu
+erreichen, der den Beglik-köll vom Flusse aus mit Wasser versieht und
+der so lang ist, daß wir am Morgen zwei gute Stunden gebraucht hatten,
+um ihn zurückzulegen. Doch von seiner Mündung trennte uns die größte
+Partie des Sees mit einem breiten Fjord, der sich westwärts in den See
+hineinzieht.
+
+Nach dem Ostufer hinüberzugehen, wo wir unter den Dünen Schutz gehabt
+hätten, wäre das beste gewesen; aber obwohl der See noch so gut wie
+ganz ruhig dalag, rieten doch alle davon ab, denn die Entfernung war
+zu groß und es wäre uns nicht gelungen, noch hinüberzukommen. Es blieb
+uns also nichts weiter übrig, als die Fjordmündung zu kreuzen und dann
+am nördlichen Seeufer, wo wir zwischen kleinen Holmen und Inseln Schutz
+finden würden, entlang zu rudern.
+
+Die Männer ruderten mit solcher Kraft, daß ich erwartete, die Ruder
+zerspringen zu hören; diese standen so straff gespannt im Wasser wie
+Pfeilbogen, als wir über das stille Wasser hinsausten, und der Schaum
+spritzte büschelförmig vom Bug der Kähne auf (Abb. 105). Wir machten
+fast 9 Kilometer in der Stunde. Die Leute waren fürchterlich ängstlich
+und unausgesetzt riefen sie mit dumpfer, hohler Stimme: „ja Allah!“
+Noch war die Atmosphäre still, aber deutlich fühlte man, daß eine
+fürchterliche Revolution bevorstand, und man sah, wie der Sturm an
+Boden gewann.
+
+„Jetzt ist er schon auf den äußersten Dünen“, sagte Kirgui Pavan in
+demselben Augenblick, als sich ihre Konturen auflösten und wie auf
+einer Schiefertafel ausgelöscht wurden; im Nu verschwand die ganze
+Dünenwand, der ganze Strand in dickem, gelbgrauem Nebel. „Rudert,
+rudert, Kinder, es gibt einen Gott.“ fügte er, die Leute anfeuernd,
+hinzu. „Chodaim var“ (es gibt einen Gott) war in allen kritischen
+Fällen sein stehender, beruhigender Wahlspruch.
+
+Jetzt kamen die ersten Windstöße aus Ostnordost, dann hörte man das
+Brausen, als der schwarze Sturm auf das Wasser niederschlug, welches
+zischte und spritzte und in wenigen Minuten mit hohen, dunkeln,
+rollenden Wogen in völligem Aufruhr war. Je näher der Sturm kam, desto
+angestrengter wurde gerudert, und die Geschwindigkeit betrug jetzt bis
+an das Nordufer sicherlich 10 Kilometer. „Wir kommen nicht mehr hin,“
+riefen sie, „ja Allah!“
+
+Ich steckte die wenigen mitgenommenen Instrumente zu mir, zog mir
+Schuhe und Strümpfe aus und war auf alles gefaßt. „Jetzt ist er hier!“
+schrien unsere Ruderer, die alle auf den Knien lagen, die Ruder fester
+fassend, und die Ruderschläge folgten so dicht aufeinander, als würden
+die Arme der Ruderer mit Dampf getrieben.
+
+Gerade als der Sturm uns erreichte und die leichten Boote umgerissen
+hätte, wenn wir uns nicht rechtzeitig luvwärts gebeugt hätten, wurden
+wir in dicken Nebel gehüllt, der aus lauter feinem Staube bestand.
+Jetzt verhüllte er auch das westliche und nördliche Ufer, und recht
+ernste Gefühle bemächtigten sich unserer, als wir nichts weiter
+sahen als tobende Wellen, zwischen denen die Kähne wie Strohhalme
+verschwanden.
+
+Kirgui Pavan aber und seine Ruderer kannten einen feinen Kniff, der
+darin bestand, bei jeder heranstürmenden hohen Welle die Kähne ein
+bißchen gegen den Wind zu kehren; auf diese Weise nahmen wir nicht so
+sehr viel Wasser ein, obwohl wir alle von dem aufspritzenden Gischt
+völlig durchnäßt wurden.
+
+Wir waren noch im letzten Augenblick vom Westufer aufgebrochen; ein
+paar Minuten später und die Kähne wären untergegangen. Schön war es,
+als wir endlich die am Nordufer stehenden Tamarisken wie dunkle Flecke
+durch den Nebelschleier schimmern sahen, und bald darauf befanden
+wir uns im Schutze eines vorzüglichen Wellenbrechers, einer langen,
+schmalen Halbinsel.
+
+Sirkin und Nasar Bek hatten sich unsertwegen sehr beunruhigt, und
+letzterer begab sich selbst mit zwei großen Kähnen von Jekkenlik
+nach dem Beglik-köll, um uns Entsatz zu bringen. Wir trafen ihn
+und seine Begleiter in der Nähe der Kanalmündung, und sie waren
+freudig überrascht, uns wohlbehalten auf dem Rückwege zu sehen. Er
+hatte Betten, warme Kleidungsstücke und Proviant mitgebracht, eine
+vollständige Ausrüstung, die Sirkin für den Fall, daß wir am Abend
+nicht zurückkehren könnten, zurechtgemacht hatte.
+
+[Illustration: 121. Aufbruch ins tibetische Hochgebirge. (S. 300.)]
+
+[Illustration: 122. Zwei gefangene Kulanfüllen. (S. 309.)]
+
+[Illustration: 123. Die Kulanfüllen von vorn gesehen. (S. 309.)]
+
+[Illustration: 124. Ein Parallelkamm des Arka-tag, von Lager Nr. 19 aus
+gesehen. (S. 315.)]
+
+[Illustration: 125. Einige unserer Pferde im südlichen Quertale (3.
+Aug. 1900). (S. 317.)]
+
+Bei solchem Wetter, in dem man nicht sieht, nach welcher Seite
+man schwimmen muß, hätte ein Schiffbruch draußen auf offenem See
+verhängnisvolle Folgen haben können. Alle, außer Schagdur, waren
+allerdings gute Schwimmer; dagegen ist die Tragkraft der Kähne, wenn
+sie erst mit Wasser gefüllt sind, gering; die Instrumente wären wohl
+für immer verloren gewesen.
+
+Leicht war es nicht, die Fähre in dem so schilfreichen Jekkenliksee
+zu finden. Es war pechfinster, als wir an dem See anlangten, und der
+Sturm war jetzt auf dem Gipfel seiner Wut. Wir sahen absolut nichts,
+fühlten aber um so mehr, wie die Schilfhecken vom Buran auf unsere
+Kähne niedergeschlagen wurden und unser Gesicht peitschten. Ich mußte
+die ganze Zeit über die Arme hoch halten und mit ihnen abwehren, um
+nicht von den langen scharfen Blättern geschnitten zu werden. Rufen
+und Warnen nützte gar nichts, das Sausen des Windes in dem Kamisch
+ließ jeden anderen Laut ersterben. Wie die Ruderer den Weg fanden,
+weiß ich nicht, aber schließlich wurde doch das von Sirkin angezündete
+Feuer sichtbar. Wir befanden uns schon dicht vor dem Lager; obwohl die
+Scheiter in dem intensiven Winde weiß glühten, hatten sie den Nebel
+nicht weiter zu durchdringen vermocht.
+
+Dies war einer der unheimlichsten Stürme, die ich je erlebt habe, und
+in dieser Nacht wurde nicht viel aus dem Schlafen. Das meteorologische
+Observatorium wurde hereingenommen, in den Kajüten wirbelten alle
+leichteren Sachen umher und mußten rechtzeitig fest verstaut werden,
+und durch die Filzdecken kam ein Regen von Sand und Staub. Am
+unruhigsten war ich des Feuers wegen, denn die Fähre war überall von
+Schilf umgeben; daher wurden sowohl an Bord wie auf dem Land die ganze
+Nacht hindurch Wachen ausgestellt.
+
+
+
+
+Vierundzwanzigstes Kapitel.
+
+Die letzte Reise der Fähre.
+
+
+Den ganzen folgenden Tag tobte der Sturm, und geduldig mußten wir in
+Jekkenlik warten. Gegen Abend ließ er ein wenig nach, und ich machte in
+dem neuen Boote eine herrliche Segelfahrt über die offenen Flächen des
+Sees.
+
+Am 27. Mai, der windstilles warmes Wetter brachte, wurde der Rest
+des Jekkenlik-köll bis an den Punkt zurückgelegt, wo sein Wasser in
+Kaskaden in das Bett des Tarim hinunterströmt. Wir waren umgeben von
+einer Flottille von 12 Booten mit 30 Mann Besatzung, die uns über die
+Fälle hinweghelfen sollten. Es war ein eigentümliches Gefühl, als
+die Fähre von Fallkamm zu Fallkamm sank; sie beugte sich mit ihrem
+Vorderteile vornüber, um im nächsten Augenblick von der aufgeregten
+Wassermasse in Empfang genommen zu werden. Es herrschte die größte
+Spannung, und die Leute schrien, daß einem der Kopf schwindeln konnte;
+aber es lief doch alles glücklich ab, und die Fähre glitt ruhig auf den
+Tarim hinaus.
+
+Am folgenden Tage wurden alle unnötigen Gäste, mit dem alten Naser Bek
+an der Spitze, verabschiedet, und in ihrer Einwohnerzahl dezimiert,
+zog die Flottille langsam flußabwärts. Die Tage waren folgendermaßen
+eingeteilt. Bei Sonnenaufgang wurde ich von Schagdur geweckt und
+inspizierte dann das Lager mit einem „Guten Morgen, Kosaken“, was
+mit militärischem Honneurmachen und „Starovie schelajim vasche
+prevoschoditelstvo“ (wir wünschen Euer Exzellenz Gesundheit) erwidert
+wurde; an die Muselmänner wurde der gewöhnliche Gruß „Salam aleikum“
+(Friede sei mit euch) gerichtet, der wie ein Echo von allen Lippen
+zurückschallte. Das Frühstück bestand aus Fisch, Eiern, Tee und Brot.
+Während des Tages stand das Teegeschirr in meiner Kajüte, und der
+Samowar war bei den Kosaken stets angeheizt. Die Hauptmahlzeit wurde
+gegen 8 Uhr abends eingenommen und bestand aus Reispudding, Fisch,
+Kaffee und Milch. Die Arbeit wurde, solange es Tag war, ununterbrochen
+fortgesetzt, und den Abend nahm das Eintragen der am Tage gemachten
+Beobachtungen in Anspruch.
+
+Schagdur machte sich vortrefflich, und ich gewann diesen prächtigen
+Kosaken, zu dem ich unbeschränktes Vertrauen hatte, immer lieber. Er
+hatte schon ziemlich geläufig mit den Muselmännern sprechen gelernt
+und nahm aus eigenem Antrieb bei Sirkin Unterricht in meteorologischer
+Beobachtungskunst, sowie im Lesen und Schreiben in russischer Sprache,
+worin er sich während dieser Fahrt so vervollkommnete, daß er mir
+später bei mehreren Gelegenheiten, als wir getrennt waren, Briefe
+schreiben konnte. Hätten die Kosaken einen weniger guten Charakter
+gehabt, so wären sie vielleicht während der Reise verdorben worden,
+denn sie hatten sehr viel Freiheit, solange sie in meinen Diensten
+standen. Doch ihre Disziplin erschlaffte nicht um Haaresbreite, und nie
+vergaßen sie die Achtung, die sie dem ihnen zugeteilten Vorgesetzten
+schuldig waren.
+
+Der Beste unter den Muhammedanern war Kirgui Pavan, der siebzigjährige
+Kameljäger aus Tikkenlik, ein durch und durch ehrlicher, anständiger
+Mensch, angenehm und munter im Umgang. Er hielt sich tagelang vor dem
+Schreibtisch im Vorderteile auf, wo er die Steuerbordstange führte,
+während Aksakal aus Jangi-köll, ein großer, starker, weißbärtiger
+Mann von 60 Jahren, die Backbordstange hatte. Es bereitete mir ein
+Extravergnügen, der Unterhaltung dieser beiden Greise über die
+Aussichten der Fahrt und die beständig größer werdenden Entfernungen,
+die sie von ihrer Heimat im Nordwesten trennten, zuzuhören. Sie
+zerbrachen sich den Kopf darüber, wie sie überhaupt wieder zurückkommen
+sollten, und ich mußte sie wiederholt beruhigen und ihnen versprechen,
+daß ich für ihre Rückkehr sorgen würde. Vorläufig war Kirgui Pavan das
+Land noch bekannt, und es war ein großer Vorteil, ihn beim Beginnen
+jedes neuen Kartenblattes nach der nächsten Hauptrichtung des Flusses
+fragen zu können, denn sonst geschah es leicht, daß die angefangene
+Zeichnung nach einer Weile über den Rand des Blattes hinausging.
+
+Ördek, der sich so vortrefflich gemacht hatte, meldete sich krank und
+mußte zu Kahn nach seiner Heimat zurückgebracht werden. --
+
+Wir hatten beim Einbrechen der Dunkelheit die Fähre vertäut, ich
+hatte zu Mittag gegessen und war mit meinem Tagebuch beschäftigt,
+als die Hunde zu bellen begannen und ein unbekannter Kahn im Dunkeln
+heranruderte und anlegte. Ich glaubte, ein Loplik wolle uns besuchen,
+doch es ertönten schnelle Schritte auf dem Seitengange der Fähre,
+die Filzvorhänge meiner Kajüte wurden zurückgeschlagen, und die
+wohlbekannten Züge des Dschigiten Musa zeigten sich. Er war in 33 Tagen
+mit Post von Kaschgar geritten und war uns von dem Lager in Jangi-köll,
+das er öde und leer gefunden, flußabwärts zu Boot gefolgt. Die Ankunft
+der Dschigiten bildete stets die großen Festtage der Reise, an denen
+die Verbindung mit der Heimat und der Außenwelt wieder angeknüpft
+wurde. Nachdem Pakete von Briefen, Büchern und Zeitungen auf dem
+Fußboden aufgereiht worden, wurde die Kajüte zugemacht, und ich legte
+mich hin und las bis um 3 Uhr morgens.
+
+29. Mai. Mein alter Lotse Kirgui Pavan teilte mir wie gewöhnlich die
+Namen der Gegenden und einzelnen Stellen mit und erzählte mir alles,
+was er von dem Flusse aus früherer und aus jetziger Zeit wußte. An
+einen Hügel bei einer einsamen Pappel namens Kamschuk-tüschken-tograk
+(die Pappel, wo sich Kamschuken niederließen), knüpfte er eine dunkle
+Geschichte von Menschen unbekannten Stammes, aber obenerwähnten
+Namens, die vor mehreren Jahrzehnten von Korla gekommen und auf
+einigen aus Pappelstämmen zusammengefügten Flößen den Kontsche-darja
+hinuntergegangen waren. Es waren etwa fünfzig Familien mit Frauen und
+Kindern, aber verhältnismäßig wenig alten Leuten gewesen. Sie reisten
+langsam, rasteten hier und dort ein paar Tage, waren arm und tauschten
+sich gegen Flinten und Pulver Lebensmittel ein. Kirgui Pavan hatte sie
+in seiner Jugend selbst gesehen. Er erinnerte sich, daß sie geschickte
+Schützen gewesen, die sich von Fischen und Wildschweinfleisch ernährt
+haben. Ihr Führer hieß Jiwen (Iwan?) und hatte das Land vorher allein
+besucht, um zu sehen, ob es sich zur Ansiedelung eignete. Beim
+Schafschlachten hatten sie nicht ebenso verfahren wie die Muselmänner,
+sondern das Schaf erst durch einen Keulenschlag vor die Stirn betäubt.
+Ein älteres Mitglied ihrer Gesellschaft war von den Lopbewohnern
+Jeghalaghak, der „Weinende“, genannt worden; seine Gattin war gestorben
+und lag bei der obenerwähnten Pappel begraben. Auf Befehl Aschur Beks
+von Turfan hatten sie nach dreijährigem Aufenthalt im Loplande, wo sie
+bis Tscharchlik gekommen waren, auf demselben Wege wieder zurückkehren
+müssen. Die Rückreise hatten sie zu Land angetreten und waren in einer
+dunkeln Nacht von einem Buran überfallen worden. Hierbei verschwand ein
+junges Mädchen, die Braut eines Mannes namens Eweranj. Dieser war vor
+Gram beinahe wahnsinnig geworden und hatte seine Verlobte Tag und Nacht
+gesucht; da sie sich aber offenbar im Sturme verirrt hatte, hatten sie
+sie ihrem Schicksale überlassen und waren weitergezogen. Alle sprachen
+fließend „Turki“ und sagten, daß sie Flüchtlinge seien.
+
+Diese unzusammenhängende, bruchstückhafte Erzählung war die einzige
+Raskolnikenüberlieferung, die ich im Loplande hörte. --
+
+Gegen Abend begann der Fluß wieder unruhig und launenhaft zu werden;
+er teilte sich in mehrere Arme, unter denen wir unseren Weg mit großer
+Vorsicht auswählen mußten, und ergoß sich schließlich in den neuen See
++Sattowaldi-köll+, wo wir auf einer kleinen Insel, dem einzigen
+in Sehweite befindlichen festen Boden, lagerten. Hier waren die Mücken
+noch lästiger als gewöhnlich, und ich hatte in meiner Kajüte ein
+brennendes Becken mit Kamischhäcksel, um Ruhe vor ihnen zu haben.
+
+Die nächste Tagereise führte ununterbrochen über Seen und durch ein
+Labyrinth von engen Kanälen, in denen wir nur mit Hilfe aufgebotener
+Leute vordringen konnten. Wir lagerten jedoch abends wieder auf dem
+alten Tarim, der hier 23,8 Kubikmeter in der Sekunde führte.
+
+Nachdem am 1. Juni der Dschigit Musa mit der neu gefüllten Posttasche
+wieder zurückgeschickt worden war, setzten wir unseren Weg auf dem
+Flusse fort. Der Tarim fing an, unangenehm gewunden zu sein, und der
+Wind war uns hinderlich; bisweilen half nicht einmal das Arbeiten
+mit Rudern und Stangen, und erst am Abend des 2. Juni erreichten wir
++Ajag-argan+, wo wir auf derselben Landzunge lagerten, wo unser
+Zelt schon zweimal aufgeschlagen gewesen war.
+
+Hier blieben wir verschiedener Arbeiten wegen zwei Tage liegen. Die
+Muselmänner beschäftigten sich mit gründlicher Reinigung der Fähre. Ich
+maß die beiden Flüsse, die der Tarim bei Argan aus dem Tschiwillik-köll
+erhält und die zusammen 36,5 Kubikmeter Wasser führten. Wir würden also
+während der noch folgenden Tagereisen nicht über Wassermangel zu klagen
+haben. Der vereinigte Fluß, der von hier an auch Baba Tarim (Flußgreis)
+genannt wird, hatte jetzt 60,8 Kubikmeter in der Sekunde.
+
+Die Strecke am 5. Juni war voller Biegungen und Windungen und führte
+durch ziemlich üppigen Wald, der jetzt in seiner größten Sommerpracht
+stand. Das Wasser des Flusses hatte 23,5 Grad. Sirkin pflegte oft von
+der Fähre hineinzuspringen und eine kleine Schwimmtour um sie herum
+zu machen. Ich selbst badete nur um Mitternacht und 7 Uhr morgens,
+hatte aber den ganzen Tag über einen großen Zuber mit Wasser in meiner
+Kajüte, um mich zwischen den Kompaßpeilungen erfrischen zu können.
+Jeden Abend legten die Kosaken ihre Netze aus, und wir konnten uns also
+selbst mit Fischen versorgen. Eines Morgens betrug der Fang zwanzig
+Stück, die so groß waren, daß ein Fisch gut für einen hungrigen Mann
+ausreichte.
+
+Flußabwärts nehmen Bremsen, Mücken und Moskitos in beängstigendem Grade
+zu, und wo sie sich zusammentun, hat man keine sonderliche Freude am
+Dasein. Sie sind außerordentlich gesellschaftlich und übertreffen
+einander an Aufmerksamkeit. Doch gegen sie zu kämpfen, ist ganz
+vergeblich; man zieht dabei in jedem Falle den kürzeren. Die Stiche
+der Bremsen brennen wie Feuer, und jeden Abend liegen Hunderte dieser
+Insekten tot um den Schreibtisch herum, so daß täglich ausgefegt
+werden muß. Die Hunde führen einen verzweifelten Krieg mit ihnen und
+haben nur nachts Ruhe. Die Hütten, die wir gelegentlich passieren,
+sind unbewohnt, und Hirten fehlen, weil ihre Herden von den Bremsen
+vernichtet werden würden. Die Kaufleute, die in dieser Jahreszeit
+zwischen Tscharchlik und Korla reisen, reiten nur nachts und schützen
+ihre Tiere in Kamischhütten.
+
+Wir rasteten bei +Küjüsch+, um dort unser Abendbrot zu essen und
+den Fluß zu messen, aber um 10 Uhr brachen wir wieder auf und hatten
+noch ein paar Stunden Nutzen vom Monde. Nachdem dieser untergegangen
+war, umgab uns tiefes Dunkel. Vor uns war nur die uns führende
+chinesische Papierlaterne zu sehen, die, an ihrer Stange schaukelnd,
+wie ein Elmsfeuer über das Wasser hinhuschte. Die Nacht war absolut
+ruhig und windstill; kein Laut war zu hören, kein Hauch zu spüren.
+Die Bremsen schlummerten längst zwischen Gras und Schilf, bisweilen
+plätscherte ein Fisch im Wasser, oder man hörte das leise Rauschen um
+einen steckengebliebenen Stamm.
+
+Auf der Kommandobrücke saßen die Kosaken, rauchten ihre Pfeifchen und
+amüsierten die Gesellschaft mit der Spieldose, wodurch sie auch die
+Leute wachhielten, was jedoch infolge der Furcht derselben vor dem
+Anprallen gegen überhängende Pappeln und dem Aufgrundgeraten eigentlich
+überflüssig war. Sirkin hatte eine gewaltige Ölfackel angezündet, um
+die Ufer zu beleuchten, und er und Schagdur berichteten mir ständig
+von dem Aussehen der Ufer, z. B. „rechts dichter Wald am Ufer, links
+Kamischfelder, Gesträuch und junger Wald“ usw. Die Kompaßrichtungen
+wurden nach der Laterne gepeilt.
+
+So gleiten wir denn, von stiller Nacht umgeben, diesen endlosen Fluß
+hinab. Alle freuen sich nach einem glühend heißen Tage der erquickenden
+Kühle und können jetzt ihre sommerlich dünnen Kleidungsstücke
+öffnen, ohne juckende Stiche befürchten zu müssen. Ich begleite am
+Schreibtische mit der Flöte die wohlbekannten Melodien der Spieldose,
+die Kosaken qualmen ihre Schifferpfeifen, Kirgui ruft dann und wann
+sein: „Chabardar“ (gebt acht), wenn er besondere Wachsamkeit für
+nötig hält, und Stunde auf Stunde gleiten wir den gewaltigen Fluß
+hinab, seinem Grabe in der Wüste entgegen. Das Stundenglas ist bald
+abgelaufen; es sind die letzten Pulsschläge, denen wir folgen, und mit
+einem Gefühle des Bedauerns sehe ich eine Flußbiegung nach der anderen
+hinter uns verschwinden.
+
+Wenn dann die Musik den Reiz der Neuheit eingebüßt hat, stellen sich
+Müdigkeit und Schlaflust ein. Die Spieldose verstummt, die Fackel darf
+erlöschen, Sirkin pufft Aksakal, dessen geneigter Kopf bedenklich
+hin und her schwankt, wird aber selbst eine Weile darauf überrascht,
+wie er, den Rücken an die Reling gelehnt und den Kopf über den Rand
+hinaushängend, mit weitgeöffnetem Munde eine Serenade zu Ehren des
+Sandmannes anstimmt. Hinterlistig gerät seine Mütze ins Gleiten und
+fällt ins Wasser, er fährt auf und ist eine Weile munter wie ein Fisch.
+
+Um 2 Uhr nachts erbarmte ich mich meiner müden Diener, die nicht von
+denselben Interessen wachgehalten werden konnten wie ich. Wir vertäuten
+die Fähre am Ufer, und nach fünf Minuten herrschte an Bord lautlose
+Stille.
+
+Wir hatten jedoch nicht lange geruht, als ein neuer Buran heransauste
+und meine Filzdecken losriß; er tobte den ganzen Tag und machte uns
+das Aufbrechen unmöglich. Erst um 10 Uhr abends nahm er ab und gönnte
+uns Zeit zu einer dreistündigen Fahrt. Aber am 8. und 9. Juni hielt
+uns der wütende Sturm wieder fest. Kleine Flugsanddünen lagerten sich
+überall in der Kajüte ab; man braucht beim Schreiben kein Löschpapier;
+ich selbst bin wie mit Puder überschüttet, in der Teetasse kann man,
+wenn man sie zuzudecken vergißt, alluviale Gebilde und sedimentären
+Schlamm studieren, und Schagdurs Frühstückskotelette sind mehr sandig
+als gesalzen.
+
+Ganz passend, um mir während dieses gezwungenen Wartens Beschäftigung
+zu geben, langte noch ein Dschigit an, und ich dachte mir gleich, daß
+er mir wichtige Nachrichten bringen würde, denn er war ein Extrakurier,
+dessen Absendung nicht vereinbart worden war. Konsul Petrowskij teilte
+mir denn auch mit, er habe vom Generalgouverneur von Turkestan ein
+Telegramm bekommen, daß die beiden Kosaken Sirkin und Tschernoff unter
+den jetzigen unruhigen Verhältnissen an mehreren Grenzen Asiens nicht
+länger zu entbehren seien, sondern nach Kaschgar zurückgeschickt werden
+müßten.
+
+Diese Nachricht traf mich sowohl wie Sirkin, der uns danach in einigen
+Tagen verlassen mußte, wie ein Donnerschlag. Wir sprachen lange
+darüber und mutmaßten, daß an der sibirischen Grenze ernste Unruhen
+ausgebrochen seien; von den wahren Verhältnissen, dem Kriege in China,
+hatten wir ja keine Ahnung. Zunächst schickte ich sofort einen Eilboten
+mit einem Briefe an Tschernoff, daß er sich unverzüglich nach Abdall
+zu begeben habe. Sirkin mußte ja seinen Kameraden erwarten, einzeln
+konnte ich sie nicht reisen lassen. Als ich nun vor dieser gezwungenen
+Trennung stand, freute ich mich, daß ich in einem von Jangi-köll an
+den russischen Kaiser abgegangenen Briefe ausführlich von diesen
+beiden Kosaken und den unschätzbaren Diensten, die sie mir geleistet,
+gesprochen hatte.
+
+Am Abend des 9. waren wir sehr in Unruhe um Schagdur, der gegen 5 Uhr
+auf die Jagd gegangen war. Als er um die Abendbrotzeit, um 9 Uhr, noch
+nicht da war, zündeten wir an verschiedenen Punkten des Ufers sechs
+Feuer an, die malerisch und unheimlich leuchteten und den feinen Staub,
+der noch immer die Luft erfüllte, rot färbten. Doch er kam nicht, und
+es war klar, daß er sich verirrt hatte. Ich schickte nun alle Mann mit
+Öl- und Kienfackeln nach verschiedenen Seiten aus. Ich hörte ihre Rufe
+in der Ferne verhallen und dachte an die Gefahren, die einen einzelnen
+Fremdling unter Flugsanddünen, Tigern und Wildschweinen umlauern
+können. Es wäre schlimm gewesen, drei von den vier Kosaken auf einmal
+zu verlieren.
+
+Die Kundschafter kehrten einer nach dem anderen unverrichteter Dinge
+zurück. Um Mitternacht kam Schagdur selbst und berichtete, daß er ein
+Reh verwundet habe, das nach Westen in den Sand hinein geflohen sei.
+Er habe seine Beute stundenlang verfolgt, und als er beim Eintreten
+der Dunkelheit umgekehrt sei, habe er seine Spur verloren, sei aber
+gerade nach Osten gegangen. Dann sei er längs des Flusses am Ufer
+weitermarschiert, bis er endlich eines der Feuer erblickt habe.
+
+Am 10. konnten wir weiterfahren. +Tuga-ölldi+ (das Kamel starb)
+ist eine Gegend auf dem linken Ufer. Mongolen, die zu Jakub Beks Zeit
+nach Lhasa pilgerten, pflegten aus Furcht vor Jakub Beks Leuten auf
+dem linken Ufer hinzuziehen. Auf einer solchen Reise war eines ihrer
+Kamele an diesem Punkte gestorben. Ein längst vergessenes, unwichtiges
+Ereignis bleibt so durch den Namen der Nachwelt erhalten. Jetzt
+benutzen die Mongolen stets die große Karawanenstraße, die am rechten
+Ufer entlang geht.
+
+Bei Schirge-tschappgan hielten wir abends an, um den Fluß an demselben
+Punkte wie am 18. April zu messen; die Wassermasse betrug 68,3
+Kubikmeter; der Fluß fällt also in dieser Jahreszeit sehr bedeutend.
+Nachdem der letzte Dschigit von hier nach Kaschgar zurückgeschickt
+worden war, fuhren wir nachts weiter und hatten mehrere Kähne vor uns,
+welche die Ufer mit Fackeln erhellten. Es war ein seltsamer Fackelzug,
+der in stiller Nacht den Tarim hinabzog, während die Kahnleute ihre
+eintönigen, schwermütigen Liebeslieder sangen.
+
+Von der Strecke von Schirge-tschappgan bis +Tscheggelik-ui+ hatte
+ich 1896 eine Karte aufgenommen, und als wir am 11. Juni +Ak-köll+
+passierten, sah ich, daß die früher hier befindliche große Flußbiegung
+verlassen worden war und der Fluß sich quer durch die Landzunge
+gearbeitet hatte.
+
+[Illustration: 126. Aussicht vom Passe nach Ost zu Nord (3. Aug. 1900).
+(S. 317.)]
+
+[Illustration: 127. Aussicht vom Passe nach Norden (3. Aug. 1900). (S.
+317.)]
+
+Im Laufe des Tages hörte der Wald auf, und das Land war nach allen
+Seiten hin offen und flach. Die Luft war still, aber noch herrschte
+nach all den Stürmen Halbdunkel. Einige Kähne begegneten uns; in dem
+ersten saß Temir Bek von Tscheggelik-ui. Er wurde an Bord eingeladen
+und teilte mir unter anderem mit, daß es unmöglich sei, mit der Fähre
+jenseits seines Dorfes weiterzukommen, denn der Semillaku-köll sei ganz
+mit Schilf zugewachsen. Obgleich ich mich nach der frischen Gebirgsluft
+und meine Ruderer sich nach Hause sehnten, dachten wir doch mit einer
+gewissen Wehmut daran, daß dies die letzte Fahrt unserer alten Fähre
+war. In später Nacht vertäuten wir unser Fahrzeug zum letztenmal am
+linken Tarimufer, +Tscheggelik-ui+ gerade gegenüber.
+
+Schon am folgenden Morgen schickte ich Kirgui Pavan auf Rekognoszierung
+nach den Seen. Er kam mit der Nachricht zurück, daß die Fahrstraße für
+die große Fähre unpassierbar sei. Um seine Ansicht zu bekräftigen,
+brachte er ein Bündel Kamischstengel mit, deren Länge die Tiefe des
+Wassers in den seichtesten Stellen angab. Er glaubte jedoch, daß wir
+mit 25 Mann in 4 Tagen einen fahrbaren Kanal herstellen könnten. Dieser
+Vorschlag wurde nicht angenommen, weil es bis Abdall nur noch drei
+Tagereisen waren. Ich beschloß daher, einige Tage in Tscheggelik-ui zu
+bleiben, weil ich der Dunkelkammer noch einmal zum Entwickeln bedurfte
+und ein paar neue Fahrzeuge hergerichtet werden sollten.
+
+So brachten wir denn in diesem friedlichen Fischerdorfe eine
+behagliche Ruhewoche zu (Abb. 107). Wir lagen am westlichen Ufer und
+hatten Aussicht auf das Dorf mit seinen Kamischhütten, auf seine
+offenen Ställe (Abb. 108), wo Rinder, Pferde und Esel von Millionen
+Bremsen gepeinigt wurden, und den Strand, wo kleine nackte Kinder
+umherliefen und zwischen den Kähnen spielten. Der Hintergrund dieses
+lebhaften Bildes war ein ~memento mori~, der Begräbnisplatz des
+Fischerdorfes mit seinen Stangen und Wimpeln, die über den Wohnungen
+der Toten im Winde flatterten.
+
+Jede Nacht arbeitete ich bis 4 Uhr in der Dunkelkammer; Sirkin war
+dabei mein Gehilfe, er holte reines Wasser und trocknete die Kopien.
+Das Wetter war eigentümlich, denn es stürmte beinahe ununterbrochen
+aus Nordosten. Wer sich einen ganzen Frühling und Vorsommer inmitten
+dieser ewigen Burane aufgehalten und ihre Gewalttätigkeit und Kraft,
+ihre umgestaltende Arbeit kennen gelernt hat, wundert sich nicht mehr
+darüber, daß die Verteilung der Wüsten, Seen und Flüsse in diesem Lande
+eine ständige Veränderung erleiden muß. Die Arbeit wurde von dem Heulen
+des Sturmes begleitet; beim Plätschern der Wellen und dem klagenden
+Sausen des Windes im Schilf legte man sich zum Schlafen nieder, und
+wenn man erwachte, hatte man wieder dasselbe wohlbekannte Pfeifen,
+dieselbe staubgesättigte Atmosphäre um sich herum. Einen Vorteil hatte
+dieses Wetter aber doch: es verscheuchte Bremsen und Moskitos und
+kühlte die Luft angenehm ab. Bisher hatten wir nur zweimal über +40
+Grad im Schatten gehabt, jetzt zeigte das Thermometer selten über 25
+Grad, nachts sogar nur +9,3 Grad und 11 Grad.
+
+Die Kosaken machten kleine Ausflüge, um zu jagen und Fische zu fangen,
+beschäftigten sich im übrigen aber mit der Herstellung unserer neuen
+Fähren, die aus je drei langen Kähnen bestanden. Meine Pontonfähre
+wurde etwas ganz Außergewöhnliches (Abb. 110). Ein Bretterfußboden
+wurde quer über die Kähne gelegt und darauf ein prismatisches Gitter
+von Latten gestellt, das mit Filzdecken überzogen einem Zelte glich.
+Als ich am 18. Juni zum letztenmal auf der großen Fähre zu Mittag
+gespeist hatte, traf diese das Gesetz der Veränderung; die Kajüten
+wurden abgerissen, alle Nägel verwahrt und die mit Sand und Staub
+bedeckten Filzdecken ausgeklopft; meine Kisten wurden in die neue
+schwimmende Wohnung gebracht, die 26 Mann trug, also für mich, meine
+vier Ruderer und das Gepäck mehr als ausreichend war (Abb. 109). Ein
+Teil des Proviants wurde unter den Bretterfußboden in die Kähne gelegt,
+den Rest beförderten einzelne Kähne, die uns begleiten sollten. Wir
+hatten freilich weniger Platz als bisher, aber das neue Zimmer war doch
+außerordentlich gemütlich. Die Kosaken wohnten ebenso auf der zweiten
+Pontonfähre.
+
+Kirgui Pavan, Aksakal und unsere alten Ruderer erhielten ihre
+Entlassung. Eines Abends gaben wir ihnen zu Ehren ein prächtiges
+Gastmahl; mehrere Schafe wurden geschlachtet, und die Reispuddinge
+dampften auf gewaltigen Holzschüsseln. Sie bekamen ihren Lohn in bar,
+ein paar Kähne und Proviant für die ganze Heimreise und bedankten sich
+dafür nach der Sitte des Landes mit Gebeten für mein Wohlergehen. Als
+ich am folgenden Morgen bei Sonnenaufgang aus der Laboratoriumhütte
+trat, standen sie alle in Reih und Glied und sprachen ihr Morgengebet.
+Bevor ich mich schlafen legte, sah ich sie noch ihre Boote bemannen und
+nach einem letzten Lebewohl die Heimreise antreten.
+
+Beim Zurücklassen der Fähre war mir zumute, als sollte ich einen
+sicheren Haltepunkt verlieren und ein altes Heim verlassen. Sie
+hatte uns unter wechselndem Geschick treu den Fluß hinabgetragen und
+ihren Zweck auf vortreffliche Weise erfüllt. Sie wurde jetzt der
+Bevölkerung von Tscheggelik-ui geschenkt, die über das vorzügliche
+Beförderungsmittel -- besonders für Viehtransporte über den Fluß
+und das Hinüberschaffen von Gütern und Karawanen -- ganz entzückt
+war. Später hörten wir, daß der Amban befohlen habe, sie nach Argan
+zu schaffen, wo die Karawanenstraße den Tarim überschreitet und wo
+bisher nur eine sehr mangelhafte Fähre zur Verfügung stand. Kommt ein
+europäischer Reisender dorthin, so wird er sie gleich wiedererkennen,
+sei es auch nur an der Etikette. Schagdur hieb nämlich in ihre Seiten
+meinen Namen in großen lateinischen Buchstaben und die Jahreszahlen
+1899-1900 ein.
+
+Erst am 19. Juni gegen Mittag verließ unsere neue Flottille mit vielen
+neuen Ruderern und Beken Tscheggelik-ui. Ohne weitere Schwierigkeit
+ruderten wir mit prächtiger Fahrt über die Seen und durch ihre schmalen
+Durchgänge, in denen das Vordringen mit der großen Fähre unmöglich
+gewesen wäre. Nachdem wir bei dem Dorfe +Tokkus-attam+ gelagert
+hatten, gingen wir am folgenden Tag über den Semillaku-köll, dessen
+Tiefe nirgends 1 Meter überstieg. Der See Kara-buran war noch mehr
+gefallen und würde, wie man mir sagte, in zwei Monaten vollständig
+austrocknen; Anfang Oktober füllt ihn die Herbstflut wieder. An
+der Mündung des Tschertschen-darja wurde der Messungen wegen eine
+Weile gerastet. Obwohl das Flußbett scharf ausgeprägt, tief und mit
+Wasser gefüllt war, betrug sein Tribut an die Kara-koschun-Seen nur 4
+Kubikmeter in der Sekunde.
+
+Die letzte Tagereise auf dem Tarim war kurz und wurde zum
+Versöhnungsfest mit dem Winde, der uns vorher so oft Abbruch getan
+hatte. Jetzt wehte es gerade von Osten mit 11 Meter in der Sekunde
+und kühlte frisch und herrlich ab; die Ruderer brauchten tüchtig ihre
+Arme und fanden gute Hilfe an der Strömung (Abb. 112). Die Bremsen,
+die sich bei solchem Wetter hinausgewagt hatten, ließen sich in
+meinem Zelte nieder. Es wäre für beide Teile besser gewesen, wenn wir
+Waffenstillstand geschlossen hätten; hätten sie mich mit ihren Stichen
+verschont, so würde ich sie nicht totgeschlagen haben.
+
+In Abdall trafen wir unsere alten Freunde Numet Bek und Tokta Ahun
+(Abb. 113). Letzterer hatte die Pferdekarawane und die Kamele bis an
+den Tschimen-tag begleitet und konnte mir mitteilen, daß in dem neuen
+Hauptquartier alles gut stehe. Die von uns im Frühling zurückgelassenen
+Kamele und mein kleiner Grauschimmel waren, fett und ausgeruht, mit ins
+Gebirge genommen worden. Der Kurier mit dem Briefe hatte schon lange
+sein Ziel erreicht, und in einigen Tagen mußten Tschernoff und die
+Karawane, die mich ins Gebirge führen sollte, hier sein.
+
+Während des Aufenthalts in Abdall (Abb. 111) hatten wir anfangs gutes
+Wetter, d. h. Wind, der bis auf 16 Meter in der Sekunde anschwoll.
+Ich blieb daher an Bord der Pontonfähre wohnen, die ich beinahe nie
+verließ; es war der reine Stubenarrest. Ich saß die ganzen Tage
+am Schreibtisch und machte eine gewaltige Post fertig, welche die
+Kosaken nebst fertigen Platten mitnehmen sollten. Draußen heulte
+der Wind im Schilfe, der Bretterfußboden knackte von der Dünung und
+rieb sich an den Kähnen, und der Wellenschlag plätscherte gemütlich
+um die letzteren. Während der Windpausen machte ich astronomische
+Beobachtungen. Groß war mein Erstaunen, als ich, hiermit beschäftigt,
+eines Morgens einen Reiter nach den Hütten von Abdall sprengen sah und
+bald meinen prächtigen Tschernoff erkannte, der nach Empfang meines
+Briefes sofort in unglaublich kurzer Zeit aus dem Gebirge hierher
+geritten war. In den letzten 35 Stunden hatte er überhaupt nicht
+geschlafen, war aber geradeso munter und aufgeweckt wie gewöhnlich.
+Als ich ihn nachher zu einer längeren Segeltour einlud, berichtete er
+mir von dem neuen Hauptquartier, das für den Rest des Jahres meine
+Operationsbasis werden sollte. Es schmerzte ihn tief, uns gerade jetzt,
+da ein neues Kapitel dieser Reise begann, verlassen zu müssen.
+
+Ein paar Tage darauf langten Turdu Bai und Mollah Schah mit vier
+Kamelen und zehn Pferden bei uns an. Obgleich sie, seitdem sie das
+Gebirge verlassen hatten, nur nachts marschiert waren, waren doch
+die Hälse und Beine der Kamele von den Bremsen blutig gestochen; die
+anderen Körperteile waren durch Filzdecken geschützt gewesen.
+
+Jetzt trat ein unangenehmer Umschlag im Wetter ein. Der Wind hörte
+auf, und es folgte drückende Hitze. Wir mußten die Kamele mit größter
+Vorsicht und Sorgfalt schützen, denn die Luft wimmelte buchstäblich von
+Bremsen. Ich ließ daher ihretwegen eine Sattma ausräumen, die Wände
+derselben gut dichtmachen und stets ein paar Leute bei ihnen aufpassen,
+die nichts weiter zu tun hatten, als die Bremsen totzuschlagen, die
+sich dort einschlichen, um die armen Tiere zu stechen. Nachts durften
+sie auf die Weide gehen. Eines Morgens wurden sie vermißt, und Turdu
+Bai, der seine Schutzbefohlenen kannte, ahnte sofort, daß sie von
+diesem scheußlichen Orte durchgebrannt seien. Sie hatten sich, ihrer
+eigenen Spur folgend, auf den Weg nach dem Gebirge gemacht, wo, wie
+sie wußten, ihre Kameraden sie erwarteten und sie sich nicht von der
+Hitze und schmerzhaften Insektenstichen plagen zu lassen brauchten;
+sie wurden aber rechtzeitig wieder eingefangen und mußten sich in ihr
+Schicksal finden. Jeden Abend wurden sie im Flusse gebadet, was ihnen
+sehr gefiel.
+
+Im Filzzelte auf der Pontonfähre war es bei dieser Hitze unerträglich.
+Draußen ertönte unausgesetzt ein summendes Brausen, und als ich den
+Filzvorhang zurückschlug, füllte sich das Zelt mit Bremsen. Ich nahm
+meine Dusche und kleidete mich schleunigst an; darauf wurde die Fähre
+nach dem rechten Ufer hinübergerudert, und ich eilte wie durch einen
+Kugelregen nach Tokta Ahuns Hütte. Dort war es schön; es war mindestens
+6 Grad weniger heiß als im Zelt, und die Sonnenglut vermochte die
+dicken Kamischgarben des Daches nicht zu durchdringen. Die Hunde
+hielten den Umzug für eine brillante Idee; sie siedelten sich in je
+einer Ecke an und schlugen dadurch den Bremsen, die ihnen nicht folgen
+konnten, ein Schnippchen.
+
+Inzwischen vergingen die Tage, und es wurde Zeit zum Aufbruch. Ich
+mochte gar nicht an die Trennung von Sirkin und Tschernoff denken;
+ohne sie würde es so leer und öde sein. Wir warteten nur auf den
+nächsten Sturm, der uns von den Bremsen befreien würde, denn bei dem
+jetzt herrschenden Wetter wurden wir von diesen unangenehmen Tieren
+buchstäblich belagert. Doch der Sturm kam nicht, und die Tage gingen
+hin. Wir versuchten freilich einmal, auf jeden Fall aufzubrechen, aber
+daraus wurde nichts; die Kamele warfen sich in Verzweiflung auf die
+Erde und wälzten sich die Lasten ab. Ich wollte der Kartenarbeit wegen
+nicht in der Nacht reisen; so warteten wir denn wieder, und ich schob
+den Augenblick der Trennung von Tag zu Tag hinaus.
+
+
+
+
+Fünfundzwanzigstes Kapitel.
+
+Poesie im innersten Asien.
+
+
+Solange wir still lagen, ging es uns nicht schlecht. Wir hatten alles,
+dessen wir bedurften, und die Bewohner von Abdall (Abb. 115) wußten gar
+nicht, was sie uns alles zuliebe tun sollten. Beschäftigung hatten wir
+auch vollauf; die Kosaken jagten Wildenten und machten Bootfahrten, wir
+maßen zum letztenmal den alten Tarim und fanden 43,7 Kubikmeter Wasser
+in der Sekunde. In zweieinhalb Monaten war der Fluß auf weniger als die
+Hälfte zusammengeschrumpft und er sollte im Sommer noch mehr abnehmen.
+
+Während dieser Tage zeichnete ich zu meinem Vergnügen einige alte
+wohlbekannte Lieder auf, die seit über hundert Jahren von den Söhnen
+und Töchtern des Loplandes gesungen worden waren. Auch einige neue
+Lieder, welche die Fischer am Kara-koschun singen, schrieb ich nieder.
+Alle diese Lieder sind einfach und ungekünstelt und zeugen von
+beschränkter Phantasie und naiver Lebensanschauung. Aber sie beweisen
+doch, daß auch diesem kleinen Fischervolke, das seine Tage im Herzen
+von Asien abseits von den großen Karawanenstraßen und isoliert von
+anderen Stämmen einförmig verlebt, Poesie nicht fremd ist und daß die
+Liebe, bald süß, bald bitter, wie überall bei den Menschenkindern, auch
+bei ihnen herrscht. Durch diese Lieder erhält man auch einen Begriff
+von den Grenzen der Welt, in der sich ihre Gedanken und ihr Wissen
+bewegen. Doch sie verlieren durch Übersetzung und machen sich in ihrer
+ursprünglichen Form, in der Turkisprache mit holperig gereimten Versen
+nach einer eintönigen Melodie zu den Akkorden einer Dutar gesungen,
+viel besser. Die Wehmut, die sich wie ein roter Faden durch die Worte
+und die Musik zieht, paßt gut für den, der einsam ist, und läßt seine
+Hoffnungen schärfer hervortreten. Hier einige Proben dieser einfachen
+Dichtkunst.
+
+Es folgt ein Lied, das Dschahan Bek, der Vater des alten Kun-tschekkan
+Bek, gesungen hat, das also gegen hundert Jahre alt ist; es spricht
+sich darin ein Weib aus, dessen Liebe verschmäht worden ist:
+
+Die Geister haben dich schöner geschaffen als alle anderen Männer.
+Als du in deine Heimat zurückkehrtest, wäre ich dir nachgeflogen
+wie eine Gans, wenn ich Flügel gehabt hätte, und ich habe geschrien
+wie eine Wildgans. Du wußtest nicht, daß ich dich ein ganzes Jahr
+erwartet und auf deine Rückkehr wartend keinen anderen Mann geliebt
+habe. Ich erwarte dich seit lange und bitte alle, die zu dir reisen,
+dich, du meine andere Hälfte, zehnmal zu grüßen. Du nimmst alle auf,
+die vorbeiziehen und zu dir kommen, und du spielst und singst, aber
+wenn du spielst und singst, darf ich nicht mit dabei sein. Deine Füße
+scheinen gebunden zu sein, sonst kämst du her. Dein Name ist über ganz
+Alti-schahr bekannt. Mach’ es wie Juldus Wang, sei faul und laß andere
+für dich arbeiten. Wenn du mich nicht haben willst, komme ich doch und
+werde, so gut ich es kann, deine Magd. Alle Frauen raten mir, zu dir zu
+gehen; ein ganzes Jahr lang habe ich deinetwegen nicht lächeln können,
+denn du hast die Unwahrheit gesprochen; ich habe keine Freude von dir
+gehabt, meine Augen sind übergeströmt wie ein Fluß. Gott hat nicht
+befohlen, daß wir vereinigt werden sollen. Deine Wimpern und Brauen
+sind das Schönste, was es gibt.
+
+Aus derselben Zeit stammt das mit Bitterkeit gemischte, sehnsuchtsvolle
+Lied eines Liebenden, dem seine Angebetete einen Korb gegeben hat:
+
+Seitdem du dich zu Pferde fortbegeben, gehe ich hier umher und sehne
+mich nach deinen schwarzen Augenbrauen. Wenn ich Gelegenheit finde,
+reise ich dir im Laufe dieses Monats nach, um zu singen, zu spielen und
+zu trommeln. Du bist noch jung, und deine Eltern haben dich einem guten
+Manne gegeben. Du bist wilder als der Teufel, Jungfrau Sahib, du bist
+hartherzig; du verstehst meine Worte nicht, du wilder Teufel! Du bist
+wie das Wetter, bald trübe, bald sonnig. Deine Eltern hielten viel von
+dir und mußten dich fein und weich kleiden. Laß mich wissen, wann deine
+Hochzeit sein soll, damit ich komme und sie mitmache. Deine Mutter war
+besser als Imam Pattma und rein wie Nephrit. Imam Pattma liebt dich;
+als wir alle jung waren, spielten wir miteinander und waren Freunde. Du
+schwankst hin und her wie die Nackenfeder des Okkarvogels, und dein Ruf
+ist wie auf Flügeln bis Tschimen geflogen. Wenn wir uns im Herbst nach
+dem Tarim begeben, werden sich unsere Augen begegnen. Du bist jetzt
+vater- und mutterlos, aber alle werden dir mehr geben, als Vater und
+Mutter gekonnt hätten. Wenn du dein Gewand angelegt hast, gleichst du
+einem Sternwurme (Glühwürmchen).
+
+Kuntschekkan Beks Schwiegervater pflegte nachstehendes Lied zu
+singen, das also wenigstens achtzig Jahre alt ist, obgleich es ebenso
+wahrscheinlich ist, daß es damals schon ein altes Lied war. Ein
+Liebender, der noch nicht alle Hoffnung aufgegeben hat, singt:
+
+Ich bin sehr traurig darüber, daß ich nicht meine kleine Freundin nahm;
+ich friere deswegen wie eine verfrorene Fischotter. Du hast einen
+schönen Chalat, aber ich war nicht stark genug, um deinen Chalat zu
+gewinnen. Wenn ich dich jetzt nicht zur Frau bekomme, werde ich doch
+an deinem Hause vorbeireisen und dich sehen. Dein schwarzes Haar ist
+sehr schön; wenn ich dich bekommen hätte, würde dein schwarzes Haar
+an meiner Brust geruht haben, aber mein Nebenbuhler nahm dich und gab
+dich mir nicht. Hätte ich gewußt, daß du einen Ring am Finger trägst,
+so hätte ich nie mit dir bekannt werden wollen, aber ich komme im
+zehnten Monat. Wenn ich im zehnten Monat komme, werde ich dich fragen,
+wie es dir geht, du bezaubernder Engel, der du allein in deinem leeren
+Hause geblieben bist. Deine Brust ist so weiß wie eine angezündete
+Lampe; wenn du dein Gewand öffnest, sieht man deine kreideweiße Brust.
+Deine Nägel gleichen dem Tage. Ich liebe dich glühend, du bist wie
+der Stern, der in die Spur des Mondes tritt. Wenn ich dich bitte, ein
+wenig zu verweilen, eilst du auf deinem schnellen Pferde davon. Nun,
+da ich ein alter Bettler geworden, kann ich dich, die du die schönste
+der Frauen bist, nicht bekommen; du bist schöner als die Sonne. Du,
+Assan, begib dich zu ihr und bringe die Worte vor, die ich gesagt! Ich
+werde die Beke bitten, dich mir zu geben. Als ich deine Fußspuren auf
+dem feuchten Sande sah, weinte ich so, daß kleine Hügel unter Wasser
+standen. Du gleichst einer Fürstin, und hast deine Teetasse auf einer
+Metallschale. Ich kam nach Jatschi hinüber, um dich zu sehen, fand aber
+nur deine Schale mit Reispudding. Da ich dich nicht bekam, habe ich tot
+in dieser Welt gelebt. Ich werde Gott bitten, mich noch ein paar Jahre
+leben zu lassen, damit ich dich doch noch bekommen kann. Ich jagte
+meine alte Frau fort. Möge Gott dich mir geben. Du gehst so leicht, wie
+der Falke fliegt, aber dein Mann hat dich noch nicht verlassen, und ich
+bin allein.
+
+[Illustration: 128. Rast der Karawane während Tscherdons
+Rekognoszierung (3. Aug. 1900). (S. 318.)]
+
+[Illustration: 129. Auf der höchsten Bergkette der Erde. (S. 320.)]
+
+Ein zehn Jahre altes Lied aus Argan, gesungen von einem Manne, der an
+die Unrechte geraten ist, lautet:
+
+Wie Tajir Chan und Suja Chan in derselben Nacht starben, haben wir
+einander auch nicht bekommen. Tajir Chan starb in dem Dorfe seines
+Mädchens, ehe er es bekommen hatte. Kara Vater schlug ihn dreimal mit
+dem Schwerte, und nun erholt er sich nie wieder. Er war nicht schwer
+verwundet, muß aber viele Sünden auf seinem Gewissen gehabt haben, weil
+er doch gestorben ist. Wie keiner Tajir Chans Tod rächte, so wird sich
+auch niemand darum kümmern, daß ich dich nicht bekommen habe. Jetzt,
+seit ich mit dir bekannt geworden, kommt am Ende jemand und schlägt
+mich tot. Jetzt habe ich eine andere Frau genommen, und nun mögen sie
+mit dir tun, was sie wollen. Nun aber reut es mich, daß ich den Bek und
+Ahun nicht gebeten habe, lieber dich mir zu geben. Und nun denke ich,
+daß, wenn Gott mich nicht sterben läßt, die Menschen mich nie werden
+töten können. Es wäre freilich besser gewesen, mit dem ganzen Dorfe zu
+kämpfen und totgeschlagen zu werden, als die Frau, die ich jetzt habe,
+auf dem Halse zu haben.
+
+Agatscha Chan war ein Mädchen aus Kum-tschappgan, das sich tröstete und
+sang:
+
+Mein Freund ist hierhergekommen, und seitdem grünt alles. Es ist für
+dich, der du die Erde mit deinem Spaten bearbeitest, Zeit, deinen
+Weizen zu säen. Wenn ich die Sprache der Wildente verstehen könnte,
+würde ich sie fragen, wie es dir geht. Du kamst hierher, wolltest mich
+aber nicht ansehen, und dann reistest du wieder heim. Agatscha Chan
+begleitete dich nicht, sie stieg aufs Pferd und ritt mit einem anderen
+Manne fort.
+
+Noch ein Liebeslied trostlosen Inhalts, das vor einigen Jahren in
+Tusun-tschappgan gedichtet ist, lautet:
+
+Du gleichst der weißen Ente. Ich möchte die Nacht an deinem Busen
+zubringen. Wenn du zum abendlichen Saitenspiele tanzest, umflattern
+dich die schönen Bänder. Ich sitze bei mir, du bei dir, aber ich weiß,
+daß du an mich denkst. Sende mir den Falken, den du auf deiner Hand
+trägst. Wenn ich mich abends hinlege, kann ich nicht schlafen, weil ich
+an dich denke. Deine Eltern wollen dich mir nicht geben, sie geben dich
+gewiß einem Bek aus Turfan. Die Leute sagen, daß deine Eltern dich mir
+darum nicht geben, weil sie mich nicht mögen. Meine Sehnsucht nach dir
+macht mir den Kopf wirr, mir ist, als drehten sich die Wolken um mich
+herum. Du hast einen vornehmen Mann bekommen, und ich bleibe einsam und
+verlassen. Ein anderer hat dich genommen, ich bekam dich nicht. Deine
+Mutter hat Brot und Saatkorn in Menge, ihr Vorrat nimmt kein Ende. Wenn
+deine Mutter morgens Brot backt, kocht schon der Kessel. Es ist so
+lange her, seit ich dich sah.
+
+Es ist derselbe Klageton, der durch alle diese Liebesergüsse geht: es
+ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie ewig neu, wo man ihr auf
+Erden begegnet. Aber auch die Lieder, die nichts mit Liebe zu tun
+haben, sind ebenso wehmütig. So singt zur Zeit des alten Numet Bek
+(etwa 1700 geboren) ein Jüngling ein Lied an seinen Bruder; sie waren
+beide vom Kara-koschun, hatten sich aber nach Abdall begeben:
+
+Reise du heim und erkundige dich, wie es dort steht; ich fahre aus und
+fange Fische. Wenn die Fische hier knapp sind, reise ich lieber nach
+Hause und fische dort. Ich sehne mich so nach Hause, daß ich nicht
+essen kann. Alle in dieser Gegend, Gute und Böse, schelten auf mich,
+so daß ich nicht essen kann. Ich kam hierher, um zu sehen, ob dies ein
+guter Ort sei, aber meine Frau und die Kinder blieben in Jatschi (Dorf
+am alten Kara-koschun). Wenn ich mit dem Kahne früh abfahre, komme ich
+in einem Tage heim. Jetzt reise ich; es war dumm, daß ich den Pelz und
+andere Sachen, die ich hätte zu Hause lassen können, mitnahm. Wenn
+die Abdalleute mich auch töten wollen, werde ich mich nicht umsehen,
+sondern heimreisen. Sie mögen nach Belieben hinter mir herschelten und
+schreien, aber heim fahre ich. Wie das Siebengestirn am Himmel und das
+Archari auf den Bergen ging ich von Hause fort, und nun weine ich.
+Jetzt fahre ich heim; lebe wohl du mein einziger Freund an diesem Orte.
+Wenn ich dich verlassen habe und nach Hause zurückgekehrt bin, sind wir
+wie durch einen hohen Berg getrennt.
+
+Vor hundert Jahren sprach ein blinder Greis in Tusun-tschappgan seinen
+Schmerz in folgendem Liede aus, das noch gesungen wird:
+
+Ich Armer bin von Gott mit Blindheit gestraft worden. Wie bin ich jetzt
+unglücklich; nun sehe ich weder die Hütten noch die Kamischhecken um
+sie herum, sondern muß einsam in meiner Sattma sitzen! Jetzt ist es
+traurig, ich kann meine Freunde weder sehen noch treffen, meine Knochen
+sind so weich wie Mehl geworden. Seit ich blind geworden bin, ist mir,
+als ob mein ganzer Körper schmerze. Gott hat mich hart gestraft, daß
+er mich die Hütten und die Kamischfelder nicht sehen läßt. Weshalb,
+Gott, ließest du mich geboren werden, wenn du mich nachher meines
+Augenlichtes berauben wolltest? Seit ich blind geworden, ist mein
+Inneres voll Kummer und Gram. Möchte Gott nie einen anderen Elenden
+mit Blindheit heimsuchen! Da ich nicht sehe, kann ich nicht gehen,
+ohne die Hände zum Fühlen auszustrecken. Meine Kinder rufen mir zu:
+du tust nichts, du fängst keine Fische, du verschaffst uns nichts zu
+essen. Es wäre besser, wenn Gott mich sterben ließe, statt mich zu
+meiner Qual in dieser Welt zu lassen. Früher konnte ich Geld verdienen,
+jetzt sehe ich es nicht einmal und kenne es nur wieder, wenn ich daran
+rieche. Gott hat mich hart gestraft, als er mich so elend werden ließ.
+Wenn ich mit meinem Weibe sprechen will, antwortet sie mir nur mit
+harten Worten. Als ich sah, erhielt ich gut zubereitetes Essen; jetzt
+stellt sie mir kaum Tee hin. Wenn ich nur sehen könnte, würde ich wie
+früher auf den See hinausfahren und meine Netze auslegen. Würde ich
+es jetzt versuchen, so würde ich den Weg nicht finden können und an
+die unrechte Stelle kommen. Als ich Kind war, müssen meine Eltern für
+ein Versehen meinerseits den Wunsch ausgesprochen haben, daß ich blind
+werden möchte. Früher konnte ich meine Netze auslegen, doch dem Blinden
+ist das Fischen unmöglich. Jetzt, da ich die Meinen nicht mit Fischen
+versehen kann, werden sie nur halbsatt. Ich glaubte, daß du, mein Sohn,
+mir auf meine alten Tage helfen und mich ernähren würdest, aber du hast
+mich von dir gestoßen.
+
+Daß ein Volk, welches früher fast ganz von Fischnahrung gelebt
+hat, den Fischfang und die kleinen Abenteuer dabei besingt, ist
+selbstverständlich. Als Probe dieser kunstlosen Seepoesie mag das im
+Fischerdorfe Kara-koschun passierte und besungene Mißgeschick dienen:
+
+Ich war draußen auf dem See, als der Sturm kam und meinen Kahn umriß,
+und hier liege ich nun, und Vater und Mutter wissen es nicht. Die
+Fische und das Brot, die ich mit hatte, landeten im Magen des Sees
+statt in meinem Magen. Beim Schiffbruche konnte ich nichts weiter
+retten als den Kochtopf, Gott sei gelobt. Ich habe gewiß harte Worte
+gegen einen Älteren gebraucht oder irgendein Unrecht getan, weil ich
+diese Strafe erhalten habe. Mein Kamerad, der gleichzeitig mit mir
+draußen war, verlor nichts; Gott muß ihn lieben. Ich hatte 30 Fische in
+einem Bunde und 12 in dem anderen, und alle gingen sie unter. Wenn ich
+jetzt aufstehe und mich spute, komme ich zum Abendessen nach Hause. Ich
+warf einen Blick auf die Binsenbündel, die auf dem Wasser schwammen,
+und eilte dann heim. Bei meiner Heimkehr schalten meine Eltern und
+sagten: Was hast du mit all den Fischen gemacht? Und ich antwortete:
+Wäret ihr froher über die Fische gewesen als über meine Rettung, so
+könnt ihr mich ja totschlagen. Du, mein Freund, komm, laß uns das Boot
+an Land ziehen und es zum Trocknen hinlegen.
+
+Ich kann auch einige Proben geben, wie die Menschen, welche derartige
+Lieder singen, ihre Briefe schreiben, was ebenfalls von Interesse
+sein dürfte. Die Schriftstücke zeugen bei all ihrer sklavischen
+Untertänigkeit von großem Wohlwollen und großer Höflichkeit, und
+zwischen den Zeilen schimmert das Ansehen hervor, dessen sich unsere
+Karawane überall erfreute. Während meines Aufenthalts im Lande erhielt
+ich Massen von Briefen und mußte einen einheimischen Sekretär für ihre
+Beantwortung haben. Der Sekretär las mir die Briefe vor, und ich teilte
+ihm mit einigen Worten mit, was er antworten sollte. Es ist sowohl
+komisch wie für die Achtung, die wir genossen, bezeichnend, daß alle
+diese Briefe mit den Worten. „Dem großen König, dem gnädigen Herrn,
+Gottes Segen“ begannen. Als die Kosaken mich Exzellenz nannten, fand
+ich diesen Titel schon übertrieben, aber den Beken des Loplandes war
+er noch viel zu nichtssagend; sie kamen sofort mit Ullug Padischahim
+(Eure Majestät). Ich fühlte mich zweihundert Tage lang beinahe als
+König von Lop-nor.
+
+Der alte Naser Bek von Tikkenlik überraschte mich mit folgendem Briefe:
+
+Wir, Eure allerschlechtesten Untertanen, Naser Bek, mein Schwiegersohn
+und alle, Große wie Kleine, wünschen unserem großen Padischah, daß Ihr,
+was Gott gnädig geben möge, in Tschimen ruhig und friedvoll anlanget;
+und wenn Ihr dorthin gekommen seid, hatten wir zu Euch eilen und Euch
+dienen wollen, aber der Amban ist hier, und ich kann daher nicht um
+Urlaub bitten. Indessen wäre es notwendig gewesen, daß ich mich bei
+Euch eingestellt und meine Verbeugung gemacht hätte. Wenn Ihr mich
+durch eine Zeile von Tschimen wissen laßt, daß Ihr ruhig und friedvoll
+dort angekommen seid, wäre ich sehr dankbar. Zum Zeichen, daß ich lebe,
+sende ich Euch zehn Ellen weiße Leinwand. Bitte, vergeßt mich nicht.
+
+Mirab Bek von Ullug-köll schreibt:
+
+Eure niedrigen Sklaven und Diener, Mirab Bek von Ullug-köll und sein
+Sohn Baker Schang-ja, Seidulla Imam, Mahmet Baki Masin, Sati Ahun,
+Allah Kullu, alle großen und kleinen Bewohner Ullug-kölls, fragen durch
+diesen Brief nach der Gesundheit des Tura (des Herrn). Wir hätten Euch
+begleiten und Euch dienen müssen, konnten es aber nicht, weil wir den
+Amban fürchteten. Gott allein weiß, ob wir Euch noch einmal wiedersehen
+werden; doch hoffen wir es. Wenn wir erfahren, daß Ihr glücklich im
+Gebirge angelangt seid, werden wir in Wahrheit Gott danken, und wir
+werden beten, daß Ihr wieder hierherkommt, damit wir uns wieder treffen.
+
+Mehr kollegialisch schreibt der Amban von Tscharchlik:
+
+An den sehr lieben und gnädigen Herrn He-dani (Hedin) von Dschan Daloi
+aus Tscharchlik. Ich bitte, schriftlich mein Bedauern aussprechen zu
+dürfen, daß wir, als wir uns zum erstenmal in Tikkenlik trafen, keine
+Gelegenheit hatten, einander zum Gastmahl einzuladen. Wir trafen uns
+spät, Ihr fuhrt nach Eurem, ich nach meinem Bestimmungsorte, aber wir
+werden einander nie vergessen. Gebe Gott, daß wir uns einmal unter
+günstigen Verhältnissen treffen! Wir müssen uns nahetreten, einander
+kennen lernen und die besten Freunde werden. Möchten wir nicht anders
+als gut voneinander denken. Von woher und wann es auch sein möge,
+schreibt mir einen Brief und fordert mich zu einer Begegnung auf.
+Wir bitten, Euch mitteilen zu dürfen, daß wir den Brief von Chalmet
+Aksakal gelesen haben und sehr dankbar sind, daß Ihr uns gebeten habt,
+die Diebe ausfindig und dingfest zu machen. Wir haben die abhanden
+gekommenen Waren bei den Dieben gefunden und die Sache, die gesetzlich
+behandelt und abgeschlossen ist, schon erledigt. Wünscht Ihr noch
+etwas mehr, so seid so gnädig und laßt mich es wissen. Leider konnte
+ich nicht mehr zu Euch kommen, habe aber Nachricht erhalten, daß Ihr
+hier vorbeipassiert seid. Für alle Fälle schicke ich Euch 100 Dschin
+Reis und ein paar Flaschen Branntwein und bitte Euch, mich nicht zu
+vergessen.
+
+Infolge der Etikette konnte er mich nicht aufsuchen, weil ich keine
+Miene gemacht hatte, ihm eine Visite abzustatten. Den Branntwein mußte
+der Bote wieder mitnehmen; dergleichen durfte es in unserer Karawane,
+wo strenge Mannszucht gehalten wurde, nicht geben. Im allgemeinen ist
+auf die Artigkeiten der Chinesen, ob sie mündlich oder schriftlich
+ausgedrückt werden, nicht viel zu geben, doch hinsichtlich Dschan
+Dalois hatte ich keinen Grund, mich zu beklagen. Als er ein Jahr
+darauf von dem Generalstatthalter in Urumtschi abgesetzt wurde, hieß
+es in Tscharchlik, der Grund seiner Absetzung sei seine allzu große
+Dienstwilligkeit gegen einen „Jang-kwetsa“ oder „fremden Teufel“. Von
+dem Boxeraufstande in China verspürten wir nicht einmal eine schwache
+Dünung; kein verhallendes Echo davon drang bis ins innerste Asien.
+
+
+
+
+Sechsundzwanzigstes Kapitel.
+
+Aufbruch nach Tibet.
+
+
+Das Warten dauerte uns schließlich zu lange, und mit sehnenden Blicken
+betrachteten wir die Kurve des Barographen, die durchaus keine Neigung
+zeigte, Sturm zu verkünden. Ich lag meistens auf meinem Bett, las
+Bücher von Selma Lagerlöf und Kipling und studierte die buddhistische
+Mythologie; doch die Bremsen hoben die Belagerung nicht auf, und der
+Wind gab uns keine Gelegenheit, einen Ausfall zu machen und ihre
+Umzingelungskette zu sprengen. Nun verlor ich die Geduld und beschloß,
+am Abend des 30. Juni auf jeden Fall aufzubrechen. Die Karawane sollte
+zu Land den etwa siebenstündigen Weg um die Sümpfe machen und mich in
+Joll-arelisch oder an dem Punkte, wo die Straße nach Sa-tscheo sich von
+der ins Gebirge führenden scheidet, wieder treffen. Ich selbst wollte
+zu Kahn über dieselben Seen wie im April fahren, und da Joll-arelisch
+bereits auf einer der Karten von jener Exkursion eingetragen war,
+entstand also dadurch keine Lücke in der Karte.
+
+Im Laufe des Tages wurde alles gepackt, Kisten und Lasten wurden
+geordnet, die englische Jolle verstaut, alle Forderungen bezahlt und
+die Post nach Europa den Kosaken überantwortet, die beide ihre Pässe
+und je ein Geschenk von 2 Jamben, sowie das Versprechen erhielten, daß
+ich sie ihrem obersten Kriegsherrn, dem Zaren, aufs beste empfehlen
+würde. Sie nahmen auch einen Brief nach Tscharchlik an Dschan Daloi
+mit, in welchem ich diesen bat, sofort 3000 Dschin Mais (30 Esellasten)
+in das Hauptquartier zu schicken. Die Bezahlung für die Furage und den
+Transport konnte ich erst beim Empfang aushändigen, weil ich infolge
+des unvorhergesehenen Aufbruchs der Kosaken ganz leere Taschen hatte.
+Die Kasse befand sich im Hauptquartier am Tschimen-tag.
+
+Um 5 Uhr nachmittags fing das Beladen an. Sobald die Kamele ins Freie
+gekommen waren, wurden sie von Tausenden von Bremsen umschwärmt. Sie
+benahmen sich indessen würdig, mit ihrer gewöhnlichen Geduld; bei
+jedem fertigbeladenen Kamele wurden vier Männer aufgestellt, welche
+die Insekten mit großen Kamischblättern fortwedelten. Als alles zum
+Aufbruch fertig war, stieg Turdu Bai zu Pferd und begab sich an die
+Spitze des Zuges, der sich eiligst entfernte.
+
+Jetzt kam die Reihe an die Pferde, welche störrisch waren, ausschlugen
+und sich sogar zu Boden warfen; die Lasten mußten sehr fest gebunden
+werden, damit sie sie nicht abschütteln konnten. Mollah Schah, Kutschuk
+und Tokta Ahun, Kuntschekkan Beks Sohn, marschierten mit ihnen den
+Kamelen nach.
+
+Der Klang ihrer Glocken und Schellen war schon verhallt, als uns auf
+einmal einfiel, daß die Hunde fehlten. Sie waren auf eigene Hand auf
+Entdeckungsreisen ausgegangen und wurden erst nach einstündigem Suchen
+erwischt, gebunden und Schagdur übergeben, der der Karawane folgte,
+nachdem er seinen Kameraden Lebewohl gesagt hatte.
+
+Der große, bequem eingerichtete Kahn, der mich nach dem verabredeten
+Orte bringen sollte, lag mit Proviant, Filzdecken, Rauchgeschirr und
+Laterne bereit. Jetzt stand das schlimmste bevor: der Abschied von den
+Kosaken. Voller Rührung dankte ich ihnen für ihre Dienste, und nach
+einem kräftigen Händedruck und einem letzten Lebewohl sah ich sie ihre
+Rappen besteigen und auf dem Wege nach Tscharchlik, das sie am nächsten
+Morgen zu erreichen gedachten, verschwinden. Sie waren mit Empfehlungen
+an Ambane, Beke und Aksakale versehen und sollten längs des Gebirges
+über Kopa und Sourgak reisen und von dort während der Nächte über
+Chotan und Jarkent nach Kaschgar reiten.
+
+Es war pechfinster, als ich allein mit meinen Ruderern die Bootfahrt
+antrat. Meine Karawanen, Diener und Güter waren jetzt zerstreut, und es
+galt, sie wieder aufzulesen und das Ganze zu vereinigen. Die Strömung
+half uns, und mit sausender Fahrt ging es den Fluß hinab, dessen dunkle
+Ufer hinter uns verschwanden. In +Kum-tschappgan+ rasteten wir nur
+so lange, wie für den Rudererwechsel erforderlich war. Der Mond ging
+gerade unter, aber die Nacht war klar, und die Sterne leuchteten über
+den wandernden Seen hell wie Wachsfackeln.
+
+Um 11 Uhr nachts verließen wir +Tusun-tschappgan+, von einem
+des Weges kundigen Manne in einem Einrudererkahne geleitet. Daß er
+in der Dunkelheit durch diese Labyrinthe von hohem dichtem Schilf,
+durch Tschappgane und enge Kanäle, Lagunen und Seen hindurchfand, war
+ein vollendetes Meisterstück. Die Männer ruderten ohne Zögern und
+Unterbrechung, als ob die Kähne auf unsichtbaren Schienen liefen.
+Sie sprachen nicht, sie ruderten nur, taktfest und stetig. In die
+dichten Hecken aber drangen die Lüfte der Sommernacht nicht; dort war
+es erstickend heiß, dumpfig und moderig, und Miasmen stiegen aus dem
+lauwarmen Wasser der Sümpfe auf. Ich schlummerte dann und wann ein
+wenig, und gegen Morgen begannen die Leute zu singen, um sich wach zu
+halten. Der Sate-köll war bedeutend seichter als im April, weshalb
+die Ruderer ausstiegen und mich weiterzogen; doch wir mußten bald den
+großen Kahn verlassen und uns des kleinen bedienen. Als auch dieser
+nicht weiter konnte, gingen wir zu Fuß durch den Schlamm und erreichten
+so das Ufer.
+
+Jetzt folgte ein mehrstündiges Warten in der baumlosen, stillen,
+finsteren Einöde. Endlich ertönten Rufe, anfangs aus der Ferne, dann
+aus größerer Nähe; mit brennender Laterne gingen wir den Erwarteten
+entgegen. Es waren Schagdur und Tokta Ahun mit der Pferdekarawane. Sie
+hatten die Kamelkarawane bald überholt, und wir mußten nun auf diese
+warten. Die Lopleute gingen weit in den See hinaus, um eine Kanne süßen
+Wassers und einige Bündel Kamisch zur Feuerung zu holen, denn das Ufer
+war gänzlich ohne Vegetation.
+
+Beim ersten Tagesgrauen kam die Kamelkarawane herangezogen; sie
+hatte sich in der Dunkelheit verirrt und war, durch einen Eselpfad
+irregeführt, zu früh nach dem Gebirge abgebogen. Sie zog jetzt weiter,
+ohne sich aufzuhalten; als die anderen mit dem Frühstück fertig waren,
+stiegen auch wir zu Pferde. Das Land ist entsetzlich öde; im Norden des
+Sumpfes geben wenigstens die Sanddünen der Wüste ein gewisses Relief,
+und der tote Wald verkündet, daß dort einst Leben geherrscht hat, hier
+aber gibt es gar nichts; die Erde ist eben wie ein Fußboden und besteht
+aus hartem, salzhaltigem Lehm, der einst unter Wasser gestanden hat.
+
+Wir entfernen uns in spitzem Winkel vom Ufer, und die äußersten Seen
+des Tarim waren kaum noch wie eine dunkle, gleichsam über dem Horizont
+schwebende Linie sichtbar, als sich die Sonne im Osten erhob und ein
+Meer von Licht und Wärme über die Wüste fluten ließ. Das Tagesgestirn
+trat in seltener Schönheit auf. Seine Strahlen brachen sich in den
+feinen, leichten Wölkchen, die wie ein Schleier vor seinem Antlitz
+schwebten. Die Ränder der Wölkchen wurden von hinten erleuchtet und
+glühten wie Kränze von flüssigem Gold, die Mitte jeder Wolke aber
+färbte sich violett in verschiedenen Schattierungen. Die Luft war klar
+und still, und der Himmel prunkte in fleckenlosem, reinem Blau.
+
+Noch schöner als dieses Schauspiel war jedoch das Gebirgspanorama,
+das in der schiefen, beinahe horizontalen Beleuchtung scharf und
+deutlich hervortrat; die Ketten zeigten abwechselnd hellbraune, rosa
+und violette Nuancen, die infolge der großen Entfernung nicht grell,
+sondern ruhig, gedämpft und harmonisch waren und einen entzückenden
+Hintergrund zu dieser dürren Wüste bildeten, wie ja auch der
+Sonnenaufgang viel schöner ist, wenn er auf eine schwüle, düstere Nacht
+folgt.
+
+[Illustration: 130. Allgemeines Trocknen an der Sonne. (S. 328.)
+
+Von links nach rechts: Aldat, Nias, Kutschuk, Mollah Schah, Turdu Bai
+und Tscherdon.]
+
+[Illustration: 131. Gletschermassiv im Südwesten vom Lager Nr. 27. (S.
+329.)]
+
+Die Sonne hat aber auch ihre Schattenseiten. Kaum guckt sie über den
+östlichen Wüstenrand, so füllt sich die Luft mit Millionen Bremsen,
+die, Wolkensäulen vergleichbar, Pferde und Reiter begleiten und
+umgeben. Man muß sich verteidigen, so gut man kann, und die Pferde
+werfen und schlagen mit Kopf und Mähne.
+
++Dunglik+ (die Hügel) ist eine kleine Oase auf dem Wege nach den
+Bergen und liegt gerade da, wo die flachen Schuttkegel der letzteren
+langsam anzusteigen beginnen. Von Abdall, das 838 Meter über dem
+Meere liegt, waren wir 203 Meter gestiegen. Alle waren müde von
+der durchwachten Nacht; ich selbst schlief unter der ersten besten
+Tamariske ein und wachte erst wieder auf, als mir die Sonne auf den
+Kopf brannte. Da siedelte ich in das Zelt über und setzte mich dort,
+sehr leicht gekleidet, zum Arbeiten hin.
+
+Am folgenden Morgen wurde ich um 3 Uhr geweckt, Lichter und Laternen
+wurden angezündet und das aus Tee, Eiern und Brot bestehende Frühstück
+gebracht. Das Gepäck wurde geordnet und die Tiere beladen; es fing an,
+im Osten hell zu werden, und als wir um 4½ Uhr aufbrachen, wobei
+wir Wasservorrat für uns selbst und die Hunde mitnahmen, war es schon
+ganz hell, und geschäftig gingen die Bremsen an ihr Tagewerk. Ich
+schlug ein paar Hundert tot, die sich auf der nackten Haut der Kamele
+festgesogen hatten. Sie summten in Schwärmen um uns und folgten uns
+ein paar Kilometer weit, wie vor Wut erglühend, als die aufgehende
+Sonne durch ihre mit Blut gefüllten Leiber schien. Es knallt, wenn die
+Peitschenschnur den aufgeschwollenen Sauger trifft und er platzt. Doch
+bald wagten sie sich nicht weiter vom Vegetationsgebiete zu entfernen,
+und wir waren sie für den Rest des Tages los.
+
+Wir kamen jetzt auf den offenen, wüsten, kiesigen und unfruchtbaren
+Sai hinaus, der langsam nach dem Gebirge ansteigt; hier gibt es keinen
+Grashalm, kein Insekt, keine Spur von Leben, nur auf asphalthartem
+Boden dünn verstreuten Kies und Sand.
+
+In launenhaft wechselnden Abständen sind kleine Steinpyramiden
+errichtet, deren einzige Aufgabe es ist, als Richtschnur beim Sturme
+zu dienen. Die Asiaten finden, daß sie ihren Wegen und Stegen einen
+gewissen Dankbarkeitstribut schuldig sind, der den Pyramiden in Gestalt
+eines Zuschusses von einem oder mehreren Steinen gebracht wird. Ohne
+Weg würden sie nicht nach Quellen und Weiden hinfinden, und besonders
+denkt der glücklich einem Sturme entronnene Wanderer an die, welche ihm
+unter schwierigen Verhältnissen folgen, und liefert daher gern seinen
+Beitrag dazu, die Wegweiser noch deutlicher zu machen.
+
+Mittlerweile begann die Tageshitze mit heißen Dämpfen und
+Luftbewegungen anzurücken. Ich wußte, daß der Weg nach der ersten
+Quelle Tattlik-bulak weit war, denn dieser Schuttkegel am Nordfuße des
+Kwen-lun war an allen Punkten, wo ich ihn früher überschritten hatte,
+unendlich breit gewesen. Doch wenn ich gehofft hatte, ziemlich bald
+ins Gebirge hineinzukommen, so wurde diese Illusion vernichtet, als
+wir zwei mächtige Steinhaufen, zwischen denen der Weg hindurchführte,
+passierten und damit nach Tokta Ahuns wenig erfreulicher Erklärung
+gerade die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten. Wir ritten schon
+sieben Stunden in ununterbrochenem Karawanentempo.
+
+Die kleinen, fünf Monate alten Hunde waren schon zu Anfang des Marsches
+müde und in einem Korbe auf ein Kamel gesetzt worden, wo es ihnen
+sehr gut ging. Als die Sonne zu stechen begann, wurden sie mit einer
+Filzdecke zugedeckt, und wir hörten nichts weiter von ihnen, bis wir
+an unserem Bestimmungsorte anlangten, wo sie munter und gesund, nur
+etwas steifbeinig, aus ihrem Verstecke hervorkamen und die Gegend in
+Augenschein nahmen.
+
+Maschka und Jolldasch waren empfindlicher gegen die Hitze und
+schienen vor Müdigkeit erschöpft zu sein, als wir die zweite Hälfte
+des Tagemarsches antraten. Obgleich sie ein paarmal Wasser bekamen,
+blieben sie doch zurück und mußten geholt werden. Schließlich wurden
+sie gebunden auf ein Kamel gelegt. Aber diese Art zu reisen war nicht
+nach ihrem Geschmack; sie wälzten sich herunter, sobald das Kamel sich
+in seinen wiegenden Gang setzte. Dann blieben sie wieder zurück, und
+Schagdur ritt mit der Wasserkanne zurück. Nach ziemlich langer Zeit
+sahen wir ihn mit Jolldasch zurückkehren; er war sehr niedergeschlagen
+und meldete, daß Maschka gestorben sei. Beide Hunde hatten sich an
+einer schattigen Terrasse in einem Hohlwege halb eingegraben. Maschka
+hatte alles Wasser, das in der kupfernen Kanne war, bekommen und es
+gierig verschlungen. Dann hatte Schagdur Jolldasch an der Leine geführt
+und Maschka vor sich auf den Sattel genommen; er war aber noch nicht
+weit mit ihnen gekommen, als der Hund aufgeregt wurde, das Pferd in den
+Hals biß und den Kopf fallen ließ. Die letzten Wassertropfen nützten
+nichts; der beste und klügste aller unserer Hunde war und blieb tot und
+mußte am Wegrande zurückgelassen werden.
+
+Jetzt war das Wasser zu Ende, und ich fürchtete das Schlimmste für
+Jolldasch. Nach mehrfachem Fortlaufen band ich ihn selbst auf einer
+Kamellast fest, wo er halb tot und seekrank geschaukelt wurde.
+
+Im übrigen hielten sowohl Menschen wie Tiere sich gut. Es war aber
+auch einer großen Anstrengung wert, dem stickigen Sommer drunten zu
+entfliehen. Des Reitens müde ging ich mehrere Stunden zu Fuß. Die
+Landschaft bleibt sich gleich; die Steigung ist unmerklich. Gegen Abend
+wurde das Terrain kupiert, und wir gelangten zwischen niedrige Hügel
+von Rollsteinkies, Sand und Lehm. Später tritt anstehendes Gestein
+auf, außerordentlich verwitterter und brüchiger hellgrüner Schiefer
+und Granit. Wir folgen einem ausgeprägten Trockentale aufwärts,
+das Seitentäler aufnimmt, und die Landschaft wird immer kräftiger
+ausgemeißelt von Regenbächen, die jetzt keinen Tropfen Wasser mehr
+enthalten.
+
+Von dem oberen Teile einer schmalen, abfallenden Talfurche öffnet
+sich die Perspektive über die Oase, den Bach und die Herberge
++Hung-lugu+, ein doppelt angenehmer Anblick nach einem solchen
+Tage. Sobald wir dort angekommen waren, wurden die Hunde nach dem
+Bache gebracht, und es folgte ein Trinken, das gar kein Ende nehmen
+wollte. Sie liefen in das frisch sprudelnde, schwach salzhaltige
+Wasser, das sie mit großer Begierde „löffelten“, wobei ihre Augen vor
+Freude strahlten. Manchmal ging es zu schnell, und das Wasser kam in
+die unrechte Kehle; dann husteten und räusperten sie sich, um sofort
+weiterzuschlürfen. Darauf legten sie sich der Länge nach ins Wasser,
+wälzten sich in dem am Ufer wachsenden Grase, bellten vor Freude und
+tranken von neuem.
+
+Die Vegetation ist in diesem herrlichen Tale üppig und besteht
+hauptsächlich aus prächtigen, zu wirklichen Bäumen entwickelten
+Tamarisken, im übrigen aus Gras, Kamisch und allerlei Kräutern;
+in einer Erweiterung des Tales steht sogar eine Gruppe alter
+knorriger Pappeln. Wir zogen talaufwärts weiter. In einem herrlichen
+Tamariskenhaine fanden wir die Pferdekarawane, die den ganzen Tag
+bedeutenden Vorsprung gehabt hatte, und eine kleine Karawane von sieben
+Eseln und sieben Schafen, die Numet Bek einen Tag vorher von Abdall
+geschickt hatte, um uns mit Proviant zu unterstützen.
+
+Nichts kann herrlicher sein, als nach 14½stündigem, angestrengtem
+Marsche durch eine Wüste von 70 Kilometer Breite eine solche Oase zu
+erreichen. Hier wurde auch in der Dämmerung eines der gemütlichsten
+Lager, die ich je gehabt habe, aufgeschlagen. Meine Jurte wurde zum
+ersten Male am Außenrande des Tamariskenwaldes aufgerichtet und war mit
+Bett, Teppich und Kisten so nett, sauber und einladend, daß ich die
+Fähre und ihre behagliche Kajüte nicht länger vermißte. Schagdur, Turdu
+Bai und Mollah Schah pflanzten ihr weißes Zelt unter den Tamarisken
+auf, die anderen kampierten in einem Dickicht, das einer Laube glich.
+Um 9 Uhr zeigte das Thermometer +20 Grad und im Wasser +12,8 Grad, so
+daß mir die gewöhnliche Abenddusche nach all der Hitze ziemlich kalt
+vorkam. Schon hier befanden wir uns in einer Höhe von 1953 Meter, 1115
+Meter über Abdall.
+
+Alle waren entzückt über den Tagesbefehl für den 3. Juli, der auf
+Ausruhen an der +Tattlik-bulak+ (süßen Quelle) lautete. Über die
+Hitze brauchten wir uns nicht länger zu beklagen; die Sonne stach
+mittags allerdings, aber es wehte aus Südwest, nicht gleichmäßig und
+ununterbrochen wie in der Ebene, sondern stoßweise, manchmal so heftig,
+daß die Jurte umzufallen drohte, manchmal hörte der Wind auf und
+machte der Windstille Platz. An der linken Talseite steht ein kleiner
+senkrechter Wall von Rollsteinen, und aus dieser Wand sprudelt mit
+einer Temperatur von +10 Grad die kristallklare süße Quelle hervor. Auf
+dem Walle oberhalb erhebt sich eine Steinpyramide mit ein paar Stangen.
+Auf einer derselben las ich: P. Splingaert 1894 und C. E. Bonin 1899.
+
+Die Vegetation ist reich, obwohl sie nur in wenigen Arten auftritt.
+Von Tieren kommen nur einige kleine Vögel, Ameisen, Spinnen, Fliegen,
+Zecken und Käfer vor. Ein paar Bremsen hatten sich hierher verirrt; sie
+waren vielleicht von unseren eigenen Kamelen mitgebracht. Wir genossen
+unser Glück in vollen Zügen, und alles wäre gut gewesen, wenn wir nicht
+Maschka, den Liebling aller, verloren gehabt hätten. Beim Aufbruch von
+diesem herrlichen Ruheplatze wurden einige Veränderungen mit dem Gepäck
+vorgenommen. Die Jolle wurde in eine Filzdecke genäht, um vor dem
+Scheuern geschützt zu sein, und die Jurte wurde auf die Pferde geladen,
+die immer zuerst nach dem Lagerplatz gelangten. Von nun an sollte ich
+schon bei der Ankunft mein Haus fertig finden.
+
+Der Weg führt zwischen Felsen von schwarzem Schiefer in dem Tale
+des Baches von Tattlik-bulak aufwärts. Die Tamarisken stehen gerade
+in Blüte, und ihre prachtvollen Blütentrauben mit ihrer reinen
+violetten Farbe erheitern sozusagen die sonst eintönige, braungraue
+Berglandschaft (Abb. 114). Unaufhörlich kreuzen wir den kleinen Bach,
+dessen frisches Wasser in unmittelbarer Nähe zu haben uns sehr angenehm
+war, da der Tag heiß wurde. Im Winter ist dieses ganze Tal mit Eis
+bedeckt. Der Bach friert nach und nach zu, und diejenigen, welche dann
+hier durchkommen, müssen auf dem Eise gehen. Man vermeidet dann diesen
+Weg, weil die Tiere sich leicht die Beine brechen können. Hier lag noch
+ein totes Kamel von einer mongolischen Pilgerkarawane, die diesen Weg
+im Winter gemacht hatte; es war auf dem Eise ausgeglitten und hatte ein
+Bein gebrochen. Gleich hinter Tattlik-bulak steht eine kleine Gruppe
+von Pappeln, und zwischen ihren Ästen lagen Stangen, die eine Art Bahre
+bildeten. Hier sollen früher Kameljäger ihr erlegtes Wild auf die Bäume
+gelegt haben, um es vor Hunden und wilden Tieren zu schützen. Jetzt
+kommen selten wilde Kamele in diese Gegend.
+
+Als wir am Abend auf der kleinen Weide von +Basch-kurgan+
+ankamen, war mein tragbares Hotel schon fertig und möbliert, ganz
+wie ein Wirtshaus an der Landstraße (Abb. 116). Doch darf ich dort
+nicht eintreten, um mich ausschließlich der recht notwendigen Ruhe
+hinzugeben. Nein, erst werden Thermo- und Barograph ausgepackt,
+dann die heute unterwegs gesammelten Gesteinproben etikettiert und
+eingepackt, darauf die Kartenblätter gezeichnet und zuletzt die
+Aufzeichnungen und Beobachtungen eingetragen. Um diese Zeit ist das
+Mittagessen fertig; ihm folgen um 9 Uhr die gewöhnliche meteorologische
+Ablesungsreihe und das Ablesen des Hypsometers; wenn dann auch noch die
+Chronometer aufgezogen und verglichen sind, gehe ich ins Freie, um eine
+Weile mit den Hunden zu spielen und sie zu füttern. Vor 11 Uhr ist die
+Tagesarbeit selten zu Ende; dann lese ich noch eine halbe Stunde im
+Bett, bevor ich in der frischen, gesunden Gebirgsluft fest einschlafe.
+
+Um die Höhen nicht zu schnell zu nehmen, hatten wir beschlossen,
+während des Rittes nach dem Hauptquartier oft Rasttage einzuschieben;
+so wurde auch Basch-kurgan ein Tag geopfert. Hier treffen drei Täler
+zusammen, die in das lange Tal von Tattlik-bulak übergehen. Der Name
+„Festung des Talkopfes“ schreibt sich von der Ruine eines auf einem
+isolierten Hügel thronenden kleinen chinesischen Forts her. Schagdur
+und Mollah, mein Sekretär von Abdall, machten einen weiten Ausflug
+nach Osten, auf welchem ersterer nach einiger Unterweisung im Gebrauch
+von Kompaß und Uhr eine rohe Kartenskizze von dem Lande zu machen
+beauftragt war. Es war das erstemal, daß er eine solche Aufgabe löste,
+und wenn die Karte auch nur als Kroki verwendbar war, gab sie mir doch
+einen guten Begriff vom Verlauf der Bergketten und Täler in jener
+Richtung. Schagdur vervollkommnete sich später zu einem bedeutenden
+Grade von Sicherheit in der Auffassung des Terrains.
+
+Bei Basch-kurgan kreuzten wir die untere Kette des Astin-tag, welche
+das Tal von Tattlik-bulak durchbricht; ein Paßübergang ist daher
+unnötig. Der nächste Tagemarsch führt uns weiter aufwärts nach dem
+Hauptkamme desselben Bergsystems. Dorthin gelangten wir jedoch nicht in
+einem Tag, sondern wir lagerten unterwegs schon in +Basch-joll+,
+einem kleinen Weideplatz mit einer herrlichen Quelle (+5,8 Grad) und
+den Ruinen einer chinesischen Festung.
+
+Am 8. Juli hatten wir einen langen Wüstenweg vor uns und nahmen Wasser
+mit. Um 6½ Uhr brachen wir auf und zogen immer höher nach dem Kamme
+des Astin-tag hinauf. Auf beiden Seiten erheben sich steile, wilde,
+zackige Felsenmassen. Der Hohlweg erweitert sich und führt nach einem
+bequemen, hügeligen Passe hinauf, der merkwürdigerweise keinen anderen
+Namen als „Dawan“, der Paß, hat. Der bisher nach Osten führende Weg
+bog jetzt nach Süden ab. Doch auch ostwärts erstreckt sich zwischen
+felsigen Bergen ein Tal, in welchem zwei wilde Kamele davonflüchteten.
+Dies ist im innersten Asien das dritte Gebiet, wo ich wilde Kamele
+getroffen habe, und ich bin, nach den Beobachtungen, die später gemacht
+wurden, in der Lage, eine Karte ihrer Verbreitung zu geben.
+
+Auf dem Passe sprühregnete es leicht; als wir aber hinuntergingen und
+das breite, flache Längental, das den Astin-tag vom Akato-tag trennt,
+überschritten, begann es tüchtig zu regnen, und der Donner rollte
+über den Bergen. Das Land ist eine Wüstenei; man sieht keine Spur
+von Leben. Wir waren über 13 Stunden geritten, als wir endlich die
+namenlose Steppe erreichten, wo die Karawane Halt gemacht hatte und die
+Tamariskenbüsche Feuerung gaben, wo aber weder Wasser noch Weide zu
+finden war.
+
+Am Morgen des 9. Juli war der Himmel völlig klar und die Temperatur auf
++0,7 Grad heruntergegangen. Die jetzt herrschende Marschordnung war
+folgende: voran gingen die Esel und die noch übrigen Schlachtschafe.
+Ihnen folgten Mollah Schah und Kutschuk mit den Pferden, und da sie
+schneller ritten als alle anderen, waren sie stets die ersten an den
+Lagerplätzen. Dann kamen Turdu Bai und Mollah mit den Kamelen und
+zuletzt ich mit Schagdur und Tokta Ahun. Letzterer war mein Cicerone,
+da er die Gegend sehr gut kannte. Schagdur hielt mein Pferd, wenn ich
+Berggipfel anpeilte oder Gesteinproben abschlug, deren Einpacken in
+Zeitungspapier seine Sache war. Infolge all des dadurch verursachten
+Aufenthalts langten wir stets ein, zwei Stunden später im Lager an als
+die anderen.
+
+Im Südwesten leuchten die Firnfelder eines prachtvollen Bergmassivs,
++Illwe-tschimen+ genannt; an der uns zugekehrten Seite desselben liegen
+zwei kleine Salzseen, der +Usun-schor+ und der +Kalla-köll+.
+
+Während der kurzen Rast an einem Quellbecken am Fuße des Akato-tag
+veränderte sich plötzlich das Wetter; der Himmel überzog sich, und es
+gab einen Platzregen; wir waren augenscheinlich schon mitten im Klima
+Tibets, wo Sonnenschein, Wind und Regen miteinander in wenigen Minuten
+abwechseln.
+
+Von der Quelle gehen wir durch eine trockene Rinne nach Südwesten.
+Hier erhob sich ein heftiger Südweststurm, der keinen Regen brachte,
+aber Staub und Sand aufwirbelte und uns so das Gesicht peitschte, daß
+die Haut schmerzte. Er kam wie eine kompakte gelbgraue Wand von lauter
+Wirbeln angezogen und hüllte uns in einen Nebel ein, der die Landschaft
+auf allen Seiten verschwinden ließ. Nichts als der Weg ist sichtbar;
+man schwankt im Sattel und kann nur mit Mühe seine Aufzeichnungen
+machen, wobei die Marschroutenblätter beinahe zerrissen werden. Nach
+zwei Stunden endete der Orkan ebenso plötzlich, wie er losgebrochen
+war. Wir waren sozusagen durch einen Fluß von Wirbelwind gewatet. Im
+Gegensatz zu den Stürmen des Tieflandes klärte sich die Luft sofort
+auf und wurde wieder ebenso rein und durchsichtig wie vorher. Daß der
+Flugsand von diesen heftigen Bergwinden wirklich weitergetragen wird,
+sahen wir sofort; auf dem leichten Doppelpasse des Akato lagen kleine
+Dünen angehäuft, die südwestliche Winde dorthin geführt hatten.
+
+Auf dem Südabhange, den wir südostwärts kreuzten, wiederholte sich
+dasselbe orographische Relief, das wir beim Astin-tag gesehen hatten.
+Der Sai, der harte Schuttkegel, fällt langsam nach einem neuen
+Riesentale ab, das sich von Westen nach Osten zieht und im Süden von
+einer neuen Bergkette, dem Tschimen-tag, begrenzt wird. Der Sai geht
+in Kakir, horizontalen, im Wasser nach Regen abgelagerten Tonschlamm,
+über. Hier lagen die Gerippe der beiden Pferde, die von Tscherdons und
+Faisullahs Karawane gestorben waren. Endlich hob sich vom Ufer eines
+kleinen Sees, der nur den Namen „+Köll+“ führt, einen halben
+Kilometer Durchmesser hat und von Rasen umgeben ist, die Jurte ab.
+
+Seltsamerweise traten jetzt wieder Mücken und Bremsen auf, und
+namentlich die ersteren plagten uns sehr, bis wir das Hauptquartier
+in Tschimen-tag verlassen hatten. Sobald man einen Augenblick
+stillsteht, wird man von ihnen umschwärmt; Pferde und Hunde werden
+ebenso heftig angegriffen, aber die Haut der Kamele ist für ihre feinen
+Folterwerkzeuge zu dick. Hier in den Bergen leben und regieren die
+Mücken jeden Sommer 2½ Monate. Man wundert sich, daß ihre Larven die
+hier im Winter herrschende strenge Kälte überdauern können.
+
+Am 10. Juli zogen wir schräg über das Tal nach Südosten und kreuzten
+dabei verschiedene Rinnen, bis wir an die Schlucht Temirlik kamen, wo
+wir an einigen von frischer Weide umgebenen Quellen rasteten.
+
+Es war eine wahre Feuerprobe, am folgenden Morgen mitten im ärgsten
+Mückentanze die astronomischen Beobachtungsreihen auszuführen; die
+Mücken nahmen immer die Gelegenheit wahr, wenn ich an den Schrauben
+drehte und mich nicht verteidigen konnte.
+
++Temirlik+ (2961 Meter über dem Meere) sollte später während
+der Reise ein wichtiger Punkt werden. Auch jetzt stellten sich
+mehrere Gäste in unserem Lager ein. Gleichzeitig mit uns kamen vier
+Goldgräber aus den Gruben von Bokalik an; sie hatten sich ein paar
+Monate im Gebirge aufgehalten, aber nicht so viel Gold gefunden, daß
+es der Rede wert war, und kehrten daher mißmutig nach Chotan zurück.
+Während des Ruhetages stieß die in Tscharchlik bestellte Maiskarawane
+mit ihren fünf Führern und einem artigen Briefe des Ambans, den ich
+S. 284 mitgeteilt habe, zu uns. Schließlich kamen auch Boten aus
+dem Hauptquartier, wohin wir noch zwei Tagereisen hatten, mit der
+Nachricht, daß dort alles gut stehe.
+
+Der eine war Chodai Värdi, „der von Gott Gegebene“, wie der Name
+besagt, tatsächlich aber ein unangenehmer Kerl aus Jangi-köll, der
+mir später einmal beinahe einen verhängnisvollen Streich gespielt
+hätte. Der andere hieß Aldat und war afghanischen Stammes, wohnte
+aber in Tschertschen. Er hatte in den Bergen überwintert, um Yake zu
+schießen, deren Haut er an Kaufleute aus Kerija verhandelte. Er war ein
+prächtiger, hübscher junger Mann, der jährlich als Nimrod in diesem
+wilden Gebirge umherstreifte. Er wandert im Herbste hierher und nimmt
+großen Munitionsvorrat mit. Die Flinte und der Pelz sind das einzige,
+was er sonst noch zu tragen hat, und dann streift er den ganzen
+Winter wie ein halbwilder Bergbewohner ohne Zelt und Proviant umher
+und lebt von dem Fleisch der Yake, die er schießt, und stillt seinen
+Durst aus den Quellen, die der ewige Schnee speist. Im Sommer kommen
+dann seine Brüder mit Eseln, um die Yakfelle von seinen verschiedenen
+Stapelplätzen abzuholen; sie schneiden die brauchbaren Stücke aus und
+bringen sie nach Tschertschen. Islam hatte ihn engagiert, weil er
+alle Gebirgsgegenden bis an den Fuß des Arka-tag genau kannte; weiter
+südlich war Aldat aber nie gewesen.
+
+Aldat war ein seltsamer, aber sympathischer Mensch, hatte eine
+Adlernase und einen Vollbart, sowie den harmonisch geformten Schädel
+der arischen Rasse, ein Typus, dessen edle Züge durch keinen Tropfen
+mongolischen Blutes verdorben waren. Das einsame, düstere, an
+Entbehrungen reiche, aber dennoch fesselnde Leben, das er auf den
+Bergketten und in den engen Tälern des Kwen-lun zu führen gewohnt war,
+spiegelte sich wider in seinem wehmütigen Blicke, der zu grübeln und zu
+fragen schien. Er war noch nicht lange bei uns, als er sich auch schon
+gut zurechtfand. Er redete nie unnötigerweise, antwortete kurz und
+klar auf Fragen und ging, die Flinte auf der Schulter, beinahe stets
+für sich allein. Sein Gang war königlich; er schien über den Boden
+hinzuschweben, wurde nie müde und verspürte nichts von dem ermattenden
+Einflusse der Luftverdünnung.
+
+Ich fand großen Gefallen an Aldat und schlug ihm vor, sich an unserer
+ersten Tibetexpedition zu beteiligen, was er ohne Zögern annahm. Das
+Leben, das er führte, erschien mir ebenso unerklärlich wie verlockend.
+Ich fragte ihn, was er anfange, wenn die Jagd fehlschlage und er nichts
+zu essen habe. „Dann hungere ich,“ antwortete er, „bis ich wieder einen
+Yak finde.“ Wo er schlafe? In Klüften und Schluchten, manchmal auch
+in Höhlen. Ob er sich vor Wölfen fürchte? Nein, er habe Zunder, Stahl
+und Stein und zünde allabendlich ein kleines Feuer an, an dem er sein
+Yakfleisch brate; überdies vertraue er auf seine Flinte. Sich verirren?
+Nein, das könne er nicht; er kenne alle Pässe und habe die Täler
+unzählige Male durchstreift. Und das beständige Alleinsein falle ihm
+durchaus nicht schwer; er habe keine anderen Freunde, die ihm fehlen
+könnten, als seinen alten Vater und seine Brüder.
+
+[Illustration: 132. Aussicht nach Süden vom Lager Nr. 28 aus. (S. 330.)]
+
+[Illustration: 133. Bugsierung eines Kamels über den Fluß. (S. 339.)]
+
+[Illustration: 134. Fester Boden unter den Füßen. (S. 339.)]
+
+[Illustration: 135. Ein glücklich über den Fluß gebrachtes Kamel. (S.
+339.)]
+
+Ein unruhig umherirrender Geist in Menschengestalt! Ich kann mir kaum
+ein Land denken, in dem das Alleinsein unheimlicher ist als Tibet; die
+Wüste wäre nicht schlimmer. Bei Tag geht es noch an, aber nachts, wenn
+die Kälte die Haut schmerzen macht und die dunkeln Bergketten sich
+unheimlich drohend im Mondschein erheben! Armer Aldat, wie manches Mal
+war er müde und matt nach fehlgeschlagenen Hoffnungen an die einsame
+Quelle gekommen, wo nur die Antilopen zu trinken pflegten, und hatte
+sich, in seinen Pelz gehüllt, am Rande ihres Bettes hingelegt und
+dort den langsamen Gang der Stunden der Nacht abgewartet. Und wenn
+die Sonne, seine einzige Freundin in der Wildnis, endlich aufging,
+geschah es nur, um ihn zu ermahnen, die Jagd nach wilden Yaken ohne
+Rast und Ruh wie ein Spürhund fortzusetzen. Sein Leben war in Wahrheit
+gefährlich, arm und groß, und, als er schon lange tot war, konnte
+ich nicht verstehen, wie er es ausgehalten hatte; noch heute ist er
+mir ein Rätsel. Ich hatte alles, dessen ich bedurfte, Diener, eine
+Leibwache von Kosaken, Wächter und Hunde, aber dennoch war mir, wenn
+der Schneesturm klagend um die Jurte sauste und die Wölfe in den Bergen
+heulten, oft ganz wunderlich zumute.
+
+Die Leute, die mich auf dieser Reise nach dem Hauptquartier im
+nördlichen Tibet begleiteten, sollten sich alle auf die eine oder
+andere Weise auszeichnen. Turdu Bai war, wie schon erwähnt, der beste
+Muselmann, den ich in meinem Dienste gehabt habe, und wenn er zugegen
+war, war ich stets der Kamele wegen beruhigt. Schagdur war über jedes
+Lob erhaben, und ich kann nicht Worte genug finden, um die Dienste,
+die er mir leistete, zu würdigen. Er lernte alles, vergaß nichts und
+brauchte nie erinnert zu werden, und ich hatte ihn stets gern in meiner
+Gesellschaft. Es war ein gewisses Etwas an ihm, das ihn so sympathisch
+machte. Ich bewunderte hauptsächlich seinen wilden, verwegenen Mut in
+Gefahren und die Ruhe, mit der er schwere Aufgaben übernahm. Zweimal
+hatte er später Gelegenheit zu zeigen, wie gern er sein Leben für mich
+hingegeben hätte. Es war ein ebenso erhebendes wie wohltuendes Gefühl,
+sich von solcher Treue in der blindesten, uneigennützigsten Gestalt,
+die ich je kennen gelernt, umgeben zu wissen; daher hielt ich sehr viel
+von diesem jungen burjatischen Kosaken, der in seiner Heimat vor den
+Götzen des Lamaismus gekniet hatte, ihnen jetzt aber verächtlich den
+Rücken kehrte. Es war nicht mein Verdienst, daß dies geschah, denn ich
+fühlte mich nicht berufen, den Glauben der Asiaten zu erschüttern, wohl
+aber gab das Leben in meiner Karawane sowohl Schagdur wie den anderen
+mancherlei zu denken, wovon sie früher nie geträumt hatten.
+
+Tokta Ahun aus Abdall war ein durchaus ehrlicher Naturmensch, ein
+verständiger Kerl, der mir von großem Nutzen war. Ich habe vorher
+erwähnt, daß er sowohl die Pferde wie die Kamele nach Temirlik
+begleitete und jetzt mit uns zum dritten Male in zwei Monaten die Reise
+nach dem Hauptquartier hinauf machte, das kürzlich der Mücken halber
+von dieser Quelle nach +Mandarlik+ (3437 Meter) verlegt worden
+war. Da er bei einer späteren Expedition eine hervorragende Rolle
+spielen wird, sage ich jetzt nichts weiter über ihn.
+
+Auch mit Kutschuk wird der Leser bald genauere Bekanntschaft machen; er
+war ein prächtiger, außergewöhnlich tüchtiger Mensch. Auch Mollah Schah
+war mit in Nordtibet.
+
+Bleibt also nur noch Mollah, der „Herr Doktor“, eine klassische
+Erscheinung von fünfzig Lenzen, ein kleines, dürres, verhutzeltes
+Männchen, ohne ein Härchen auf Kinn und Lippen, weshalb wir ihn
+manchmal scherzend fragten, ob er nicht eigentlich ein verkleidetes
+Weib oder im besten Falle ein Mongole sei, welche Reden für die
+Gläubigen des Propheten gerade nicht schmeichelhaft sind. Er redete mit
+einer Stimme, die scharf wie ein Pfriemen war, und schwatzte immer,
+sogar abends, wenn keiner zuhörte. Doch er war sehr lustig, wußte gut
+Bescheid und war bei allen beliebt. Auch Mollah Schah werde ich noch
+genauer vorstellen, denn er begleitete mich auf der zweiten Expedition
+nach dem Lop-nor.
+
+Der Abend wurde durch ein rasendes Gewitter aus Westen verherrlicht,
+und die Windstöße drückten beinahe die Jurte nieder, die auf allen
+Seiten verankert werden mußte. Ein strömender Regen durchweichte
+unsere Wohnungen und machte den Boden schlüpfrig, und die Leute,
+die den Mais gebracht hatten, kauerten sich unter den Filzstücken
+und Sackleinwandstreifen, die sie zur Hand hatten, wie Murmeltiere
+zusammen. Die jungen Hunde bellten wütend bei den Donnerschlägen, die
+sie jetzt zum ersten Male hörten und wohl für irgendeinen unerlaubten
+Spektakel in den Bergen hielten. Doch da es fortfuhr zu donnern,
+beruhigten sie sich allmählich und knurrten nur noch leise. Schließlich
+schienen sie dahinterzukommen, daß der Donner zum Stück gehöre und sich
+durch Hundegebell nicht erschrecken lasse.
+
+Am 12. Juli gingen wir nach Osten über das Tal +Usun-jar+.
+Hinter der trockenen Schlucht +Basch-balgun+ verlassen wir den
+Vegetationsgürtel und reiten auf hartem, unfruchtbarem Kiesboden
+weiter; links aber sehen wir noch immer den hellen Grasgürtel, der sich
+bis an den Geröllfuß des Akato erstreckt, von wo aus die Karawane von
+ein paar Kulan- oder wilden Eselherden neugierig betrachtet wird.
+
+Östlich von der Quelle +Kumutluk+ sieht man im Nordosten die
+bedeutende Wasserfläche des +Gas-nor+ einen großen Teil des
+Talgrundes einnehmen. Die Ufer sind von so heimtückischen Sümpfen
+umgeben, daß man nur an einem einzigen Punkte an den See gelangen kann.
+Sie glänzen hier und dort kreideweiß wie von Schnee, und das Wasser ist
+scharf salzig. Im Westen des Gas-nor liegt eine kleine Süßwasserlagune,
+Ajik-köll genannt, weil sich dort Bären von den Früchten der Sträucher
+ernähren sollen.
+
+Bei +Tschiggelik+ (Binsenstelle, 2977 Meter) oder Dundu-namuk
+(mittelste Quelle), wie die Mongolen den Platz nennen, wachsen
+„Boghana“-Sträucher, Kamisch und Binsen; hier war die Luft buchstäblich
+voll von Mücken und Moskitos, die uns ärger peinigten als je am Tarim
+und ein Jucken wie von einem Ekzem hervorriefen.
+
+Jetzt hatten wir nur noch eine Tagereise vor uns. Wir ritten gegen
+Süden das Tal von Mandarlik hinauf, das sich zwischen 8 Meter hohen
+Geröllterrassen scharf markiert und höher oben von einem kristallhellen
+Bach durchrauscht wird. Wir treten in dieses Quertal auf dem
+Nordabhange des Tschimen-tag ein; die äußersten Felsausläufer lassen
+wir hinter uns zurück, die Granitmassen mit ihren wilden, bizarren
+Vorsprüngen rücken einander immer näher. Wendet man sich im Sattel um,
+so sieht man wie durch ein breites Tor den Gas-nor und dahinter in der
+Ferne den Kamm des Akato-tag. Das breite Tschimental läuft im Osten in
+das Zaidambecken aus.
+
+In einer Erweiterung des Mandarliktales weiden unsere Pferde, Maulesel
+und Kamele. Tscherdon, Islam, Faisullah und die anderen kommen uns zu
+Fuß entgegen, und bald darauf sind wir wieder daheim in einem großen,
+gut ausgestatteten Hauptquartier (Abb. 117, 118, 119).
+
+
+
+
+Siebenundzwanzigstes Kapitel.
+
+Über den Tschimen-tag, Ara-tag und Kalta-alagan nach dem oberen
+Kum-köll.
+
+
+Vor dem Aufbruch zur ersten tibetischen Expedition gönnten wir uns
+im Hauptquartier im Tale von Mandarlik eine Woche Ruhe. Es war
+eine weidereiche, schöne, herrliche Gegend, die zwischen mächtigen
+Granitfelsen eingeschlossen war. Auf einer Terrasse am linken Ufer des
+munter rauschenden Flusses dieses Tales erhob sich unser wanderndes
+Dorf. Die Kosaken und der Schneider Ali Ahun, der beständig vollauf zu
+tun hatte, residierten in der großen mongolischen Jurte, hinter welcher
+Schagdur aus mitgebrachten Brettern eine Einfriedigung zimmerte, um das
+meteorologische Häuschen vor etwaigen Besuchen der Kamele zu schützen.
+Die Muselmänner wohnten teils in zwei geräumigen Zelten, teils in den
+schützenden Verschanzungen, die dadurch entstanden, daß die Kamellasten
+und die Maissäcke in Kreisen und Reihen aufgestapelt wurden. Ich
+selbst hauste in der kleinen Jurte, vor welcher alle meine Kisten
+standen, die zum Schutze gegen die oft genug fallenden Regenschauer
+mit einer weißen Decke zugedeckt waren. Die Aussicht talaufwärts war
+großartig; im Hintergrund erhob sich der Hauptkamm des Tschimen-tag
+mit seinen bei klarem Wetter blendenden Schneefeldern (Abb. 120). Die
+Kamele, die jetzt fast zwei Monate im Gebirge geweidet hatten und bald
+ins Feuer sollten, waren rund wie Tonnen und glänzten vor Fett. Auch
+die anderen Karawanentiere hatten es in jeder Beziehung gut. Von der
+Schafherde waren noch 42 Stück da; die verlorenen Hunde wurden durch
+drei zugelaufene ersetzt, welche halbwilde Deserteure von den nächsten
+mongolischen Lagerplätzen in Tschurchak waren.
+
+Nach diesem Orte machte Schagdur einen Ausflug und wurde dort sehr
+freundlich aufgenommen. Die Mongolen versprachen uns alles, was wir
+an Tieren brauchen würden, zu verkaufen, und hofften, daß ich ihnen
+gelegentlich einen Besuch abstatten würde. Tscherdon ritt eines Tages
+talaufwärts, stieß dort auf eine Herde von 50 Yaken und erlegte eine
+prächtige fette Kuh. Ich beschäftigte mich mit Beobachtungen und
+Exkursionen und bereitete die nächste Reise vor. Proviant für sieben
+Mann auf 2½ Monate wurde beiseite gestellt. Alle überflüssigen
+Gäste, die unser Lager bevölkerten, wurden fortgeschickt.
+
+Im Hauptquartier blieben Islam als Karawan-baschi, Faisullah als Hüter
+der vier Kamele von Abdall, Chodai Kullu, Kader und Chodai Värdi zur
+Besorgung der Pferde, Ali Ahun als Schneider und Schagdur als Bedeckung
+und Meteorolog. Er sollte die ganze Zeit über täglich dreimal ablesen
+und die selbstregistrierenden Instrumente in Gang halten. Musa aus Osch
+sollte uns bis an den Kum-köll mit sechs Pferden begleiten, die dazu
+bestimmt waren, anfangs den anderen Tieren die Lasten zu erleichtern,
+und Tokta Ahun sollte von dort mit ihm umkehren. Letzterer hatte
+gebeten, den Sommer in Mian, wo er Weizen baute, zubringen zu dürfen,
+erhielt aber Befehl, sich in 2½ Monaten wieder bei uns einzufinden
+und dann ein halbes Dutzend Kamele mitzubringen.
+
+Die Karawane war mit besonderer Sorgfalt ausgewählt und folgendermaßen
+zusammengesetzt: Tscherdon als meine rechte Hand, Zelterrichter,
+Kammerdiener und Koch, Turdu Bai als Karawan-baschi für die sieben
+Kamele, Mollah Schah als solcher für die elf Pferde und einen Maulesel,
+Kutschuk als Ruderer für die geplanten Seefahrten. Nias aus Kerija,
+ein Goldgräber, den wir im Gebirge getroffen hatten, sollte als
+Handlanger der höhergestellten Muselmänner fungieren, und Aldat war
+so weit Wegweiser, als seine Kenntnis der Gegend reichte. Jolldasch
+kam natürlich mit und wohnte, wie gewöhnlich, in meiner Jurte. Von den
+übrigen Hunden nahmen wir nur Maltschik mit, sowie einen großen, gelben
+Mongolenhund, der einem Wolfe glich. Die zurückbleibenden Hunde zausten
+die abreisenden, mit denen sie nicht in Eintracht gelebt hatten, zum
+Abschiede noch tüchtig im Nacken. Von den Schafen wurden sechzehn
+mitgenommen, die der Goldgräber Nias hinter der Karawane hertrieb.
+
+So zogen wir denn fort aus den Wohnungen des Friedens, unbekannten
+Schicksalen in unbekannten Teilen der Erde entgegen, und der Klang der
+Glocken und Schellen hallte von Mandarliks Granitfelsen wider (Abb.
+121). Bald ließen wir das Haupttal, das sich bis an die Schneefelder
+hinauf zu erstrecken schien, rechts liegen und folgten einem kleinen,
+wasserlosen Tale. Von einem kleinen Passe zweiter Ordnung läuft nach
+Südosten ein von Jägern und Goldgräbern ausgetretener Pfad, der uns
+über ausgedehntes, kupiertes Weideland führt.
+
+Obgleich wir im Zickzack über Hügel und Pässe auf und nieder wandern,
+gelangen wir doch allmählich in immer höhere Regionen.
+
+Im Tale +Kar-jakkak+ (der fallende Schnee) fing die Natur schon
+an, einen mehr alpinen Charakter anzunehmen. Die absolute Höhe betrug
+3984 Meter. Ein klarer Bach rieselte zwischen rundgeschliffenen
+Granitstücken, und auf seinen Uferwällen waren niedliche Blumen in
+üppiges Moos und Gras eingebettet. Überall war Überfluß an Kulan-
+und Yakdung, der uns gute Feuerung lieferte. Ein paar Yakschädel
+verkündeten, daß Jäger die Gegend besuchen, wo ihnen eine Höhle mit
+Feuerherd als Nachtlager dient. Das Murmeltier (Dawagan) hatte an
+mehreren Stellen seine Löcher in den Boden gegraben; die lebhaften,
+achtsamen Nagetiere saßen an den Eingängen ihrer Wohnungen und pfiffen,
+wenn wir herannahten. Rebhühner gackerten geschäftig auf den Berghalden.
+
+Im oberen Teile dieses einladenden Tales schlugen wir Lager. Allerdings
+waren wir nicht sehr weit gekommen, aber ausgeruhte Tiere unter
+schweren Lasten dürfen zu Anfang nicht angestrengt werden. Das Gepäck
+wird mit der Zeit leichter, ja der Proviant vermindert sich leider
+viel zu schnell, und gegen ihn spielt das Gewicht der gesammelten
+Gesteinproben keine Rolle, obwohl auch diese schließlich zu einer nicht
+unbedeutenden Last anwachsen.
+
+Wir hatten Mandarlik bei stechendem Sonnenbrand und Mückenspiel
+verlassen, aber schon jetzt sahen wir uns vom kalten Herbst umgeben.
+Als ich am anderen Morgen aus der Jurte trat, herrschte vollständiger
+Winter; der Schnee fiel in dichten Flocken, und der Boden verschwand
+unter einer kompakten Schneedecke. Mitten in Asien Mitte Juli
+vollständiger Winter! Wenn der Sommer schon so ist, bekommt man Respekt
+vor dem Winter in diesen Bergen.
+
+Wir warteten besseres Wetter ab, aber das Schneien dauerte fort, und
+der Tag war verloren. Bisweilen fiel der Schnee nicht in Flocken,
+sondern in runden Hagelkörnern, die kräftig auf das Dach der Jurte
+schmetterten. Die Temperatur hielt sich etwas über Null, und gegen
+Mittag taute der Schnee auf der Jurte auf und tropfte durch alle Säume
+hinein.
+
+Diese vierte Parallelkette des Kwen-lun-Systems zeigte sich schon bei
+der ersten Bekanntschaft den vorhergehenden sehr unähnlich. Letztere
+waren trocken, hatten keinen ewigen Schnee und besaßen abgerundetere
+Formen; hier waren wir in wirklichen Alpen mit Niederschlägen und
+reicher Vegetation. Bisher hatten wir 13-14 Stunden von einer der
+spärlich vorkommenden Quellen zur anderen wandern müssen; hier fanden
+wir auf Schritt und Tritt Wasser.
+
+Obgleich das Schneien auch am 22. Juli fortfuhr, beschlossen wir
+trotzdem aufzubrechen. Der weiche Boden war glatt und tückisch, aber
+die Kamele kamen doch gut vorwärts. In den Tälern fiel der Schnee in
+großen, federleichten, feuchten Flocken, die verschwinden, sobald sie
+den Boden berühren, der nach und nach durchtränkt und naß wird. Auf
+den Höhen fiel er in Gestalt runder, leichter Graupeln. Diese sind
+für den Reitenden angenehmer, weil sie leicht herunterrollen, während
+man von den Flocken naß wird. Es tropft von der Mütze; die Hände sind
+naß und steif, das Kartenblatt wird knitterig und ruiniert. Der Blick
+dringt nicht weit, man erhält keinen Überblick über die Anordnung und
+Gestalt der Bergkämme. Nur im Norden wurde es ein paarmal hell, und man
+erblickte wie durch einen Tunnel den kuppelförmigen, flach gewölbten
+Rücken des Akato.
+
+Der Tagemarsch führte in einem Bogen um einen mächtigen Teil des
+Tschimen-tag, immer bergauf und bergab. Nach all diesem durchkältenden
+Schnee war es schön, in +Jappkaklik-sai+ (3998 Meter), wo Teresken
+wachsen, die Weide aber kümmerlich ist, rasten zu können.
+
+Die Temperatur sank abends unter Null; der Schnee blieb daher liegen
+und häufte sich zu einer dicken Schicht an, da er den ganzen Abend
+außerordentlich dicht fiel. Eigentümlicherweise war es dabei von Zeit
+zu Zeit im Zenit so klar, daß wir die Sterne funkeln sahen, während der
+Schnee in gewaltigen Flocken durch die Luft wirbelte. Ein Vorteil war,
+daß er nicht mehr schmolz, sondern sich wie eine wärmende Decke auf und
+um die Jurte legte. Die Temperatur ging auf -4,8 Grad herab.
+
+Als am nächsten Morgen der Tag graute, wurde ich von einem
+entsetzlichen Lärm im Lager geweckt und eilte hinaus. Der Hirt Nias und
+alle Schafe, bis auf vier, wurden vermißt, und an den Spuren im Schnee
+konnte man leicht erkennen, daß uns während der Nacht Wölfe in dem
+Schneesturm und der dabei herrschenden undurchdringlichen Finsternis
+einen Besuch abgestattet hatten. Sofort wurden alle Mann auf die Fährte
+losgelassen, und Tscherdon nahm seine Flinte und stieg zu Pferd. Erst
+gegen 10 Uhr kamen sie mit Nias und einem Schafe wieder. Neun der
+übrigen hatten sie hier und dort zwischen den Hügeln erfroren gefunden;
+nur eines fehlte ganz.
+
+Den Hergang beschrieb Nias folgendermaßen. Er hatte wie gewöhnlich
+im Freien unter einem Filzteppich neben seinen Schafen geschlafen,
+von denen nur vier angebunden gewesen waren; wenn nämlich nur einige
+stillstehen, bleiben die übrigen auch an der Stelle. Mitten in der
+Nacht hatten ihn Tritte im Schnee und das Blöken der Tiere, das jedoch
+das Heulen des Sturmes nur schwach durchdrang, aus dem Schlafe geweckt.
+Er fuhr in die Höhe und sah drei Wölfe, die gegen den Wind auf die
+Schafe losfuhren, um sie aus dem Lager zu treiben. Nias verfiel gar
+nicht darauf, erst die anderen Leute zu wecken, sondern stürmte, ohne
+sich zu besinnen, zu Fuß den Schafen nach. Er war die ganze Nacht wie
+ein Verrückter hinter ihnen hergelaufen, hatte aber nur das eine retten
+können. Der schlaue Angriffsplan war so gut geglückt, daß die Hunde
+nichts gemerkt hatten. Der „Mongole“ war schon wieder durchgebrannt,
+Jolldasch schlief in meinem Zelte, und der unerfahrene Maltschik lag,
+wie ein Igel zusammengerollt, hinter dem Zelte der Leute. Es nützte
+wenig, daß die Leute über alles, was Wolf heißt, fluchten und die
+Graubeine verwünschten; unser Proviant war und blieb schwer geschädigt.
+Aber Schafe sind und bleiben Schafe; warum mußten sie den sicheren
+Hafen des Lagers verlassen und ihren listigen Feinden gerade in den
+Rachen laufen?
+
+Als wir dieses traurige Lager verlassen hatten und unseren Weg nach dem
+Passe hinauf fortsetzten, waren wir sehr erstaunt, das vermißte Schaf
+über die Hügel galoppieren zu sehen, wobei es uns erschreckt, wild und
+vorsichtig betrachtete und anscheinend nicht recht wußte, ob es uns für
+Freunde oder Feinde halten sollte. Doch sobald das arme Tier seine fünf
+Kameraden erblickte, gesellte es sich auf der Stelle zu ihnen. Es war
+wohl die ganze Nacht umhergeirrt, hatte sich zu seinem Glücke von den
+anderen getrennt und war so den Wölfen entwischt, die es übrigens, als
+sie sich ertappt sahen, für gut befunden hatten, sich zurückzuziehen.
+
+Der Tag war klar und herrlich, und der Schnee schmolz weg. Wir
+schritten nach dem Hauptpasse des +Tschimen-tag+ (4269 Meter)
+hinauf, von wo aus man nach Süden ein stattliches Panorama vor sich
+hat. Eine neue Bergkette, der Ara-tag, zieht sich von Westen nach Osten
+hin; er ist jetzt ganz mit Schnee bedeckt, obwohl nur einige Gipfel im
+Südwesten wirkliche Firnfelder tragen. Das breite Längental zwischen
+Tschimen-tag und Ara-tag heißt einfach +Kajir+ (Lehmschlammtal)
+und wird von einem Flusse durchströmt, der nach Westen fließt. Wo er
+blieb, machten wir später ausfindig.
+
+Von dem orographischen Bau des Tschimen-tag will ich jetzt nur sagen,
+daß er Mangel an Ebenmaß zeigt. Das Tschimental liegt 2961 Meter über
+dem Meere, das Kajirtal 4185 Meter, weshalb wir hier eine Stufe höher
+nach dem nordtibetischen Plateau hinauf gelangt sind. Wenn man den
+Tschimen-tag von Norden betrachtet, hat man eine gigantische Bergkette
+vor sich; von Süden gesehen, erscheint er unbedeutend, weil der
+relative Höhenunterschied gering ist.
+
+[Illustration: 136. Salzsee bei Lager Nr. 35 (27. Aug. 1900). Aussicht
+nach Nordosten. (S. 341.)]
+
+[Illustration: 137. Salzsee bei Lager Nr. 35 (27. August 1900).
+Aussicht nach Südosten. (S. 341.)]
+
+Auch in diesem Lager hatten wir ein kleines Abenteuer mit den Schafen.
+Als ich wie gewöhnlich nach der meteorologischen Ablesung die
+Abendrunde machte, stellte sich heraus, daß von den sechs Schafen nur
+zwei angebunden waren. Da aller Wahrscheinlichkeit nach auch hier Wölfe
+umherstreiften, befahl ich, daß alle Schafe angebunden werden sollten.
+Doch als die vier losen Schafe gebunden werden sollten, jagte ihnen
+dies einen solchen Schreck ein, daß sie in wilder Flucht ins Gebirge
+hinaufrannten. Trotzdem es schon pechfinster war, eilten ihnen alle
+Mann nach, und eine halbe Stunde lang hörte ich verhallende Rufe von
+den Hügeln.
+
+Schließlich kam Tscherdon mit zweien wieder, die er mit dem Lasso
+glücklich eingefangen hatte. Erst nach zwei Stunden näherte sich die
+Treibjagd auf die anderen wieder dem Lager; aber die armen Tiere waren
+derartig verängstigt, daß es unmöglich schien, sie zu ergreifen.
+Schließlich gelang es freilich, aber nur durch List. Erst wurden sie
+talabwärts getrieben und dann in Schlingen gefangen. Sie wurden von nun
+an immer angebunden, bis sie der Reihe nach geopfert wurden, um nicht
+den Wölfen, sondern uns selbst zugute zu kommen.
+
+Von herrlichem Wetter begünstigt, bereiteten wir uns am Tage
+darauf unter tiefblauem Himmel, ohne ein Wölkchen, ja ohne einen
+Luftzug, auf die Erstürmung der nächsten Verschanzung in Nordtibets
+Randgebirgen, des +Ara-tag+ (Zwischenkette), vor. Auf dem Passe
++Ak-tschokka-aituse+ (der weiße Felsenpaß, 4373 Meter) wiederholte
+sich das Panorama von gestern, nur sah man jetzt eine neue westöstliche
+Kette, den +Kalta-alagan+ (Kaltas Jagdgebiet), von dem der Ara-tag
+durch ein neues Längental geschieden wird, das sich weiter westwärts
+mit dem vorhergehenden vereinigt. Der vereinigte Fluß durchbricht
+darauf den Tschimen-tag und strömt in das Tschimental.
+
+Zwei prächtige Kulane sprengten in unserer unmittelbaren Nähe heran und
+guckten über die hohe Terrasse; man hätte sie für zahme Pferde halten
+können. Als sie uns erblickten, stoben sie davon und setzten quer über
+das Tal, wobei sie mit unglaublicher Gewandtheit an dem jähen Abhange
+herab- und ebenso sicher an dem gegenüberliegenden hinaufkletterten, um
+im Nu zwischen den Hügeln zu verschwinden.
+
+Die Unseren waren weit voraus. Ich wurde beständig durch Beobachtungen
+auf Pässen und in Tälern, Sammeln von Gesteinproben, Photographieren,
+Skizzieren usw. aufgehalten. Tokta Ahun kannte freilich einen Weg nach
+Südwesten über die nächste Kette, aber aus den Spuren ersahen wir, daß
+Aldat den Weg nach Osten durch das Haupttal hinauf eingeschlagen hatte.
+
+In einem Seitental mit magerer Weide manövrierte eine Herde von zehn
+Kulanen und zwei kleinen Füllen, die erst ein paar Tage alt sein
+konnten; sie waren nett und geschmeidig und folgten ohne Schwierigkeit
+dem schnellen Laufe der älteren, als diese uns vorn und auf den Seiten
+umkreisten und unser Tun und Lassen mit größtem Interesse beobachteten.
+
+Noch immer ging es höher hinauf; über einen hügeligen Paß gelangten wir
+in ein anderes, tief und energisch eingeschnittenes Tal. Es begann zu
+dämmern und kalt zu werden, und wir sehnten uns nach dem Anblicke der
+Rauchsäule, die wie gewöhnlich verkünden sollte, daß die Karawane einen
+geeigneten Lagerplatz gefunden. Doch die Spur schlängelte sich immer
+weiter aufwärts, und soweit der Blick reichte, sah man keine Zelte. Die
+Vegetation nahm ab, und wir näherten uns immer kälteren Regionen.
+
+Es war klar, daß die Karawane den Weg über den Paß hinüber fortgesetzt
+hatte; doch nach dem mächtigen Flusse zu urteilen, dessen Tal wir
+folgten, mußte der Paß über den Kalta-alagan noch weit entfernt sein,
+und wir zerbrachen uns den Kopf darüber, weshalb die anderen einfach
+drauflosgegangen waren und nicht da Halt gemacht hatten, wo es noch
+Brennholz und Weide gab. Bei Sonnenuntergang ballten sich schwere,
+drohende Wolken zusammen; als es aber dunkel geworden war, zerteilten
+sie sich wieder, und eine sternklare Nacht brach herein. Die Berge
+verschmolzen immer mehr zu schwarzen Silhouetten, und die Kartenarbeit
+konnte nur mit Schwierigkeit fortgesetzt werden. Der Bach war noch
+groß und das Tal mit Schutt angefüllt, trotzdem aber sahen wir noch
+die Spur, die um einen Felsvorsprung bog und in ein kleines Nebental
+hineinging, das anscheinend nach einem näheren Passe hinführte.
+
+Jetzt war alle Arbeit unmöglich. Was tun? Einfach in der Nacht
+weiterreiten, war keine Kunst, aber es durfte mir nicht passieren, daß
+ich in meiner Karte eine Lücke entstehen ließ, noch dazu an einem so
+wichtigen Punkte, wo es sich darum handelte, einen Paß erster Ordnung
+zu überschreiten. Ich blieb daher einfach da, wo wir waren, und befahl
+Tokta Ahun weiterzureiten, bis er die Karawane erreichte, und dann mit
+meiner Jurte und meinen Kisten zurückzukehren.
+
+Währenddessen hatten Tscherdon und ich es in der nächtlichen Kälte
+und Dunkelheit in diesem Lager, das 4652 Meter über dem Meere lag,
+nichts weniger als gemütlich. Um 9 Uhr beschäftigten wir uns mit
+den meteorologischen Ablesungen. Dann waren wir der Untätigkeit und
+Erwartung preisgegeben. Wir kauerten uns dicht nebeneinander nieder,
+um uns warm zu halten, und unterhielten uns von ähnlichen Lagen, in
+denen wir uns früher einmal befunden hatten. Tscherdon hatte in dieser
+Hinsicht von den Manövern in Transbaikalien nicht viel zu berichten,
+ich aber hatte in Persien inmitten der Schakale im Freien gelegen,
+war am Ufer des Kara-kul im Pamir beinahe erfroren und hatte viele
+unheimliche Nächte in der Takla-makan-Wüste durchwacht.
+
+Zum Schlafen war es zu kalt; die Kälte wurde immer stärker, wir
+hatten keine Pelze und mußten uns bewegen, um nicht zu erfrieren.
+Aber schließlich macht sich nach elfstündigem Ritt und all der damit
+verbundenen Arbeit Müdigkeit geltend, und der Kopf wird einem wüst und
+schwer. So krochen wir denn wieder zwischen zwei Felsblöcken, die uns
+Schutz gewährten, zusammen. Langgezogenes Wolfsgeheul in der Ferne
+ermunterte uns wieder, die Flinte wurde in Bereitschaft gehalten und
+die ungeduldig zwischen den Steinen scharrenden Pferde in unserer
+unmittelbaren Nähe angebunden. Hätten wir nur Feuer anmachen können,
+so wäre die Lage weniger ungemütlich gewesen, doch wie wir auch in der
+Nachbarschaft umhersuchten, wir fanden weder Yakdung noch Teresken. Es
+war zu dunkel; man konnte nur mit den Händen umhertasten, und es blieb
+uns nichts weiter übrig, als durch Stampfen und Armbewegungen dafür zu
+sorgen, daß der Blutumlauf nicht ins Stocken geriet.
+
+Nach fünf unendlich langen Stunden hörten wir Hufe auf dem Schutte
+klappern. Kutschuk und Tokta Ahun kamen mit zwei Pferden und der
+Jurte. Eine halbe Stunde später erschien Turdu Bai mit den Kisten
+und Küchengeschirr auf Kamelen. Sie schoben alle Schuld auf Mollah
+Schah, der mit den Pferden weitergezogen sei, als Aldat ihm von einem
+guten Weideplatze an einer kleinen Quelle jenseits des Passes erzählt
+habe. Sie brachten einen Sack voll Feuerung mit, und das Mittagessen
+schmeckte nach siebzehnstündigem Fasten gar zu schön. Es graute schon
+über den kahlen Bergen, als wir uns schlafen legten.
+
+Ermattet von den Anstrengungen des Tages und der Nacht kamen wir am
+folgenden Morgen nicht vor 10 Uhr in Gang; nun wurde die noch fehlende
+Strecke nach dem Lager Nr. 14, wo die übrigen warteten, zurückgelegt.
+Der Anstieg nach dem +Awraspasse+ (4786 Meter), auf dem wir den
+Kalta-alagan überschreiten, ist ganz unbedeutend. Hier entrollt sich
+uns eine unendlich weitgestreckte, großartige Aussicht nach Süden; aber
+jetzt handelt es sich nicht mehr um eine einzige, leicht orientierte
+Bergkette, sondern um eine ganze Welt von Bergen, deren richtige
+Einteilung Monate in Anspruch nehmen würde.
+
+Von dem Passe führt ein trockenes Quertal auf offenes, flaches Terrain
+hinab. Bei einigen Hügeln, wo eine Quelle entspringt, hatte die
+Karawane am vorhergehenden Abend das Lager aufgeschlagen. Mollah Schah
+und Musa erhielten für ihren unnötig langen Marsch gehörige Schelte.
+
+26. Juli. Jetzt ging es nach Westen weiter, in rechtem Winkel gegen die
+Route der letzten Tage und in der Richtung nach dem oberen Kum-köll,
+der mit dem Fernglase in der Ferne zu sehen war, später aber wieder
+durch kleine Hügel und Bodenanschwellungen verdeckt wurde. Auch jetzt
+marschierten wir in einem großen, breiten Längentale, das den Südfuß
+der mächtigen Kalta-alagan-Kette begleitet. Im Süden begrenzt unser
+Tal ein kolossaler Sandgürtel, der mir anfangs eine kleinere, mit den
+übrigen parallellaufende Kette von Hügeln zu sein schien, sich aber,
+als wir näherkamen, als eine Reihe von Dünen entpuppte, die beinahe
+ebenso gewaltig waren wie in der Takla-makan und die gleiche Farbe
+hatten. Dieselben Vorbedingungen für die Entstehung eines Sandmeeres,
+die in der Wüste vorhanden sind, finden sich also auch hier auf 4000
+Meter Höhe vor. Die nördliche Grenze des Sandgürtels markiert sich
+außerordentlich scharf gegen den weichen oder kiesigen Talboden, wo die
+Tereske und andere Brennholz liefernde Büsche zerstreut wachsen. Die
+Dünenkämme ziehen sich in nord-südlicher Richtung hin und scheinen von
+vorwiegend westlichen Winden gebildet worden zu sein.
+
+Mit dem Sande zur Linken und dem Kalta-alagan zur Rechten wurde der
+Tagemarsch recht einförmig. Das einzige, was dem Auge ein wenig
+Abwechslung gewährte, war das Tierleben. Kulane waren den ganzen Tag
+außerordentlich zahlreich; wir sahen sie überall auf den gleichmäßig
+und langsam nach dem See abfallenden Steppen grasen und auch
+miteinander kämpfen.
+
+Die Murmeltiere beobachteten uns von ihren Löchern aus. Sie sahen zu
+drollig aus, wenn sie auf den Hinterbeinen standen und die Vorderpfoten
+über der Brust kreuzten. Erst wenn die Hunde ganz nahe sind, stürzen
+sie sich Hals über Kopf in ihre Höhlen. Auch Hasen waren häufig, und
+Wildenten sah man nach dem See fliegen. Die Mücken machten einen
+Angriff, der jedoch bald nach Sonnenuntergang endete. Den ganzen Tag
+herrschte Sommer; die Mittagstemperatur stieg auf +20 Grad, und es kam
+uns heiß vor, weil die Luft windstill war; man würde die bedeutende
+Höhe vergessen haben, wenn nicht selbst geringfügige Bewegungen Atemnot
+und Herzklopfen verursacht hätten.
+
+Während des Rittes wurden zwei Kulanfüllen lebend gefangen. Aldat
+und Tscherdon ritten auf eine Herde von 34 Tieren zu, die bei ihrem
+Herannahen die Flucht ergriff. Eine Mutter aber blieb mit ihrem
+viertägigen Füllen zurück. Als sie die Gefahr näherkommen sah, ließ sie
+das Junge im Stich und vereinigte sich mit der Herde. Das Füllen blieb
+ruhig stehen und ließ sich ergreifen, ohne auch nur einen Versuch zur
+Flucht zu machen. Aldat nahm es vor sich auf den Sattel, dann wurde
+es, in eine Filzdecke gewickelt, auf ein Kamel gelegt. Es schien diese
+Beförderungsart ganz natürlich zu finden, aber es war auch noch nicht
+lange her, seit es von der Mutter in wiegendem Gange über diese Berge,
+die sein Aufenthaltsort werden sollten, getragen worden war. Das andere
+Füllen wurde auf dieselbe Weise beim Lager Nr. 15 gefangen.
+
+Als ich im Lager anlangte, liefen die Füllen ganz ungeniert umher
+und zeigten keine Spur von Furchtsamkeit, wenn man sie streichelte
+(Abb. 122, 123). Es war mein Wunsch und meine Absicht, den Versuch zu
+machen, sie mit Mehlgrütze großzuziehen, bis sie sich selbst ernähren
+konnten, was im Alter von 20 Tagen geschehen soll. Wir würden sie mit
+der größten Liebe gepflegt haben und sie hätten uns über die Höhen
+ihres Heimatlandes begleitet. Doch als wir über die Sache sprachen,
+versicherte Tokta Ahun, daß sie binnen fünf Tagen sterben würden; er
+habe achtmal versucht, Kulane aufzuziehen, aber es sei stets mißlungen.
+
+Nun befahl ich, daß sie nach dem Platze, wo sie gefangen worden,
+zurückgebracht werden sollten, damit ihre Mütter sie leicht
+wiederfinden könnten. Tscherdon und Aldat stiegen sofort zu Pferde,
+aber Tokta Ahun sagte, daß dies nichts nützen würde. Er habe die
+Erfahrung gemacht, daß die Mutter, deren Junges man gefangen und
+berührt habe, von ihrem Kinde nichts mehr wissen wolle, sondern das
+Füllen wie einen Pestkranken fliehe. Sie scheine ihr verlorenes Kind
+weder zu vermissen noch zu betrauern, sondern fliehe mit der übrigen
+Herde und wolle nicht wieder nach dem Platze zurück.
+
+Hätten wir dagegen eine Stute gehabt, so wäre das Aufziehen sicher
+möglich gewesen. Im Tschimentale sollen jährlich Massen von Füllen
+umkommen, weil sie in den ersten Tagen ihres Lebens den älteren
+Kulanen nicht folgen können, wenn diese vor einer drohenden Gefahr die
+Flucht ergreifen. Sie verhungern oder werden eine Beute der Wölfe.
+Wahrscheinlich vermögen die älteren jedoch sich zu einer geordneten
+Verteidigung gegen diese Raubtiere aufzuschwingen; sonst würde die neue
+Generation gar zu arg mitgenommen werden.
+
+Inzwischen wurden unsere kleinen Gäste im Lager gehegt und gepflegt
+und lernten leicht die Mehlsuppe hinunterschlürfen. Doch sie waren dem
+Untergange geweiht, und als sie schon am Abend anfingen hinzusiechen
+und heftiges Verlangen nach der Muttermilch verrieten, ließ ich sie
+schlachten; es war der einzige Dienst, den ich diesen Kindern der
+Wildnis, die sonst in die Krallen der Wölfe gefallen wären, leisten
+konnte. Die Muselmänner nahmen die Häute und das Fleisch, das sie für
+besonders zart und wohlschmeckend hielten, mit.
+
+Ehe die Füllen geschlachtet wurden, photographierte ich sie mehrere
+Male. Das eine war 90, das andere 91 Zentimeter hoch. Der Kopf ist
+unverhältnismäßig groß, und die Beine sind im Verhältnis zum Leib
+geradezu lächerlich lang entwickelt, aber diese Glieder sind ja auch
+dasjenige, dessen sie zuvörderst und am meisten bedürfen. Der Leib
+ist sehr kurz und zusammengedrückt und gibt kaum eine Andeutung von
+den edeln, harmonischen Formen, welche die ausgewachsenen Kulane
+kennzeichnen. Die, welche wir fingen, waren noch zu unerfahren, um das
+geringste Erstaunen über Menschen, Kamele und Zelte zu zeigen. Eine
+Woche später hätten sie sich weder fangen lassen noch wären sie unter
+uns umhergegangen, ohne einen Fluchtversuch zu machen. Man konnte sich
+durch Hinhalten eines Fingers überzeugen, ob sie hungrig waren; sie
+fingen dann an, eifrig zu saugen.
+
+27. Juli. Nachdem die Minimaltemperatur in der Nacht knapp +1
+Grad geblieben war, folgte wieder ein warmer, herrlicher Tag. Die
+Längentäler haben im allgemeinen ein gemäßigteres Klima, sie bilden
+aber auch die relativ niedrigen Gegenden des Hochlandes. Als wir uns
+zum Aufbruche rüsten wollten, stellte sich heraus, daß die Pferde
+fortgelaufen waren und sich talaufwärts nach den besseren Weideplätzen,
+wo sich die Kulane aufhielten, begeben hatten. Mollah Schah mußte eine
+halbe Tagereise zu Fuß machen, um sie zu suchen, und kam erst gegen 11
+Uhr wieder.
+
+Wir hatten bei +Bulak-baschi+ (erste Quellen) gelagert und
+ritten von dort nach Westen. Rechts haben wir den ganzen Tag eine
+ununterbrochene Reihe von Sümpfen, Mooren und Tümpeln. Das Gras ist
+üppig, aber der Boden trägt nicht einmal einen Fußgänger, sondern
+ist außerordentlich tückisch und gefährlich. Einige Becken sind ein
+paar hundert Meter lang. Das Wasser, welches sie speist, sprudelt in
+unzähligen Quelladern unter dem Sande hervor; diese vereinigen sich
+weiter unten zu einem Flusse, der am Ostende des Kum-köll mündet.
+
+Wir spähten nach dem See aus. Endlich trat im Westen sein heller
+Streifen hervor. Der Tag war warm und ruhig, die Mücken lästig, und
+eine Bremsenart, „Ila“ genannt, peinigte die Pferde und machte sie
+durch Eindringen in ihre Nüstern unruhig und aufgeregt. Die Kulane
+schützen sich gegen diese Insekten dadurch, daß sie die Nüstern
+beim Grasen dicht am Boden halten, die Orongoantilopen, indem sie
+an den heißen Tagen im Sandgürtel bleiben und erst abends nach den
+Weideplätzen herunterkommen.
+
+Die Yake schützen sich auf dieselbe Weise, gehen aber tiefer in den
+Sand hinein, weshalb wir sie auf dem heutigen Ritte nicht sahen,
+während wir überall Fußspuren und Dung von ihnen erblickten. Als aber
+gegen 4 Uhr ein heftiges Unwetter mit Hagel und Regen losbrach, mochten
+sich die Yake sagen, daß ihre Feinde sich zurückziehen würden, und nun
+erschienen sie truppweise auf den Dünenkämmen. Erst sahen wir eine Kuh
+mit ihrem Kalbe den steilen Abhang herunterrutschen; sie erblickte
+uns rechtzeitig und kehrte sofort wieder um. Dann zeigte sich eine
+große Herde von mehr als 30 Tieren, die sich in einer Reihe auf einem
+mächtigen Dünenkamme aufstellten und sich durch die Karawane nicht
+erschrecken ließ. Ich mußte eine Weile halten und diesen wirklich
+stattlichen Anblick durch das Fernglas genießen. Die Tiere hoben sich
+mit außerordentlicher Schärfe rabenschwarz vom gelben Hintergrund ab.
+Sie waren auf dem Wege nach ihren Weideplätzen am See, als sie sich
+davon abgeschnitten sahen. Man konnte beinahe beobachten, welchen Genuß
+ihnen der noch immer auf die Erde klatschende Regen bereitete. Die in
+dieser Gegend lebenden Yake sollen immer dieselbe Taktik befolgen, um
+den Bremsen zu entgehen. Die ganze Nacht gehen sie auf die Weide, bei
+Sonnenaufgang aber sieht man sie wieder den Rückzug nach den Dünen
+antreten, wo sie ruhig bleiben, bis die Dunkelheit einbricht oder ein
+Sturm sie wieder herunterlockt.
+
+Die Reihe der Sanddünen nahm vom Regen einen dunkleren Farbenton an.
+Man meint, solch ein heftiger, plätschernder Regen müsse alles in einen
+Brei verwandeln, aber nicht einmal die scharfen Kanten der Dünen werden
+dadurch verändert, und die Regentropfen vermögen nur kleine Gruben auf
+der Oberfläche hervorzubringen. Der Sand nimmt nach und nach an Höhe ab
+und tritt weiter zurück; rechts haben wir den See, dessen Südufer sich
+nach Nordwesten hinzieht; hier grasten 14 große Yake.
+
+Tscherdon, der mit mir ritt, konnte seine Augen nicht von ihnen
+abwenden und bat schließlich, ob er nicht sein Glück versuchen dürfe.
+Er schlich sich wie eine Katze nach einem gewaltigen Stiere hin; da
+dieser aber ruhig stehenblieb und ihn nur wütend, ohne eine Spur von
+Furcht betrachtete, wurde Tscherdon dabei unbehaglich zumute und er
+trat ohne Blutvergießen den Rückzug an. Ich hatte ihm anempfohlen,
+sich mit den Yaken vorzusehen und sich lieber nicht allein auf eine
+solche Jagd einzulassen, weil der Yak, wenn er verwundet wird, oft den
+Schützen angreift.
+
+Ein wenig weiter vorn erblickte Tscherdon einen einsamen, vier Monate
+alten Wolf, dem er im Galopp nachsetzte und den er auch glücklich
+einfing. Der Gefangene blieb gefesselt im Lager. Die Hunde behandelten
+ihn mit größter Gleichgültigkeit, aber die Leute gaben ihm alle
+möglichen liebenswürdigen Ehrentitel, in Erinnerung an die neun Schafe,
+die jetzt gerächt werden sollten. Tokta Ahun riet mir, gut auf die
+Schafe aufpassen zu lassen, denn die Wölfin, die wahrscheinlich ihre
+Höhle in der Nachbarschaft habe, werde ihr Junges schwerlich aus dem
+Auge verlieren und, wenn ihm etwas Böses widerführe, an den Schafen
+Rache nehmen. Zweimal hatte er junge Wölfe gefangen, und beide Male
+hatten ihm die älteren Wölfe einen Esel zerrissen. Ausgewachsene Kulane
+lassen sie in Frieden, weil sie sie im Laufe doch nicht einholen
+können, jüngere aber pflegen sie in schlammige Moräste hineinzujagen
+und ihnen dort die Kehle durchzubeißen.
+
+Das jetzt gefangene Wölflein, das aufgezogen und mitgenommen werden
+sollte, überlistete jedoch seine Wächter. Es biß nachts den Strick
+durch und entfloh mit dem Ende desselben. Die Muselmänner hofften,
+daß es, wenn es wüchse, von dem Stricke, den es um den Hals hatte,
+erdrosselt würde; ich hielt es jedoch für wahrscheinlich, daß die
+Mutter die Strickschlinge rechtzeitig durchbeißen würde.
+
+Das Lager Nr. 16 am oberen Kum-köll war in jeder Hinsicht befriedigend.
+Es gab dort gute Weide und Brennholz, und das Wasser des Sees war süß.
+Die absolute Höhe betrug hier nur 3882 Meter. Im Norden erhob sich
+stattlich und deutlich der Kalta-alagan und erstreckte sich, soweit das
+Auge reichte, nach Westen. Im Süden war die Bergwelt in dicke Wolken
+gehüllt.
+
+Am folgenden Morgen lag das Boot zusammengesetzt am Ufer bereit, und
+mit Kutschuk als Matrosen fuhr ich mit passendem Winde über den See,
+indem ich alle notwendigen Instrumente für die Kartenarbeit und die
+Lotungen, die Jurte usw. mitnahm. Wir waren noch nicht weit vom Ufer
+entfernt, als ein heftiger Windstoß die Rahe abbrach, so daß wir
+zurückrudern mußten, um sie erst zu reparieren. Beide Stücke wurden
+aneinandergebunden und mit Tamariskenlatten geschient; darauf steuerten
+wir in der Richtung nach einem Schneegipfel in Nordnordosten über den
+See. Ich hatte nicht erwartet, diesen See so seicht zu finden; die
+größte Tiefe betrug 3,73 Meter. Am Nordufer landeten wir auf einer
+kleinen Insel.
+
+Jetzt begann der Himmel im Osten beunruhigend auszusehen, und das Tal
+füllte sich mit dichten Wolken. Über dem Dünengürtel wirbelten gelbe
+Sandwolken auf, und wir hielten es für das klügste, noch eine Weile
+zu warten. Der Sturm brach auch richtig los, und wir suchten uns
+vor dem Sturzregen dadurch zu schützen, daß wir uns gegen den Wind
+gedeckt zusammenkauerten. Der See ging hoch mit schäumenden Wogen,
+aber ich konnte, als der Regen aufgehört hatte, nicht der Versuchung
+widerstehen, das Segel loszumachen und das leichte Fahrzeug förmlich
+vom Ufer wegfliegen zu lassen. Jetzt hieß es aufpassen. Das ganze
+flache Tal war gleichsam eine Rinne für den Wind, der rücksichtslos
+über den See hinsauste. Dieser erstreckte sich vor uns, soweit der
+Blick reichte, und wir balancierten vorsichtig über die Wogenkämme,
+um nicht Wasser einzunehmen. Als der Wind stärker wurde und der Mast
+zu brechen drohte, mußte Kutschuk das Segel einziehen; dann trieben
+wir auch ohne dieses mit reißender Geschwindigkeit. Das Sondieren
+ließ sich nur bisweilen ausführen, denn die Fahrt war zu stark, aber
+die Geschwindigkeit konnte ich leicht messen und auch Kompaßpeilungen
+vornehmen.
+
+[Illustration: 138. Meine Jurte im Lager Nr. 35 (27. August 1900).
+Aussicht nach Norden. (S. 341.)]
+
+[Illustration: 139. Der Fischberg. (S. 346.)]
+
+[Illustration: 140. Der Fischberg vom See aus. (S. 346.)]
+
+Als der Wind an Stärke abnahm, hatte der See schon angefangen sich
+zu verschmälern, so daß wir nicht mehr weit von dem Punkte entfernt
+zu sein schienen, wo er sein überschüssiges Wasser in einen Fluß
+entleert und es nach dem weiter westlich gelegenen großen Salzsee
++Ajag-kum-köll+ (unteren Sandsee) entsendet. Unser See wurde immer
+flacher, selten über einen Meter tief, und das naheliegende, langsam
+abfallende Südufer wurde von Schlammbänken fortgesetzt, über denen sich
+das Wasser bei den Ruderschlägen schwarz färbte. Enten und Gänse waren
+hier zahlreich. Letztere brüteten und konnten nicht weit fliegen, aber
+um so besser tauchen, was wir erfuhren, als wir versuchten, mit einer
+Schar um die Wette zu rudern und sie mit den Rudern anzugreifen.
+
+Die Rückkehr von diesem herrlichen Ausfluge war tragikomisch. Wir
+ruderten aus Leibeskräften, aber der Wind erhob sich wieder, und nicht
+lange dauerte es, so fing es auch wieder an zu regnen. Wir wurden
+pudelnaß, wozu auch die dann und wann in das Boot schlagenden Wellen
+das Ihrige beitrugen. Endlich tauchten in der Ferne die Zelte auf, aber
+es dauerte noch ein paar Stunden, ehe wir sie erreichten. Ich hatte
+stets Pech mit den Seefahrten: sie konnten bei herrlichstem Wetter
+angetreten werden, endeten aber immer mit Sturm.
+
+
+
+
+Achtundzwanzigstes Kapitel.
+
+Fünftausend Meter über dem Meere.
+
+
+Am 30. Juli wurden Tokta Ahun und Musa mit sechs Pferden nach dem
+Hauptquartier zurückgeschickt. Das Gepäck wurde dadurch für die
+zurückbleibenden Tiere etwas schwerer. Unsere Gesellschaft bestand nun
+aus mir, sechs Mann (Tscherdon, Turdu Bai, Mollah Schah, Kutschuk, Nias
+und Aldat), 7 Kamelen, 11 Pferden, 1 Maulesel, 5 Schafen und 2 Hunden.
+Am nächsten Morgen lag das Becken des Kum-köll in undurchdringlichen,
+feuchten Nebel gehüllt, und die Kalta-alagan-Kette war spurlos
+verschwunden. Die Luft war warm und still und mit Moskitos gepfeffert,
+die uns den ganzen Tag treu begleiteten. Wir sehnten uns nach Gegenden,
+in denen diese gemeinen Wesen nicht leben konnten, und gedachten, erst
+dann in ihre Heimat zurückzukehren, wenn der Winter ihnen den Garaus
+gemacht haben würde.
+
+Der Kum-köll lag wie ein Spiegel da, verschwand aber hinter uns gleich
+im Nebel. Wir dringen in den westlichen Randgürtel des Sandes ein,
+wo die Dünen wie Landspitzen auslaufen; dazwischen finden wir festen
+Boden und eine Reihe kleiner Becken mit je einem schwach salzhaltigen
+Tümpel. Es ist eine schwere Arbeit für unsere Tiere, denn ihre Lasten
+sind ansehnlich; auf so bedeutender Höhe ist das Gehen schon auf ebenem
+Boden mühsam, und hier sinken sie dazu noch in den losen Sand ein.
+
+Nachdem der Sandgürtel aufgehört hat, reiten wir über dünn
+mit Gras bestandenen kupierten Boden und gelangen an den Fluß
++Pettelik-darja+. Er führte wohl 10 Kubikmeter Wasser in der
+Sekunde und war höchstens 65 Zentimeter tief, aber sein Boden war
+trügerisch und für die Kamele gefährlich. Turdu Bai und Mollah Schah
+probierten es wiederholt, ihn zu überschreiten, und versanken dabei mit
+ihren Pferden beinahe im Schlamm. Schließlich fanden sie eine Stelle,
+welche die Kamele trug, die, wenn der Boden unter ihnen nachgibt,
+unverbesserlich ungeschickt sind. Nach einem Marsche von noch einigen
+Stunden gelangten wir wieder an das Ufer des Pettelik-darja, wo wir
+Lager schlugen.
+
+Der nächste Tagemarsch führte nach Südsüdost und war ebenso lang
+wie der vorhergehende. Es war der vierte Tag, daß wir über ebenes,
+offenes Terrain inmitten der höchsten Berge der Erde zogen. Der Fluß
+wurde von neuem überschritten, und vor uns erhob sich eine kleinere
+Bergkette, die uns den Weg versperrte und wahrscheinlich ein Ausläufer
+des Arka-tag war. Die öde Steppe dient zahllosen Orongoantilopen als
+Aufenthalt; doch wie sehr unsere Jäger sich auch bemühten, es gelang
+ihnen nicht, eine zu erlegen. Die Tiere scheinen hier die Gefahr kennen
+gelernt zu haben, denn das Land wird von Zeit zu Zeit von Goldgräbern
+und Yakjägern durchstreift; daher sind sie auf ihrer Hut und kommen
+nicht zu nahe an uns heran. Nun war Aldats Terrainkenntnis erschöpft;
+so weit südlich war er noch nie gewesen und von den anderen natürlich
+auch keiner, weshalb ich für die Zukunft selbst das verantwortliche Amt
+des Führers übernehmen mußte.
+
+Wir richteten den Kurs auf einen Einschnitt in der Kette, wo sich ein
+vielversprechendes Tal öffnete. Doch als wir darin waren, stellte es
+sich heraus, daß es trocken war. Zur Rechten, d. h. an der linken
+Talseite, leuchtete jedoch in einer Schlucht frisches grünes Weideland,
+und dort fanden wir eine kleine Quellader, die unseren Bedürfnissen
+genügte.
+
+Am 1. August legten wir 29 Kilometer nach Südsüdost zurück. Im großen
+betrachtet, führte unsere Reise nach Süden, weil ich alle diese
+Bergketten rechtwinkelig überschreiten und außer den geographischen
+Entdeckungen auch Material zu einem geologischen Profile sammeln
+wollte. Wir gedachten, soweit wie nur irgend möglich nach Süden
+zu gehen und wieder umzukehren, sobald die Hälfte unserer Vorräte
+verbraucht war. Bei dieser Berechnung vergaß ich jedoch einen wichtigen
+Faktor zu berücksichtigen, den nämlich, daß auf dem Rückwege die
+Kräfte der Tiere so gesunken sind, daß die Heimreise viel längere Zeit
+erfordert. Ich dachte zwar daran, aber mir war die Hauptsache, auf
+jeden Fall möglichst weit zu gelangen. Auf irgendeine Weise würden wir
+wohl wieder nach Hause kommen, schlimmstenfalls zu Fuß. Der Wendepunkt,
+hatte ich mir gedacht, sollte in eine weidereiche Gegend fallen, wo
+die Tiere sich ausruhen könnten. Ich ahnte nicht, wie anstrengend
+unser Rückzug sein und welche Mühe es kosten würde, mit den Resten der
+Karawane zurückzukommen.
+
+Es war nicht leicht, die Granitmauer, die sich uns jetzt in den
+Weg stellte, zu forcieren. Es kostete den ganzen Tag, gelang aber
+schließlich doch. Durch gewundene Furchen und Täler, über Ausläufer
+und kleinere Pässe suchten wir uns einen Weg nach der Wasserscheide
+auf diesem neuen Kamme hinauf und sahen im Süden in ihrer ganzen Länge
+eine gewaltige, rabenschwarze, schneebedeckte Kette, die ich für den
++Arka-tag+ hielt (Abb. 124). Ich kannte diese mächtige Bergkette
+von 1896 her und fürchtete, daß ihre Besteigung auch jetzt für uns
+eine harte Nuß werden würde. In dem Längentale vor dieser neuen Mauer
+lagerten wir an einem kleinen Bache. Die Weide war schlecht, aber
+Yakdung, unsere einzige Feuerung, reichlich vorhanden. Die Höhe über
+dem Meeresspiegel betrug hier 4638 Meter.
+
+Der Tag war herrlich gewesen, ohne Bremsen und Moskitos. Um 7 Uhr
+begann jedoch der Regen auf die Jurte zu prasseln, und als ich
+ins Freie trat, sah ich nichts von den Bergen, denn alles war in
+Regenwolken gehüllt. Die paarweise gekoppelten Pferde lassen die
+Köpfe hängen. Sie blinzeln und sind halb im Schlafe, und das Wasser
+tropft von ihren Packsätteln und Mähnen herab. Die Kamele liegen dicht
+aneinander gedrängt, um sich warm zu halten; sie atmen schwer und
+scheinen sich des Ausruhens zu freuen. Das Lagerfeuer glüht und raucht
+vor dem Zelte der Leute, wo Tscherdon mein Mittagessen und Mollah
+Schah das der Leute bereitet. Bald daraus lassen Kutschuk und Nias die
+Pferde weiden; sie bleiben die ganze Nacht auf der Weide, doch ab und
+zu muß sich ein Wächter nach ihnen umsehen, damit sie sich nicht gar
+zu weit entfernen. Die Kamele können erst zur Weide gehen, wenn es Tag
+wird, und bleiben daher die ganze Nacht liegen, erhalten aber einige
+Scheffel Mais zum Abendessen. Jolldasch hütet sich, bei solchem Wetter
+auszugehen, sondern liegt lieber zusammengerollt in meinem Zelte.
+Maltschik hat die Entdeckung gemacht, daß es bei den Kamelen warm ist.
+Er hat einen schlimmen Fuß und ist in den letzten Tagen auf ein Kamel
+gepackt worden, dessen wiegende Bewegungen er mit der Geschicklichkeit
+eines Akrobaten und mit einer gewissen Eleganz pariert hat. Man ist
+froh, in die hell erleuchtete Jurte kriechen zu können, wenn draußen in
+der Dunkelheit der Regen die Erde peitscht.
+
+Wir blieben den nächsten Tag dort, weil ich eine astronomische
+Beobachtung machen mußte, eine die Geduld auf die Probe stellende
+Arbeit, wenn man unaufhörlich durch Hagelschauer und Wolken
+unterbrochen wird. Der Morgen sah wenig versprechend aus. Seit
+Mitternacht hatte es geschneit, und das Schneien hielt noch bis 9 Uhr
+an. Das überhaupt spärlich vorhandene schlechte Gras lag unter einer
+weißen Decke begraben, und die Tiere wurden nicht zur Hälfte satt,
+obwohl sie den ganzen Tag nach Gras suchten. Die Berge zeichnen sich in
+wechselnden Beleuchtungen ab; bald stehen die Schneefelder grellweiß
+auf einem Hintergrunde von dunkeln Wolken, bald ist der Himmel im
+Hintergrunde klar, während die Schneefelder, wenn Wölkchen die Sonne
+verschleiern, einen kalten, stahlblauen Ton annehmen. Der ewige
+Schnee mit seinen rudimentären Gletschern, der sich gestern so scharf
+markierte, macht sich nicht länger geltend, denn alles ist gleich weiß.
+
+Die Nacht auf den 3. August war eine der kältesten, das Thermometer
+fiel auf -5,2 Grad. Die ersten Symptome der Müdigkeit zeigten sich
+jetzt bei den Tieren; ein Pferd mußte ohne Last gehen, und ein Kamel
+ließ nach, wenn es bergauf ging. Wir zogen gerade ins Gebirge hinein,
+wo es uns am niedrigsten erschien, und gelangten in eine Talweitung,
+wo es von Hunderten von Orongoantilopen wimmelte; es waren große,
+prächtige Tiere mit Hörnern, die wie Bajonette in die Luft standen. Sie
+flüchteten schnell und leicht die Abhänge hinauf, und es schien ihnen
+nicht die geringste Anstrengung zu sein, in der verdünnten Luft über
+die Hügel zu eilen.
+
+Von dieser Talweitung führte ein Tal nach Süden und ein zweites nach
+Südwesten; wir wählten das erstere (Abb. 125). Das Tal verschmälerte
+sich und wurde steil. Da hier dem Anscheine nach kein Vordringen
+möglich war, mußte Tscherdon weiterreiten und rekognoszieren, während
+wir warteten und ich mich mit Photographieren beschäftigte. Er kam bald
+mit dem Bescheid wieder, daß hier kein Weg für die Kamele sei, weshalb
+wir es in dem anderen Tale versuchten.
+
+Dieses Tal bog nach Südsüdwesten ab und schien nach einem schneefreien
+Passe hinaufzuführen. Ich ritt voraus. Die Steigung war entsetzlich
+steil. Auf dem mit Schutt bedeckten Passe (Abb. 126, 127), dem höchsten
+Punkte, den wir bisher erreicht hatten (4962 Meter; der Montblanc hat
+nur 4810 Meter!), mußte ich eine halbe Stunde auf die anderen warten,
+die schwer und mühsam den steilen Schuttweg emporkeuchten. Die Aussicht
+vom Kamme war nichts weniger als erfreulich. Ein Chaos von Felsen,
+Bergästen und schneebedeckten Kämmen breitete sich im Süden vor uns
+aus. Es war klar, daß wir noch nicht auf dem Kamme des Arka-tag waren.
+
+Endlich war es den anderen möglich, die Höhe zu erklimmen. Die
+Kamele hatten sich so angestrengt, daß ihnen die Knie zitterten.
+Ihre Nasenlöcher waren aufgebläht; sie brauchten mehr Luft, und müde
+und gleichgültig schweiften ihre Blicke nach Süden, als hätten sie
+die Hoffnung ganz aufgegeben, sich in dieser Welt von unfruchtbaren,
+kahlen Bergen je satt grasen zu können. Vom Passe ging es im Zickzack
+zwischen Felsvorsprüngen hindurch in ein kleines Tal hinunter, das
+nach Südsüdwesten führte. Auch dieses war in anstehendes Gestein von
+schwarzem Schiefer, Porphyr und Diorit eingeschnitten. An dem Bache
+wuchs nur Moos; doch da, wo er in ein mächtiges Längental mündete,
+wuchs auch „Jappkak“, von den Leuten sogleich zur abendlichen Feuerung
+gesammelt.
+
+Dieses Längental durchfließt der größte Fluß, den wir gesehen, seit wir
+den Tarim verlassen hatten; bei einer Breite von 65 Meter und einer
+Maximaltiefe von 60 Zentimeter führte er 27 Kubikmeter Wasser in der
+Sekunde; er strömte nach Westnordwesten.
+
+Nach einem schwierigen steilen Übergang auf das linke Ufer steuerten
+wir auf der Südseite hinauf, wo wir (4783 Meter hoch) auf offenem
+Terrain an einem Nebenflusse lagerten (Abb. 128). Ein wenig höher
+oben grasten 13 große, schwarze Yake. Sie beachteten uns nicht, doch
+als das Lager aufgeschlagen wurde, witterte der Führer Unrat, und die
+Herde setzte sich in geschlossener Reihe in Bewegung nach dem Arka-tag,
+dessen Hauptkamm sich jetzt in seiner ganzen düsteren Größe vor uns
+erhob. Kamen wir nur glücklich über ihn hinüber, so mußte nachher im
+Süden ziemlich offenes Terrain vor uns liegen.
+
+Damit Tscherdon und Aldat die nächsten nach dem Arka-tag
+hinaufführenden Täler untersuchen konnten, blieben wir am nächsten
+Tag liegen. Am 5. August kamen wir an ein großes Tal mit einem
+wasserreichen Flusse, von dem wir hofften, daß es uns zu einem
+geeigneten Passe im Arka-tag führen würde.
+
+Ein in seiner gigantischen Größe überwältigendes Panorama entwickelte
+sich vor uns. Die Ausläufer des Arka-tag glichen Sphinxen, die
+nach Norden starren und ihre Tatzen vom Flusse benetzen lassen.
+Bald verschleierte sich jedoch die starre Schönheit der Natur mit
+tröpfelnden Wolken und Regennebel, der den Blick trübte, während wir
+unseren mühsamen Marsch immer höher talaufwärts fortsetzten, wo die
+Luft kalt und rauh war.
+
+Während wir nach dem besten Wege Ausschau hielten, wurde Jolldasch
+vermißt, der sich die Freiheit genommen hatte, mit Turdu Bai zu laufen.
+Dieser hatte ihn einer Herde Orongoantilopen nachsetzen gesehen
+und geglaubt, er würde sich, wie gewöhnlich, schon wieder bei uns
+einstellen. Aber er ließ nichts von sich hören, und als wir dann bei
+Platzregen bei der nächsten Talgabelung lagerten, kehrte Turdu Bai um,
+um den Hund zu suchen.
+
+Unterdessen wurden die Zelte so schnell wie möglich aufgeschlagen; der
+Regen plätscherte, und es wehte ein heftiger Wind. Mollah Schah dagegen
+ritt weiter, um zu sehen, wohin das Tal führte; gab es hier keinen Paß,
+der sich überschreiten ließ, so würden wir durch das Weiterziehen mit
+der ganzen Karawane die Tiere nur unnötig ermüden. Der Regen ging um 4
+Uhr in Hagel über, was weit besser war. Wir waren jedoch mit unserem
+ganzen Sack und Pack bereits so durchnäßt, daß wir von dem Wechsel
+keinen Vorteil mehr hatten.
+
+Nach dem Regen wurden alle Lasten bedeutend schwerer für die armen
+Tiere. Diese fingen auch schon an nachzulassen. Tscherdons Reitpferd
+hatte all seine Freßlust verloren und sah jämmerlich aus. Dies
+schmerzte den Kosaken, der eine unendliche Liebe für seinen Rappen
+hegte, tief. Er hatte ihn vorzüglich dressiert. Wenn er den Rappen
+beim Namen rief, kam dieser gelaufen und legte seinen Kopf auf
+Tscherdons Schulter. Der kleine burjatische Kosak war ein richtiger
+Akrobat. Er stand auf den Händen im Sattel, wenn der Rappe im Schritt
+ging, sprang Bock und machte einen Purzelbaum über ihn hinweg. Das Tier
+stand bei solchen aufregenden Vorgängen ganz still. Tscherdon hegte und
+pflegte es daher, so gut er konnte, und war sehr niedergeschlagen, es
+krank zu sehen.
+
+Die vier noch übrigen Schafe sind merkwürdig. Sie folgen der Karawane
+wie Hunde, erklimmen mit Leichtigkeit jede noch so steile Höhe und
+scheinen von der spärlichen, schlechten Weide ganz befriedigt zu sein.
+
+Wir haben uns an die kolossale Höhe gewöhnt. Sitze ich still im Sattel
+oder Zelte, so spüre ich nichts davon, aber die geringste Anstrengung,
+wie einige Hammerschläge gegen eine Felswand, verursacht Atemnot und
+Herzklopfen. Ein Vorteil ist, daß wir von Moskitos und Bremsen, die
+spurlos verschwanden, befreit sind. Statt ihrer kommt hier eine Art
+gewaltiger Hummeln vor, die im Sonnenschein umhersausen und deren
+Summen wie Orgeltöne durch die Luft braust. Ihre Ausstattung paßt sich
+diesen winterkalten Gegenden an, denn sie tragen richtige Pelze und
+Überstiefel von dichten, gelben Haaren.
+
+Bei diesem Lager fehlte jegliche Weide; es nützte also nichts, die
+Tiere frei umherlaufen zu lassen, es wäre sogar grausam gewesen. Statt
+Nahrung zu finden, erhalten sie nur Duschen von Wasser und Eis.
+
+Nach einigen Stunden kam Turdu Bai mit Jolldasch zurück, den er
+jenseits des von ihm rekognoszierten Passes gefunden hatte. Der Hund
+war wie toll und verzweifelt hin und her gelaufen und hatte vergebens
+nach der Spur der Karawane, von der ihn ein ganzer Bergrücken trennte,
+gesucht. Ohne Hilfe würde er uns nie gefunden haben. Damit er es
+künftig unterließ, hinter Antilopen her zu jagen, bekam er zur Strafe
+nichts zu fressen und wurde außerhalb der Jurte angebunden.
+
+Mollah Schah kehrte nach sechsstündiger Abwesenheit zurück und
+versicherte, daß der mit unserem Tale verbundene Paß überschritten
+werden könne. Doch was jenseits auf der Südseite lag, wußte er nicht,
+denn er hatte sich dort mitten in einem Schneegestöber befunden, das
+die Aussicht versperrte.
+
+Als wir am Morgen diesen unwirtlichen Lagerplatz verließen, lag die
+Landschaft wieder unter Schnee. Am Vormittag zeigte sich jedoch
+die Sonne, die Schneefelder wurden kleiner, und man hörte überall
+Schmelzwasser rieseln. Das Tal stieg langsam und gleichmäßig nach dem
+Passe des Arka-tag an; sein Boden war mit schwarzem Schieferschutt
+bedeckt, der unter den Pferdehufen knisterte.
+
+Der Paß bildete einen kuppelförmig abgerundeten Kamm, den sogar die
+Kamele ohne Schwierigkeit erstiegen. Mittelst des Photographiestativs
+wurde ein kleines Zelt für das Thermohypsometer errichtet, das eine
+Höhe von 5180 Meter anzeigte. +Wir befanden uns hier auf der+ --
+der Kammhöhe nach -- +höchsten Bergkette der Erde+ (Abb. 129). Vor
+uns breitete sich das Längental aus, das ich 1896 durchwandert hatte.
+Gerade im Süden erhob sich ein kolossaler Gebirgsstock mit ewigen
+Schnee- und Firnfeldern und kurzen, nach allen Seiten auslaufenden
+Gletscherzungen -- aus der Vogelperspektive mußte er einem Seesterne
+gleichen. Nach Norden erstreckten sich drei breite, stumpfe Gletscher
+mit gewaltigen Stirnmoränen aus schwarzem Schutt. Von dem Felsstocke
+selbst sieht man nur einzelne schwarze und braune Zacken, sonst ist
+alles kreideweiß, und selbst das Eis ist überschneit.
+
+Es ist sehr angenehm abwärts zu ziehen, wenn man mehrere Tage lang
+immer höhere Regionen mühsam erklommen hat. Die Tiere gehen leicht, und
+man hofft, eine Bodensenkung mit Weide zu finden. Wir zogen demnach in
+gutem Marschtempo das Quertal hinab, welches von dem Passe nach Süden
+in das Längental hinunterführt. In der Nähe seiner Mündung überraschte
+Aldat eine junge Orongoantilope, die er mit seiner plumpen, primitiven
+Vorderladeflinte erlegte. Es war ein schöner Zuschuß zu unserem
+Fleischvorrat, und unsere drei noch übrigen Schafe durften sich ihres
+Lebens noch ein paar Tage länger freuen.
+
+Statt nach dem Flusse des Haupttales hinunterzugehen, bogen wir nach
+Westen ab und lagerten auf einer Halde, wo dünnes Gras wuchs. Da es
+Aldat auch hier gelang, eine prächtige Orongo zu erlegen, hatten wir
+für mehrere Tage Proviant. Der Reis ist auf diesen Höhen ein wenig
+appetitliches Gericht; der Pudding bäckt sich zu einem unschmackhaften
+Teige zusammen, und wir hatten beschlossen, die letzten Schafe so lange
+wie irgend möglich am Leben zu lassen. Leider hatte Tscherdon viel zu
+wenig Patronen mitgenommen und war anfangs viel zu verschwenderisch
+damit umgegangen. Für die Zukunft waren wir auf die Flinte Aldats
+angewiesen, dessen Munitionsvorrat glücklicherweise mehr als
+ausreichend war.
+
+So war es uns denn endlich gelungen, den gewaltigen Wall zu bemeistern,
+den die Natur wie ein Bollwerk gen Norden aufgerichtet hat, um Tibets
+Geheimnisse zu schützen und zu umgürten. Schon lange hatten wir die
+Pfade der halbwilden Yakjäger und der törichten Goldgräber hinter uns
+zurückgelassen, und eine vollkommene ~Terra incognita~ breitete
+sich vor uns im Süden aus, wo ich nur an ein paar Punkten meinen
+früheren Weg sowie Wellbys, Rockhills und Bonvalots Routen schneiden
+würde. Das Wissen des Führers war erschöpft; er betrachtete die
+unendlichen Einöden, nach denen unser Weg führte, mit fragenden,
+fremden Blicken. Er konnte mir keine Auskunft mehr geben, woher die
+Wasserläufe, die wir überschritten, kamen, noch wohin sie gingen; ich
+bin nun auf mich selbst angewiesen und kann nur das auf der Karte
+angeben, was ich mit eigenen Augen sehe. Die Karte wird daher ein
+schmaler Gürtel um die Route, die wir einschlagen, aber es ist mein
+Plan, mir später durch neue Routen Gelegenheit zu verschaffen, den Bau
+des Gebirges klarlegen zu können.
+
+[Illustration: 141. Blick vom See aus nach Westen auf den abziehenden
+Sturm. (S. 347.)]
+
+[Illustration: 142. Blick vom See aus nach Osten. (S. 347.)]
+
+[Illustration: 143. In Todesgefahr. (S. 349.)]
+
+Arbeit habe ich von früh bis spät vollauf, freie Augenblicke sind
+selten. Muß man in diesem Lande, das so öde ist, wie man es vom Monde
+annimmt, auch viel Ungemach ertragen, so wird man dafür doch täglich
+durch Entdeckungen und Erfahrungen überreich belohnt. Es ist ein
+großer Reiz, zu wissen, daß man überall der erste ist, der über diese
+Berge wandert, wo es weder Wege gibt noch je gegeben hat und wo man
+vergeblich nach anderen Spuren als denen sucht, welche die gespaltenen
+Hufe der Yake und Antilopen und die runden der Kulane in den Boden
+eingedrückt haben. Das Gebiet ist herrenlos; Flüsse, Seen und Gebirge
+haben keine Namen, ihre Ufer und Schneefelder sind nie von den Blicken
+eines anderen Forschungsreisenden als den meinen betrachtet worden;
+sie bilden mein ephemeres Eigentum. Es ist erhebend und wonnig, seinen
+Weg über die gewaltigen Gebirge zu suchen, wie das Schiff seine
+spurlose Bahn durch die Dünungen des Weltmeeres zurücklegt; hier
+aber sind die Wellen, die über das tibetische Hochland hinrollen, in
+Stein verwandelt, und alle Entfernungen, alle Dimensionen sind in so
+gigantischem Maßstabe angelegt, daß ein Marsch von Wochen die Situation
+nicht verändert; wir befinden uns stets im Mittelpunkte einer Welt
+von Bergen. Ebenso wunderbar ist es, inmitten der Stürme, dieser
+Revolutionen des Luftkreises, zu leben, welche über die kahlen Berge
+jagen und das Gestein mit dem Feuer ihrer schnell einherrollenden
+himmlischen Batterien, mit ganzen Schauern schmetternder Hagelkörner
+beschießen.
+
+Als ich in der Nacht hinaustrat, war der Himmel mit Wolken bedeckt,
+deren Ränder, vom Monde mit Silber umgossen, hier und dort hell
+glänzten. Nur das Gletschermassiv wurde nicht beschattet, und seine
+kalten Firnfelder wurden vom bleichen Lichte des Mondes beleuchtet.
+Meine Diener lagen in tiefem Schlafe, die Karawanentiere waren
+festgebunden, das Lagerfeuer verglomm, nur der Bach sang sein
+murmelndes, melancholisches Lied zwischen den Schieferscheiben in
+seinem Bette.
+
+Still wacht die Nacht allein über der Wildnis; ringsumher breitet
+sich auf allen Seiten ein Chaos von unbeantworteten Fragen, von
+ungelösten Rätseln aus; fern im Süden ahnt man den Kamm des Himalaja
+und dahinter Indien mit seinen stickigen Dschungeln. Im fernen Westen
+verflechten sich unsere Berge mit dem Hochlande von Pamir, und wenn die
+Sonne bei uns aufgeht, hat sie schon ihr strahlendes Licht über das
+Reich der Mitte und die Gebirgsgegenden auf seiner westlichen Grenze
+ausgegossen. Im Norden, im innersten Asien, sind wir heimischer; aber
+hier in Tibet ist man einsam in einem unbekannten Lande. Vergebens
+späht man umher nach einem Feuer, nach der Spur eines Menschen; man
+hat einen unbewohnten und unbewohnbaren Teil der Erde erreicht, man
+hat das Gefühl, wie ein Staubkorn auf diesen unermeßlichen Flächen zu
+verschwinden, und glaubt zu spüren, wie der Planet mit schwindelnder
+Fahrt rastlos durch den Weltraum rollt.
+
+Am 7. August zogen wir nach dem Lagerplatze Nr. 23, von Abdall an
+gerechnet. In der Hoffnung, einen meiner alten Seen zu finden, zogen
+wir in dem Längentale nach Westen. Jetzt war es mit Tscherdons Pferde
+zu Ende. Es wurde langsam von einem Manne geführt, fiel aber oft
+und konnte nur mit Mühe wieder aufstehen; dagegen war sein Appetit
+gut, und wir taten alles, um es zu retten. Tscherdon behandelte es
+auf mongolische Weise; er ließ es an den Ohrenzipfeln zur Ader und
+schnitt ihm ein paar drüsenähnliche Auswüchse aus den Bindehäuten der
+Augenlider fort, was ihm ein wenig zu helfen schien, denn es lief nun
+längere Strecken. Sobald wir einen Weideplatz erreichten, wollten wir
+Halt machen und ihm einen Ruhetag schenken. Ich wollte es töten lassen,
+doch da Turdu Bai glaubte, es sei noch zu retten, mußte Mollah Schah es
+uns nachführen.
+
+Da wir vergebens nach einem See im Westen ausschauten, beschloß ich,
+nach Süden abzuschwenken, um die Bergkette zu überschreiten, die von
+dem Gletschermassiv nach Westen ging. Das Tal war ziemlich schmal;
+sein Fluß führte jetzt wenig Wasser, und auf der Südseite unterhalb
+der Moränen fanden wir, wie beim Kum-köll, ein Gebiet von Flugsand
+in ziemlich mächtigen, oft isoliert liegenden Dünen, die regelmäßige
+Halbmonde bildeten, mit dem konkaven, steilen Abhange nach Osten.
+
+Von dem Bache, auf dessen Uferabhange wir lagerten, erschien das
+Gletschermassiv im Osten ganz nahe; wir hatten es also zur Hälfte
+umgangen.
+
+Fünf Stunden später kam Mollah Schah. Er hatte das Pferd ein paar
+Kilometer vom Lager zurückgelassen; es war weder besser noch schlechter
+als am Morgen gewesen. Als sich jedoch Tscherdon dorthin begab, war
+das Tier schon verendet. Turdu Bai ritt ein Quertal in der jetzt zu
+überschreitenden Kette hinauf und kehrte am Abend mit der Nachricht
+zurück, daß der dortige Paß nicht gefährlich sei und daß sich südlich
+vom Passe ein großer See ausdehne. Weideland hatte er dagegen nicht
+gesehen.
+
+Er mußte also am nächsten Tage den Weg zeigen. Das Tal stieg so eben
+und langsam an, daß der Paß uns keine Mühe machte. Von dem 5122 Meter
+hohen Passe aus hatten wir das schon so oft gesehene Panorama vor uns:
+ein Längental und eine teilweise mit ewigem Schnee bedeckte Bergkette.
+Diese mußte mit dem +Koko-schili+ identisch sein. Ein großer Teil
+des Talgrundes wurde von einem ansehnlichen See mit west-östlicher
+Richtung eingenommen.
+
+Die Karawane, die, wie gewöhnlich, einen großen Vorsprung hatte, war,
+statt nach dem Ufer hinunterzugehen, noch eine ziemliche Strecke
+westlich vom See weitergezogen. An der westlichsten Bucht des Sees
+hatte sie Halt gemacht und das Lager Nr. 24 (5028 Meter) aufgeschlagen,
+das schlechteste, das wir bisher gehabt hatten. Soweit das Auge
+reichte, gab es weder eine Spur von Weide noch von Brennholz oder Dung
+zur Feuerung. Wir zerschlugen eine überflüssige Kiste, um wenigstens
+heißen Tee zu bekommen. Jedes der Tiere erhielt eine Handvoll Mais.
+
+Kaum war das Lager in Ordnung, so brach ein wildes Unwetter los, erst
+Regen, dann Hagel und darauf wieder strömender Regen, der durch die
+Filzdecken in meine Jurte hineintropfte und rieselte. Der Sturm kam
+von Westen, und in der Nacht verwandelten sich die Niederschläge in
+Schnee. Die Kamele lagen im Halbkreise, alle an denselben in den Boden
+gerammten Pflock so angebunden, daß die Köpfe vor dem Winde geschützt
+waren. Die beiden äußersten waren mit Filzmatten zugedeckt. Sie froren
+derart, daß sie bebten, aber sie sind nach dem Verlieren ihrer Wolle
+auch beinahe nackt, und man beobachtet mit Interesse, wie die neue
+Wolle langsam hervorkommt und wächst. Sie wächst hier oben schneller
+als in den warmen Tiefländern; die Natur macht ihr Recht geltend und
+paßt sich den Verhältnissen an. Hätten die Pelze eine Ahnung von dem
+Winter gehabt, dem wir mitten im Sommer entgegengingen, so hätten sie
+ihre Besitzer wohl nicht verlassen.
+
+Das Erwachen nach einer solchen Nacht ist nicht angenehm. Es ist einem
+kalt und frostig; alles ist feucht, Jurte und Gepäcklasten sind mit
+Wasser durchtränkt und die eigenen Kleidungsstücke naß. Am Morgen war
+die Luft mit feinem, leichtem Sprühregen erfüllt, und der Westwind
+heulte durch das Tal. Frierend und schauernd brachen wir mit unseren
+hungrigen Tieren auf.
+
+Die neue Bergkette im Südwesten unseres Lagers sah niedrig und bequem
+aus, ja wir glaubten, daß sie, mit den vielen schon überschrittenen
+verglichen, die reine Bagatelle sein würde. Ihre Nordabhänge bestanden
+nicht einmal aus anstehendem Gestein, sondern nur aus niedrigen
+Hügeln; über diese hinüberzukommen, schien ganz einfach, aber in
+der Wirklichkeit wurde es das Ärgste, was uns bisher begegnet war.
+Zunächst war es durchaus nicht leicht, nach dem Fuße der Hügel hin zu
+gelangen, denn der Boden war überall sumpfig, und um die gefährlichsten
+Fallgruben, wo die Pferde bis ans Maul in den Schlamm gerieten, zu
+umgehen, mußten wir mit der größten Vorsicht weiterziehen. Wir hielten
+es jedoch für selbstverständlich, daß der Boden wieder hart und
+tragfähig werden würde, sobald wir den Abhang erreichten.
+
+Erst ging es auch leidlich, denn der Boden bestand aus gelber Tonerde,
+die mit Steinen und Schieferstücken bedeckt war. Langsam zogen wir
+aufwärts. Nur ein großes Kamel, das gegen alles, was Paß hieß, einen
+ausgesprochenen Widerwillen hatte, blieb zurück und legte sich ganz
+gemächlich nieder; Turdu Bai blieb bei ihm.
+
+Als wir glücklich auf den ersten Kamm hinaufgelangt waren, zogen wir
+auf seinem Rücken nach Südosten weiter. Ich ritt voran und folgte einer
+Yakspur, die anfangs zeigte, wo der Boden trug, höher oben aber in dem
+losen, durch und durch nassen Schmutze verschwand, in dem es unter den
+Hufen des Pferdes klatschte und quatschte. Schließlich sank das Pferd
+so tief ein, daß ich vorzog, abzusteigen und es zu führen. Ich hätte
+natürlich umkehren müssen, aber der Kamm erschien mir so verlockend
+nahe. Als ich einen Punkt erreicht hatte, wo mir der Stiefel im
+Schlamme beinahe steckenblieb, wartete ich auf die anderen. Die Männer
+gingen zu Fuß und keuchten bei jedem Schritte. Die wie immer geduldigen
+und fügsamen Kamele kamen hinterdrein, bei jedem Schritte fußtief
+einsinkend, aber doch besser von ihren Fußschwielen getragen als die
+Pferde von ihren Hufen. Eines von ihnen fiel und mußte abgepackt
+werden. Sie wunderten sich wohl, was wir mit diesen wahnsinnigen
+Anstrengungen auf schwankendem Boden mit merklicher Steigung und in so
+verdünnter Luft zu erreichen beabsichtigten.
+
+Man wird vom Gehen schwindlig, der Boden gibt nach und scheint zu
+schwanken, unaufhörlich muß man stehenbleiben, um nach Luft zu ringen.
+Nicht einmal die ziemlich großen Schieferplatten, die hier und dort
+liegen, sind zuverlässig, sondern drücken sich allmählich in den
+Boden ein, und in der dadurch entstandenen Grube sammelt sich ein
+Wasserpfuhl. Man hört das Wasser unter dem Schutte sickern und brodeln;
+man wandert wie über unterirdische Fluten hin, die jeden Augenblick uns
+alle verschlingen können. Man meint, daß dieser Teig von Hügeln, der
+aus einer zähen Flüssigkeit oder Grütze zu bestehen scheint, mehr und
+mehr nach allen Seiten auslaufen müsse.
+
+Eine solche Terrainform entsteht durch die ewigen Niederschläge,
+die beim Fallen in den Boden eindringen und nur einen unbedeutenden
+Beitrag zu den sichtbaren Flüssen und Bächen liefern. Auch das Fehlen
+jeglicher Vegetation mit ihren bindenden Wurzeln trägt dazu bei. Nicht
+selten stehen die Schieferplatten quer, und einigen Kamelen brachte das
+Abenteuer blutige Füße ein. An einer Stelle mußten ein paar Pferde,
+die buchstäblich drauf und dran waren, im Schlamme zu ertrinken,
+schleunigst von ihrem Gepäck befreit und herausgezogen werden.
+
+Als die Lage gar zu schwierig wurde, schickte ich Tscherdon nach dem
+Kamme hinauf, um zu rekognoszieren. Er kehrte mit dem Bescheide zurück,
+daß dieser Kamm nur der erste einer ganzen Reihe solcher sei, die sich
+nach Süden ausdehnten und die Aussicht versperrten. Sie seien fleckig
+von Schnee, der durch sein Auftauen den Boden noch ungangbarer mache.
+
+Seine Worte gaben endlich das Signal zum Rückzug. Wir hatten auf dieser
+erbärmlichen Strecke über vier Stunden verloren und uns unnötigerweise
+nach einer Höhe von 5248 Meter hinaufgearbeitet; schlimmer aber war,
+daß wir die Kräfte der Tiere so angestrengt hatten. Nach einigem Suchen
+fanden wir ein Erosionstal und zogen mitten in seinem Bache, der
+einzigen Linie, auf welcher der Boden trug, abwärts. Er bog nach Westen
+in das Längental ein; an seinen Ufern war der Boden ebenso lose und
+sumpfig wie oben auf dem Kamme. Von mehreren Seiten kamen Zuflüsse, so
+daß der vereinigte Fluß schließlich 8 Kubikmeter Wasser führte. Als wir
+endlich an seinem rechten Ufer in 5011 Meter Höhe ein wenig Weideland
+fanden, lagerten wir und beschlossen, die Tiere zwei Tage ruhen zu
+lassen.
+
+Doch wie fiel es in diesem Lager Nr. 25 mit der Ruhe aus! Der Morgen
+sah allerdings vielversprechend aus, doch als ich mit dem Observieren
+der Sonne anfangen wollte, bedeckte sich der Himmel mit Wolken. Sodann
+sollten mein Bett, meine Filzdecke und mein Teppich nach der Nässe der
+vorhergehenden Tage getrocknet werden; doch kaum hingen sie auf der
+Leine, als der Himmel im Westen blauschwarz wurde. Wir konnten die
+Sachen kaum noch unter Dach bringen, bevor ein Hagelsturm mit Geheul
+und Geprassel durch das Tal fegte. Nachdem dieses Unwetter abgezogen
+war, hatte ich Gelegenheit, eine Sonnenbeobachtung zu machen, mit der
+ich eben fertig wurde, als ein neuer Sturm im Anzuge war, der ebenso
+schwarz wie der vorige aussah, aber siebenmal so arg war. Einige
+heftige Windstöße bildeten den Vortrab, dann folgten Hagel und nasser
+Schnee. Selten habe ich in Tibet ein ärgeres Unwetter erlebt. Es
+blitzte und donnerte mehrere Male in der Minute, und der Orkan fegte
+ganz dicht am Erdboden unmittelbar über unseren Köpfen hin. Es krachte,
+als zerrissen die Berge und als rollten Felsblöcke mit Donnergepolter
+in die Tiefe. Man schloß bei den blendenden Blitzen unwillkürlich die
+Augen und fühlte den Boden unter den Donnerschlägen erbeben. Es ist
+unheimlich und feierlich, sich in einem solchen Unwetterzentrum zu
+befinden und den Leidenschaften der Naturkräfte preisgegeben zu sein.
+Man legt seine Arbeit fort, sieht, lauscht und staunt.
+
+Die Hunde heulten erbärmlich. Der Wind riß das Zelt der Männer um, und
+sie konnten es nur mit großer Mühe wieder festmachen. Die Landschaft
+wurde wieder mit Schnee und Hagel zugedeckt, unter welcher Decke die
+hungrigen Pferde ihr kärgliches Futter suchten.
+
+Turdu Bai war den ganzen Tag mit den Kamelen draußen gewesen und
+kam abends heim. Sie legten sich in ihren gewöhnlichen Halbkreis
+und wurden bald überschneit, nachdem wir alles getan hatten, um sie
+warm einzupacken. Sie zitterten vor Kälte. Die Männer gaben zwei
+Filzteppiche her, ich einen, und die beiden, in welche die Boothälften
+eingenäht waren, wurden auch genommen und über die armen Tiere gedeckt.
+
+Der zweite Rasttag war besser; die Sonne taute den Schnee auf, und
+der Hagelsturm kam erst um 5 Uhr. Als wir am 12. August nach Südosten
+zogen, um die Bergkette zu überschreiten, ging Turdu Bai mit zwei
+kranken Kamelen, die unbeladen blieben, voraus. Wir überholten ihn
+bald, denn er kam nur außerordentlich langsam vorwärts, da das eine
+Kamel, der Paßhasser, oft liegen blieb und sich eine Weile ausruhen
+mußte.
+
+Vor uns waren keine hohen Berge sichtbar; doch der Boden war
+widerwärtig: ein einziger Morast von gelbem Schlamm, mit Wasser
+vollgesogen wie ein Schwamm, trügerisch selbst da, wo er mit dünnem
+Schutt bedeckt ist und sicher und vertrauenswürdig aussieht. Bei
+jedem Tritt sinken die Tiere fußtief ein, und da jeder Schritt ein
+Herausziehen der Füße aus dem zähen, saugenden Schlamme ist, ist das
+Vordringen sehr anstrengend. Der Boden ist jetzt so lose, daß die
+anfangs schwarzgähnenden Fußspuren sich bald wieder schließen und
+verschwinden. Im allerglücklichsten Falle sinken die Tiere nur etwa 10
+Zentimeter ein, und man freut sich ihretwegen, wenn man an derartige
+rettende Inseln in einem unabsehbaren Sumpfe gelangt. Doch die Freude
+ist kurz; bald versinken sie wieder knietief, fallen, müssen von
+ihren Lasten befreit, herausgezogen und von neuem beladen werden. Ein
+fluchwürdiges Land! Daß Weide und Brennholz 5000 Meter über dem Meere
+fehlen, kann man verstehen, doch warum trägt uns die Erde nicht, warum
+droht sie die ganze Karawane zu verschlingen?
+
+Kein einziges Fleckchen, wäre es auch nur so groß wie ein
+Fünfmarkstück, ist trocken; alles ist von Wasser durchtränkt; man
+befindet sich wie auf schlammigem Seeboden, von dem das Wasser gerade
+abgezapft worden ist. Die Tiere sind zu bewundern, daß sie überhaupt
+gehen; weshalb legen sie sich nicht nieder und weigern sich, sich
+in einem so barbarischen Dienste anzustrengen? Das große Kamel, der
+Paßhasser, hatte vollkommen recht, daß es sich nicht weiter abmühte.
+Das Innerste der Wüste Takla-makan ist nicht lebloser als dieses
+entsetzliche Bergland.
+
+Alle müssen zu Fuß gehen; das Herz klopft, als wolle es zerspringen,
+und man schnappt nach Luft. Und wenn man wieder im Sattel sitzt, fällt
+das Pferd beinahe alle Augenblicke vornüber. Es ist, als wären ihm
+unausgesetzt die Füße mit Bindfaden festgebunden, der bei jedem Schritt
+erst abgerissen werden muß. Ich reite jetzt voran, um den Boden zu
+erproben. Aber die Lasttiere scheuen vor den tiefsten Spurgruben und
+weigern sich ihnen zu folgen; sie schwenken lieber seitwärts ab, aber
+nur, um an noch schlechtere Stellen zu geraten.
+
+So schreiten wir Stunde auf Stunde dahin. Dieses Land will uns
+festhalten. Unser Vorrücken erinnert an einen Feldzug in Feindesland,
+wo man auf sich selbst und seine eigenen Vorräte angewiesen ist, sich
+immer mehr von einer sicheren Operationsbasis entfernt und auf dem
+Marsche nichts weiter findet als eingeäscherte Städte, zerstörte Dörfer
+und verwüstete Felder. Je weiter es geht, desto deutlicher erkennt man,
+daß die Schwierigkeiten des Rückzuges wachsen werden, und gerade diese
+Schwierigkeiten sind es, die anreizen. Mit gespanntem Interesse fragt
+man sich, ob es wohl gelingen werde, sie zu überwinden. Und man denkt
+nicht im entferntesten ans Umkehren!
+
+Es ist eigentümlich, in verhältnismäßig so kurzer Entfernung wie
+zwischen dem Akato-tag und diesen Gegenden so ungleichartige
+Naturverhältnisse zu finden. Bald muß man lange Tagemärsche machen, um
+eine erbärmliche Quelle zu finden; bald braucht man nur, wo man will,
+auf den Boden zu stampfen, um die Grube sich gleich mit Wasser füllen
+zu sehen.
+
+Auf einem niedrigen sattelförmigen, die Wasserscheide bildenden Paß,
+nach dem wir hinsteuerten, ging gerade ein einsamer Wolf in Gedanken
+versunken spazieren, ergriff aber die Flucht, sobald er uns erblickte.
+Wir befanden uns gerade auf dem Passe (5111 Meter), als der übliche
+Sturm kam. Als der Donner rollte, klang es wie das Kugelrollen auf
+einer riesenhaften Kegelbahn oder das Bombardement einer Festung. Es
+war erst 4 Uhr, aber es wurde so dunkel wie an einem Herbstabend. Die
+Pferde gehen schräge, um den Hagelschauer zu parieren. Das Lager wurde
+in aller Hast mitten in einem Morast aufgeschlagen. Ehe man noch mit
+dem Aufschlagen fertig wird, ist man schon pudelnaß, und wenn man
+dabei dem Schauer nicht die ganze Zeit den Rücken zudreht, so schlägt
+einem der Hagel ins Gesicht. Nach zwei Stunden war der Sturm vorüber,
+und die Sonne guckte hervor, aber wir lagen im Schatten, und der
+Sonnenschein vergoldete wie hohnlächelnd die Hügel im Osten.
+
+Der große Paßhasser konnte nicht mehr bis zum Lager gehen, sondern war
+jenseits des Passes zurückgelassen worden. Um zu versuchen, ob wir
+ihn nicht doch noch retten könnten, blieben wir einen Tag in diesem
+greulichen Lager in 5076 Meter Höhe. Tscherdon und Turdu Bai ritten
+am Morgen hin, kamen aber mit der Nachricht wieder, daß das Tier dem
+Tode geweiht sei. Sie hatten es dazu gebracht, sich zu erheben und
+einige Schritte zu gehen, dann aber war es auf die Seite gefallen, und
+da es nicht dazu vermocht werden konnte, aufzustehen, hatten sie es
+totgestochen.
+
+Den ganzen Tag goß es. Ich hatte +2 Grad in der Jurte und konnte nichts
+weiter tun, als mit Pelzen zugedeckt lesen. Man muß sich sehr genau
+überlegen, wohin man empfindliche Sachen legen kann, denn durch das
+Dach tropfte das Wasser, und ich hatte an beiden Seiten des Bettes ein
+paar kleine Seen, die abgeleitet werden mußten. Überall ist es naß und
+ungemütlich; man sehnt sich von einem solchen Platze fort, einerlei
+wohin, denn schlimmer kann es nicht werden. Tscherdon und Turdu Bai
+waren vom Regen überfallen worden, als sie bei dem Kamele waren. Sie
+saßen fünf Stunden bei ihm, unter ihren Mänteln zusammengekauert, und
+ihre Pferde waren bis an den Bauch gelbbraun; nach dem frischen Regen
+waren sie doppelt so tief wie gestern eingesunken.
+
+Der 14. August brach endlich mit Sonnenschein an. Die Temperatur war in
+der Nacht auf -3,2 Grad heruntergegangen, so daß der Boden am Morgen
+steinhart gefroren war und eine dünne Eiskruste die in unseren Spuren
+entstandenen Pfützen bedeckte, aber die Freude währte nicht lange, denn
+schon am Vormittag war alles wieder naß und weich.
+
+Der heutige Tag brachte uns über diese greuliche Bergkette hinüber,
+die uns so viel Mühe gekostet hatte. Von ihrem leichten, hügeligen
+Passe aus sah man wieder ein Längental, das im Süden von einem neuen,
+ansehnlichen Rücken begrenzt wurde. Weiter aufwärts im Tale, nach
+Südwesten zu, schimmerte der Boden grün; dorthin lenkten wir unsere
+Schritte, denn der Weide bedurften wir jetzt am allermeisten.
+
+Sobald wir den Platz erreicht hatten und uns endlich auf trockenem
+sandigem Boden befanden, wurde Halt gemacht; es war ein Vergnügen,
+die Tiere in dem dünnen Grase wieder aufleben zu sehen. Alles, was
+Bettstücke und Decken hieß, wurde auf dem Sande ausgebreitet, um im
+Sonnenbrande zu trocknen (Abb. 130); die Jurte und das Zelt trockneten
+am besten, wenn sie in gewöhnlicher Weise aufgeschlagen wurden.
+
+[Illustration: 144. Lagerplatz im tibetischen Hochland. (S. 355.)]
+
+[Illustration: 145. Umbetten des kranken Aldat. (S. 356.)]
+
+[Illustration: 146. Ein im Schlamm versinkendes Kamel. (S. 359.)]
+
+[Illustration: 147. Turdu Bai auf einem Berge in der Nähe des Lagers
+Nr. 54. (S. 361.)]
+
+Am 15. August waren gerade 15 Jahre vergangen, seit ich meine erste
+Reise nach Asien angetreten hatte; ich konnte den Tag nicht besser
+als durch Verweilen an diesem gastfreundlichen Platze feiern. Das
+Wetter war gut, obwohl es ein paar Stunden regnete, und die Temperatur
+stieg auf etwas über +15 Grad. Die müden Tiere erholten sich sichtlich,
+und da wir nicht wußten, was unserer wartete, wurde ihnen noch ein
+Ruhetag zugestanden. Wenn es dunkel wird, kommen die Kamele ganz von
+selbst gravitätisch nach dem Lager gezogen, doch in einem Halbkreis
+können sie sich nicht ohne Hilfe legen. Sobald der Tag graut, erheben
+sie sich und gehen wieder auf die Weide. Man denkt, es müsse sie
+ermüden, die ganze Nacht mit erhobenem Kopfe in derselben Lage
+zuzubringen, aber es scheint ihnen gar nichts auszumachen.
+
+Dieser Platz (Abb. 131) rettete uns für die nächste Zukunft. Er glich
+einer Oase in der Wüste (Lager 27). Tiere und Menschen sammelten hier
+neue Kräfte. Letztere hatten eigentlich nichts weiter zu tun, als Brot
+zu backen, schmutziges Zeug zu waschen und Feuerung einzusammeln, die
+uns eine kleine in harten Büscheln wachsende Pflanze mit trockenem
+Stamme, die „Jer-baghri“ genannt wird, lieferte.
+
+
+
+
+Neunundzwanzigstes Kapitel.
+
+Eine lange Seefahrt.
+
+
+Am 17. August brachen wir auf, um die nächste, von Osten nach Westen
+gehende Bergkette zu überschreiten. Der Anstieg macht sich unseren
+müden Tieren bald recht fühlbar. So, wie wir jetzt zogen, waren wir
+gezwungen, unnötigerweise über drei Pässe zweiter Ordnung zu gehen,
+ehe wir den Hauptpaß erreichten. Hinten im Westen erhebt sich der
+mächtige Gebirgsstock mit den Gletschern und den ewigen Schneefeldern
+im Osten erscheint ein Tafelberg, dessen Kammlinie so gerade ist,
+als sei sie mit einem Lineale gezogen worden; wahrscheinlich war der
+Berg mit dem porösen Tuff, der in diesen Gegenden allgemein vorkommt,
+bedeckt. Vom Passe führte ein zwischen roten Hügeln eingeschnittenes
+Tal langsam nach Süden. Sein Bach mündet schließlich in einen wohl
+10 Kubikmeter Wasser führenden Fluß vom nächsten Gletscher. In der
+Nähe des Zusammenflusses hatte sich die Karawane auf einem mageren
+Rasenplatze, wo der sandige Boden wenigstens trocken war, im Lager Nr.
+28 niedergelassen (Abb. 132).
+
+Jetzt hatten wir nur noch zwei Schafe, von denen hier eines dem
+Hunger geopfert werden mußte. Das letzte blökte ängstlich und suchte
+vergeblich seinen toten Kameraden. Schlimmer war, daß Aldat, als er auf
+eine Orongoantilope schoß, seine Flinte ruinierte; eine hinten am Laufe
+befindliche Stahlschraube wurde losgesprengt und hätte ihn beinahe ins
+Gesicht getroffen. Zum Glück fand er die Schraube wieder; sie wurde nun
+mit Stahldraht und einem Lederriemen in ihrer Lage so festgemacht, daß
+die Flinte im Notfalle benutzt werden konnte.
+
+Als wir am Tage darauf gerade aufbrechen wollten und die Tiere
+schon zum Beladen bereitstanden, verdunkelte sich der Himmel in
+beunruhigender Weise, weshalb wir es für das klügste hielten, noch eine
+Weile zu warten; wir wären in ein paar Minuten durch und durch naß
+geworden. So warteten wir denn einen Regenguß nach dem anderen ab, und
+auf diese Weise ging der Tag hin. Um 2 Uhr klärte es sich auf, aber
+nun war es zum Aufbrechen zu spät. Statt dessen begab ich mich mit dem
+großen photographischen Apparat nach der nächsten Gletscherzunge und
+wollte mich gerade anschicken, ein paar Aufnahmen zu machen, als der
+Himmel wieder seine freigebigen Schleusen öffnete. Gleichzeitig näherte
+sich von Süden her, schwarz wie die Nacht, ein Hagelsturm, der sich wie
+eine dicke Masse über die Erde hinwälzte und ihre Oberfläche hinter
+sich weiß färbte.
+
+Es war uns einerlei, wohin uns unser Weg das Flußtal abwärts führte,
+die Hauptsache war, daß wir niedrigere Gegenden mit Weide erreichten.
+Wir folgten dem Flußlaufe über 30 Kilometer weit, lagerten aber eine
+ziemliche Strecke von seinem Westufer entfernt. Zu Anfang des Marsches
+hatten die Leute einen recht ungewöhnlichen Fund gemacht, nämlich ein
+Stück eines alten Muhammedanerhemdes, ein Tauende und ein Holz mit
+Kerben, wie es beim Beladen der Tiere gebraucht wird. Ob diese Sachen
+von einer mongolischen Pilgerkarawane oder von Hauptmann Wellbys Reise
+herstammten, ließ sich nicht feststellen; letzteres ist jedoch nicht
+unwahrscheinlich. Wellby und Malcolm reisten 1896 gleichzeitig mit
+mir durch Nordtibet, von Westen nach Osten, von Ladak nach Zaidam und
+wählten das Längental, welches meiner Route nach Süden hin zunächst
+liegt. Sie machten eine denkwürdige, schöne Reise. Ein paar Jahre
+darauf fiel Wellby im südafrikanischen Kriege, in dem auch Malcolm
+schwer verwundet wurde.
+
+Der größere Teil des Tages wurde von einigermaßen gutem Wetter
+begünstigt; die Regenschauer fielen in solchen Pausen, daß wir
+dazwischen wieder trocken wurden, doch kaum war dies geschehen, so goß
+es wieder vom Himmel herunter, daß das Wasser von den Lasten rieselte
+und unsere Anzüge vor Nässe glänzten. Jolldasch fing ein ganz kleines
+Wölflein, einen wütenden, kleinen Teufel, der gebunden mitgenommen
+wurde und die verzweifeltsten Versuche zur Wiedererlangung seiner
+Freiheit machte.
+
+Am 20. August war der Boden im großen ganzen so eben, daß sich keine
+Rinnsale oder Erosionsfurchen bilden, sondern sich das Wasser in
+zahllosen kleinen, trüben Lachen ansammelt. Die Grasvegetation wird
+allmählich besser, als wir sie bisher in Nordtibet gesehen haben, und
+hier und dort wächst üppiger wilder Lauch. Die Kamele fressen diese
+Pflanze mit Begierde, und auch in unseren Suppen schmeckte sie gut.
+
+Nach Süden hin ist das Land bis ins Unendliche offen, und keine
+mächtigen Bergketten stellten sich uns mehr in den Weg. Am Horizont
+zeigten sich allerdings Bergkämme, aber sie sahen ganz unschuldig
+aus. Das Land hatte Plateaucharakter angenommen, und wir wanderten
+über unabsehbare Hochebenen hin. An dem Ufer eines Tümpels weideten
+drei große schwarze Yake. Sie setzten uns in schwerem Galopp nach,
+wahrscheinlich in dem Glauben, daß wir zu ihren alten Bekannten
+gehörten. Als sie nur noch 200 Schritt entfernt waren, erkannten sie
+ihren Irrtum und kehrten in langsamem Trabe um. Im Südosten erblickten
+wir einen ungeheueren See, an dessen Nordwestufer die Weide ziemlich
+gut war, weshalb wir das Lager Nr. 30 dort aufschlugen.
+
+Der 21. August wurde zur Ruhe und zu astronomischer Observation
+bestimmt. Das Wetter war herrlich, wirklich warm, und Fliegen summten
+wieder in der Luft. Wir hatten die Zelte unweit des Ufers auf sandigen
+Hügeln, die das Regenwasser aufsaugen und davon nicht schlammig
+werden, aufgeschlagen. Der Strand selbst war flach und kiesig, und
+ein 50 Zentimeter hoher Kieswall zeigte, wie weit die Wellen zu
+dringen pflegten. Das Wasser war bittersalzig, aber in der Nähe gab
+es glücklicherweise eine süße Quelle. An Feuerung litten wir keinen
+Mangel, denn hier wuchsen Jappkakstauden in ziemlicher Menge; einige
+Männer brachten ganze Arme voll davon ins Lager. Ihnen war unheimlich
+zumute, denn sie hatten ganz seltsame Klagelaute gehört und glaubten,
+es seien Menschenstimmen gewesen. Doch Aldat, der von der Jagd
+zurückkam, erklärte, es seien Wölfe. Außer sich warf er seine Flinte
+hin, die ihm noch nie so schlechte Dienste geleistet. Er hatte einen
+Kulan und einen Yak verwundet, aber beide hatten die Flucht ergriffen.
+Gestern hatte er eine Orongoantilope angeschossen, deren Skelett wir
+später auf dem Marsche fanden; das Fleisch und die Eingeweide waren von
+Wölfen gefressen worden. Es fing an Zeit zu werden, daß Aldat uns etwas
+Fleisch verschaffte, denn wir lebten jetzt meistens von Reis und Brot.
+Ein paar Konservendosen hatte ich noch, und Tscherdon bewirtete mich
+täglich mit einer vortrefflichen Suppe von grünen Erbsen, wildem Lauche
+und Liebigs Fleischextrakt, der mir auf dieser Reise große Dienste
+leistete.
+
+Jetzt wurde folgende Verabredung getroffen. Am 22. August sollte
+Kutschuk mich schräg über den See nach einem ziemlich bedeutenden
+Gipfel, der sich im Südosten zeigte, hinrudern. Gleichzeitig sollte die
+Karawane nach Westen und Süden um den See herummarschieren und am Ufer
+vor dem erwähnten Gipfel Halt machen. Da ich fürchtete, daß es ihnen
+vielleicht unmöglich sein möchte, auf diesem Wege hinzugelangen, ließ
+ich Mollah Schah auf Rekognoszierung dorthin reiten. Er kam am Abend
+wieder und versicherte, daß keine Hindernisse vorlägen. Im Westen hatte
+er einen zweiten, ebenso großen See gesehen, in den sich wahrscheinlich
+das Schmelzwasser des Gletscherstockes ergoß. Die Sache lag also klar,
+und ich hielt es für selbstverständlich, daß die Karawane vor uns an
+dem verabredeten Platze eintreffen würde, da Tiefenlotungen und andere
+Beobachtungen naturgemäß ziemlich viel Zeit kosteten. Tscherdon wurde
+daher ermahnt, bei der Ankunft ein Feuer anzuzünden, das uns abends als
+Leuchtfeuer dienen sollte und nach welchem wir, wenn es nötig wäre,
+unseren Kurs rechtzeitig ändern könnten.
+
+Warm und klar brach der Tag an; nur einige leichte Wölkchen segelten
+an dem türkisblauen Himmel, und spiegelblank lag der See. Während die
+Karawane beladen wurde, brachten wir das Boot am Ufer in Ordnung.
+Segel, Ruder und Rettungsbojen wurden mitgenommen, im übrigen nur die
+notwendigen Instrumente. Wir fuhren eine gute Weile vor der Karawane
+ab, sahen aber nachher ihre lange Reihe am Ufer entlang schreiten.
+
+Mit der Uferlinie beginnt die zusammenhängende Salzkruste, die den
+ganzen Seeboden bedeckt und hier anfänglich 2-4 Zentimeter dick war.
+Sie bricht unter unseren nackten Füßen. Wir mußten das Boot nämlich
+erst 1½ Kilometer in den See hineinziehen, ehe es schwamm, und in
+dieser Entfernung vom Strande betrug die Tiefe noch kaum 50 Zentimeter.
+Jetzt steuerten wir erst nach einer kleinen Insel in Ostsüdosten.
+Kutschuk brauchte nicht zu rudern, sondern schob das Boot vorwärts;
+das Ruder scharrte wie auf Stein, wenn es die allmählich immer fester
+werdende Salzkruste berührte.
+
+Dieser umfangreiche See ist nur ein kolossaler Salztümpel ohne Spur
+von Leben. Keine Schwimmvögel, keine Wassertiere, keine Algen waren
+zu sehen. Auch der Uferstreifen ist, soweit der Wellenschlag reicht,
+unfruchtbar; nur auf den sandigen Hügeln, welche die Wasserfläche um
+einige Meter überragen, wächst Gras.
+
+Wir landeten an der kleinen, birnförmigen Insel, deren größte Höhe
+5 Meter über dem Wasserspiegel nicht übersteigt. Sie liegt wie eine
+Semmel im See und hat vortreffliches, geschütztes und unberührtes
+Weideland. Das Gerippe eines Vogels war das einzige Lebenszeichen, das
+wir finden konnten. Die Aussicht aber ist großartig und orientierend.
+Nach Westen und Osten erstreckt sich völlig offenes Land, auf dem
+bis an den Rand des Horizontes auch nicht der kleinste Berggipfel
+sichtbar ist. Im Nordwesten glänzt das mächtige Firnmassiv, vor dessen
+Gletscherzungen wir vor ein paar Tagen lagerten. Im Süden erscheinen
+flache, weich abgerundete Landrücken und im Norden die sich hie und
+da bis zu Schneebergen erhebende größere Kette, die wir zuletzt
+überschritten hatten.
+
+Darauf steuerten wir nach Südosten in der Richtung des vereinbarten
+Sammelplatzes. Nur in einem Ringe um die Insel herum lag Kies auf
+plastischem blauem Ton, dann aber setzte die Salzkruste wieder ein.
+Die Tiefe nahm ein wenig zu, so daß Kutschuk das Boot nicht mehr mit
+dem Ruder weiterstoßen konnte, sondern rudern mußte.
+
+Die Tiefenverhältnisse in diesem See waren höchst unerwartet. Der Boden
+ist beinahe ganz eben, und die größte Tiefe betrug nur 2,33 Meter. Der
+See liegt also wie eine papierdünne Wasserschicht über der Salzkruste
+und ist nur halb so tief wie die Kara-koschun-Sümpfe. Die Unterschiede
+zwischen den einzelnen Lotungsstellen beliefen sich auf einen oder ein
+paar Zentimeter. Ich hatte eine mehrere hundert Meter lange Lotleine
+mit Bleigewicht mitgenommen, doch meistens genügte das 2,13 Meter
+lange, in Dezimeter und Zentimeter eingeteilte Ruder.
+
+Gerade im Osten schien sich der See bis ins Unendliche zu erstrecken,
+einer Meeresbucht vergleichbar; dies beruhte aber auf einer durch
+Luftspiegelung hervorgerufenen Sinnestäuschung.
+
+Es war ein wunderbarer, in Wahrheit höchst außergewöhnlicher Tag,
+den wir auf diesem Salzsee zubrachten. Das Wetter war prächtig; kein
+Lüftchen regte sich, und der Himmel spiegelte sich deutlich im Wasser
+wieder. Nur um die Randgebirge herum lag ein Kranz von dichteren
+weißen Wolken. Die Sonne, ein seltener Gast in diesen Gegenden, wärmte
+ordentlich; man freute sich, wieder etwas vom Sommer zu sehen, und
+träumte von den entflohenen Annehmlichkeiten dieser Jahreszeit. Es war
+schon wohltuend, das Gesicht in der Strahlenflut baden zu können und
+nach all der Nässe und Kälte in der Nachbarschaft des Arka-tag einmal
+wirklich das Gefühl des Trockenseins zu haben, aber ohne die giftigen
+Insekten, die tiefer unten die treuen Sommerbegleiter der Sonne bilden.
+Um uns herum ist es so still wie im Grab; keine Fliege summt in der
+Luft, kein Fisch plätschert im Wasser, das leblos daliegt wie eine
+chemische Lösung, überall war es still und friedlich wie an einem
+Sonntage. Die vor kurzem noch so unruhigen Geister der Luft und des
+Wetters hatten sich einen freien Tag gemacht, wahrscheinlich nur, um
+sich zu neuem wildem Streitgetümmel auszuruhen.
+
+Die Landschaft hat in dieser reinen, verdünnten Luft einen ganz
+ungewöhnlichen, leichten Ton. Man könnte sie mit einer Braut in weißer
+und hellblauer Seide vergleichen; es ist das duftigste Aquarell in den
+zartesten Farben, denn alles ist ätherisch und durchsichtig wie eine
+Luftspiegelung oder ein Traum. Nur unmittelbar beim Boote schimmert das
+Wasser grün, sonst ist es hellblau vom Widerscheine des Himmels.
+
+Welch herrliche Art, nach dem nächsten Lagerplatze zu gelangen,
+verglichen mit dem Reiten mit der schwerfälligen, müden Karawane!
+Ich saß im Vorderteile des Bootes so bequem wie in einem Lehnstuhl
+und machte meine Beobachtungen und Aufzeichnungen wie vor einigen
+Monaten auf der Fähre. Der Kurs war ein für allemal gegeben, und ein
+Blick nach dem Berggipfel genügte zur Kontrolle der Richtung. Die
+Geschwindigkeit wurde alle fünf, die Tiefe alle zehn Minuten gemessen,
+und Kutschuk sang und summte zu den Ruderschlägen allerlei Weisen. Er
+ruderte das Boot mit einem Ruder, das bald an der Backbord-, bald an
+der Steuerbordreling senkrecht ins Wasser getaucht wurde. Mast und
+Segel waren in der Mitte des Bootes querüber festgebunden, um uns nicht
+im Wege zu sein. Mäntel hatten wir nicht mitgenommen; hätte ich mich
+erwärmen müssen, so würde ich mit dem zweiten Ruder geholfen haben,
+nun aber freute ich mich untätig meines Daseins, aller Hagelschauer
+uneingedenk. Die Temperatur stieg auf 14 Grad und betrug im Wasser 17,1
+Grad; es war ordentlich warm.
+
+Das Wasser ist so salzig, daß die ins Boot fallenden Tropfen wie
+Stearin erstarren. Nachdem das Wasser verdunstet ist, bleibt eine
+kreideweiße dünne Glocke zurück, die jedoch gewöhnlich einfällt. Das
+Lotungsruder wird so weiß, als wäre es angestrichen, unsere Hände
+werden weiß und rauh, unsere Kleider von Spritzern weißgetüpfelt, und
+der Strommesser glitzert mit tausend Facetten. Die Ränder und der Boden
+des Bootes sehen aus, als wäre es kürzlich zu einem Mehltransport
+benutzt worden.
+
+Während der ersten Stunden sahen wir die Karawane am Westufer entlang
+schreiten, und ich beobachtete mit dem Fernglase ihren gewöhnlichen
+ruhigen Gang und ihre Marschordnung. Sie beschrieb einen Bogen, während
+wir in gerader Linie nach dem Sammelplatze ruderten. Zuerst entfernten
+wir uns demnach voneinander, darauf verschwand die Karawane hinter
+den Uferhügeln, mußte aber bald am südlichen Ufer wieder auftauchen,
+und dann würden wir uns einander wieder nähern und schließlich an
+demselben Punkte zusammentreffen. Aber sie erschien nicht wieder. War
+sie vielleicht auf schwankenden Boden gestoßen und mußte einen Umweg
+machen, sammelten am Ende die Leute unterwegs noch Brennholz oder
+war gar Wildbret geschossen worden, das erst abgehäutet, zerlegt und
+eingepackt werden mußte?
+
+Kilometer auf Kilometer blieb die Tiefe 1,88 Meter. Stunde auf
+Stunde schien sich der Abstand zwischen uns und dem Südufer nicht zu
+verringern. Aber, wie gewöhnlich, verging die Zeit auf dem Wasser
+schnell. Am Nachmittag bedeckte sich der Himmel mit leichten, dünnen
+Wolken, und die blaue Wasserfläche nahm eine marmorierte Schattierung
+an. Das Boot schoß in gerader Linie nach Südosten, und das Wasser
+plätscherte um das Ruder; dies war der einzige Laut, der die Stille
+auf diesem tibetischen „Toten Meere“, dessen Spiegel 4765 Meter über
+dem Weltmeere liegt, unterbrach.
+
+Um 4 Uhr guckte die Sonne wieder hervor. Unter der sinkenden Sonne
+schien sich der See am weitesten nach Westen auszudehnen; es ist die
+Strahlenbrechung, die diese Sinnestäuschung hervorruft. Die Karawane
+war nicht zu sehen, aber die Entfernung war auch bedeutend, und sie
+mochte wohl hinter einigen Uferhügeln marschieren.
+
+Gegen Abend sah der vor kurzem noch so klare, blanke Wasserspiegel beim
+Südufer mattgeschliffen aus. Ein brausendes Geräusch ließ sich immer
+deutlicher vernehmen und wurde von Kutschuk für das Rauschen eines
+in der Nähe mündenden Flusses gehalten. Bald wurde uns jedoch klar,
+daß das Brausen von einem sich erhebenden Winde herrührte, in dessen
+Bahn wir bald hineingerieten. Der Wind kam von Osten; es ruderte sich
+schwer, und als er stärker wurde, hißten wir Segel und änderten den
+Kurs in Südwest ab. Mit reißender Fahrt und in hohem Seegange strichen
+wir nach dem Ufer hin, wo sich die Brandung weißschäumend und donnernd
+über scharfkantige Kiesel wälzte, die das Segeltuchboot aufzuschlitzen
+drohten. Das Segel wurde rechtzeitig gerefft, Kutschuk sprang ins
+Wasser, ich half mit dem Ruder, und so brachten wir das Fahrzeug
+unverletzt an Land und zogen es hoch am Ufer hinauf.
+
+Bevor die Dämmerung in Dunkelheit überging, eilten wir nach den
+nächsten Hügeln hinauf, um nach der Karawane auszuspähen. Doch von
+Menschen und Tieren war keine Spur zu entdecken! Die ganze Gegend lag
+schweigend und ausgestorben, beinahe unheimlich vor uns, und mir war
+zumute wie beim Eintreten in eine Klosterruine, in der seit tausend
+Jahren niemand gewesen ist. Während Kutschuk Jappkakbüschel sammelte,
+ging ich weiter in die Hügel hinein, wurde aber von ein paar Buchten
+und Lagunen aufgehalten, deren nur von einer außerordentlich dünnen
+Wasserschicht bedecktes Salz wie Eis glänzte. Ein Kulanschädel lag,
+verwittert und gebleicht, an einem Abhange, und in dem losen Erdreiche
+stand eine Bärenspur eingedrückt. Ich lauschte und rief, aber die
+Karawane war und blieb verschwunden.
+
+[Illustration: 148. Tscherdons Yak. (S. 361.)
+
+Von links nach rechts: Mollah Schah, Turdu Bai, Kutschuk.]
+
+[Illustration: 149. Ein erbeuteter Yak. (S. 361.)]
+
+[Illustration: 150. Ein junger Kulan. (S. 362.)]
+
+[Illustration: 151. Kopf und Seitenfransen des Yaks. (S. 361.)]
+
+Als ich nach dem Landungsplatze zurückkehrte, war es schon dunkel.
+Kutschuk hatte einen gewaltigen Armvoll Jappkak zur Feuerung
+zusammengesucht, und ich half ihm den Vorrat noch vergrößern. Jetzt war
+es ganz klar, daß sich den anderen irgendein unerwartetes Hindernis in
+den Weg gestellt haben mußte, sonst wären wenigstens ein paar Reiter
+nach dem Sammelplatze gekommen, um uns Bescheid und -- was für uns das
+Wichtigste war -- Essen, Wasser und warme Kleider zu bringen. Erst
+überlegten wir, ob wir nicht den heftigen, günstigen Wind benutzen
+und westwärts segeln sollten; aber in der Dunkelheit wäre dies doch zu
+gewagt gewesen, besonders da der Wind immer heftiger wurde. Vielleicht
+hatte die Karawane auch einen so weiten Umweg machen müssen, daß sie
+noch gar nicht hier sein konnte.
+
+Es blieb uns also kein anderer Ausweg, als uns auf beste Weise für die
+Nacht einzurichten. Ein ebener Fleck wurde für das Lager aufgesucht,
+der ganze Feuerungsvorrat dort aufgestapelt, alle Sachen aus dem Boote
+geholt und dieses selbst in seine beiden Hälften auseinandergenommen.
+Letztere wurden aufgerichtet und bildeten so vorzügliche
+Schilderhäuschen, die uns gegen den Wind schützten. Wir waren gerade in
+Ordnung, als es zu regnen begann. Nun wurden die Boothälften, gegen je
+ein Ruder gelehnt, in einem Winkel von 45 Grad aufgestellt; wir hatten
+sowohl ein Dach über dem Kopfe wie Schutz vor dem Winde. Ich nahm die
+eine Rettungsboje, Kutschuk die andere, und mit diesen als Kopfkissen
+gelang es uns, solange die Luft noch warm war, eine Weile zu schlafen.
+
+Um 9 Uhr zog ich die Chronometer auf und besorgte eine meteorologische
+Ablesung, während Kutschuk Feuer anmachte. Dann blieben wir noch ein
+paar Stunden sitzen und stellten philosophische Betrachtungen an. Es
+wäre zu schön gewesen, wenn wir eine Tasse heißen Tee und ein bißchen
+Brot oder wenigstens einen Becher Wasser gehabt hätten. Ich zog mir aus
+dieser Fahrt die Lehre, mich künftig nie ohne Proviant und warme Decken
+für die Nacht aufs Wasser zu begeben!
+
+Als alle Feuerung verbrannt war, krochen wir in die Koje; jetzt kamen
+uns die Boothälften wieder vorzüglich zustatten. Erst wurde das Segel
+auf dem Kiese ausgebreitet, der dadurch auch nicht viel weicher wurde,
+dann wurde die Rettungsboje zur Hälfte in den Boden eingegraben, darauf
+legte ich mich entsprechend zusammengekrümmt nieder und zuletzt deckte
+Kutschuk die eine Boothälfte über mich. Alle Ritzen, durch die Zug
+kommen konnte, verstopfte er mit Sand, wobei er ein Ruderblatt als
+Spaten benutzte. Der Boden des Bootes war nur 1-2 Zoll über meinem
+Kopfe, und ich lag wie eine Leiche in ihrem Sarge, welcher Gedanke
+sich um so mehr aufdrängte, als Kutschuk draußen stand, Sand aufgrub
+und um mich herumschüttete. Drinnen war es so eng, daß ich mich in
+meinem Grabe nur mit Mühe umdrehen konnte, und ebenso dunkel wie in der
+Ruhestätte der Toten.
+
+Ein ganzer, auf dem Wasser zugebrachter Tag greift an und macht
+hungrig, und wenn man nichts zu essen bekommt, friert man leicht;
+aber in unseren kleinen „Zelten“ wurde es bald warm. Kutschuk packte
+sich auf dieselbe Weise ein. Ein prächtiges Boot, das uns erst den
+ganzen Tag getragen hatte und uns hinterdrein noch als Zelt diente!
+Die Annehmlichkeit wurde noch größer, als es wieder zu regnen begann
+und die schweren Tropfen auf dem straffgespannten Bootboden wie
+Trommelwirbel schmetterten. Wir unterhielten uns eine Weile; Kutschuks
+Stimme klang durch die beiden Segeltuchwände wie eine Stimme aus
+dem Grabe, und auch meine tönte dumpf und hohl. Doch die Müdigkeit
+machte sich geltend, und wir schliefen, Wölfe, Bären und unsere eigene
+treulose Karawane vergessend, auf unserem Kirchhofe ein.
+
+Ein paarmal wachte ich von der eindringenden Nachtkälte auf, schlief
+aber wieder ein, und als endlich das Morgenlicht unter den Bootrelingen
+hereinflutete, sah ich zu meinem Erstaunen, daß es schon 7 Uhr war.
+Kutschuk wurde gerufen und mußte den Sargdeckel öffnen; richtig stand
+die Sonne schon hoch über dem Horizont. Wir waren starr vor Kälte und
+sammelten schleunigst Feuerung, die mit den letzten Zündhölzern in
+Brand gesteckt wurde und uns wieder neues Leben gab. Es wehte frisch
+und gleichmäßig aus Osten, und da von der Karawane nichts zu sehen und
+zu hören war, blieb uns nichts weiter übrig, als westwärts zu gehen und
+sie zu suchen.
+
+Also wurde das Boot wieder zusammengefügt, getakelt, ins Wasser gesetzt
+und bemannt, das Segel wurde aufgespannt, das eine Ruder diente als
+Segelbaum, das andere als Steuer, und mit sausendem Winde strichen wir
+längst des Südufers hin. Der Wind war ziemlich stark, der See ging
+hoch, die Jolle rollte ordentlich, und Kutschuk, der vorn im Boote
+saß, wurde seekrank. Die Geschwindigkeitsmessungen und die Lotungen
+wurden fortgesetzt und die Route eingetragen. Nachdem wir eine gute
+Stunde unterwegs waren, konnte ich mit dem Fernglas am Westufer des
+Sees zwei weiße Punkte wahrnehmen, die wir für die Jurte und das Zelt
+hielten. Kleine schwarze Punkte, die beide umgaben, mußten unsere Leute
+und Tiere sein. Nach drei Stunden waren wir dort. Tscherdon und Aldat
+wateten uns entgegen, um die Jolle vorsichtig ans Land zu ziehen.
+Der Karawane war richtig von einem mächtigen Fluß, den zu durchwaten
+unmöglich war, der Weg abgeschnitten worden. Der Fluß kam von einem
+großen See im Westen. Sie waren daher nach der Quelle zurückgekehrt,
+bei der wir sie fanden, und hatten die ganze Nacht auf einem Hügel ein
+Feuer unterhalten, das uns als Richtschnur dienen sollte, wenn wir
+draußen auf dem See umherirrten. Aldat hatte einen Kulan geschossen,
+denn frisches Fleisch war uns hochnötig. Das Wölflein hatten sie jedoch
+so freigebig damit traktiert, daß es an Überfütterung starb.
+
+Sobald wir an Land gekommen waren, mußte Tscherdon mir ein Frühstück
+mit Kaffee bereiten; der Rest des Tages wurde zu verschiedenen
+Nacharbeiten benutzt. Jetzt handelte es sich darum, nach welcher Seite
+wir zunächst unsere Schritte lenken sollten. Gingen wir nach Westen,
+so brauchten wir drei Tage zur Umgehung des dort liegenden Sees, und
+im Osten hatten wir unseren großen Salzsee. Im Süden versperrte uns
+der Fluß, der von dem westlichen, entschieden süßen See Wasser nach
+dem salzigen führte, den Weg. Von Umkehren konnte noch keine Rede
+sein; dies durfte erst geschehen, wenn das morastige Hochland so
+fest gefroren war, daß der Boden trug. Ich beschloß daher, die ganze
+Karawane mit der Jolle über den Fluß zu führen.
+
+Die Karawane mußte also nach der schmalsten Stelle des Flusses ziehen,
+während ich mit Kutschuk nach dem Mündungsgebiete ruderte. Die Breite
+beträgt hier etwa 300 Meter, und unmittelbar vor der Mündung lag eine
+Bank mit nur 50 Zentimeter Wasser, die eine prachtvolle Furt gewesen
+wäre, wenn sie nicht in der Mitte eine schmale Rinne von 2,56 Meter
+Tiefe gehabt hätte. Wir fuhren nach dem schmalen Übergange, wo die
+anderen warteten und alles Gepäck abluden. Auch hier ist das Wasser
+scharf salzig, obwohl die Strömung von dem Süßwassersee ziemlich
+stark ist; man sieht, wie sich süßes und salziges Wasser miteinander
+vermischt, wobei Flockenbildungen und Wirbel entstehen wie bei
+Zuckerwasser.
+
+Die beiden Ufer bestanden aus hartem Kies. Die schmalste Stelle, wo
+die Überführung stattfinden sollte, war 58 Meter breit. Die größte
+Schwierigkeit war das Ausspannen eines Taues zwischen beiden Ufern.
+Beinahe alle Stricke, mit denen die Packlasten auf Kamelen und Pferden
+festgebunden wurden, mußten dazu genommen und aneinandergebunden
+werden. Am linken Ufer wurde das eine Ende festgemacht, dann wurde das
+Seil flußabwärts gezogen, worauf ich aus allen Kräften in einem Bogen
+hinüberruderte, während Kutschuk mit dem anderen Ende bereitstand, am
+rechten Ufer ans Land zu springen. Wir trieben indessen, da das Seil
+sich als zu kurz erwies, an der hier vorspringenden Landspitze vorbei
+und mußten uns wieder zurückschleppen und noch ein Ende anbinden,
+worauf dasselbe Manöver mit besserem Erfolge wiederholt wurde. Das Tau
+wurde nun auch an diesem Ufer festgebunden und so straff gezogen, daß
+es die Wasserfläche nicht mehr berührte.
+
+Die Pferde sollten hinübergetrieben werden, aber sie ließen sich nicht
+dazu bringen, ins Wasser zu gehen. Es gelang erst, als wir eines von
+ihnen hinüberbugsiert hatten. Am schlimmsten war das Übersetzen der
+Kamele (Abb. 133, 134, 135). Sie ließen sich nicht bewegen, selbst
+hinüberzuschwimmen. Wir mußten sie einzeln mit dem Boote holen.
+Dabei wird das Kamel ins Wasser getrieben, und ein Strick wird ihm
+um den Kopf geschlungen. Diesen hält Turdu Bai, der im Achter des
+Bootes sitzt, über Wasser. Ich ziehe das Boot an dem ausgespannten
+Seile entlang quer über den Fluß. Da es dem Kamel aber durchaus nicht
+einfällt zu helfen, sondern es sich ganz bequem im Wasser ziehen läßt,
+habe ich die ganze durch die unaufhörlich saugende Strömung verursachte
+Wucht auf meinen Händen ruhen, und ich muß beim Weiterschieben alle
+meine Kräfte aufbieten, um das Seil nicht loszulassen, in welchem Falle
+natürlich die ganze Bescherung nach dem See hinuntergetrieben wäre und
+das Kamel leicht hätte verloren gehen können. Ich brachte es jedoch
+nach dem anderen Ufer hinüber, wo es eine Weile zappelte, bis es festen
+Boden unter sich fühlte und für gut fand, sich wieder auf eigene Füße
+zu stellen. Das Wasser strömte von seinen Seiten, als es dort in der
+Einsamkeit stand und sich verwundert nach seinen Kameraden umsah.
+
+Nach dem zweiten und dritten Kamel wurde das Tau so schlaff, daß es ins
+Wasser hing; es mußte mit den übrigen Laststricken verstärkt werden,
+so daß es doppelt wurde und straffer war. Mitten in dieser Arbeit riß
+das erste Seil, und wir konnten wieder von vorn anfangen. Meine Hände
+waren schon ganz abgeschürft. Tscherdon mußte die Überführung der drei
+übrigen Kamele besorgen; endlich hatten wir alle Tiere unversehrt
+drüben. Das letzte Schaf, das sich daran gewöhnt hatte, bei den Kamelen
+zu kampieren, schwamm von selbst hinüber.
+
+Schließlich wurde das Gepäck hinübergebracht; dann wurde das Lager auf
+dem rechten Ufer aufgeschlagen. Die Wassermenge dieses Flusses betrug
+47,5 Kubikmeter in der Sekunde. Es war der größte Fluß, den ich bisher
+in Nord- und Mitteltibet gesehen hatte. Verschiedene Wassertierchen
+wurden von der Strömung aus dem Süßwassersee mitgeführt, um, sobald
+die Salzmischung ihnen zu stark wird, einem sicheren Untergang
+entgegenzugehen.
+
+Ein Kamel und zwei Pferde hatten wundgescheuerte Stellen auf dem Rücken
+und trugen daher während der nächsten Tage kein Gepäck. Auch mein alter
+Wüstenschimmel bedurfte der Ruhe, und ich bestieg deshalb ein anderes
+Pferd. Gewöhnlich pflegte ich meine Reitpferde so zu dressieren, daß
+sie stillstanden, sobald ich eine Kompaßpeilung vornehmen wollte. In
+dieser Beziehung war das Wüstenpferd vorzüglich. Ich brauchte nur
+die Hand in die Kompaßtasche zu stecken, so stand es ohne weitere
+Aufforderung unbeweglich still.
+
+Wir zogen die aus lauter weichem Material, ohne Spur von festem Gestein
+bestehenden Hügel, welche die beiden großen Seen im Süden begrenzten,
+hinauf. Hier und dort wuchs an den Bächen vortreffliches Gras, das
+nebst Quellen und brennbaren Sträuchern zum Rasten aufforderte; aber
+die Tiere waren jetzt so ausgeruht, daß wir unseren Weg fortsetzten.
+Ein niedriger Kamm wird überschritten; südlich davon erscheint ein
+neuer See, der keinen sichtbaren Abfluß hat, aber doch süß ist.
+
+Zwischen den Hügeln im Südwesten des Sees grasten 18 Yake, und höher
+hinauf sah man eine Yakherde von über hundert Tieren, alten und jungen;
+der Boden erschien von ihnen ganz schwarz punktiert. Während wir sie
+beobachteten, wurde es sowohl im Westen wie im Osten dunkel, und das
+Rollen des Donners, das wie das Brüllen des Löwen ein tyrannisches
+Warnungssignal zum Aufpassen ist, verkündete, daß ein Sturm im Anzuge
+war. Der Hagelschauer schlug mit überwältigender Macht nieder, die Yake
+verschwanden im Nebel, und Aldat, der mit der Flinte auf der Schulter
+nach den Höhen auf der anderen Seite des Tales geeilt war, ebenfalls.
+Er wurde sich selbst überlassen, während wir längs des Sees weiterzogen
+und an einem einige Kilometer von seinem Südufer gelegenen Tümpel das
+Lager aufschlugen.
+
+Gegen 9 Uhr ertönten Rufe durch die Dunkelheit, und ein paar Leute
+wurden ausgeschickt, um Aldat entgegenzugehen, der ganz müde nach
+Hause kam und unter der Last eines großen Fleischstückes und eines
+Yakschwanzes keuchte. Er hatte geglaubt, daß wir am See bleiben
+würden, und deshalb Pelz und Flinte liegen lassen, um sie später zu
+holen. Sein Opfer war ein ziemlich großes Yakkalb, das beim ersten
+Schuß zusammengebrochen war. Die anderen Tiere hatten nicht die
+Flucht ergriffen, sondern sich nur ein wenig höher auf die Hügel
+hinaufbegeben. Aldat hätte leicht noch einige schießen können, hatte es
+aber für unnötig gehalten.
+
+Da der folgende Tag, ein Sonntag, zur Ruhe bestimmt wurde, begab er
+sich mit Kutschuk nach der Stelle, und beide holten eine ganze Ladung
+Fleisch, das eine unschätzbare Verstärkung unseres sehr kümmerlichen
+Proviants war. Tscherdon briet mir ein paar Schnitzel, die nicht
+schlecht waren; es war aber auch ein junges Tier mit zartem Fleisch.
+
+Am 27. August ritten wir direkt nach Süden. Auch an diesem Abend
+lagerten wir im Lager Nr. 35 am Ufer eines großen Salzsees, wo es in
+der Nachbarschaft eine Quelle gab und wo die Weide zu gut war, als daß
+wir hätten vorbeiziehen können (Abb. 136, 137, 138).
+
+Am 28. August wurden wir wieder von einem Labyrinth von Tümpeln,
+Seebuchten und Wasserläufen aufgehalten. Einer der letzteren war recht
+bedeutend und hatte eine starke Strömung. Mollah Schah versuchte es, an
+ein paar Stellen hinüberzukommen, aber das Wasser war zu tief.
+
+Jetzt standen wir von neuem da, von einem unüberschreitbaren Flusse
+gehemmt, und bereiteten uns gerade vor, an seinem linken Ufer
+hinaufzuziehen, um weiter aufwärts nach einer Furt zu suchen. Doch über
+uns lauerte ein anderer, wohlbekannter alter Feind. Obwohl Ostwind
+wehte, verfinsterte sich der westliche Horizont, und bleischwere
+Wolkenmassen wälzten sich über das Land wie eine Schlagwelle, die auf
+ihrem Wege alles zu begraben droht. Das Ganze glich einem riesenhaften
+Netzzuge oder einem Heere, dessen beide Flügel in gleichmäßigem
+Takt zum Angriff stürmten. Die Wolken des linken Flügels hatten
+dunkelrot gefärbte Ränder, die auf dem rechten waren rabenschwarz.
+Die alleräußersten Vorposten waren in die unglaublichsten, von einem
+dämonischen Sturm gejagten Gestalten zerrissen. Noch badet sich die
+Landschaft im Osten in Licht und Sonnenschein. Doch von Westen her
+schnürte sich das unheimliche Netz immer dichter um uns zu. Wir
+beschlossen also, schleunigst zu lagern, aber ja nicht zu nahe an dem
+Ufer dieses Flusses, der vielleicht von den heftigen Niederschlägen
+anschwellen würde. Wir halfen alle beim Aufrichten des Jurtengestelles
+und hatten gerade ein paar Filzdecken über die Dachlatten gezogen, als
+der Sturm über den Teil der Erdoberfläche, auf dem wir uns befanden,
+hinfuhr und die Hagelschauer an der Erde entlangfegten. Es schmerzt im
+Gesicht und an den Händen, als sei jedes Hagelkorn aus einem Blasrohr
+geschossen, und man läuft buchstäblich Spießruten, ehe man unter Dach
+kommt.
+
+Am anderen Morgen war das Wetter wenig angenehm. Im Norden hatten
+wir jetzt den letzten Salzsee und im Süden einen neuen See von
+achtunggebietenden Dimensionen. Von diesem strömt das Wasser, wie
+auch der von Westen kommende Fluß, nach dem ersteren hin. In seinem
+Unterlaufe erweitert sich der Fluß zu nicht unbedeutenden Becken. In
+ein solches ruderten wir aus Unkenntnis der Flußrichtung hinein und
+gerieten dort in eine Sackgasse. Auf dem innersten Ufer saßen ungefähr
+50 Gänse, die vermutlich auf ihrer Winterreise nach Indien hier Rast
+hielten. Alle flogen langsam und niedrig, außer einer, die auf dem
+Wasser liegenblieb und untertauchte, als wir an sie heranruderten.
+Wir verfolgten sie nahezu eine Stunde. Das Untertauchen dauerte immer
+kürzere Zeit, und als sie nur 10 Meter vom Boote auftauchte, begann
+ich, sie mit der einzigen vorhandenen Waffe, dem Ruder, zu harpunieren.
+Mehreremal wurde sie von dem Blatte gestreift und schließlich mit einem
+gutgezielten Schlage getötet, worauf sie gerupft wurde, um uns eine
+angenehme Abwechslung im Speisezettel zu bereiten.
+
+Nachher fanden wir die Mündung des Flusses in dem sehr breiten Arme,
+der vom Süßwassersee in den salzigen geht. Wir bestiegen am anderen
+Ufer einen Hügel und sahen uns dort beinahe auf allen Seiten von
+ansehnlichen Wasserflächen umgeben. Gerade nach Osten erstreckte sich
+die Landenge, auf deren äußerster Zunge wir uns befanden, im Norden
+dehnte der Salzsee seinen großen Wasserspiegel aus, und im Süden lag
+der neuentdeckte süße See. Die Mittelpartie dieser Landenge bestand aus
+einer kleineren Bergkette, an deren Südfuß es gute Weide und reichlich
+Wildbret zu geben schien. Ehe wir noch in dunkler Nacht nach dem Lager
+zurückkehrten, hatte ich schon den Plan zu einer besonderen Exkursion
+um diesen neuen See gefaßt.
+
+
+
+
+Dreißigstes Kapitel.
+
+Über stürmische Seen und himmelhohe Berge.
+
+
+Das Lager Nr. 36 am Flusse wurde jetzt zur Operationsbasis gewählt.
+Hier sollten Turdu Bai, Aldat und Nias mit allen Kamelen und vier
+müden Pferden zurückbleiben. Mich sollten Tscherdon, Mollah Schah
+und Kutschuk begleiten, und die Karawane aus dem Maulesel, sieben
+Pferden und den Hunden bestehen. Wir hatten Proviant für eine Woche
+und nahmen nur absolut notwendige Sachen, Filzdecken und Pelze mit.
+Meine Instrumente wurden in das Futteral des großen photographischen
+Apparates gepackt; in diesem von Seen überschwemmten Hochlande war auch
+das Boot unentbehrlich. Nur die Hälfte meiner Jurte wurde mitgenommen,
+d. h. die Holzgitter, die den unteren Teil ihres Gerüstes bilden. Das
+Gepäck war also leicht; es wurde zu Boot nach dem gegenüberliegenden
+Ufer gebracht. Die Pferde durchwateten den Fluß.
+
+Darauf wurde die Karawane beladen, und wir setzten uns in Marsch. Doch
+wir waren noch nicht weit gelangt, als uns der Sund zwischen den Seen
+Halt gebot; wir mußten wieder alles abpacken, das Gepäck hinüberrudern
+und die Pferde über den Sund schwimmen lassen. Endlich standen wir
+jedoch auf der Spitze der Enge und konnten im Ernst darauf losgehen,
+indem wir dem Nordufer des Süßwassersees folgten. Bald erreichten
+wir jedoch einen Teil desselben, wo die Berge steil ins Wasser
+abfielen, ja sogar überhingen, so daß wir zu einem Umweg über den Kamm
+gezwungen wurden. Dort hatten wir sowohl links wie rechts weitgedehnte
+Wasserflächen.
+
+An einem kleinen Bache wurde unsere sehr provisorische Jurte
+aufgeschlagen. Auf den Abhängen weidete 300 Schritt von uns entfernt
+eine Herde von elf großen schwarzen Yaken, die nicht die geringste
+Miene zur Flucht machten. Man konnte sich versucht fühlen zu glauben,
+daß sich Nomaden in der Gegend aufhielten und zahme Yake bei sich
+hätten. Doch als unsere Pferde auf die Weide geschickt wurden und
+allmählich nach den besseren Weideplätzen hinaufgingen, blähten die
+Yake ihre Nüstern auf, spähten aufmerksam nach unserer Richtung hin
+und bewegten sich dann in langsamem Trab über den Kamm nach dem Salzsee.
+
+[Illustration: 152. Blick nach Süden von Aldats Begräbnisplatz. (S.
+364.)]
+
+[Illustration: 153. Lager Nr. 60 in 5111 Meter Seehöhe. (S. 366.)]
+
+Meine Jurte war so eng, daß Tscherdon erst mein Bett zurechtmachen und
+dann die Gitter über dem Bett aufschlagen mußte. Ich mußte wie in eine
+Hundehütte hineinkriechen; sobald ich aber erst drinnen war, hatte ich
+es gut und warm, und Jolldasch half noch wärmen.
+
+Nachdem wir über Nacht es bei einer Temperatur von -5,2 Grad hatten
+aushalten müssen, erwachten wir am 31. August an einem wirklich
+herrlichen Sommertage ohne ein Wölkchen oder einen Windhauch. Der See
+lag wie ein Spiegel da. Ein Kulan kam heran und besah sich die Pferde
+so ungeniert, als wisse er ganz genau, daß Tscherdons Patronen schon
+lange zu Ende waren. Auf dem Südufer erhoben sich zwei blendendweiße
+Schneeberge ohne Spur von Wolkenkranz und spiegelten sich im See wider.
+Ein mehrstündiger Marsch am Ufer entlang führte uns nach dem Ende des
+Sees, aber dieser wurde nur durch eine mehrere hundert Meter breite
+Landenge von einem neuen getrennt, der sich weit nach Osten erstreckte
+und dessen nördlichem Ufer wir ebenfalls folgten.
+
+Eine Strecke weit gingen wir oben auf den Uferfelsen zirka 70 Meter
+über der Wasserfläche, einen Kulanpfad benutzend, der so dicht am Rande
+entlangführte, daß einem beinahe unheimlich zumute wurde. In dem tiefen
+Wasser sahen wir einen Schwarm ziemlich großer, schwarzrückiger Fische,
+die besonders Kutschuks lebhaftes Interesse erregten. Wir lagerten
+in der Nähe, weil wir versuchen wollten, einige von ihnen zu fangen.
+Jolldaschs Halsband lieferte Material zu Angelhaken, die in der Glut
+des Lagerfeuers eine entsprechende Gestalt erhielten. Für den Fall, daß
+es in der Gegend Wildgänse oder Enten geben sollte, wurde aus einer
+Holzlatte ein Bogen fabriziert. Wir lebten ungefähr wie Robinson Crusoe
+und mußten uns mit der dürftigen Ausrüstung, die uns gerade zu Gebote
+stand, weiterhelfen.
+
+Der Abend war kalt und windig, und die Aussichten auf den nächsten
+Tag waren wenig hoffnungsvoll. Meine Jurte stand fest wie ein Berg,
+und ich lag darin wie ein Begrabener, aber es war dort so eng, daß
+die Toilette mit gewissen Schwierigkeiten verbunden war. Am nächsten
+Morgen machte ich in aller Frühe einen Spaziergang nach den nächsten
+Hügeln in der Nachbarschaft und hatte von dort aus einen großartigen
+Überblick über dieses eigentümliche Gebiet, das reicher an Wasser als
+an Land ist. Der innerste Teil des Sees erstreckte sich keilförmig nach
+Nordosten. Er liegt 4848 Meter über dem Meere. Wir waren hier wieder
+in verhältnismäßig tiefere Gegenden gelangt, und doch befanden wir uns
+noch höher als der Gipfel des Montblanc!
+
+Unterdessen wurde das Boot ins Wasser gebracht und ausgerüstet, und
+nun ruderten wir dicht an die senkrechten roten Sandsteinfelsen heran,
+unter denen die Fische standen. Die Karawane zog um den See herum
+weiter, um an seinem Südufer gegenüber einem Berggipfel zu lagern (Abb.
+139, 140).
+
+Das Boot wurde ganz nahe am Ufer verankert. Die Blöcke der Bergwände
+schienen oft nur an einem Haar zu hängen; es war, als drohten sie
+herabzustürzen und uns zu zerschmettern.
+
+Als Angelruten wurden Zeltstangen benutzt, als Köder kleine Stücke
+Yakfleisch, und eine leere Zündholzschachtel diente in tadelloser Weise
+als Kork. Die Fische bissen gut an, aber die Ausbeute war doch gering.
+Nur vier mittelgroße Asmane blieben an unseren Angelhaken hängen.
+Wir angelten nicht zum Vergnügen, sondern der Nahrung wegen, der
+Fang reichte jedoch nur gerade zu einer Mahlzeit für uns. Wenn unser
+Mittagsessen an diesem Abend auch nur dürftig ausfiel, so war es dafür
+aber wenigstens außergewöhnlich und delikat.
+
+Während ich in Gedanken versunken saß und mich des Sonnenbades und der
+Ruhe erfreute, flogen die Stunden nur so hin, und es wurde Zeit, nach
+dem Sammelplatze zu steuern. Im Westen wurde es dunkel, und der Himmel
+überzog sich bald mit Wolken. Ein Sturm war im Anzug. Wir mußten uns
+entscheiden, ob wir ihn erst vorüberziehen lassen wollten, was sich
+nicht verlohnt hätte, da es schon 2 Uhr und die Karawane wahrscheinlich
+bereits am Vereinigungspunkte angelangt war, oder ob wir uns auf den
+See hinauswagen sollten; ich zog das letztere vor. Kutschuk brauchte
+nicht lange zu rudern, so kamen wir in den nordwestlichen Wind hinein,
+der uns großartig weiterhalf. Im Süden strichen schon blaugraue Wolken
+mit lang herunterhängenden, nachschleppenden Hagelfransen längs der
+Berge hin, die allmählich verschwanden, und hinter uns verdichtete sich
+die Luft auf dieselbe Weise. Der Sturm kam immer näher, der See ging
+immer höher, und um uns her waren die Wogen mit weißem Schaum bedeckt.
+
+Jetzt schlug die Hagelbö nieder, und die großen Körner prasselten
+auf das Wasser. Das Innere des Bootes wurde binnen wenigen Minuten
+kreideweiß. Nach allen Seiten hin war nichts weiter zu sehen als
+Wasser und Hagelwolken, keine Spur vom Ufer und von den Bergen. Wir
+mußten der Wellen wegen, die der anschwellende Wind zu bedeutender
+Höhe aufpeitschte, scharf aufpassen; da sie aber mehrere Male so
+lang waren wie das Boot, wurden wir gut mit ihnen fertig. Die Jolle
+wurde wacker nach Südosten getragen, und der Schaum spritzte um den
+Vordersteven. Unmittelbar südlich von den Felsen hatte die Tiefe
+48,67 Meter betragen, die größte von mir in Tibet gemessene, nach dem
+Südufer zu aber nahm sie schnell ab. Je weiter wir uns von diesen
+Felsen entfernten, desto mehr waren wir dem Sturme ausgesetzt, und ich
+fürchtete, daß der See so flach werden würde, daß unser Fahrzeug wie
+eine Nußschale von der Brandung umhergeworfen werden könnte.
+
+Nachdem der Hagelschauer aufgehört hatte, tobte der Wind noch ärger;
+aber jetzt konnten wir wenigstens sehen, wo das Land lag (Abb. 141,
+142). Wir hatten noch nicht den halben Weg zurückgelegt und steuerten
+nach einer Landspitze hin, hinter der wir im Windschutz sein würden.
+Die Wellen waren jetzt so hoch, daß wir das Ufer nicht sehen konnten,
+wenn wir uns in ihren Tälern befanden. Sie sahen unheimlich aus
+und waren, wenn die Sonne aus den Sturmwolken hervortrat, blank
+wie Delphinrücken und glänzten bald grün, bald blau, während die
+Sonnenstrahlen den spritzenden Schaum wie Juwelen funkeln ließen. Der
+Segeltuchrumpf der Jolle bauchte sich bei dem Stampfen aus; er war so
+gespannt, daß ein heftiger Seitenstoß ihn hätte sprengen können, und
+wir mußten das Boot jetzt mit beiden Rudern manövrieren und die Stöße
+parieren. Doch auch diesmal lief alles glücklich ab. Der Sturm ging
+vorüber, der Wind legte sich, die Einzelheiten des Ufers ließen sich
+erkennen, und wir änderten den Kurs, indem wir ihn jetzt gerade auf das
+Lager richteten. Der Sonnenuntergang war prachtvoll. Die Sonne selbst
+versteckte sich hinter einer kohlschwarzen Wolke, ihre reflektierten
+Strahlen aber glänzten wie Quecksilber auf der Oberfläche des Sees.
+
+Wir hatten uns jetzt so weit von Turdu Bais Lager entfernt, daß wir
+an den Rückzug denken mußten. Nach meinem Besteck konnten wir nicht
+mehr weit von den Quellen des Jang-tse-kiang sein, und ich hatte
+den Gedanken an einen Versuch, sie zu finden, noch nicht gänzlich
+aufgegeben. Daß die drei großen Seen, die wir in dieser Gegend entdeckt
+hatten, mit ihnen nichts zu schaffen haben, war klar; diese Seen
+bilden ein abflußloses Becken für sich. Ganz sicher war ich meiner
+Sache jedoch noch nicht und ich beschloß daher, den 2. September einer
+Exkursion nach Süden zu opfern. Diese führten uns über wellenförmige
+Ebenen mit spärlichem Graswuchs und morastigem Boden, und nach einer
+Wanderung von 27 Kilometer machten wir am Ufer eines Flusses Halt,
+der sich in den nächsten See, einen südöstlich von den vorhergehenden
+liegenden kleinen Salztümpel, ergießt.
+
+Weiter konnten wir mit unseren abgetriebenen Pferden und unseren
+zusammenschmelzenden Vorräten nicht gehen, sondern mußten am folgenden
+Tage wieder nach Westen ziehen, wobei wir in dem tückischen Boden
+beinahe steckengeblieben wären. Die Pferde sanken bisweilen 60
+Zentimeter tief ein. Ein mächtiger, von den Bergen im Süden kommender
+Fluß strömte nach Norden, nach dem von uns übersegelten See hin; sein
+Bett bot uns guten, festen Boden zum Reiten dar.
+
+Diese Gegend ist außerordentlich reich an Wild. Von Orongoantilopen
+sahen wir ein halbes Dutzend Herden von etwa je 20 Tieren; Yake und
+Kulane traten einzeln oder in kleinen Gruppen von ein paar Tieren auf;
+Feldmäuse, Murmeltiere und Hasen gab es überall, und am Seeufer schrien
+Gänse und Möwen. Die Karawane ritt in zwei Gruppen, zwischen denen
+eine Lücke von 50 Meter war. Gerade durch diese Lücke jagte Jolldasch
+drei Kulane, die in schmetterndem Trab vorbeisausten. Kaum war ich mit
+meinem kleinen photographischen Apparate in Ordnung, so waren sie schon
+fort. Eine Weile darauf verschwand der Hund, einer Orongoherde auf den
+Fersen folgend, und als er nach langer Abwesenheit wieder erschien, war
+er mit Blut befleckt und augenscheinlich übersatt. Es war ihm gewiß
+gelungen, eine der Antilopen zu erwischen, und er hatte an ihr eine
+ordentliche Mahlzeit gehalten. Auch Wölfe und Füchse streiften auf den
+Ebenen, die sich im Süden des Sees ausdehnen, umher.
+
+Es war meine Absicht gewesen, am Tage darauf nach Norden über den See
+zu rudern, um eine neue Lotungslinie zu erhalten, aber wir erwachten
+unter höchst ungewöhnlichen Witterungsverhältnissen. Der Himmel war
+ganz klar, die Sonne schien in all ihrem Glanze, dabei aber wehte ein
+halber Sturm aus Norden, und die Wogen rauschten gegen das langsam
+abfallende Ufer. Aus einer Seefahrt konnte demnach nichts werden. Wir
+ritten daher westwärts weiter, immer am Ufer entlang, das hier so weich
+ist wie ein großes Moorbad, ein Schlammpfuhl, ein abscheulicher Sumpf,
+worin man bei jedem Schritt Gefahr läuft zu versinken. Ein seltsames,
+unwirtliches Land! Sogar die Erde scheint gleich der Luft verdünnt zu
+sein, ja selbst die Berge sind porös wie Bimsstein. Alles ist in einer
+Art Auflösungszustand; auf das Wetter ist hier gar kein Verlaß, und es
+ist lebensgefährlich, sich den Seen anzuvertrauen.
+
+An einigen Stellen trägt der Boden, geht aber in Wogen und schwankt
+unter dem Gewichte der Pferde. Endlich nimmt der See ein Ende,
+und sein Wasser ergießt sich durch einen breiten, ziemlich großen
+Flußarm in den unteren süßen See. Hier hatten sich Hunderte von
+Wildgänsen niedergelassen, die in kurzen Kreisen ihre neugefiederten
+Flügel erprobten und sich zu der bevorstehenden Reise nach wärmeren
+Himmelstrichen vorbereiteten. Ein einsamer Königsadler beobachtete sie.
+
+In der Nähe des Punktes, wo der Fluß in den unteren See mündet, wurde
+das Lager Nr. 62 aufgeschlagen. Von hier aus konnten wir von dem
+Hauptquartiere, wo Turdu Bai wartete, nicht mehr als eine Tagereise
+längs des südlichen Seeufers entfernt sein. Während Mollah Schah und
+Tscherdon zu Land weiterzogen, fuhr ich mit meinem sicheren Ruderer
+Kutschuk diagonal über den See. Ich trat die Fahrt im herrlichsten
+Wetter bei günstigem östlichem Winde an. Der Wind wurde stärker, schlug
+nach einer Weile aber wieder um. Die gewöhnlichen Vorboten des Sturmes,
+die schwarzen Wolken, verdunkelten den Himmel im Westen. Sie teilten
+sich in zwei Abteilungen. Die eine zog über die Berge im Süden hin und
+ließ eine weiße Schneedecke hinter sich zurück, die andere eilte uns
+über den See entgegen. Wieder erhoben sich die unruhigen Wellen, denen
+hier nie Ruhe gegönnt ist. Das Klügste wäre gewesen, mit dem Sturme zu
+treiben; aber dann hätten wir uns von den Unseren entfernt, die uns vom
+Nordufer, von welchem sie der breite Sund trennte, nicht hätten abholen
+können.
+
+Wir beschlossen, mit Aufbietung aller unserer Kräfte gegen Wind und
+Wellen anzurudern. Schon stampfte das Boot greulich, und ich, der vorn
+saß, nahm das Spritzwasser jeder hohen Welle in Empfang und war bald
+klatschnaß (Abb. 143). Ein Gußregen tat das Seine, um die Situation
+noch unbehaglicher zu machen. Wir arbeiteten mit je einem Ruder, daß
+diese knackten, aber die Wellen warfen uns immer wieder zurück. Das
+Boot schwebt auf einem Wogenkamme oft zur Hälfte über dem Wasser und
+plumpst dann in das Tal mit einem Knalle hinunter, der leicht ein
+Sprengen des schwachen Fahrzeuges verursachen könnte.
+
+Jetzt trat ein neuer, unheilvoller Umschlag in der Windrichtung ein;
+der Wind sprang mit ungeheurer Geschwindigkeit nach Süden um, so daß
+ein neues Wogensystem, welches das bisherige kreuzte, entstand. An
+den Kreuzungspunkten bilden sich Wellenpyramiden von doppelter Höhe.
+Es gilt ihnen entgegenzutreten, sie zu parieren und möglichst auf
+den verhältnismäßig ebenen Wasserflächen zwischen ihnen zu bleiben.
+Doch ehe man sich besinnen kann, wird die Jolle auf einen Wellenkamm
+gehoben, und balanciert man dann nicht, so kann man leicht kentern.
+Lotungen konnten nicht mehr vorgenommen werden. Man darf sich freuen,
+wenn man von diesem Abenteuer mit dem Leben davonkommt, und wir fragen
+uns unwillkürlich, ob diese oder die nächste Welle unser Boot umreißen
+wird.
+
+So arbeiteten wir anderthalb Stunden, ehe sich die Sturmbö und mit ihr
+auch die Wellen legten. Doch der Himmel sah noch immer unheilverkündend
+aus. Überall sah man Sturmzentren, die Tromben mit schwarzen, hängenden
+Wolkendraperien glichen. Das Ufer schien noch immer gleichweit
+entfernt, als die zweite Bö kam und uns mit Massen von Schnee und
+Hagelkörnern, die uns gerade ins Gesicht schlugen, überschüttete. Man
+mußte den Kampf aufnehmen, denn ein unvorsichtiger Augenblick des
+Erschlaffens konnte bewirken, daß eine Welle die Gelegenheit benutzte
+und das Boot umkehrte. Den ganzen Tag arbeiten wir wie Galeerensklaven.
+
+Während der Pause, die jetzt eintrat, beeilten wir uns Terrain zu
+gewinnen, denn der Himmel verfinsterte sich zum dritten Male, und die
+dritte Sturmbö sauste mit strömendem Regen auf uns los. War das Innere
+des Bootes vorher kreideweiß von Schnee und Hagel gewesen, so stand
+jetzt in beiden Hälften Wasser, das mit den Wellen im Takte plätscherte.
+
+Nach achtstündiger angestrengter Arbeit erreichten wir endlich das
+Ufer; es war ein schönes Gefühl, wieder festen Boden unter den Füßen
+zu haben. Von einem Hügel sah ich Mollah Schah, der uns an einer
+Landspitze mit vier Pferden erwartete. Wir steuerten dorthin und
+hielten zur Messung der Wassermengen in dem Sunde an, den wir vor einer
+Woche passiert hatten. Die Breite und die Tiefen wurden gemessen, aber
+nur drei Geschwindigkeiten konnten bestimmt werden, als die vierte
+Sturmbö kam. Obgleich die Sonne noch über dem Horizont stand, wurde
+es so dunkel wie bei Nacht, und nur zackige Blitze erhellten das
+unheimliche Chaos. Nur mit Aufbietung der äußersten Kräfte konnten wir
+über den 60 Meter breiten Sund hinüberkommen. Es war ein gründlicher
+Abschiedsgruß des entfliehenden Sturmtages. Wir hatten wirklich genug
+davon. Segel, Mast, Ruder und Rettungsbojen wurden am Ufer unter das
+umgekehrte Boot gelegt, ich verteilte die Instrumente unter uns, dann
+stiegen wir zu Pferd und trabten langsam nach Hause.
+
+Das Reiten war gar zu schön nach all der anstrengenden Ruderarbeit.
+Jetzt glänzte der Mond zwischen zerrissenen Wolken hervor, und sein
+Licht vermischte sich in phantastischer Weise mit den zuckenden
+Blitzen, die einander unaufhörlich ablösten.
+
+Ganz erschöpft kamen wir endlich in unseren kalten Hütten an, wo alles
+gut stand. Aldat hatte vier Orongoantilopen geschossen; wir hatten
+daher Proviant für ein paar Wochen. Die Kamele und die abgetriebenen
+Pferde waren fetter geworden und hatten sich ausruhen können. Doch der
+Sturm jagte noch immer über die Erde hin, als wir uns in Morpheus’ Arme
+warfen.
+
+Der 6. September, an dem wir im Hauptquartier verweilten, hatte beinahe
+den Charakter eines Winterabends. Kein Schimmer war von der Sonne zu
+sehen, und die Hagelschauer folgten dicht aufeinander. Ich beschäftigte
+mich mit den Ergebnissen der Exkursion, Tscherdon und Kutschuk gingen
+auf ziemlich erfolgreichen Fischfang aus, und die anderen präparierten
+Orongoskelette. Eine der vier Antilopen hatte, schwer verwundet, die
+Flucht ergriffen und Aldat hatte sie verloren gegeben, Turdu Bai aber
+verfolgte die Spur und fand das Tier tot an einem Tümpel liegen,
+bewacht von einem Adler, der schon ein paarmal in die von der Kugel
+verursachte Wunde gehackt hatte. Er wurde jetzt eine leichte Beute.
+
+Vielleicht erwähne ich in dieser Reisebeschreibung viel zu oft solcher
+Dinge und Verhältnisse, die dem Leser als reine Bagatellen erscheinen
+mögen; es geschieht jedoch, um ihm einen Begriff zu geben von dem
+Leben, das der einsame Wanderer in diesen öden, unbewohnten Gegenden
+führt. Aneinandergereiht können sie ein vollständiges Bild liefern von
+dem Verlaufe der Tage durch Monate und Jahre hindurch in dem kleinen
+Gemeinwesen, das unsere Welt ausmachte. Letztere ist nicht groß und sie
+lebt unter einförmigen Verhältnissen; dieselben Beschäftigungen kehren
+regelmäßig mit dem Glockenschlage wieder, und nur das Land, das wir
+durchwandern, hält mit seinen beständigen Veränderungen das Interesse
+wach.
+
+Mit der Wahl meiner Diener hatte ich allen Grund zufrieden zu sein.
+Turdu Bai sorgt mit stoischer Ruhe für die Kamele, als wären es seine
+eigenen Kinder. Tscherdon ist ordentlich, pünktlich und aufgeweckt
+und überdies ein sehr komischer Geselle mit seiner eigenen kleinen
+Philosophie. Mollah Schah pflegt die Pferde tadellos, ist aber ein
+bißchen wortkarg, brummig und verschlossen. Während des Marsches wird
+die halbe Pferdekarawane von Kutschuk geführt, der, wenig über zwanzig
+Jahre alt, ein Riese ist, stets heiter und zufrieden, besonders wenn er
+auf dem Wasser sein kann, denn seit seiner Kindheit hat er die Ruder
+geführt. Ohne Aldat wäre unsere Lage jetzt recht besorgniserregend
+gewesen. Er hat uns mit frischem Fleische versorgt und läuft stets
+hinter Wildbret her. Sowohl im Lager wie auf dem Marsche mag er am
+liebsten allein sein, und er redet nur wenig. Nias verrichtet die
+gröberen Arbeiten, trägt Wasser, wenn wir lagern, sammelt Feuerung,
+treibt morgens die Tiere ein und hilft beim Beladen.
+
+Am besten haben es die Hunde; sie erhalten frisches Fleisch im Überfluß
+und haben weiter nichts zu tun, als Wache zu halten; bellen sie einmal
+des Nachts, so gilt es nur Yaken, Kulanen oder unseren eigenen Tieren.
+Sie spielen mit dem letzten Schafe, das zu schlachten keiner übers Herz
+bringen kann; treu zu den Kamelen haltend, weidet es mit ihnen und ruht
+nachts zwischen ihren wärmenden Leibern.
+
+Das Lager Nr. 43 wurde ein Wendepunkt. Weiter südlich konnten wir
+nicht gehen, da unsere Vorräte nur für 2½ Monate berechnet und wir
+schon 1½ Monate unterwegs waren. Reis hatten wir noch genug, aber
+mit dem Mehl mußte mit der größten Sparsamkeit umgegangen werden. Es
+war davon zuviel draufgegangen, als wir versuchten, das Kamel, welches
+starb, zu retten. Der Winter würde nicht lange auf sich warten lassen,
+und wir mußten daher in einem großen westnordöstlichen Bogen nach dem
+Hauptlager im Tschimentale eilen.
+
+Ich wollte, bevor wir diesen Teil von Tibet verließen, noch eine der
+latitudinalen Bergketten, die in einem im Südwesten sich erhebenden
+gewaltigen Bergmassiv mit ewigem Schnee kulminierte, überschreiten.
+Im Lager Nr. 44 (4888 Meter) beschlossen wir also, die Karawane zu
+teilen. Turdu Bai sollte mit dem größeren Teile nach Westsüdwest
+durch das sich in dieser Richtung öffnende Längental ziehen. Er
+hatte Befehl, uns auf offenem Lande unmittelbar nordwestlich von dem
+Bergmassive, um dessen Südseite ich herumgehen wollte, zu erwarten.
+An dieser Exkursion, deren mutmaßliche Dauer auf vier Tage berechnet
+war, sollten Tscherdon und Aldat teilnehmen. Wir hatten nur sechs
+Pferde, die kleinen provisorischen Jurten, Proviant für eine Woche
+und Feuerung für zwei Tage. Ich würde mich mittelst meines Besteckes
+und des Kompasses schon zurechtfinden, aber von dem Gesichtspunkte
+aus, daß sich die Muselmänner verirren konnten, war das Ganze doch
+etwas abenteuerlich. Indessen mußten die Spuren der einen Gesellschaft
+doch immer der anderen als Leitschnur dienen, und gab es in der zum
+Sammelplatze ausersehenen Gegend gar keine Spuren, so sollte die zuerst
+angelangte Gesellschaft dort warten. Für den Fall aber, daß alle
+Spuren durch Schnee oder Regen bald verwischt werden würden, sollte
+Turdu Bai, wenn wir nach einer Woche noch nichts von uns hören ließen,
+alle Nachforschungen aufgeben und sich nach Norden nach dem großen
+Hauptquartiere durchzuschlagen suchen. Ihr Proviant reichte im Notfalle
+aus, und was uns betraf, so würde uns Aldat wohl mit Fleisch versorgen
+können.
+
+Am 8. September brachen die beiden Abteilungen gleichzeitig aus dem
+Lager Nr. 44 auf. Nachdem wir den Fluß, der vor einigen Tagen unseren
+Marsch nach Süden gehemmt hatte, in seinem oberen Laufe überschritten
+hatten, gingen unsere Wege auseinander. Wir eilten nach Südsüdwesten.
+Nach einem mehrstündigen schnellen Ritt gelangten wir an eine
+Hügelreihe, der Quellen entsprangen, die kleine Becken kristallhellen
+Wassers bildeten und von niedrigem, dichtem, intensiv grünem Grase von
+der Weichheit eines indischen Rasens umgeben waren. Da nach Süden hin
+keine Weide zu erblicken war und wir in der Nähe der Quellen reichliche
+Feuerung fanden, weil Yake und Kulane sie zu besuchen pflegten, blieben
+wir dort in einer Meereshöhe von 4973 Meter.
+
+Während des Rittes hatten wir Gesellschaft von ein paar großen, ganz
+hellgelben Wölfen, die uns mit gespannter Aufmerksamkeit beobachteten.
+Jolldasch, der sie in die Flucht jagen wollte, mußte an die Leine
+genommen werden; er wäre ihnen ein willkommener Bissen gewesen. Das
+Wetter war natürlich abscheulich. Es war der achtzehnte Tag mit Schnee-
+und Hagelsturm aus Westen; die Nacht aber war wie gewöhnlich windstill
+und sternklar.
+
+[Illustration: 154. Unser Lager in Togri-sai am 8. Oktober. (S. 370.)]
+
+[Illustration: 155. Die Kamelkarawane. (S. 372.)]
+
+[Illustration: 156. Das Illwe-tschimen-Gebirge aus dem Tschimental. (S.
+374.)]
+
+[Illustration: 157. Obo beim Lager Nr. 71 im untern Togri-sai. (S.
+373.)]
+
+Auch am 9. ritten wir bei starkem Wind nach Südwesten. Es geht bergauf
+und bergab über eine Menge Hügel. Wir nähern uns immer höheren
+Regionen. Ein aus lauter Moor bestehender Ausläufer mußte umgangen
+werden, bevor wir wieder nach Westen abschwenkten und das Schneemassiv
+vor uns hatten. Steifgefroren und abgespannt lagerten wir auf dem
+letzten Grasplatz.
+
+Als das Lager fertig war, meldete Aldat, daß ein großer Yak in der
+Nähe weide, und bat, auf die Jagd gehen zu dürfen, was erlaubt wurde.
+Ich beobachtete ihn, wie er katzengleich in den Bodensenkungen
+hinschlich, um auf genügende Treffweite an das nichts Böses ahnende
+Tier heranzukommen. Er hatte dem starken Gegenwinde zu danken, daß er
+sich dem Yak bis auf 30 Schritt nähern und die Flinte auf die Gabel
+legen konnte. Der Schuß krachte, und der Yak machte einen Satz, daß
+der Sand hoch aufwirbelte, lief dann noch ein paar Schritte, blieb
+stehen, taumelte, versuchte sich im Gleichgewicht zu halten, fiel,
+stand wieder auf und wiederholte diese Bewegungen mehrere Male, bis er
+schließlich wie ein Klotz auf die Erde fiel und liegenblieb. Aldat lag
+noch, unbeweglich wie eine Statue, hinter seiner Flinte, um nicht die
+Aufmerksamkeit des sterbenden Tieres zu erwecken.
+
+Tscherdon und ich begaben uns nun dorthin. Alle drei bis vier Schritte
+bleibt man stehen und hat das Gefühl, als müsse man in dieser ungeheuer
+verdünnten Luft von der Anstrengung sofort einen Herzschlag bekommen.
+Der gefallene Yak war ein großer fünfzehnjähriger Stier. Die Messer
+wurden hervorgeholt, der Kopf vom Rumpfe getrennt und die Eingeweide
+herausgenommen; dann blieb das Tier bis zum nächsten Morgen liegen, da
+das uns besonders nötige Fett erst dann geholt werden sollte. Betrübten
+Herzens mußte Aldat das prächtige Fell zurücklassen, das ihm in
+Tschertschen eine hübsche Summe eingebracht hätte, aber wir hatten nur
+drei Lastpferde, und ich versprach ihm, seinen Meisterschuß zum vollen
+Werte zu bezahlen.
+
+Der 10. September war ein harter Tag. Vor Sonnenaufgang trieb Aldat die
+Pferde ein, die sich bis weit ins Tal hinunter verirrt hatten; dann
+ging er wieder fort, um das Fett und den Yakkopf in das Lager zu holen.
+Der Westwind, unser schlimmster Feind, verschlief sich und stellte
+sich erst um 9 Uhr ein; er entschädigte sich aber für den Zeitverlust,
+denn so arg hatte er selten getobt. Das Lager lag auch sehr offen und
+in einer Höhe von 5143 Meter, so daß der Wind in den hohen Regionen
+freien Spielraum hatte. Im Westen zeigte sich der auf der Südseite des
+Schneegebirgsstockes liegende Paß, über den wir hinüber sollten. Man
+bebte zurück vor dieser unheimlichen Schwelle, deren Höhe bedeutend
+sein mußte. Gefährlich sah der Paß jedoch nicht aus.
+
+Da Aldat noch immer nicht kam, schickte ich Tscherdon aus, um tragen
+zu helfen. Erst um 11 Uhr kehrten sie zurück. Tscherdon hatte den
+jungen Jäger krank neben seinem Opfer liegend gefunden, außerstande,
+seine Arbeit fortzusetzen. Der Kosak half ihm nach dem Lager zurück und
+brachte einen Teil des Yakfettes mit. Der arme Jäger sah wirklich sehr
+angegriffen aus und hatte heftiges Kopfweh und Nasenbluten. Er mußte
+sich ruhig verhalten, während ich und Tscherdon das Zelt abbrachen und
+unsere Tiere beluden.
+
+Die Erde war bei -6 Grad Kälte gefroren; in der vorhergehenden Nacht
+hatten wir sogar -10,7 Grad gehabt; dies waren deutliche Anzeichen des
+Winters. Aldat war so schwach, daß er ohne Hilfe nicht in den Sattel
+kommen konnte; schließlich aber waren wir mit allem in Ordnung und
+konnten uns auf den Weg nach dem abscheulichen Passe machen. Rechts
+von uns defilierten alle bisher aus der Ferne erblickten Schneegipfel
+vorbei, jetzt aber in unserer unmittelbaren Nähe. Als die Sonne
+kräftiger wurde, taute der Boden wieder auf, und wir mußten mühsam
+durch den Schlamm patschen. Stundenlang ging es bergauf; wir glaubten
+unaufhörlich, den Paß dicht vor uns zu haben, aber immer wieder war er
+in die Ferne gerückt. Neue Höhen, neue kleine Schwellen erheben sich
+vor uns; wir überschreiten sie und müssen dann sehen, daß die Aussicht
+nach Westen schon wieder von einer neuen Höhe verdeckt wird.
+
+Die Pferde sinken in den Schlamm ein. Der lockere Boden ist mit
+Schieferplatten bedeckt; die armen Tiere gleiten auf ihnen aus,
+geraten in den Schlamm daneben und verletzen sich die Beine an den
+scharfen Kanten. Im Schutze eines großen Felsblockes rasten wir eine
+Viertelstunde, um unsere steifgewordenen Glieder wieder geschmeidig
+zu machen. Etwa 10-20 Meter nördlich von unserem Wege enden zwei
+scharfabgeschnittene Gletscherzungen. An ihnen entlang gingen ebenso
+langsam wie wir zwei Yake. Jolldasch lief hin und bellte sich heiser,
+aber sie schenkten ihm nicht die geringste Aufmerksamkeit. Manchmal
+blieben sie stehen und betrachteten uns, hielten uns aber sichtlich für
+ungefährlich. Diese großen Tiere bewegten sich auf diesem Moorboden und
+in dieser dünnen Luft mit beneidenswerter Leichtigkeit und Gewandtheit.
+Auf dem Passe zeigten die Aneroide eine Höhe von 5426 Meter; man hat
+dort genau die halbe Höhe der Atmosphäre unter sich!
+
+Das Thermometer stieg an diesem Tage nicht einen halben Grad über Null,
+und der Wind drang uns durch Mark und Bein; Pelze und Lederwesten
+nützten gar nichts. Könnte man gehen, so wäre es leicht, die
+Körperwärme wieder zu erhalten, aber man kann nicht gehen, man hockt
+auf den vorwärtstaumelnden Pferden und sehnt sich nach einem leidlichen
+Lagerplatze. Der einzige Trost, den wir hatten, war, daß es wieder
+bergab ging, nachdem wir den Paß endlich erreicht hatten. In einer Höhe
+von 5263 Meter, 450 Meter über dem Gipfel des Montblanc, lagerten wir
+in einem vom Passe nach Südwest führenden Tale. Dort wuchsen einige
+erbärmliche Grashalme, und wir hatten nur noch eine Handvoll Feuerung.
+Aldat konnte nicht auf den Beinen stehen; er mußte an der Stelle, wo
+er vom Pferde heruntersank, bleiben und wurde sofort in Filzdecken
+eingepackt; wir konnten ihn nicht einmal dazu bewegen, ein wenig heißen
+Tee zu trinken, und er stöhnte die ganze Nacht.
+
+Am folgenden Morgen erschien im Südwesten ein neues Schneemassiv und in
+seiner Südostverlängerung ein ganzer Kamm von schneebedeckten Bergen,
+gewiß die +Tang-la-Kette+. Von Osten nach Westen erstreckt sich
+ein Haupttal, in welches alle Flüsse und Bäche der Gegend einmünden.
+Um nicht alle ihre Täler überschreiten zu müssen, beschlossen wir,
+in dieses Längental hinunterzugehen. In der Nähe des Bergfußes erhob
+sich ein kleiner isolierter Hügel, auf dem Tscherdons scharfe Augen
+einige dunkle Punkte entdeckten, die er für Menschen oder Yake hielt.
+Wir machten Halt und beobachteten sie mit dem Fernglase. Etwas war es,
+denn sie bewegten sich, aber der eine Punkt schien unförmlich groß;
+vielleicht war es eine Yakkuh mit ihren Kälbern.
+
+Angeregt von diesem Anblick schlugen wir die Richtung nach dem Hügel
+ein. Der arme Aldat befand sich jetzt so schlecht, daß er festgebunden
+werden mußte, um nicht herunterzufallen. Er redete unzusammenhängende
+Worte, schien zu phantasieren und bat unaufhörlich, wir sollten ihn
+zurücklassen. Als wir weiter unten am Abhange waren, konnten wir in den
+schwarzen Punkten zwei Männer erkennen, die Steine zu einer Pyramide
+sammelten. Noch ein bißchen weiter und wir sahen, daß die beiden Männer
+unsere Freunde Turdu Bai und Kutschuk waren, die sich am Abend vorher
+hierher begeben hatten, um nach uns auszuspähen. Da sie keine Spuren
+von uns hatten finden können, hatten sie beschlossen, in ihr Lager
+zurückzukehren, vorher aber noch ein Wahrzeichen für uns zu errichten.
+Für eine künftige Expedition wird die Pyramide, die über zwei Meter
+hoch ist, ein gutes Merkmal und ein leicht wiederzuerkennendes Zeichen
+sein.
+
+Nach einem sehr notwendigen Ruhetage im Lager Nr. 48 (5073 Meter) zogen
+wir am 13. September nach Westen weiter (Abb. 144). Es war nicht unsere
+Absicht, einen Kranken den Strapazen der Reise auszusetzen, aber unsere
+knappen Vorräte erlaubten uns nicht, noch länger zu verweilen. Aldat
+hatte die ganze Nacht phantasiert, gestöhnt und Lieder in persischer
+Sprache gesungen. Die Behandlung, die ich für geeignet gehalten hatte,
+wirkte nicht. Er hatte die Herrschaft über seinen Körper und seinen
+Geist verloren, verfiel sichtlich und starrte mit wirrem Blicke ins
+Leere. Während des Marsches lag er auf einem Bett, das ihm auf einem
+Kamel zwischen ein paar Säcken zurechtgemacht worden war. Er hatte ein
+Kopfkissen, war mit Filzdecken zugedeckt und mußte festgebunden werden,
+um nicht herunterzugleiten (Abb. 145).
+
+In dem Längentale gingen wir über eine niedrige Schwelle (5107 Meter)
+und folgten dann einem Bett, dessen Boden aus Sand bestand; es war ein
+vortrefflicher Untergrund, der die Tiere trug. Vor uns ging in aller
+Gemächlichkeit ein Yakstier, dessen schwarzer Fransenbehang die Erde
+berührte und der wie ein mit einer Trauerdecke versehenes Turnierroß
+aussah. Jolldasch lief ihm nach und zupfte ihn an den hinteren Zotteln.
+Der Yak drehte sich um, richtete den Schwanz in die Höhe und senkte
+die Hörner zum Angriff, worauf Jolldasch auskniff, um das Spiel nach
+einer Weile wiederzubeginnen. Eine Herde von 20 Archaris oder wilden
+Schafen verschwand wie der Wind, als Tscherdon mit Aldats Flinte sie zu
+beschleichen versuchte.
+
+Das Tal, dem wir gefolgt waren, mündete in eine Ebene, in der wir an
+dem ersten Süßwassertümpel (4903 Meter) lagerten.
+
+Von nun an wurde meine Jurte sowohl abends wie morgens geheizt. Der
+Deckel des großen Eisentopfes oder, wenn dieser gebraucht wurde, meine
+Waschschüssel wurde mit glühenden Kohlen auf einem Bett von Asche
+in die Jurte gestellt; dies war bei dem ewigen Winde, der über das
+Hochland hinstrich, wirklich notwendig.
+
+Am 14. September konnten wir infolge des vorteilhaften, wenig kupierten
+Terrains volle 30 Kilometer zurücklegen. Die Landschaft wird durch
+zahllose kleine Salztümpel charakterisiert, von denen jeder das Zentrum
+eines ganz kleinen abflußlosen, sehr oft auch keinen sichtbaren Zufluß
+erhaltenden Beckens bildet. Wir suchten lange nach süßem Wasser
+und blieben bei einer kleinen Quelle, die mit spärlichem Graswuchs
+umgeben war. Das Wetter war zu Anfang des Tages herrlich gewesen,
+nachmittags aber kamen die gewöhnlichen Stürme, jetzt der Abwechslung
+halber von Osten. Es hagelte und gewitterte. Gerade als wir lagerten
+(4890 Meter), begann ein ärgeres Schneetreiben, als wir es je erlebt
+hatten. Das kurze Gras war bald unter dem Schnee begraben. Auf der
+Windseite meiner Jurte türmte sich eine ganze Düne von Schnee auf. Es
+war nicht leicht, um 9 Uhr die gewöhnliche meteorologische Ablesung
+auszuführen, denn es war so dunkel wie in einem Sacke, und man wurde in
+kompakte Wolken von wirbelndem Schnee gehüllt. Die Ablesungslaterne
+ist invalid geworden, denn drei ihrer Glasscheiben sind durch Pappe
+ersetzt, und die vierte ist in zwanzig Stücke zersprungen, die durch
+Papierstreifen und Syndetikon zusammengehalten werden. Der Schnee
+knirscht unter unseren Füßen, und man braucht sich nur ein paar Minuten
+im Freien aufzuhalten, um einem Schneemanne zu gleichen. Das Zelt der
+Leute schlägt und knallt im Winde; ich kann daraus entnehmen, wo es
+steht, denn obwohl es nur ein paar Meter entfernt ist, kann ich es im
+Schneegestöber nicht sehen. Man kann sich indessen noch freuen, daß
+man sich bei solchem Wetter unter Dach befindet, während die armen
+Tiere müde und frierend, die Schwänze gegen den Wind gekehrt, draußen
+stehen müssen. Es ist unheimlich in einem Lande, das nichts weiter als
+Wasser bietet, eingeschneit zu werden. Die Aussichten für die Zukunft
+sind auch nicht gut; all dieser Schnee kann schmelzen und den Boden in
+einen Schlammpfuhl verwandeln. Schon um 9 Uhr abends war die Temperatur
+auf -2,1 Grad heruntergegangen, nachdem wir um 1 Uhr +11 Grad gehabt
+hatten. Wir waren jetzt jedoch so von Schnee umgeben, daß sowohl das
+Zelt wie die Jurte die Nacht über warm gehalten wurden.
+
+Die Stimmung wurde durch den Zustand des armen Aldat noch gedrückter.
+Er war von einer schweren Krankheit befallen, auf die ich mich nicht
+verstand. Er klagte über Schmerzen im Herzen und im Kopfe, und seine
+Füße waren kalt und hart wie Eis und sahen schwarz aus. Ich rieb sie
+tüchtig, um das Blut in Umlauf zu bringen, aber ohne Erfolg. Sie waren
+wie tot, und man konnte mit einer Stecknadel hineinstechen, ohne daß
+er es fühlte. Dieser Zustand schritt nach und nach immer höher an
+den Beinen hinauf. Spät am Abend gab ich ihm ein warmes Fußbad, das
+ihm gut zu bekommen schien. Merkwürdig kam es uns jedoch vor, daß er
+sozusagen verrückt geworden war. Während der Märsche schwatzte er
+ununterbrochen und rief seinem Kamele zu, es solle sich legen, und
+noch eine gute Weile, nachdem er im Zelte in sein Bett gelegt worden
+war, bat er die andern in der herzbewegendsten Weise, doch das Kamel
+halten zu lassen. Mollah Schah, der ihn von Tschertschen her kannte,
+erzählte uns, daß er früher verrückt gewesen, aber von einem gewissen
+Abdurrahman Chodscha, einem Ischan (Arzt), geheilt worden sei, welch
+letzterer in das Haus von Aldats Eltern gekommen sei, dort Gebetformeln
+über diesen gesprochen und ihn mit Koranversen beschriebene
+Papierzettel habe verschlucken lassen. Es war herzzerreißend, diesen
+vierundzwanzigjährigen, vor kurzem noch so kräftigen Mann in seinen
+Fieberphantasien von seinem Vater und seinen Brüdern in Tschertschen
+sprechen zu hören. Jetzt wurde nachts stets bei ihm Wache gehalten, und
+wir taten alles, um ihn zu retten. Doch dazu ist nicht viel Aussicht
+vorhanden, wenn man einen Sterbenden durch eisige Schneestürme und über
+himmelhohe Berge schleppen muß!
+
+Von Hunger getrieben gingen die Pferde über Nacht auf
+Grasentdeckungsreisen aus, und es dauerte am Morgen ziemlich lange,
+bis wir sie wieder alle hatten. Jetzt schien die Sonne warm auf die
+30 Zentimeter dicke Schneedecke, die durch ihre glänzend reine Weiße
+blendete. Der Tag wurde jedoch kalt und rauh, denn ein häßlicher
+Westwind wehte über die Schneefelder hin. Wenn er gelegentlich
+aussetzte, war es richtig heiß in der Sonne, aber schon nach ein paar
+Minuten waren wir wieder mitten im Schneegestöber. Dieses dauert zwar
+nie lange, und die Sonne tritt bald wieder aus den Wolken hervor,
+aber der Wind macht kalt. Es ist Winter und Sommer in brüderlicher
+Vereinigung, ein charakteristisch tibetisches Wetter.
+
+Wir hielten jetzt konsequent nordwestliche Richtung ein und brauchten
+daher keine mächtigen Bergketten zu überschreiten. Das Land war nach
+dieser Seite ziemlich offen. Die Temperatur blieb den ganzen Tag
+unter Null, und der gefrorene Boden trug. Aber der Schnee verbarg die
+unglaublich dicht nebeneinanderliegenden Murmeltierlöcher, in welche
+die Pferde oft traten und dann fielen. Unsere Marschregel lautete
+jetzt: drei Tage Wanderung, den vierten Rast. Der 16. September, ein
+Sonntag, war solch ein herrlicher Ruhetag mit gutem Wetter (in 4997
+Meter Höhe). Tscherdon hatte vorsorglich einige Patronen aufgespart,
+gab sie nun aber für einen jungen Yak hin, der uns einen großen Sack
+voll prächtigen Fleisches einbrachte; gut schmeckt es nicht, aber man
+ist wenig wählerisch, wenn einem nichts anderes geboten wird. Er schoß
+auch einen jungen Wolf, der es augenscheinlich auf unser letztes Schaf
+abgesehen hatte. Der Kadaver wurde eine willkommene Speise für einige
+Raben, die unsere immer müder werdende Karawane seit einigen Tagen
+begleiteten; vielleicht ahnten sie, daß es nicht mehr lange dauern
+konnte, bis jemand zurückgelassen werden würde.
+
+Abends bat Aldat, die Nacht im Freien zwischen zwei Kamelen zubringen
+zu dürfen. Die Muselmänner glauben nämlich, daß die von diesen Tieren
+ausströmende Körperwärme einen Kranken, dessen Kräfte im Abnehmen
+begriffen sind, zu heilen und zu stärken vermag. Er wurde gut
+eingepackt in den Kreis gelegt, und Mollah Schah und Nias leisteten ihm
+Gesellschaft.
+
+Am 17. September wurde ich frühmorgens durch einen entsetzlichen Lärm
+im Lager geweckt; die Hunde bellten, daß ihnen der Atem ausging, und
+die Männer überschrien sich förmlich. Ich guckte hinaus und sah kaum
+50 Schritt vom Zelte einen großen Bären forttraben. Aus den Spuren im
+Schnee erkannten wir, daß er das Lager gründlich besichtigt und eine
+Runde um meine Jurte gemacht hatte. Als die Hunde anschlugen, hatte er
+es für gut befunden, den Rückzug anzutreten.
+
+Das Wetter war jetzt gut, aber das Terrain geradezu abscheulich. Die
+kupierte Landschaft scheint mit kantigen, unangenehmen Tuffstücken in
+allen Größen bedeckt zu sein. Nicht ein Quadratfuß ist frei davon. Und
+gibt es eine kleine freie Stelle, so haben Feldmäuse und Murmeltiere
+sie benutzt, um dort ihre tückischen Höhlen zu graben. Unsere Tiere
+stolperten unausgesetzt gegen die spitzen Steine, und zwei von den
+Kamelen verletzten sich die Fußsohlen derartig, daß sie bluteten.
+
+Dann folgte eine Strecke losen Bodens, der am Vormittag an der
+Oberfläche noch so fest gefroren war, daß die dünne Kruste die
+schweren Kamele trug. Doch allmählich taut diese obere Schicht auf,
+und dann gehen wir wie auf schwachem Eise. An einer Stelle waren die
+fünf Kamele in allerschönster Ruhe eben darüber hinweggeschritten,
+als das sechste, das letzte, mit beiden Vorderfüßen durchtrat. Es
+saß im Schlamme fest und sank immer tiefer hinein (Abb. 146). Die
+anderen gingen weiter, der Nasenstrick riß, und das Kamel brüllte vor
+Schmerz. Wir eilten herbei und nahmen ihm die Last ab. Dabei fiel es
+auf die Seite; der Boden wurde immer weicher, und schließlich schwamm
+es im Schlamme wie ein Stück Butter in einer Breischüssel. Wir banden
+Stricke um seine Beine, um sie nacheinander herauszuziehen, aber
+was wir auch mit ihm anstellten, es sank immer tiefer ein und hielt
+sich überdies ebenso regungslos still wie im Wasser. Ich fürchtete
+schon, daß wir sechs Männer es nicht würden herausholen können. Der
+Packsattel hatte sich im Schlamme festgesogen und wurde abgeschnallt.
+Schließlich kam ich auf den Gedanken, unter jedes Bein, das wir
+herausgezogen hatten, eine Filzdecke zu breiten, und dann wälzten wir
+es in die Höhe, bis es seine gewöhnliche Liegestellung einnahm. Nachdem
+es sich so eine Weile ausgeruht hatte, brachten wir es dazu, eine
+verzweifelte Kraftanstrengung zu machen; es taumelte nach dem festen
+Boden hin, während ihm der Schmutz klumpenweise von den Beinen und den
+Seiten fiel. Es war mit einem Schlammpanzer bedeckt, der mit Messern
+abgeschabt wurde, und stand zitternd da, außer Atem und kollerig.
+
+Darauf erreichten wir ein eigentümliches Tal, das sich nach Ostnordost
+bis zu einem in 10 Kilometer Entfernung sichtbaren See erstreckte.
+Nordöstlich von diesem erhebt sich ein gewaltiges Schneemassiv, das wir
+den ganzen Tag auf der rechten Seite gehabt hatten und das entschieden
+der riesige Gebirgsstock war, dessen Nordseite ich 1896 umwandert und
+den ich +König-Oskar-Gebirge+ genannt hatte.
+
+Im Talboden stehen tafelförmige, mit 15-20 Meter dicken Tuffbetten
+bedeckte Terrassen, und der Boden ist dicht mit Tuffblöcken besät.
+
+Am folgenden Tag hatte die Sonne ihre Herrschaft wiedererlangt, und die
+Stürme schwiegen. Der Rest des letzten Schnees schmolz und verdunstete.
+Um 1 Uhr stieg die Temperatur bis auf +12 Grad. Es geht auf günstigem
+Terrain nach Nordwesten. Zur Linken zieht sich eine kleinere Bergkette
+hin, fern im Nordosten eine mächtigere und zwischen beiden ein
+Längental von dem gewöhnlichen Aussehen. Vor uns erhebt sich ein
+gewaltiges Schneemassiv, dessen Firnfelder in der Westsonne wie Silber
+glänzen, während die hügeligen schwarzen Seiten einem Panzerturme
+gleichen.
+
+[Illustration: 158. Aus dem Hauptquartier in Temirlik. (S. 379.)]
+
+[Illustration: 159. Das Hauptquartier bei Temirlik. (S. 380.)
+
+Auf dem andern Ufer des Baches meine Jurte und die Terrassen mit den
+Höhlen, im Hintergrund der Akato-tag.]
+
+
+
+
+Einunddreißigstes Kapitel.
+
+Aldats Tod.
+
+
+So zogen wir durch das öde Tibet hin. Zwei Monate waren schon
+vergangen, ohne daß wir Spuren von Menschen gesehen hatten, und wir
+fingen an, uns zu den Unseren zurückzusehnen. Aber jeder Tagemarsch,
+den ich auf meiner Übersichtskarte mit Punkten verzeichnete, zeigte,
+wie langsam wir uns ihnen näherten und wie viele Tagereisen uns noch
+blieben. Über 400 Kilometer trennten uns noch von Temirlik.
+
+Wir folgten dem Längentale nach Westen und blieben dadurch auf ein und
+demselben Niveau. Die Gegend ist außerordentlich wildreich. Schädel und
+Skeletteile von Yaken zeigen an, daß auch diese zähen Tiere sich der
+Macht des Todes nicht entziehen können.
+
+Der dritte Marschtag hat seinen besonderen Reiz, denn dann wissen alle,
+daß wir morgen rasten dürfen. Den 20. September über blieben wir also
+im Lager Nr. 54 (4917 Meter) (Abb. 147). Tscherdon schoß mit Aldats
+Flinte einen fünfzehnjährigen Yak, der, bevor wir ihn abhäuteten und
+zerlegten, in mehreren Stellungen photographiert wurde (Abb. 148, 149,
+151). Am Abend kam Tscherdon mit einer Orongoantilope heim, und nun
+wurde eine neue muselmännische Kur mit Aldat versucht. Der Kranke wurde
+entkleidet und in das noch weiche, warme Fell der Antilope gehüllt,
+das dicht an seinen Körper gedrückt wurde. Ich glaubte nicht recht an
+die Wirkung, und es tat mir bitterlich weh, daß ich ganz machtlos war
+und ihm nicht helfen konnte. Die letzten Abende gab ich ihm ein paar
+Zentigramm Morphium; er konnte sonst nicht einen Augenblick schlafen.
+
+Auf dem Zuge nach dem Lager Nr. 55 hatten wir andauernd gutes Terrain.
+Ein paar Kilometer vom Ufer eines nicht unbedeutenden Sees, dem alle
+Bäche des südlichen Gebirges zuströmten, rasteten wir in einer ziemlich
+gastlichen Gegend. Der Boden war hier von Murmeltieren, deren Höhlen
+überall ihre gähnenden Eingänge zeigten, derartig zugerichtet, daß er
+wie wurmstichig aussah. Diese großen, starkgebauten Nagetiere sehen,
+wenn sie einzeln oder paarweise über dem Höhleneingang in der Sonne
+sitzen, unbeschreiblich drollig aus. Sobald wir uns nähern, rollen
+sie wie Billardbälle in ihre Löcher hinein, und sobald sie unsere
+schweigend und langsam dahinschleichende Karawane erblicken, lassen
+sie durchdringende, gellende Pfiffe ertönen, die von allen Seiten
+widerhallen. Die Karawane wird in diesem sonst so friedlichen Lande
+förmlich ausgepfiffen.
+
+Ein alter Invalide, der taub gewesen sein oder sich von seiner sicheren
+Höhle zu weit entfernt haben muß, mußte diese Unvorsichtigkeit mit dem
+Verluste seiner Freiheit büßen. Er lag auf einem Abhange in der Sonne
+und sah prächtig aus, er hatte sogar Ähnlichkeit mit einem Menschen
+oder wenigstens mit einem Affen. Jolldasch flog wie ein Pfeil hin und
+störte das Murmeltier in seinem friedlichen Schlafe, und während es
+sich verteidigte, kamen die Männer, banden es und legten es unversehrt
+auf ein Kamel. Wir beabsichtigten, es zu zähmen; es lebte zwei
+Monate, blieb aber die ganze Zeit gleich wild. Sobald man sich ihm
+näherte, setzte es sich auf die Hinterbeine und war bereit, mit seinen
+messerscharfen Vorderzähnen, in denen es eine achtunggebietende Kraft
+besitzt, sofort zuzubeißen. Es biß große Späne aus den Stöcken, die man
+ihm hinhielt. Ein Biß von seinen Zähnen soll gefährlich sein und die
+Wunde sehr schwer heilen. In seine Höhle kehrte es nie wieder zurück,
+und es gewöhnte sich bald daran, auf dem Kamelrücken zu schaukeln.
+
+Wo Murmeltiere, Dawagan werden sie von den Muselmännern genannt,
+vorkommen, kann man beinahe sicher sein, auch Bären anzutreffen. Der
+tibetische Bär lebt zum größten Teile von diesen Nagetieren, die er
+mit Haut und Haar, Knochengerüst und allem auffrißt. Er belauert sie
+nicht, wie Jolldasch es tat, sondern überzeugt sich nur, wenn er auf
+Besuch nach der Höhle kommt, ob die Herrschaften zu Hause sind. Mit
+seinen starken Tatzen gräbt er die Erde an den Seiten des Ganges auf
+und erwischt schließlich sein Opfer. Er macht sich auf diese Weise noch
+tüchtig Bewegung vor dem Mittagessen. Ein gewaltiger Erdwall verrät
+schon von weitem, daß ein Bär dagewesen ist und Haussuchung abgehalten
+hat.
+
+Kleinere Herden von Kulanen kreisten auf diesem breiten Talboden.
+Sechs Kulane begleiteten uns in nächster Nähe wohl eine halbe Stunde
+weit. Sie sind außerordentlich hübsch anzusehen (Abb. 150); ihre
+schlanken Formen besitzen vollendete natürliche Schönheit; sie laufen
+im Halbkreise, einen Winkel von 45 Grad mit dem Erdboden bildend, und
+bleiben plötzlich ein wenig vor und neben uns in einer Reihe stehen.
+Ihre Bewegungen sind so regelmäßig und so sicher, als trügen sie
+unsichtbare Kosaken auf dem Rücken.
+
+Während dieses Tagemarsches hatte Aldat zu Pferde sitzen können, obwohl
+gut festgebunden und beaufsichtigt. Wir hofften alle auf Besserung,
+aber abends wurde es wieder schlechter mit ihm. Jeden Atemzug
+begleitete ein stöhnender Laut, und er atmete 58 mal in der Minute,
+was selbst in einer Höhe von 4838 Meter abnorm ist. Seine Temperatur
+war merkwürdig niedrig; von den Herzschlägen war nichts zu vernehmen,
+wie angestrengt man auch horchte, und ebenso schwach war der Puls.
+Sein Bewußtsein umnachtete sich. Er sprach davon, fortgehen und Yake
+schießen zu wollen. Obwohl es gegen die Marschordnung verstieß, blieben
+wir seinetwegen einen Tag liegen. Die Leute wollten indessen gern
+weiter, denn mit unseren Vorräten war es schlecht bestellt; das Brot
+mußte in ein paar Tagen zu Ende sein, und Pulver war nur noch für ein
+Dutzend Schüsse vorhanden.
+
+Da der Zustand des Kranken auch am Morgen des 23. September so gut wie
+unverändert war, obgleich er jetzt nur 24mal in der Minute atmete,
+beschlossen wir aufzubrechen. Daß er nicht mehr lange leiden würde,
+war klar, aber wir konnten nicht länger warten. Er wurde zwischen zwei
+Feuerungssäcke auf ein Kamel gebettet und erhielt eine weiche Unterlage
+von Filzdecken. Die Beine wurden in Filzmatten eingepackt, und unter
+den Kopf wurde ihm ein zusammengerollter Pelz geschoben. Über das Ganze
+wurden Stricke gebunden; er lag so bequem wie in einem Bett.
+
+Gerade als das Kamel sich zum Aufbruch erheben sollte, hörte Aldat auf,
+zu atmen. Seine gebrochenen Augen, schöne, graue afghanische Augen,
+schienen in der Ferne ein Land zu suchen, wohin unsere Blicke nicht
+reichen. Er, der früher mit leichten, schnellen Schritten in den Spuren
+der Yake über die Berge geeilt war, hatte den Strapazen erliegen müssen
+und ein Leben beendet, das an Freuden so arm gewesen war.
+
+„Getti“ (er ist fortgegangen), sagten die Muselmänner und standen
+schweigend um dieses seltsame Totenlager herum. Turdu Bai aber
+betrachtete die Lage von der praktischen Seite und fragte mich, was wir
+mit der Leiche machen sollten. Ich wollte ihn nicht sofort begraben,
+und alle waren sichtlich zufrieden, als ich „Marsch“ kommandierte. Das
+Kamel hatte ihn schon so manchen Tag getragen, und er war eine leichte
+Last. Ich hatte den Leuten versprochen, daß wir Temirlik in 18 Tagen
+erreichen würden, wenn wir 6 Rasttage machten und täglich 24 Kilometer
+zurücklegten. Sie zählten daher die Kilometer mit steigendem Interesse
+und waren eifrig darauf bedacht, keine Zeit zu verlieren.
+
+So brachen wir denn auf und näherten uns dem Seeufer. Unsere Karawane
+hatte sich in einen Leichenzug verwandelt, der durch Tibets wüste
+Täler einen Kameraden zu Grabe trug. Keiner sprach; eine stille,
+feierliche Stimmung herrschte. Kulane und Yake weideten ungestört
+neben unserem Wege, und die schwarzen Totenraben folgten uns in weiten
+Kreisen.
+
+Nun erreichten wir das Ufer, wo der Boden hart und vorzüglich zum Gehen
+war.
+
+Der See nahm ein Ende, und wir zogen nach Nordwesten über eine
+langsam ansteigende kupierte Ebene, die von Furchen mit gefährlichem
+Schlammboden durchschnitten war (Abb. 152). In einer solchen fanden
+wir ein kleines Holzstück, das zu einem mongolischen Packsattel
+gehört hatte. Es war mürbe wie Rinde und stammte vielleicht von einer
+mongolischen Pilgergesellschaft, die sich aus den nördlicheren Tälern
+hierher verirrt hatte, oder auch von Hauptmann Wellbys und Leutnant
+Malcolms unglücklicher Karawane, deren Weg wir gerade heute gekreuzt
+haben mußten.
+
+Während die anderen im Lager ihre gewöhnliche Arbeit verrichteten,
+gruben Mollah Schah und Nias ein Grab für Aldat. Ein Pelz wurde unter,
+ein zweiter über die Leiche gelegt, und so wurde er in dieser feuchten,
+heimtückischen Erde zur ewigen Ruhe bestattet.
+
+Es war von allen Beerdigungen, bei denen ich zugegen gewesen bin, die
+einfachste; keine Zeremonien, keine Tränen, keine anderen Gebete, als
+die, welche ich stumm für die Seelenruhe des Toten in einer anderen,
+besseren Welt zum Himmel emporsandte. Das Grab wurde zugeschüttet
+und ein länglicher Hügel darüber aufgeworfen. Am Kopfende wurde eine
+Holzlatte eingerammt, an deren Spitze wir eine von Aldats eigenen
+Jagdtrophäen, einen Yakschwanz, als „Tugh“ festbanden, wie es die
+muhammedanische Sitte verlangt. Auf ein kleines Holzstück schnitt ich
+mit arabischen und lateinischen Buchstaben den Namen des Toten, das
+Datum und meinen eigenen Namen ein, für den Fall, daß das Schicksal
+jemand hierherführte, bevor alle Spuren des Grabes vertilgt sein würden.
+
+Die Flinte des Toten, seinen noch nicht ausbezahlten Lohn und den Wert
+seiner Kleidung und seines Pelzes hatte ich später Gelegenheit, seinem
+Bruder, den wir im Tschimentale trafen, eigenhändig zu übergeben. Sein
+alter Vater besuchte mich ein Jahr später in Tscharchlik. Es war mir
+eine Beruhigung, daß die Mutter tot war und ihr der Kummer, einen so
+guten, prächtigen Sohn zu verlieren, erspart geblieben war.
+
+Am 24. September wurde die Karawane außergewöhnlich früh fertig;
+meine Begleiter wollten gewiß möglichst schnell von diesem traurigen
+Friedhofe fortkommen. Die Muselmänner sprachen ein Dua (Gebet) am
+Hügel, dann wurde der arme Aldat in der großen Einsamkeit allein
+gelassen; keine anderen Pilger als die Tiere der Wildnis würden künftig
+nach seinem Grabe wallfahrten. Der schwarze Yakschwanz flatterte im
+Winde, wurde aber, als wir fortzogen, bald von den Hügeln bedeckt.
+
+Wir mußten jetzt lange nach Norden ziehen und steuerten zuerst auf ein
+in der nördlichen Bergkette gähnendes Taltor los. Es war nicht leicht,
+dorthin zu gelangen. Der Boden besteht aus losem rotem Sand und wird
+von einer Menge 30-50 Meter tiefer Schluchten durchfurcht, nach deren
+Moorgrunde es steil hinuntergeht und in denen man leicht mit Mann
+und Maus ertrinken könnte, wenn nicht einer der Leute zuvor zu Fuß
+versuchte, ob der Moorboden trägt.
+
+Der folgende Tagemarsch führte uns über mehrere parallele kleine
+Ketten. Als wir sie endlich überschritten und die Freude hatten,
+im Norden offenes, flaches Land, ein breites Längental, zu sehen,
+war dort keine Spur von Vegetation zu erblicken. Obgleich wir eine
+gute Tagereise hinter uns hatten, setzten wir daher unseren Weg
+quer über das Tal fort. Wir ritten stundenlang, ehe wir einige
+Grashalme und einen Süßwassertümpel fanden. Wir waren offenbar in ein
+vegetationsloses Gebiet gekommen und würden uns jetzt mit jedem Tage in
+immer unfruchtbarer werdenden Gegenden befinden.
+
+Die verdünnte Luft dieses Hochlandes, das 5000 Meter über dem Meere
+liegt, tat mir nichts; ich hatte mich an sie gewöhnt, und auch meine
+Leute hielten sich tapfer. Vermeidet man alle Anstrengungen, so kann
+man die Luftverdünnung sicherlich ziemlich lange ertragen.
+
+Je mehr wir uns in den folgenden Tagen dem Arka-tag näherten, desto
+wüster wurde das Land. Am 27. September suchten wir vergebens
+nach einem Grashalm; keine Spur von Pflanzen- oder Tierleben war
+zu erblicken. Es ging bergauf und bergab, über Berge und Täler,
+die jetzt stets durchquert wurden. Kaum ist man nach einem Flusse
+hinuntergelangt, so muß man sich schon wieder an der anderen Seite
+hinaufarbeiten, und obgleich diese Höhenunterschiede nur 100 Meter
+betragen, so werden sie doch durch die unaufhörliche Wiederholung
+mörderisch. Nach vielen zeitraubenden Bogen und Rasten erreichten wir
+endlich den Hauptpaß dieser neuen Bergkette (5203 Meter). Unmittelbar
+nördlich davon erhob sich ein einzelner Bergrücken, der auf der
+östlichen oder auf der westlichen Seite umgangen werden mußte. Ich
+entschied mich für die letztere und ritt der Karawane weit voraus. Als
+es dunkelte, mußte ich jedoch Halt machen und die anderen erwarten.
+Sie kamen todmüde in kleinen Partien an und hatten einen Schimmel aus
+Jangi-köll in hoffnungslosem Zustand zurückgelassen.
+
+Nach dem Abendessen inspizierte ich mit der Laterne, wie gewöhnlich,
+besonders nach schwereren Tagereisen, das Lager (5111 Meter) und die
+Tiere. Sowohl die Kamele wie die Pferde waren geknebelt, damit sie
+nicht auf die Suche nach Weide gingen. Die Leute schliefen, müde von
+den Strapazen des Tages. Ich selbst wollte gerade einschlafen, als der
+Türvorhang der Jurte von einem heftigen Windstoß in die Höhe gerissen
+wurde und feiner Schnee hereinwirbelte.
+
+Am nächsten Morgen waren wir wieder von Winterlandschaft umgeben (Abb.
+153). Doch die Wolken verzogen sich bald; es wurde ruhig, und die Sonne
+glühte mit intensiver Kraft.
+
+Unsere Straße ging jetzt nach Nordwesten ein schmales, von roten
+Felsen, Sandstein und Schiefer eingefaßtes Tal hinab, das in ein
+Längental ausmündete. Solange wir uns in dem engen Durchgange befanden,
+dessen Bach über Nacht zu Eis gefroren war, hatten wir Schutz vor dem
+Winde, sobald wir aber die Hügel hinter uns hatten, fuhr der Wind,
+der sich eben erhoben hatte und bald zu einem vollständigen Orkan aus
+Westen anschwoll, über die Karawane her. Man muß die Knie ordentlich
+andrücken, um nicht aus dem Sattel geworfen zu werden. Pferde, Reiter
+und Kamele beugen sich nach der Windseite hinüber und liegen auf dem
+Winde; die ganze Karawane sieht schief aus, alle leichten Gegenstände,
+die Pferdeschwänze und die Kleider der Leute stehen auf der Windseite
+wie Flaggen ab. Die Atmung wird erschwert, man erstickt beinahe. Die
+Kamele schwanken in ihrem wiegenden Gange. Das erste beste Weideland
+sollte das Signal zur Rast geben, denn lange kann man in solch einem
+Winde nicht gehen; wer es nicht selbst erprobt hat, kann sich keinen
+Begriff davon machen.
+
+Am Südufer des Sees lagerten wir an einem kleinen Bache.
+
+Bei der veränderlichen Temperatur und dem ewigen Witterungswechsel wird
+die Haut empfindlich. Besonders Nase und Ohren sind übel daran und
+blättern unaufhörlich ab. Die Nägel werden spröde wie Glas und springen
+ein, und beständig hat man Schmerzen in den Fingerspitzen.
+
+Mehrere Pferde waren jetzt kränklich, und Mais hatten wir nur noch
+für zwei Tage. Daher wurde der Reisvorrat hervorgesucht; alles, was
+wir davon entbehren konnten, sollte den Tieren gegeben werden. Unser
+kleinster Maulesel wäre uns in diesem Lager Nr. 61 (4907 Meter) beinahe
+gestorben, wurde aber von Tscherdon, der ihn auf burjatische Weise
+behandelte, gerettet. Das Tier schwoll unförmlich auf und krümmte
+sich am Boden. Nachdem der Kosak durch Befühlen eine passende Stelle
+ausgesucht hatte, nahm er einen Pfriemen und rannte ihn dem Tiere mit
+einem kräftigen Stoße bis an den Stiel in den Leib. Da strömte Gas
+heraus, aber kein Tropfen Blut. Dann wurde der Maulesel gezwungen,
+aufzustehen. Ein Strick wurde um sein Hinterteil geschlungen. Ein Mann
+zog ihn vorwärts, und ein zweiter prügelte ihn mit einer Holzlatte.
+Jedesmal, wenn er hinten ausschlug, zogen zwei Männer an dem Stricke,
+so daß der Esel von rechts nach links gerissen wurde. Über die Methode
+selbst mag man sagen, was man will, aber diese echte Pferdekur hat dem
+Tiere geholfen. Es wurde gesund, war mit auf dem Ritte nach Lhasa, zog
+mit durch ganz Tibet nach Ladak, ging über den Kara-korum nach Kaschgar
+und befand sich ausgezeichnet, als ich Ende Mai 1902 in letzterer Stadt
+von ihm Abschied nahm.
+
+Nach einem Rasttage zogen wir uns an dem kalten letzten Tage des
+September recht warm an, um die Verschanzungen des Arka-tag zu
+erstürmen. Wir folgten dem Ostufer des Sees und gingen nach Norden,
+wo sich ein vorteilhafter Paß zeigte. Dann aber zwang uns eine Bucht,
+die der See nach Osten ausschickt und in die sich ein Fluß ergießt, zu
+einem bedeutenden Umwege.
+
+Bald gelangten wir an ein Erosionstal, das uns einen guten Weg nach
+den Höhen bot. Ich ritt mit Tscherdon und Mollah Schah voraus nach dem
+Passe hinauf. Von der Südseite, auf der wir uns befanden, war der Paß
+leicht zu ersteigen, und wir erreichten bald seine Schwelle; auf der
+Nordseite aber, wo die Schichtköpfe zutage treten, fiel er sehr steil
+ab.
+
+Gerade auf diesem Kamme, der fast die ganze Erdrinde überragt und wie
+ein Schwungbrett in den Weltenraum hinauszeigt, tobte der Schneesturm
+mit solcher Wut, daß man das Gefühl hatte, verloren zu sein. Ich hatte
+kaum die Kraft, die nötigen Beobachtungen auszuführen. Die Hände
+werden steif und ganz gefühllos. Die Höhe betrug 5203 Meter. Da die
+Karawane auf sich warten ließ, gingen die beiden Männer wieder zurück.
+Ich kehrte dem Sturme den Rücken zu und kauerte mich nach Möglichkeit
+zusammen. Nach dem Abgrunde im Norden zu ist jetzt nichts weiter zu
+sehen als wirbelnde Schneewolken, ein kochender Schneekessel; es heult
+und stöhnt auf allen Seiten, es pfeift, wenn der Wind sich über den
+scharfen Paßkamm wälzt.
+
+Nun ertönten die Kamelglocken ganz in der Nähe. Die Tiere zogen wie
+Schatten an mir vorüber, ihre Tritte waren nicht zu hören. Turdu Bai
+ging vornübergebeugt, den einen Arm zum Schutze erhoben, als arbeite er
+sich durch ein Dickicht hindurch. Jetzt galt es, auf der Nordseite des
+Passes hinunterzusteigen; es war, als sollte man sich auf gut Glück in
+einen unbekannten Abgrund stürzen, dessen Boden nicht zu sehen ist.
+
+Um bei der Hand zu sein, sobald die Kamele der Hilfe und Stütze
+bedurften, gingen alle zu Fuß. Kutschuk geht voran und untersucht den
+Weg. Er nimmt die Wand in unzähligen Zickzacklinien. Wir müssen alle
+zehn Schritte stehenbleiben, damit uns nicht das Gesicht erfriert. Wir
+gleiten und rutschen auf dem Schnee hinunter. Ein Kamel gleitet aus und
+fällt, rollt noch ein halbes Mal herum, aber bleibt in so vorteilhafter
+Stellung liegen, daß es aufstehen kann, ohne erst abgeladen werden zu
+müssen.
+
+Jetzt war der Tag zu Ende, und es wurde dunkel; aber wir gingen
+trotzdem weiter, bis wir den steilen Abhang hinter uns hatten. In
+finsterer Nacht lagerten wir auf einer Halde (4977 Meter), wo es keinen
+Grashalm gab; Feuerung hatten wir auch nicht, nur Wasser in Gestalt von
+Schnee und Eis, davon aber im Überfluß.
+
+Als die Sonne am 1. Oktober aufging, konnten wir sehen, wie sich die
+Gegend, in der wir in der Dunkelheit Halt gemacht hatten, ausnahm.
+Vollständiger Winter umgab uns auf allen Seiten, und dabei schneite es
+noch immerfort. Die Tiere waren steifbeinig und hungrig; daher rasteten
+wir schon nach wenigen Kilometern auf einer Halde mit leidlichem
+Graswuchse (4899 Meter). Mit wehem Herzen gab ich Befehl, das letzte
+Schaf zu schlachten; es kam mir wie ein Mord vor.
+
+Am 2. Oktober zogen wir 30 Kilometer nordwärts bergab. Noch eine
+Tagereise half uns dieses freundliche, langsam abfallende Tal weiter.
+Die Luft war klar geworden, und wir sahen das Tschimengebirge in einer
+Entfernung von gewiß 100 Kilometer vor uns liegen. Doch bevor wir
+aufbrachen, war schon wieder der Westwind im Gange, um uns auf unseren
+elenden Kleppern vor Kälte erstarren zu lassen.
+
+Das Tal erweitert sich, und wir sehen im Norden den See
++Atschik-köll+. Wir hätten bleiben sollen, wo der Bach, dem
+wir bisher gefolgt waren, endete, aber wir hofften, den See bald zu
+erreichen und dort Quellen zu finden. Die armen Tiere waren ganz
+erschöpft. Das Pferd, auf dem ich nach Andere geritten war, blieb mit
+Nias zurück, und ein zweiter Schimmel wurde mit Kutschuk als Pfleger
+zurückgelassen. Sie sollten uns langsam nachkommen. Wir ritten nach
+Norden weiter, es dämmerte und wurde dunkel, aber der Mond erhellte mit
+seinem bleichen Lichte die kalte Einöde. Wasser war nicht zu sehen, und
+der See blieb eine ziemliche Strecke östlich von unserem Wege liegen.
+Frierend ging Turdu Bai zu Fuß voraus. Wir waren seelenfroh, als er
+endlich stehenblieb und uns zurief, wir hätten einen sich in den See
+ergießenden Fluß erreicht. 37½ Kilometer täglich war ungefähr das
+meiste, was die Tiere nunmehr aushalten konnten. Die kranken Pferde
+erreichten wirklich noch dieses Lager Nr. 65 (4251 Meter), aber erst
+gegen Mittag und nachdem sie die Nacht in einiger Entfernung vom Lager
+zugebracht hatten. Sie wurden dann aufs beste gepflegt und mit Reis
+traktiert.
+
+[Illustration: 160. Tscherdon und Schagdur mit ihrer Beute. (S. 382.)
+
+Rechts der Schneider Ali Ahun.]
+
+[Illustration: 161. Die Packpferde am Ufer des Ajag-kum-köll. (S.
+384.)]
+
+Ein eigentümlicher, kalter, feuchter Nebel lag am 6. Oktober über dem
+Seebecken, und durch seinen Schleier zeichnete sich die nördliche
+Bergkette matt und schwach, aber doch malerisch ab. Sie schien leicht
+auf die Leinwand des Himmels hingeworfen zu sein, und zu oberst
+leuchtete der Schnee halbklar hindurch. Infolge der gedämpften Nuancen
+schien die Kette noch mindestens eine Tagereise entfernt zu liegen.
+
+Die Karawane ist im Sterben, und im Begräbnistempo schreiten wir die
+langsame Steigung hinan. Kulane und besonders Orongoantilopen kommen
+zu Hunderten vor. Jolldasch erbeutete eine der letzteren, die er über
+die Nase biß und sie dann festhielt, bis Tscherdon hinzukam und sie
+erstach; dadurch erhielten wir eine sehr notwendige Verstärkung unseres
+Proviantes.
+
+Die Steigung nimmt zu; wir überschreiten zahllose Schluchten und
+Pässe; oft müssen wir eine Weile rasten, um die Tiere Atem schöpfen zu
+lassen. Bald wird gemeldet, daß ein Pferd nicht weiterkann. Kaum ist es
+erstochen worden, als sich schon ein zweites hinlegt, um nicht wieder
+aufzustehen. Ehe wir diesen abscheulichen Paß erreichten, der für eine
+ausgeruhte Karawane eine Bagatelle gewesen wäre, waren noch zwei Pferde
+verlorengegangen, unter ihnen mein treuer Wüstenschimmel, der mich nach
+Tschertschen und Altimisch-bulak getragen hatte.
+
+Die Aussicht vom Passe war ebenfalls nicht erfreulich. Auf beiden
+Seiten hatten wir kleine Gletscherzungen und im Norden ein Gewirr
+von Bergen. Merkwürdigerweise bekamen wir die Kamele hinüber, worauf
+wir in einer Kluft lagerten, in der jedoch weder von Gras noch von
+Brennmaterial die geringste Spur zu finden war.
+
+Soviel Reis, wie nur irgendwie entbehrt werden konnte, wurde an
+die letzten Pferde verteilt, die angebunden und mit Filzdecken
+zugedeckt wurden. Am Morgen lag eines von ihnen tot in der Reihe mit
+vorgestrecktem Halse, starren Augen und schon steif gefroren. Keiner
+hatte gemerkt, wann und wie seine Qual zu Ende gewesen war, und die
+noch vorhandenen Pferde schenkten ihm keine Aufmerksamkeit. Sie waren
+zu erschöpft und ermattet, um Teilnahme zu zeigen; sie schienen sich
+nur nach Ruhe zu sehnen, und sie starben ohne einen Seufzer, ohne einen
+Klagelaut, während es mich unsagbar schmerzte, ihren Untergang auf
+meinem Gewissen zu haben.
+
+Bewundernswert in ihrer Resignation lagen die Kamele wie gewöhnlich
+regungslos in derselben Stellung, in der wir sie am Abend vorher
+verlassen hatten. Sie waren mit Reif bepudert und blickten sehnsüchtig
+nach dem Tale hin, dem wir dann nach Nordosten folgten. Sehr lange
+konnten wir es nicht mehr aushalten. Die Tagemärsche wurden immer
+kürzer, und die Kräfte der Tiere waren bis aufs äußerste erschöpft.
+
+Die Nacht auf den 8. Oktober war ruhig, kalt und klar, und die
+Minimaltemperatur sank bis auf -18,3 Grad. Eiskalte Luft strömte durch
+das Tal herunter; es war der gewöhnliche Nachtwind, der wie Wasser
+in seinem Bett strömt. Schon um 8 Uhr hatte er aufgehört zu wehen,
+und wenn kein Sturm losbricht, kehrt er im Laufe des Tages um. Diesem
+scharfausgeprägten Tale folgten wir nach Nordosten. Eine frische
+Karawane könnte von hier in vier Tagen nach Temirlik gelangen, mit uns
+aber ging es langsamer. Nur sechs kleine Stücke Brot waren noch da, und
+Reis hatten wir für drei oder vier Tage. Es hatte den Anschein, als
+würden wir während der letzten Strecke hungern müssen. Es wäre schön
+gewesen, wenn wir hätten Brennmaterial finden können, aber diese Gegend
+wird nicht von Yaken besucht.
+
+In pfeifendem Schneegestöber zogen wir durch dieses Tal, das sich
+bald zu einem Hohlwege zusammendrängt, dessen Boden mit ganzen Mauern
+und Stapeln von herabgestürzten, teilweise rundgeschliffenen Blöcken
+bedeckt ist. Es ist ein außerordentlich energisch in den Granit
+eingesägtes Durchbruchstal, und die Landschaft trägt die gewöhnlichen
+wilden, felsigen, malerischen und launenhaften Charakterzüge des
+Granits. Ich saß buchstäblich festgeschneit auf meinem stolpernden
+Pferde, die meisten der Leute aber mußten zu Fuße gehen, da ihre
+Reittiere gefallen waren. Unaufhörlich kreuzten wir den Fluß, um
+möglichst auf den ebeneren Erosionsterrassen bleiben zu können. Oft
+trägt das Eis des Flusses sogar die schweren Kamele und muß dann mit
+Sand bestreut werden; da aber, wo es nicht trägt, wird es vorher mit
+Steinen und Stangen zertrümmert. Manchmal brechen die Tiere ein und
+fallen. Die alten Kamele bewährten sich auf diesem schwierigen Terrain
+vorzüglich, trotzdem sie nun auch noch die Lasten der toten Pferde
+tragen mußten.
+
+Das Tal trägt den Namen +Togri-sai+ (das gerade Tal) (Abb. 154)
+und ist den Goldgräbern aus Tschertschen und Kerija wohlbekannt;
+hier gibt es nämlich ein Goldfeld, das wir auf dem heutigen Marsche
+passierten. Vor ungefähr einem Monat sollten die letzten Goldgräber
+abgezogen sein; jetzt gab es im Tale keine frischen Spuren von
+menschlichen Besuchern mehr. Wir hatten ungefähr die Hälfte unseres
+Weges zurückgelegt, als wir die drei ersten, aus Granitstücken erbauten
+Hütten passierten. In der Nähe sahen wir eine Menge Gruben in den
+Schuttbetten, umgeben von Sand- und Schuttwällen, welche die Goldgräber
+aufgeworfen hatten. Selten sind diese Gruben mehr als 2½ Meter tief.
+Man kann sie zu mehreren Hunderten zählen; die meisten sind längst
+verlassen, einige aber scheinen während des letzten Sommers bearbeitet
+worden zu sein. Die Hütten sind sehr provisorisch, viereckig mit 2-3
+Meter langen Seiten; die Mauern sind von Blöcken ohne das geringste
+Bindemittel aufgetürmt, und das Dach besteht im besten Falle aus grober
+Leinwand oder einer Filzdecke, unter die eine Stange gelegt wird. Hier
+und dort laufen in diesem asiatischen Klondike Gänge und Zäune zwischen
+den Schutthaufen hin, und an einigen Gruben waren Zeichen aufgerichtet,
+z. B. ein Antilopenschädel oder eine Kulanhaut auf einer Stange,
+wodurch das Besitzrecht angezeigt wird. Manchmal hat der Besitzer sein
+Gebiet noch besonders mit einer niedrigen Mauer von Granitstücken
+eingefriedigt.
+
+Einige Hütten besaßen sehr einfache Öfen zum Brotbacken. Die Goldgräber
+bringen einen Vorrat von Mehl mit, leben im übrigen aber von Yak-,
+Kulan- und Antilopenfleisch, das ihnen von den Jägern, die um des
+Verdienstes willen in dieser Wildnis mit ihnen kampieren, für eine
+geringe Summe überlassen wird. Die Vorräte werden auf Eseln hierher
+befördert, die für die Zeit von zwei Monaten, während welcher in
+den Gruben gearbeitet wird, in die tiefer gelegenen Täler, wo es
+Weideland gibt, hinuntergeschickt werden. Nur in zweien der Hütten
+fanden wir einiges Hausgerät, ein paar plumpe Harken, um den Schutt
+von den goldhaltigen Gesteinarten zu entfernen, eine Bahre, ein paar
+Dachfirststangen und einen Trog zum Backen oder Goldwaschen. Wir
+machten uns kein Gewissen daraus, dieses vortreffliche Holz, das uns
+mehrere Tage ein prächtiges Feuer liefern sollte, mit Beschlag zu
+belegen.
+
+Eines der Kamele verfiel sichtlich und wurde zurückgelassen, sollte
+aber am folgenden Morgen in das Lager geholt werden. Bei kaltem Wetter
+mit Schneegestöber und -3 Grad zogen wir außerordentlich langsam
+abwärts. Erst um 11 Uhr lagerten wir in 4515 Meter Höhe nach diesem
+anstrengenden, aber interessanten Tage; eben war der Mond wieder aus
+der Nacht der Schneewolken hervorgetreten.
+
+
+
+
+Zweiunddreißigstes Kapitel.
+
+Ein trügerisches Feuer.
+
+
+Das Kamel starb während der Nacht und war schon steif gefroren,
+als Turdu Bai es aufsuchte. Es wurde der Preis, den die Götter des
+Togri-sai-Tals für den Brennholzraub forderten. Jetzt blieb uns gerade
+noch die Hälfte der ursprünglichen Zahl der Karawanentiere, 6 Kamele,
+3 Pferde und 1 Maulesel. Da auch diese Tiere sich in jämmerlicher
+Verfassung befanden, mußten alle Mann zu Fuß gehen.
+
+Es ist lehrreich, die Kamele zu beobachten (Abb. 155). Sie sind
+prächtige Tiere, stets ruhig und geduldig in ihrem harten, ermüdenden
+Dienste, und es ist ein Vorbild für den Menschen, einen solchen Riesen
+ohne einen traurigen Blick in seinem erlöschenden Auge, ohne einen
+Klagelaut über den Verlust eines Lebens, dessen einzige Befriedigung
+mit frischen, sättigenden Weideplätzen verknüpft gewesen ist,
+zusammenbrechen zu sehen. Das Tier machte seinen Tagemarsch, solange
+es noch konnte; es ging mit schwankenden Füßen, aber hocherhobenem
+Kopfe, es suchte nicht mehr nach Gras zwischen diesen unfruchtbaren
+Granitfelsen; würdig und majestätisch blieb es bis an die Stelle, wo
+sein Gebein im Tale bleichen wird. Als es nicht mehr imstande war, noch
+einen Schritt weiter zu tun, als die Schatten des Todes sein Bewußtsein
+umflorten, nahm es einen letzten Abschied von dem entfliehenden Tage
+und legte sich so bequem nieder, wie das Schuttbett es erlaubte. Den
+anfeuernden Schlägen setzte es stolze Verachtung entgegen; einige
+Peitschenhiebe mehr oder weniger bedeuteten für das Tier nichts mehr,
+das jetzt im Begriffe stand, das irdische Leben für immer zu verlassen.
+
+Das Tal erweitert sich immer mehr. Nach Weide suchen nützte nichts,
+und die Tiere konnten nicht weit gehen. Wir mußten Halt machen, um sie
+ruhen zu lassen, und die letzten Packsättel wurden ihres Strohpolsters
+beraubt.
+
+Langsam, müden Schrittes wanderten wir am 10. Oktober nach Nordnordost
+in demselben Tale weiter. Auch ich ging zu Fuß, um das mir noch zur
+Verfügung stehende Pferd zu schonen. Der Fluß ist nach den -18,8
+Grad in der Nacht fest zugefroren. Ich ging nach der rechten Talseite
+hinüber, um das Gestein zu untersuchen, und fand dort durch reinen
+Zufall einige sehr interessante Zeichnungen. Sie sind auf von Wind und
+Wetter blankgeschliffenen, dunkelbraun gewordenen Flächen von sonst
+hellgrünem Schiefer angebracht, und dadurch, daß sie mit einem spitzen
+Werkzeug durch die äußerste Rindenschicht hindurch eingehauen sind,
+treten sie deutlich in hellen Linien auf dunkelm Grunde hervor. Ihr
+Alter muß bedeutend sein, denn einige Teile der Bilder sind verwischt.
+
+Die dargestellten Szenen sind alle dem Leben eines Jägers entnommen.
+Dieser Jäger ist ein vielseitiger Mensch gewesen. Er hat Yake, Kulane,
+Orongoantilopen und Wölfe im Gebirge, Enten, Gänse und Tiger am
+Lop-nor gejagt. Besonders beachtenswert ist der Umstand, daß alle fünf
+abgebildeten Schützen sich des Bogens bedienen. Die Felsenzeichnungen
+rühren also von einem Meister her, dem Feuerwaffen noch unbekannt
+waren, denn sonst hätte er die Flinte auf ihrer Stützgabel abgebildet.
+Die langen Pfeile haben nach vorn gerichtete Widerhaken und gleichen
+dem Dreizacke Neptuns.
+
+Obgleich nur mit ein paar Konturlinien ausgeführt, sind die
+verschiedenen Tiere charakteristisch und leicht erkennbar gezeichnet.
+Die Schützen sind in verschiedenen Positionen dargestellt, bald
+stehend, bald kriechend, bald liegend; derjenige, welcher seinen Pfeil
+gegen den Tiger richtet, hat es für das Sicherste gehalten, im Sattel
+sitzenzubleiben. Die drei Felsplattenflächen, denen der Meister seine
+Kunstwerke anvertraut hat, sind 1½ und 1 Meter hoch und die Bilder
+ungefähr 3 Dezimeter lang. Gewiß stammen sie aus der Zeit, als Mongolen
+am Lop-nor wohnten und wahrscheinlich einen Teil des Sommers im Gebirge
+zubrachten.
+
+Eine kräftige Stütze für die Richtigkeit dieser Annahme erhielt ich
+an dem Punkte, wo wir am linken Ufer des Flusses auf ziemlich gutem
+Weidelande lagerten (4067 Meter). Hier fanden wir einen mongolischen
+Obo, einen zusammengetragenen Steinhaufen mit Schieferscheiben, in
+welche alle „~Om mani padme hum~“ (O das Kleinod im Lotos,
+Amen), das Fundamentaldogma des Lamaismus, in tibetischen Buchstaben
+eingehauen war (Abb. 157).
+
+Wegen dieser Menschenspur war uns die Stelle sympathisch, und wir
+hielten uns noch einen Tag bei dem Obo auf. Dieser Tag brachte eine
+große, erfreuliche Veränderung in unserer Lage hervor. Tscherdon hatte
+dicht beim Lager mit Aldats letztem Schusse einen jungen Kulan erlegt,
+als Mollah Schah atemlos zu mir gelaufen kam und mir sagte, er habe
+fern im Osten zwei Jäger zu Pferd gesehen. Er wurde sofort beauftragt,
+ihnen nachzusetzen und sie um jeden Preis ins Lager zu bringen. Sie
+kamen und waren anfangs ein wenig scheu, wurden aber bald zutraulich.
+Drei Monate hatten sie im Gebirge zugebracht und die Goldgräber mit
+Kulanfleisch versehen. In Temirlik waren sie nicht gewesen; wir
+schwebten also noch immer in Unkenntnis über unser Hauptquartier.
+
+Durch diese unerwartete Berührung mit Menschen nach 84tägiger
+Isolierung hob sich die Stimmung. Ich kaufte sofort ihre beiden Pferde,
+die, mit den unseren verglichen, wie englisches Vollblut aussahen.
+Ein kleiner Sack Weizenmehl kam uns ebenfalls vortrefflich zupasse.
+Was uns aber am meisten interessierte, war die abends am Lagerfeuer
+geführte Unterhaltung. Mollah Schah hatte sich schon erboten, zu Fuß
+nach Temirlik zu gehen und eine Entsatzkarawane aufzubieten, doch
+das war jetzt nicht mehr nötig. Togdasin, so hieß der eine Jäger,
+kannte die Gebirgspfade genauer und sollte auf seinem eigenen, eben
+an mich verkauften Pferde nach dem Hauptquartier reiten und eine
+Entsatzkarawane holen. Er sollte in zwei Tagen dort sein und Islam Bai
+den Auftrag bringen, uns mit 15 Pferden und Proviant bis an die Quellen
+von Supa-alik, zwei Tagereisen westlich von Temirlik im Tschimentale,
+entgegenzukommen.
+
+Um 11 Uhr in der Nacht sprengte Togdasin fort. Er nahm ein paar
+leere Konservenbüchsen mit, um seine Legitimation als mein Kurier zu
+bekräftigen und Islam begreiflich zu machen, daß er mir neue Büchsen
+von derselben Art mitzubringen habe. Togdasins ganzer Proviant bestand
+aus einem kleinen Stück Kulanfleisch. Ich beneidete ihn nicht um seine
+nächtliche Reise; die letzte Nacht hatten wir -20,2 Grad gehabt; es war
+ihm aber eine ansehnliche Vergütung versprochen, wenn er seinen Auftrag
+gut ausführen würde. Er konnte sich natürlich mit dem Pferd aus dem
+Staube machen, aber ich vertraute ihm, obwohl er uns fremd war, und er
+vertraute uns.
+
+Die beiden folgenden Tagemärsche führten uns aus dem Togri-sai hinaus
+eine gute Strecke ostwärts im Tschimentale. Der +Piaslik+, die
+mächtige Bergkette, die sich auf der Südseite des Tales erhebt und die
+Fortsetzung des Tschimen-tag bildet, sandte eine ganze Reihe wilder,
+felsiger Kulissen nach Norden in das Tal hinein. Am 14. Oktober
+brachen wir in ungewöhnlich heiterer Stimmung auf, die dadurch,
+daß fast alle zu Fuß gehen mußten, nicht herabgedrückt wurde. Nach
+unseren Berechnungen mußten wir am Abend mit der Rettungsexpedition
+zusammentreffen.
+
+Im Norden erhebt sich der +Illwe-tschimen+ mit seinen
+schneebedeckten Gipfeln (Abb. 156); über alle die zahllosen, jetzt
+trockenen Schluchten, die seine Abhänge durchfurchen, mußten wir
+hinüber, und sie machten uns viel Mühe. Mollah Schah verbürgte sich
+dafür, daß wir die Quellen von Supa-alik, wo wir Islam am Abend treffen
+sollten, noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichen würden, aber er
+wußte in der Gegend offenbar nicht Bescheid, und der zweite Jäger hatte
+uns nur zwei Tagereisen weit begleitet und war dann wieder umgekehrt.
+
+Es wurde dunkel, es wurde pechfinster, ohne daß wir einen Schimmer von
+den Quellen erblickten. Wir verloren den Pfad, dem wir bisher gefolgt
+waren. Hier und dort wuchsen Jappkakbüsche, Gras aber fehlte. Dank
+dem festen Boden hielten jedoch die Tiere diese lange Wanderung aus.
+Nachdem wir, müde und schläfrig, anderthalb Stunden in rabenschwarzer
+Nacht marschiert waren, blieben Mollah Schah und Nias, die vorangingen,
+stehen und signalisierten ein Feuer in der Ferne. Dieser Anblick
+elektrisierte uns alle, und wir beschleunigten unsere Schritte. War
+das Feuer klein, so konnte es in der Nähe brennen, war es aber groß,
+so würden wir es über Nacht nicht mehr erreichen. Jedenfalls war es
+klar, daß der Kurier in Temirlik gewesen war und daß Islam sofort mit
+der Hilfsexpedition aufgebrochen, spornstreichs hierher geritten und
+vielleicht gerade angekommen war, Feuer zum Abendessen angezündet
+hatte und bis zum Ausgange des Mondes zu rasten beabsichtigte, um uns
+dann noch weiter entgegenzugehen. Er mußte sich sagen, daß unsere
+Lage, da wir uns so verspäteten, kritisch sein konnte und daß wir,
+von allem entblößt, schneller Hilfe bedurften. Jetzt endlich fühlten
+wir uns wirklich erleichtert; es war uns, als hätten wir das Ende
+unserer Mühen und Entbehrungen gerade vor uns und brauchten uns nur
+wenig anzustrengen, um es zu erreichen. In später Nachtstunde würden
+wir dieses gleich einem Leuchtturme freundlich lockende und leitende
+Feuer erreichen, wir würden bald um seine Glut herumsitzen und uns mit
+den Unsrigen unterhalten, würden erfahren, wie es ihnen gegangen, und
+von unseren Abenteuern erzählen, während eine prächtige, heißersehnte
+Mahlzeit für unsere ausgehungerten Mägen zubereitet würde.
+
+In schwarzer Nacht gingen wir gerade auf das Feuer zu, das bisweilen
+verschwand, jedoch bald wieder aufloderte. Wir hatten einen Lotsen,
+der uns vor allen gefährlichen Schluchten warnte. Ich hielt mich an
+dem Boote, das von einem Kamel getragen wurde, und ging immer nach der
+anderen Seite hinüber, wenn mir die Hand zu erfrieren begann; dann
+hielt ich mich mit der anderen, bis auch diese alles Gefühl verloren
+hatte und die erste inzwischen wieder warm geworden war.
+
+Während einer langen Strecke war das Feuer nicht sichtbar, unsere
+Hoffnung erlosch, und die Müdigkeit kam wieder. Vielleicht lagerten
+dort nur einige Goldgräber. Wir blieben stehen und riefen und sammelten
+Jappkakbüschel, mit denen wir ein gewaltiges Feuer anfachten. Doch
+kein Zeichen von Verständigung ließ sich wahrnehmen. Aus dem Revolver
+wurden ein paar Schüsse abgefeuert, die in der dunkeln Nacht klanglos
+verhallten, ohne auch nur von einem Echo beantwortet zu werden. Mit
+verhaltenem Atem lauschten wir; still wie ein Grab lag die Gegend,
+und das Feuer zeigte sich nicht mehr. Vielleicht waren sie von einem
+forcierten Ritt todmüde und schliefen fest.
+
+Als wir unser eigenes Feuer, an dem wir eine halbe Stunde gerastet
+und uns für eine Weile erwärmt hatten, verließen, war die Dunkelheit
+vor uns noch undurchdringlicher als vorher. Ein Blinder kann keine
+schwärzere Nacht vor Augen haben, und unwillkürlich blickte ich zu den
+Sternen empor, um mich zu überzeugen, daß ich mein Augenlicht nicht
+verloren hatte. Stunde auf Stunde marschierten wir nach Osten weiter
+und zogen unsere müden Tiere, die Weide zu wittern schienen, da sie
+sich nicht weigerten, uns zu folgen.
+
+Jetzt flammte das Feuer wieder auf, und die eben noch stumm
+einherwandernden Männer sprachen wieder eifrig miteinander. Wir
+passierten die ersten Malgunsträucher, deutliche Vorboten nahen
+Wassers; wir konnten nicht mehr weit von den Quellen entfernt sein.
+Dann wurde dieser falsche Feuerschein wieder matter und erlosch. Die
+Männer riefen alle fünf Minuten mit der ganzen Kraft ihrer Lungen, aber
+ihre Stimmen verhallten ungehört in der Nacht. Ich hätte mich versucht
+fühlen können zu glauben, ein Irrlicht wolle uns foppen, es schwebe vor
+uns her und entferne sich in dem Maße, wie wir uns näherten.
+
+Unsere Geduld war auf eine zu starke Probe gesetzt worden, unser mit
+dem Feuer entflammtes Interesse erschlaffte wieder, als jenes erlosch,
+und die Müdigkeit erhielt von neuem die Oberhand. Als wir den nächsten
+Gürtel von Buschholz und Gestrüpp erreichten, kommandierte ich zu
+allgemeiner Zufriedenheit Halt. Wir waren über 12 Stunden gewandert,
+hatten aber dennoch nicht mehr als 43 Kilometer zurückgelegt.
+
+Menschen und Tiere waren so erschöpft, daß die Karawane sich beim
+Scheine des in aller Eile angezündeten Feuers höchst kläglich ausnahm.
+Der Atem der Kamele bildete in der Kälte Wolkensäulen, die Leute
+saßen jeder da, wo er stehengeblieben war, auf der Erde, und die
+fehlgeschlagene Hoffnung ließ uns unsere Erschöpfung doppelt fühlen.
+
+[Illustration: 162. Der Kalta-alagan von Süden (Lager am 15. und 16.
+November). (S. 384.)]
+
+[Illustration: 163. Der Kalta-alagan von Süden (Lager am 15. und 16.
+November). (S. 384.) (Fortsetzung nach rechts des Bildes Nr. 162.)]
+
+Doch auch eine erfreuliche Entdeckung wurde in dem Feuerscheine
+gemacht. Es stellte sich heraus, daß unser Glücksstern uns nach einem
+vorzüglichen Weideland mit gutem, hohem Gras und Brennholz in Hülle
+und Fülle geführt hatte. Eine Kanne Flußwasser war noch da, und
+es reichte zu einer Tasse für die Person. Tee und ein paar Stücke
+Kulanfleisch, die über dem Feuer geröstet wurden, waren alles, was wir
+noch besaßen. Das Lager wurde ganz provisorisch aufgeschlagen, da wir
+am folgenden Morgen auf jeden Fall früh aufstehen und die Quellen
+suchen wollten. Das trügerische Feuer ließ sich nicht wieder sehen,
+aber der Mond schien, und für den Fall, daß die Unsrigen sich in der
+Nähe befänden und in der Nacht weiterzureiten gedächten, unterhielten
+wir noch anderthalb Stunden lang ein großes Signalfeuer. Und dann
+fielen wir unter dem klaren, sternenfunkelnden Himmelsgewölbe in einen
+todähnlichen Schlaf. Wir befanden uns hier wieder auf einer Höhe von
+nur 3471 Meter.
+
+Am Morgen des 15. Oktober fanden die Männer eine nur ein paar hundert
+Meter entfernte Süßwasserquelle, und da das Lager in jeglicher Hinsicht
+vortrefflich war, beschlossen wir, hier den Gang der Ereignisse
+abzuwarten. Mollah Schah, der auf Kundschaft ausgewesen war, erklärte,
+das gestrige trügerische Feuer sei von Jägern angezündet worden, die
+jetzt mit ihren gesammelten Fellen nach Tschertschen zurückkehrten
+und uns augenscheinlich absichtlich auswichen, weil sie nicht wissen
+konnten, was für Leute wir sein würden. Wir waren also wieder auf uns
+selbst angewiesen und wußten nicht, was wir von der Hilfsexpedition
+und der Zuverlässigkeit des Kuriers Togdasin denken sollten. Tscherdon
+hatte von ihm etwas Pulver und Blei erhalten und war den ganzen Morgen
+fort, um uns eine Antilope zu verschaffen. Den Tieren ist jedoch in
+dieser von Jägern oft besuchten Gegend schwer beizukommen.
+
+Um 2 Uhr kam er mit leeren Händen wieder. Dafür aber sagte er, daß er
+im Westen etwas Schwarzes sehe, von dem er erst geglaubt habe, es sei
+eine Kulanherde, das er jetzt jedoch für Reiter halte, die sich unserem
+Lager näherten.
+
+Ich eilte mit dem Fernglase hinaus. Eine berittene Schar sprengte
+wirklich in einer Staubwolke heran. Von einem Hügel beobachteten wir
+die Schar mit größter Spannung. Sie war noch weit, weit entfernt, aber
+über den Vegetationsgürtel hinweg, den sie noch nicht erreicht hatte,
+gut zu sehen. Infolge der Luftspiegelung schien sie etwas über dem
+Erdboden zu schweben, doch an den auf und nieder hüpfenden Bewegungen
+merkte man, daß die Männer im Galopp ritten. Jetzt verschwanden sie
+zwischen der dunkleren Vegetation, aber die Staubwolke erhob sich noch
+über den Büschen. Es mußten die Unseren sein, die unser Signalfeuer
+nicht bemerkt hatten, sondern erst in der Frühe weitergeritten waren,
+bis sie die Spur der Kamele gefunden hatten und dann umgekehrt waren,
+um uns ausfindig zu machen.
+
+Die Spannung erreichte ihren Höhepunkt, als zwei Reiter diesseits des
+Gebüsches auftauchten; dann erschienen noch zwei und eine ganze Herde
+von Pferden, die jene vor sich her jagten. Sie ritten in Karriere.
+Jetzt erkannte ich Islam an seinem Lederbaschlik. Er ritt auf einem
+Schimmel an der Spitze. Er trieb sein Pferd zu noch schnellerem Laufe
+an, so daß er einige Minuten vor den anderen ankam, stieg in einiger
+Entfernung ab und grüßte. Er sah gesund und munter aus und meldete, daß
+im Hauptquartier alles in Ordnung sei. Die übrigen waren Musa aus Osch,
+Chodai Värdi und Tokta Ahun aus Abdall.
+
+Es war ihr Feuer gewesen, das wir gesehen hatten. Sie waren richtig
+in aller Frühe aufgebrochen und scharf nach Westen geritten, bis
+sie unsere Spuren gesehen und erkannt hatten, daß wir aneinander
+vorbeigegangen waren.
+
+Islam hatte 15 fette, starke Pferde, sowie Proviant mit und brachte
+mir lauter erfreuliche Nachrichten. Der Postdschigit Jakub war aus
+Kaschgar gekommen, und mit einem Schlage wurde ich durch Brief-
+und Zeitungspakete meiner Heimat und der Zivilisation wieder ganz
+nahegerückt. Kurz nach unserem Aufbruch von Mandarlik hatten sie das
+Lager nach Temirlik verlegt, wo sie sich bei mongolischen Erdhöhlen
+niedergelassen hatten. Der Amban von Tscharchlik hatte in eigener hoher
+Person dort einen Besuch abgestattet, ebenso der Mongolenhäuptling
+Pschui aus Zaidam, aber beide hatten wieder heimkehren müssen, ohne
+mich zu sehen. Ersterer hatte 30 mit Mais beladene Esel mitgebracht.
+Seit ein paar Wochen hatten die Daheimgebliebenen unsertwegen in der
+größten Unruhe geschwebt, da wir versprochen hatten, höchstens 2½
+Monate fortzubleiben, und nur für diese Zeit Proviant mit hatten.
+
+Hunderte von Fragen und Antworten kreuzten einander, und erst spät in
+der Nacht kam ich zur Ruhe. Die Männer saßen lange plaudernd an einem
+großen, flammenden, jetzt von vielen Händen unterhaltenen Feuer; sie
+hatten einander so viel zu erzählen, und alle waren froh und zufrieden
+über das Wiedersehen. Welch ein Unterschied gegen den Abend vorher, an
+dem wir, von allem entblößt, aufs Geratewohl Halt gemacht hatten! Die
+Raben des Elias waren wiedergekommen, und unsere dreimonatigen Mühen
+und Strapazen hatten ihr Ende erreicht.
+
+Eine Veranlassung zur Trauer war Aldats Tod. Sein Bruder Kader Ahun
+hatte sich selbst nach Tschimen begeben, um ihn zu treffen, und
+erhielt jetzt eine eingehende Beschreibung von der Krankheit und
+dem Tode seines Bruders. Er erkannte auch, daß wir gut gegen Aldat
+gewesen waren, alles getan hatten, um ihn zu retten, und daß alle sein
+Hinscheiden beklagten. Kader Ahun sagte, daß er auf die Trauerbotschaft
+vorbereitet gewesen sei. Vor einiger Zeit habe er geträumt, daß er über
+eine große Ebene reite und meiner Karawane begegne. Vergebens habe er
+unter den Leuten seinen Bruder gesucht, und als er erwacht sei, habe
+er gewußt, daß Aldat ein Unglück zugestoßen sein müsse. Wir rechneten
+aus, daß der Traum genau mit Aldats Tod zusammentraf, und daß er nicht
+erdichtet war, konnte Schagdur konstatieren. Kader Ahun hatte dem
+Kosaken nämlich lange, bevor Nachrichten von uns eingelaufen waren,
+sein Gesicht mitgeteilt und hinzugefügt, daß Aldat sicher tot sei.
+Dies war der einzige Fall von Telepathie, der mir auf meinen Reisen
+vorgekommen ist.
+
+Nach weiteren zwei, der Ruhe, Lektüre und astronomischen Beobachtungen
+gewidmeten Tagen ritten wir am 18. Oktober fast 50 Kilometer ostwärts
+über kahle Einöden und Sandgürtel. Unsere Kamele und letzten Pferde
+wurden unbeladen langsam nachgeführt. Es war sehr behaglich, wieder
+auf einem großen, fetten, ausgeruhten Pferde zu sitzen, und ich freute
+mich, daß unsere überlebenden Tiere jetzt über ein halbes Jahr in
+Frieden weiden und der Ruhe pflegen würden; sie hatten es verdient.
+
++Bag-tokai+ (der Gartenwald) ist der Name einer kleinen,
+armseligen Oase, die von Quellen aus dem sonst ganz sterilen Erdreich
+hervorgezaubert worden ist. Hier trafen wir acht Männer aus Bokalik,
+die auf dem Heimwege nach Tschertschen 11 Yake, 4 Kulane und 2
+Orongoantilopen geschossen hatten. Sie konnten beim Verkauf der Felle
+auf guten Verdienst rechnen. Wir gaben ihnen so viel Reis, wie wir
+entbehren konnten; sie hatten den ganzen Sommer nur von Yak- und
+Kulanfleisch gelebt, und wir wußten selbst, was es heißt, es schlecht
+zu haben, und wie schön es ist, wenn der Speisezettel ein wenig
+Abwechslung bringt.
+
+Unsere Karawane war wieder zu einer ansehnlichen Reiterschar
+angewachsen, als wir am 20. Oktober die Richtung nach Nordosten, nach
+Temirlik, einschlugen. Die bösen Geister des Westwindes hatten sich
+wieder verschworen, uns noch einmal tüchtig durchzubleuen, bevor wir
+bei den Fleischtöpfen des Hauptlagers anlangten.
+
+Auf halbem Wege begegnete mir Schagdur; mit militärischer Haltung saß
+er wie aus Erz gegossen auf seinem Pferde. Unser Zusammentreffen war
+freudig, und wir hatten einander viel zu erzählen. Die meteorologischen
+Ablesungen hatte er vortrefflich besorgt, und die selbstregistrierenden
+Instrumente waren fehlerlos gegangen. Es dämmerte schon, als wir die
+Quellen von +Temirlik+ erreichten. Hier kamen mir Faisullah und
+Kader, der mit auf der Fähre gewesen war, entgegen und zeigten mir
+unsere sechs ausgeruhten Kamele, die den ganzen Sommer ungestört
+geweidet hatten. Am rechten Ufer des kleinen Baches, der von den
+Quellen gebildet wird, stiegen die Funken mehrerer Feuer in die Luft
+empor; hier stand das neue Hauptquartier wie ein Dörfchen. Dort sah man
+zwei Zelte und die große mongolische Jurte, eine von Schilf und Zweigen
+erbaute Hütte, ganze Stapel von Maissäcken und den schwereren Teil
+der Kamellasten (Abb. 158). Ali Ahun, der Schneider, und Jakub, der
+Postdschigit, begrüßten uns hier, und dazu noch viele Leute, die ich
+noch nie gesehen hatte und die nur zufällige Gäste waren.
+
+Auf dem linken Ufer steht eine doppelte Lößterrasse. Auf dem unteren
+Absatz war bereits meine kleine Jurte aufgeschlagen und der angeheizte
+Ofen hineingesetzt. In die obere Terrasse, die eine lotrechte Wand
+bildet, haben die Mongolen in alten Zeiten Grotten hineingegraben, die
+vorzügliche Zimmer abgeben (Abb. 159). Eines von ihnen hatte Schagdur
+schon als eine vortreffliche photographische Dunkelkammer eingerichtet,
+und sämtliches photographisches Zubehör stand dort bereit zur Benutzung
+beim Entwickeln der Platten, die während der tibetischen Expedition
+aufgenommen worden waren.
+
+Damit war diese mühevolle Reise beendet, und wir konnten uns mit
+gutem Gewissen ein paar Wochen der Ruhe hingeben. Die Reise hatte zu
+großartigen geographischen Entdeckungen geführt, aber sie hatte auch
+bedeutende Opfer an Strapazen, Leiden und Leben gekostet. Von den 12
+Pferden lebten nur noch 2 und von den 7 Kamelen Los 4. Eines von ihnen
+erreichte glücklich Temirlik und stand zwei Tage stolz aufrecht in dem
+gelbgewordenen Grase; am dritten Tage legte es sich hin und starb,
+ohne die Weide auch nur angerührt zu haben. Und auch ein Menschenleben
+war verloren gegangen.
+
+
+
+
+Dreiunddreißigstes Kapitel.
+
+Über sechs Pässe.
+
+
+Nachdem ich in der Jurte an den Quellen von Temirlik ordentlich
+installiert war, wurde der Tag folgendermaßen eingeteilt: erst schlief
+ich gründlich aus, dann aß ich mein Frühstück, beschäftigte mich
+einige Stunden damit, Beobachtungsreihen und Tagebücher ins Reine
+zu schreiben, um die Abschriften nach Hause schicken zu können, und
+schrieb Briefe nach Europa; hierauf las ich schwedische Zeitungen in
+einem von Islam gebauten Lehnstuhle am Ofen, in dem beständig ein
+gemütliches Feuer knisterte. Wenn es dunkel wurde, wurde die schwarze
+Grotte erleuchtet, wo ich bis zum späten Abend Platten entwickelte. War
+ich mit allen diesen Arbeiten fertig, so erhielt ich in der Jurte mein
+Mittagessen oder Abendessen, wie man es nennen will.
+
+Meine Zeit wurde aber auch von vielen anderen Dingen in Anspruch
+genommen. Löhne für die vergangene Zeit wurden ausbezahlt. Wir kauften
+vier vortreffliche Kamele und besaßen jetzt im ganzen 14. Musa aus
+Osch und der junge Kader wurden entlassen, weil sie sich nach Hause
+zurücksehnten; der erstere mußte die gewaltige Post mitnehmen, die ich
+für Kaschgar fertiggemacht hatte. Diese Post war in vieler Beziehung
+wichtig. Ich hatte einen Überschlag über den Bestand der Reisekasse
+gemacht und erkannt, daß er nicht ausreichte. Ich schrieb daher an
+meinen Vater und an den schwedischen Gesandten in Petersburg und bat,
+daß eine größere Summe in russischem Papiergeld an Generalkonsul
+Petrowskij geschickt werden möchte, der letzteres dann in chinesisches
+Silbergeld einwechseln und mir im nächsten Sommer nach Tscharchlik
+schicken sollte. An Oberst Saizeff schrieb ich und bat ihn, mir eine
+neue Sendung Konserven nach Osch zu schicken.
+
+Vom 25. Oktober bis zum 4. November machten die Kosaken einen
+Jagdausflug nach dem Kum-köll; sie wurden von Tokta Ahun, Mollah und
+Togdasin begleitet und sollten ein paar Aufgaben lösen. Da ich selbst
+nicht Zeit hatte, den Tschimen-tag und den Kalta-alagan auch von
+dieser Gegend aus zu überschreiten, erhielt Schagdur den Auftrag,
+eine Kartenskizze von dem Wege, den sie zurücklegten, zu zeichnen,
+auf dem ganzen Zuge meteorologische Beobachtungen auszuführen und
+namentlich die Höhe der Pässe zu bestimmen. Er löste diese Aufgabe
+tadellos, und seine Karte stimmte vorzüglich, wie sich bei der später
+von mir ausgeführten Kontrollrechnung herausstellte. Jedenfalls füllte
+Schagdur durch diese von ihm gemachte Arbeit eine wichtige Lücke in
+meinen eigenen Aufnahmen aus. Als die Kosaken wiederkamen, brachten sie
+obendrein noch eine ganze Herde erlegten Hochwildes mit (Abb. 160).
+Aber kalt und unfreundlich war es in den Bergen gewesen, die jetzt vom
+Scheitel bis zur Sohle kreideweiß glänzten.
+
+Unser Lager bot denselben lebhaften Anblick dar wie früher
+Tura-sallgan-ui am Tarim. Alle Goldgräber und Jäger, die von Bokalik
+zurückkehrten, statteten uns natürlich einen Besuch ab, und aus den
+Tiefländern kamen Leute, welche Dienst suchten. Doch auf meiner
+Terrasse hatte ich Ruhe und Frieden und Aussicht auf das Lager jenseits
+des Baches, über den eine kleine Brücke führte. Nur Hunderte von Raben
+störten mich mit ihrem heiseren Krächzen und mußten jedesmal, wenn eine
+astronomische Beobachtungsreihe vorgenommen werden sollte, durch einige
+Flintenschüsse erst verscheucht werden.
+
+Am 11. November waren wir wieder zum Aufbruch bereit. Es war mein
+Wunsch, ein vorher nie besuchtes Gebiet des Tschimen-tag und des
+Akato-tag zu erforschen, eine Karte davon aufzunehmen und so eine große
+Lücke in meiner Karte von Nordtibet auszufüllen. Ein Vergnügen war es
+nicht, diese neue Exkursion, die mindestens einen Monat in Anspruch
+nehmen würde, im bitterkalten Winter anzutreten; lieber wäre ich nach
+den östlichen Wüsten gegangen, wohin ich mich sehr sehnte, aber auch
+diese Arbeit mußte ausgeführt werden.
+
+Als Teilnehmer waren Tscherdon, Islam Bai, Turdu Bai, Tokta Ahun,
+Chodai Bärdi und Togdasin, der die betreffende Gegend ganz genau
+kannte, ausersehen. Kutschuk und Nias begleiteten uns den ersten Tag,
+um die Pferde führen zu helfen, die, ausgeruht und munter, anfangs
+ihre Lasten abzuschütteln versuchten. Es waren ihrer 13; wir hatten
+auch 4 Maulesel, dafür aber keine Kamele. Ich hatte mir selbst das
+Versprechen gegeben, daß ich es nicht wieder so schlecht haben
+sollte wie das letztemal, und nahm daher einen reichlichen Vorrat
+Konserven, sowie den Ofen mit. In Temirlik sollte Schagdur Chef sein
+und mit den meteorologischen Ablesungen fortfahren. Mein sämtliches
+zurückbleibendes Gepäck wurde zum Schutze vor Feuersgefahr in einer der
+Grotten untergebracht, an deren Eingang beständig Wache gehalten werden
+sollte.
+
+Da das Gebiet, welches wir jetzt erforschten, den Gegenden, die
+wir im vorigen Sommer gesehen hatten, sehr ähnelte, werde ich
+mich in der Folge kurz fassen. Sechs Tagemärsche führten uns nach
+dem Ajag-kum-köll, wohin wir 140 Kilometer hatten. Den ersten Tag
+durchquerten wir das Tschimental, seinen ebenen, unfruchtbaren
+Lehmgrund und auf seiner Südseite einen Gürtel von höchstens 15 Meter
+hohen Dünen und traten darauf wie durch ein Riesenportal von lauter
+Granitfelsen in den Tschimen-tag ein. Die ganze Zeit über stiegen wir
+nach Süden aufwärts. Von unserem Lager, wo ich es bald ebenso warm und
+gemütlich hatte wie in Temirlik, beherrschte man das ganze Tal nach
+Norden hin bis an den Akato, dessen domförmiges Gebirge sich ohne eine
+Spur von Schnee auf seinem Kamme gen Himmel erhob.
+
+Als ich nach einer herrlichen Nacht aus meinen Träumen geweckt wurde,
+konnte ich mich erst gar nicht in die Tatsache hineinversetzen, daß
+wir uns jetzt wieder auf dem Marsche befanden. Die kurze Ruhezeit
+war gar zu schnell vergangen. Doch zu Grübeleien haben wir keine
+Zeit; das Frühstück wird gebracht und verzehrt, dann geht es wieder
+vorwärts durch eine Gebirgslandschaft von Granit in allen erdenkbaren
+Abarten. Jetzt führte uns Togdasin nach dem Tschimen-tag über eine
+Kette von Vorbergen auf einem bequemen Passe, auf dem der Schnee eine
+zusammenhängende Decke bildete. Die Löcher der Murmeltiere waren zur
+Hälfte vom Schnee verstopft, in welchem auch keine Spuren von diesen
+Tieren zu sehen waren. Sie waren schon für den Winter zu Bett gegangen
+und hatten es gut und warm in ihren Höhlen. Sie tun wohl daran.
+Nordtibet ist schon im Sommer so unfreundlich, daß man gut tut, es im
+Winter zu meiden.
+
+Der Hauptpaß, der uns über den Tschimen-tag selbst führte, war sehr
+bequem und bestand aus weichen, abgerundeten Hügeln ohne anstehendes
+Gestein. Auf seiner Südseite gelangten wir in dasselbe Längental, das
+wir im Juli weiter oben im Osten gekreuzt hatten. Unweit des Lagers
+heißt die Gegend +Att-attgan+ (das erschossene Pferd), weil dort
+ein Jäger, der längere Zeit Pech gehabt hatte und am Verhungern gewesen
+war, schließlich sein Pferd hatte erschießen müssen, um Fleisch zu
+bekommen. Unser Lagerplatz am Flusse heißt +Mölle-koigan+ (der
+fortgeworfene Sattel), weil er hier seinen Sattel im Stiche gelassen
+hatte.
+
+Als wir auf der anderen Seite in ein schmales Tal eintraten, das nach
+dem Kamm der Kalta-alagan-Kette hinaufführte, scheuchten wir eine
+friedlich an den Abhängen weidende Yakherde auf. Sie ergriff die Flucht
+und erschreckte ihrerseits eine Kulanherde, die sich höher oben befand.
+Jetzt wälzten sich die schweren Bataillone lawinengleich in Wolken von
+Sand und Staub den Berg hinab.
+
+Im Süden des Passes haben wir einen steilen Abstieg in einer mit
+Granitblöcken und Schutt besäten Talfurche. Nach dem Austritt aus der
+trompetenförmigen Mündung des Tales schwenkt unser Weg nach Südwesten
+und Westen ab und begleitet den Fuß der Bergkette (Abb. 162, 163),
+deren Ausläufer und Verzweigungen von Wetter und Wind in launenhafter
+Weise geformt worden sind. Sie gleichen Tischen, Lehnstühlen, Schalen
+und Hälsen mit Köpfen, und manchmal hat sich die Kraft des Windes quer
+durch dünnere Partien durchgefressen.
+
+Der +Ajag-kum-köll+ blitzte am südwestlichen Horizont wie eine
+riesenhafte Schwertklinge. Da aber der Weg dorthin noch weit war,
+lagerten wir in der Einöde, wo trinkbares Wasser in 1,42 Meter Tiefe
+gegraben wurde.
+
+Während des Rasttages, der hier unseren Tieren geschenkt wurde,
+erhielten Tscherdon, Togdasin, Islam Bai und Turdu Bai die Erlaubnis,
+auf die Jagd zu gehen. Sie ritten in zwei Partien, aber nur die beiden
+letztgenannten kamen abends wieder. Wir zerbrachen uns natürlich
+sehr den Kopf darüber, was den anderen passiert sein könnte, und als
+der Abend und die Nacht vergingen, ohne daß sie etwas von sich hören
+ließen, fürchteten wir, daß sie sich verirrt hätten. Erst am nächsten
+Morgen gegen 10 Uhr kamen sie in traurigem Zustand im Lager an. Eine
+Archariherde verfolgend, waren sie wilde Täler hinaufgeritten, hatten,
+als es gar zu steil wurde, ihre Pferde zurückgelassen und waren über
+Block- und Geröllmassen weiter geklettert. Auf einmal war Togdasin
+buchstäblich zusammengebrochen und hatte über entsetzliche Kopf- und
+Herzschmerzen geklagt. Er konnte keinen Schritt mehr gehen und sich,
+als Tscherdon die Pferde geholt hatte, nicht einmal im Sattel halten.
+Die Nacht verbrachten sie infolgedessen mitten im ärgsten Geröll,
+wo sie nicht einmal Wasser zum Trinken hatten. Der Kranke hatte den
+Kosaken gebeten, allein ins Lager zurückzukehren, da er selbst auf alle
+Fälle bald sterben werde und es ihm ganz gleichgültig sei, wo dies
+geschehe.
+
+Beide blieben in der Kälte liegen, und Tscherdon rüttelte von Zeit
+zu Zeit Leben in seinen Kameraden und hinderte ihn am Erfrieren.
+Beim ersten Tagesgrauen machten sie sich wieder auf und schleppten
+sich langsam nach dem Lager hinunter. Togdasin befand sich in höchst
+bedauernswertem Zustande und mußte auf seinem Pferde festgebunden
+werden, als wir nach dem Seeufer hinabritten und in einer Gegend
+lagerten, die nur spärliche Jappkakbüschel und kleine Eisschollen am
+Ufer aufzuweisen hatte (Abb. 161).
+
+[Illustration: 164. Turdu Bai und Kutschuk mit dem zusammengelegten
+Faltboot. (S. 384.)]
+
+[Illustration: 165. Der Verfasser im Faltboot auf dem Ajag-kum-köll.
+(S. 384.)]
+
+Am Morgen des 18. November wurde das Boot (Abb. 164) zu einer
+Fahrt über die salzigen Tiefen des Ajag-kum-köll instand gesetzt
+(Abb. 165). Es wurde von Tokta Ahun gerudert und trug eine
+bedeutende Last, denn wir nahmen außer Segeln, Rudern, Rettungsbojen,
+Tiefenlotungsapparaten und Instrumenten auch Proviant für zwei Tage,
+nämlich Fleisch, Konserven, Brot und Kaffee, ferner Geschirr zum
+Bereiten der Speisen, eine Tschugun (Kupferkanne) mit Wasser und einen
+kleinen Beutel mit Eisstücken mit. Schließlich versahen wir uns auch
+mit Pelzen und Filzdecken; so war der Raum in dem kleinen Fahrzeug
+überall besetzt. Ich peilte ein für allemal ein kleines vorspringendes
+Vorgebirge im Südwesten ein, auf das wir in gerader Linie zusteuerten.
+Das Wetter war herrlich, der See lag ruhig und still, und nur eine kaum
+merkbare Dünung bewegte seine Fläche.
+
+Einmal in der Viertelstunde maß ich die Geschwindigkeit und lotete die
+Tiefe, die nach der Mitte des Sees, wo sie 19,63 Meter betrug, zunimmt.
+Unweit des Nordufers stießen wir auf ein dünnes, loses Eisfeld, das mit
+Leichtigkeit forciert wurde. Diese Eisscheiben, die nur 1 Zentimeter
+dick waren, glänzten so intensiv im Sonnenschein, daß ihr Anblick ohne
+Schneebrille nicht zu ertragen war. Wahrscheinlich breitet sich vom
+Flusse eine Süßwasserschicht über den salzigen See aus, und diese ist
+es, die gefriert.
+
+Das Arbeiten mit der Lotleine, die jedesmal, wenn sie heraufgeholt
+wurde, gefror und so steif wie Holz wurde, war ein ziemlich frostiges
+Vergnügen, und ich konnte mir zwischen den verschiedenen Lotungen kaum
+die Hände wieder warm reiben.
+
+Die Stunden enteilten, ohne daß wir uns dem Vorgebirge merklich
+näherten. Aber wir kreuzten den See ja auch in der Diagonale. Am
+Nachmittag erhoben sich Staubwirbel und Tromben auf dem südlichen Ufer
+und verschmolzen bald zu einer einzigen graugelben Wolke, die über
+den Erdboden hinjagte. Das bedeutete nichts Gutes. Hier herrschte
+sichtlich starker Nordwestwind. Noch eine Weile, und wir hörten ein
+Brausen im Westen; die ersten Windhauche erreichten uns, den eben noch
+blanken Wasserspiegel trübte eine leichte Kräuselung, die mit großer
+Schnelligkeit zu Wellen und Wogen anschwoll, und je weiter wir in den
+Bereich der Windpeitsche eindrangen, desto höher wurden die Wogen. Wir
+behielten den Kurs bei, bis das Stampfen des schwerbeladenen Bootes uns
+zwang, nach Süden und Südosten zu rudern. Das einzige, was wir jetzt
+zu tun hatten, war, zu versuchen, möglichst schnell das nächste Ufer
+zu erreichen, denn es war nur zu wahrscheinlich, daß der Wind in einen
+Sturm ausartete und uns gegen eine unwirtliche Küste schleudern könnte,
+wo das zerbrechliche Fahrzeug vielleicht zerfetzt würde. Die Dämmerung
+war schon eingetreten, und es wäre unter allen Verhältnissen mit Gefahr
+verknüpft gewesen, in der Dunkelheit bei schwerem Seegang zu landen.
+
+Die Karawane hatte Befehl, an demselben Tag 5 Stunden weit am Nordufer
+entlangzugehen und in dem neuen Lager nachts ein Feuer zu unterhalten,
+das uns zur Leitung dienen sollte, falls wir die Nachtzeit zur
+Rückfahrt benutzten. Dieses Feuer ist uns jedoch überhaupt nicht zu
+Gesicht gekommen, weil die Entfernung zu groß und die Luft voll dicken
+Staubes war.
+
+Mittlerweile tanzte das Schiffchen auf seiner gefährlichen Straße
+weiter. Glücklicherweise hatten sich Wind und Wellen über das Eis
+am südlichen Ufer hergemacht; dieses hätte sonst unser Boot wie mit
+Messern zerschnitten. Die weiße Linie, die vor uns in der Dunkelheit
+leuchtete, war die Brandung der schäumenden Wogen am Ufer, das
+glücklicherweise aus Sand bestand und ziemlich steil nach dem See
+abfiel. Ehe wir uns dessen versahen, befanden wir uns mitten in
+der tobenden Brandung. Das Boot wurde von einer Welle auf das Ufer
+geworfen, aber vom zurücklaufenden Wasser sogleich wieder mitgezogen,
+dann von neuem emporgeschleudert, so daß seine Holzrahmen knackten und
+der Segeltuchrumpf sich bis zur Gefahr des Zerplatzens ausbauchte.
+Doch nun sprang Tokta Ahun ins Wasser, und mit vereinten Kräften zogen
+wir das Boot an Land, was uns jedoch erst gelang, nachdem ein paar
+heranstürmende Wellen hineingeschlagen waren und einen Teil unserer
+Habseligkeiten durchnäßt hatten.
+
+Wir lagerten unmittelbar am Ufer im Schutze eines kleinen Hügels. Hier
+gab es sehr viele Köuruk-Pflanzen, eine Art kleiner, niedriger holziger
+Steppengewächse, die ein vortreffliches Feuermaterial abgaben und
+von denen wir einen gewaltigen Haufen sammelten. Das einzige Zeichen
+von Leben waren Gänsefedern und Kulanspuren. Von der Landschaft war
+nichts zu sehen, denn wir waren von undurchdringlicher Nacht umgeben
+und fanden das Brennmaterial nur mit Hilfe hier und dort angezündeter
+kleiner Filialfeuer.
+
+Als der Vorrat hinreichend groß war, ließen wir uns mit umgehängten
+Pelzen am Lagerfeuer nieder, stellten die kupferne Kanne mit Wasser auf
+die Glut und bereiteten uns ein hochfeines Abendessen, das für mich aus
+Ochsenschwanzsuppe, Käse, Brot und Kaffee bestand, während sich Tokta
+Ahun an einer Hammelkeule gütlich tat und Tee dazu trank. Dann blieben
+wir noch gemütlich sitzen, qualmten mit unseren Pfeifen und schmiedeten
+großartige Pläne für die beschlossene Winterreise durch die Wüste Gobi
+nach den Kara-koschun-Sümpfen, die Tokta Ahun so genau kannte wie seine
+Tasche.
+
+Der Wind flaute ab, der Himmel klärte sich auf und kündigte eine kalte
+Nacht an. Um 9 Uhr hatten wir -14 Grad, die Feuerung war zu Ende,
+und es war Zeit, sich schlafen zu legen. Mein ehrlicher Ruderer hörte
+meinen Vorschlag, die beiden Boothälften als Zelte zu benutzen, mit
+skeptischer Miene an; er mußte aber bald eingestehen, daß es eine
+außerordentlich schlaue Idee war. Wir rollten uns wie Knäuel unter
+der Bootschale zusammen und sahen mit einem gewissen Beben einer
+eiskalten Nacht entgegen. Ich schlief auch nur einige Stunden. Dann
+jagte mich die starke Kälte von -22,1 Grad auf, und ich weckte meinen
+Reisekameraden, der mir aus diesem nicht für helle Sommerträume
+geschaffenen Neste heraushalf.
+
+Wir waren halb erfroren, als wir aus unseren dünnen Schalen krochen.
+In den Füßen hatte ich das Gefühl verloren, obwohl sie in vier Paar
+Strümpfen und gewaltigen, von Ali Ahun angefertigten, mit Lammfell
+gefütterten Stiefeln steckten. Unsere erste Sorge war daher, Material
+zu einem ordentlichen Feuer zu sammeln, und an diesem mußte ich mich
+ausziehen, um das Blut durch Reiben wieder in Umlauf zu bringen. Doch
+die Nachtkälte liegt einem noch den ganzen Tag in den Knochen, bis man
+wieder in seine gewöhnlichen, relativ bequemen Verhältnisse gelangt.
+
+Bei 19 Grad Kälte stießen wir das Boot vom Lande ab und ruderten im
+herrlichsten Wetter über den See in der Richtung der Gegend, wo die
+Karawane, unserer Meinung nach, angelangt sein und uns erwarten mußte.
+Die Maximaltiefe betrug hier 24 Meter.
+
+Schon weit draußen vom See aus glaubten wir, auf der rechten Spur zu
+sein, und vermeinten, Zelt und Jurte und Pferde zu sehen. Als wir uns
+aber genügend genähert hatten, um die Gegenstände mit dem Fernglase
+deutlich erkennen zu können, verwandelten sich jene beiden in zwei
+kleine Hügel, diese aber in eine Kulanherde. Wir landeten jedoch,
+um zu konstatieren, daß die Karawane hier vorbei und nach Westen
+weitergezogen war. Zwei Bären waren kürzlich nach Osten getrabt, um die
+Murmeltiere in ihrem tiefen Winterschlafe zu stören.
+
+Es blieb uns also nichts weiter übrig, als am Ufer entlangzurudern, um
+die Unseren aufzuspüren. Ganz hinten im Westen zeigte sich unter der
+sinkenden Sonne eine Rauchwolke, wir konnten aber nicht entscheiden,
+ob sie von einem Feuer herrührte oder aus von fliehenden Kulanen
+aufgewirbeltem Staube bestand. Ein stumpfer Vorsprung nach dem anderen
+wurde in der Dämmerung umschifft, und Tokta Ahun schob jetzt das Boot
+in seichtem Wasser mit dem Ruder längs des Ufers weiter. Ich saß ganz
+steif gefroren in der vorderen Hälfte des Bootes, der Ruderer aber
+hielt sich warm und sang ein schwermütiges Lied aus den Hütten von
+Abdall. Schließlich drang ein Feuerschein durch das Dunkel, aber diese
+nächtlichen Feuer sind, so belebend sie auch anfangs wirken, meistens
+trügerisch. Nachdem wir drei Stunden auf den Schein zugerudert waren,
+verschwand er wieder. Wir setzten jedoch unseren Weg fort und stießen
+von Zeit zu Zeit gellende Rufe aus, die endlich durch Hundegebell
+beantwortet wurden. Da loderte das Feuer in unserer unmittelbaren
+Nachbarschaft auf, und ein Fackelträger nahm uns am Ufer in Empfang.
+
+Togdasin, den wir gleich Aldat im Gebirge gefunden hatten, schien zu
+demselben Schicksale verurteilt zu sein wie dieser. Die Krankheit
+nahm sichtlich eine Wendung zum Schlechten. Der Mann lag, wie die
+Muselmänner zu tun pflegen, wenn sie sich schlecht befinden, auf den
+Knien mit vornübergebeugtem Leibe und auf die Erde gelegtem Kopfe; er
+konnte sich nicht überwinden zu essen, wollte aber unaufhörlich kaltes
+Wasser haben und phantasierte und stöhnte bei jedem Atemzuge.
+
+Tokta Ahun teilte mir mit, daß diese Krankheit, die wohl eine
+außerordentlich bösartige Form von Bergkrankheit ist, unter den Jägern
+und Goldgräbern in diesen Gebirgen ziemlich häufig auftrete. Sie heißt
+bei den Muselmännern einfach Tutekk (Atemnot, Bergkrankheit), oder
+sie sagen auch „Is allup getti“ (hat die Bergkrankheit bekommen),
+gleichviel, ob von einem Mann, Pferd oder Kamel die Rede ist. Ist man
+früher einmal schwer krank gewesen, so hat man wenig Aussicht auf
+Genesung. Der von dem Übel Befallene hat anfangs das Verlangen, sich
+nach dem Tieflande hinunterzuflüchten, wohin er jedoch nie wieder
+gelangt, wenn er nicht im Gebirge selbst wieder gesund wird. Zwei
+Goldgräber waren diesen Sommer auf dem Wege nach ihrer Heimat bei
+Temirlik daran gestorben. Doch wenn die Krankheit schon Fortschritte
+gemacht hat, soll der Unglückliche seinen Zustand nicht mehr beurteilen
+können; er weiß nichts davon, daß er krank ist, und kann über sein
+Befinden keine Auskunft geben. Die Symptome bestehen in Anschwellen des
+Körpers, Schwarzwerden der Beine, gänzlichem Verschwinden des Schlafs
+und des Appetits, Schmerzen in Kopf und Herzen, dazu Durst, geschwächte
+Herztätigkeit und abnehmende Körpertemperatur. Nach Tokta Ahuns
+Erfahrung sollte Tabakrauchen das beste Mittel dagegen sein; deshalb
+sah man ihn beständig mit der Pfeife im Munde. Ich selbst habe die
+Bergkrankheit nicht kennen gelernt, nicht einmal in 5500 Meter Höhe.
+Die Hauptsache ist, sich nicht zu überanstrengen.
+
+Wieder beschlich uns das Gefühl, den kalten, grausamen Tod in unserer
+Gesellschaft zu haben, als folge er, auf sein schon auserkorenes Opfer
+lauernd, mit der Sanduhr in der Hand der Karawane treu über alle Pässe
+und Ebenen. Am schlimmsten ist, daß man sich völlig machtlos fühlt,
+dem Kranken zu helfen, und sehen muß, daß die Behandlung, die man ihm
+zuteil werden lassen kann, erfolglos bleibt.
+
+Sowohl für den Kranken wie für die Seefahrer war ein Ruhetag notwendig.
+Islam Bai erhielt diesen Tag eine Aufgabe zu lösen. Er sollte mit
+Kutschuk über den See rudern und eine Lotungsreihe ausführen, deren ich
+zur Vervollständigung der Seekarte bedurfte (Abb. 166). Das Kniffliche
+dabei war nur, daß Islam nicht schreiben konnte; er mußte daher
+mechanisch wie ein selbstregistrierender Apparat arbeiten. Die Uhr
+konnte er immerhin ablesen und verstand auch, alle fünfzehn Minuten die
+Lotungen anzustellen. Beim ersten Punkte knüpfte er einen Bindfaden mit
+einem Knoten um die Lotleine, beim zweiten Punkte einen mit zwei Knoten
+usw. Nachher wurden diese Abstände von mir mit dem Bandmaße gemessen.
+Die gemessene Linie konnte ich selbst vom Ufer aus feststellen, und die
+Durchschnittsgeschwindigkeit des Bootes war bekannt.
+
+Pechschwarz senkte sich diese Nacht auf unser Lager herab; der Himmel
+war mit dichten, undurchdringlichen Wolken bedeckt, kein Unterschied
+machte sich zwischen Land, Wasser und Atmosphäre bemerkbar; unser
+kleines Gemeinwesen verschwand in einem unergründlichen, kohlschwarzen
+Raume. Öffne ich den Vorhang vor der Tür der Jurte, so fällt eine
+schwache Lichtstraße über den Boden, im übrigen ist das vor der
+Jurte der Leute brennende Feuer das einzige, woran das Auge einen
+Anhaltspunkt findet. Das Innere meiner Wohnung ist gemütlich möbliert,
+der Fußboden da, wo meine Kisten stehen, mit einem Chotaner Teppich
+bedeckt, mein Bett auf der Erde ausgebreitet, und auf ihm sitze ich
+mit gekreuzten Beinen, meine Aufzeichnungen machend oder an meinen
+Kartenblättern zeichnend. Tscherdon bringt von Zeit zu Zeit ein
+Kohlenbecken herein, ohne welches man bei 20 Grad Kälte schwer arbeiten
+könnte.
+
+Wenn ich jetzt, nachdem Jahre vergangen sind und ich wieder von allem,
+was mir am liebsten ist, umgeben bin, zurückdenke an diese langen
+kalten, stillen Winterabende in Tibet, wundere ich mich beinahe, daß
+mir in dieser tödlichen Einsamkeit, die Tage und Jahre hindurch immer
+gleich einsam blieb, die Zeit nie lang geworden ist. Doch das beständig
+unerschöpfliche Arbeitsfeld hielt mich aufrecht; ich hatte stets treue,
+zuverlässige Diener, und für jeden Tag des Jahres hatte ich ein kleines
+Buch mit Bibelsprüchen, das, wie ich wußte, auch täglich in meinem
+Elternhause gelesen wurde.
+
+Wie eine schwere Last lag es mir freilich auf dem Herzen, wieder einen
+Kranken im Lager zu haben, und Togdasins kurze Gebetrufe an den Gott
+der Muhammedaner, „Ja Allah, Ej Chodaim“, ließen mir keine Ruhe. Nicht
+einmal Kiplings herrliche Lieder in „~The seven seas~“ konnten
+meine Gedanken ablenken, als ich diesen Abend zur Ruhe ging.
+
+Die Rückreise nach Temirlik, die am 22. November angetreten wurde,
+nahm 12 Tage in Anspruch und führte uns über die Bergketten
+Kalta-alagan und Tschimen-tag und zweimal über den Akato-tag.
+
+Der erste Tagemarsch wurde fürchterlich. Wir gingen nach Westen und
+hatten den Wind, einen halben Sturm mit -2 Grad um 1 Uhr und -10
+Grad um 2 Uhr, gerade entgegen; selten habe ich mich so gelähmt und
+erschöpft gefühlt. Es erfordert Geduld, der Karawane zu folgen und
+sich die Hände abwechselnd vor Kälte erstarren zu lassen. Die über
+Nacht auf dem Ajag-kum-köll entstandene dünne Eisdecke wurde vom Sturme
+zersplittert und nach Osten getrieben; der See sah unheimlich, kalt und
+dunkelblau und vom Wellenschaume weißgestreift aus. In solchem Wetter
+mit unserem kleinen Boote unterwegs zu sein, wäre wohl der sichere
+Untergang gewesen. Der ganze östliche Teil des Sees ist nämlich nur
+einen oder ein paar Dezimeter tief, das Boot wäre gegen den hier etwas
+festeren Eisrand geworfen und zerschnitten worden, und der Seeboden
+besteht aus Schlamm, in welchem man rettungslos versinkt. Die Kosaken
+hatten auf ihrem Jagdausfluge die Mündung des Flusses zu überschreiten
+versucht, aber das erste Pferd war bis an den Hals in den Schlamm
+gesunken und hatte nur mit großer Mühe noch gerettet werden können.
+
+Der Tschimen-tag zeichnete sich auch an dem Punkte, wo wir jetzt diese
+Kette überschritten, durch eine höchst sonderbare Architektur aus. Das
+Tal, aus welchem man nach dem Passe hinaufgeht, liegt selbst so hoch,
+daß man die Paßschwelle kaum gewahrt. Auf der nördlichen Seite ist
+das Gefälle aber um so steiler. Hier stürzt sich ein zwischen nackten
+Wänden und Vorsprüngen eingeklemmter Hohlweg wie eine Treppe über
+Felsenschwellen und Gesteinplatten jäh nach dem Tale hinunter. Wir
+hatten einen langen Marsch gemacht; die Karawane ging voraus, und ich
+erreichte den Anfang dieses Korridors erst bei Einbruch der Dunkelheit.
+Islam erwartete mich mit einer Laterne, aber mein Pferd wäre trotzdem
+beinahe gestürzt, da es von einer Treppenstufe auf die andere springen
+mußte. Tief unter uns im Tale bei dem sandumgürteten und zu gewaltigen
+Eisblöcken gefrorenen Wasser der Quellen von +Kum-bulak+
+leuchtete das Lagerfeuer, und nach vielen Mühen erreichte ich meine
+Jurte, die auf einem steil in die Tiefe abstürzenden Felsenabsatze
+aufgeschlagen war. Erst am Morgen, als wir reisefertig waren, merkte
+ich, wie gefährlich diese Lage gewesen war. Die Jurte stand gerade in
+der Mündung eines Abzugskanales für alle Blöcke, die von den oberhalb
+zunächst stehenden Felswänden abstürzten. Dann und wann ertönte in der
+Nacht das Echo eines Blocksturzes, aber meine Jurte war doch verschont
+geblieben.
+
+Der Zug weiter durch das Tal hinunter war nicht leicht. An ein paar
+Stellen, wo der Granit mehrere Meter hohe Stufen in der Rinne selbst
+bildete, mußten alle Tiere abgeladen und dann vorsichtig an den Platten
+hinuntergelassen werden. Einmal überschritten wir eine gewaltige
+Eistafel, die den Talgrund wie gegossenes Porzellan ausfüllte und sich
+allen Spalten und Ritzen anschmiegte. Ihre glatte Oberfläche mußte
+erst mit Sand bestreut werden, damit die Pferde nicht fielen. Es war
+wirklich schön, diesen von Blöcken und Schutt angefüllten Hohlweg
+hinter sich zu haben und wieder in das Tschimental zu gelangen,
+wo wir an der Stelle lagerten, an der wir vor einem Monat mit der
+Hilfskarawane zusammengetroffen waren.
+
+Von hier aus wurde Kutschuk mit dem sich jetzt etwas besser befindenden
+Togdasin und dem Boote nach Hause geschickt, während wir anderen nach
+Norden weiterzogen, um über den Akato-tag zu gehen.
+
+Die Nacht auf den 28. November war mit ihren -24,6 Grad die kälteste,
+die wir bisher in diesem Winter gehabt hatten.
+
+Ein düsteres, steiles Granittal führt nach dem 4926 Meter hohen Passe
++Gopur-alik+ im Akato hinauf (Abb. 167). Mit einem Male konnten
+wir nicht hinauf gelangen, sondern lagerten in dem Tale zwischen Massen
+von Felsblöcken, wo es weder Wasser noch Feuerungsmaterial und auch
+kein Gras gab. Am folgenden Morgen strengten wir uns weiter mit dem
+Erklimmen der Abstürze an. Die Pferde atmen so schnell und mühsam,
+daß man erwartet, ihre Lungen würden zerspringen; sie bekommen keine
+Luft und müssen unaufhörlich ausruhen, um nicht zusammenzubrechen.
+Der Paß ist scharf wie eine Klinge und fällt nach beiden Seiten jäh
+ab. Alle gehen zu Fuß; ich lasse mich hinaufbugsieren, indem ich
+mich am Schwanze meines Pferdes halte. Lasten gleiten ab, und Pferde
+fallen. Hier heißt es aufpassen und zugreifen, sonst könnten sie
+in das abschüssige Tal Hunderte von Metern tief hinabrollen und zu
+Brei zerschmettert werden. Der Westwind heult so regelmäßig wie ein
+Passatwind, und es ist bei -15 Grad recht fühlbar kalt.
+
+Die Maulesel gehen sicherer als die Pferde; daher mußte einer von
+ihnen meine Instrumentenkiste tragen. Endlich erreichen wir den Paß
+und haben von seinem scharfen Kamme eine großartige Aussicht. Mit
+einem Blick beherrscht man alle diese mächtigen, mit blendenden
+Schneepanzern bekleideten Bergäste, und im Westen breitet sich ein
+unentwirrbares Durcheinander von Felsen aus. Das Tal, das uns nach
+dem Passe hinaufgeführt hat, liegt wie eine schattige, jäh abfallende
+Rinne unter unseren Füßen, und wir erstaunen, daß es möglich gewesen
+ist, in ihm hier heraufzuklimmen. Im Norden erhebt sich der gewaltige
+schneebedeckte Gebirgsstock Illwe-tschimen mit seinen vielen bizarren
+Gipfeln, die wir von früheren Exkursionen her kannten.
+
+Nach der üblichen Rast zu Beobachtungen sehnte ich mich nur nach
+dichteren Luftschichten und Schutz gegen den Wind. Jetzt folgen wir
+einem imposanten Tale, das auf beiden Seiten mehrere Nebentäler
+empfängt. Ihre Mündungen gleichen gigantischen Toren zwischen
+lotrechten Felswänden. Wenn man in die Tore hineinsieht, erblickt man
+im Hintergrunde die wunderlichsten Berggestalten, wo der Schnee auf
+allen Vorsprüngen in Friesen und Mustern liegt; in dem gedämpften
+Purpur der Abendsonne gleichen sie Galerien und Dekorationen in einem
+tibetischen Tempel.
+
+Sobald die Pferde im Lager von ihren Lasten befreit worden waren,
+ergriffen sie die Flucht, wurden aber nach einer Weile wieder
+eingefangen und angebunden. Weide gab es nämlich in dieser Gegend (4057
+Meter) nicht. Der Wind weht noch immer, und die Glut des Kohlenbeckens
+reicht nicht aus, um die Tinte in meiner Feder flüssig zu halten. Ich
+habe -12 Grad in der Jurte. Durch die unvermeidliche Zugluft von allen
+Seiten brennt mein Licht in drei Stunden herunter und ist von dicken
+Stearinstalaktiten umgeben. Tscherdon schoß einen Yakstier, und ich
+bedauerte Turdu Bai, Tokta Ahun und Chodai Värdi, die den Yak um 9 Uhr
+abends bei grimmiger Kälte zerlegen sollten. Solange das Fleisch warm
+war, konnten sie sich daran die Hände wärmen, aber gegen Mitternacht
+kehrten sie in das Lager zurück mit einem Bündel steinhartgefrorener
+Fleischstücke, die unter den Beilhieben wie Glas zersprangen.
+
+Beim nächsten Lagerplatze fanden wir in den harten, gefrorenen Büscheln
+der Hochlandsteppe gutes Brennmaterial, und der Schnee schenkte uns
+Wasser. Am folgenden Morgen vergoldete die Sonne die Gipfel des
+Illwe-tschimen, während wir noch im Schatten lagen; es wehte nicht,
+wir sehnten uns in den Sonnenschein hinaus und waren bald im Gange.
+Von dem obenerwähnten Gebirgsstock geht ein Tal aus, dessen Gehänge
+außergewöhnlich gute Weide tragen. Daher blieben wir hier nach einem
+kurzen Tagemarsch, und ich war gerade dabei, das Stativ des Theodoliten
+aufzustellen, als der Weststurm kam und jeder Arbeit im Freien ein Ende
+machte. Er riß das Zelt der Leute um; es flog fort und landete auf dem
+Eise des Talgrundes.
+
+Längs des zunächststehenden Berges sahen wir einen Mann auf einem Kamel
+reiten. Ich glaubte, es möchte ein Bote an mich sein, und schickte
+daher Tokta Ahun aus, um Erkundigungen einzuziehen. Der Mann war, wie
+sich herausstellte, ein Mongole und gehörte zu einer Pilgergesellschaft
+aus Kara-schahr, die auf dem Wege nach Lhasa war. Die anderen waren
+am Morgen hier vorbeigekommen, er aber war zurückgeblieben, weil sein
+Kamel nicht so schnell hatte laufen können.
+
+[Illustration: 166. Islam Bai und Kutschuk stoßen vom Lande ab. (S.
+389.)
+
+Im Hintergrund die kleine isolierte Bergpartie am Nordwestufer des
+Ajag-kum-köll.]
+
+[Illustration: 167. Das nach dem Passe Gopur-alik hinaufführende Tal.
+(S. 391.)]
+
+Mongolische Pilger begeben sich jährlich aus den russischen und
+chinesischen Vasallenländern im Norden über Temirlik, Ghas und
+Zaidam nach der heiligen Stadt. Sie wandern stets im Spätherbst oder
+Winter dorthin und kehren im nächsten Jahre um dieselbe Zeit wieder
+zurück. Während der warmen Jahreszeit gehen sie nie über Abdall, weil
+die Bremsen ihnen die Kamele ruinieren würden. Auf der Rückreise sind
+sie stets übel daran, weil ihnen von ihren Tieren nur noch wenige
+geblieben sind, und die meisten Männer gehen zu Fuß. In Abdall pflegen
+sie zu versuchen, ihre erschöpften Kamele gegen Pferde zu vertauschen,
+um dadurch instand gesetzt zu werden, ihre noch weit entfernte Heimat
+zu erreichen. Ein schwächliches Kamel hat gleichen Wert mit einem
+Pferd, drei schlechte Kamele mit einem gesunden, ein ganz abgetriebenes
+mit einem Esel. Ihren Proviant verwahren die Pilger in Säcken und
+Kisten, und auf der Rückreise kaufen sie in Abdall neue Vorräte.
+Wenn sie auf der Hinreise in das Land der Zaidammongolen gelangen,
+lassen sie alle Kamele bei ihren Stammverwandten zurück und reisen auf
+gemieteten Pferden weiter. In Zaidam haben viele Mongolen hierdurch ein
+bedeutendes Einkommen.
+
+Sie müssen großes Vertrauen zu der Wahrheit ihrer Religion besitzen, da
+sie das Opfer eines ganzen Jahres voller Strapazen, Entbehrungen und
+Kosten bringen, um nur die heilige Stadt zu sehen und an den dortigen
+Tempelfesten und Prozessionen teilzunehmen. Sie richten es stets so
+ein, daß ein Pilger, der schon in Lhasa gewesen ist, mitkommt, und
+von Zaidam nehmen sie Führer, die alle geeigneten Lagerplätze kennen.
+Vier Monate sind sie unterwegs und richten sich ihr Karawanenleben so
+angenehm wie möglich ein. Während des Marsches sammeln sie „Argussun“
+(Argol oder Yakdung) zum Brennen und sitzen abends um ihre Feuer,
+bereiten sich Tee und essen Tsamba, das tibetische Nationalgericht.
+Mit gespannter Erwartung nähern sie sich dem Ziele ihrer Träume, sehen
+eine Bergkette nach der anderen hinter sich verschwinden und empfinden
+ohne Zweifel, wenn hinter der letzten Höhe endlich Lhasas weiße
+Tempelfassaden glänzen, dieselbe heilige Ehrfurcht, die den Mekkapilger
+ergreift, wenn er zum ersten Male in seinem Leben vom Berge Arafat
+seine heilige Stadt erblickt.
+
+Es war ein seltsames Gefühl, diese Pilger in der Nähe zu wissen und
+in den Spuren zu ziehen, die nach Lhasa führten. Einen Augenblick
+lang fühlte ich mich versucht, mich ihnen anzuschließen, nur Schagdur
+mitzunehmen und als Burjate verkleidet mit ihnen zu ziehen. Aber nein,
+es ließ sich nicht ausführen; ich hatte für den Winter andere Pläne und
+durfte mein Programm nicht ändern.
+
+Wir folgten den wie helle Kreise in den Sand gedrückten Spuren
+der mongolischen Kamele. Im Norden unseres Weges zieht sich die
+Astin-tag-Kette so weit nach Osten und Westen hin, wie das Auge
+reicht. Gegen Abend nahm die Luft einen hellblauen Farbenton an,
+war aber im Zenit glänzend weiß, -- wahrscheinlich brachen sich
+die Mondstrahlen in seinen Eisnadeln; die Berge leuchteten in rosa
+Schattierungen, alles zeigte sich in schwachen, winterkalten Tönen;
+auch wenn man von lauter Wärme umgeben wäre, würde man sehen, wie diese
+Landschaft unter der vernichtenden Macht der Kälte erstarrt ist.
+
+Wir wandern in dem Tale nach Osten und gelangen an den am Nordfuße
+des Akato-tag gelegenen Salzsee +Usun-schor+. Hier entspringen
+mehrere Süßwasserquellen, und nur da, wo sich ihre Rinnsale in den See
+ergießen, liegt Eis. Sonst ist das mit Salz gesättigte Wasser offen,
+obwohl es eine Temperatur von -7,9 Grad hat.
+
+Es war schön, am Abend des 5. Dezember wieder daheim zu sein und im
+Lager alles gut und ruhig vorzufinden. Die Quellen von Temirlik waren
+jetzt von mächtigen Eisblöcken und Eiskuppeln umgeben. Togdasin hatte
+sichtlich einen ernstlichen Stoß bekommen, denn sein Zustand hatte sich
+nicht gebessert. Er wohnte in einer Grotte neben mir, und ich nahm mich
+in den Tagen, die ich jetzt im Hauptquartier zubrachte, seiner sehr an.
+Als das Hauptquartier Ende Dezember nach Tscharchlik verlegt wurde, kam
+er mit, und ich sah ihn dann erst im April des folgenden Jahres wieder.
+Er war ein Krüppel geworden; die Füße waren ihm buchstäblich Stück für
+Stück abgefallen, aber er war heiter und zufrieden, und ich gab ihm
+soviel ich konnte für seinen Lebensunterhalt.
+
+In betreff der mongolischen Karawane erzählte Schagdur, daß sie einen
+Tag in Temirlik gerastet und aus 75 Männern, lauter Lamas, und zwei
+Weibern bestanden habe. Einer dieser Priester hatte einen besonders
+hohen vornehmen Rang, und ihm wurde von den anderen die größte
+Ehrfurcht erzeigt. Ungefähr 25 von den übrigen waren so arm, daß sie
+zu Fuß gingen und nur unter der Bedingung mitkommen durften, daß sie
+ihren wohlhabenderen Kameraden dienten. Letztere hatten eine Reisekasse
+von 10 Jamben pro Mann und außerdem noch eine Kasse von 120 Jamben,
+die für den Dalai-Lama bestimmt waren, weil sie für alle Feste und
+Feierlichkeiten, an denen sie teilnehmen, bezahlen müssen. Dies ist der
+Peterspfennig, von dem der Papst in Lhasa lebt.
+
+Die Schar war gut bewaffnet und besaß 30 mongolische Flinten, 2
+Berdan- und 1 Winchestergewehr; sie waren also auf die Abwehr
+tangutischer Räuberanfälle vorbereitet. Schagdur hatte einige von
+ihnen aufgefordert, mit ihm auf die Kulanjagd zu gehen, sie hatten
+aber erwidert, daß jegliches Blutvergießen verboten sei, weil es die
+Wallfahrt besudeln würde.
+
+Der Mann, der zurückgeblieben war und den wir gesehen hatten, war ein
+Lama, der zehn Jahre in Lhasa gelebt hatte und jetzt noch drei dort
+bleiben sollte. Ich fragte mich, ob er Schagdur wohl wiedererkennen
+würde, wenn es uns später noch gelingen sollte, in die heilige Stadt zu
+gelangen.
+
+Die Karawane zählte 120 Kamele und 40 Pferde. Außerdem hatten sie 7
+Paradepferde bei sich, die mit der größten Sorgfalt gepflegt wurden
+und als Geschenk für den Dalai-Lama bestimmt waren. Der Proviant
+bestand aus gehacktem Fleisch in kleinen gedörrten, gefrorenen Stücken,
+geröstetem Weizenmehl und Tee.
+
+Mit der größten Neugierde hatten sich die Pilger unser Lager angesehen
+und die Veranlassung meines Besuches zu erforschen versucht. Es
+unterliegt keinem Zweifel, daß sie bei der Ankunft in Lhasa ihre in
+dieser Beziehung gemachten Entdeckungen den betreffenden Behörden
+meldeten und daß dies eine der Ursachen war, weshalb die Grenze gegen
+Norden mit so großer Aufmerksamkeit bewacht wurde. Ich erhielt später
+eine Bestätigung für diesen Verdacht.
+
+Schagdur hatte einige Neuigkeiten aufgeschnappt, die ich mir merkte.
+Die Mongolen hatten erzählt, daß alle Pilger, die sich Lhasa nähern,
+unter strenger Aufsicht stehen. Schon in Nakktschu werden alle
+angehalten und untersucht. Sie müssen ihre Namen angeben, die Orte, in
+denen sie leben, und den Namen des Oberlamas, unter dem sie stehen, und
+von ihm ein Zeugnis vorzeigen, in welchem angegeben wird, zu welcher
+Kloster- oder Tempelgemeinde sie gehören und was der Grund ihrer
+Wallfahrt ist. Wenn alle diese Formalitäten erledigt sind, wird ein
+Bericht darüber nach Lhasa geschickt, und die Pilger müssen warten, bis
+sie von den Behörden der Stadt besondere Pässe erhalten.
+
+Sind sie erst damit versehen, so brauchen sie sich nachher keiner
+weiteren Kontrolle zu unterwerfen. Diese Vorsichtsmaßregeln sollen
+getroffen worden sein, um Russen, d. h. Europäer, zu verhindern,
+sich in Lhasa einzuschleichen. Aus denselben Gründen war vor einigen
+Jahren ein Erlaß an die Turgutenstämme, die russische Untertanen sind,
+ergangen, daß aus ihrem Lande künftig keine Pilger nach Lhasa geschickt
+werden dürften. Dieses Verbot war aber kürzlich aufgehoben, und die
+einige Zeit unterbrochenen Wallfahrten waren wieder aufgenommen worden.
+
+Ein Lama der Pilgerkarawane hatte von einer Prophezeiung in einem
+in Lhasa befindlichen alten heiligen Buche zu erzählen gewußt, die
+verkündete, daß der Tsagan Chan, der „Weiße Zar“, einst über die ganze
+Welt herrschen, Tibet erobern und Lhasa zerstören werde. Die Lamas
+würden dann ihre Heiligtümer in unzugängliche Gebirge in Südtibet
+flüchten.
+
+Der Lama hatte Schagdur eingeladen, mitzukommen; für ihn würde es
+leicht zu machen sein, besonders wenn er sich für einen Turguten
+ausgäbe. Ich unterhielt mich abends, wenn es im Lager still war,
+mit meinem treuen Kosaken über diese Dinge, die ihn in so hohem
+Grade interessierten. Schon als Kind hatte er von der heiligen Stadt
+gehört und brannte nun vor Eifer, einmal dorthin zu kommen. Er ahnte
+nicht, daß es meine Absicht war, es selbst auf den verbotenen Wegen
+zu versuchen. Doch wir mußten uns noch gedulden. Ich hatte vorher
+noch wichtigere Dinge auszuführen, und der ganze Plan des Versuchs,
+verkleidet nach Lhasa zu dringen, gehörte zu jenen waghalsigen
+Abenteuern, die nur Reiz ausüben, wenn man noch jung ist.
+
+
+Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.
+
+[Illustration]
+
+[Illustration: TARIM
+
+und
+
+WÜSTE TAKLA-MAKAN.]
+
+[Illustration: OSTTIBET.
+
+Faksimile eines Originalblattes meiner Karte des Tarimflusses
+
+(einige Tagereisen oberhalb von Karaul aufgenommen).]
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 68402 ***