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diff --git a/68402-0.txt b/68402-0.txt new file mode 100644 index 0000000..802419f --- /dev/null +++ b/68402-0.txt @@ -0,0 +1,17765 @@ +*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 68402 *** + + #################################################################### + + Anmerkungen zur Transkription + + Der vorliegende Text wurde anhand der 1919 erschienenen Buchausgabe + so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische + Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute + nicht mehr gebräuchliche Schreibweisen, Schreibvarianten sowie + fremdsprachliche Passagen bleiben gegenüber dem Original unverändert. + + Besondere Schriftschnitte wurden mit Hilfe der folgenden + Sonderzeichen gekennzeichnet: + + gesperrt: +Pluszeichen+ + Antiqua: ~Tilden~ + + #################################################################### + + + + + Im Herzen von Asien. + + Erster Band. + + + + + [Illustration: SVEN HEDIN] + + + + + Im Herzen von Asien. + + Zehntausend Kilometer + auf unbekannten Pfaden. + + Von + + Sven v. Hedin. + + Mit 341 einfarbigen und bunten Abbildungen und 5 Karten. + + Autorisierte Ausgabe. + + Vierte Auflage. + + Erster Band. + + [Illustration] + + Leipzig: + F. A. Brockhaus. + 1919. + + + + + Meinen deutschen Studiengenossen + gewidmet. + + + + +Vorwort zur ersten Auflage. + + +Das Buch, das ich hiermit den Freunden der geographischen Forschung +auf Gnade und Ungnade übergebe, widme ich in der deutschen Ausgabe aus +treuer Anhänglichkeit meinen deutschen Studiengenossen. + +Es ist meine erste und teuerste Pflicht, unter denjenigen, welche bei +vielen vorhergehenden Gelegenheiten meine Pläne mit verständnisvollem +Interesse und mit Wärme erfaßt haben, Sr. Majestät +König Oskar von +Schweden und Norwegen+, der mit gewohnter Freigebigkeit meine Reise +ermöglichte, meine aufrichtigste Dankbarkeit zu bezeugen. + +Auch Sr. Majestät dem +Kaiser von Rußland+ bin ich zu großem Dank +verpflichtet für die Unterstützung, die er die Gnade hatte mir zuteil +werden zu lassen. Die Kosakeneskorte, die mir der Kaiser zur Verfügung +stellte, war für mich von unschätzbarem Wert. Selten habe ich solche +Treue und solchen Gehorsam gefunden wie in den Jahren, die ich mit +diesen Kosaken zusammen verlebte. In Verbindung hiermit muß ich auch +dem russischen Kriegsminister +General Kuropatkin+ dafür danken, +daß er mir infolge seiner hohen Stellung die Reise in mehr als einer +Beziehung erleichterte. + +Sehr zu Dank verpflichtet bin ich allen +meinen Landsleuten+, die in +freigebiger Weise einen ansehnlichen Teil der notwendigen Mittel zur +Reise beisteuerten, während ich aus Eigenem das Honorar meiner früheren +Reisebeschreibung für meine neuen Forschungen auf asiatischem Boden +verwendete. + +Mein Buch erhebt nur den Anspruch, ein in großen Zügen angelegtes +Tagebuch meiner Erfahrungen und Erlebnisse im Herzen von Asien und +eine Beschreibung jener Gebiete zu sein, die ich auf einer Wanderung +von über 10000 Kilometern durchquert habe. Diese Länder sind vor mir +noch nie besucht und noch weniger beschrieben worden und verdienen +daher Aufmerksamkeit. Ich habe versucht, einen Begriff davon zu +geben, wie man in der großen Einsamkeit Asiens lebt und wie die Tage +dort vergehen. Durch Asien wandelt man nicht auf Rosen. Die Mühe +findet jedoch ihren Lohn in dem Bewußtsein, das Wissen der Menschheit +vergrößert zu haben. Die +wissenschaftlichen Resultate+ der Reise +berühre ich in diesem Buche nur flüchtig, da sie einem besonderen Werke +vorbehalten sind, dessen Herausgabe die Freigebigkeit des schwedischen +Reichstags ermöglicht hat. Auf die hochverdienten Reisenden, die vor +mir oder gleichzeitig mit mir Asien bereist haben, habe ich in meinem +Werke selten Bezug genommen, um auf dem mir zur Verfügung stehenden +Raume den Verlauf meiner eigenen Reise ausführlicher schildern zu +können. + +Die absoluten Höhen hat Herr ~Dr.~ +Nils Ekholm+ ausgerechnet. Die +beigegebenen Karten können nur als vorläufige betrachtet werden. Mit +Benutzung meines großen Kartenmaterials hat Hauptmann +Byström+ sie in +sehr verdienstvoller Weise, die viele Mühe gekostet hat, ausgeführt. +Schwedische Künstler haben durch naturgetreue, wohlgelungene Bilder zum +Schmucke der Arbeit beigetragen. Allen diesen Herren sage ich meinen +herzlichen Dank für ihre Mitarbeit. + +Meine Mutter ist mir eine unermüdliche Korrekturleserin gewesen; sie +hat meinen guten Namen vor vielen Schnitzern bewahrt! + + Sven v. Hedin. + + + + +Inhalt des ersten Bandes. + + + Seite + + +Vorwort+ VII-VIII + + +Einleitung+ 1-7 + + +Erstes Kapitel.+ Über den ersten Paß des Kontinents 8-17 + + +Zweites Kapitel.+ Vorbereitungen zur Wüstenfahrt 18-24 + + +Drittes Kapitel.+ Die Schiffswerft in Lailik 25-35 + + +Viertes Kapitel.+ Zweitausend Kilometer auf dem Tarim 36-46 + + +Fünftes Kapitel.+ Der verzauberte Wald 47-58 + + +Sechstes Kapitel.+ Vierzig Kilometer zu Fuß 59-69 + + +Siebentes Kapitel.+ Friedliche Heiligengräber 70-80 + + +Achtes Kapitel.+ Der große, einsame Tarim 81-89 + + +Neuntes Kapitel.+ In schwindelnder Fahrt flußabwärts 90-100 + + +Zehntes Kapitel.+ Der Jumalak-darja auf dem Wege durch die + Sandwüste 101-111 + + +Elftes Kapitel.+ Im Kampf mit dem Treibeise 112-125 + + +Zwölftes Kapitel.+ Wir frieren fest und gehen ins + Winterquartier 126-138 + + +Dreizehntes Kapitel.+ Eine französische Visite 139-147 + + +Vierzehntes Kapitel.+ Ins Herz der Wüste Takla-makan 148-158 + + +Fünfzehntes Kapitel.+ Das endlose Wüstenmeer 159-173 + + +Sechzehntes Kapitel.+ Dreihundertvierzig Kilometer in + 30 Grad Kälte 174-180 + + +Siebzehntes Kapitel.+ Zwischen vergessenen Gräbern und + ausgetrockneten Flußbetten 181-192 + + +Achtzehntes Kapitel.+ Die Ankunft der burjatischen Kosaken + in Turasallgan-ui 193-200 + + +Neunzehntes Kapitel.+ Der Kurruk-tag und der Kurruk-darja 201-213 + + +Zwanzigstes Kapitel.+ Das gelobte Land des wilden Kamels 214-224 + + +Einundzwanzigstes Kapitel.+ Der frühere See Lop-nor 225-236 + + +Zweiundzwanzigstes Kapitel.+ Fünfundzwanzig Tage im Kahn 237-251 + + +Dreiundzwanzigstes Kapitel.+ Gefährliche Wasserfahrten 252-265 + + +Vierundzwanzigstes Kapitel.+ Die letzte Reise der Fähre 266-277 + + +Fünfundzwanzigstes Kapitel.+ Poesie im innersten Asien 278-285 + + +Sechsundzwanzigstes Kapitel.+ Aufbruch nach Tibet 286-299 + + +Siebenundzwanzigstes Kapitel.+ Über den Tschimen-tag, + Ara-tag und Kalta-alagan nach dem oberen Kum-köll 300-313 + + +Achtundzwanzigstes Kapitel.+ Fünftausend Meter über dem Meere 314-329 + + +Neunundzwanzigstes Kapitel.+ Eine lange Seefahrt 330-343 + + +Dreißigstes Kapitel.+ Über stürmische Seen und himmelhohe + Berge 344-360 + + +Einunddreißigstes Kapitel.+ Aldats Tod 361-371 + + +Zweiunddreißigstes Kapitel.+ Ein trügerisches Feuer 372-380 + + +Dreiunddreißigstes Kapitel.+ Über sechs Pässe 381-396 + + + + +Abbildungen. + + + Seite + + Porträt des Verfassers (Titelbild) + + 1. Das englische Faltboot auf dem Panggong-tso in Westtibet. + 2. Islam Bai. 3. Brücke oberhalb Gultscha 8 + + 4. Meine erste Karawane 9 + + 5. Meine Kamelkarawane. 6. Rast in der Oase Nagara-tschalldi 16 + + 7. Oase Nagara-tschalldi 17 + + 8. Durch die Furt des Kisil-su 24 + + 9. Nikolai Fedorowitsch Petrowskij. 10. Die Kosaken Sirkin und + Tschernoff 25 + + 11. Ein Seiltänzer in Kaschgar 32 + + 12. Aufbruch der ersten Karawane aus Kaschgar 33 + + 13. Übergang über einen Kanalarm unterhalb Kaschgar 40 + + 14. In der Wüste zwischen Terem und Lailik 41 + + 15. Kurze Rast in der Wüste. 16. Das Zelt meiner Leute in Lailik. + 17. Transport der Fähre nach dem rechten Flußufer 48 + + 18. Bau der schwarzen Kajüte 49 + + 19. Die Werft. 20. Tänzerinnen und Musikanten beim Abschiedsfest + in Lailik. 21. Frauen und Kinder unserer Bootsleute auf dem Wege + zur Fähre 56 + + 22. Die Fähre aus dem Jarkent-darja 57 + + 23. Der Verfasser an seinem Arbeitstisch an Bord der Fähre 64 + + 24. Lager am Strand 65 + + 25. Das Innere meines Zeltes auf der Fähre. 26. Hirtenhütte in + der Nähe des Masar-tag. 27. Kasim beim Fischfang 72 + + 28. Unser Lager bei Kurruk-aßte 73 + + 29. Kasim mit seinem Fang. 30. Eingeborene am Ufer des Tarim. + 31. Begräbnisplatz am Sai-tag 80 + + 32. Der Jarkent-darja am Sai-tag. 33. Falkner mit Jagdadler. + 34. Die Fähre an der Mündung des Aksu-darja 81 + + 35. Landung an der Mündung des Aksu-darja 88 + + 36. Unser Nachtlager bei Ala Kunglei Busrugvar 89 + + 37. Kähne auf dem mittelsten Tarim. 38. Der See + Koral-dungning-köll. 39. Der Jumalak-darja von Koral-dung + aus gesehen 96 + + 40. Besuch des Beks von Schah-jar in Tschimen 97 + + 41. Frühstücksrast auf dem Jumalak-darja. 42. Rekognoszierender + Kahn 104 + + 43. Ördek und Palta als Lotsen 105 + + 44. Drohender Schiffbruch 112 + + 45. Kähne auf dem unteren Tarim. 46. Tokkus-kum. 47. Dorf + Al-kattik-tschekke 113 + + 48. Treibeis auf dem unteren Tarim. 49. Blick vom rechten + Tarimufer flußaufwärts. 50. Die Fähre an der Mündung des + Ugen-darja 120 + + 51. Begrüßung Parpi Bais und Islam Bais 121 + + 52. Kleine gebundene Dünen bei Karaul. 53. Verlassene Hütten am + Seit-köll. 54. Unser Hauptquartier Tura-sallgan-ui 128 + + 55. Winterquartier in Jangi-köll mit meinen Leuten 129 + + 56. Zusammentreffen mit dem Franzosen Bonin 136 + + 57. Bonin im Hauptquartier. 58. Parpi, Palta und Islam auf den + äußersten Dünen des Sandmeeres am Jangi-köll 137 + + 59. Sandsturm in der Wüste 144 + + 60. Abstieg über den steilen Abfall einer Sanddüne 145 + + 61. Das endlose Wüstenmeer 152 + + 62. Karawane auf dem Astin-joll. 63. Hirtenhütten in Schudang. + 64. Das alte Bett des Tschertschen-darja 153 + + 65. Eine alte Tograk am Tschertschen-darja. 66. Auf dem Eise + des Tschertschen-darja. 67. Am Ufer des Tschertschen-darja 160 + + 68. Sattma in Araltschi. 69. Tränken der Pferde. 70. Schilfhütten + in Scheitlar 161 + + 71. Meine Kosaken Tschernoff, Sirkin und Schagdur. 72. Meine + burjatischen Kosaken Tscherdon und Schagdur (mit tibetischer + Jagdbeute) 168 + + 73. Basch-tograk. 74. Tamariskendickicht. 75. Der Teich bei + Kurbantschik 169 + + 76. Tal zwischen Kurbantschik und Budschentu-bulak. + 77. Tograk-bulak. 78. Ruine bei Jing-pen 176 + + 79. Tschernoffs wildes Kamel. 80. Eines unserer zahmen Kamele 177 + + 81. Eisschollen in der Oase Altimisch-bulak 184 + + 82. Abdu Rehims Beute 185 + + 83. Gebäude auf Tonsockeln. 84. Tschernoff und Abdu Rehim bei + einem Tora in der Wüste. 85. Aufrechtstehender Türpfosten 192 + + 86. Der Platz von Ördeks Entdeckung. 87. Einige von Ördeks + Trophäen 193 + + 88. Ein Tschappgan auf dem Kara-koschun. 89. Im Schilf + unterhalb Kum-tschappgan 200 + + 90. Nordufer des Sees Kara-koschun 201 + + 91. Transport der Kähne über Land 208 + + 92. Hütten bei Jekken-öi. 93. Flußmessung bei Schirge-tschappgan. + 94. Brücke über den Ilek 209 + + 95. Unsere Kähne auf dem Ilek. 96. Pappeln am Ufer des Ilek. + 97. Im Schilfe auf dem Suji-sarik-köll 216 + + 98. Unsere Kähne bei einem Nachtlager. 99. Brücke bei Tikkenlik. + 100. Der Kalmak-ottogo-Arm 217 + + 101. Jugend am Ufer des Tarim. 102. Malenki und Maltschik. + 103. Dünen auf dem rechten Tarimufer 224 + + 104. Gewaltige Sanddünen am rechten Tarimufer 225 + + 105. Sandsturm auf dem Beglik-köll 232 + + 106. Die Fähre sitzt auf dem Tuwadaku-köll im Schilfe fest. + 107. Frauen und Kinder in Tscheggelik-ui. 108. Stall in + Tscheggelik-ui 233 + + 109. Die umgebaute Fähre 240 + + 110. Der Bau der Pontonfähren. 111. Sattma in Abdall. 112. Die + Pontonfähren auf dem Wege nach Abdall 241 + + +Bunte Tafel+. In brennendem Schilfe. Von Ljungdahl 244 + + 113. Tokta Ahun und seine Mutter. 114. Tamarisken bei + Tattlik-bulak 248 + + 115. Frauen und Kinder der Loplik. 116. Das Gerüst meiner + Jurte 249 + + 117. Hauptquartier bei Mandarlik (Blick talabwärts) 256 + + 118. Lager bei Mandarlik (Blick talabwärts). 119. Landschaft + oberhalb von Mandarlik. 120. Hauptkamm des Tschimen-tag, + oberhalb von Mandarlik 257 + + 121. Aufbruch ins tibetische Hochgebirge 264 + + 122. Zwei gefangene Kulanfüllen. 123. Die Kulanfüllen von vorn + gesehen. 124. Ein Parallelkamm des Arka-tag, von Lager Nr. 19 + aus gesehen. 125. Einige unserer Pferde im südlichen Quertale + (3. August 1900) 265 + + 126. Aussicht vom Passe nach Ost zu Nord (3. August 1900) 272 + + 127. Aussicht vom Passe nach Norden (3. August 1900) 273 + + 128. Rast der Karawane während Tscherdons Rekognoszierung + (3. August 1900) 280 + + 129. Auf der höchsten Bergkette der Erde 281 + + 130. Allgemeines Trocknen an der Sonne 288 + + 131. Gletschermassiv im Südwesten vom Lager Nr. 27 289 + + 132. Aussicht nach Süden vom Lager Nr. 28 aus 296 + + 133. Bugsierung eines Kamels über den Fluß. 134. Fester Boden + unter den Füßen. 135. Ein glücklich über den Fluß gebrachtes + Kamel 297 + + 136. Salzsee bei Lager Nr. 35 (27. August 1900), Aussicht nach + Nordosten 304 + + 137. Salzsee bei Lager Nr. 35 (27. August 1900), Aussicht nach + Südosten 305 + + 138. Meine Jurte im Lager Nr. 35 (27. August 1900), Aussicht + nach Norden 312 + + 139. Der Fischberg. 140. Der Fischberg vom See aus 313 + + 141. Blick vom See aus nach Westen. 142. Blick vom See aus nach + Osten 320 + + 143. In Todesgefahr 321 + + 144. Lagerplatz im tibetischen Hochland. 145. Umbetten des + kranken Aldat. 146. Ein im Schlamm versinkendes Kamel 328 + + 147. Turdu Bai auf einem Berge in der Nähe des Lagers Nr. 54 329 + + 148. Tscherdons Yak 336 + + 149. Ein erbeuteter Yak. 150. Ein junger Kulan. 151. Kopf und + Seitenfransen des Yaks 337 + + 152. Blick nach Süden von Aldats Begräbnisplatz 344 + + 153. Lager Nr. 60 in 5111 Meter Seehöhe 345 + + 154. Unser Lager in Togri-sai am 8. Oktober. 155. Die + Kamelkarawane. 156. Das Illwe-tschimen-Gebirge aus dem + Tschimental 352 + + 157. Obo beim Lager Nr. 71 im untern Togri-sai 353 + + 158. Aus dem Hauptquartier in Temirlik 360 + + 159. Das Hauptquartier bei Temirlik 361 + + 160. Tscherdon und Schagdur mit ihrer Beute 368 + + 161. Die Packpferde am Ufer des Ajag-kum-köll 369 + + 162. Der Kalta-alagan von Süden (Lager am 15. und 16. November) 376 + + 163. Der Kalta-alagan von Süden (Lager am 15. und 16. November) 377 + + 164. Turdu Bai und Kutschuk mit dem zusammengelegten Faltboot 384 + + 165. Der Verfasser im Faltboot auf dem Ajag-kum-köll 385 + 166. Islam Bai und Kutschuk stoßen vom Lande ab 392 + + 167. Das nach dem Passe Gopur-alik hinaufführende Tal 393 + + +Karten. + + Höhenprofil der Reiseroute. + + Tarim und Wüste Takla-makan. Maßstab 1 : 2000000. + + Osttibet. Maßstab 1 : 2000000. Nebenkarte: Faksimile eines + Originalblattes meiner Karte des Tarimflusses. Maßstab 1 : 35000. + + + + +Einleitung. + + +Am Johannistage des Jahres 1899, als der nordische Sommer in seiner +größten Schönheit prangte, brach ich zum vierten Male von Stockholm +nach dem Herzen von Asien auf, zu neuen Forschungen und Abenteuern im +fernen Osten. Die Schiffe im Hafen waren reich mit Flaggen geschmückt, +sie feierten das Johannisfest. Nur meine Eltern, Geschwister und +nächsten Freunde standen am Ufer, als der Dampfer „Uleåborg“ langsam +den Stockholmer Strom hinabglitt. Welche Schicksale und Entbehrungen +ich auch während der folgenden drei Wanderjahre zu erdulden gehabt, ich +habe keinen schwereren Tag erlebt als diesen ersten; denn eine weit +größere Entschlossenheit als nachher täglich erforderlich ist, gehört +dazu, sich von der Umgebung loszureißen, mit der man von Kindheit an +durch die heiligsten Bande des Lebens verknüpft ist. + +Auf dieser Reise führte ich viel schwereres Gepäck mit als auf meinen +früheren; es wog nicht weniger als 1130 Kilogramm und war in 23 Kisten +verteilt, von denen die meisten eigens so angefertigt waren, daß sie +von einem Pferde bequem paarweise transportiert werden konnten. Meine +Ausrüstung war auch jetzt sehr vollständig. Damit der Leser einen +Begriff davon hat, wie man für eine Asienreise ausgerüstet sein muß, +will ich hier die wichtigsten Gegenstände aufzählen. + +Um mit den +astronomischen Instrumenten+ zu beginnen, so benutzte +ich diesmal einen Universalreisetheodoliten und drei Chronometer. +Diese Instrumente sind unter allen Umständen die empfindlichsten und +erfordern die liebevollste Sorgfalt. Sie nahmen auf der Reise nicht den +geringsten Schaden und kamen unversehrt wieder heim. + +An +topographischen Instrumenten+ war ich versehen mit: +Nivellierfernrohr mit Meßstangen und anderem Zubehör, Nivellierspiegel, +Bandmaßen, Kompassen, Diopterkompaß mit Prisma zur Ablesung der Winkel, +Meßtisch mit Stativ und Diopter. + +Ich nahm auch zwei Strommesser mit, vorzügliche Apparate, die bei +unzähligen Gelegenheiten gebraucht wurden und sich auch beim Rudern für +Distanzmessungen erfolgreich verwenden ließen. + +Die +meteorologische Ausrüstung+ bestand aus einem Hypsometer +mit 5 Kochthermometern, einem Aspirationspsychrometer, ein paar +Aktinometern, einem Anemometer, einem Regenmesser und einer großen +Anzahl gewöhnlicher Thermometer, Quellenthermometer, Maximum- und +Minimumthermometer, Thermometer zur Untersuchung der Bodentemperatur +usw. Das Kgl. Nautisch-Meteorologische Institut in Stockholm hatte +mir einen Tiefseethermometer überlassen. Einen Barographen und einen +Thermographen mit vierzehntägigem Gang hatte ich eigens herstellen +lassen. Diese selbstregistrierenden Apparate waren mir zur Kontrolle +von unschätzbarem Nutzen und arbeiteten vortrefflich. Ein großer +Vorteil war, daß ihre Glasgehäuse so dicht schlossen, daß weder +Sandstürme, noch atmosphärischer Staub ihren Gang im geringsten +beeinflußten. + +Drei Aräometer ließen nichts zu wünschen übrig, als daß die Skalen den +sehr salzigen Seen Tibets hätten besser angepaßt sein müssen. + +Nicht weniger als 58 Brillen hatte ich bestellt. Sehr wenige von ihnen +kamen wieder ganz nach Hause. Besonders die Schneebrillen, grau und +blau in verschiedenen Nuancen und mit ungeschliffenen Gläsern, fanden +bei meinen Karawanenleuten und anderen Eingeborenen reißenden Absatz. + +Dieselben +Waffen+, die mich 1893-97 begleitet hatten, leisteten +mir auch jetzt Dienste. Ich hatte sie als Geschenk von dem Direktor +der Waffenfabrik zu Husqvarna erhalten, der jetzt so gütig war, mich +mit vier weiteren schwedischen Offiziersrevolvern und einer Menge +kleinerer Revolver, die hauptsächlich zu Geschenken an die Eingeborenen +bestimmt waren, sowie mit reichhaltiger Munition auszurüsten. Da die +vier Kosaken, die mir Seine Majestät der Zar auf die Reise mitgab, mit +den neuen russischen Magazingewehren versehen waren, besaßen wir ein +ziemlich starkes Arsenal, 10 Gewehre und wenigstens 20 Revolver. + +Daneben wurden natürlich unzählige Sachen mitgenommen, die ich hier +nicht aufzählen kann. Ein paar verdienen jedoch besonders erwähnt zu +werden: ein zusammenlegbares Bett, das mir im Sommer die behaglichste +Ruhe verschaffte; im Winter und in Tibet schlief ich auf der Erde. +Mit großer Zufriedenheit denke ich auch an „~James’ Patent Folding +Boat~“ zurück (Abb. 1). Es bestand aus zwei Hälften, die beim +Gebrauche zusammengesetzt wurden und eine sehr leichte Last für +ein Pferd ausmachten; sogar ein Mann allein konnte es tragen. Sein +Zubehör bestand aus zwei Rudern mit Klammern, Mast und Segel und +zwei Rettungsbojen. Dieses kleine Fahrzeug war nicht nur von großem +Nutzen, sondern bereitete mir auch eine sehr angenehme Abwechslung +in der Einförmigkeit des Karawanenlebens. Dank ihm konnte ich in den +tibetischen Seen Lotungen vornehmen, was vorher nie geschehen war; auch +während der Flußreise leistete es mir große Dienste. Es erweiterte +mein Arbeitsfeld und trug mich über Seen, die ich sonst nur vom Ufer +aus hätte ansehen können. Einmal setzte dieses leichte, flinke Fahrzeug +die ganze Karawane über einen tibetischen Fluß, dessen Umgehung uns +großen Zeitverlust verursacht hätte. + +Die +photographische Ausrüstung+ erwies sich in jeder Hinsicht +als vortrefflich. Dieselbe Watson-Camera, die fast ein Jahr im +Flugsande der Wüste Takla-makan begraben gelegen, begleitete mich +auch jetzt. Außerdem hatte ich eine kleine Veraskopcamera, ein ganz +vorzügliches Instrument, einen Kodak Junior und einen Daylightkodak +von Eastman. Es spielte keine Rolle, daß letzterer meinen Erwartungen +nicht entsprach, da die drei anderen während der ganzen Reise +vortrefflich funktionierten. Die Linsen waren die vorzüglichsten, +die zu haben waren; als Glasplatten, die die schwerste Nummer meines +Gepäcks ausmachten, benutzte ich Edwards „Antihalo“. Mit allem, was +zum Entwickeln, Fixieren und Kopieren gehört, war ich ebenfalls +ausgestattet und den größten Teil der aufgenommenen Platten (etwa 2500) +entwickelte ich im Laufe der Reise selbst. Nur 700 Platten waren bei +der Heimkehr noch nicht entwickelt. Sie wurden immer in verlöteten +Blechkasten verwahrt. Allerdings kostete das Entwickeln der Bilder +Zeit, aber ich fand, daß die Arbeit in hohem Grade an Interesse gewann, +denn es versteht sich von selbst, daß es ein angenehmes Gefühl der +Sicherheit gibt, wenn man weiß, daß die Platten gelingen und die +Apparate dicht sind. Übrigens muß sich die Expositionszeit nach den +Lichtverhältnissen richten, die in Ostturkestan und in Tibet sehr +verschiedenartig sind. Da ich eine so vollständige photographische +Ausrüstung hatte, kam ich selten dazu, Zeichnungen zu machen, und hatte +auch selten Zeit dazu; meist sind ja auch Photographien infolge ihrer +absoluten Treue wertvoller. + +Hier sei auch erwähnt, daß eine Menge Kleinigkeiten, wie Messer, +Dolche, Ketten, Uhren, Kompasse, Spieldosen usw. mitgenommen +wurden, die zu Geschenken an die Eingeborenen bestimmt waren. Ein +Eskilstuna-Messer erster Güte wird im innersten Asien weit höher +geschätzt als ein viel wertvolleres Geldgeschenk. In vielen Fällen sind +derartige Kleinigkeiten besser als Scheidemünze und selbstverständlich +billiger. + +Papier zum Kartenzeichnen, Tage- und Notizbücher, Schreibmaterial, +Tintenpulver und dergleichen hatten ebenfalls ein achtunggebietendes +Gewicht, aber ich bedurfte dieser Sachen für eine Karte von 1149 +Blättern und für ein Tagebuch von 4500 Seiten! + +Zur Verwahrung und Beförderung der empfindlicheren Sachen hatte ich +sechs Koffer von Korbgeflecht mit wasserdichtem Futteral bestellt. Sie +waren leicht und sehr stark und nahmen keinen Schaden, während Holz- +oder Eisenkisten gründlich beschädigt wurden. Ferner wurde mir eine +dauerhafte Kiste mit 300 Glasröhren für naturgeschichtliche Präparate +geliefert. + +Die +Proviantfrage+ wurde außerordentlich befriedigend gelöst. +Alle Waren (acht Kisten) hielten sich vorzüglich; besonders delikat +waren die Schildkröten-, Kaiser- und Ochsenschwanzsuppe, die, fertig +in Dosen, nur gewärmt zu werden brauchten. Um eine Schaf- oder +Antilopenfleischsuppe schmackhaft und kräftig zu machen, war Liebigs +Fleischextrakt unschätzbar und sehr praktisch, da er sich leicht +mitnehmen ließ. + +Alles war für eine Reise von zwei Jahren berechnet und reichte daher +nicht aus. Aber bis in die Lop-nor-Gegend stand ich von Zeit zu Zeit +mit Europa in Verbindung und konnte somit im Sommer 1901 Verstärkung +erhalten, nicht nur an photographischem Material und Konserven, sondern +auch für meine Kasse. + +Meine +Bibliothek+ war nicht groß; sie bestand aus: Bibel, +Gesangbuch und einem Büchlein mit dem Titel „Parole für den Tag“, das +ein Band zwischen mir und den Meinen in der Heimat bildete, ferner aus +Supans „Grundzüge der physischen Erdkunde“, Geikies „~The great Ice +Age~“ und Hanns „Handbuch der Klimatologie“, Kerns „Der Buddhismus +und seine Geschichte in Indien“, Rhys Davids „~Buddhism~“, +ein paar wissenschaftlichen Nachschlagebüchern, sowie aus Odhners +schwedischer Geschichte und ein paar Werken schwedischer Dichtkunst. +Alle Karten, welche Reisende über das innerste Asien veröffentlicht +hatten, wurden in einer besonderen Mappe verwahrt. Ich konnte demnach +ihre Routen sorgfältig vermeiden und Gegenden aufsuchen, wo ich der +erste war. + +Ein so bedeutendes Gepäck 5300 Kilometer weit auf der Eisenbahn als +Passagiergut mitzunehmen, hätte natürlich große Kosten verursacht. Mich +aber kostete es nicht eine Kopeke. Seine Majestät der Zar hatte meinem +Reiseplane großes Interesse entgegengebracht und mir für Rußland freie +Reise und für mein Gepäck Fracht- und Zollfreiheit bewilligt. + +In Petersburg genoß ich vom 26.-30. Juni 1899 wieder die +Gastfreundschaft unseres Gesandten Reuterskiöld. Wie leid tat es mir, +als ich eine Woche später von seinem plötzlichen Hinscheiden hörte! +Unserem neuen Gesandten in Rußland, dem Grafen Aug. Gyldenstolpe, bin +ich für die große Bereitwilligkeit, mit der er sich sowohl damals als +auch während der drei folgenden Jahre meiner Interessen liebevoll +angenommen hat, größten Dank schuldig. Er hatte die Güte, es so +einzurichten, daß ich, außer der freigebigen Unterstützung, die ich von +meinem Freunde Emanuel Nobel erhalten hatte, auch das ganze Reisegeld +auf bequeme Weise in Taschkent erheben konnte. In Petersburg hatte +ich auch die Freude, täglich mit meinem alten Wohltäter und Freunde, +dem berühmten Polarforscher Professor Freiherrn A. von Nordenskiöld +zusammenzutreffen. Zu tiefer Trauer für alle, die ihn liebten und +bewunderten, und zu unersetzlichem Verluste für die Wissenschaft und +unser Vaterland wurde auch er während der Zeit, in der ich fern von der +Heimat weilte, dahingerafft. + +Ich werde den Leser nicht mit einer Beschreibung der Fahrt durch +Rußland und Westasien ermüden. Dem Plane dieses Buches gemäß muß ich +an bekannten Orten vorübereilen und den Leser so schnell wie möglich +nach dem eigentlichen Schauplatze neuer Erfahrungen und geographischer +Entdeckungen führen. Während der letzten Zeit, bevor ich Stockholm +verließ, hatte ich angestrengt gearbeitet, und es war daher eine wahre +Erholung, sich in dem bequemen Abteil ausstrecken zu können, ungestört +durch Korrekturen, Telephon und Zeitungen und Tausende von Bagatellen, +die in einem zivilisierten Staate unsere Zeit und unsere Gedanken in +Anspruch nehmen. Es war schön, Träumen und Plänen freien Lauf lassen zu +können und zu fühlen, daß man sich mit jeder Minute dem Ziele näherte. + +Die Fahrt ging über +Moskau+, +Woronesch+ und +Rostow+ +am majestätischen Don und weiter nach +Wladikawkas+, denselben +Weg, den ich bei meiner ersten Reise 1885 zurückgelegt hatte. Von +da führte der Weg über das langweilige +Petrowsk+ und über die +weite Fläche des Kaspischen Meeres nach +Krasnowodsk+, einem der +trübseligsten Orte, die man sich denken kann. + +Kriegsminister General Kuropatkin hatte die große Freundlichkeit +gehabt, telegraphisch in +Krasnowodsk+ Befehl zu erteilen, daß +mir zur Reise nach Andischan ein ganzer Eisenbahnwagen zur Verfügung +gestellt werde. In diesen wurde all mein Gepäck verstaut, und ich +selbst hatte es so bequem wie in einem Hotel. Da mein Wagen der letzte +im Zuge war, konnte ich von seiner hinteren Plattform aus den Blick +über die öde Landschaft schweifen lassen. Ich hatte die Schlüssel zum +Wagen und war von den übrigen Leuten im Zuge vollkommen isoliert. +Daher konnte ich bei der drückenden Hitze so leicht gekleidet als nur +denkbar umhergehen und mich ab und zu im Toilettezimmer an einer Dusche +erfrischen. + +Am 7. Juli verließen wir nachmittags 5 Uhr die Küste des Kaspischen +Meeres, rollten in den asiatischen Kontinent und verloren uns in +der öden Steppe. Um Mitternacht fiel die Temperatur, die mittags in +Krasnowodsk 37 Grad im Schatten betragen hatte, auf 28 Grad, und die +Lebensgeister, die in der Hitze eingeschlummert waren, wachten wieder +auf. Am Nachmittag des 8. Juli erreichten wir +Aschabad+, wo ich +Oberst Svinhufvud traf, den ich von meiner vorigen Reise her kannte und +der hier Bahnhofsinspektor war. + +Ich muß eine kleine Episode von meinem neuen Zusammentreffen mit diesem +sympathischen, heiteren Finnen einschalten. Ich bat ihn, nach Merw +Auftrag zu geben, daß mein Wagen dort vom Zuge abgekoppelt und bei der +ersten Gelegenheit an einen nach Kuschk bestimmten Zug angehängt werde. +Auf der Reise durch Transkaspien war ich nämlich auf den Gedanken +gekommen: warum sollte ich mir nicht das berühmte Kuschk und die Grenze +gegen Herat ansehen, da auf meiner Fahrkarte doch klar und deutlich +geschrieben stand: „Mit allerhöchster Erlaubnis wird ~Dr.~ Sven +Hedin freie Reise und freie Gepäckbeförderung auf allen russischen +Bahnen in Europa und Asien bewilligt“! + +Oberst Svinhufvud lächelte freundlich, nahm aus seinem Taschenbuch ein +Telegramm vom Kriegsministerium und las. „Im Falle, daß ~Dr.~ Sven +Hedin beabsichtigt, sich nach Kuschk zu begeben, teilen Sie ihm mit, +daß dieser Weg allen Reisenden verschlossen ist.“ + +Damit war die Sache entschieden. In meinem Herzen dachte ich, daß das +russische Kriegsministerium sehr klug handelt, wenn es einen Punkt, der +in strategischer Hinsicht von großer Bedeutung ist, so scharf bewacht. +Ich erfuhr auch, daß diese Seitenbahn nicht einmal Russen offen steht; +nur Militärpersonen, die nach der Festung Kuschk kommandiert sind, +dürfen sie benutzen. + +Am 9. Juli, um 2½ Uhr morgens, waren wir in +Merw+, von wo die neue +Bahnlinie südwärts nach Kuschk abgeht. In der Oase +Tschar-dschui+ +mit ihrer lebhaften Station war die Ankunft unseres Zuges das große +Ereignis des Tages. Gleich hinter der Station +Amu-darja+ rollte der +Zug auf der gewaltigen Holzbrücke über den gleichnamigen Fluß, was +volle 26 Minuten dauerte. Als ich 1902 zurückkehrte, war die neue +Eisenbrücke fertig. + +Nach kurzer Fahrt war ich in +Samarkand+ mit seinem reichen +Vegetationsgebiete, das ich am Morgen des 10. Juli verließ. Hinter ++Dschisak+ hatten wir die einförmige, ebene Steppe zu kreuzen. +Die Stationen heißen nach Generalen, die in der Geschichte des Landes +eine Rolle gespielt haben, Tschernajewa, Wrewskaja usw. Schließlich +rollt der Zug über den Sir-darja, und man ist in +Taschkent+, der +Hauptstadt Turkestans, mit ihrem großen, lebhaften Bahnhofe, dessen +Bedeutung noch größer wird, wenn in ein paar Jahren die Bahnstrecke +Orenburg-Taschkent fertig ist. + +Nach einem Besuche beim Generalgouverneur und bei alten Freunden und +nachdem ich im Observatorium meine Chronometer verglichen hatte, +verließ ich am Abend des 12. Juli Taschkent wieder. + +Hinter Tschernajewa fährt der Zug das Ferganatal hinauf. Im Süden +zeigte sich die turkestanische Bergkette, die bald in den Alai mit +seinen schneebedeckten Kämmen und Gipfeln übergeht. In Dörfern oder wo +Wege die Bahnstrecke kreuzen, haben sich manchmal Sarten versammelt; +sie haben sich noch nicht ganz mit der seltsamen, schnellen „Maschina“, +die auf dem „Temir-joll“ (Eisenbahn) dahinsaust, befreundet. Um 9 Uhr +erreichten wir +Andischan+, den Endpunkt der zentralasiatischen +Eisenbahn. + +Als der Zug in den Bahnhof einfuhr, war es mir eine große Freude, +meinen alten treuen Diener +Islam Bai+ (Abb. 2) dastehen zu sehen, +ebenso ruhig und sicher wie sonst; im blauen Chalate mit der von König +Oskar von Schweden verliehenen goldenen Medaille auf der Brust. Er war +sich gleich geblieben, sah gesund und kräftig aus, war aber freilich +älter geworden, und sein Bart war ergraut; er selbst meinte, er sei +ein Greis geworden. Ich begrüßte ihn herzlich; dann unterhielten wir +uns drei Stunden lang, teils über seine vier Monate lange Heimreise +von Urga im Jahre 1897, teils über die bevorstehende Reise. Islam +erfaßte meine Pläne mit dem lebhaftesten Interesse. Es war mir eine +Beruhigung, ihm jetzt das ganze Gepäck anvertrauen zu können, das +er auf Arben (Wagen) nach Osch führte. Von diesem Tage an wurde er +wieder mein Karawan-baschi (Karawanenführer); er kannte von früher her +genau meine Reisegewohnheiten und Wünsche und besorgte alles, was zur +Karawanenausrüstung gehörte. -- Armer Islam Bai! -- Mit den schönsten +Hoffnungen traten wir zusammen jene lange Reise an, die für ihn auf so +beklagenswerte, unglückliche Weise enden sollte! + + + + +Erstes Kapitel. + +Über den ersten Paß des Kontinents. + + +In +Osch+ verlebte ich zwei sehr angenehme Wochen bei Oberst +Saizeff, meinem vortrefflichen Freunde aus Pamir, und im Kreise +seiner liebenswürdigen Familie. Er war jetzt Ujäsdnij natschalnik +(Distriktschef) über den Distrikt Osch, der 175000 Einwohner zählt, +während seine Hauptstadt von 35000 Sarten, 150 Russen und 800 Mann +Garnison bewohnt ist. Die einzige Unbequemlichkeit während meines +Aufenthalts in Osch war eine heftige Augenentzündung. Doch ich verlor +nicht viel durch diesen unfreiwilligen Arrest, denn Islam Bai ordnete +unterdessen das Gepäck, stellte die Karawane zusammen, mietete Diener, +ließ zwei Zelte anfertigen und besorgte die notwendigen Einkäufe. +Einmal besuchten Saizeff und ich Islam in seinem Heim, einer einfachen, +ärmlichen Lehmhütte in der Sartenstadt, wo er auf eigenem Grund und +Boden mit seiner Frau und fünf Kindern wohnte, unter die ich Goldmünzen +und andere Geschenke verteilte, um sie über die bevorstehende Trennung +von dem Gatten und Vater zu trösten. Auf der vorigen Reise hatte Islam +monatlich 25 Rubel erhalten; jetzt wurde sein Lohn auf 40 erhöht, was +für einen Asiaten, der überdies ganz freie Station hat, eine bedeutende +Summe ist. Der Lohn des ersten Jahres wurde als Vorschuß Oberst Saizeff +eingehändigt, der davon monatlich 10 Rubel an Islams Familie auszahlte. + +[Illustration: 1. Das englische Faltboot auf dem Panggong-tso in +Westtibet. (S. 2.)] + +[Illustration: 2. Islam Bai. (S. 7.)] + +[Illustration: 3. Brücke oberhalb Gultscha. (S. 10.)] + +[Illustration: 4. Meine erste Karawane. (S. 10.)] + +Als ich mich ganz wiederhergestellt fühlte und alles bereit war, wurde +die Abreise auf den 31. Juli 1899 festgesetzt. Die Karawane brach +frühmorgens auf und lagerte im Dorfe +Madi+. Nach einem glänzenden +Diner bei Oberst Saizeff verließ ich nachmittags Osch, begleitet +von meinen Wirten und verschiedenen jungen Damen und Offizieren. In +einem Haine bei Madi waren die Zelte aufgestellt, und der Min-baschi +der Gegend hatte eine geräumige Jurte (Zelt) mit Stühlen und Tischen +hergerichtet, die unter den Delikatessen des Dastarchans (Imbiß) +beinahe brachen. In der Dämmerung kehrten meine russischen Freunde nach +Osch zurück. Erst jetzt war ich von der Zivilisation abgeschnitten +und fühlte, daß ich mich wieder auf der Reise befand. Als abends 9 Uhr +die erste Reihe meteorologischer Ablesungen gemacht wurde, war ich +wieder im alten Gleise und gedachte der 1001 Nächte, die ich vor nicht +langer Zeit unter ähnlichen Verhältnissen im Herzen des großen, öden +Asiens verlebt hatte! Jetzt aber bewohnte ich ein prächtiges Zelt aus +doppeltem, wasserdichtem Segeltuch, das mit Teppichen geschmückt und +mit dem Feldbett und meinen Instrumentkisten möbliert war. Gesund und +herrlich war es, wieder im Freien im Zelte zu wohnen, vor mir ganz +Asien und eine Welt von Hoffnungen auf neue, wichtige Entdeckungen! + +Islam hatte zwei nette junge Hunde, die wirklich hübsch zu werden +versprachen, angeschafft; der eine, ein Hühnerhund, hieß Dowlet +(Reichtum), der andere, ein asiatischer Wilder von gemischtem Blute, +hörte auf den Namen Jolldasch (Reisegefährte). Sie wurden an mein Zelt +angebunden, um allmählich daran gewöhnt zu werden, daß sie dessen +treue Wächter sein müßten, was nicht viele Tage dauerte. Ich hatte +diese Hunde so lieb, daß mir später ihr Verlust den tiefsten Schmerz +bereitete. + +Die Karawane bestand aus Islam Bai als Führer, Kader Ahun und Musa, +Dschigiten (Kuriere) aus Osch, die für 15 Rubel monatlich angeworben +waren, und vier Karakeschen (Pferdewärtern), welche die 26 Pferde +begleiteten, die ich für 8 Rubel pro Stück für die ganze Wegstrecke bis +Kaschgar (450 Kilometer) gemietet hatte. Die Leute hatten zwei Zelte, +um welche das Gepäck ganze Bastionen bildete. Die ersten Tagereisen, +soweit die neuangelegte Fahrstraße reicht, zog ich es vor, im Wagen zu +fahren. + +Am Morgen des 1. August dauerte es ziemlich lange Zeit, bis die +Karawane marschfertig war. Es handelte sich darum, die Kisten und +sonstigen Lasten genau abzuwägen, so daß sie paarweise gleiches Gewicht +hatten und bequem auf dem Packsattel des Pferdes lagen. + +Gleich hinter Madi wird die Landschaft durch die ersten Aule +(Zeltdörfer) von Ferganakirgisen inmitten großer Herden von Schafen, +Ziegen, Rindern, Kamelen und Pferden belebt. Besonders die Frauen +mit ihren roten Gewändern, ihren Schmucksachen und hohen, weißen +Kopfbedeckungen erregen Aufmerksamkeit. In +Bir-bulak+ mit seinen +russischen Häusern und Aulen machten wir den ersten Halt. + +Die nächste Tagereise führte uns über den kleinen Paß ++Tschiger-tschig+. Kirgisische Reiter griffen in lange, an der Deichsel +befestigte Seilschlingen vor den Pferden meines Phaethons, und munter +ging es die Paßhöhe hinauf. Aber die Fahrt abwärts, wo es viel steiler +ist und der Weg in unzähligen Zickzackkrümmungen hinläuft, ist recht +waghalsig. Würde nicht das eine Hinterrad gebremst, so würde der Wagen +schneller hinabrollen, als es für den Fahrenden gut wäre. + +Das klare Wasser des Baches Ile-su rauscht herrlich zwischen Steinen +und Büschen dahin und bildet oft schäumende Kaskaden. Das Tal öffnet +sich, vor uns zeigt sich +Gultscha+ mit seinen leicht zu zählenden +russischen Häusern, dem Fort mit einer Sotnja (100 Mann), den Kasernen, +der letzten Telegraphenstation und dem Basare, umgeben von schlanken +Pappeln. Der kleine Ort liegt am rechten Ufer des Kurschab- oder +Gultscha-darja, der ziemlich wasserreich ist, obgleich die Tiefe 80 +Zentimeter nicht übersteigt. + +Der am rechten Ufer des Gultscha-darja weiterführende Weg ist +vortrefflich, obgleich er bergauf und bergab geht; er wird aber auch +jährlich sorgfältig unterhalten und muß jeden Frühling ausgebessert +werden, weil er, namentlich an den Pässen, durch Lawinen und durch die +Schneeschmelze zerstört wird. Die Brücken sind aus Holz und befinden +sich an schmalen Stellen, bei denen eine einzige Spannung genügt (Abb. +3). Welch ein Unterschied gegen die schlechten, schwankenden Stege, die +für die Bedürfnisse der Kirgisen genügten und die ich während meines +früheren Besuches kennen lernte. Seitdem hat der Weg strategische +Bedeutung erhalten; er geht durch das Alaital nach Bordoba (Bor-teppe) +und von da über den Kisil-art und Ak-baital nach Pamirskij Post. Man +kann jetzt den ganzen Weg fahren und Proviant, Bauholz usw. auf Karren +nach den Ufern des Murgab bringen; selbst mit Artillerie kann man nun +das öde Gebiet von Pamir durchkreuzen. An mehreren Stellen, wie Bordoba +und Kara-kul, hat man steinerne Stationsgebäude erbaut. Sie liegen im +Terrain so maskiert, daß man ahnungslos daran vorbeireiten würde, wenn +man ihre Lage nicht kennte. Sie enthalten heizbare Zimmer mit Proviant +usw., wo Reisende und Dschigiten im Winter oder bei Schneestürmen eine +erwünschte Freistatt finden sollen. Die kleinen Herbergen und Hütten, +in denen ich im Februar 1894 übernachtete, waren eingegangen. + +Hier und da steht noch eine Pappel (Terek). Der Artscha (Wacholder) +beginnt an den Abhängen aufzutreten. Wir sehen viele, gar nicht +scheue Rebhühner. Bei Kisil-kurgan (rote Festung) steht ein kleines +Lehmfort, wo die Kirgisen uns Tee vorsetzten. Ein wenig davon entfernt +rastete ich im Schatten eines herrlichen Pappelhains, um die Karawane +zu erwarten, und erfreute mich im Wagen des schönsten Schlafes, den +ich seit langem genossen. Er war mir auch nötig, denn des bewegten +nächtlichen Lebens und des Lagerlärms war ich noch ungewohnt. Doch +nach einer Stunde weckten mich Rufe und Pfiffe: unsere stattliche +Karawane marschierte vorbei (Abb. 4, 5). An der Spitze ritt ein Mann +auf einem Esel und führte die drei Pferde, welche meine kostbaren +Instrumentkisten trugen. Die übrige Karawane ist in drei Abteilungen +geteilt, jede von einem Dschigiten überwacht, während einige Männer +zu Fuß gehen, um die Lasten, die herunterrutschen oder nicht im +Gleichgewicht sind, zurechtzurücken. Kader Ahun reitet hinterdrein; +ihn begleitet ein neuangeschaffter, noch angebundener Karawanenhund. +Fröhlich klingen die Glocken und geben ein gellendes Echo. Der lange +Zug verschwindet hinter einem Hügel, taucht wieder auf und entschwindet +wieder meinen Blicken, indem er langsam einen steilen Hang hinabzieht. +Aber bald hole ich ihn ein. + +Der Weg wird steiniger und zieht sich große Strecken lang auf der Höhe +steil abfallender Schuttkegel und Geröllhügel hin, deren Basis vom +Flusse bespült wird. Wo Nebentäler einmünden, öffnen sich malerische +Perspektiven in das Gebirge hinein. Immer noch kommen Pappeln und +Sträucher vor, die Steigung nimmt ein wenig zu, immer häufiger +zeigen sich Stromschnellen, und immer lauter rauscht der Fluß. Bei +der Talweitung +Kulenke-tokai+ sieht man am rechten Flußufer +einen sehr schönen Pappelhain, wo die Kirgisen freundlicherweise eine +Jurte für uns aufgeschlagen hatten, da sich hier gerade keine Nomaden +befanden, in deren Zelten wir hätten rasten können. Ich zog jedoch vor, +die Ankunft der Karawane abzuwarten, um in meinem eigenen „Hause“ zu +wohnen. + +An diesem Punkte brachten wir den ersten Ruhetag der Reise zu. Es +war ein herrlicher stiller Platz, denn die Pferde waren nach Jeilaus +(Weideplätzen) in der Nachbarschaft gebracht worden. Der Himmel war +trüb, die Temperatur angenehm. Abwechselnd wehte es talaufwärts und +talabwärts, und wie eine Einweihungshymne klang es, wenn der Wind in +den Kronen der dicht belaubten Bäume rauschte. Man konnte träumen und +diesen wohlbekannten Lauten lauschen, die an so manche Ereignisse +von früheren Reisen erinnerten. Ich sah in Gedanken den kommenden +Jahren entgegen, in deren Schoße so viele seltsame Ereignisse und +Abenteuer, so viele harte Schicksale und Entbehrungen, Verluste, Siege +und Entdeckungen schlummern sollten! Noch hatte ich das Gefühl der +Einsamkeit nicht völlig überwunden, aber die Zeit stählt das Gemüt, und +der Mechanismus des Karawanenlebens geht bald seinen vorgeschriebenen +Gang. Der Unterschied gegen die zwei vorhergehenden Jahre war recht +schroff. Nach dem Aufenthalte im Weltgetümmel und in zivilisierten +Verhältnissen war es ein seltsames Gefühl, wieder fort und vergessen +zu sein, von der eigenen Sehnsucht verurteilt, im innersten Asien zu +verschwinden. Noch am Abend sang es melancholisch in den Pappeln, +und in dem unermüdlichen Rauschen des Flusses glaubte ich die alte, +wohlbekannte Mahnung zur Geduld, die schließlich zum sicheren Siege +führe, wiederzuhören. Jetzt erschien das Ziel noch fern und dunkel, +aber jeder Tag würde mich ihm einen Schritt näher führen, und kein +Tag würde ohne neue Erfahrungen und Forschungsgewinne vergehen. Still +und verlassen lag das Biwak da; kein Rauch deutete auf Feuer, keine +Menschen zeigten sich, denn meine Leute gaben sich in der Jurte dem +Schlafe hin, nur der Fluß und der Wind störten die feierliche Stille. + +Kurz nach Mitternacht fiel Regen, der lustig auf die Zeltleinwand +trommelte. Es klang gemütlich und führte gegen Morgen eine ziemlich +fühlbare Abkühlung herbei. Die unerwartete Dusche brachte Leben ins +Lager, und die Leute waren sofort auf den Beinen, um das draußen +stehende Gepäck unter Dach zu bringen. + +Gleich hinter dem Lager überschreiten wir ein paarmal den Fluß und +halten uns dann meistens auf dem rechten Ufer. Bei +Sufi-kurgan+ +läßt man links das Terektal liegen, das nach dem Passe Terek-davan +hinaufführt, über den ein näherer, aber schwerer passierbarer Weg +nach Kaschgar geht. Oberhalb dieses Tales ist die Wassermenge des +Hauptflusses geringer, doch wird das Tal wieder breit, und sein +gleichmäßig abfallender Boden hebt sich grau ab gegen die roten +Terrassen von Sand, Geröll und Ton, welche das Bett zwischen ihren +lotrechten Wänden einschließen. Dann passieren wir am linken Ufer einen +kleinen, sanften Bergrücken auf dem Passe +Kisil-beles+, wo wir +im Schatten massiger Artschas rasten. Es ist recht frisch, es geht ein +lebhafter Wind, und auf den Bergkämmen fällt leichter Regen. Das Lager +dieses Tages wurde in dem offenen Tale +Bosuga+ aufgeschlagen. Wie +gestern legten wir 39 Werst zurück; noch sind Werstpfähle längs des +Weges angebracht. + +Meine Hündchen Dowlet und Jolldasch waren klassische Wesen; sie waren +erst ein paar Monate alt und konnten so weite Strecken noch nicht +laufen. Wir hatten sie daher in einem Weidenkorbe hinten an meinem +Wagen festgebunden. Anfangs waren sie über diese Art zu reisen so +erstaunt, daß sie sich ganz still verhielten; bald aber hatten sie sich +daran gewöhnt, und Dowlet, der den besten Platz haben wollte, hielt +Jolldasch im Zaume und schalt ihn aus, wenn er nicht gehorchte; der +Ärmste winselte beständig ganz jämmerlich. Wenn sie im Lager aus ihrem +Gefängnis herausgelassen wurden, waren sie überselig und liefen wie die +besten Freunde miteinander, aller Beißereien im Korbe vergessend. Schon +jetzt fühlten sie sich im Lager heimisch und schliefen nachts neben +meinem Bette. Sie hielten recht gute Wacht und bellten wie toll bei dem +geringsten verdächtigen Geräusch. Ihre Mahlzeiten nahmen sie stets bei +mir ein und entwickelten dabei einen beängstigenden Appetit. + +Die Nacht auf den 6. August war recht kalt, und die Minimaltemperatur +fiel auf 1 Grad unter Null. Ich mußte Pelz, Filzdecken und Mütze +auspacken Die Luftverdünnung dagegen belästigte mich nicht im +geringsten, doch merkte man an der sich bei anstrengenden Bewegungen +einstellenden Atemnot, daß hier das herrschte, was die Eingeborenen +„Tutek“ nennen, das Gefühl, welches man auf Hochpässen empfindet. Der +Weg folgt dem Talldikbache aufwärts, manchmal im Bachbette selbst, das +man verläßt, um die Abhänge hinaufzuklettern. Nachdem wir verschiedene +Nebentäler passiert, beginnt der eigentliche Anstieg, der nicht sehr +steil ist, da der Weg in zahllosen Zickzackwindungen angelegt ist. Das +Gestein ist schwarzer, stark gefalteter Schiefer. Auf der Höhe des ++Talldikpasses+ steht ein mit einem Geländer umgebener Pfahl; +zwei gußeiserne Tafeln an demselben verkünden, daß der Paß 11800 Fuß +(3617 Meter) hoch ist, 88 Werst von Gultscha liegt und daß der Weg +angelegt worden ist, als A. B. Wrewskij Generalgouverneur und N. J. +Korolkoff Gouverneur waren. Die Wegarbeiten begannen am 24. April +1893 und endeten am 1. Juli desselben Jahres unter Leitung des Majors +Grombtschewskij. Auf der anderen Seite, nach dem Alaitale zu, ist der +Abstieg weniger steil. Kein einziger Wacholder überschreitet den Paß; +auf der Alaiseite sind die Abhänge ganz unbewaldet. + +Am oberen Sarik-tasch verabschiedete ich meinen Arabatschi (Kutscher) +und gab ihm ein anständiges Trinkgeld und einen Dolch; er hatte sich +gut geführt und den Wagen wohlbehalten bis ins Alaital gebracht. Von +jetzt an ritt ich und weihte einen ungarischen Feldsattel aus Budapest +ein. Bald sind wir im eigentlichen +Sarik-tasch+, wo das Paßtal +des Talldik in das große, breite Alaital einmündet; dann biegen wir +nach Osten ab, die letzten Werstpfähle hinter uns zurücklassend. Im +Süden dehnt sich das großartige Gebirgssystem des Transalai aus; die +gewaltigen Bergriesen stehen in kreideweißem, hellblauschimmerndem +Schneegewande da, und die meisten der höchsten Gipfel sind +wolkenumkränzt. Besonders im Westen sind die Wolken zahlreich, und der +Pik Kauffmann ist daher unseren Blicken verborgen. Das Alaital ist +breit, offen und reich an Weiden, auf denen hier und dort zahlreiche +große Agile (Hürden) mit gewaltigen Herden zu sehen sind. Im Osten wird +das Tal von Bergen versperrt, über welche der flache Paß Tong-burun +führt, der die Wasserscheide und die östliche Schwelle des Alaitales +bildet. Alle Augenblicke kreuzen wir flache Ausläufer vom Alai, die +sich nach Süden nach dem Zentrum des Tales hinziehen; ein solcher ist +der Katta-sarik-tasch. Hinter diesem überschreiten wir den Fluß Schalwa +mit einem großen, steinigen Bett, aber wenig Wasser. Vom Transalai +mündet hier das ebenso steinige Tal Mäschallä. Diese Talwege und Flüsse +vereinigen sich nach und nach, nehmen mehrere andere auf und bilden +allmählich ein Haupttal, dessen Fluß +Kisil-su+ heißt. + +Unser Rasttag in +Äilämä+, wo wir auf dem Wege nach Kaschgar die +beste Weide für die Pferde finden sollten, war gerade nicht angenehm, +denn es regnete in Strömen und der Herbst der Ferganaberge hatte +sichtlich schon seinen Einzug gehalten; doch wir mußten uns damit +trösten, daß man es bei solchem Wetter unter Dach besser hat als im +Sattel. + +Der 9. August war ein herrlicher Tag, und der Regenvorrat der Wolken +schien jetzt für einige Zeit erschöpft zu sein. Wir stiegen langsam +nach dem +Tong-burun-Passe+ hinauf, einem breiten Bel (Paß), der +nach Ansicht der Kirgisen kaum als ein Paß zu betrachten ist. Dennoch +bezeichnet die kleine Steinpyramide auf der gleichmäßig abgerundeten, +flachhügeligen Höhe eine sehr wichtige geographische Grenzmarke, +indem sie den höchsten äußersten Ostrand des Alaitales bildet und +die Wasserscheide zwischen dem Aralsee und dem Lop-nor, also eine +wichtigere Grenze als selbst der Talldik ist, der nur das Gebiet des +Sir-darja von dem des Amu-darja trennt. Von diesem Punkte an fällt +das Terrain nach dem Lop-nor ab. Der Abstieg wurde den Pferden sauer, +einige Lasten rutschten und verursachten Aufenthalt. Die Berge zur +Rechten, die östliche Fortsetzung des Transalai, sind uns ganz nahe; +sie sind in Schnee gehüllt und die Spitzen von Wolken bedeckt. Hier +und da wachsen kleine Wacholder in den Spalten, und die Sor oder +Steppenmurmeltiere (~Arctomys bobac~) sind unzählbar. Am Eingange +ihrer Erdhöhlen auf den Hinterbeinen sitzend, betrachten sie die +Karawane und verschwinden, sobald man sich ihnen nähert, mit größter +Gewandtheit unter schrillem Pfeifen. + +Von der Vereinigungsstelle des Kisil-su mit dem Kok-su gelangen wir +über mehr oder weniger tiefe Rinnen zum breiten, tiefeingeschnittenen +Tale des +Nuraflusses+, auf dessen linkem Ufer ein Begräbnisplatz +liegt, der unter dem Namen +Ak-gumbe+ bekannt ist. Der Nura +war jetzt größer als der Kisil-su, sein Wasser ebenso rot wie das +des „Roten Flusses“ und recht unangenehm zu durchreiten, da man die +tückischen Rollsteine in dem trüben Wasser nicht sehen konnte und mein +Pferd daher beinahe kopfüber in die wilde Flut gestürzt wäre. Nicht +weit von hier vereinigen sich Nura und Kisil-su zu einem ansehnlichen +Flusse, dessen Bekanntschaft wir bald machen werden. Der Pfad ist ein +stetes Bergauf und Bergab, bis man von einem letzten Passe in der Tiefe +die weißen Mauern der russischen Grenzfestung +Irkeschtam+ mit +ihren Türmen und Kasernen, in denen Kosaken Wacht halten, erblickt. + +Irkeschtam ist nicht nur eine Grenzfestung gegen China, sondern auch +eine Zollstation; der Vorsteher dieser, Herr Sagen, war ein alter +Bekannter von mir von einem früheren Besuche in Kaschgar her. Er war +ein großer Tierfreund und hielt eine Menagerie, bestehend aus einem +Wolfe, einigen Füchsen und einem Bären, der in einer Hütte mitten auf +dem Hofe angebunden war. Einige Zeit nach meinem Besuche war es dem +Petz gelungen, sich von seinen Banden zu befreien; er machte einen +Besuch im Zimmer der Dschigiten, zum großen Schrecken der Bewohner. +Das Abenteuer hatte für Petz ein verhängnisvolles Ende, da die Männer +ihre Zuflucht auf das Dach nahmen, von wo aus sie ihren Feind zu Tode +bombardierten. + +Eine halbe Stunde von Irkeschtam gelangen wir an den „Roten Fluß“, +der sehr wasserreich und mehr als 80 Zentimeter tief war. Wir sind +jetzt auf chinesischem Boden, und das „Himmlische Reich“ dehnt sich +vor uns bis an den Stillen Ozean aus. Der Pfad führte nach dem ++Tor-pag-bel+ hinauf. Die ganze Landschaft ist eine öde Sand- und +Kiesebene, von Bergen umschlossen, den Ausläufern des Pamirgebirges, +die auf beiden Seiten immer niedriger werden und in Geröll- und +Kiesrücken und Hügel übergehen. Doch kommt noch immer anstehendes +Gestein vor. Wir steigen in das +Jegintal+ hinab, das ein ziemlich +wasserreicher Fluß durchströmt, an dessen linkem Ufer ein chinesisches +Fort erbaut ist. + +Unser Zug schreitet das Tal hinunter, das immer enger wird. Ein +schmaler Vegetationsgürtel von Pappeln, Weiden, Sträuchern und Gras +begleitet jedes Ufer; er verbreitert sich nach dem Vereinigungspunkte +mit dem Kisil-su zu. Die Gegend heißt +Nagara-tschalldi+ (Abb. 6, +7) und ist die herrlichste Oase auf dem ganzen Wege nach Kaschgar. + +Unser Lager befand sich nur ein paar hundert Meter unterhalb des +Zusammenflusses des Flusses von Nagara-tschalldi und des Kisil-su. +Ohne Unfall zog unsere Karawane nach einem Rasttage am 12. August +über den Fluß, der zwar wasserreich war, sich aber doch ohne Gefahr +überschreiten ließ. Es freute mich, die Wassermenge noch groß zu +finden, denn der Kisil-su ergießt sich in den Jarkent-darja, und selbst +wenn nur ein geringer Teil des Wassers den Hauptfluß erreicht, würde +schon dieser mit dazu beitragen, unsere Fähren nach der Lop-nor-Gegend +hinab zu tragen, wohin ich mich auf diese bequeme Weise zu begeben +gedachte. + +In einer großen Talweitung liegt die viereckige Lehmfestung ++Ullug-tschat+, der äußerste Vorposten der Chinesen gegen +die russische Grenze. In +Semis-chatun+, wo ebenfalls ein +kleiner Kurgan (Festung) lag, galt es, den Fluß zum letztenmal zu +überschreiten. Doch dies ging nicht so leicht wie bisher. Er strömte +in einem einzigen Bette dahin und war dazu im Laufe des Tages so +gewachsen, daß die Wassermenge wohl 80-100 Kubikmeter in der Sekunde +betrug. Dumpf und schwer wälzte sich die trübrote Wassermasse durch das +Bett, tiefe Rinnen verbergend. + +Erst versuchte Islam Bai die Furt. Er kam ein gutes Stück vorwärts, +geriet dann aber in tiefes Wasser und nahm ein gründliches Bad, ehe +er sich nach dem anderen Ufer hinüberretten konnte. Kader, der es an +einer anderen Stelle probierte, ging es noch schlechter; er kam in +eine tückische Rinne, wo das Pferd nicht festen Fuß fassen konnte +und in schwindelnder Fahrt von dem Strome, aus dem nur noch die +Köpfe des Pferdes und des Mannes hervorguckten, fortgerissen wurde. +Glücklicherweise hatte ich selbst den Transport des Kodaks, den +sonst Kader zu tragen pflegte, übernommen. Nun bestieg einer von den +Karawanenleuten nackt ein ungesatteltes Pferd, und indem er es suchen, +tasten und ausprobieren ließ, gelang es ihm schließlich, eine gute +Furtschwelle ausfindig zu machen. Auch die anderen Leute entkleideten +sich nun und führten die Karawane in kleinen Abteilungen hinüber, +zuletzt die Pferde, welche meine Instrumente und die photographische +Ausrüstung trugen, wobei jedes Pferd einzeln geführt und von drei +nackten Reitern begleitet wurde, die bereit waren, zuzugreifen, wenn +das Pferd fallen sollte. Man empfindet natürlich große Unruhe, wenn man +die Kisten schwanken und bald rechts, bald links ins Wasser tauchen +sieht, während das Pferd gegen die unerhörte Kraft der gewaltigen +Wassermasse ankämpft, die gegen dasselbe drückt und preßt; denn die +Furt führt größtenteils aufwärts gegen die Strömung, die schäumend um +die Brust des Pferdes wirbelt. Ist der Reiter ungeübt, so wird ihm +schwindlig und es scheint ihm, als stürme das Pferd derart vorwärts, +daß das Wasser wie um den Vordersteven eines Dampfers kocht, und +unwillkürlich hält er die Zügel an, obwohl das Pferd ganz langsam +geht (Abb. 8). Auf dem linken Ufer wurden die Lasten wieder in +Ordnung gebracht und ein provisorisches Trocknen der nassen Sachen +vorgenommen. Wir lagerten in der Nähe eines kirgisischen Auls bei ++Jas-kitschik+ und konnten nun dem Kisil-su, der von hier an +südlich von unserer Straße fließt, ohne allzu großes Bedauern Lebewohl +sagen. + +Es war ein schöner, kühler Abend; in der stillen Nacht ertönte aus der +Ferne gedämpftes Glockenklingen von der großen Kamelkarawane herüber. +Es erweckt bei unseren Hunden einen Sturm der Entrüstung, aber es +klingt herrlich und imposant und markiert den majestätischen, ruhigen +Gang der Kamele. Immer heller ertönen die Glocken, immer deutlicher +hören wir die Rufe und den Gesang der Karawanenleute. Sie ziehen +im Dunkel der Nacht mit Lärm und Stimmengewirr an uns vorbei; dann +erstirbt das Geräusch wieder langsam in den Bergen. + +[Illustration: 5. Meine Kamelkarawane. (S. 10.)] + +[Illustration: + + Kader Ahun. Islam Bai. Musa. + +6. Rast in der Oase Nagara-tschalldi. (S. 15.)] + +[Illustration: 7. Oase Nagara-tschalldi. (S. 15.)] + +Die letzten Tagereisen nach Kaschgar führen durch eine recht einförmige +Landschaft; die Berge nehmen an Höhe ab, bis ihre äußersten Vorposten +sich in der Ebene verlieren. Am 13. August überschritten wir den +Mäschrabdavan, auf dessen Höhe sich eine kleine Festung und +drei mit Lappen behängte Masare (Heiligengräber) erheben. Ehe wir ++Kandschugan+ erreichten, überfiel uns ein so heftiger Platzregen, +daß wir Halt machen und so schnell wie möglich die Zelte aufschlagen +mußten. Es nützte uns jedoch nichts, denn sowohl wir wie die Sachen +wurden gründlich durchnäßt; es klatschte unter den Stiefeln in dem +Lehmboden, und als ich endlich ins Zelt kam, wo die triefenden Kisten +durcheinander standen, fühlte ich bei der Kälte eine große Unlust, und +der Pelz war gar nicht überflüssig; 12,6 Grad um 5½ Uhr nachmittags +ist hier in dieser Jahreszeit etwas ganz Abnormes. + +Am 15. ritten wir bis an das Dorf +Min-joll+, und am 16. +traten wir die letzte Tagereise bis +Kaschgar+ an. Beim Dorfe ++Kalta+ kamen mir der Generalkonsul Petrowskij und einige andere +in Kaschgar wohnende Russen, von einer Kosakeneskorte geleitet, +entgegen. + + + + +Zweites Kapitel. + +Vorbereitungen zur Wüstenfahrt. + + +In +Kaschgar+ blieb ich vom 17. August bis zum 5. September, um +die Karawane, die mich durch die Wüsten des innersten Asiens begleiten +sollte, endgültig auszurüsten. Ich brauche nicht zu erwähnen, daß mein +alter vortrefflicher Freund Generalkonsul Petrowskij (Abb. 9) mir auch +diesmal in jeder Weise behilflich war. Er stellte mir seine reiche +Erfahrung und seinen in Ostturkestan beinahe allmächtigen Einfluß +vollständig zur Verfügung, und ohne seinen Beistand wäre vieles kaum +ausführbar gewesen. + +Die erste Angelegenheit, die wir in Angriff nahmen, war die +Einwechslung meiner Reisekasse (11500 Rubel) in chinesisches +Silbergeld. Eine Jamba galt damals in den Basaren Kaschgars 71 Rubel, +aber der Markt ist so wenig umfangreich, daß ein Einkauf von 161 Jamben +sich so fühlbar machte, daß der Wert einer Jamba in ein paar Tagen auf +72 Rubel stieg. Eine Jamba hat 50 Sär zu 16 Tenge, von denen jeder +in 50 Pul zerfällt. Ein Sär entspricht 37 Gramm Silber und hat einen +Wert von 3,09 Mark; es zerfällt auch in 10 Miskal von je 10 Pung zu +10 Li. Der Kurs unterliegt großen Schwankungen, und die Jamba wiegt +selten genau 50 Sär, und da man auf chinesisches Geld angewiesen ist, +muß man stets eine chinesische Wage zur Hand haben. In Ostturkestan +sind kürzlich runde Silbermünzen von höchstens 8 Tenge Wert eingeführt +worden, die neben den gewöhnlichen chinesischen Silberklümpchen -- +einer sehr unbequemen Geldsorte -- im Lande gangbar sind. Ein alter +geriebener Makler, Isa Hadschi, besorgte die Umwechslung und schaffte +das Silbergeld an, und als die ganze Transaktion fertig war, stellte es +sich heraus, daß es ihm gelungen war, uns nur um 36 Rubel zu bemogeln. +Für mich war es aber doch ein außerordentlich gutes Geschäft, denn der +Wert der Jamba stieg bald darauf schnell. Sich mit einer Reisekasse, +die 300 Kilogramm wiegt, zu schleppen, ist gerade nicht angenehm, aber +es bleibt einem keine Wahl. Die Jambastücke wurden auf die Kisten, die +nicht täglich geöffnet zu werden brauchten, verteilt, und so konnte man +doch wenigstens sicher sein, daß nicht alles Geld auf einmal gestohlen +werden würde. Der Betrag reichte jedoch kaum für die halbe Reise aus, +und ich mußte nachher mehr Silbergeld beschaffen. + +Die andere Angelegenheit, die Islam Bai besorgte, waren verschiedene +Einkäufe für die Ausrüstung und den Proviant. Auch eine Menge Chalate, +Zeugstoffe, Tücher und Mützen wurden angeschafft, die zu Geschenken an +die Eingeborenen bestimmt waren. Islam kaufte auch 14 außergewöhnlich +schöne und große Kamele und ein Dromedar. Mit Ausnahme von zweien, die +alle Strapazen überstanden, waren die Tiere dem Untergange geweiht, +aber die Dienste, die sie mir treu und geduldig geleistet, waren +hundertmal den Preis wert, den sie gekostet. Führer der Kamelkarawane +wurde +Nias Hadschi+, der sich trotz seiner Wallfahrt zum Grabe +des Propheten als ein Erzschelm erwies. Unter den übrigen Dienern, +die vorläufig angestellt wurden, will ich besonders +Turdu Bai+ +aus Osch nennen, einen alten Weißbart, der es an Ausdauer mit jedem +der jüngeren Leute aufnehmen konnte und an Treue und Tüchtigkeit alle +die anderen Mohammedaner, Islam inbegriffen, übertraf; er war der +einzige, der die ganze Reise mitmachte. +Faisullah+, ebenfalls ein +russischer Untertan, gab Turdu Bai in den genannten guten Eigenschaften +nur wenig nach, konnte mich aber nur anderthalb Jahre begleiten. +Beide waren Spezialisten in der Behandlung der Kamele und gehörten +daher später immer zum „Stabe“ der Kamelkarawanen. Ein Kaschgarjunge, ++Kader+, wurde mitgenommen, weil er der arabischen Schrift kundig +war. + +Für die nächste Zukunft wurde der Reiseplan so bestimmt, daß die ganze +Karawane nach +Lailik+ am Jarkent-darja ziehen sollte. Dort +mußte eine Teilung stattfinden. Ich selbst wollte mich mit einigen +der Leute und einem kleinen Teile des Gepäcks von der Strömung den ++Jarkent-darja+ oder +Tarim+ hinabtragen lassen, während +die Hauptmasse der Karawane auf der großen Straße über Maral-baschi, +Aksu und Korla ziehen sollte, um mit mir irgendwo im Lop-nor-Gebiete +zusammenzutreffen, wo sich nach Verabredung auch die beiden +burjatischen Kosaken Ende Dezember einfinden sollten. Petrowskij hielt +es für gewagt, die ganze große Karawane und die bedeutende Silbermenge +ohne Bedeckung durch ganz Ostturkestan zu schicken, und stellte +mir aus dem Konsulatskonvoi die zwei semirjetschenskischen Kosaken ++Sirkin+ und +Tschernoff+ (Abb. 10) bis zum Zusammentreffen +mit den burjatischen Kosaken zur Verfügung, welches Anerbieten ich +dankbarst annahm. Während der folgenden Jahre gaben mir diese beiden +Männer täglich Beweise von einer Treue und Tüchtigkeit, die alle +Diener, die ich je gehabt, in den Schatten stellte. + +Mit dem Konsul traf ich noch das Übereinkommen, daß meine im Herbst +und Winter in Kaschgar eintreffende Post viermal von Dschigiten nach +der Lop-nor-Gegend zu bringen sei, wo es von ihrer eigenen Klugheit +abhängen würde, mich aufzufinden. Der Kurier sollte seinen Lohn erst +dann von mir erhalten, nachdem er die Post abgeliefert und seinen +Auftrag redlich ausgeführt hatte. Der Plan mißlang nie, und man kann +sich denken, wie angenehm es für mich war, auf diese Weise mit den +Meinen und der Außenwelt, wenn auch selten, in Verbindung zu stehen. + +So verflossen die Tage unter allerlei Arbeit, die durch Besuche und +Einladungen zum Mittagessen unterbrochen wurde. Ziemlich oft war +ich bei meinem alten Freunde, dem englischen politischen Agenten ++Macartney+, zu Gaste, dessen früher einsames Heim jetzt von +einer jungen Gattin verschönt wurde. Es freute mich, den alten +Eremiten +Pater Hendriks+, sowie Herrn und Frau +Högberg+ +wiederzusehen, die zur schwedischen Missionsstation zwei neue +Mitglieder zugezogen hatten. +Chan Dao Tai+ und +Tsen Daloi+ +gehörten zu meinen alten Bekannten, aber +Tso Daloi+ war eine neue +Erscheinung; er versah uns mit zwei Durgas, die dafür zu sorgen hatten, +daß die Dorfbevölkerung der Karawane alles lieferte, was sie brauchte, +natürlich gegen angemessene Vergütung. Auch einen „Kunstgenuß“ hatte +ich, da auf dem Markte ein asiatischer „Blondin“ vor dem massenhaft +herbeigeströmten Publikum seine Künste auf dem Seile zeigte (Abb. 11). + +Ich war nicht der einzige Reisende, der sich in diesen Tagen in +Chinas westlichster Stadt befand; am 21. August langte nämlich Oberst ++McSwiney+ dort an, in dessen Gesellschaft ich im Jahre 1895 bei +der Pamirgrenzkommission so manchen frohen Tag verlebt hatte. Am Tage +darauf trafen zwei französische Reisende ein, Herr +St. Yves+ +und ein junger Leutnant, die nach einigen Tagen über Pamir wieder +heimkehrten. + +Als alle Einkäufe besorgt waren, wurden die Lasten noch einmal +geordnet, abgewogen und dann an einer Art Holzleitern befestigt, deren +Oberenden paarweise aneinander gebunden waren, so daß sie leicht auf +das liegende Kamel gehoben und ihm wieder abgenommen werden konnten. + +Nachdem ich von meinen Freunden in Kaschgar Abschied genommen, +brach ich am 5. September gegen 2 Uhr nachmittags auf (Abb. 12). +Jetzt begann die eigentliche Reise und die große, lange Einsamkeit. +Noch eine Umarmung, ein letztes Lebewohl, dann ziehen wir bei +dem dumpfen, bedeutungsvollen Klange der Glocken, die gleich dem +Ticken des Sekundenpendels den Gang der Zeit und die uns dem Ziele +zuführenden Schritte angeben, an der westlichen Stadtmauer entlang nach ++Kum-därwase+, wo ich von den Europäern Abschied nahm. Wir hatten +gerade die Brücke erreicht, unter der sich das in Farbe und Dicke an +eine Hagebuttensuppe erinnernde Wasser des Kisil-su hinwälzte, als der +Himmel sich im Nordwesten verdunkelte und schwere, dichte Regenvorhänge +sich von den Bergen an ausbreiteten; der Tag war heiß und schwül +gewesen und hatte nichts Gutes verkündet. Da kamen die ersten heftigen +Windstöße, und zugleich begann ein Platzregen von ungeheurer Gewalt. +Auf dem sonst lebhaften Wege sah man nur ab und zu einen Wanderer, weil +die Menschen schleunigst in den nächsten Gehöften und Serais Schutz +gesucht hatten. Diese waren jedoch für unsere große Karawane zu klein, +und es blieb uns also keine andere Wahl, als unseren Weg fortzusetzen. +Das Unwetter hielt mit unverminderter Kraft anderthalb Stunden an; +ein Blitz nach dem anderen durchzuckte den Himmel in grellem Zickzack +von blendendem blauweißem Feuer, und die Donnerschläge krachten mit +entsetzlichem Gepolter, stärker als ich es je zuvor gehört. Die Kamele +und Pferde nahmen jedoch die Sache ruhig auf, und langsam schritten wir +nach Süden zwischen den Weiden hin und trösteten uns damit, daß wir +nicht nasser werden konnten, als wir schon waren. + +War der Regen unangenehm gewesen, so waren seine Folgen noch schlimmer. +Lange Strecken weit lag der Weg unter Wasser, und der lehmhaltige Boden +von feinem Staube war so glatt, daß es den Kamelen mit ihren flachen, +weichen Fußschwielen schwer wurde, sich auf den Beinen zu halten; sie +glitten aus, stolperten, glitschten, und immer wieder wurde der Marsch +dadurch aufgehalten, daß ein Kamel gefallen war. Oft fallen sie so +nachdrücklich, daß sie alle viere von sich strecken, als hätte ihnen +ein unsichtbarer Riese ein Bein gestellt, und dabei poltert die schwere +Bürde zu Boden, daß der Schlamm hoch aufspritzt. Von allen Seiten hört +man schreien und rufen, die Karawane macht Halt, die Männer eilen +herbei, um das Kamel wieder aufzurichten oder es erst von der Last +zu befreien und dann wieder zu beladen; die Folge davon ist, daß wir +in dem heimtückischen Schlamme wie die Schnecken vorwärtskommen. Am +schlimmsten ist es da, wo der Weg uneben ist oder kleine Hügel bildet; +dort müssen mit Spaten Tritte in die Erde gegraben werden. + +Die erste Tagereise von Kaschgar, die eigentlich eine Kleinigkeit +hätte sein müssen, war also durchaus nicht leicht. Nie hatte ich diese +Stadt unter ungünstigeren Umständen verlassen. Es war, als hätte eine +höhere Macht unseren Aufbruch den unbekannten Gefahren entgegen mit +himmlischen donnernden Kanonenschüssen salutieren und uns mit einem +überwältigenden Knalleffekt daran erinnern wollen, daß man nicht +ungestraft unter Ostturkestans Pappeln wandelt. Für die Zukunft aber +sollte ich einen wirklichen Platzregen so bald nicht wiedersehen -- als +er das nächste Mal eintrat, war es in der Nähe von Lhasa, nach zwei +Jahren! + +Inzwischen wurde es dunkel, und in den Basargäßchen waren die +Papierlaternen schon angezündet. Gleich hinter der chinesischen Stadt +war die Straße beinahe eine Stunde weit vollständig überschwemmt, +und wie in einem seichten Flußbette plätscherten wir zwischen Gärten, +Feldern und Lehmmauern dahin. Die Alleen waren nur als schwarze +Schattenrisse zu erkennen, aber der Regen hatte aufgehört, der Weg +war jetzt besser, und die Kamele konnten festen Fuß fassen. Es war +jedoch schon spät, als wir in unserem provisorischen Lager im Dorfe ++Musulman-natschuk+ zur Ruhe kamen, nachdem wir des Silbergeldes +halber bei dem Gepäck Nachtwachen aufgestellt hatten. + +Den Weg nach Lailik kannte ich zum größeren Teile von 1895 her und will +ihn daher nur sehr kurz beschreiben. Der Tagemarsch am 6. September +führte uns durch eine ziemlich spärlich bewohnte, aber recht gut +angebaute Gegend. Von +Chan-arik+ an war der Weg durch eine üppige +Allee von Maulbeerbäumen, Weiden und Pappeln begrenzt, die dichten, +tiefen Schatten spendeten. Die Pappeln werden geköpft, um nicht in die +Höhe zu wachsen, und bilden am oberen Teile des Stammes ein massiges +Bündel aufwärtsstrebender Zweige. Auf weite Strecken hin vermag kein +Sonnenstrahl durch das dichte Grün zu dringen, unter dessen kühlem +Gewölbe es sich außerordentlich angenehm reitet. Der Weg glich an +solchen Stellen einem Tunnel, durch welchen die Kamele, an einen Zug +von lauter Güterwagen erinnernd, mit ruhigem, gleichmäßigem Gange +hinschreiten und sich von dem grünen Hintergrund malerisch abheben. Es +liegt etwas Feierliches über dem Marsche einer solchen Karawane dem +Tode entgegen, der die meisten Kamele mit Gewißheit irgendwo in den +Wüsten des fernen Ostens oder in den Berggegenden Tibets erwartet. +Die Glocken läuten ihre abgemessene melancholische Melodie, welche +unwillkürlich an eine Beerdigung erinnert; doch mit philosophischem +Blick und ruhiger Haltung messen die prächtigen Tiere den Weg mit +langen, langsamen Schritten unter ihren im Verhältnis zu ihren Kräften +nicht schweren Lasten. Die Silberkamele tragen die schwersten Lasten, +besonders ein Matador, dem allein 40 Jamben zuerteilt worden sind. Die +Lasten sind ausgeglichen, und Unterbrechungen des Marsches kommen nicht +mehr vor; nur hin und wieder muß, ohne daß das Kamel deshalb stehen +zu bleiben braucht, eine Leiter etwas nach der einen oder anderen +Seite hinübergerückt werden. Die Kamele haben starken Appetit und +brandschatzen Weiden und Pappeln im Vorbeigehen, oft auf Kosten des +Nasenstrickes. Wenn dieser zu hart angespannt wird, reißt er in der +Mitte an seinem schwachen Punkte, wo seine beiden Hälften mit einer +dünneren Schnur zusammengebunden sind, welch letztere reißt, ehe die +Nase des Tieres hat Schaden nehmen können. + +Jeder Mann unserer Gesellschaft hat seinen bestimmten Platz im Zuge +und seine bestimmte Aufgabe bei der Aufrechterhaltung der Ordnung. +Voran reiten die beiden Durgas aus Kaschgar, dann kommt Faisullah auf +dem ersten Kamele, an dessen Seite Nias Hadschi ein Pferd reitet; auf +dem sechsten Kamele hockt der junge Kader, und hinter dem siebenten +reitet Islam. Die zweite Abteilung wird von Turdu Bai geführt, in +ihrem „Kielwasser“ reitet Musa. Die Kosaken decken die Flanken; ich +reite gewöhnlich hinterdrein. So geht es vorwärts durch Gärten und +Dörfer, zwischen Mais- und Weizenfeldern hindurch, über Kanäle mit +oder ohne Brücken (Abb. 13), über öde Steppen und kleine Sandfelder, +wo vereinzelte, gleichsam verirrte Dünenindividuen von ungefähr 3 +Meter Höhe ihre steilen Abhänge nach Osten kehren (Abb. 14). Im Dorfe ++Jupoga+, unserer nächsten Raststelle, suchte man in mehreren +Bassins das kostbare Wasser des großen Kanals Chan-arik aufzufangen. + +Am 8. September erhielten die Tiere ihren ersten Ruhetag; ihre +Packsättel waren seit Kaschgar nicht abgenommen worden, und man muß +genau nachsehen, damit auf dem Rücken oder an den Seiten der Höcker, wo +der mit Stroh gestopfte Sattel oder ein Teil der Last dicht anliegen +und drücken kann, keine Scheuerwunden entstehen. + +Nach einer ganz sternenklaren Nacht erscheint die Morgenluft beinahe +kalt; die Minimaltemperaturen sind in beständigem Fallen begriffen, +aber die Tageswärme steigt allmählich, je mehr wir uns von den gut +bewässerten Vegetationsgebieten und den Bergen entfernen. Unterwegs +hatten die Dorfbewohner mehrmals Dastarchane aufgetischt in Gestalt +von Zucker- und Wassermelonen, in der Hoffnung auf ein anständiges +Trinkgeld, eine Artigkeit, die auf die Dauer recht lästig wird. + +Das Dorf ist bald zu Ende; dann folgt die hügelige Steppe, wo wir +zahlreichen Landleuten begegnen, die den Ertrag ihrer Äcker und +Gärten auf Eseln, Kühen und Pferden nach dem Markte in Jupoga +bringen. Dann und wann wird die Steppe von einer unfruchtbaren +Dünenreihe durchkreuzt; dazwischen sieht man Schafherden, Mais- und +Baumwollfelder, trockene, jämmerliche Kanäle, die nur selten von der +letzten Flut aus dem Chan-arik noch am Boden feucht sind. Rechts vom +Wege zieht sich ein Gürtel hübsch blühender Tamarisken hin, eine +wehmütige Erinnerung an das Heidekraut unserer Wälder. Die staubige +Landstraße geht allmählich in einen Pfad über und zeigt damit an, daß +der Verkehr nach Osten hin abnimmt. Am Rande von +Terem+ finden +wir wieder den langen Bewässerungskanal Chan-arik mit 4 Meter breitem, +gänzlich trockenem Sandboden und kleinen Brücken, die verraten, daß +hier von Zeit zu Zeit auch Wasser fließt. Um den langen Wüstenmarsch +des nächsten Tages, den ich schon von früher her kannte, abzukürzen, +ritten wir durch das ganze Dorf und lagerten uns bei dem letzten nach +der Wüste zu liegenden Gehöfte. + +Am 10. September machte ich, für eine Zeit von mehreren Monaten, die +letzte Reise zu Lande. Die Temperatur fiel während der Nacht auf 8,3 +Grad, was einem nach einem Tage von über 30 Grad im Schatten grimmig +kalt vorkommt. Als ich aufstand, war der größere Teil der Karawane +schon marschfertig. Der Tag war heiß, der Marsch lang und ermüdend, +und die Wassermelonen, die wir mitgenommen hatten, fanden reißenden +Absatz. Steppen- und Wüstengürtel wechseln ab, die Dünen sind bald +schwach mit Tamarisken bewachsen, bald völlig nackt; die ersteren +heißen „Kara-kum“, die letzteren „Ak-kum“, was schwarzer und weißer +Sand bedeutet (Abb. 15). Die Nachbarschaft des Flusses macht sich +schließlich bemerkbar, indem kleine Gruppen von Pappeln (Tograk) +auftreten und nach und nach immer frischer und laubreicher werden, je +mehr wir uns der großen Wasserstraße nähern. + +Bei der Poststation +Lenger+ wurden wir von einigen neugierigen +Chinesen begafft und in der Dämmerung erreichten wir die breite +mächtige Flut des Jarkent-darja. Der Fluß war hier in Arme geteilt, +von denen der linke, an dessen Ufer wir hinzogen, viel zu seicht war. +Wir zogen daher noch eine Weile in der Dunkelheit nach Norden weiter; +von den Tritten der Kamele knisterte und krachte es in den trockenen +Zweigen des Unterholzes und des Gesträuches. Das Terrain wurde jedoch +nicht besser, und als sich das silberne Horn des Mondes im Walde +versteckte, machten wir aufs Geratewohl Halt und schlugen, ziemlich +müde von der dreizehnstündigen Reise, am Ufer unser Lager auf. + +Endlich hatten wir den Fluß erreicht. Nun begann eine neue Abteilung +der Reise und dazu eine Reisemethode, die ich bisher noch nicht erprobt +hatte. + +[Illustration: 8. Durch die Furt des Kisil-su. (S. 16.)] + +[Illustration: 9. Nikolai Fedorowitsch Petrowskij, + +Wirklicher Staatsrat, kaiserlich russischer Generalkonsul in Kaschgar. +(S. 18.)] + +[Illustration: 10. Die beiden Kosaken Sirkin und Tschernoff. (S. 19.)] + + + + +Drittes Kapitel. + +Die Schiffswerft in Lailik. + + +Jetzt folgte eine knappe Woche für die Vorbereitungen zu der langen +Flußreise. Islam hatte in Merket eine längere Unterhandlung mit Beks +und Kemitschi (Fährleuten). Ich hatte gefürchtet, daß die Chinesen +Mißtrauen gegen mein Vorhaben hegen würden und daß die Erfahrungen +der Wüstenreise des Jahres 1895, deren Ausgangspunkt Merket ebenfalls +gewesen, die Dorfbewohner abschrecken würden, uns beim Aufbrechen +zu helfen. Denn damals war der Bek zum Dao Tai gerufen, verhört +und getadelt worden, weil er mir nicht einen zuverlässigen Führer +mitgegeben. Nun aber hatte Merket einen neuen Bek erhalten, dem der Dao +Tai Befehl erteilt hatte, uns weiterzuhelfen und uns wie vornehme Leute +zu behandeln. Islam kehrte denn auch bald mit dem Bescheid zurück, daß +ein Fährmann uns sein Fahrzeug für 1½ Jamba zu verkaufen bereit sei. + +Mit dem Kosaken Sirkin unternahm ich eine Probefahrt in dem englischen +Segeltuchboote auf dem kleinen, abgeschnürten Flußarme, an dessen +Ufer unser Lager aufgeschlagen war. Auch von Mast und Segel machten +wir Gebrauch. Bei der schwachen Brise kam die vortreffliche kleine +Jolle gut vorwärts; sie schien ein ziemlich sicheres Boot zu sein. +Bei einem kleinen Nebenarme führten wir das Boot nach dem Hauptflusse +hinaus, wo es ruhig und elegant, aber ziemlich schnell dahinglitt. Nur +unbedeutende, langsam tanzende Wasserringel waren auf der Oberfläche +des Flusses zu sehen und von Stromschnellen war nichts zu hören. Es war +ein Genuß, sich so forttragen zu lassen, ein Vorgefühl des Behagens, +womit die Flußfahrt später auf Hunderte von Meilen hin verknüpft sein +sollte. Die Vereinigungsstelle des Seitenarms mit dem Hauptflusse +schien noch fern zu sein, und wir hielten es für an der Zeit +umzukehren. So schleppten wir denn das Boot in dem weichen, zähen Lehm +bis an unseren Seitenarm. Doch auch in diesem herrschte eine Strömung, +die kräftig genug war, um das Flußaufwärtsrudern zu schwer zu machen. +Sirkin ging daher an Land und holte einen Mann und zwei Pferde. Mitten +im Wasser reitend, zog er das Boot an einem Stricke nach. Manchmal +blieb das Pferd in dem zähen Lehme beinahe stecken, und die Tiefe war +stellenweise bedenklich groß. Einmal erreichte das Pferd den Grund +nicht mehr; es wurde von der Strömung fortgerissen und war nahe daran +sich zu überschlagen; der Reiter sprang ab und schwamm auf das Boot +zu, das ich ihm entgegensteuerte. Doch ihm erschwerte die Kleidung +die Bewegungen, und gerade als er nach dem Ruder griff, das ich ihm +hinhielt, versank er ganz im Wasser. Endlich gewann er jedoch Halt am +Bootrande und hätte die kleine Jolle beinahe umgerissen, als er sich +hineinschwang. Alles ging so schnell vor sich, daß ich kaum dazu kam, +mich zu beunruhigen. Doch was hätte es für ein Unglück geben können, +wenn mein Kosak einen Starrkrampf bekommen hätte oder des Schwimmens +unkundig gewesen wäre! Am Ufer war das Pferd, das seinen eigenen Weg +geschwommen war, nahe daran, in dem zähen Schlamme umzukommen, aber es +arbeitete sich ebenfalls wieder heraus. Sirkin war nach dem Bade ganz +matt und angegriffen, aber seine kleine Schwimmtour hatte so einladend +ausgesehen, daß ich mich entkleidete und ein erfrischendes Bad nahm. + +Unser Versuch, wieder nach dem Lager zu kommen, war also gescheitert; +glücklicherweise waren aber einige unserer Leute am Ufer flußabwärts +gegangen, um uns zu suchen. Sie mußten uns vom Ufer aus an einer +langen Leine ziehen, während ich das Boot mit dem einen Ruder in der +Stromrinne hielt. + +Das Lager bot bei unserer Ankunft ein lebhaftes Bild dar. Die Zelte +waren von einer ganzen Volksversammlung von Besuchern umgeben (Abb. +16). Ich fand dort viele alte Freunde von 1895 wieder, Lailiks +On-baschi (Bezirkshauptmann, eigentlich Chef von 10 Mann) und +Örtängtschis (Gastwirte), verschiedene Bewohner von Merket und Frauen +in langen Hemden von dünnem, rotem Zeuge mit ihren Kindern auf dem Arme. + +Nachdem die Unterhaltung sich eine gute Weile um jene unglückliche +Wüstenreise gedreht, wurden die Flußreise und die Fährfrage Gegenstand +einer Diskussion. Um die Sache abmachen zu können, ritt ich mit einem +großen Gefolge nach der Fährstelle zwischen Lailik und Merket, wo +die von Islam vorgeschlagene Fähre lag. Ich fand sie vorzüglich, von +kernfesten, ungehobelten Planken, die von mächtigen eisernen Krampen +zusammengehalten wurden, neu erbaut und ganz dicht. Sie kam mir nur +ein bißchen groß und schwer vor, was hier oben gewiß vorteilhaft +ist. Doch wer konnte wissen, ob der Fluß überall gleich tief und +wasserreich wäre, und viel wahrscheinlicher war es, daß es schwierig +sein könnte, diesen schweren Koloß wieder flott zu machen, wenn er +mit Unterwasserbänken in allzu innige Berührung gekommen wäre. Die +Frage wurde mit den Lailiker Fährleuten von allen Gesichtspunkten aus +erörtert; die meisten rieten uns, das „Schiff“ zu nehmen, wie es war. + +Der Beschluß, der gefaßt und schon am folgenden Morgen ins Werk gesetzt +wurde, bestand darin, das Schiff nach einem Punkte am rechten Ufer, +unserem Lager gerade gegenüber, zu bringen (Abb. 17). Wir mußten +eine Schiffswerft anlegen, wo eine Ausrüstung und Rekonstruktion mit +wirklichem Vorteil stattfinden konnte. Bei unserem Lager auf dem linken +Ufer ließ sich dies nicht machen, denn dort floß nur ein Seitenarm, +der vom Hauptflusse durch eine tiefliegende, feuchte Schlammzunge, +hinter der das Wasser zunächst seicht war, getrennt war. Auch das +rechte Ufer war insofern ungeeignet, als es infolge der Erosion des +Flusses eine anderthalb Meter hohe steil abgeschnittene Wand bildete. +Häkim Bek aus Merket bot neunzig Landleute auf, die mit ihren Spaten +einen nicht allzusteilen Abhang herstellten, auf den Bretter gelegt +wurden; auf dieser Unterlage wurde die Fähre unter Gesang und Geschrei +mit vereinten Kräften aufs Trockene gezogen. Der Bek, dessen Adern +reicher an chinesischem als an muhammedanischem Blute waren, stand +die ganze Zeit über mitten auf der Fähre; sie wurde dadurch gerade +nicht leichter, aber er imponierte durch seine hohe Gegenwart, hielt +eine lange Rute in der Hand, klatschte und schlug nach allen Seiten +und kommandierte wie ein Zirkusdirektor. Die Kinder des Wüstenrandes +verdoppelten ihre Kräfte, und der schwere Prahm wurde ruckweise auf +ebenen Boden gezogen, wo er zwischen den Hagedornbüschen auf einigen +Querbalken ruhte. + +Als wir soweit gekommen waren, überlegten wir eine Weile, denn jetzt +sollte der Beschluß gefaßt werden, der für den Ausgang der ganzen Reise +wichtig sein konnte. Ein Mann erzählte nämlich, daß der größere Teil +der an Lailik vorüberströmenden Wassermasse sich in einem breiten, +seichten Arme in die kleinen Seen von Maral-baschi ergieße, deren +Wasser durch Kanäle auf die Felder dieser Oase geleitet werden. Das +eigentliche Bett des Jarkent-darja dagegen habe einen östlicheren Lauf +nach Tschahrbag zu und sollte nur wenig Wasser in einem schmalen Bette +mit großem Gefälle haben. Infolge dieser Aufklärungen wurde für den +Anfang beschlossen, die oberste Planke an den beiden Längsseiten und +die entsprechenden Teile vorn und hinten zu entfernen, wo dann mittelst +der eisernen Zapfen neue Querhölzer festgemacht werden sollten. Für den +Fall, daß wir infolge zu geringer Wassermenge die große Fähre würden im +Stiche lassen müssen, wurde eine kleine Reservefähre gebaut. Zu dieser +wollten wir im Notfalle unsere Zuflucht nehmen, damit wir die Flußreise +nach dem Lop-nor, die ich um jeden Preis ausführen wollte, nicht +abzubrechen brauchten. + +Um jeden Augenblick vom Lager nach der Werft hinüberkommen zu können, +mieteten wir eine der Fähren, die die Verbindung zwischen den Ufern +auf dem Wege von Lailik nach Merket aufrechthalten. Ich befand mich +meistens bei der Werft, um die Arbeit zu überwachen und die Fähre so +zu bekommen, wie ich sie wünschte, bequem und gemütlich, wie mein +schwimmendes Heim für lange Monate sein mußte. + +Die Werft entwickelte sich allmählich zu einer Werkstatt, wo frisch +gearbeitet wurde (Abb. 19). Schreiner aus Merket und sachverständige +Leute aus Jarkent versammelten sich hier mit ihren Werkzeugen und +verdienten so gut wie kaum je zuvor. Eine Schmiede mit einer kleinen, +aus Ziegelsteinen aufgemauerten Esse und einem Blasebalge wurde +zwischen den Büschen angelegt, und die Funken sprühten von den eisernen +Krampen, die gerade gehämmert wurden. Der Bek war allgegenwärtig und +führte mit milder Hand das Regiment über die, welche an der Arche +zimmerten. + +Aus dünnen Planken von trockenem, starkem Pappelholz sollte das +Vorderdeck der Fähre gebaut werden, eine Plattform, auf der mein Zelt +aufgeschlagen werden sollte und von deren vorderem Teile aus ich einen +freien Ausblick auf den Fluß haben würde. + +Hinter dem Vorderdeck wurde aus Stangen und Zweigen das Gerippe einer +würfelförmigen Kajüte erbaut, die ich anfänglich zum Schlafzimmer für +mich bestimmte; sie mußte in den kalten Herbstnächten leichter warm zu +halten sein als das Zelt (Abb. 18). Sie erhielt jedoch schon während +des Ganges der Arbeit eine ganz andere Aufgabe zu erfüllen, indem sie +als photographische Dunkelkammer eingerichtet wurde. Drei kleine, mit +Scheiben versehene längliche Fensterrahmen wurden in die Wände der +Kajüte eingesetzt. In den einen Rahmen, mitten in der Wand, die an das +Zelt grenzte, kamen dunkelrote Glasscheiben. Wenn ich nachts an diesem +Fenster mit Entwickeln beschäftigt war, wurde draußen ein Stearinlicht +davor, d. h. in das Zelt hinein, gestellt; vor Zug und Wind wurde die +Flamme teils durch das Zelttuch, teils mittelst einer Holzkiste, die es +wie ein Schilderhaus umgab, geschützt. + +Die beiden anderen Fenster mit weißem Glase wurden an der Außenwand +und an der Hinterwand angebracht; wenn man aufrecht stand, hatte man +bei Tag durch sie die Aussicht auf den Fluß und das rechte Ufer; sie +waren aber so eingerichtet, daß sie beim Entwickeln vollständig bedeckt +werden konnten. An der Hinterwand lief eine niedrige Bank entlang, auf +der vier ziemlich große, eigens zu photographischen Zwecken gekaufte +Zuber mit reinem Wasser standen. Was das Waschen der Platten anbetraf, +so wurde folgende praktische Einrichtung getroffen. Auf der vorderen +Backbordecke des Kajütendaches wurde auf eine verstärkte Plattform ein +Bottich gestellt, von dessen Boden ein Gummischlauch in die Kajüte +hinabführte und in einen Samowar mündete, unter dessen Hahn ich die +Platten bequem abspülen konnte. Wenn der Samowar gefüllt war, wurde +der Zufluß mittelst einer Klemme am Schlauche abgesperrt, und wenn der +Bottich leer wurde, brauchte ich nur der Wache zuzurufen, ihn wieder +zu füllen. Das Flußwasser, das stets trübgrau von Schlamm und Staub +ist, war natürlich für photographische Zwecke unbrauchbar, doch ganz +kristallklares Wasser zu finden, war keine Kunst; es gab solches längs +des ganzen Weges flußabwärts in kleinen, abgeschnürten Uferlagunen. +Dagegen konnte das gebrauchte Waschwasser nicht entfernt werden; es +überschwemmte nach meinen Arbeitsnächten den Boden der Fähre und machte +am nächsten Morgen ein Ausschöpfen notwendig. Mich selbst belästigte +der feuchte Boden der Kajüte gar nicht, denn ich hielt mich meistens +im Zelte auf, dessen Fußboden einen Meter über dem Boden der Fähre +schwebte. + +Als das Holzgerippe der Kajüte fertig war, wurde es mit einer doppelten +Schicht von schwarzen Filzmatten, die festgenagelt wurden, bekleidet; +auch die Türöffnung konnte mit an ihrem oberen Teile befestigten +Filzvorhängen verdeckt werden. Noch in der Mitte des September war die +Hitze in der schwarzen Kajüte bei Tag unerträglich; es dauerte aber +nicht lange, bis der Herbst dafür sorgte, daß dieser Unannehmlichkeit +abgeholfen wurde. Bei Tage hatte ich dort selten zu tun, es sei denn, +um zum Trocknen aufgestellte Platten zu überwachen oder Instrumente und +andere im Laboratorium verwahrte Sachen zu holen. + +In der Mitte des Schiffes, hinter der Kajüte, wurden etwas Proviant, +ein paar Sättel und die Sachen der Leute aufgestapelt; für meine +Diener war reichlich Platz im Achter der Fähre, wo eine kleine, runde +Herdplatte von Lehm aufgemauert wurde, die Küche. Da es im Spätherbst +und noch mehr im Anfang des Winters sehr kalt wurde, zündeten die +Männer dort ordentliche Scheiterhaufen an. + +So kleideten sich denn nach und nach meine Pläne in die Gestalt der +Wirklichkeit, und schneller, als ich es zu hoffen gewagt, lag das +stolze Drachenschiff fertig auf seinem Bette und sehnte sich, in sein +Element zurückkehren zu dürfen. Während seiner Instandsetzung waren +wir auf anderen Gebieten auch nicht untätig gewesen. In der Schmiede +schmiedete Sirkin ein Paar fester Anker oder richtiger Dregganker mit +sechs Armen, die uns später oft von großem Nutzen waren; namentlich +war der kleinere Anker, der für die englische Jolle bestimmt war, +jedesmal nötig, wenn die Geschwindigkeit des Wassers mitten im Flusse +gemessen wurde und das Boot also still liegen mußte. Die kleinere +Fähre wurde auch bald fertig. Ziemlich beunruhigend war es, zu sehen, +wie der Wasserstand mit jedem Tage, der dahinging, ein paar Finger +breit fiel; wir beeilten uns aber desto mehr und hofften, daß, wenn es +uns nur gelänge, glücklich an den schmalen Stellen bei Maral-baschi +vorbeizukommen, wir auch bis ans Ende des Flusses gelangen würden. + +Während der letzten zwei Tage in Lailik wurden alle Vorbereitungen +abgeschlossen. Das Gepäck wurde geordnet, und es handelte sich jetzt +darum, nur das Allernotwendigste mitzunehmen, das jedoch drei große +Kisten füllte. Als alles fertig war, erhielten die Schmiede und +Schreiner, die uns behilflich gewesen, reichlichen Lohn; der Bek aber +war zugegen und sah zu, daß keine unberechtigten Forderungen gestellt +wurden. Am 15. September liefen beide Fähren von Stapel; mit der +größeren machte ich eine kleine Probefahrt, die in jeder Hinsicht +befriedigend ausfiel. Es war ein Festtag für die Dörfler der ganzen +Gegend, die sich bei der Werft massenweise versammelten, um dem +feierlichen Stapellaufe beizuwohnen. Alle brachten „Geschenke“ ~in +natura~ mit, Schafe, Hühner, Eier und Brot, Melonen, Trauben und +Aprikosen; auf diese Weise wurden wir auf mehrere Tage verproviantiert. +Abends veranstaltete ich den Vornehmeren des Dorfes und unseren +Arbeitern ein Gastmahl; es gab Reispudding und Schaffleisch, Tee und +Obst, und während der Mahlzeit hatten wir Tafelmusik von unserem großen +Symphonion. In der Dunkelheit wurden zwischen den Zelten Papierlaternen +aufgehängt, und nun ertönten die bizarren Töne der Nagara (Trommel), +Dutar (zweisaitige Gitarre) und anderer Saitenspiele schwermütig durch +die klare, stille Nacht und riefen meine alten Erinnerungen aus dieser +Gegend wieder ins Leben. Auch 1895 hatte ich eine bedeutungsvolle +Reise mit Lailik und Merket als Ausgangspunkt angetreten. Doch wie +verschieden waren die beiden Reisen. Damals waren wir nach dem +unheimlichen, mörderischen Wüstenmeere aufgebrochen, jetzt schlugen +wir eine Richtung ein, wo wir wenigstens nicht an Wasser Mangel leiden +würden. Und dieselben Spielleute weihten auch die neue Reise ein, und +Tänzerinnen in langen weißen Hemden, die dicken schwarzen Zöpfe über +den Rücken herabhängend, mit kleinen Zipfelmützen und nackten Füßen +tanzten zum Takte der Musik ihren stoßweisen, langsamen Kreistanz. Sie +wurden am Tage darauf photographiert, nahmen sich aber im Tageslicht +weniger vorteilhaft aus als bei dem verschönernden Lichte der Lampions +(Abb. 20). + +Noch ein Tag wurde Lailik geopfert wegen verschiedener Messungen +und zur Feststellung einiger Werte, die uns späterhin von Nutzen +sein konnten. Mit Bandmaßen wurde längs des rechten Ufers, dessen +scharf abgeschnittener Rand 2½ Meter über der Wasserfläche lag, +eine Basislinie von 1250 Meter Länge abgesteckt. Um diese Strecke zu +treiben, brauchte die Fähre 26 Minuten, die kleine Jolle 22 Minuten 17 +Sekunden; der Unterschied beruhte darauf, daß sich die Fähre nicht +während der ganzen Zeit in der stärksten Strömung halten ließ, in deren +Sauggebiete man jedoch die kleine Jolle leicht festhalten konnte. +Die Strömung betrug also auf dieser Strecke zirka 50 Meter in der +Minute oder etwas über 80 Zentimeter in der Sekunde. Um die gemessene +Wegstrecke in gewöhnlichem Marschtempo zurückzulegen, brauchte ich 13 +Minuten 45 Sekunden und machte im Durchschnitt 1613 Schritte; also +waren 64 von meinen Schritten 50 Meter. Die Wassermenge des Flusses +betrug hier bis zu 98,2 Kubikmeter in der Sekunde, die Maximaltiefe +war 2,74 Meter (ganz dicht am rechten Ufer), das Bett war 134,70 Meter +breit, und die größte Stromgeschwindigkeit betrug 0,893 Meter in der +Sekunde. Für die Karte nahm ich als Norm an, daß 1 Minute Drift 50 +Meter Weglänge und 1 Millimeter auf der Karte entspräche; es versteht +sich aber von selbst, daß die Drift später bedeutend variierte, was auf +die berechneten Entfernungen jedoch nicht einwirkte, da ich auf der +ganzen Fahrt täglich mehrmals die Stromgeschwindigkeit maß. + +Der Orientierung halber teile ich auch die wichtigsten Dimensionen der +Fähre mit. Sie war 11,51 Meter lang, 2,37 Meter breit und 0,83 Meter +hoch, wovon 0,23 Meter unter der Wasserlinie lagen, wenn das Schiff +volle Last hatte und bemannt war. Bei 20 Zentimeter Wassertiefe mußten +wir also festfahren, was auch täglich geschah. Die Reservefähre war 6 +Meter lang und 1 Meter breit. -- + +Der 17. September war der große Tag der Abreise, und in früher +Morgenstunde wurde die Karawane beladen. Die Kosaken und Nias Hadschi +erhielten Auftrag, sie über Aksu und Korla nach Argan am untersten +Laufe des Tarim zu führen, wo sie nach dritthalb Monaten eintreffen +mußten und wo es uns nicht schwer werden konnte, durch Kuriere +voneinander Nachrichten zu erhalten. Sie hatten Empfehlungsbriefe +von Generalkonsul Petrowskij an die Aksakale (Konsularagenten) der +beiden genannten Städte und ein paar gewaltige Pässe vom Dao Tai +mit und wurden von ein paar chinesischen Untertanen, gewöhnlich +muhammedanischen Beks oder Gendarmen, von Stadt zu Stadt eskortiert. +Sirkin erhielt den Auftrag, ein kurzgefaßtes Tagebuch zu führen; er +und Tschernoff bekamen ein Geldgeschenk und sollten, solange sie +die Karawane eskortierten, ganz freie Station haben, so daß sie bei +der Rückkehr nach Kaschgar ihren stehengebliebenen Lohn ohne Abzug +einstreichen konnten. + +Die Kamele befanden sich in bestem Wohlsein und hatten sich in dem +jungen Walde fettgegrast. Auf dem Wege nach Lop sollten sie mit der +größten Sorgfalt gepflegt und nicht überanstrengt werden; wir waren der +Ansicht, daß sie beim Eintreten des Winters in wenigstens ebenso guter +Verfassung wie jetzt sein und den Feldzügen in den Sandwüsten ohne +Schwierigkeit entgegengehen könnten. Nias Hadschi erhielt 4½ Jamben +zum Unterhalt der ganzen Karawane und zum Einkaufen großer Vorräte +an Reis, Mehl und anderen Dingen, deren wir später bedürfen würden. +Sirkin sollte über die Ausgaben der Karawane Buch führen. Als alles +fertig war, nahmen sie Abschied, schwangen sich auf den Sattel und +verschwanden langsam im Unterholz, bis das Glockengeläute nach einer +Weile in der Ferne erstarb. + +Mich begleiteten nur Islam, Koch, Bedienter und Faktotum in einer +Person, und Kader, der eigentlich ein muhammedanischer Schreiber war, +meistens aber als Islams Laufbursche fungierte. Die Besatzung der +Flottille bestand aus vier mit langen, starken Stangen bewaffneten +Männern (Sutschi, Wassermännern oder Kemitschi, Boots- oder +Fährmänner). Einer hatte seinen Platz im Vorderschiffe, zwei im Achter +der großen Fähre. Von ihnen wurde ununterbrochenes Aufpassen verlangt, +denn an Stellen mit starker Strömung und scharfen Ecken zeigte die +Fähre Neigung, gegen den stark unterwaschenen Uferwall zu stoßen, und +dann mußte rechtzeitig von den Stangen Gebrauch gemacht werden. Der +vierte Kemitschi führte die kleine Fähre und ging an der Spitze der +Flottille, um die Tiefe zu untersuchen und uns vor seichten Stellen +zu warnen; diese Fähre war vollgeladen mit Proviant, Mehl, Reissäcken +und Früchten. Die Fährleute, die sich die ganze Zeit über vortrefflich +führten, hatten 10 Sär (30 Mark) im Monat und alles frei, doch war es +nicht leicht, sie zu überreden, mit nach Lop zu kommen; sie hegten eine +kindische Furcht vor diesen fernen Gegenden, von denen sie noch nie +hatten reden hören. + +[Illustration: 11. Ein Seiltänzer in Kaschgar. (S. 20.)] + +[Illustration: 12. Aufbruch der ersten Karawane aus Kaschgar. (S. 20.) + +Von links nach rechts: die beiden Kosaken Tschernoff und Sirkin, der +junge Kader, der Verfasser und Islam Bai.] + +Nun wurde die letzte Hand an die Ausrüstung und Möblierung der Fähre +gelegt, das Gepäck an Bord gebracht und das Küchengeschirr in der +Nähe des Herdes auf dem Achterdeck geordnet. Das Zelt wurde auf der +Plattform aufgeschlagen, seine herabhängenden Säume an den Außenrändern +des Bretterfußbodens festgenagelt und im Inneren ein in munteren Farben +gehaltener Teppich ausgebreitet. Das Möblement wurde so eingerichtet, +daß das Feldbett an die Backbordlängsseite gestellt wurde und an +seinem Fußende eine der Kisten stand; die beiden anderen standen auf +der Steuerbordseite und dienten auch als Tische, auf denen stets eine +Menge Instrumente, Karten und andere Dinge in malerischer Unordnung +umherlagen. Am vorderen Rande der Plattform, in der Zeltöffnung selbst, +hatte ich meinen aus der Proberöhrenkiste bestehenden Arbeitstisch, +dessen Untergestell ein Koffer mit Winterkleidern bildete. Das Futteral +des großen photographischen Apparates diente mir als Arbeitsstuhl. +Öffnete ich die hintere Zelttür, so hatte ich freien Zutritt zum +Kajütendach, auf dem allerlei Sachen, die nicht vom Wind fortgeweht +werden konnten, wie Segel und Ruder, Strommesser u. dgl., aufbewahrt +wurden. Hier war auch das Wetterhäuschen aufgestellt. Es umschloß +den Baro- und Thermographen, die Maximal- und Minimalthermometer, +das Psychrometer und drei Aneroide. Der Windmesser stand obendrauf; +doch was er während der Flußreise mitzuteilen hatte, war von geringer +Bedeutung, denn das Flußtal war durch Wälder und hohe Ufer geschützt, +die den Wind zum großen Vorteile für den ungestörten Gang des Schiffes +abhielten. Was Baro- und Thermograph auf vierzehntägigen Streifen +aufzeichneten, war von größerem Interesse: man sah deutlich, wie das +Barogramm das langsame Abfallen des Flusses nach Osten angab, während +die gezähnte Linie des Thermogrammes immer niedriger wurde, je weiter +der Herbst vorschritt und je mehr der Winter herannahte. + +Die Fähre lag dem linken Ufer so nahe, als es die hier angehäufte +Sandbank erlaubte. Doch um dorthin zu gelangen, mußte man eine +ziemliche Strecke in dem seichten Wasser waten. Mit aufgekrempelten +Kleidern zog eine ganze Karawane von Dörflern und Kindern zum letzten +Lebewohl hinaus und bestürmte uns noch einmal mit Geschenken, die +eiligst bezahlt wurden (Abb. 21). + +Das Bild, das sich dem Blicke an Bord darbot, war so ansprechend und +urgemütlich, daß ich die, welche im Wasser stehen blieben und uns +lautlos die große Wasserstraße hinunterziehen sahen, beinahe bedauerte. +Sie hatten den Vorbereitungen mit skeptischer Miene zugesehen und waren +erstaunt darüber, wie gut sich schließlich alles gestaltet hatte. +Es war Punkt 2 Uhr, als ich Befehl zum Aufbruch gab. Die Fährleute +stießen das Schiff mit ihren langen Stangen in die Stromrinne hinaus, +die Ufer glitten vorbei, und nach der ersten Biegung verschwanden die +erinnerungsreichen Gegenden von Lailik und Merket. + +Ich ließ mich sofort am Schreibtische nieder, wo ich monatelang wie +festgenietet sitzen sollte; hier hatte ich meine Kommandobrücke und +meinen Observationsplatz (Abb. 23). Ein Stück weißes Papier lag bereit; +das erste Kartenblatt, Kompaß, Uhr, Diopter, Zirkel, Feder, Messer, +Gummi, Fernglas usw., alles war zur Hand, und der Tisch stand so weit +vor in der Zeltöffnung, daß ich sowohl nach vorn wie nach den Seiten +freie Aussicht auf die Landschaft hatte. Jolldasch und Dowlet fühlten +sich vom ersten Augenblick an völlig heimisch; während der heißen +Stunden des Tages lagen sie keuchend unter Deck, in der Dämmerung aber +kamen sie hervor und leisteten mir im Zelte Gesellschaft. + +Wenn der Leser sich wundert, weshalb ich eigentlich diese Flußreise +unternahm, und fragt, welchen Gewinn in geographischer Hinsicht ich +von ihr erwartete, so antworte ich, daß dies erstens der einzige +Weg durch ganz Ostturkestan war, den ich noch nicht kannte, und daß +zweitens bisher noch nie eine Karte vom Laufe des Tarim aufgenommen +worden war. Von Maral-baschi bis Jarkent waren Pjewzoff, ich und noch +ein paar andere Reisende auf dem Karawanenwege am Flusse hingezogen, +zwischen Schah-jar und Karaul waren Carey und Dalgleish und später +auch ich durch die Uferwälder gegangen, und längs des untersten Teiles +des Laufes war zuerst Prschewalskij, dann Prinz Heinrich von Orléans +und Bonvalot, Pjewzoff, Littledale und zuletzt ich entlang gewandert. +Aber die Wege und Stege, die dem Flusse folgen, berühren nur hin und +wieder seine Krümmungen: die Wege sind, als wären sie zwischen den +äußersten Kurven der Flußbiegungen auf einem der Ufer gezogen worden. +Durch sie erhält man keinen Begriff von dem Verlaufe, dem Aussehen +und den sonstigen Eigentümlichkeiten des Flusses. Unsere Kenntnis des +Tarim war bisher auf derartige flüchtige Beobachtungen von geringem +Werte gegründet gewesen. Als ich schließlich meine große Karte vom +Tarim fertig hatte, fand ich, wie unähnlich ihr das bisherige Bild +des Flusses war. Es war dies eine geographische Eroberung, die der +Monate, die ihr geopfert worden, wohl wert war. Nie ist die Karte +eines außereuropäischen Flusses so genau aufgenommen worden. Und +wie interessant war es, das ganze Leben des Flusses so eingehend zu +studieren, sein Steigen und Fallen, sein von verschiedenen Ursachen +herrührendes Pulsieren, seine launenhaften Formationen und sein +wechselndes Aussehen in verschiedenem Terrain! Nicht allein, daß ich so +in täglicher, ununterbrochener Arbeit Material zu einer außerordentlich +eingehenden Monographie über den größten Fluß des innersten Asien +sammelte und einen Weg wählte, dem bisher noch nie jemand gefolgt war, +sondern ich machte auch eine so idyllische, so angenehme Reise wie noch +nie. Wenn man gewohnt ist, zu Pferd zu reisen oder die Gegenden von +dem Rücken eines sich wiegenden Kameles aus zu betrachten, ist es ein +Genuß sondergleichen, sich von der Strömung eines ruhigen, friedlichen +Flusses befördern zu lassen, die ganze Zeit an seinem Arbeitstische im +Schatten zu sitzen und sich die Landschaft entgegenkommen zu lassen, +die sich selbst aufrollt wie ein ständig wechselndes Panorama, dem +man wie von seiner abonnierten Theaterloge aus folgt und zusieht. +Und es war ein großer Genuß, die ganze Zeit zu Hause zu sein, sein +Arbeitszimmer, seine Schlafstube und seine Instrumente Tag und Nacht +bei sich zu haben und sein Haus wie eine Schnecke durch das ganze +innerste Asien mitzunehmen. + +Meiner Ansicht nach hatte ich es weit besser und gemütlicher als auf +einem europäischen oder amerikanischen Flußdampfer. Denn erstens war +ich allein und brauchte mich vor niemand zu genieren. Wenn es mir zu +heiß wurde, konnte ich mich entkleiden und vom Schreibtische direkt +ins Wasser springen, was auf einem europäischen Dampfer nicht üblich +ist, und ich konnte bleiben, wo und wie lange ich wollte, wenn wir an +einer Stelle vorbeiglitten, die in irgendeiner Beziehung einladend +aussah. Meine Mahlzeiten wurden mir am Schreibtische serviert, wann +es mir paßte, und wenn sie auch weniger lukullisch waren als die +europäischen, so haben mir diese dagegen selten so gut geschmeckt wie +die an Bord meiner eigenen Fähre. Frisches Wasser und eine Luft, die +der balsamische Duft der Pappeln alle Augenblicke erfüllte, hatten +wir reichlich zur Verfügung. Ich hatte Bilder von denen, welche ich +liebte und für die ich betete, in meiner Nähe aufgestellt und begegnete +täglich ihren Blicken, die mich auf meiner einsamen Wanderung mit ihrer +Liebe und guten Wünschen begleiteten, und es war herrlich, sich außer +Hörweite der Verleumdung und der eingebildeten Klugheit zu wissen, +welche der Unternehmungslust ebenso treu und sicher folgen wie die +Delphine im Kielwasser eines Schiffes. Auf den provisorischen Tischen, +die jedoch ihren Zweck vollständig erfüllten, lagen Bücher; ich hatte +aber selten Zeit, darin zu lesen, denn jede Minute war von Arbeiten, +die getan werden mußten, in Anspruch genommen. Und diese Arbeiten +interessierten mich in solchem Grade, daß der Fluß doppelt so lang +hätte sein können. + + + + +Viertes Kapitel. + +Zweitausend Kilometer auf dem Tarim. + + +Unwiderstehlich trug die langsam und schwer dahingleitende Wassermasse +unser Schiff auf ihrem breiten Rücken vorwärts; daß wir ebenso schnell +wie die Strömung trieben, sah man leicht an den Treibholzstücken auf +dem Flusse, die uns stundenlang begleiteten. Es war warm und still. Nur +dann und wann ertönte das Gurgeln eines Wasserwirbels oder das Rauschen +des Wassers gegen einen an einer Sandbank hängengebliebenen Baumzweig; +ab und zu wurde die Stille von den Stangen unterbrochen, wenn die +Fährleute, vom Avisomann Kasim gewarnt, sie ins Wasser stießen, um +einer Untiefe auszuweichen. + +Wir waren noch nicht lange unterwegs, als auch schon Gruppen von +Landleuten und Frauen mit ihren Melonen, Schafen und anderen Dingen +die Ufer garnierten. Aber dies lockte uns nicht mehr; wir wollten +nicht bleiben und brauchten keine Verstärkung unserer mehr als +reichlichen Verproviantierung. Der Tarim macht die tollsten Krümmungen; +nacheinander treiben wir nach Nordwesten, Südosten, Norden, Nordwesten +und Nordosten. Schon lange Strecken vorher sieht man an den Grenzlinien +des Waldes, wo sich der Flußlauf seinen Weg im Terrain gesucht hat. Bei ++Kalmak-jilgasi+ hatten sich eine Menge Leute versammelt. Da wir +auch hier nicht hielten, liefen sie uns mit ihren Gaben nach, wateten +schließlich an einer seichten Stelle in den Fluß (Abb. 22), kletterten +auf die Fähre und legten ihre Waren auf dem Vorderdeck neben meinem +Arbeitstische nieder. Es stellte sich heraus, daß es Frauen, Kinder +und Verwandte unserer Bootsleute waren, die uns so überlistet hatten. +Es gab keinen anderen Ausweg als anzunehmen, sich zu bedanken und zu +bezahlen, was ich um so freigebiger tat, als ich es war, der die vier +Männer ihren Familien entrissen hatte. + +Nach halbstündiger Fahrt saßen wir zum ersten Male fest, aber der +Stoß war so schwach, daß man das Stillstehen der Fähre kaum bemerkt +haben würde, wenn man nicht gesehen hätte, wie das Wasser auf beiden +Seiten an uns vorbeiströmte. Die Leute sprangen ins Wasser und +machten die Fähre ohne Schwierigkeit durch Schieben wieder flott. +Bei jedem Festsitzen benutzte ich die Gelegenheit zum Messen der +Stromgeschwindigkeit. In den konkaven Kurven ist die Uferterrasse bis +zu 3 Meter hoch, und oft fallen große Lehm- und Sandklumpen plumpsend +herunter. Noch bedurfte es keines Führers; die Fährleute kannten +mehrere Tagereisen stromab den Namen jeder Uferstrecke und jeder +Waldpartie. Die Namen sind stets in einer oder der anderen Beziehung +bezeichnend und lehrreich. So heißt eine von einer scharfen Biegung +gebildete Halbinsel Araltschi, weil sie beinahe einer Insel gleicht; +eine Waldgegend Tonkuslik, weil dort Wildschweine vorkommen; ein +schmaler Teil des Flusses Kalmak-jilgasi (Mongolenpassage), weil in +alten Zeiten Mongolen an den Ufern gewohnt haben sollen. Bei einer +nach ihrem Erbauer Muhammed Ili-lenger genannten Poststation an dem +großen Karawanenwege, der uns hier bei einer Biegung nach links nahe +ist, hat der Fluß vor zwei Jahren auf eine kurze Strecke seinen Lauf +verändert; das alte Bette heißt Eski-darja (der alte Fluß). Solche +Launenhaftigkeiten des Flußbettes wurden oft beobachtet und stets auf +der Karte eingetragen. In den verlassenen Betten bleiben gewöhnlich +kleine, klare Wasseransammlungen (Köll = See) stehen. + +Abends wurde man von dem starken Sonnenlicht in den westlichen +Biegungen und der glänzenden Straße, die auf der Wasserfläche zitterte, +etwas belästigt, ging es aber nach Norden oder Osten, so war die +Beleuchtung herrlich. + +Die Proviantfähre gewährte mit all ihrem Gemüse und ihren Melonen +einen ländlichen Anblick; dort gackerten Hühner und krähte ein Hahn -- +ihre Aufgabe war, mich mit frischen Eiern zum Frühstück zu versehen. +Einige Schafe hatten ihre Freistatt auf der großen Fähre in einem +kleinen Gehege auf dem Achterdeck, wo sie in schönster Ruhe ihr +Futter verzehrten. Doch ihre Tage waren gezählt; das erste wurde in ++Gasanglik+ geschlachtet, wo wir die Nacht blieben. + +Wenn die Tagereise zu Ende ist, muß zuerst die Fähre festgemacht +werden, damit sie während der Nacht nicht ins Treiben gerät (Abb. 24). +Die Leute bringen am Ufer ihr Lager in Ordnung, um ein Feuer herum, +auf dem bald die Teekannen summen und das Abendessen bereitet wird. +Ihre Betten bestehen aus einer Unterlage von Filzmatten (Kigis) und +das Deckbett bildet der Schafpelz (Pustun). Ich saß lange an meinem +Schreibtisch und arbeitete in der stillen Nacht. Die Ruhe wurde nur +unterbrochen durch Sandrutsche an den Biegungen, wo die Erosion +ihre Minierarbeit ausführt. Manchmal klatscht es auf, als wäre ein +Krokodil ins Wasser gegangen, doch solche Tiere gibt es im Tarim +glücklicherweise nicht. Die Mücken waren lästig, bald aber würde ihnen +die Nachtluft zu kalt für ihr Spiel. Der Mond goß sein Silberlicht über +die breite Wasserstraße aus, die sich im Norden wie eine Gasse öffnete. + +18. September. Der erste Morgen an Bord war frisch und kühl. Ich +schlief stets in meinem Zelte, und es war schön, nicht vor Skorpionen, +die an den Ufern ziemlich häufig sind, auf der Hut sein zu müssen. +Eine Folge der Strömungsverhältnisse am Lagerplatze war, daß sich im +Laufe der Nacht eine Menge Sand und Schlamm um die Fähre herum anhäufte +und die Männer eine gute Weile arbeiten mußten, um sie loszumachen. +Währenddessen trank ich meinen Morgentee; erst um 9 Uhr waren wir flott +und glitten wieder den großen Fluß hinab, der hier jedoch noch recht +einförmig war. Nur wenn man an den steilen Ufern (Jar oder Kasch = +Strandterrasse, vgl. Jarkent, Kaschgar) vorbeistreicht, die mit jungen +Pappeln, Gesträuch und jungen Hagedornhecken bekleidet sind, deren +Wurzeln aus dem Uferwalle herauswachsen und ins Wasser hinabhängen, +kann man manchmal recht hübsche Partien passieren. + +Unsere Kemitschi sind ausgezeichnete Leute, die sich vorzüglich +anlassen. Sie heißen Kasim Ahun, Naser Ahun, Alim Ahun und Palta; ein +fünfter Mann, Kasim-on-baschi, begleitete uns nur die ersten Tage, um +im Anfang mitzuhelfen. Alle sind ebenso mit dem Manövrieren der Fähre +wie mit den Eigentümlichkeiten des Flusses vertraut und können es in +den meisten Fällen schon der Form der Ufer und dem Kochen und Ringeln +des Wassers auf der Oberfläche ansehen, wo es tief oder seicht ist. Oft +werden die Sandbänke mitten im Flusse durch Treibholz, Pappelstämme, +Reisigbündel und Schilfgarben, die in Drift geraten und hängengeblieben +sind, angegeben. Liegt eine tückische Sandbank dicht unter der +Oberfläche, so verrät sie sich doch gewöhnlich dadurch, daß das Wasser +über ihr ruhig ist und dann gleich unterhalb der Bank eine Stromgasse +bildet. + +Ich unterscheide in der Folge zwischen konkavem und konvexem Ufer; das +konkave ist dasjenige, welches direkt der von der Zentrifugalkraft +bestimmten Erosionskraft der Wassermasse ausgesetzt ist und wo die +2 oder 3 Meter hohe Uferwand da lotrecht abgeschnitten ist, wo die +Hauptmasse des Wassers strömt, wo wir also die größte Tiefe und die +stärkste Geschwindigkeit finden. Das konvexe Ufer hingegen tritt in +einer Biegung auf, sei es nach rechts oder nach links, und wird von den +Eingeborenen fälschlich „Aral“ oder „Araltschi“ (Insel) genannt. Es ist +eine flache, halbmondförmige, scharf markierte oder stumpfe Anhäufung +von Schlamm, den seichtes, langsamfließendes Wasser hier während der +Hochwasserperiode abgesetzt hat. Hätten wir die Reise anderthalb Monate +früher angetreten, so wären diese Schlamminseln überschwemmt gewesen, +der Weg wäre etwas kürzer und die Geschwindigkeit größer geworden. +Schon jetzt war der Fluß so bedeutend gefallen, daß die noch vorhandene +Wassermenge nur die eigentliche Erosionsfurche des Flusses füllte, die +überall dicht an den konkaven Ufern hinläuft, d. h. zu alleräußerst in +allen Krümmungen nach rechts und links, wodurch die Länge des Weges +größer wird und das Abschneiden der äußersten Biegungen unmöglich +gemacht ist. Für eine genaue Kartenaufnahme des Tarim war jedoch dieser +Umstand ein Vorteil, denn die seichten Stellen lagen nun offen da, und +man bekam einen deutlichen Begriff von der Plastik des Bettes. + +In den Gegenden, wo wir uns jetzt befanden, war der Lauf des Flusses +noch einigermaßen gerade, und ich machte in 25 Minuten nur eine +Peilung. Aber bald änderten sich die Verhältnisse, und die Pausen +zwischen den Peilungen überstiegen selten 3 oder 4 Minuten. Ich konnte +kaum die Aufzeichnungen abschließen, bis wieder eine Peilung gemacht +werden mußte, und die Kompaßnadel schwankte von einer Zahl zur anderen. + +Der Fluß fällt nicht regelmäßig, sondern ruckweise, so daß um die +Schlamminseln und die Halbinseln herum scharf markierte Erosionsränder +entstehen. Doch sowie der Schlamm getrocknet ist, fällt er ab und man +hört ihn überall ins Wasser plumpsen. + +Eine vorspringende Landspitze heißt „Tumschuk“. Unterhalb einer +solchen entsteht gewöhnlich eine Unterwasserbank, die bei noch +niedrigerem Wasserstande freigelegt ist. Für uns waren solche +Stellen die schlimmsten. Fuhren wir trotz aller Anstrengungen der +Leute fest, so sprangen sie sofort ins Wasser und schoben uns flott. +Das Aufgrundstoßen war bei dem weichen Boden so unmerkbar, daß ich +gewöhnlich erst dann etwas davon gewahr wurde, wenn die Männer +riefen „Laiga tegdi“ (ist auf den Lehm geraten), „Toktadi“ (ist +stehengeblieben) oder „Turdi“ (hat sich festgefahren), „Tüschdi“ (ist +abgeglitten, eigentlich fiel). „Mangdi“ oder „Mangadi“ (es geht) sind +Ausrufe, welche verkünden, daß wir die Fahrt wieder aufgenommen haben. +Stieß das Vorderteil auf, so drehte sich die Fähre im Kreise herum +und der Kopf wurde einem so schwindlig wie in einem Karussell. Die +Landschaft veränderte ihr Aussehen in einem Augenblick, und die Sonne +schien verrückt geworden zu sein; eben hatten wir sie im Rücken, und +nun stand sie vor dem Vorderschiffe. + +Die Erscheinungen im Flusse, welche ständig wiederkehren, bezeichnen +die Eingeborenen mit besonderen Namen. Kleine Strömungsanzeichen +über einer Untiefe heißen „Kainagan-su“ (kochendes Wasser) oder +„Kainagan-lai“ (kochender Schlamm). Wenn der Fluß sich teilt, spricht +man einfach von dem linken und rechten Flußarme; ist der eine kleiner, +heißt er „Kitschik-darja“ (kleiner Flußarm) oder „Partscha-darja“ +(Flußteil); eine Sackgasse heißt „Bikar-darja“ und ein verlassener Arm +„Eski“- oder „Kona-darja“, und wenn er eine isolierte Wasseransammlung +enthält, „Köll“. Wenn der Fluß sich teilte, schwebten wir gewöhnlich in +der größten Ungewißheit darüber, welchen Arm wir wählen sollten, und +wir machten dann nicht selten Halt, um die Stelle mit der Jolle genauer +zu untersuchen und zu peilen. + +Im Vorderschiff hat mein Freund Palta (Abb. 25) seinen Platz; mit +nackten Beinen und bereitgehaltener Stange saß er da, beobachtete +aufmerksam den Fluß und folgte genau der von Kasim im Avisoboot +angegebenen Richtung. Gewöhnlich sang er in schwermütigen Rhythmen ein +Lied von den Abenteuern eines Königs, interessierte sich aber, ebenso +wie seine Kameraden, stets sehr für das Navigieren und das Leben an +Bord. + +In einer Linksbiegung berührten wir die Landstraße nach Maral-baschi +und sahen von fern die Pappeln an dem Stationshause Meinet. Ein Mann +saß auf einer Landspitze und erwartete uns, um Grüße von der Karawane +auszurichten. Die Kosaken hatten ihn gebeten, uns einen Napf Milch zu +bringen, den wir im Vorbeifahren auffingen; er muß aber lange auf uns +gewartet haben, denn die Milch war schon sauer. + +Bei +Besch-köll+ (die fünf Seen) wurde eine Flußmessung +vorgenommen. Das Bett war 86,4 Meter breit und hatte 2,22 Meter größte +Tiefe, die Geschwindigkeit betrug 42,4 Meter in der Minute, und die +Wassermenge belief sich auf 84,7 Kubikmeter in der Sekunde. + +Am 19. September wurden neue Erfahrungen in der Flußschiffahrt gemacht. +Von frühmorgens an wehte eine lebhafte, frische Nordwestbrise, und +wir fanden bald, daß sie die Fahrt der Fähre nicht nur in hohem Grade +hemmte, sondern sie an breiten Passagen mit langsamer Strömung und +Gegenwind auch gänzlich zum Stillstehen brachte. Das Zelt und die +schwarze Kajüte gaben einen Windfang ab, und die kleine Proviantfähre, +der jeglicher Oberbau fehlte, hatte jetzt stärkere Fahrt. + +Der Lauf des Flusses ging eine gute Weile nach Norden, und der +Nordwestwind, der 3,71 Meter Geschwindigkeit in der Sekunde hatte, war +uns hinderlich. Die Männer mußten unaufhörlich auf der Steuerbordseite +stoßen und schieben, um einen Anprall an das rechte Ufer zu verhindern. +Ein heftiger Windstoß entführte mein schönes Kartenblatt, das aber weit +davon mit der Jolle wieder aufgefischt wurde; es war zu kostbar, um den +Göttern des Flusses geopfert werden zu können. + +[Illustration: 13. Übergang über einen Kanalarm unterhalb Kaschgar. (S. +23.)] + +[Illustration: 14. In der Wüste zwischen Terem und Lailik. (S. 23.)] + +Als wir später nach Osten und Südosten umbogen, hatten wir den Wind +mit uns, und die Fähre ging 21 Meter schneller als die Strömung, die +heute 38,4 Meter in der Minute betrug. Bei der nächsten Biegung nach +Nordwesten war der Wind so heftig, daß wir halten mußten. Es ist +klar, daß die Karte ein falsches Bild von dem Flusse geben würde, +wenn man nicht stets den Einfluß des Windes auf den Gang der Fähre +berücksichtigte. Doch dies ließ sich sehr leicht dadurch erreichen, +daß während der Fahrt der Unterschied zwischen der Geschwindigkeit der +Strömung und der des Schiffes gemessen wurde. + +Bei +Schäschkak+, wo wir lagerten, hatte das Ufer eine Höhe von +2,3 Meter. Wir mußten eine kleine Treppe in seine Wand graben, um +eine bequeme Verbindung zwischen der Fähre und dem Lande zu haben. +Hier wohnen vier Hirtenfamilien, die 200 Schafe, sowie Ziegen und +Kühe besitzen. Sie sind auch Ackerbauer und bauen Mais und Weizen bei +den Hütten; die Felder bewässert ein gegrabener Kanal. Daß selbst +diese schmalen Bewässerungskanäle den Fluß brandschatzen, versteht +sich von selbst. Die Hirten mußten uns alles, was sie über den Fluß +wußten, mitteilen und erzählten uns auch, daß ihre Waldgegend Hirschen, +Antilopen, Wildschweinen, Wölfen, Füchsen, Luchsen, Hasen und Fasanen +als Aufenthaltsort diene; Tiger gebe es dagegen hier nicht. + +Bei diesem Lager betrug die Breite des Flusses nur 42,6 Meter und +die Wassermenge 67,16 Kubikmeter, was ein bedenkliches Fallen in ++einem+ Tage verriet. An den jetzt herannahenden Herbst denkend, +begann ich zu fürchten, daß wir noch nicht bis ans Ende des Flusses +gelangt sein würden, wenn uns der Winter in seine Eisbande schlüge, +und es kam sehr darauf an, in Zukunft möglichst viel aus jedem Tage +zu machen. Die Hirten sagten, es sei beinahe zwei Monate her, daß +das Wasser seinen höchsten Stand gehabt habe, und der Fluß friere in +dieser Gegend nun wohl in 75 bis 80 Tagen zu. Das Eis bleibe 2½ bis +3 Monate liegen und im Frühling könne man an mehreren Stellen zu Fuß +durch das Bett waten. + +Als ich am folgenden Morgen erwachte, sah der Himmel unheilverkündend +aus. Die Nacht war die kälteste gewesen, die wir bisher gehabt (+2,9 +Grad), und die Luft war mit den Vorboten des Herbstes beladen, die das +Gelbwerden des Laubes verursachen. Es lag wie eine Dämmerung über der +Erde. Doch dies waren weder Wolken noch Nebel, sondern feiner Flugsand, +der von einem Sarik-buran (gelber Sturm) über den Boden hingeführt +wurde, von welchem Sturme man aber an Bord nichts merkte, weil die +Fähre im Windschutz unter der Uferwand lag. Die Landschaft sah düster +aus, und die Tamarisken und Schilfdickichte der Ufer verschwanden schon +auf eine Entfernung von nur 200 Meter im Nebel. Die Fährleute glaubten +mit Recht, daß es schwer sein würde, bei diesem Winde zu treiben, und +wir beschlossen abzuwarten, wie das Wetter sich gestalten würde. + +Jetzt und später oft benutzte ich die unfreiwillige Ruhe zum Segeln +mit der englischen Jolle, die jedoch für diesen Sport eigentlich nicht +bestimmt war, da sie weder Kiel noch Steuer hatte. Sie konnte also +nur bei günstigem Wind benutzt werden; ein im Achter festgebundenes +Ruder diente als Steuer. Bei dem starken Winde flog sie fast wie +eine Ente über das Wasser, und das Wasser zischte förmlich um den +Vordersteven. Ich segelte flußaufwärts und hielt mich außerhalb der +Strömung; die Ufer eilten an mir vorüber, ich wurde wie über große, +offene Seen zwischen den niedrigen Schlamminseln hingetragen, das +Wasser kochte um das Boot herum, und der Wald verschwand im Windstaube. +Nach mehrstündiger, herrlicher Fahrt meinte ich, es sei nun Zeit, +umzukehren. Ich nahm Mast und Segel ab und suchte die Strömung auf, um +mich von ihr heimtreiben zu lassen. Dies ging jedoch nicht so leicht, +wie ich gehofft; der Wind war so heftig, daß die Oberströmung gehemmt +wurde und daher äußerst langsam war. Doch auch hiergegen gab es guten +Rat; nur einen Fuß unter der Oberfläche war die Strömung ebenso stark +wie gewöhnlich, und als ich die Ruder so festband, daß die Blätter +vertikal ins Wasser herabhingen, trieb das Boot mit der Schnelligkeit +der Unterströmung flußabwärts. + +An einer Stelle, wo ich zu landen beabsichtigte, war der Boden +außerordentlich tückisch; er gab nach, und ich versank bis zu +den Hüften und wäre noch tiefer eingesunken, wenn ich mich nicht +rechtzeitig am Bootrande festgehalten hätte. Endlich tauchte das weiße +Zelt der Fähre aus dem Staubnebel auf, und ich legte an ihrer Seite an. +Um schnell zur Hand zu sein, wenn sie gebraucht würde, lag die Jolle +stets am Achter angebunden im Schlepptau der Fähre. Man konnte mit +ihr jeden Augenblick an Land gehen, ohne mit der großen Fähre anlegen +zu müssen. Islam Bai pflegte sich in ihr ans Ufer rudern zu lassen, +wo er dann stundenlang den Wald durchwanderte und oft mit Fasanen und +Wildenten zurückkehrte. Für ihn war die Flußreise recht einförmig, und +er ergötzte sich daher oft an kleinen Jagdausflügen. + +Am 21. September war das Wetter andauernd herbstlich und so +unfreundlich und kalt, daß man die Winterkleider hervorholen mußte. +Der Himmel war so finster und staubtrübe, als wäre er mit Regenwolken +bedeckt. Es war, wie gewöhnlich, der östliche Wind, der den Staub +mitführte; der Westwind ist stets klar und rein. Den ganzen Tag hielt +der Ostwind an. Der Karawane war er sicher willkommen, uns aber war +er es nicht, denn er wirkte sehr nachteilig auf den Gang der Fähre +ein: hatten wir ihn mit uns, so ging es zu schnell, und hatten wir +ihn entgegen, zu langsam, und sobald sich der Fluß schlängelt, hat +man den Wind von allen möglichen Seiten. Die stauberfüllte Luft +beschränkt den Umfang der Aussicht. Wo der Fluß für eine Weile gerade +ist, verschwindet seine breite Wasserfläche wie in weiter Ferne, und +man kann nicht, wie bei klarem Wetter, von den dunkeln, waldigen +Landspitzen darauf schließen, nach welcher Seite die nächste Kurve +abbiegt. + +In gewaltigen Krümmungen ging es weiter den Tarim hinunter. In einer +scharfen Biegung unterhalb von +Scheitlik+, wo der Fluß nach +Süden umschwenkt, wurden 6 Meter Tiefe gemessen, und die Strömung war +trostlos langsam. Hätte ich nicht die Karte vor mir gehabt, so hätte +ich aus dem Flusse gar nicht mehr klug werden können, denn er fließt +nach allen Himmelsrichtungen. Im großen ganzen geht er nach Nordosten, +doch nicht selten treiben wir eine Weile nach Südwesten. + +Dowlet leistet mir treu Gesellschaft, Jolldasch aber bleibt unter Deck. +Er hat Schläge bekommen, weil er einen unverschämten Besuch bei der +Proviantniederlage gemacht hat, und schämt sich jetzt. Wenn sich aber +Männer und Herden und besonders Hunde an den Ufern zeigen, kommt er wie +ein Pfeil hervorgeschossen, um Dowlet vom Vorderdecke aus bellen zu +helfen. Mir machten die Gesellschaft der Hunde und auch ihre Streiche +an Bord großes Vergnügen; sie hatten sich vollständig an unsere Art +zu reisen gewöhnt und streiften wie kleine Hausgeister umher. Wenn +ihnen die Ufer verdächtig erschienen, standen sie ganz vorn auf dem +Vorderdeck und verübten entsetzlichen Lärm, und sobald wir uns für die +Nacht lagerten, warteten sie nicht, bis die Landebrücke, eine Planke, +ausgelegt worden, sondern sprangen an Land, um einander spielend im +Walde zu jagen. Beim Abendessen leisteten sie mir Gesellschaft und +schliefen stets im Zelte. + +Das Wasser war jetzt so kalt, daß die Männer nicht unnötigerweise +hineinsprangen. In ruhigen Krümmungen (Bulung) und im Walde waren die +Mücken schrecklich lästig und zudringlich. Es ist eine Art kleiner +grauer Mücken, die man nicht eher sieht, als bis sie einem zu Leibe +gehen und stechen; sobald es aber ein bißchen weht, sind sie fort. So +hat selbst die Windstille ihre Schattenseiten. + +Am Ufer sahen wir eine große Schar Männer mit ihren Pferden; sie waren +abgestiegen und schienen uns zu erwarten. Es stellte sich heraus, daß +es der Bek von Aksak-maral war, der sich auf dem Wege nach Merket +befand und die Gelegenheit benutzte, einen Dastarchan aufzutischen, den +wir uns aus Höflichkeit gefallen lassen mußten. + +Auch an diesem Abend wurde der Fluß gemessen. Wir machen gewöhnlich +etwas vor Sonnenuntergang Halt, damit wir fertig werden, ehe die +Dämmerung in Dunkelheit übergeht, und der Lagerplatz wird stets so +gewählt, daß alles Wasser in einem schmalen Bette von großem Gefälle, +an dessen Ufer es Brennholz gibt, vereinigt ist. + +Zur Messung ist das kleine Boot mit seinen Rudern nötig, ferner der +Anker mit seinem Tau, eine lange Stange, Strommesser, Bandmaß, Uhr und +Notizbuch; Islam oder einer der Fährleute helfen dabei. Die Breite wird +direkt mit dem 50 Meter langen Bandmaße gemessen; ist der Fluß breiter, +so wird in den Grund eine Stange als Merkzeichen gestoßen. Nachher +wird auf einer Reihe von in gerader Linie liegenden Punkten die Tiefe +gemessen, und an denselben Punkten in zwei oder mehreren verschiedenen +Tiefen die Geschwindigkeit des Wassers festgestellt. Beim Lager von ++Att-pangtsa+ betrug die Wassermenge 59,1 Kubikmeter in der +Sekunde. Der Fluß nimmt also immerzu ab, was jedoch für das Auge nicht +sichtbar ist; jeder Teil des Bettes enthält ungefähr ebensoviel Wasser +wie bisher, aber die Geschwindigkeit nimmt ab. + +Am Morgen des 22. September flog eine Anzahl Gänse in wohlgeordneter +Phalanx nach Südwesten; wahrscheinlich ist Indien ihr Ziel. Am rechten +Ufer geht vom Flusse ein schmaler Kanalarm ab, der eine in der Nähe +liegende Mühle treibt. Er zeigt das eigentümliche Verhältnis, daß das +Land hier niedriger ist als die Oberfläche des Flusses, selbst bei +dessen gegenwärtig niedrigem Wasserstande. + +Zwischen den Bäumen des linken Ufers erblickten wir einige Wanderer; +sie schienen auf uns zu warten. Bald erkannten wir Sirkin, Nias Hadschi +und den On-baschi von Ala-aigir. Sie wurden aufgefordert, uns nach +diesem Orte, wo die Karawane seit ein paar Tagen der Ruhe pflegte, zu +begleiten. Da sie an Wasserreisen nicht gewöhnt waren, machte ihnen die +Abwechslung viel Vergnügen. + +Der Tograkwald war bedeutend größer als bisher, und manchmal glitten +wir unter schattigen Gewölben so still und feierlich wie eine +Prozession hin. Der Wald stand am üppigsten auf dem konkaven Ufer der +scharfen Krümmungen, wo das Wasser sich das ganze Jahr hindurch den +Wurzeln nähert. + +Als wir vor Ala-aigir vorbeifuhren, mußten unsere Männer wieder an +Land gesetzt werden; nun erst waren wir endgültig von der Karawane +abgeschnitten. Sie erhielten Auftrag, Parpi Bai, meinen alten treuen +Diener von meiner ersten Reise durch Asien, der jetzt in Kutschar +wohnte, nach Karaul zu schicken, um dort unsere Ankunft zu erwarten. + +In der +Togluk+ (Verdämmung) genannten Gegend blieben wir die +Nacht. Sobald ich den Lagerplatz ausgewählt und „Halt“ gerufen habe, +stößt Palta seine lange Stange in den Grund, stemmt den Fuß gegen einen +Querbalken und zwingt mit seiner ganzen Schwere das Achter der Fähre, +sich in einem Bogen nach dem Ufer hinzudrehen, wo einer der Leute mit +dem Tau in der Hand an Land springt. + +In einer scharfen Biegung gerieten wir in den Wirbel der Gegenströmung +und hatten alle Mühe wieder herauszukommen; die 5 Meter langen Stangen +erreichen nicht den Grund, und der Wirbel versucht uns festzuhalten. Es +bleibt uns kein anderer Ausweg, als mit einem Tau an Land zu rudern und +dann die Fähre so weit zurückschleppen, bis sie wieder in der Strömung +ist. + +Darauf erreichen wir den Punkt, wo sich der Fluß in zwei Arme teilt. +Der linke, kleinere heißt Kona-darja; durch ihn strömt Wasser nach +Maral-baschi; der rechte, Jangi-darja, ist das Hauptbett des Flusses +und soll sich erst vor vier Jahren gebildet haben. Aksak-maral gerade +gegenüber vereinigen sich beide Betten wieder. Der Jarkent-darja hat +also auch hier einen Schritt nach rechts getan, und wir sollten bald +finden, daß das Flußbett immer veränderlicher wurde, je weiter wir +flußabwärts kamen. Diese Veränderlichkeit erreicht ihr Maximum im +Lopgebiete, wo das Flußbett periodenweise wie ein Pendel hin und her +schwankt, was mit Veranlassung zu der wechselnden Lage des Lop-nor gibt. + +Gleich unterhalb des Hauptarmes, der auch Kötteklik heißt, weil an +seinen Sandbänken Treibholz und Stücke von verdorrten Pappeln in großer +Menge hängengeblieben sind, rasteten wir eine Weile. Die Fährleute +erklärten, wir seien einer gefährlichen Stelle, von der wir in der +letzten Zeit viel reden gehört, ganz nahe. Schon in Lailik hatte man +uns gesagt, daß im Kötteklik ein etwa 10 Meter hoher Wasserfall sei; +jetzt schrumpfte er freilich auf einen Meter zusammen, wir würden aber +doch, um glücklich hinüberzukommen, 30-40 Mann zur Hilfe brauchen. +Die einzig mögliche Art weiterzukommen sei, das ganze Gepäck an Land +zu bringen und die Fähre über den Fall zu ziehen. Der On-baschi von +Ala-aigir wurde daher beauftragt, etwa 20 Mann aufzutreiben und sich am +nächsten Morgen in aller Frühe mit ihnen einzustellen. + +Der ruhige, klare Tag war noch nicht weit vorgeschritten, und ich +beschloß daher, mit der Fähre bis an den Wasserfall zu gehen, um die +Stelle genauer in Augenschein zu nehmen. Wir glitten flußabwärts, +zwischen Holmen von Treibholz hindurch, wo die Strömung stark und der +Durchgang oft so eng war, daß die Fähre nur eben hindurchkam. Einen +großen Teil des Weges mußten die Männer, im Wasser gehend, die Fähre +schleppen, damit sie sich nicht festklemmte, und dennoch fuhr sie +nicht selten an einem gesunkenen Pappelstamme fest. Blieb sie mit +irgendeinem Punkte des Vorderteiles hängen, so drehte sie sich ganz +herum. Es veranlaßte allgemeine Heiterkeit und eifriges Rufen, wenn die +vordersten Männer ganz unvermutet in tiefes Wasser gerieten und ein +gründliches Bad nahmen, ehe sie den Rand der Fähre ergreifen und über +die Reling klettern konnten. + +So erreichten wir eine Stelle, wo das Wasser mit beunruhigendem Getöse +brauste und rauschte. Die Männer erklärten, dies sei der erste Katarakt +(+Scha-kurun+). Er sah sehr unschuldig aus, und seine Schwelle war +nicht höher als 10 Zentimeter. Die Fähre glitt leicht hinüber, ohne +sich im mindesten auf die Seite zu legen. Zwei folgende Fälle waren +ebenso unbedeutend. Einer hatte freilich tiefes Wasser, aber ein paar +Meter weiter unten war er wieder sehr seicht, weil das Wasser den Boden +unter dem Wasserfalle aushöhlt und dann gleich wieder ablagert. + +Nachdem wir über diese „gefährliche“ Stelle hinweg waren, nahm der Fluß +sein altes Aussehen wieder an, war jetzt aber schmal und tief. Die +Fähre hatte die ganze Zeit über vortreffliche Fahrt. In einer scharfen +Krümmung ging es so schnell und das Schiff steuerte so energisch dem +konkaven Ufer zu, daß wir es nicht aufhalten konnten, sondern gegen das +Ufer prallten und sofort stehenblieben. Meine obere Tischkiste wäre +über Bord geschleudert worden, wenn Palta sie nicht noch rechtzeitig +festgehalten hätte. + +Als wir bei einer einsamen Pappel in der Gegend von +Kötteklik-ajagi+ +lagerten, langte unser On-baschi mit 20 Reitern an. Sie waren ganz +verdutzt, daß wir ohne ihre Hilfe über die Fälle gekommen, und mußten +nun wieder nach Hause zurückkehren. + +Der Bek von Aksak-maral kam auf Besuch und wurde, da er in der Gegend +gut Bescheid wußte, eingeladen, uns ein paar Tage zu begleiten. Unsere +Art zu reisen interessierte ihn außerordentlich, er glaubte jedoch, daß +es während der Hochwasserperiode mit großen Schwierigkeiten verbunden +gewesen wäre, die Flußreise zu machen. Man hätte dann keine Stangen +finden können, die bis auf den Grund reichten, und die Fähre wäre +steuerlos mit der heftigen Strömung getrieben und in den Biegungen +mit solcher Wucht angeprallt, daß die Kisten vom Deck herabgeglitten +wären. Ein anderer Nachteil während einer früheren Jahreszeit wäre die +Hitze gewesen, und vor allem die Mücken, die noch im Herbst sehr lästig +waren. Wir hatten also die günstigste Jahreszeit gewählt. + +Der Jangi-darja oder Kötteklik-Arm hatte bloß noch 36,9 Kubikmeter +Wasser in der Sekunde; 22,7 Kubikmeter, die durch den Kona-darja nach +Maral-baschi gehen, hatten wir verloren. Sollte es uns gelingen, mit +der Fähre weiterzukommen, wenn sich der Fluß noch einmal teilte? + + + + +Fünftes Kapitel. + +Der verzauberte Wald. + + +Am 24. September machten wir eine lange, interessante Fahrt auf einem +neugebildeten Arme des Jarkent-darja. Wir brachen früh auf, nachdem wir +Abschied von Kasim-on-baschi genommen hatten, der jetzt nach Lailik +zurückkehrte und einen Teil des Lohnes der übrigen Leute mitnehmen +mußte. Diese Vorschüsse sollten an die Familien oder Eltern der Männer +abgeliefert werden. + +Schon am Anfang ist der Fluß sehr tief und schmal, kaum 20 Meter +breit, und die Breite verringert sich später noch mehr. Nun führte +uns das Wasser in einen schwierigen, ungemütlich schmalen Durchgang, +der mit Treibholz überfüllt war. Oft war der fahrbare Kanal so eng, +daß die Fähre beide Seiten streifte und mit größter Behutsamkeit +manövriert werden mußte, um ihr Anprallen zu verhüten, was bei der hier +herrschenden starken Strömung, die sehr oft schäumende Strudel bildete, +hätte kritisch werden können. Auf jeder Ecke stand ein Mann mit einer +langen Stange und hielt das Schiff von den Gestrüpphaufen ab, und Kasim +diente mit der kleinen Fähre als Lotse. Die Jolle hatten wir an Bord, +da sonst ein verräterisch lauerndes Treibholzstück ihr dünnes, sprödes +Segeltuchgewebe hätte zerfetzen können. Am schlimmsten war es, wenn wir +im schnellen Fahren zwischen zwei Treibholzhaufen sitzenblieben, ohne +daß wir die Katastrophe verhindern konnten. Da mußten wieder alle Mann +ins Wasser und schieben, brechen und beim gemeinschaftlichen Anfassen +singen und das vor uns liegende Fahrwasser untersuchen. + +Der Strom war zu einem unbedeutenden Flüßchen zusammengeschrumpft, +und es war Gefahr vorhanden, daß es uns nicht gelingen würde, alle +Hindernisse zu besiegen, die unserer sicher noch warteten, ehe wir den +Aksu-darja und den eigentlichen Tarim erreichten. An einigen Stellen +teilt sich der Fluß um wirkliche, bewachsene Inseln, und man zerbricht +sich den Kopf, ob einer der Arme trägt oder ob wir steckenbleiben und +die Fähre werden zurückschleppen müssen. + +Schließlich erweiterte sich der Fluß, und man hat eine ausgedehnte +Aussicht nach Nordosten, wo sich eine einsame hohe Düne, Karaul-dung +(Wachthügel), erhebt. Vor sich hat man ein großes Haff oder seeartige +Erweiterung des Flusses, der jedoch bald wieder schmal wird. Wir wählen +einen Arm rechts herum, waren aber noch nicht weit gekommen, als wir +uns auch schon oberhalb einer Stromschnelle mit nur 6 Zentimeter Wasser +gehörig festfuhren. + +Wir versuchten die Fähre zu schieben und zu schleppen, aber vergebens; +sie stand wie auf dem Grunde festgesogen. Alles schwere Gepäck wurde an +Land gebracht und Kisten und Proviant am Ufer aufgetürmt; dann schoben +wir mit vereinten Kräften, doch nur, um die Fähre noch tiefer in den +Lehm hineinzuschieben. Nun wurde der Bek beauftragt, aus dem in der +Nähe liegenden Aksak-maral Leute herbeizuschaffen. Einige seiner Diener +hatten uns den ganzen Tag am Ufer reitend begleitet, und der Bek konnte +sich also zu Pferd schleunigst nach dem Dorfe begeben. Er kam nach ein +paar Stunden mit 30 Leuten zurück, die aus allen Kräften zugriffen. Ich +ging mit gutem Beispiel voran, und unsere Bemühungen waren von Erfolg +gekrönt: die Fähre glitt ruckweise über die Stromschnellen, aber nur, +um eine Strecke weiter unten wieder unverbesserlich festzusitzen. + +Da standen wir nun wieder, und ich überlegte schon, ob dies der +gefürchtete Punkt wäre, an dem wir von unserem Heim Abschied nehmen +müßten. Was sollten wir dann anfangen? Die kleine Fähre reichte +nicht entfernt für das Gepäck aus, und von der Karawane waren wir +abgeschnitten. Es wäre uns wohl nichts weiter übriggeblieben, als eine +neue Schiffswerft anzulegen, Schreiner und Schmiede aus Aksak-maral +kommen zu lassen und eine neue, kleinere und leichtere Fähre zu bauen. +Doch ich zitterte vor dem Zeitverluste, da ich wußte, daß das Wasser +tagtäglich fiel, und der Gedanke, daß die stolze Tarimfahrt schon hier +vielleicht unterbrochen werden müßte, schmerzte mich. + +Nein! Wir +mußten+ über diese seichten Stellen hinweg, wo es keine +tieferen Stromfurchen gibt, wo das Wasser vielmehr über die ganze +Breite auf seichtem Grunde brodelt. Wir drehten die Fähre ein paarmal +im Kreise herum; hierdurch wurde der Tonboden so aufgelockert, daß wir +weiterschieben konnten und endlich über die Schnellen hinauskamen. + +[Illustration: 15. Kurze Rast in der Wüste. (S. 24.)] + +[Illustration: 16. Das Zelt meiner Leute in Lailik. (S. 26.)] + +[Illustration: 17. Transport der Fähre nach dem rechten Flußufer. (S. +27.)] + +[Illustration: 18. Bau der schwarzen Kajüte. (S. 28.)] + +Unterhalb dieser war es wenigstens so tief, daß die Fähre eine +gute Strecke weit trieb, bis wir die letzten und größten Schnellen +erreichten, deren Schwelle 20 Zentimeter hoch war und wo das Wasser +einen geradlinigen Katarakt von Ufer zu Ufer bildete. Hier betrug die +Tiefe überall wenigstens ½ Meter, und die Strömung war so reißend, +daß die Männer ein Kentern der Fähre befürchteten. Der Sicherheit +wegen wurde wieder das ganze Gepäck an Land getragen; ich blieb allein +an Bord, um mit in den schäumenden Wasserfall hinunterzugehen, was die +Leute für sehr bedenklich hielten, da sie glaubten, daß das Schiff in +den kochenden Wirbeln unterhalb des Falles umschlagen würde. Sie zogen +die Fähre bis an den Punkt, wo die Wassermasse sich über die Schwelle +wälzte, und ließen sie los, nachdem sie ihr die rechte Richtung +gegeben; sie glitt so artig wie nur möglich über die Schwelle. Als sie +mitten darüber schwebte, fiel die vordere Hälfte klatschend auf das +Wasser, während die hintere von dem nachdrückenden Wasser emporgehoben +wurde. Gleich unterhalb des Falles wurde Halt gemacht. + +Die Mücken waren am Abend eine schreckliche Plage. Sie traten in +ungeheuren Mengen auf, und vergebens versuchte man, sie sich vom Leibe +zu halten. Sie sind widerwärtige Quälgeister, besonders wenn man die +Hände voll Arbeit hat und halbnackt sein muß, um jeden Augenblick in +den Fluß springen zu können. Es scheint, als warteten sie nur darauf, +daß man komme, und man wundert sich, wovon sie leben, wenn man nicht da +ist. + +Am anderen Tage fing der Ostwind wieder an. Der Wind und die Mücken +sind unsere schlimmsten Feinde. Allen beiden konnten wir nicht +entgehen, denn wenn es abends still ist, so wird man von den Mücken +gepeinigt, und bleiben diese aus, so geschieht es, weil es windig +ist. Weht es aber, so wird die Drift der Fähre gehemmt, und wird es +gar zu toll, so müssen wir lange Zeit stilliegen und auf Windstille +warten. Wir sehnen uns jetzt nur nach dem Punkte hin, wo unser Flußarm +sich wieder mit dem Kona-darja vereinigt, wo wir mehr Wasser unter +die Fähren zu bekommen hoffen und Hirten an den Ufern wohnen. Längs +des neuen Armes fehlen die Menschen, denn er hat sich sein Bett durch +frühere Einöden gegraben. + +Schließlich wurde der Wind zu unangenehm, und wir wollten nicht länger +auf diese Weise mit uns scherzen lassen. In einer einladenden Gegend +auf dem rechten Ufer, wo einige alte Pappeln im Sande wuchsen, lagerten +wir, und ich beschloß, nicht eher weiterzugehen, als bis der gräßliche +Wind aufgehört hätte. Der Ort hieß +Kum-atschal+ und lag in der +Wildnis. Doch wir hatten genügende Vorräte, darunter vier Schafe, +Hühner, Gemüse usw., und Brot wurde jeden Morgen am Lande auf dem +Lagerfeuer gebacken. + +Eine Gans, die ursprünglich zum Proviant gehörte und bei Kasim auf +der Avisofähre hauste, machte allmählich Karriere und wurde ihres +tadellosen Betragens halber zur Schiffsgans ernannt. Sie war eine +klassische Erscheinung und watschelte frei auf der großen Fähre umher; +sie besuchte mich häufig im Zelte und war so zahm, daß sie kam, wenn +man sie rief. Nie machte sie einen Versuch, uns durchzubrennen, +obwohl sie eine gefangene Wildgans war, der man allerdings die Flügel +beschnitten hatte; bei den Lagerplätzen schwamm sie auf dem Flusse +umher, kehrte aber stets von selbst wieder nach ihrer Schlafstelle an +Bord zurück. Sie war lange bei uns; ich kann mich im Augenblick nicht +darauf besinnen, wo wir sie verloren, aber wir werden ihr im Laufe der +Erzählung wohl wieder begegnen. Vielleicht träumte sie dann und wann +von den Palmen und den Mangobäumen an den Ufern des Ganges, wenn sie +ihre freien Kameraden auf der Reise nach Indien über den Wald hinsausen +hörte. + +Als die Dämmerung kam, wurde die schwarze Kajüte eingeweiht und der +Abend dem Entwickeln der Platten gewidmet. Alle die kleinen Löcher, +durch die schwaches Licht eindrang, wurden verstopft und die Fenster +mit schwarzen Filzmatten verhängt. Zuber und Bottiche wurden mit klarem +Wasser aus einem See in der Nähe gefüllt und ein Licht im Zelte dicht +vor dem roten Fenster angezündet. Das Atelier war auf diese Weise +ausgezeichnet, und es gefiel mir darin so wohl, um so mehr als die +Platten gut ausfielen, daß ich beschloß, noch den folgenden Tag zu +bleiben und mit der Arbeit fortzufahren; wir konnten den Tag mit gutem +Gewissen opfern, denn der Wind wehte noch ebenso eigensinnig. + +Ich arbeitete bis 3 Uhr früh und war daher ein wenig verdrießlich, als +Islam mich am 27. September um 7 Uhr weckte. Als er mir aber mitteilte, +daß das Wetter ruhig und schön sei, sprang ich pfeilschnell auf und gab +Befehl, den Anker zu lichten. + +Hier wurde der Bek entlassen und zog mit seinen Leuten, die nun nicht +länger gebraucht wurden, sondern nur am Proviantvorrate zehren halfen, +wieder heim. Nur einer von ihnen, Muhammed Ahun, der ein Jäger (Pavan) +war und die Gegend gut kannte, fuhr mit uns weiter. + +In einer Kurve mit gewaltiger Strömung wurde die Fähre dicht an +das rechte Ufer getrieben, wo ein paar Meter davon im Flusse eine +absterbende Pappel stand und dem Brodeln des Wassers um ihren Stamm +herum lauschte. Wir wurden sie zu spät gewahr, und die Leute konnten +das Schiff nicht rechtzeitig abbringen; es rieb sich knirschend an +dem Stamme entlang, und die mächtigen Zweige hätten beinahe das +Zelt heruntergefegt, begnügten sich aber damit, nur ein Stück davon +abzureißen. Das meteorologische Häuschen schwebte einen Augenblick in +der größten Gefahr, doch gelang es mir noch, es zu retten. + +Endlich mündet von links das breite, jetzt trockene Bett des Kona-darja +ein, der von Maral-baschi kommt, aber nur im Hochsommer Wasser führt. + +Ist es windstill, so kann man an dem Muster und der Zeichnung der +Wasserringel sehen, wo die Strömung geht; doch wenn es wie heute +weht, so verschwindet diese wegweisende Zeichnung unter der leichten +Kräuselung der kleinen Wellen. Man fühlt sich ordentlich erleichtert, +wenn die Wassermasse des Flusses in einer einzigen Biegung strömt, man +ungehindert und ohne Anstrengung auf tiefem Wasser an der Jar(Ufer)wand +entlang gleitet und von Ufer und Wald geschützt wird. + +Im großen betrachtet geht der Jarkent-darja hier nach Nordosten, +bisweilen richtet sich sein Lauf aber nach Norden, Ostnordost oder +sogar nach Ostsüdost. Diese Strecken bilden die phantastische krumme +Linie von Biegungen und Windungen; in diesen Krümmungen schlängelt +sich noch dazu die Strömung von einem Ufer zum anderen, und alle diese +Verhältnisse tragen dazu bei, unseren Weg zu verlängern. + +Heute war keine Spur von Menschen oder Vieh an den Ufern zu sehen. Ein +Adler und einige Raben waren die einzigen Geschöpfe, die Leben in die +feierliche Stille des Waldes brachten. Dagegen sah man im Ufersande +frische Spuren von Wildschweinen und Rehen, die zum Trinken an den +Fluß gekommen waren. Die Hunde kamen heute auf die revolutionäre Idee, +ohne weiteres ins Wasser zu springen und an Land zu schwimmen. Sie +folgten dann aber der Fähre, indem sie treu am Ufer nebenherliefen und +gelegentlich Wildschweine oder andere Bewohner des Dschungels wütend +anbellten. Als sie dessen müde wurden, schwammen sie wieder nach der +Fähre zurück und wurden auf das Achterdeck hinaufgezogen. Dieses +Manöver, das der Besatzung viel Spaß machte, wiederholte sich von nun +an täglich. Anfänglich konnten die Hunde abgestorbene Pappelstämme +mitten im Flusse oder im Grunde steckengebliebene Treibholzstücke +durchaus nicht leiden. Sie legten den wütendsten Unwillen gegen diese +an den Tag und bellten sie unerbittlich an. Nach und nach gewöhnten sie +sich aber daran und ließen das Treibholz in Frieden. + +Die Mücken waren derart lästig, daß wir an einem bewaldeten Ufer nicht +lagern konnten, sondern Ufer mit Ak-kum (weißer Sand) aufsuchen mußten, +wo die Leute das Holz zum Lagerfeuer von weither zu holen hatten. Um +mich ein wenig vor den blutdürstigen Insekten zu schützen, rauchte ich +wie eine Lokomotive und schmierte mir das Gesicht mit Baumöl ein. + +Abends saß die ganze Besatzung auf dem flachen Ufer um ein Feuer von +Treibholz und debattierte lebhaft darüber, ob wir noch das Lop-Gebiet +erreichen würden, ehe der Fluß zufröre. Auch ich hätte dies gar zu gern +wissen mögen, doch ich hatte keine Zeit, mich darüber zu beunruhigen. +Wir mußten möglichst gleichen Schritt mit der jetzigen Wassermenge des +Flusses halten, so daß deren Abnahme während der Nächte und Rasttage +nicht zu großen Vorsprung gewann und uns das Wasser schließlich ganz +im Stiche ließ. Ich rechnete hauptsächlich auf den Wasserzuschuß des +Aksu-darja; kämen wir nur so weit, so würden wir uns schon weiter +helfen. + +28. September. So glitten wir denn Tag für Tag auf dem großen, ruhigen +Flusse dahin, und die Karte entwickelte sich nach und nach unter meinen +Augen. Die Wassertiefe wird an jedem Lagerplatze gemessen, und zwar der +Sicherheit halber nach zwei verschiedenen Methoden. Einerseits wurde +an einer geschützten ruhigen Stelle ohne Strömung eine Meßstange in +den Grund gestoßen, andererseits wurde eine solche in die lotrechte +Uferwand eingerammt, an deren äußerstem Ende ein Lot an einer mit +Teilung versehenen Leine, von der ich das Steigen oder Fallen des +Wassers direkt ablesen konnte, in den Fluß hinabhing. + +Noch waren die Ufer unbewohnt und still; doch sahen wir ein paar +Hirtenhütten (Söre), die gewöhnlich nur aus einem Dache auf vier +Stangen bestehen und mit Reisig und Zweigen bedeckt sind. Sie ließen +darauf schließen, daß die Gegend doch zu gewissen Zeiten von Menschen +aufgesucht wird, die wieder fortziehen, sobald die Weide knapp wird. + +Der Fluß verändert heute sein Aussehen nicht. Stattlich fließt er in +dem majestätischen Schweigen des Waldes in unbedeutendem Gefälle dahin +und hält sich meistens in einem einzigen Bette mit Tiefen, die bis zu +7 Meter betragen. Wir wurden daher nicht durch Festsitzen aufgehalten, +und lautlos und mit guter Geschwindigkeit glitt die Fähre auf ihrer +langen Reise durch Ostturkestan weiter. + +Schon vom vorigen Lagerplatze an sind die Ufer mit einem dichten, +prachtvollen Walde von alten, ehrwürdigen, knorrigen Pappeln besetzt, +deren grüne, verschlungene Kronen jetzt ins Rote und Gelbe zu +spielen beginnen; es ist, als kleideten sie sich zu einem lustigen +Herbstkarneval in bunte Gewänder. Die Leute von Lailik hatten nie +einen solchen Wald gesehen und machten ihrem Erstaunen und Entzücken +in lebhaften Ausrufen Luft. Sie nannten den Wald „Östäng-bag“, den +„Baumgarten am Kanale“, wie die bewässerten Parke und Haine der Oasen +gewöhnlich genannt werden. Sie hatten recht; es war ein Genuß für das +Auge, diesem farbenprächtigen Uferschmucke zu begegnen, und in dem +lautlosen Schweigen, das den ganzen Tag herrschte, konnte man glauben, +in einem Triumphwagen von unsichtbaren Nixen und Elfen auf einer Straße +von Saphiren und Kristall durch einen verzauberten Wald gezogen zu +werden. Es war so still, daß man kaum zu sprechen wagte, um nicht den +Zauberbann zu brechen. Feierlich standen die Pappeln in zahlreichen +Reihen, wie sie in vielen hundert Jahren die Ufer bekränzt; aufrecht +standen sie da wie Könige und spiegelten ihre Kronen aus falbem +Herbstgold in dem lebenspendenden Flusse, der Nährmutter der Wälder, +der Herden und Hirsche und des Königstigers, dem größten Gegensatze +des Wüstenmeeres. Da stehen sie in einer dunkeln Mauer, würdevoll +und still, als lauschten sie einer Hymne, die zwischen den Ufern zum +Lobe des Allmächtigen leise erklingt, einer Hymne, die auch Wanderer +und Reisende vernehmen können, wenn nur ihr Gemüt für die Größe der +Natur empfänglich ist. Die Pappeln stehen da, als hätten sie sich nur +deshalb hier aufgepflanzt, um dem merkwürdigen Flusse zu huldigen, ohne +den ganz Ostturkestan eine einzige ununterbrochene Wüste sein würde. +Sie huldigen dem Tarim in andächtiger Ehrfurcht, wie dem Ganges die +Brahminen und die altersschwachen Pilger huldigen, die nach Benares +eilen, nur um an den Ufern des heiligen Stromes zu sterben. + +Der Wald dehnt sich bis dicht an den Uferrand aus, aber den Erdwall +bedeckt dichtes gelbes Kamisch (Schilf) und über demselben bildet das +Buschholz ein ganz undurchdringliches Dickicht, wo nur Wildschweine +durch dunkle Gänge, in die nie ein Sonnenstrahl fällt, hindurchkommen +können. Zu oberst bildet der Wald eine grünende Mauer, die oft so dicht +ist, daß die Stämme nur selten durch das Laubwerk schimmern. Die Kronen +sind wie mit Sepia gepudert in Farbentönen, die schreiend wären, wenn +die unklare Luft sie nicht dämpfte. Doch so wie es jetzt ist, bilden +sie einen dem Auge angenehmen Farbenübergang zu dem blaugrauen Gewölbe +des Himmels. All diese Pracht der Natur und der Farben wiederholt sich +auf beiden Seiten und spiegelt sich im Wasser wider, und dennoch kann +man sich nicht satt daran sehen. + +Nur an den konvexen Ufern, wo das Hochwasser flache Sand- und +Schlammanschwemmungen abgelagert hat, tritt der Wald zurück; an dem +konkaven Ufer streichen wir unter den Pappeln hin, die sich nicht +selten über den Fluß lehnen, und wie in einem Parke gleitet die Fähre +unter laubreichen Gewölben in kühlem Schatten vorwärts. Es ist, als +streckten die Waldgötter Friedenszweige über unser Schiff aus und +segneten seine wunderbare Reise -- denn eine Reise auf dem Wasser quer +durch Ostturkestans Sandwüsten ist ohne Zweifel wunderbar; niemand +hätte wohl geglaubt, daß man das innerste Asien zu Schiff durchkreuzen +könnte. + +So gleiten wir Stunde um Stunde auf dem Spiegel des dunkeln Flusses +weiter durch den schlafenden Wald, auf einer venezianischen Straße, wo +die Paläste in Bäume verwandelt sind und die Kais aus goldig glänzendem +Schilfe bestehen. Der Ruder bedarf es hier nicht; die Strömung selbst +sorgt für unser Weiterkommen, und die Gondoliere schlafen der Reihe +nach auf ihrem Posten, doch stets die Stange fest in der Hand. Alles +ist so still, und unbewußt wird man von der Märchenstimmung beeinflußt. +Man erwartet beinahe, Waldnymphen den ungestörten Frieden benutzen +zu sehen, um, auf Pappelzweigen schaukelnd, ihren Spiegelbildern im +Wasser zuzunicken, und man würde sich nicht wundern, wenn tief im Walde +plötzlich ein Hirtengott auf der Flöte zu blasen anheben würde. + +Doch wie schweigend wir auch dahingetragen werden, wir überraschen doch +keine Gestalten aus der Märchenwelt. Nur dann und wann werden von einem +leichten Windhauch vertrocknete Blätter von einer überhängenden Pappel +losgerissen, um vom Wasser nach Osten weitergetragen und vernichtet +zu werden. Es sind die Waldgötter, die unseren Weg bestreuen, wie die +Hindus dem Ganges Opfergaben von gelben Blumen darbieten; es sind die +Pappeln, die bald sterbend im Winterschlafe erstarren und vorher dem +Tarim, der ihnen die Nahrung für ihr Sommerleben geschenkt, einen Teil +des Geschenkes zurückgeben wollen; man muß dabei an die verachtete +Kaste der Leichenverbrenner denken, welche die Asche der Toten in den +heiligen Ganges streut. + +Unsere Wasserstraße war unglaublich krumm. In einer Biegung mußten wir, +um 180 Meter in unserer Hauptrichtung nach Nordosten zurückzulegen, +einen Weg von 1450 Meter machen, wobei wir einen Kreis beschrieben, +an dessen Vollständigkeit nur ein Neuntel der Peripherie fehlte. Bald +gehen wir nach Nordosten, bald nach Südwesten und verlieren wieder, +was wir eben gewonnen haben. Nur äußerst selten streckt sich der Fluß +eine kleine Strecke weit gerade aus, meistens windet er sich wie +eine Schlange im Grase. Diese zahlreichen Krümmungen machen, daß ich +unausgesetzt die Angaben des Kompasses aufzeichnen und die Tausende von +kleinen Stückchen des Laufes auf der Karte eintragen muß, damit diese +absolut zuverlässig werde. + +Gegen Abend hatten die Mücken, wie gewöhnlich, Ball und Souper; ich +wehrte mich, so gut ich konnte, mit dem Baumöle, die Besatzung aber, +die stets nacktbeinig ging, wurde arg gepeinigt. Unaufhörlich ertönten +Klatsche, die anzeigten, daß eine Mücke auf irgendeinem nackten +Teile des Körpers plattgeschlagen wurde, und man konnte die Ausrufe +„Annangnißke“, „Kissingnißke“ oder „Kaper“ hören, alles Worte, die +durch Nichtübersetzung bedeutend gewinnen. + +Als wir bei +Jallgus-jiggde+ lagerten, wurde am Ufer um das Feuer +herum Kriegsrat gehalten. Muhammed Ahun, der Jäger, der allein von uns +die Gegend kannte, meinte, der Fluß werde in zwei Monaten zufrieren. +Wir beschlossen, um noch mehr Zeit zu ersparen, morgens, sobald es hell +würde, aufzubrechen, alle Mahlzeiten, das Abendessen ausgenommen, an +Bord einzunehmen und auch das Brot morgens auf dem Achterdeckherde zu +backen. Die Männer von Lailik waren mit warmen Tschapanen, Pelzen und +Stiefeln schlecht versehen; daher wollten wir ihnen in Masar-alldi oder +Awwat besorgen, was sie noch brauchten. + +Der Jäger teilte uns mit, daß 3 oder 4 Kilometer rechts vom +Jarkent-darja das trockene Flußbett Chorem liege, dasselbe, in welchem +ich 1895 Süßwassertümpel gefunden hatte. Im Südosten dieses Bettes +dehnt sich das unabsehbare Wüstenmeer aus. + +Die Flußmessung ergab 28,6 Kubikmeter Wasser; wir können mit der +Wassermasse nicht gleichen Schritt halten, sie überholt uns nachts, und +wir bleiben hinter ihr zurück. Führen wir ununterbrochen Tag und Nacht, +so würden wir theoretisch stets dieselbe Wassermenge haben, wenn nicht +die Verdunstung und das Einsickern in den Boden für das Verlorengehen +eines guten Teiles derselben sorgten. + +29. September. Jetzt gab es nachts viel Tau; schon gleich nach +Sonnenuntergang begann er zu fallen, und morgens war das Vorderdeck so +naß wie nach einem Regen. + +Der Morgen sah vielversprechend aus; der Fluß machte nicht so +tolle Krümmungen wie gewöhnlich, und die Luft war ganz still. Aber +diese vorteilhaften Umstände veränderten sich um die Mittagszeit +völlig, da eine frische Brise einsetzte und der Flußlauf sich wieder +außerordentlich schlängelte. In Biegungen, wo die Erosion des Wassers +am größten ist, betrug die Tiefe mehrmals bis zu 9 Meter, und da hier +an der Oberfläche Gegenströmung herrscht, kam es ein paarmal vor, daß +wir ganz einfach in diesen Föll oder Bulung liegen blieben. Unter +gewöhnlichen Verhältnissen geht die Fähre infolge ihrer Geschwindigkeit +darüber hinweg, bei Gegenwind aber kann sie es nicht, und dann bleibt +weiter nichts übrig, als einige Leute an Land zu schicken, um uns mit +einem Tau loszuschleppen oder uns mit der Jolle zu bugsieren. + +Bei +Tusluk-kasch+ passierten wir ein Hirtenlager und erstanden +für 48 Tenge (9 Mark) ein Schaf. Diese Hirten wohnen wie auf einer +Insel, die von einer gewaltigen Krümmung gebildet wird, der zu +einem vollständigen Kreise nur ein Zwölftel Peripherie fehlt. Die +Flußwindungen sind schuld daran, daß der von uns zurückgelegte Weg +über doppelt so lang wird als die Luftlinie. Heute rückten wir +nur 8,36 Kilometer vor, trieben aber 19,38 Kilometer bei einer +Durchschnittsgeschwindigkeit von 38 Meter in der Minute. + +Infolge der verminderten Schnelligkeit und der größeren Tiefen nimmt +das Wasser an Klarheit zu. Um die Durchsichtigkeit zu bestimmen, +konstruierte ich ein sehr einfaches Instrument, das aus einer runden, +glänzenden Metallscheibe und einem senkrecht daran befestigten, mit +Teilung versehenen Arme bestand. Die Tiefe, in welcher die Scheibe +unter dem Wasser noch deutlich unterschieden wurde, ließ sich an dem +Arme direkt ablesen. + +Wie langsam es auch ging, stets war es ein großer Genuß, wie auf der +Veranda einer Sommerfrische vom größten Komfort umgeben zu sitzen +und sich die Landschaft entgegenkommen zu lassen. Doch nicht einen +Augenblick durfte ich meinen Posten verlassen, um mir die Beine zu +vertreten. Selten dauerte eine Richtung länger als 10 Minuten; die +gewöhnliche Pause zwischen den Kursänderungen betrug 2 oder 3 Minuten, +und man mußte immer mit dem Kompasse folgen. Ich war in diesem Teile +des Jarkent-darja so an den Beobachtungstisch gefesselt, daß wir um +1 Uhr, wenn die meteorologische Ablesungsreihe aufgezeichnet werden +sollte, eine Weile am Ufer anlegen mußten. Neben mir lag eine Kladde, +worin die Aufzeichnungen des Tages mit Bleistift notiert wurden, +um abends, nachdem wir Lager geschlagen, mit Tinte in das Tagebuch +eingetragen zu werden. In den ärgsten Krümmungen folgten die Peilungen +so dicht aufeinander, daß ich mir kaum dazwischen eine Zigarette +anzünden oder sie, wenn sie ausgegangen, wieder anstecken konnte, und +das Teegeschirr, das Islam eben gebracht, mußte auf seiner Kiste so +lange auf mich warten, bis das erquickende Getränk kalt geworden war. + +Die Karte aber wurde hübsch, und es machte mir großes Vergnügen, +daran zu arbeiten. Sie ist in so großem Maßstabe angelegt, daß alle +Einzelheiten hervortreten: die Linie, welche die Drift der Fähre +bezeichnet, ist in den Wasserweg eingetragen, so daß man sieht, wo wir +am rechten oder linken Ufer entlang gefahren sind, wo wir mitten auf +dem Flusse getrieben und wo wir ihn gekreuzt haben. Die markierten +Jarufer, die der größten Erosion (die Grunderosion ist gleich Null oder +wird von der Sedimentablagerung ausgeglichen) ausgesetzt sind, sind mit +scharfgezeichneten schwarzen Linien angegeben, die Alluvialhalbinseln +treten als weiße Halbmonde hervor, Holme, Bänke und kleine Wasserarme, +alles ist angegeben. Pappelwald wird mit kleinen Kreisen bezeichnet, +Kamisch mit kleinen Pfeilspitzen, Gebüsche und Dickichte mit Punkten, +Tamarisken mit Widerhaken, Sanddünen mit schrägen Schraffen. Wo die +Ufer, wie heute, lichten Wald tragen, ist jede Pappel auf der Karte +eingetragen; ich würde bei einem neuen Besuche jeden einzelnen Baum wie +einen alten Bekannten, einen Freund aus einer glücklichen, angenehmen +Zeit, wiedererkennen können! + +Das heutige Lager hieß +Kijik-tele-tschöll+ (Einöde des +Antilopen-Weidenbaumes). Hier gab es keine Hirten, doch schwaches +Hundegebell verkündete, daß sie nicht besonders weit sein können. Die +Wassermenge betrug 27,8 Kubikmeter. + +[Illustration: 19. Die Werft. (S. 28.)] + +[Illustration: 20. Tänzerinnen und Musikanten beim Abschiedsfest in +Lailik. (S. 30.)] + +[Illustration: 21. Frauen und Kinder unserer Bootsleute auf dem Wege +zur Fähre. (S. 33.)] + +[Illustration: 22. Die Fähre auf dem Jarkent-darja. (S. 36.)] + +Während der Nacht auf den 30. September fiel das Wasser wieder um 2,1 +Zentimeter; daher los vom Ufer in der kalten Morgenluft und weiter +den Fluß hinunter, nach Osten hin! Heute trat endlich unser alter +Masar-tag aus der ein wenig klarer werdenden Luft hervor und war leicht +erkennbar; sein höchster Gipfel war in ungefähr Nordosten zu sehen. +Der Berg trat nur in schwachen Umrissen hervor, die jedoch im Laufe +des Tages deutlicher wurden, so daß man schließlich Schluchten und +Vorsprünge und die braunrote Farbe unterschied. Nachdem der Masar-tag +seinen Platz in der Landschaft eingenommen, brachte er auch einige +Abwechslung hinein und bildete das Thema des Tagesgesprächs. Man +zerbrach sich den Kopf darüber, wie weit es bis dahin sein könnte, +ob wir ihn noch vor Abend oder, wie ich vermutete, erst in ein paar +Tagen erreichen würden. Eine lange Strecke hatten wir den Berg gerade +vor uns, darauf rechts und dann links von der Fähre; am tollsten aber +war es, als wir ihn hinter dem Achter hatten und uns wieder von ihm +entfernten. Erst wenn man eine derartige Landmarke hat, die alles +andere überragt, wird einem ganz klar, wie sich der Fluß schlängelt. + +Das Terrain wird öder; der Wald hat aufgehört, und auf beiden Seiten +des Flusses dehnt sich Gras- und Kamischsteppe aus, wo nur selten eine +junge Pappel ihre Krone über verschmähten Weideplätzen erhebt. Unsere +Jäger nehmen Spuren von Hirschen und anderen wilden Tieren wahr. Islam +Bai brandschatzte selten anderes Wild als wilde Gänse und Enten; es +war zwar sein Ehrgeiz, einmal einen Hirsch zu schießen, doch gelang es +ihm nie. Er war alt geworden; auf der vorigen Reise hatte er besseres +Jagdglück gehabt. Was mich betrifft, so habe ich nicht einmal das Leben +einer Krähe auf meinem Gewissen. Ich feuerte auf der ganzen Reise +keinen Schuß ab, und der geladene Revolver, den ich für einen etwaigen +Überfall immer bei der Hand hatte haben wollen, lag tief unten in einer +meiner Kisten verpackt; in welcher, wußte ich gewöhnlich nicht. + +Der Kasim der Avisofähre entdeckte auf einem öden Ufer ein verlassenes, +verirrtes Lamm, das wir an Bord nahmen, um es dem ersten besten Hirten +zu übergeben; es hätte sonst gewiß nicht lange auf den Wolf zu warten +brauchen. + +Der Ostwind tat uns gelegentlich großen Abbruch, aber die Krümmungen +waren nicht ganz so unberechenbar wie gestern. Ein eigentümlicher +Zug an dem Bau des Flußbettes war, daß die Jarwände des Ufers viel +auffallender waren als bisher und sich 4 und 5 Meter über die +Wasserfläche erhoben. Sechs Meter lange Stangen erreichten meistens +den Grund nicht, und um die Tiefe zu messen, mußten wir zwei +zusammenbinden. Bisweilen waren beide Ufer gleich hoch, ohne eine Spur +von Anschwemmungen; dies war natürlich nur an geraden Stellen der Fall. +Wir glitten dann wie in einem Korridor dahin, vor dem Winde geschützt, +aber ohne viel von der umgebenden Landschaft zu sehen. + +Die mittlere Geschwindigkeit dieses Tages war 35 Meter in der Minute +und bei dem in namenloser Gegend gelegenen Lager Nr. 12 betrug die +Wassermenge genau 25 Kubikmeter, 2,8 Kubikmeter weniger als zuletzt. In +der Luftlinie hatten wir 11,2 Kilometer, in Wirklichkeit 18,2 Kilometer +zurückgelegt, ein viel günstigeres Verhältnis als gestern. + +Mit jedem Tage wuchs die Spannung, ob wir, ehe der Fluß sich mit Eis +bedeckte und uns in seinen unerbittlichen Banden finge, ans Ziel +gelangen würden oder nicht. + + + + +Sechstes Kapitel. + +Vierzig Kilometer zu Fuß. + + +In der Nacht auf den 1. Oktober fiel das Wasser noch um 1,7 Zentimeter. +Im Norden zeigten sich schwache Umrisse, die man für aufsteigenden +Nebel hätte halten können, wenn ihr gezähnter Rand nicht die Bergkette +des Tien-schan angekündigt hätte. Der Masar-tag stand immer deutlicher +vor uns; seine Lichter und Schatten und sein ganzer Bau zeichneten sich +mit jeder Stunde schärfer ab. Ich saß bequem an meinem Schreibtische +und trug den Gebirgsstock auf der Karte ein, wobei die kulminierenden, +leicht erkennbaren Spitzen mit römischen Ziffern bezeichnet wurden. + +Jetzt sind wir dicht bei dem nächsten Ausläufer des Berges, der auf +dem Ufer selbst steht, so daß sein Fuß vom Wasser bespült wird. +Dieser ungewöhnliche Anblick brachte eine angenehme Abwechslung in +die Landschaft. Man hätte erwarten sollen, hier am Fuße der Felsen +Schnellen und Fälle zu finden, doch es gab hier keine; der Fluß floß +ebenso ruhig wie gewöhnlich dahin und machte nur einen Bogen nach +Südosten, um dem Berge auszuweichen und dessen südliche Basis zu +umgehen. + +Wir biegen längs des Berges um. Am Ufer erscheinen Hütten und Menschen, +auf einem Abhange vier Gumbes (Mausoleen), ein alter Guristan +(Begräbnisplatz). Bei den Hütten von +Kurruk-asste+ machten wir +Halt (Abb. 28). + +Der Begräbnisplatz, der auch ein heiliger Masar war, hieß +Hasrett +Ali Masar+, welcher Name auch zur Bezeichnung des ganzen Berges +dient. Der trockene Flußarm, der unmittelbar unter dem Masar hinläuft, +ist derselbe Kodai-darja, den ich 1895 besuchte. Seit zehn Tagen lag +das Bett trocken, raubte uns also kein Wasser mehr; doch von Mitte Juli +bis zum 20. September hat es als Abfluß für einen Teil des Wassers des +Jarkent-darja gedient, welches aber zum großen Schaden mehrerer Dörfer +am Wege nach Aksu, die von diesem Arme ihr Berieselungswasser erhalten, +viel weniger war als sonst. + +Der Fluß zeigt also hier, wie sehr oft während seines Laufes, eine +Tendenz, nach rechts überzufließen. Um diesem für das nächste Jahr +vorzubeugen und die Ernte zu retten, hatte der chinesische Amban +(Distriktsvorsteher) von Maral-baschi befohlen, quer über das Bett des +Jarkent-darja einen Damm zu bauen, um das Wasser in den Kodai-darja +abzuleiten. Fünf Mann lagen nun in Kurruk-asste, um ein Depot von +1000 Balken und Stämmen, die aus dem nächsten Walde auf Arben hierher +gebracht worden waren, zu bewachen, und sobald der Fluß genügend +gefallen war, sollten Leute aus der ganzen Gegend aufgeboten und der +Damm gebaut werden. Zu unserem Glücke konnte die Arbeit erst nach einem +Monat beginnen. Es mußte uns also gelingen können, einen so großen +Vorsprung zu gewinnen, daß die Absperrung des Jarkent-darja auf unsere +Reise nicht mehr einwirken konnte. + +Wir beschlossen, in Kurruk-asste wenigstens einen Tag zu bleiben und +der On-baschi des Ortes wurde beauftragt, sich sofort nach dem Basar +von Tumschuk zu begeben, um dort Pelze und Stiefel für die Leute aus +Lailik zu kaufen. Er sollte uns auch einen Vorrat von Reis, Mehl und +Gemüse besorgen und am Abend des nächsten Tages wieder hier sein. +Leider konnte keiner der Unseren ihn begleiten, da es in der ganzen +Gegend nur ein Pferd gab, ich verließ mich aber auf den Mann und gab +ihm Geld zu den Einkäufen. + +Nachdem ich bis morgens 3 Uhr Platten entwickelt und dann ordentlich +ausgeschlafen hatte, wurde der Tag zu dem sehr notwendigen Ausruhen +bestimmt. Im allgemeinen hatte ich während der Flußreise einen +sechzehnstündigen Arbeitstag, und von dem ständigen Stillsitzen +am Tische tat mir oft der Rücken weh. Schön war es daher, während +des Rasttages eine Fußwanderung zu machen (Abb. 26) und das +Hasrett-Ali-Masar-Gebirge zu ersteigen, um von einer seiner Höhen +herab die Gegend ringsumher zu betrachten: die unendliche Steppe, die +gelbe Wüste mit ihren hohen, unheimlichen Dünenwellen, die auch hier +Takla-makan genannt wird, den sich schlängelnden Fluß, der von meinem +hohen Aussichtspunkte aussah wie ein Graben oder ein feines blaues +glänzendes Band durch die Steppe. + +In der Dämmerung wurde eine Flußmessung vorgenommen, die das glänzende +Resultat ergab, daß wir jetzt 53,7 Kubikmeter Wasser in der Sekunde +unter unserer Flottille hatten, also mehr als doppelt soviel wie bei +der letzten Messung. Wir verdankten diesen reichlichen Zuschuß den +beiden Armen des Jarkent-darja oberhalb Kurruk-asste, die aus einigen +von dem Überschußwasser von Maral-baschi gespeisten Seen kommen. + +Auch spät am Abend ließ der On-baschi nichts von sich hören, und uns +begann der Gedanke aufzusteigen, ob er am Ende nicht mit dem Gelde +durchgebrannt wäre; wir konnten ihn in diesem Falle nicht verfolgen, +da wir keine Pferde hatten. Er kam auch am nächsten Tage nicht wieder, +und wir mußten warten. Die aufgezwungene Ruhe hatte den Vorteil, daß +ich noch einen Ausflug machen konnte, diesmal nach Nordwesten auf dem +linken Ufer des Flusses. + +Ich begab mich nach den obenerwähnten Armen, um zu sehen, wie unser +Kasim Fische fing. Am Fangplatze vereinigen sich drei Abflüsse +des unmittelbar oberhalb der Stelle liegenden Sees Schor-köll, +den ebenfalls der Überschuß des Wassers von Maral-baschi speist. +Der Schor-köll ist ein Steppensee oder, wenn man so will, ein +Sumpfgewässer; man kann nicht an seine Ufer gelangen, denn in dem +weichen, nassen Boden, in dem Kamisch und Gras üppig gedeihen, würde +man versinken. In diesem zersplitterten, unregelmäßigen See mit seinen +Tausenden von Ausläufern, Buchten, Inseln und Landzungen bleibt +das Wasser stehen und klärt sich; daher ist es in den beiden Armen +kristallklar und blau. + +Die Fische, Asmane, stehen hauptsächlich in dem Strudel unterhalb des +Falles, in welchem sich das Wasser des östlichsten Armes am Fischplatze +hinabstürzt, zeigen sich aber oft über dem Wasser, wo sie sich mit +einer geschickten, elastischen Bewegung den Fall hinaufzuschnellen +versuchen, gerade wie der Lachs bei uns. Sie werden mit einem Geräte +gefangen, das einer Fischgabel gleicht und aus einem 5 Meter langen, +feinen, geschmeidigen Speere oder einer Gerte (Sapp) besteht, die +unten von zähem Tamarisken-, oben von biegsamem Weidenholz ist. Da, wo +der untere Teil endet, sitzen die beiden Haken (Satschkak) mit nach +unten gerichteten Spitzen und nach aufwärts gekehrten Widerhaken so am +Schaft, daß sie leicht von ihm abspringen können, wenn sie treffen. +Doch hängen sie noch mittelst einer 50 Zentimeter langen, starken +Schnur an dem oberen Teile der Gerte. + +Kasim fing innerhalb einer Minute zwei gewaltige Asmane und dann noch +eine ganze Menge. Er stand am Rande des Wassers, hielt das Fanggerät +wie ein Speerwerfer und schnellte, sobald er einen Fisch erblickte, +die Fischgabel, daß sie durch das Wasser pfiff (Abb. 27). Man sah +den Speerschaft zittern, es spritzte und wirbelte im Schaume, und im +nächsten Augenblick zog er einen zappelnden Asman ans Ufer, ein großes +Ding, das am Ende der Gerte baumelte, als wäre es dorthin gezaubert +(Abb. 29). + +Wir besuchten dann eine in der Nähe liegende Sattma (Hirtenhütte), die +aus Stangen und Kamisch erbaut war und ein luftiges Zimmer mit offener +Veranda bildete. Hier wohnten zwei Frauen mit sechs Kindern. Sie +empfingen uns ohne Furcht und setzten uns ganz vorzügliche saure Milch +vor. Im Sommer wohnen sie hier, um Vieh, das mehreren Leuten aus der +Gegend gehört, zu hüten; im Winter halten sie sich auf dem rechten Ufer +auf, wo sie besser gebaute Häuser und Höfe haben. + +Spät am Abend kam endlich der On-baschi angeritten und brachte alle +ihm aufgetragenen Sachen mit. Er besorgte uns auch einen neuen Führer, +einen Jäger, der sein Gewehr mitbrachte. + +4. Oktober. Während der Nacht herrschte heftiger Wind; es knackte in +den Zeltstangen, und das Tauwerk schlug gegen das Deck. Der Tag wurde +auch unangenehm durch den hemmenden Ostnordostwind, der so stark +war, daß sich die Oberfläche des Flusses zu weißschäumenden Wellen +kräuselte, die da, wo sie die Strömung trafen, kurz und abgeschnitten +waren. Hierdurch wurde das Lotsen erschwert, da man nicht sehen konnte, +wo die Strömung ging. Die Wellen plätschern und schlagen melodisch +an den Vordersteven der Fähre; aber ihr klangvoller Gesang ist +verräterisch und hält uns zurück; sie sind feindlich gesinnt und wollen +unser Vorwärtskommen hindern. Das Zelt wirkte wie ein Segel, das die +Fähre unaufhörlich nach der Leeseite hinüberdrängte, und wurde daher +abgenommen, nachdem alle losen Gegenstände, die bei mir umherlagen, +eingepackt worden waren. Nur im Schutze der Ufer war die Fahrt normal; +sonst ging es nur langsam, was unsere Geduld sehr auf die Probe +stellte. Wenn es wenigstens einmal einen Tag aus Westen wehen wollte, +daß wir günstigen Wind hätten; aber immer hatten wir Gegenwind! + +Auch heute wurde ein Bogen gemacht, der sich einem Kreise näherte. Wir +hörten im Walde unweit des Ufers hellen, wohlklingenden Hirtengesang; +doch als wir nach Norden abbogen, verhallte der Gesang in der Ferne. +Dann machte der Fluß einen neuen Bogen, der Gesang wurde wieder +deutlicher und ertönte schließlich ganz dicht bei uns. Der Hirt hatte +seinen Platz nicht verlassen; er saß im Walde und hütete seine Schafe, +die zwischen den Bäumen weideten, aber der Fluß hatte eine Schlinge +beschrieben, um uns noch einmal dem lebensfrohen Sange lauschen zu +lassen. + +Im Osten tauchen jetzt neue, isolierte Berge über dem Horizont auf: +der Tschokka-tag und der Tusluk-tag, von denen aus ich 1895 die +unglückliche Wüstenreise angetreten hatte. Der See, an dem wir damals +rasteten, trägt den Namen Jugan-balik-köll (der große Fischsee) und +erhält sein Wasser von Armen, die vom rechten Ufer des Jarkent-darja +ausgehen. Der See ist, wie der Name angibt, reich an Fischen, und +im Frühling begeben sich daher Männer aus Tscharwak und Masar-alldi +dorthin, um an dem Fange zu verdienen. Sie benutzen aus Pappelstämmen +ausgehöhlte Kanus, die, wenn sie nicht gebraucht werden, im Schilfe +versteckt liegen. Andere Dorfleute treiben Handel mit Steinsalz vom +Tusluk-tag (Salzberg). Die Salzstücke werden auf Arben befördert, doch +nur im Winter, wenn das Eis eine bequeme Brücke über den Fluß schlägt. + +Bei +Jugan-balik+ kommt der Königstiger häufig vor und hat in den +letzten Jahren an Zahl zugenommen. Dieses Jahr hatte er fünf Pferde +und viele Schafe geraubt, doch scheut er die Menschen und wagt deshalb +nicht, in die Hürden einzubrechen. + +Der Abend war windstill und schön, und wir segelten weiter, bis die +einbrechende Dunkelheit es unmöglich machte, die Konturen der Ufer noch +länger zu unterscheiden. Die Luft war außerordentlich mild infolge des +feinen Staubes, den der Wind mitgeführt und der nun wie ein Schleier +über der Erde ruhte, die Ausstrahlung abschwächend und sogar im Zenith +alle Sterne verdeckend. + +Am 5. Oktober näherten wir uns dem Tschokka-tag, aber sehr langsam, +denn der Fluß machte wieder die eigentümlichsten Krümmungen. Zartes +Jungholz begleitet in schmalen Gürteln beide Ufer, sonst dehnen +sich, soweit das Auge reicht, überall gelbwerdende Kamischfelder +aus. Der Wind, der die Weglänge gewöhnlich um ein Drittel verkürzt, +fuhr unermüdlich fort, durch das Schilf zu sausen, aber auf meiner +Kommandobrücke, wo er beinahe einer frischen Seebrise glich, war es +herrlich. + +An unserem Rastorte in +Sorun+ trösteten uns einige Hirten (Abb. +30) damit, daß der nächste Neumond Windstille bringen werde, denn dies +pflege alljährlich der Fall zu sein. Da jedoch der Wind bis spät abends +anhielt, beschloß ich, zu bleiben, wo wir waren und einen Ausflug nach +dem Tschokka-tag und dem Sorunsee, der sein Wasser vom Jarkent-darja +erhält, zu machen. Wenn der Spiegel des Flusses höher als die Seen +liegt, so strömt diesen Wasser zu; ist der Fluß aber auf ein bestimmtes +Niveau gefallen, dann kehrt das Wasser aus den Seen wieder in den Fluß +zurück; in beiden Fällen geht es durch dieselben Kanäle. Noch war der +Jarkent-darja so hoch, daß er bedenklich gebrandschatzt wurde, und er +hatte von den 53,7 Kubikmetern, die uns bei Kurruk-asste so willkommen +gewesen waren, jetzt nur noch 28 Kubikmeter behalten. + +Es war klug, daß wir blieben, denn am 6. Oktober herrschte ein +wirklicher Sarik-buran, und die Luft war so mit Staub gesättigt, daß +der ganz nahegelegene Tschokka-tag sich nur noch eben wie eine graue +Scheibe mit überall gleichem Farbentone abzeichnete. Ich machte eine +Fußwanderung nach dem Tusluk-tag und erklomm ein paar seiner Gipfel, um +mich zu orientieren. Es ist derselbe Gebirgsstock, an dessen nördlichem +Fuße wir 1895 entlang zogen, ohne den Sorun-köll zu sehen, der sich +jetzt wie eine Karte unter mir ausbreitete. + +Die Aussicht über Berge und Seen war so einladend und verlockend, +daß ich diese für mich so erinnerungsreiche Gegend, die ich wohl nie +wiedersehen würde, gründlicher zu erforschen beschloß. Ich entschied +mich deshalb dafür, auch noch den 7. Oktober zu bleiben. Und dabei +sollten wir uns doch beeilen, um nicht festzufrieren. + +Es wehte auch vormittags gerade genug, um die Flußreise schwer, +eine Segelfahrt in der kleinen Jolle über die Seen aber herrlich zu +machen. Da es jedoch zum Zurückrudern zu weit werden würde, schickte +ich morgens einen Mann mit Ochsen und Arba nach dem Ostufer des +Sees, um aufzupassen, wo wir landen würden, und das Boot nach Hause +zu befördern. Auf dieselbe Weise wurde das Boot nach dem Seeufer +transportiert, doch da das Fahrzeug länglich rund war und der Seeboden +aus Morast bestand, mußte es, um ungehindert schwimmen zu können, ein +gutes Ende ins Wasser hinausgetragen werden. Als dies geschehen, kam +die Reihe an mich, der von Naser Ahun getragen wurde; hinterdrein +patschte Islam barfuß, indem er beinahe im Schlamme steckenblieb; er +sollte auch mit. Nun wurde das Boot getakelt und alles Mitgenommene +geordnet. Ich hatte auf dieser Fahrt mit gar vielem zu tun: zunächst +mit Segel und Steuerruder, dann mit dem Kompasse, dem Kartenblatte +und der Uhr, vom Fernrohr, dem Thermometer, der Pfeife und dem +Tabaksbeutel gar nicht zu reden, alles Dinge, die einigermaßen freie +Hände erfordern. Es ging gut; der Wind war so günstig und gleichmäßig, +daß wir das Segel festmachen konnten und das Steuerruder nur hin und +wieder einen Puff zu erhalten brauchte. Die für die Kartenarbeit +nötigen Instrumente lagen auf einem improvisierten Tische vor meinem +Sitze, und als wir einmal in Fahrt gekommen waren, hatte ich reichlich +Zeit, die Pfeife zu stopfen, wenn es nötig war. Islam, der vorn seinen +Platz hatte, besorgte das Loten und den Geschwindigkeitsmesser, den ich +jedoch jedesmal selbst ablesen mußte. Die Tiefen waren so unbedeutend, +daß das zweite, 2,1 Meter lange, mit Einteilung versehene Ruder überall +ausreichte. Um von den Ansprüchen des Magens unabhängig zu sein, hatten +wir eine gebratene Gans, Brot und Eier mitgenommen. + +Als alles bereit war, wurde das Boot losgelassen und glitt, von +der frischen Brise geführt, gemächlich durch das sich allmählich +lichtende Schilf, bis wir bald offene Wasserflächen erreichten. Es ging +genügend rasch über diesen von Norden nach Süden gezogenen, seichten, +schilfreichen See. Wir kamen überall bequem vorwärts; die Wasserflächen +hingen in einer Kette zusammen, und es war eine Freude, so am Schilf +vorbeizustreichen, daß das Boot nur die äußersten Stengel streifte. Das +Seewasser ist ganz süß und so klar, daß der Grund mit seinen Algen und +verrottenden Kamischstengeln überall sichtbar ist. Die größte Tiefe war +genau 2 Meter; tiefere Stellen gab es wahrscheinlich nicht, denn wir +hielten uns meistens in der Mitte des Sees. Die seichtesten Stellen +waren leicht an dem gelben Farbenspiele der Wasserfläche erkennbar, und +oft dienten uns absterbende, überschwemmte Tamarisken als Baken. + +[Illustration: 23. Der Verfasser an seinem Arbeitstisch an Bord der +Fähre. (S. 33.)] + +[Illustration: 24. Lager am Strand. (S. 37.)] + +Einen schönen Anblick gewährte eine Schar von vierzehn schneeweißen +Schwänen. Sie schwammen stolz und graziös beiseite; doch als wir ihnen +allzu nahe kamen, erhoben sie sich mit schweren Flügelschlägen und +ließen sich in größerer Entfernung wieder nieder. + +Dann und wann schimmerte das lehmige Ufer durch das Schilf, und kleine +Holme mit Tamarisken oder ganz niedrigen, bewachsenen Sanddünen waren +nicht selten. Wir kreuzten den See in beinahe gerader Linie. Sein +südlicher Teil bildete eine große, offene Erweiterung, wo nur die Ufer +mit dichtem Schilf umkränzt waren. Ein Fremder mußte glauben, hier +sei der See zu Ende, aber einige Leute aus Sorun waren uns zu Pferde +am Ostufer gefolgt und zeigten uns einen Arm oder natürlichen Kanal +im Schilfe, der den Sorun-köll mit dem südlich gelegenen Tschöll-köll +(Wüstensee) verband. + +In diesen glitten wir vom Winde getrieben hinein, und das Boot teilte +die in dichten Büscheln stehenden Schilfstengel wie Gardinen. Es war +ein höchst eigentümlicher Kanal mit einer nur 2 oder 3 Meter breiten, +offenen Rinne in der Mitte, sonst aber voll hohen, üppigen Schilfes, +das sich auf beiden Seiten wie eine Mauer oder ein Staket erhob. Fester +Boden war jedoch nahe, so daß wir die ganze Zeit über mit den Reitern +am Ufer reden konnten, wenn wir sie auch nicht sahen. Der Luftzug +wehte ziemlich frisch in dem engen, malerischen Wasserkorridore, +und das Boot glitt wie ein Schwan; die Stengel bogen sich unter dem +ausgespannten Segel, wichen pfeifend beiseite oder zerknickten unter +dem Vordersteven. Der Kanal war ziemlich gerade, aber die kleinen +Bogen, die vorkamen, genügten doch, uns die Aussicht nach vorn zu +nehmen, und auf den Seiten sah man nicht einmal die Bergkämme über den +nickenden Schilfbüscheln. Oft glaubten wir, in eine Sackgasse geraten +zu sein, doch stets öffnete sich eine Fortsetzung der Wasserstraße. + +Die Tiefen waren hier bedeutender als im See; die größte betrug 3,65 +Meter. Die Breite nahm allmählich zu, betrug nirgends weniger als +10 Meter, stieg aber manchmal auf 50 Meter. Der Kanal sah wie von +Menschenhand gegraben oder wie der Rest eines alten Flußbettes aus, +doch war es augenscheinlich nur die von dem verschiedenen Wasserstande +des Jarkent-darja abhängige Wasserverbindung von oder nach dem +Tschöll-köll, welche die Passage offengehalten hat. + +Massen von Enten hielten sich hier auf; sie schwammen und tauchten vor +uns, flogen bei unserem Herannahen auf, so daß das Wasser hinter ihnen +schäumte und spritzte, schlugen wieder nieder wie ein Hagelschauer und +tauchten und schnatterten. + +Islam konnte seinen Jagdeifer nicht bezähmen, als Tausende von +Enten, die unser weißes Segel aufgescheucht, Wolken gleich über +dem See kreisten. Daher erhielt er die Erlaubnis, nach dem Lager +zurückzukehren, die vergessene Flinte zu holen und dann mit dem Boote +in den Kanal hineinzurudern, der sich dicht bei dem Punkte, wo wir am +Ostufer anlegten, trompetenförmig nach dem See öffnete. + +Ich dagegen verfiel auf die etwas abenteuerliche Idee, eine +Fußwanderung über den Tschokka-tag nach Osten zu machen und dann +nordwärts nach dem Lager zurückzukehren. Palta und ein Hirt sollten +mich begleiten; der letztere versicherte, daß, obwohl die Bergkette +ganz nahe erscheine, die Entfernung doch sehr groß sei und daß wir, +wenn wir über dem Berge wären, noch einen ebenso langen Weg, wie wir +eben in 4½ Stunden gesegelt, bis nach dem Lager zurückzulegen +hätten. Seine Einwendungen waren vergeblich; ich hatte einmal den +Entschluß gefaßt, und er sollte unter allen Umständen ausgeführt +werden. Ich wollte mir die gute Gelegenheit, meine Karte von dieser +Gegend zu vervollständigen, nicht entschlüpfen lassen. Es war 3½ +Uhr, und die Sonne näherte sich dem Gipfel des Tusluk-tag; ein Kind +hätte einsehen können, daß wir vor Mitternacht das Lager nicht +erreichen würden; zurück aber mußten wir, sonst wären die Chronometer +stehengeblieben. + +So brachen wir denn nach Ostsüdost in der Richtung auf eine Einsenkung +in dem Kamme der langen Kette auf. Mit raschen Schritten gingen wir +auf den Paß zu. Die erste Stunde verrann, und die Kette erschien +uns kaum näher gerückt; wieder eine Stunde, und wir erreichten die +ersten Vorberge, die, vom See gesehen, mit der Kette scheinbar +zusammengehangen hatten; jetzt aber sahen wir, daß eine tüchtige +Strecke ansteigenden Terrains sie von der Hauptkette trennte. + +Zwischen dem See und den Bergen veränderte der Boden nach und +nach sein Aussehen. Er bildete konzentrische Ringe von ungleichen +Eigenschaften und verschiedenem Charakter. Dem Seeufer zunächst +breitet sich ein niedriger, unfruchtbarer Gürtel aus, der während +der Hochwasserperiode des Jarkent-darja überschwemmt ist, jetzt aber +mit einem schwachen Anfluge von Salz bekleidet war, was verrät, daß +dieser abflußlose See nicht ganz süß ist. Darauf folgt ein Gürtel +dünnbestandener Kamischsteppe und dann wieder ein Ring von älteren, +vertrockneten Salzkristallisationen (Schor), die spröde, unter den +Füßen mit leisem Klang zerspringende Blasen bilden. Schließlich steigen +wir den Schuttkegel am Westfuße des Gebirges hinan; er fällt nur 3 +Grad nach dem See ab, ist voll Kies und auch von zahllosen, kleinen, +unbedeutenden, ausgetrockneten Erosionsfurchen durchschnitten, welche +sich nach dem Ufer hin wie Deltaarme teilen und zersplittern. Je mehr +wir uns dem Gebirge nähern, desto größer wurden diese Rinnen und +schließlich hatten sie meterhohe Ränder, die wir oft umgehen mußten. + +Die Steigung fing an fühlbar zu werden, und ab und zu mußten wir +stehenbleiben, um Atem zu schöpfen. Von dem oberen Teile des +Schuttkegels hatten wir eine herrliche Aussicht über den See, der +breiter war, als ich 1895 geglaubt hatte. Feierliche, wehmütige +Gedanken bemächtigten sich meiner, als ich diese Gegend wiedersah, wo +wir am 22. April 1895 gelagert hatten. Die Steppe, wo das Zelt an jenem +denkwürdigen traurigen Tage stand, war von unserem Aussichtspunkte aus +klar und deutlich zu sehen, und im Süden dehnte sich das mörderische +Wüstenmeer aus, in dem unsere Karawane untergegangen war. Vor mir zog +sich in philosophischer Ruhe dieser volle See hin, der sowohl den +Leuten wie den Kamelen das Leben hätte retten können, wenn wir nur +vorsichtig genug gewesen wären, genügenden Vorrat von seinem Wasser, +das nutzlos in der trockenen Wüste verdunstete, mitzunehmen! + +In Purpur und Rot getaucht, glichen die hohen Dünenkämme jetzt in +dem grellen Lichte der untergehenden Sonne glühenden Vulkanen. Sie +erhoben sich wie Grabhügel über den Toten. Mit unwiderstehlicher +Beklemmung folgten die Gedanken dem Blicke über den Wüstensand hin, wo +ich meine Diener und Kamele in ihrem langen, ungestörten Todesschlafe +ruhen wußte. Sie schliefen ruhig, und ihre Gräber waren längst von +dem rastlos wandernden Zuge neuer Dünen eingeebnet. Können sie mir +verzeihen, der ich, einer der drei Überlebenden von jener unglücklichen +Reise, jetzt in aller Bequemlichkeit auf ihren Begräbnisplatz +hinausblickte? Klagt er mich vielleicht noch an, der alte, redliche +Muhammed Schah, während er seine vertrocknete Kehle unter den Palmen im +Bihescht, im Paradiese, netzt? Denn ich trug die Verantwortung dafür, +daß ich zum Aufbruche durch diesen verfluchtesten, mörderischsten +Teil der ganzen Erdrinde Befehl erteilt hatte. Ich glaubte, aus +der Tiefe der Wüste ein Grablied tönen zu hören, und erwartete nur +noch, die gespenstischen Schatten der unter unsäglichen Qualen +zusammengebrochenen Kamele zwischen den Dünenkämmen einherschleichen +zu sehen, jenen suchend, der sie hinterlistig in diesen wahnsinnigen, +verzweifelten, hoffnungslosen Kampf mit dem Tode gelockt hatte! Als +wäre es gestern gewesen, erinnerte ich mich ihres fruchtlosen Spähens +nach Wasser, um ihren brennenden Durst zu lindern. Wenn sie jetzt auf +den saftigen Matten des Paradieses wandern, werden sie mir verziehen +haben, daß ich sie einem so qualvollen Untergange entgegengeführt? + +Mit denselben Gefühlen, die einen Menschen beschleichen, der das +Grab eines Freundes besucht, gegen den er im Leben, absichtlich oder +unabsichtlich, unrecht gehandelt hat, und der dann seine Reue durch +seine Wallfahrt zum Grabe und durch Streuen von Rosen zum Schweigen zu +bringen und dem Toten gegenüber Buße zu tun sucht, riß ich den Blick +von dem Schauplatze jener düsteren Erinnerungen los und wanderte, +von meinen beiden Gefährten begleitet, schweren Schrittes bergauf. +Der Schuttkegel war jetzt kupiert und spärlich mit Steppentamarisken +bewachsen, deren lange, steife Nadeln an die der Kiefern des Nordens +erinnern. Leicht wie ein Traum flüchteten zwei Rehe mit großen, +elastischen Sprüngen, scheinbar kaum den Boden berührend, nach dem +Tschokka-tag hinauf. + +Wir überschritten einen kleinen Kamm nach dem anderen, bis uns endlich +ein Jilga (Erosionstal) nach dem Hauptkamme hinaufführte, auf dem +wir wieder eine kurze Rast hielten, um uns zu orientieren und zu +sehen, nach welcher Seite wir die Schritte lenken müßten. Von dem +Passe, dessen Höhe über dem See zirka 200 Meter beträgt, fällt auf +der Ostseite eine steile Kluft nach einem Tieflande ab, das sich nach +Ostnordosten bis ins Unendliche erstreckt. + +Die Sonne war hinter dem Tusluk-tag versunken, und die Dämmerung +begann. Dunkle Schatten, die wie ein Nebel aus der Erde aufzusteigen +schienen, hüllten die schweigende Gegend ein, und die schwarze +Sargdecke der Nacht breitete sich wieder über die Wüste und über diese +Berge und Seen, die je wiederzuerblicken ich zu Anfang Mai des Jahres +1895 so wenig Aussicht gehabt hatte. + +Dann galt es, in der Dämmerung einigermaßen heil von dem Kamme +herunterzukommen; denn die Halde ist hier sehr steil, und die Männer +wußten nicht recht, ob es gehen würde. Doch es ging; hinunter mußten +wir auf irgendeine Weise; wir glitten, schleppten uns und rutschten +auf unebenen Felsenplatten hinab, wobei mir der Geologenhammer, der +mich auf derartigen Ausflügen stets begleitete, gute Hilfe leistete. +Bald wurde das Gefälle weniger steil; wir kamen in das östliche Tal +hinunter und erreichten mit eilfertigen Schritten seinen linken +Bergvorsprung. Von hier sahen wir in der Ferne nach Norden zu dunkel +einen neuen Ausläufer, an dem wir vorüber mußten, ehe wir den Sai-tag, +einen kleinen einzelnen Berg in der Nähe des Lagers, erblicken konnten; +auf ihm sollte, wie wir es mit den Unseren verabredet, heute abend ein +Feuer brennen. + +Wir querten die Basis des Schuttkegels und erreichten ganz ebenen +Sandboden, auf dem es sich in der Dunkelheit leichter ging. Da ich an +so weite Fußtouren nicht gewöhnt war, fühlte ich mich sehr ermüdet, und +nach je zweitausend Schritten streckten wir uns fünf Minuten auf dem +nachtfrischen Sande zum Ausruhen aus. Ich zählte die Schritte, um die +Entfernungen zuverlässiger zu bestimmen und den Kreis, dessen Ausgangs- +und Endpunkt das Lager war, zu schließen. + +Links hatten wir den schwarzen Schattenriß der Bergkette, rechts den +Sand, der auch hier so ansehnlich war, daß man seine unfruchtbaren +Dünen für einen kleinen Ausläufer des Gebirges hätte halten können. +Endlich erblickten wir in der Ferne den Widerschein eines Feuers, +dessen Kern ein Hügel verdeckte. Weiß jemand, was es heißt, in +dunkler Nacht einem Feuerscheine entgegenzugehen? Er ermutigt den +Müden wie ein Leuchtturm, aber stundenlang kann man gehen, ohne daß +sich der Abstand verkürzt. Nach Tausenden von Schritten passierten +wir den davorliegenden Landrücken und sahen nun das Feuer und seine +flackernden Flammen. Wenn aber das Feuer nicht gleichmäßig unterhalten +und schwächer wird, scheint die Entfernung wieder zu wachsen. Und wenn +dann wieder trockenes Brennholz und Reisig auf die Kohlen geworfen +werden, flammt es von neuem auf, und wir glauben, nicht mehr weit von +den hellen, deutlich erkennbaren Flammen zu sein. Wir blieben manchmal +stehen und riefen, aber es kam keine Antwort. Schließlich erreichten +wir doch die Grenze, bis zu der die äußersten Ringe der Schallwellen +dringen, und vernahmen nun in der Ferne schwache Rufe. + +Als die Männer am Feuer uns erblickten, steckten sie eine ganze Reihe +dürrer Pappeln an, und nach einer Stunde hielten wir unseren Einzug +in den festlich erleuchteten Wald. Auch zwei Pferde erwarteten uns, +und nie hat es mir so gut gefallen, im Sattel zu sitzen! Islam und +die anderen, die unruhig geworden waren, kamen uns sogar mit Laternen +entgegen und lotsten uns über Sümpfe und kleine Wasserarme. + +Vierzig Kilometer zu Fuß ist ziemlich viel, wenn man nicht daran +gewöhnt ist. Erst um Mitternacht saß ich wieder in meinem schönen +Zelte, erhielt mein Abendessen, trug meine Aufzeichnungen ein und ging +dann zu Bett. Es war der erste strapaziöse Tag auf der Reise im Herzen +von Asien, -- aber es werden ihrer wohl noch mehrere kommen! + + + + +Siebentes Kapitel. + +Friedliche Heiligengräber. + + +Der 8. Oktober brachte einen herrlichen, absolut windstillen Morgen +mit so vollkommen klarer Luft, daß die Berge wieder in den kleinsten +Einzelheiten hervortraten. Der Fluß liegt blank wie ein Spiegel vor +uns und sucht in weiten Bogen zwischen scharf ausgemeißelten Ufern, +auf denen lachender, jetzt gelber junger Wald und üppige Kamischfelder +stehen, seinen weiten Weg nach dem Lop-nor (Abb. 30). + +Die Leute hatten also nicht viel zu tun; die Fähre glitt artig und +ruhig stromabwärts, und nur bei den Biegungen mußte gelegentlich +zu den Stangen gegriffen werden. Palta schläft langausgestreckt im +Sonnenbrande auf dem Vorderdeck, während der junge Ibrahim, der Sohn +unseres neuen Führers, der sich schlechtweg Mollah nennt, die Stange +führen muß. + +Der Fluß liebkost den Fuß des kleinen, alleinstehenden Berges ++Sai-tag+, der in einem Winkel von 34 Grad nach dem Wasserspiegel +abfällt und nur einigen jungen Pappeln und einem Hirtenpfade Raum +gewährt (Abb. 32). Der Sai-tag setzt sich nach Norden in einigen +kleinen Bodenerhebungen fort, die ebenfalls auf dem rechten Ufer des +Flusses liegen. Auf einem dieser kleinen Rücken finden wir einen +kleinen, von Stille und feierlichem Frieden umgebenen Begräbnisplatz +(Abb. 31), wo unser Mollah, ein des Korans kundiger Mann, einige Gebete +sprach, während welcher die anderen niederknieten. Über einem vornehmen +Manne, der vielleicht ein berühmter Hirt oder Jäger gewesen, hatte man +ein Mausoleum in Würfelform mit Kuppeln (Gumbes) auf dem Dache aus an +der Sonne getrocknetem Lehm erbaut; um dieses herum sah man mehrere +kleinere Grabdenkmäler. Auf dem eigentlichen Kamme des Landrückens +lagen noch zwei Gräber, aber ohne jegliche Überdachung, nur durch +einige Balken und Steine geschützt und nach Norden ganz offen, so daß +man die Schädel der darin liegenden Gerippe sehen konnte. In dem einen +Grabe teilten sich zwei Tote in den Raum. Diese Leichenstätten sahen +nicht besonders alt aus. + +Mittags wehte ein schwacher Südwest, und da wir nach Nordosten +gingen, hatten wir eine vortreffliche Fahrt. Ein Reh schwamm in einer +Entfernung von zwei Flintenschüssen über den Fluß. Die Schützen, Islam +und Mollah, lagen auf dem Vorderdeck mit ihren Waffen im Anschlag, doch +das Tier schwamm schnell, war mit einem Satze am Ufer und verschwand +wie der Wind im Schilfe. Bei +More+, wo wir in der Dämmerung auf +dem linken Ufer lagerten, führte der Fluß 25,1 Kubikmeter Wasser in der +Sekunde. + +An diesem Lagerplatze traf mich ein großer Kummer. Mein Lieblingshund +Dowlet war in den letzten Tagen melancholisch gewesen; er hatte weder +fressen noch spielen wollen, und sein Puls war gestern abend auf +150 Schläge gestiegen. Er hatte, gegen seine Gewohnheit, nicht an +der Exkursion teilnehmen wollen, und nachts schlief er nicht neben +meinem Bette, sondern lief unruhig umher. Während des Tages streifte +er mit herabhängendem Kopfe und eingeklemmtem Schwanze immer wieder +vom Vorschiffe nach dem Achter und zurück. Als wir in More landeten, +verließ er die Fähre für immer, lief heiser bellend im Gebüsche herum, +als suche er etwas, versuchte zu beißen, wenn man sich ihm näherte, +wurde immer unsicherer auf den Beinen und taumelte schließlich von der +Jarwand in den Fluß, wurde aber von Alim gerettet. Wir legten ihn ans +Feuer; sein Puls war auf 42 Schläge heruntergegangen, und er starrte +jetzt ganz ohne Bewußtsein ins Leere. Alle meine Bemühungen waren +fruchtlos; er fing schon an zu erkalten, und ich wachte bei ihm und +streichelte ihn, solange noch ein Funke von Leben in ihm war. + +Der Verlust dieses Hundes schmerzte mich tief. Er hatte mir stets treu +Gesellschaft geleistet, war lustig und freundlich, voll drolliger +Streiche, und ich spielte abends immer eine Weile mit ihm. Er war ein +mageres, häßliches Hündchen, als wir Osch verließen, unter meiner +Pflege hatte er sich aber zu einem wirklich schönen Hunde entwickelt. +Und nun entriß ihn mir diese heimtückische Krankheit! + +Am folgenden Morgen grub Mollah ein Grab, legte Dowlet, in ein +Schaffell gehüllt, hinein und murmelte halblaut ein Gebet. Es tat +mir sehr leid, als ich die feinen, seidenweichen Ohren in der Erde +verschwinden sah. So seltsam es klingen mag, die Stimmung an Bord war +den ganzen Tag so gedrückt wie nach einer wirklichen Beerdigung, und +die Männer redeten nur im Flüstertone miteinander. Mir erschien es auf +der Fähre öde und leer, seit Dowlet fort war, und erst nach mehreren +Tagen kam ich wieder ins Gleichgewicht. + +Als wir am 9. Oktober frühmorgens More verließen, suchte Jolldasch +vergeblich seinen Kameraden und wunderte sich, daß er nicht mitkam. +Der Fluß machte auf dieser Tagereise ziemlich phantastische Krümmungen, +die aber so ausgedehnt waren, daß ich oft lange Peilungen ausführen +konnte, mehr freie Zeit als sonst hatte und mich mit Nacharbeiten, +Aufzeichnungen und dergleichen beschäftigen konnte. Die Leute hatten +nicht viel zu tun, sie schliefen abwechselnd. Ibrahim erhielt den +Auftrag, sich nach dem Basare von Tschiggan-tschöll zu begeben und +dort Schnupftabak (Nas) für die anderen, die an dieser unentbehrlichen +Ware Mangel litten, zu kaufen. Er hatte bis dorthin 6 Potai (etwa 20 +Kilometer) und sollte nach zwei Tagen wieder zu uns stoßen. + +10. Oktober. Der Morgen war kalt, um 6 Uhr zeigte das Thermometer nur ++3 Grad; es war still wie im Grabe, als wir aufbrachen, nur einige +Krähen sangen ihr wenig melodisches Morgenlied. Die Ufer waren öde; +bisweilen aber verkündeten rauchgeschwärzte Stämme und Zweige, daß hier +Hirten ihre Lagerplätze gehabt. Die gelbe Farbe herrschte jetzt im +Walde vor, und die grünen Partien wurden immer weniger. + +Der Mollah war für uns ein wirklicher Schatz und diente mir als +geographisches Lexikon über diese wenig oder gar nicht bekannte Gegend. +Die Brille auf der Nase und ein großes Blatt Papier vor sich, zeichnete +er eine Karte des Gebietes, auf der alle Namen und Wege angegeben +waren, und zeigte uns, bei welchen Flußkrümmungen die Wüste uns am +nächsten war. Ich konnte diese Karte später bei mehreren Gelegenheiten +kontrollieren und fand sie sehr korrekt. Er hatte diese Wälder auf der +Jagd vielfach durchstreift und war dreimal in Schah-jar gewesen. Auch +von unserer Besatzung war er gern gesehen, denn er unterhielt sie in +den langen, einsamen Stunden an Bord mit Vorlesen. + +Bei einer Bucht am Ufer vor uns überraschten wir eine Wildschweinherde. +Ganz erstaunt über das große Ungetüm, das den Fluß hinuntergetrieben +kam, betrachteten die Tiere uns einen Augenblick, setzten sich dann +aber in raschen Trab und stoben in geschlossener Schar in das Dickicht +hinein. Gegen Abend erreichten wir +Ak-sattma+, wo Kurban Bai +sich am Fuße einer Sanddüne in der Nähe einiger einsamen Pappeln zwei +Hütten erbaut hatte. Er ist Besitzer von 2000 Schafen und einer Anzahl +Hornvieh und zieht Weizen und Melonen; wir konnten daher bei ihm +unseren Proviant verstärken. + +[Illustration: 25. Das Innere meines Zeltes auf der Fähre; + +rechts der Schreibtisch, links das Bett und der Fährmann Palta. (S. +40.)] + +[Illustration: 26. Hirtenhütte in der Nähe des Masar-tag. (S. 60.)] + +[Illustration: 27. Kasim beim Fischfang. (S. 61.)] + +[Illustration: 28. Unser Lager bei Kurruk-asste. (S. 59.)] + +Obwohl es spät war, beschlossen wir noch einen Tschugulup (Flußbogen) +zurückzulegen. Die Dämmerung senkte sich auf den spiegelblanken +Fluß herab, dessen Oberfläche die Ringel der Strömung nur schwach +zeichneten, und die Gegend war so still, daß man sein eigenes Herz +klopfen hören konnte. Um die Leute aufzuheitern, holte ich unser +Symphonion und ließ Islam Bai für Musik sorgen. Die Männer hatten +ihre Freude daran und hörten andächtig zu, und Kasim hielt sich mit +der Avisofähre uns möglichst nahe. Die hellen Töne des Instruments +klangen wehmütig und melancholisch, als die Cavalleria von Stapel ging, +sie klangen voll und festlich, als Carmen durch den Wald hinzitterte; +feierlich klang es, als die Töne der schwedischen Nationalhymne über +dem schweigenden Wasser des Jarkent-darja erschollen, und als ein +Parademarsch abschnurrte, war es, als glitte die Fähre im Siegeszuge +langsam, aber sicher, von Fanfaren und Militärmusik begrüßt, gerade auf +ihr Ziel zu. Es war ein entzückender, friedlicher Abend. Die Luft war +von Waldgeruch und den Düften der Wiesen und Kamischfelder erfüllt, und +in der Luft herrschte eine feierliche Stille wie in einer Kirche. Das +kleinste Geräusch, das dieses großartige, einsame Schweigen unterbrach, +machte sich geltend, Sandkörner, die vom Uferrande ins Wasser fielen, +eine Ente, die in einer geschützten Bucht schwamm, ein Fisch, der in +dem rabenschwarzen Schatten unter der Uferwand plätscherte, ein Fuchs, +der im Schilfe raschelte. Während die Dunkelheit schnell hereinbrach, +trug uns die Strömung immer tiefer in die geheimnisvolle Landschaft +hinein, gleich Geistern und Schatten einer anderen Welt, und die +Bewohner des Waldes lauschten den Tönen unserer Spieldose gewiß voller +Erstaunen. Es war nicht die beste Musik, die man hören kann, aber +in der Umgebung, in der sie ertönte, wirkte sie wunderbar und mit +einschmeichelndem Zauber, während die große Stille zu kühnen Träumen +einlud. + +Die Wassermassen, die uns im Laufe des Tages Gesellschaft geleistet +hatten, sollten wieder eine Nacht Vorsprung gewinnen, als wir am +linken Ufer unter herbstlich gelben Pappeln rasteten. Spät abends +wurde eine Flußmessung vorgenommen, die 26,7 Kubikmeter in der Sekunde +ergab. Nichts hindert den Fluß, an einem Tage wasserreicher als am +vorhergehenden zu sein; teils kann der Zufluß aus dem Gebirge wechseln, +teils können durch Verteilung des Luftdruckes und durch den Wind +zufällige, natürliche Verdämmungen entstehen, die das nachdrängende +Wasser für einige Zeit in seinem Fließen hindern oder aufhalten. + +11. Oktober. Leichter, feuchter Nebel lag über dem Jarkent-darja, +als wir um 7 Uhr das Ufer verließen. Als wir durch diesen Nebel nach +Süden gingen, fiel der Widerschein der Strahlen der aufgehenden Sonne +verschleiert auf die Wasserfläche, und die kleine Fähre und die Jolle +zeichneten sich mit den darinstehenden Männern und deren langen Stangen +wie schwarze Schattenrisse auf dem mit Licht gesättigten Hintergrunde +ab. In einer geschützten Bucht lag auf dem Wasser eine einsame Ente, +die das sich ihr bietende, ungewöhnliche Schauspiel ruhig betrachtete, +als unsere kleine Flottille an ihr vorbeitrieb. Sie mußte aber ihre +Neugierde teuer bezahlen und schmeckte uns zu Mittag vorzüglich. + +Der Fluß verändert seine Eigenschaften nicht, er ist noch ebenso krumm, +und da es obendrein heftig wehte, kamen wir nicht weit. Der Kopf kann +einem bei diesen Windungen schwindeln; Sonnenschein und Schatten, +Wind und Lee wechseln unaufhörlich ab; bald friert man, bald wird man +gebraten, bald geht es verzweifelt langsam, bald mit schwindelnder +Fahrt. In scharfen Biegungen verliert die Wassermasse durch die Reibung +und den Druck gegen das Jarufer einen guten Teil ihrer Geschwindigkeit, +welche Kraft in eine andere Arbeit, die Auswaschung des Ufers, +umgesetzt wird. Auf diese Weise werden die Windungen im Laufe der Jahre +immer größer. Man findet auch gewöhnlich, daß die Fahrgeschwindigkeit +hinter den schärfsten Biegungen abnimmt. + +Bei +Duga-dschaji-masar+ stieß Ibrahim wieder zu uns. Außer einem +ganzen Armvoll Melonen, Möhren, roten Rüben, Zwiebeln und Brot brachte +er auch seine Mutter und seinen jüngeren Bruder mit, so daß wir neue +Passagiere an Bord hatten. + +Die Uferterrasse beim Lager lag 2,1 Meter über dem Wasserspiegel, und +trotzdem war der Waldboden noch vom Hochwasser des Sommers feucht. +Der Fluß ist also seitdem an diesem Punkte über 2 Meter gefallen. Je +weiter wir kamen, desto schmäler, tiefer und langsamer wurde er, und +nicht selten betrug seine Breite nur 15 Meter. Wir sehnten uns nach +dem Aksu-darja, wo Mollah uns dreimal soviel Wasser versprach, und wir +fuhren jetzt gewöhnlich täglich 11 Stunden. Mir wurde der Rücken ganz +steif, wenn ich den ganzen Tag am Schreibtisch saß, und ich ersann +daher eine neue Methode, die wenigstens einige Abwechslung brachte. +Ich setzte mich in die kleine Jolle, machte mir dort von Filzdecken +und Kissen ein Ruhebett zurecht und hatte alles Zeichenmaterial und +die nötigen Instrumente bei mir. Um wirklich ungestört zu sein, hielt +ich mich weit vor der Fähre und glitt nun ruhig und friedlich den Fluß +hinunter. Die Pfeife im Munde, die Feder in der Hand und die Karte auf +den Knien, freute ich mich der großen Stille; bequemer kann man durch +ein unbekanntes Land wirklich nicht reisen. + +Am 13. Oktober hatten wir die gewundenste Fahrt, die wir bis jetzt +gemacht hatten. Man sitzt mit der Karte vor sich und fürchtet beinahe, +eine Schleife einzeichnen zu müssen, dann aber biegt der Fluß im +letzten Augenblick nach der entgegengesetzten Richtung ab. Die zweite +Windung war noch toller; nach vierthalbstündiger Drift kamen wir wieder +bei denselben Pappeln an, an denen wir vorübergefahren waren. + +Der Tag war naßkalt und unfreundlich, und wir müssen uns ordentlich +in Pelze hüllen. Die Fährleute sitzen in ihre Tschapane eingewickelt +da und geben acht, daß wir nicht auf Grund stoßen und sie ins Wasser +springen müssen. Islam und Mollah zogen vor, auf kürzeren Wegen, +welche die Flußbiegungen berührten, durch den Wald zu gehen. Sie waren +sieben Stunden fortgewesen, als wir sie am Ufer, wo sie an einem Feuer +schliefen, wieder auffischten. Sie hatten nur zwei Stunden gebraucht, +um diesen Punkt zu erreichen, und hätten +wir+ nicht ihr Feuer +erblickt, +sie+ würden uns nicht bemerkt, sondern dort ruhig +weitergeschlafen haben. + +Die ersten Frostnächte prägten dem Walde, der jetzt überall gelb ist, +ihren Stempel auf. Nach einer frischen Brise trieben wir auf einer +wahren Laubstraße. Der Wind hatte Massen gelben Laubes in den Fluß +gefegt, dessen Fläche eine lange Strecke weit gelbgetüpfelt war. Man +braucht nur einen Blick auf die nächste Umgebung zu werfen, um zu +sehen, daß der geringste Windhauch auf die Fähre einwirkt: bald treiben +die Blätter an uns vorbei, bald sind wir die schnelleren; ist es aber +völlig windstill, so haben wir gleiche Fahrt mit ihnen. + +Am 14. Oktober lagerten wir in der +Jiggdelik+ genannten Gegend. +Am rechten Ufer erhebt sich im Walde eine mit Tamarisken bewachsene +Düne, auf welcher eine Stange aufgerichtet ist, die anzeigt, daß sich +in der Nähe ein Masar oder Heiligengrab befindet. Unser Mollah war +wiederholt dort gewesen, um Rubine zu suchen, die in dem vom Sande +abgeschliffenen Feuersteinschutte, der eine ausgedehnte offene Ebene +zwischen der Grenze des Wüstenmeeres und dem Walde bedeckt, zu finden +sein sollen. Er hatte in der Nähe des Grabes übernachtet und eine +bleiche, flackernde Flamme über der Kuppel schweben sehen. Rubine +scheint er aber nicht gefunden zu haben. + +Am 15. Oktober erinnerte der Fluß anfangs an eine verfitzte Schnur, +nachher aber wurde er wieder ganz ordentlich. Es gilt als Regel, daß +der Fluß da, wo er Bogen macht, auch schmal, tief und langsam ist, da +aber, wo er eine gerade Richtung einhält, seicht, schnell und breit +wird; das Gefälle ist hier größer. Manchmal sieht es aus, als sei das +Wasser unschlüssig, nach welcher Seite es fließen solle; es scheint +stillzustehen und zu überlegen, wohin der Boden sich neige. + +Die Lailiker fingen an, mutlos zu werden, als sie Tag für Tag immer +weiter von Haus und Heim fort- und immer tiefer in unbekannte Einöden +und Wälder hineingetragen wurden. Es belebte sie jedoch ein wenig, +daß wir bei Kuiluschning-baschi auf einen braven Mann stießen, der +Jussup Do Bek hieß, hier in der Gegend seine Schafherden hütete und +meine Leute damit beruhigte, daß es für sie die einfachste Sache auf +der Welt sei, auf der großen Karawanenstraße über Aksu nach Hause +zurückzukehren. Der erste Dschigit aus Kaschgar, der meine Post nach +Dural bringen sollte, mußte schon unterwegs sein und sollte mit Jussups +Hilfe in Aksu angehalten und an den Fluß hinuntergeschickt werden, +welches Arrangement denn auch vortrefflich gelang. + +Am 17. passierten wir einen der Mündungsarme des Kodai-darja, der uns +aber nur wenig Wasser zuführte. Der Jarkent-darja läuft jetzt eine +Strecke weit gerade nach Norden; die Windungen rauben uns nicht so +viel Zeit wie bisher, doch wurde eine zurückgelegt, die sich einem +vollständigen Kreise näherte und deren Landzunge nur zwanzig Klafter +breit war. Ohne Zweifel wird das nächste Hochwasser diese Landzunge +durchbrechen. Das Ufer ist 3½-4 Meter hoch, und seine Wand wird von +beiden Seiten unterwaschen, so daß die Landzunge immer schmäler wird, +bis sie schließlich einstürzt und der Fluß dann die Windung verläßt, +die wie ein toter Schmarotzer liegen bleibt. Derartige tote Krümmungen +oder Altwasser (Boldschemal) kamen in diesem Teile des Flußlaufes +besonders häufig vor. In ihrem Bogen steht beinahe stets ein kleiner +halbmondförmiger Köll mit klarem Wasser. + +Von einem an Reisig und verdorrten Bäumen reichen Punkte am rechten +Ufer sahen wir Rauchwolken aufsteigen, und bald flackerten Feuerzungen +zwischen den Bäumen. Der Mollah erklärte, es seien Hirten, die auf +diese Weise Tiger und Wölfe zu verscheuchen suchen. Tigerspuren hatten +wir in den letzten Tagen wiederholt auf den Ufern gesehen. Als wir +gerade vor dem Platze waren, sahen wir denn auch richtig ein paar +Hirten am Ufer. Doch sowie diese die Fähre, das gespenstische weiße +Zelt und die rabenschwarze Hütte erblickten, ergriffen sie die Flucht +und liefen, was das Zeug halten wollte, Schafe, Hunde und Feuer ihrem +Schicksal überlassend. Soviel wir auch riefen und ihrer durch Späher +habhaft zu werden suchten, sie waren und blieben verschwunden, und wir +mußten also auf Aufklärung über diese Gegend verzichten. Was sollten +diese einfachen, redlichen, halbwilden Waldmenschen übrigens auch beim +Anblick der Fähre denken, die wie ein Riesenschwan am Waldrande entlang +geschwommen kam! Sie konnten doch nur denken, es sei ein böser Geist +aus der Tiefe der Wüste, der auf der Streife sei und suche, wen er +verschlingen könne. + +Die Tendenz des Flusses, hier in der Gegend seine Windungen oft +auszugleichen, ist in der Beschaffenheit des Bodens begründet. +Dieser besteht aus Sand, und in dem losen, leicht niederstürzenden +Material führt das Wasser ohne sonderlichen Widerstand seine +Unterminierungsarbeit aus. Auf die Veränderlichkeit des Flusses +gründet sich wieder der Umstand, daß der Wald spärlich ist und an den +Ufern nicht alt werden kann. Die äußersten Pappeln stehen wie wartend +da, bis die Reihe zu fallen an sie kommt, wenn die Jarwand unter ihnen +abrutscht. + +Am 18. Oktober hatten wir wieder Pech mit dem Winde. Als wir nach +Norden kamen, herrschte nördlicher Wind, als aber der Flußlauf sich +nach Nordosten wendete, kam der Wind auch aus dieser Richtung, und +schließlich sprang er sogar nach Osten um. Das Bett war ziemlich offen +und flach, und wir hatten von den Ufern und ihrer Vegetation wenig +Nutzen. Die Luvseite des Zeltes war wie ein Trommelfell nach innen +gekehrt, und faßte man das Zelttuch an, so fühlte man sofort, mit +welcher Kraft dieser saugende Wind die Fähre nach Lee hinüberpressen +mußte. Die Leute hatten den ganzen Tag vollauf damit zu tun, uns vor +Kollisionen mit den Ufern zu bewahren, und hatten kaum Zeit, ihr +einfaches, aus Brot und Melonen bestehendes Frühstück zu verzehren. + +Auch am folgenden Tage tat uns der Wind großen Abbruch, und jetzt +bereitete sich ein kleiner Sturm vor. Die Luft war mit Flugsand +gesättigt, und die Sonnenscheibe zeichnete sich im Zenith nur wie ein +schwach sichtbarer, gelbroter Schild ab. Man sah nicht, wohin es ging; +die Ufer verschwammen in der dicken Luft, es sauste und pfiff in dem +jungen Walde, und überall flogen gelbe, harte Blätter prasselnd umher. +In scharfen Biegungen, wo die Gegenströmung einen Strudel bildet, +sammeln sich diese Laubmassen zu kleinen Sargassoseen an; ein großer +Laubkuchen dreht sich im Wirbel, und von seiner Peripherie sondert sich +ein langer, schmaler Laubstreifen ab, der nach und nach wieder ins +Treiben gerät, um dem nächsten Strudel zuzueilen. + +Wir mühten uns einige Stunden gegen den starken Wind ab und wollten +gerade Halt machen, als der Mollah erklärte, der Fluß werde bald einen +Bogen nach Süden machen. Er hatte recht, und bei reißendem, günstigem +Winde sauste die Fähre an den Ufern vorbei, so daß das Wasser um den +Vordersteven brauste. Es dauerte jedoch nicht lange, so machte der +Fluß wieder einen Bogen und setzte seinen Weg nach Nordosten fort. Wir +rasteten nun einige Stunden in einer ruhigen Bucht. + +Als der Wind sich etwas gelegt, ging es weiter. In der Dämmerung +trat wieder völlige Ruhe in der Atmosphäre ein, und wir beschlossen, +im Mondschein weiterzufahren. Die Route wurde beim Lichte der +photographischen Laterne aufgezeichnet, die den Kompaß, die Uhr und +die Karte schwach beleuchtete, aber nicht die freie Aussicht auf die +mondbeglänzte Landschaft vor mir störte. Von hinten schwach von dem +roten, von vorn grell von dem bläulichen Lichte beleuchtet, sahen die +Männer phantastisch aus, und ihre sonst dunkeln Silhouetten hoben sich +scharf gegen das glitzernde Spiel der Mondstraße auf dem Flusse ab. + +Spät abends legten wir am Ufer von +Jekkenlik-köll+ an, wo es +vorzügliches Brennholz in Menge gab. Als wir am 20. Oktober früh vom +Ufer abstießen, war von den mächtigen Stämmen, die wir zu unserm Feuer +benutzt hatten, nur noch ein grauer, rauchender Aschenhaufen übrig. Das +Bett des Jarkent-darja war heute außerordentlich regelmäßig gebaut, und +dieselben Formationen, dieselben Krümmungen kamen abwechselnd immer +wieder. Sie waren wie nach ein und demselben Muster gezogen. + +Beim +Masar Chodscham+, der ein Ende vom rechten Ufer liegt, wurde +Rast gemacht, und wir alle, außer Kader, der die Fahrzeuge bewachen +sollte, wanderten durch den lichten Wald dorthin. Der Masar ist über +dem Grabe von Hasrett-i-Achtam Resi Allahu Anhu errichtet worden, +eines Heiligen, der zur Zeit des Propheten diese Gegenden durchwandert +haben soll. Man findet hier einige trockene, graugelbe Lehmhaufen, +die wimpelgeschmückte Stangen und Antilopenschädel trugen und mit +einem Reisiggehege umgeben waren, um Schafen und Rindern das Entweihen +des Ortes unmöglich zu machen. Auf der Südseite erhob sich ein sehr +einfaches Chaneka (Bethaus) aus lotrecht in die Erde geschlagenen +Pfählen und Stangen mit einem Dache darüber. + +Die Muselmänner brachten dem Heiligen ihre Huldigung dar und hielten +eine längere Andacht; hell erklang des Mollah „Allahu ekbär“ durch +die tiefe Stille des Waldes. Es liegt wirklich etwas Feierliches in +solchem Gottesdienst. Wir waren von dem tiefsten Schweigen umgeben; +nur die schlummernden Blätter, die noch an ihren dünnen Stielen saßen, +zitterten leicht in einem hier im Walde kaum merkbaren Winde. Ein +Heiligtum kann keinen friedlicheren Platz finden als hier, fern von +allen Fahrstraßen an einem Flusse, der jetzt zum erstenmal von Menschen +befahren wird. Nicht das geringste Geräusch störte die Ruhe des Waldes, +nur ein Hase war bei unserem Herannahen entflohen. „La illaha il allah“ +verkündete die tiefe Stimme des Mollah voller Überzeugung, und die +Worte verhallten in der Ferne zwischen den Pappeln. + +Ende November wird der Tag des Heiligen von den Einwohnern von Awwat +gefeiert, die sich dann in ziemlich großer Zahl hierher begeben und +drei Tage im Walde bleiben. Der Scheik, der Wächter des Heiligengrabes, +hält sich um diese Zeit in einer benachbarten Hütte auf, wohnt aber +sonst in Awwat. + +Als wir nach den Schiffen zurückkehrten, tat es uns leid um den jungen +Kader, der nichts von der Herrlichkeit zu sehen bekommen hatte, und +er erhielt daher Erlaubnis, sich in unserer Spur allein nach dem +Masar zu begeben und dann in der nächsten Flußbiegung mit der Fähre +zusammenzutreffen. Doch wir waren noch nicht weit gelangt, als er +schon angelaufen kam, als gälte es, sein Leben zu retten. Die düstere +Waldeinsamkeit und die gespensterhaft wehenden Wimpel hatten ihn so +erschreckt, daß er jede Lust verloren hatte, den Heiligen mit seinem +Besuche zu beehren. Den jungen Helden erfüllte Angst, als Reiser unter +seinen eigenen Tritten knackten, er hielt jeden Busch für einen Räuber +und glaubte, lebende Wesen winkten mit den Lumpen der Grabstangen. + +Der Name des heutigen Rastortes, +Kalmak-kum+, zeugte wieder +davon, daß in längst entschwundenen Zeiten einmal Mongolen an diesem +Flusse gewohnt haben. Hier lebten drei Hirtenfamilien mit 300 Schafen. +Sie hatten ein „Tor“, eine Art Falle, um Raubvögel zu fangen, +aufgestellt, die aus vier, in der Erde quadratisch befestigten, +elastischen Gerten bestand, deren Spitzen sich einander zukehren und +die ein sackförmiges Netz ausgespannt halten. Oben entsteht also eine +Öffnung, durch welche der Falke auf das unten im Netz festgebundene +Huhn oder die Taube stößt. Wenn er sich mit seiner Beute aufschwingen +will, drehen sich die elastischen Gerten, wodurch sich die Öffnung des +Netzsackes schließt und das Netz über den Falken fällt, der nun darin +verwickelt und gefangen ist. + +Während der folgenden Tagereise war der Fluß ungewöhnlich gerade. Im +großen und ganzen waren jedoch die Tage einander ziemlich gleich. Man +glaube aber nicht, daß ich die Reise einförmig gefunden und den Tag +herbeigesehnt hätte, an welchem unsere Fähre im Eise einfrieren würde, +welcher Tag früher oder später kommen mußte. Mir war jeder Tag, der +hinging, von immer größerem Interesse. Ich lebte das Leben des Flusses +mit und beobachtete gespannt seine ersterbenden Pulsschläge und seinen +launenhaften Lauf durch Innerasiens innerstes Tiefland. Es machte mir +Vergnügen, den Gang der Instrumente zu verfolgen, die das Herannahen +des Winters, das Abnehmen der Wärme und das Kürzerwerden der Tage +anzeigten, und die Karte des unendlichen Flusses entwickelte sich Blatt +um Blatt. + +Obgleich meine Leute nicht aus demselben Grunde wie ich an der Drift +der Flottille Gefallen finden konnten, folgten sie ihr doch mit großem +Interesse. Immer lebhafter wurde abends am Lagerfeuer die Unterhaltung, +und man rechnete die Tage bis zur Ankunft an den großen Stationen +Awwat und den Mündungen des Aksu-darja und des Chotan-darja aus; +Schah-jar war noch so weit entfernt, daß es noch nicht in Frage kam. +Doch vergingen ihnen die Tage jedenfalls oft recht langsam. Es bedurfte +indessen nur z. B. des Einfangens einer Wildente, um Leben in die +Gesellschaft zu bringen und ihnen ein wenig Zerstreuung zu gewähren. +Ein solches Kerlchen plätscherte heute im Schutze eines gestrandeten +Reisigbündels, als die mit Kasim und Nasar bemannte Avisofähre +vorbeitrieb. Letzterer hatte seinen Platz im Achter der großen Fähre +verlassen müssen, weil er von dem ewigen Inswassersteigen wunde Füße +bekommen hatte. Die Ente muß krank oder verängstigt gewesen sein, denn +sie ließ sich mit den Händen greifen und wurde in mein Zelt gesetzt. +Dort aber kam sie bald auf andere Gedanken, entwischte uns wieder und +schwamm dann zwischen den Fähren, bis sie von neuem eingefangen und +auf der Proviantfähre angebunden wurde, deren Menagerie sich so um ein +neues Mitglied vergrößerte. + +Wir hatten jetzt nur noch 16,8 Kubikmeter Wasser unter der Flottille, +und die Aussichten für die Fortsetzung der Fahrt begannen wieder +bedenklich auszusehen. + +[Illustration: 29. Kasim mit seinem Fang. (S. 61.)] + +[Illustration: 30. Eingeborene am Ufer des Tarim. (S. 63.)] + +[Illustration: 31. Begräbnisplatz am Sai-tag. (S. 70.)] + +[Illustration: 32. Der Jarkent-darja am Sai-tag. (S. 70.)] + +[Illustration: 33. Falkner mit Jagdadler. (S. 82.)] + +[Illustration: 34. Die Fähre an der Mündung des Aksu-darja. (S. 83.)] + + + + +Achtes Kapitel. + +Der große, einsame Tarim. + + +Am 22. Oktober legten wir den geradesten Teil des ganzen Flusses +zurück. Nur eine einzige Stelle war insofern kritisch, als das +Wasser sich dort in zwei Arme teilte, von denen wir den kürzesten +wählten. Ich untersuchte vorher mit der Jolle die Tiefen und fand +den Arm passierbar. Die Wassertemperatur war jetzt bis auf +10 Grad +heruntergegangen; ich hatte daher keine Lust zum Baden. Kasim dagegen +hatte entschieden andere Ansichten von der Nützlichkeit eines Bades. +Er stand wie gewöhnlich im Achter der Proviantfähre und schob sie mit +der Stange vorwärts, wendete aber dabei zu große Kraft an und fiel +rücklings in den Fluß, zur riesigen Freude der anderen. + +Gerade vor uns verschwindet die breite Straße des Flusses in +unendlicher Ferne; es ist eine Serie horizontaler Striche, weißer und +schwarzer; die ersteren sind in Verkürzung gesehene Wasserflächen, die +letzteren aber Sandbänke und Anschwemmungen. + +So kurz die folgende Tagereise auch war, gewährte sie doch viel +Abwechslung, und die Männer mußten die ganze Zeit die Augen offen +halten. Je mehr wir uns Awwat nähern, desto zahlreicher treten Hirten +auf, und ihre Hütten werden auf beiden Ufern immer häufiger. Auf dieser +Tagereise passierten wir den Punkt, wo der Kaschgar-darja, unser alter +Bekannter Kisil-su, sich in zwei engen, größtenteils von Sand, Schlamm +und Vegetation verstopften Armen in den Jarkent-darja ergießt, wobei er +ihm nur einen geringen Zuschuß von Wasser zuführt. + +Wir waren noch nicht weit gelangt, als ein Reiter am Ufer erschien. +Doch sowie er uns erblickt hatte, verschwand er wieder zwischen den +Büschen; wir entnahmen daraus, daß es ein Kundschafter gewesen. Nach +einer Weile sprengte denn auch richtig ein ganzer Reitertrupp auf das +Ufer zu; sie stiegen von den Pferden, breiteten Teppiche auf der Erde +aus und luden uns zu einem aus Trauben, Melonen und Brot bestehenden +Dastarchan ein. Es war der Joll-begi (Weginspektor) von Jangi-Awwat, +der hierher geschickt worden war, um uns willkommen zu heißen. Nach +kurzer Rast fuhren wir mit dem Weginspektor als Gast an Bord weiter, +während seine Schar uns am linken Ufer begleitete. + +Bald darauf tauchte noch eine Schar Reiter in feinen, farbenprächtigen +Chalaten und teilweise von ungewöhnlich distinguiertem Aussehen auf. +Auch jetzt mußten wir Halt machen und wieder einen Dastarchan annehmen. +Es war der Vornehmste der Andischaner Kaufleute in Awwat; auch er wurde +an Bord genommen; seine Reiter ritten auf dem rechten Ufer. Wir hatten +jetzt also auf beiden Ufern Gefolge. + +Noch eine Strecke weiter wurde unsere Ankunft von etwa 30 Reitern an +einem Ufervorsprunge erwartet, der mit Früchten, Brot, Eiern und ganzen +geschlachteten Schafen vollständig übersät war. Diesmal war es der +Bek von Awwat, der in höchsteigener Person uns bewillkommnen wollte; +auch er gesellte sich zu den übrigen Gästen auf dem Achterdeck, das +jetzt reicher bevölkert war als je zuvor. An den Ufern folgten unserem +Zuge ganze Reiterschwadronen. Eine so festliche, stattliche Prozession +hatte der Jarkent-darja wohl noch nie gesehen. Acht Falkner zu Pferd +waren mit; zwei trugen Adler (Abb. 33), die anderen Jagdfalken, deren +wilde Augen unter Kappen verborgen waren; sie gehören bei Galaaufzügen +mit zum Staate. Später gaben uns die Raubvögel und ihre Pfleger +eine Tamascha (Vorstellung, Schauspiel), die vier Hasen und ein Reh +einbrachte. + +Beim Dorfe +Mattan+ blieben wir einen Tag, der jedoch nicht +unbenutzt geopfert wurde. Ich entwickelte Platten, machte eine +astronomische Bestimmung, maß die Wassermenge und sammelte wichtige +Aufklärungen über die Gegend und den Fluß bis zur Mündung des +Aksu-darja. Die Leute wußten von keinem Hindernisse auf dem Wege +dorthin zu erzählen und versicherten, daß wir dann so viel Wasser im +Flußbette haben würden, daß es mit rascher Fahrt vorwärtsgehen würde. + +Nachdem alle für ihre Dienste entschädigt worden waren und der Bek +uns einen neuen, in der Gegend heimischen Jäger und einen neuen Hund +besorgt hatte, der den Namen „Hamra“ (Reisegefährte) erhielt, fuhren +wir am 25. Oktober tiefer in die Einöden hinein. Die Wassermenge war +auf 14,3 Kubikmeter gesunken. + +Eine Tatsache, die uns sehr zustatten kam und über deren Dasein +und Erklärung man uns in Mattan Bescheid gab, war, daß der Fluß im +Oktober wieder ein wenig zu steigen anfängt. Dies würde als Anomalie +erscheinen, wenn man nicht eine befriedigende Erklärung dafür erhielte. +Der Grund liegt darin, daß das Wasser vieler Bewässerungskanäle, das +in dieser Jahreszeit nicht länger für die Äcker gebraucht wird, in +Gestalt von Quellen in den Fluß zurückkehrt. Am 26. Oktober fanden wir +17 Kubikmeter, fast 3 Kubikmeter mehr als gestern. + +Der 27. war ein interessanter Tag, denn wir wußten, daß wir am Abend +an die Mündung des Aksu-darja gelangen würden. Es war ein stiller, +herrlicher Herbstmorgen; der Fluß war blank wie ein Spiegel, in dem +sich die Ufer so scharf widerspiegelten, daß man genau aufpassen mußte, +um zwischen Spiegelbild und Wirklichkeit unterscheiden zu können. + +Alten Wald gibt es hier nirgends, nur junge Pappeln, dagegen aber +Tamarisken und anderes Gesträuch in Menge. An einem Punkte, wo wir an +Land gingen, ergriff Hamra die Flucht, und erst nachdem eine richtige +Treibjagd auf ihn angestellt worden war, gelang es uns, ihn wieder +einzufangen. Er war ein Wilder, der lange nicht heimisch wurde, und +vergeblich versuchte Jolldasch, ihn zum Spielen zu bringen. + +Mit steigender Spannung spähten wir nach dem Erscheinen des großen +Flusses aus, der für die Männer von Lailik ein Fremdling war, von +dessen Dasein sie nur hatten erzählen hören und dem sie sich nun mit +einem gewissen Respekt nahten. „Hinter jener Pappel dort,“ erklärte +Mollah, „wird er erscheinen.“ Als er sich hierin irrte, versuchte er es +mit der nächsten Biegung und verriet damit bloß, daß er hier weniger +gut Bescheid wußte als bisher. + +Mittlerweile nahm die Stromgeschwindigkeit ab, und schließlich ging es +so langsam, daß die Fähre mit den Stangen weitergestoßen werden mußte. +Die Leute stießen, schoben und sangen im Takte, denn unser Ziel mußten +wir zum Abend erreichen. Bei einer Gelegenheit blieb Alims Stange im +Schlamme stecken, während die Fähre weitertrieb; er aber wußte guten +Rat, er entledigte sich der Kleider, schwamm zu seiner Stange hin, +machte sie los und kehrte dann schwimmend mit ihr nach der Fähre zurück. + +Mittags hatten wir in der absoluten Windstille echte Sommerhitze, und +ich saß in Hemdärmeln und sog den Duft von Aprikosen, Trauben und +Birnen ein, die in einer Schüssel auf dem Teppiche lagen. + +Nach ein paar letzten Krümmungen schien sich die Landschaft vor uns +aufgetan zu haben, und jetzt trat der mächtige Aksu-darja in all +seiner Herrlichkeit hervor (Abb. 34). Mit gespannter Aufmerksamkeit +betrachteten die Männer von Lailik diesen Riesenfluß und fragten: +„Sollen wir uns auf seine unruhige Fläche hinauswagen?“ + +Merkwürdigerweise biegt der Jarkent-darja gerade beim Zusammenflusse +nach Nordwesten ab. Der Aksu-darja kommt von Nordnordwest, und der +vereinigte Fluß, der von da an meistens Tarim genannt wird, obwohl +bis in die Lop-nor-Gegend noch hin und wieder der Name Jarkent-darja +vorkommt, wendet sich nachher nach Osten. Der Aksu-darja ist +hinsichtlich der Richtung der bestimmende und, nach Aussage der +Eingeborenen, auch zu allen Jahreszeiten der wasserreichere der beiden +Flüsse. + +Wir verließen den letzten Vorsprung des rechten Ufers und gingen nach +dem linken Ufer hinüber. In dem untersten Teile hatte die Strömung +nicht nur aufgehört, sondern kehrte unter dem mächtigen Drucke des +Wassers des Aksu sogar um. Es hing an einem Haare, so wäre unser +Fahrzeug in den nächsten Wasserwirbel hineingezogen worden. Es gelang +uns aber noch im letzten Augenblick, am Ufer festen Fuß zu fassen und +die Fähre zu vertäuen, sonst wären wir unfehlbar mit fortgerissen +worden, und das hätte uns nicht gepaßt, da wir beabsichtigten, an der +Stelle des Zusammenflusses selbst, +Jarkent-darjaning-kuilüschi+, +Rast zu machen, um das Fahrwasser genauer zu untersuchen, bevor wir die +Reise fortsetzten (Abb. 35). + +Der Ruhetag wurde zu allerlei Arbeiten benutzt; ich machte eine +astronomische Bestimmung, entwickelte und kopierte Platten, +photographierte, machte einen Ausflug mit der Jolle, um das geeignetste +Fahrwasser zu sondieren, und kam erst lange nach Mitternacht zur +Ruhe. In dem großen Flusse war das Wasser im Gegensatze zu dem des +Jarkent-darja, das sich infolge des langsamen Fließens klären kann, +sehr trübe. Massen von Wildgänsen flogen über das Lager weg in +herrlicher, bewundernswert geordneter, pfeilspitzenförmiger Phalanx, +zwischen deren Flügeln sich oft ein paar einzelne Vögel befinden. +Ich habe die weiten Reisen dieser klugen Vögel stets bewundert und +angestaunt; sie kommen vom Lop-nor und gehen über Jarkent nach Indien. +Sie flogen etwa 200 Meter hoch und schrien die ganze Zeit, und ehe +noch die eine Schar wie ein Punkt am Horizont verschwunden war, +kam schon die zweite mit demselben ängstlichen Geschrei von Osten +herangesaust. Diese eilfertigen Pilger finden ihren Weg durch die +Luft so sicher, wie die Bächlein der schmelzenden Schneefelder und +der Gletscher den Weg nach dem Lop-nor finden. Vielleicht sind sie, +gleich den Wassertropfen, willenlose Sklaven einer ihnen innewohnenden +Naturkraft. Ich ziehe indessen vor zu glauben, daß sie sich, wenn sie +oben in der Luft schreien, über den Weg, den nächsten Rastort oder die +ihnen drohenden Gefahren beraten. Gewiß ist, daß man der Phalanx, wenn +sie auf unermüdlichen Flügeln über die Erdenmisere hinwegjagt, mit +sehnsüchtigen Blicken folgt. + +Als wir am Morgen des 29. vom Lande abstießen, klang das „Bißmillah“ +der Muselmänner nachdrücklicher als gewöhnlich, und sie standen +auf ihren Posten mit gespannten Muskeln und faßten die Stangen mit +so festem Griffe, daß die Knöchel der Hände weiß aussahen. Es war +jedoch nicht so gefährlich, als sie geglaubt hatten. Die Fähre wurde +allerdings von einem ziemlich heftigen Wirbel erfaßt und drehte sich +einmal rund herum, glitt dann aber ebenso sicher wie sonst weiter. + +Wir hatten nicht weit bis zu dem Punkte, wo der Weg zwischen Chotan und +Aksu den Tarim kreuzt; dort gibt es eine Fähre, die sechs Kamele auf +einmal überzusetzen vermag. + +30. Oktober. Der Fluß war heute wunderbar gerade; keine einzige Biegung +betrug 60 Grad, alle waren stumpf und langgestreckt. Der Flußweg war +daher nicht viel länger als der Pfad, der längs des linken Ufers nach +der Gegend von Schah-jar geht. Die letzte Strecke vor der Dämmerung +spähte ich gespannt nach rechts, nach Süden, um mir die Mündung des +Chotan-darja nicht entgehen zu lassen. Endlich zeigte sich in dem +jungen Walde eine breite Gasse, ein flaches, ein paar Meter über dem +Spiegel des Aksu-darja liegendes Bett, das jetzt ganz trocken und leer +war. Während der kurzen Zeit, in welcher der Chotan-darja Wasser führt, +soll er ein gewaltiger Fluß sein, und tatsächlich wird der Aksu-darja +unterhalb dieser Einmündung viel breiter und reich an Anschwemmungen. +Doch die Richtung des Hauptflusses wird durch den Nebenfluß nicht +im geringsten beeinflußt. Wieder wurde ich an die verhängnisvolle +Wüstenreise von 1895 erinnert, doch ich sah in dem Chotan-darja einen +treuen Freund wieder, der mir einst das Leben gerettet. + +Die Landschaft ist in dieser Gegend einförmig, offen und flach; alles +ist groß angelegt: die Wasserflächen sind ausgedehnt, das Schwemmland +endlos, die Ufer etwa einen Kilometer auseinander und der Wald so weit +entfernt, daß man die Pappeln kaum in der Mittagsbrise rauschen hört. + +An Bord herrscht eine heitere Stimmung, und die Männer von Lailik +betrachten mit größter Spannung die neue Welt, die sich vor ihren Augen +aufrollt. Der Joll-begi ist noch bei uns; er sitzt vor meinem Zelte und +gibt mir wertvolle Auskunft über die Gegend, die Namen der Ufer, Hirten +und Dörfer und das Wechseln der Wassermenge im Laufe des Jahres. Der +neue Hund Hamra fängt allmählich an, sich in sein Schicksal zu finden +und sich umzugewöhnen. Er sieht Jolldasch beim Mittagessen sehr auf +die Finger, läßt sich aber noch nicht herab, mit ihm zu spielen. Einer +unserer Hähne pflegt auf dem First des Zeltes zu sitzen und zu krähen, +und die Hühner, die jetzt auf der großen Fähre frei umherlaufen und +picken dürfen, machen mir nicht selten eine Visite. + +Die Fähre glitt mit außergewöhnlicher Schnelligkeit den endlosen +Fluß hinab, und es war schon tief in der Nacht, als wir nicht ohne +Schwierigkeit an einem abschüssigen Ufer anlegten. Die ausgelassene, +laute Unterhaltung der Leute am Lagerfeuer wurde von dem Bellen einiger +verirrter Füchslein, die nach ihrer Mutter schrien, begleitet; so +deutete ich mir wenigstens die eigentümlichen Töne, die aus dem Walde +erschallten. + +Am Morgen des 31. Oktober hatten wir uns noch nicht weit vom Ufer +entfernt, als der Wind aufsprang und in kurzer Zeit zu ungewöhnlicher +Stärke anschwoll. Ich war winterlich angezogen, im Pelze, mit einer +Reisedecke und in Filzstiefeln; trotzdem erfror ich beinahe in +diesem heimtückischen Winde, der gerade ins Zelt hineinfuhr und +dessen Leinwand wie einen Ballon zu zersprengen drohte. Die Finger +erstarren vor Kälte, und man kann nicht so fein wie gewöhnlich +zeichnen; man muß dann und wann aufstehen, sich die Hände reiben +und die Füße warmstampfen. Das Flußbett ist so breit und flach, daß +der Sturm ungehindert über das Land und die Wasserfläche hinfahren +kann, welch letztere gestern noch ruhig wie ein Spiegel lag und +jetzt zu schaumgekrönten Wellen aufgerührt ist, die so gegen den +Vordersteven der Fähre schlagen, daß das ganze Schiff bebt. Da das Zelt +fortzufliegen drohte und nicht einmal die Strömung länger gegen den +Gegenwind ankonnte, ließ ich halten, obwohl wir nur ein paar Stunden +unterwegs waren. + +Sobald wir am Lande angelegt, ein Feuer angezündet und uns etwas +gewärmt hatten, ließ ich die Jolle auftakeln und eilte, zur großen +Bewunderung der Männer, die das Segelboot bei solchem Wetter noch nicht +fahren gesehen, auf dem Wege, den wir gekommen waren, wieder zurück. +Das leichte Boot flog buchstäblich über das Wasser; die heftigsten +Windstöße schienen es so zu heben, daß sein Boden die Wasserfläche nur +streifte. Über einen Sandgrund glitt ich wie über ein Nichts hinweg; es +knackte im Maste, und das Steuerruder wurde sehr angestrengt, aber es +war herrlich in dieser wilden, großartigen Einsamkeit, und bald war die +Fähre hinter einer Landspitze verschwunden. + +Nun war ich wieder ganz allein im Herzen von Asien; nur die schäumenden +Schlagwellen, die herbstlich gelben Schonungen und der in ungezügelter +Raserei dahinjagende Wind leisteten mir Gesellschaft, und ein Gefühl +des Wohlbehagens erfüllte meine Seele, als gehörten diese unendlichen +Strecken mir, und als könnte ich, unabhängig von Mandarinen und +Häuptlingen, hier im Lande herrschen, wie ich wollte. Der Wind +flüsterte mir ins Ohr, daß dieser gewaltige Fluß hier viele tausend +Jahre auf mein Kommen gewartet habe und daß der Tarim, dem Gebote +eines höheren Willens gehorchend, seine blanke Bahn nur deshalb durch +die Wüste ziehe, damit er mir die beste Fahrstraße nach dem Herzen +des Kontinents bieten könne. Wer konnte mir das Eigentumsrecht auf +diesen Wasserweg streitig machen? Vielleicht die Hirten, die mit +ihren Herden an den Ufern wanderten und wie erschreckte Antilopen +entflohen, sobald wir lautlos hinter den Landspitzen auftauchten? Wer +konnte uns anhalten, uns Zoll und Paß abfordern? Vielleicht die Tiger, +deren smaragdgrüne Augen abends zwischen den Nadeln der finsteren +Tamariskendickichte funkelten? Niemand kannte diesen Fluß besser als +ich. Die Jäger, diese Kinder wilder Wälder, die wir tagelang mitnahmen +und die wir verabschiedeten, sobald ihr Wissen erschöpft war, kannten +nur die Gegend, innerhalb deren Grenzen sie der Spur des flüchtigen +Hirsches zu folgen pflegten, aber jenseits dieser Grenzen verloren sie +sich in Mutmaßungen über das für sie Geheimnisvolle und wußten weder, +woher der Fluß kam, noch wohin seine unerschöpflichen Wassermassen +eilten. Ich dagegen sammelte in meinen Tagebüchern alles, was die Söhne +des Landes wußten; ich lebte Stück für Stück mit diesem rastlosen +Flusse, ich fühlte ihm jeden Abend den Puls und maß seine Wassermenge +genau, und ich wußte, daß, wenn der Fluß auch Jahrtausende hindurch +derselbe geblieben war, er doch sein Bett veränderte, während sein +Wasser seinem Untergange in dem fernen Lop-nor entgegeneilte, wo es in +anderer Gestalt wieder auferstehen und seinen Kreislauf zwischen Himmel +und Erde fortsetzen würde. Die Geschichte und der Lebenslauf des Tarim +lagen bei mir in Wort, Bild und Karte wie in einem Archive verwahrt, +und kein Tag verging, ohne daß sich das Material vermehrte und zu +einer Monographie anwuchs, von der ich in dieser Arbeit nur einen ganz +geringen Teil, ohne die ermüdenden Einzelheiten, mitteile. + +Auf einer solchen Eilfahrt bei günstigem Winde gedenkt man gar nicht +der zunehmenden Entfernungen. Endlich aber erwachte ich aus meinen +Träumen, steuerte nach dem nächsten Ufer, zog das Boot hinauf und +vertäute es und ging dann in den jungen Wald hinein, um ein Feuer +anzuzünden und mein mitgebrachtes Frühstück zu verzehren. + +Auf der Rückfahrt dachte ich an die nächste Zukunft und sah sie in +den lichtesten Farben glänzen. Was sie in ihrem Schoße tragen konnte, +wußte ich nicht, aber ich wußte, daß alle Pläne, um gut zu gelingen, +klug ersonnen sein mußten, und deshalb drängten sich mir eine Menge +Fragen auf: Würden wir mit dem ganzen Flusse vor Eintreten der +Winterkälte fertig werden? Wo sollte das Hauptquartier, von dem die +großen Exkursionen ausgehen sollten, aufgeschlagen werden? Würden die +Dschigiten mich finden und mir gute Nachrichten aus der Heimat bringen? +-- Zu rechter Zeit war ich wieder an Bord und kopierte Negative. +Ich wollte der Sicherheit wegen von allem zwei Exemplare haben. So +wurden z. B. die täglichen Aufzeichnungen erst mit Bleistift in kleine +Bücher geschrieben und dann abends mit Tinte in das große Tagebuch +eingetragen. Dies verursachte viel Extraarbeit, verlieh aber auch +ein Gefühl der Sicherheit; +ein+ Exemplar wenigstens mußte doch +glücklich mit heimgebracht werden können. + +Das einzige, was meine Geduld sehr auf die Probe stellte, war der Wind +oder vielmehr, daß wir meistens Gegenwind hatten. Am 1. November +machte der Fluß eine Biegung nach Norden, und der Wind kam aus +derselben Richtung. Vorn im Zelte hatte ich den ganzen Tag Schatten, +obwohl die Sonne gerade jetzt ein willkommener Gast gewesen wäre. +Die Minimaltemperatur war auf -8,8 Grad heruntergegangen, das Wasser +in dem auf meinem Nachttische stehenden Glase und die Tinte waren +gefroren, und ich schauderte, wenn ich in die eiskalten Kleider kroch. +Es wäre einfach gewesen, ein Kohlenbecken in das Zelt zu stellen, +aber ich wollte dies so lange wie möglich vermeiden, um den Gang der +selbstregistrierenden Instrumente nicht zu stören. + +Von +Kara-tograk+ an ist der Fluß so gerade wie noch nie. Er +erstreckt sich unendlich weit nach Nordnordosten und vor uns, am +Horizont, schien die Wasserfläche direkt in den Himmel überzugehen; es +ist, als verließe sie die Erde und ergösse sich in den grenzenlosen +Weltenraum. + +Während der letzten Tage hatten wir beobachtet, daß der Fluß ein wenig +stieg, was davon kam, daß die Kanäle für dieses Jahr gesperrt worden +waren und nun dem Flusse den Rest der Anleihe zurückzahlten. Die +gewaltige Wassermasse arbeitete mit großer Energie in dem Bette, und an +ein paar Stellen, wo die Sanddünen unmittelbar nach dem Ufer abfielen, +sah man, wie sie an der Basis unterminiert wurden, so daß allmählich +immer neuer Sand nachrutschte. + +Wo die Uferwand aus Lehm besteht, ist sie oft nicht nur lotrecht, +sondern hängt sogar über. Gerade als wir an solch einem vorspringenden +Tische vorbeistrichen, stürzte dieser ins Wasser, überschüttete die +Steuerbordseite mit einer kalten Dusche und verursachte solchen +Seegang, daß die schwere Fähre stark schaukelte. Ziemlich oft ertönen +dumpfe Schüsse wie von einer fernen Festung, wenn Blöcke, die ihr +Gewicht nicht mehr zu tragen vermögen, ins Wasser stürzen. + +Eine Strecke weiter unten tauchte eine einsame Wanderin aus dem Schilfe +auf. Sie rief uns an und sagte, sie wolle uns zehn Eier schenken. +Die Fähre wurde nur so nahe ans Ufer geschoben, daß ihr Achter das +Schiff berührte, Islam nahm das Bündel mit den Eiern in Empfang und +gab der Frau einige Münzen. Wir brauchten nicht einmal anzuhalten, um +das Geschäft abzuschließen. Doch keiner an Bord konnte sagen, wer die +Wanderin sei. Es ging uns mit ihr wie mit dem Winde, wir wußten nicht, +woher sie kam, noch wohin sie ging. + +[Illustration: 35. Landung an der Mündung des Aksu-tarja. (S. 84.)] + +[Illustration: 36. Unser Nachtlager bei Ala Kunglei Busrugvar. (S. 92.)] + +An dem Lagerplatze dieses Abends, der +Leschlik+ hieß, führten +die Fährleute zur Belustigung der anderen ein komisches Schauspiel +auf. Zwei Männer tragen je einen Kameraden wie einen Mehlsack auf +dem Rücken. Dieser wird, ohne den Zweck zu ahnen, an Händen und +Füßen gebunden, jene haben sich mit Stöcken bewaffnet und prügeln +aus Leibeskräften auf einander los. Die Schläge treffen die +unglücklichen Mehlsäcke, die in Wut geraten und einander ausschimpfen. +Wenn es dem einen Träger gelungen ist, dem Sacke seines Gegners einen +Hieb zu versetzen, so sucht sich der Gegner zu rächen und prügelt den +Sack des ersten Trägers so, daß der Stock pfeift. Das Opfer treibt +dann seinen Träger an, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, und dieser +schlägt nun wieder -- nicht den, der die Prügel ausgeteilt hat, sondern +seinen gefesselten Reiter. Palta und Naser waren es, die schlugen, und +Kasim und Alim diejenigen, welche die Schläge erhielten. Palta und +Naser lachten, daß ihnen Tränen in die Augen traten, während Kasim und +Alim vor Wut heulten und die Zuschauer, zu denen auch ich gehörte, +vor Lachen beinahe erstickten. Um Gelegenheit zur Rache zu erhalten, +schlugen Kasim und Alim vor, sie wollten nun auch eine Weile die Rolle +der Träger spielen, wogegen aber die beiden anderen protestierten; +sie hatten zu nachdrücklich drauflosgeschlagen und hatten nun ein +schlechtes Gewissen. Diese Posse hatte den Vorteil, daß beide Parteien +in der Abendkälte erwärmt wurden. + + + + +Neuntes Kapitel. + +In schwindelnder Fahrt flußabwärts. + + +Die Temperatur der Luft und des Wassers war in langsamem, aber stetigem +Sinken begriffen, und es war klar, daß der Tag, an welchem das Treibeis +seine größten Dimensionen annehmen würde, nicht mehr lange auf sich +warten lassen konnte. Die Achterdeckspassagiere ließen sich von der +Kälte nicht anfechten. Jetzt hatten sie immer ein größeres Feuer auf +dem Herde und hockten in ihren Pelzen um die Glut herum, plaudernd, +Märchen erzählend, Kader als Vorleser zuhörend oder Brot backend. +Auch die Fährleute wärmten sich dort der Reihe nach ein bißchen, ich +aber konnte meinen Schreibtisch nur zwischen langen Kompaßpeilungen +verlassen, um ihrem Beispiele zu folgen. + +Der Joll-begi versäumte nie, mir alle Namen oder Flußbettveränderungen +mitzuteilen, doch heute, 2. November, war er unpäßlich. Er bekam eine +Dosis Chinin und hatte sie kaum hinuntergeschluckt, als er auch schon +versicherte, er fühle sich bedeutend besser. Die Einbildung tut viel +hier auf Erden. Der gute Mann war gewiß ganz einfach seekrank infolge +der rasenden Geschwindigkeit unserer heutigen Fahrt. + +In der kalten, ruhigen Morgenluft, in welcher der Schall scharf und +deutlich weithin über die Wasserflächen getragen wird, hörte es +sich an, als würden in der Gegend eine Masse Häuser niedergerissen, +denn unausgesetzt stürzten Sandmassen und Erdblöcke, die über Nacht +gefroren, in der Sonne aber wieder aufgetaut waren, in den Fluß. Es +ging prächtig. Nur einmal fuhren wir fest; es sah eigentümlich aus, +als das Wasser plötzlich um die Fähre, die eben noch so schön mit dem +Strome trieb, zu kochen und zu schäumen anfing. Es brauchte aber keiner +hineinzuspringen, denn da das Vorderende aufgerannt war, drehte sich +das ganze Fahrzeug im Kreise und wurde dadurch wieder flott. + +Kasim geht wie gewöhnlich voran und unaufhörlich ruft er und warnt vor +Untiefen, steckengebliebenem Treibholz, abgestürzten Uferwällen oder +anderen kritischen Punkten. Palta führt das Kommando auf der großen +Fähre; er ist stets kaltblütig und guter Laune, brüllt aber die Männer +im Achter fürchterlich an, wenn ein schnelles Manöver ausgeführt werden +muß, um einen Zusammenstoß zu vermeiden. Die anderen setzen blindes +Vertrauen in seine Seetüchtigkeit; er hat aber auch mehrere Jahre die +Fähre zwischen Lailik und Merket geführt. + +Heute durfte keiner schlafen; alle standen mit festgefaßten Stangen +spähend da, als ob sie eine Katastrophe erwarteten. Die Strömung ließ +ihnen keine Ruhe, und immer schneller ging es den Tarim hinunter. + +Ein einziges Mal, in einer scharfen Biegung, in der die Strömung +die Fähre mit wilder Hast gegen das Ufer drängte, konnten sie nicht +ausweichen. Das schwere Fahrzeug trieb gerade auf das steile Ufer los, +und nun galt es, rechtzeitig mit den längsten Stangen das Vorderschiff +abzustoßen, die Fähre in einen spitzen Winkel mit dem Ufer zu bringen +und sie so zu drehen, daß sie wieder mit der Strömung parallel +lag. Doch die Leute kamen nicht mehr dazu; es ging zu schnell, das +Vorderende stieß mit aller Kraft auf, und ein paar Purzelbäume waren +die Folge. Weiter geschah kein Unglück, nur ein paar Schaufeln Erde +fielen auf das Deck. Wir legten jetzt 78 Meter in der Minute zurück. + +Von der Walddüne +Balik-ölldi+ (der tote Fisch) an wird die +Stromgeschwindigkeit noch größer. Hier hat sich der Fluß auf einer +Strecke von zwei Tagereisen seit drei Jahren ein neues Bett gegraben. +Das alte, Kona-darja, bleibt trocken und verlassen zur Linken liegen, +mit ihm auch der Wald. + +In dem neuen Stromlaufe veränderte sich auf einmal der Charakter des +Flusses. Er wurde schmal und gerade, und man sah alle Kennzeichen +dafür, daß er von der Erosion des Wassers noch nicht genug +ausgearbeitet worden war. Die Landschaft war öde, der Boden bestand +aus Sand. Das Bett ist außerordentlich scharf markiert. Da wo die +Krümmungen das Bett noch nicht haben erweitern können, gleicht es +einem engen Korridor, und von den hohen, jähen Ufern stürzen Massen +von Sand und ganze Blöcke in den Fluß, so daß es aussieht, als steige +am Wasserrande Rauch auf. Wiederholt liefen wir Gefahr, von derartigen +Erdrutschen ertränkt zu werden. Wenn je, so hieß es hier aufpassen; es +ging mit schwindelnder Fahrt, und wir hatten das Gefühl, als würden +wir widerstandslos in einen Strudel hineingerissen; doch es blieb uns +nichts weiter übrig, als bereit zu stehen und die Stöße zu parieren. + +Nun hörten wir Kasim der großen Fähre ein verzweifeltes Halt zurufen. +Der Fluß war nur 20 Meter breit, mitten im Fahrwasser war eine +treibende Pappel auf Grund geraten, und auf derselben hatte sich eine +solche Masse von Reisig und Schilfwurzeln aufgehäuft, daß das Ganze +einen kleinen Holm bildete. Weißschäumend wirbelte das Wasser um den +Holm, und wäre die Fähre der Strömung gefolgt, so hätte sie unfehlbar +anprallen müssen und wäre dann von der Wucht des Stoßes und dem +nachdrängenden Wasser zum Kentern gebracht worden. + +Nur 50 Meter trennten uns von der gefährlichen Stelle; die Katastrophe +schien unvermeidlich. Die Angst schnürte mir die Kehle zusammen; ich +fürchtete, daß in diesen kochenden Strudeln alles verloren gehen +könnte, und an Bord herrschte ein entsetzlicher Wirrwarr. Im letzten +Augenblick gelang es dem flinken Alim, mit einer Leine an Land zu +springen. Das Ufer war sehr steil, und beinahe wäre er in den Strom +hinuntergerutscht, faßte aber noch festen Fuß und zog die Leine aus +Leibeskräften an, unterstützt von den anderen, die unter dem wilden Ruf +„ja Allah“ die Stangen entgegenstemmten. Die Fähre machte kurz vor dem +Holme Halt, und die Strömung kochte und wogte um sie herum. + +Um Kasim rekognoszieren zu helfen, stieg ich in die Jolle, die ich +mitten in der Strömung verankerte, um auch mit dem Strommesser die +Geschwindigkeit zu messen. Doch in dem hier herrschenden Sog war dieses +Manöver ziemlich gefährlich, ehe man es richtig ausführen konnte. Das +erste Mal war ich drauf und dran zu kentern; das Boot war halb voll +Wasser und das in Arbeit befindliche Kartenblatt durchweicht. Sowie der +Anker Grund gefaßt hatte, legte sich die Jolle so schief, daß die eine +Längsseite gegen die Strömung lag; doch nachdem das Ankertau in das +Vorderteil gezogen worden war, legte sich das Boot parallel mit ihr, +ängstlich wie ein Pendel schwingend. Der Strommesser zeigte 101 Meter +in der Minute, welche Geschwindigkeit sich während der ganzen Tagereise +nicht verminderte. + +Unterdessen gelang es den Männern, den Vordersteven der Fähre von dem +gefährlichen Holme abzuhalten, und nun ging es über die schäumende +Stromschnelle hinweg. Nachher wurde die Fahrt durch dieses öde Land, +wo kein lebendes Wesen an den Ufern zu sein schien, ungehindert +fortgesetzt. Nicht weit südlich vom Jangi-darja sollen Jäger dann und +wann Spuren von wilden Kamelen finden, doch an den Fluß selbst kommen +diese scheuen Wüstentiere niemals. + +An dem Masar +Ala Kunglei Busrugvar+, wo sich einige Hirten +aufhielten, erschien es uns passend, die Nacht zu bleiben, um so +mehr, als die Männer dem Heiligen dafür danken wollten, daß er uns +unbeschädigt über die Stromschnellen hatte kommen lassen. + +Die Fähre mitten in der reißenden Drift zum Halten zu bringen, war +nicht leicht. Ich landete zuerst mit der Jolle, Alim warf mir eine +Leine zu, und dann zog ich die Fähre so dicht ans Ufer, daß er an Land +springen und das übrige besorgen konnte (Abb. 36). + +Als die Fähre vertäut war, rüttelte das Wasser an ihr; es knackte in +ihrem Holzwerke, und um die Jolle herum, die vor dem Vordersteven +angebunden war, brodelte weißer Schaum. Es dröhnt von den Jarufern, +wo Blöcke herabstürzen, man hört den Sand sausend die Böschungen +herunterrutschen, und es knistert in dem Lagerfeuer auf dem kahlen +Ufer, sonst aber ist die Gegend friedlich, sogar die Hunde sind zur +Ruhe gegangen, denn hier ist nichts anzubellen. + +Am 3. November schlängelte sich das Bett mehr, die Fahrt war aber +ebenso gut. Es wurde uns nur schwer, in scharfen Buchten mit +Gegenströmung glatt durchzukommen. In einer solchen wäre die Jolle +beinahe zwischen den beiden Fähren zerquetscht worden, wenn ich sie +nicht noch im letzten Augenblick hätte retten können. Morgens früh war +eine kleine Wasseransammlung am Ufer mit dünnem, spiegelblankem Eise +bedeckt, dem ersten, was wir bisher gesehen. Schließlich passieren wir +den Punkt am linken Ufer, wo der Jangi-darja wieder in den Kona-darja +mündet; damit wird die Geschwindigkeit des Wassers wieder die +gewöhnliche. In +Tellpel+, dem heutigen Lagerplatze, wohnen neun +Hirtenfamilien mit 8000 Schafen. + +Die Hirten dieser Gegend bedienen sich des folgenden Fischereigerätes. +Es ist ein Netz, das fächerartig in einer dreizinkigen Gabel, die +unmittelbar über der Wasserfläche an einer Achse befestigt ist, +ausgespannt wird. Das Ganze gleicht einem Fledermausflügel, der +mittelst einer Leine unter das Wasser herabgelassen und wieder in +die Höhe gezogen werden kann. Wenn der Flügel heruntergelassen und +aufgespannt ist, wird der Fisch in die Falle gejagt, und wenn man +fühlt, daß er gegen das Netz stößt, schließen sich die Arme der Gabel, +das Netz faltet sich wie eine Tüte und wird emporgezogen. + +Der Joll-begi war verabschiedet worden; ein Hirt, der in der Geographie +des Landes weniger gut als wünschenswert gewesen wäre, bewandert war, +hatte uns nur einen Tag begleitet, aber in Tellpel fanden wir einen +alten Ehrenmann, der für uns unschätzbar war. Er hieß Mollah Faisullah, +war 54 Jahre alt, hatte einen großen weißen Bart und trug eine +gewaltige Hornbrille; er war stets heiter und gesprächig und las den +Achterdeckpassagieren vor. + +Am 4. und 5. November nahm der Fluß wieder einen anderen Charakter an. +Er war schmal, hatte ein deutlich ausgearbeitetes Bett und war ziemlich +reißend. An beiden Seiten dehnte sich eine unendliche Steppe von gelbem +Schilf, aus der einzelne, mit Tamarisken bewachsene Dünen wie Inseln +hervortraten. Es war eine Zwischenstufe zwischen einem alten und einem +neuen Bette, und tatsächlich sollte es auch erst acht Jahre alt sein. +Der Tarim verändert also seine Lage, aber nur auf kurzen Strecken +seines Laufes, und es ist interessant zu beobachten, daß wir die +alten, verlassenen Flußbettstücke beinahe immer im Norden liegen lassen +oder, mit anderen Worten, daß der Fluß nach rechts wandert. Daß an dem +neuen Flußbette kein Pappelwald steht, ist natürlich, denn er hat noch +nicht aufsprießen können. Doch an den verlassenen Strecken steht er +dicht und üppig, obgleich er dort gewöhnlich zum Untergange verdammt +ist, wenn das Wasser sich zurückgezogen hat. + +Was dazu beitrug, die Einförmigkeit an Bord zu unterbrechen, waren die +plötzlichen Einfälle der Hunde. Sie pflegten ins Wasser zu springen, +an Land zu schwimmen und dann die Fähre am Ufer ganze Tagereisen +zu begleiten. Was sie jedoch nie begreifen lernen konnten, waren +die sich regelmäßig wiederholende Topographie des Flusses und seine +Erosionsgesetze. Wenn die Fähre an einem konkaven Ufer entlang ging, +liefen sie oberhalb des Zeltes nebenher; wenn dann aber die Wassermasse +das Bett kreuzte, um am anderen Ufer einen ebensolchen Bogen zu +beschreiben, schwammen sie hinüber, um wieder in unserer unmittelbaren +Nähe zu sein. Dieses Manöver wiederholte sich überflüssigerweise bei +jeder Biegung, und es war unmöglich, ihnen begreiflich zu machen, daß, +wenn sie nur warteten, wir bald wieder an ihr Ufer zurückkehren würden. +An einigen Tagen kreuzten sie den Fluß zwanzigmal und waren schließlich +so erschöpft, daß sie heulten. Jolldasch war lustig anzusehen, wenn er +im Wasser plätscherte, nach Atem rang und nach jedem kalten Schluck +hustete. + +Bei +Initschke+ hatte der Fluß 80,6 Kubikmeter Wasser in der +Sekunde, und es war deutlich zu sehen, daß er allmählich stieg -- +in einer Nacht um 5 Zentimeter. Diese letzte Messung erforderte +dreistündige Arbeit bei Laternenschein. Der Fluß war zu breit, als daß +wir, wie sonst, ein Tau von Ufer zu Ufer hätten spannen und das Boot an +den Messungspunkten daran festbinden können. Die Strömung, die bis zu +86 Meter in der Minute betrug, war auch viel zu reißend, als daß sich +das Tau überhaupt hätte hineinbringen lassen. Ich versuchte freilich, +damit hinüberzurudern, doch gelang es mir nicht. Statt dessen wurde +ein dünner, mit weißen Knoten eingeteilter Bindfaden von Ufer zu Ufer +gespannt und an jedem Knoten die Jolle verankert. + +In der Nacht auf den 5. November stieg der Fluß noch um 2 Zentimeter. +Der Tarim fließt jetzt wieder nach Nordost. Auf einer sandigen +Alluvialhalbinsel bei Hässemet-tokai saßen zwölf dunkelgraubraune, fast +schwarze Geier, gewaltige, plumpe Vögel, die uns ruhig betrachteten +und nur die Köpfe wie Sonnenblumen drehten, während die Fähre um ihre +Landzunge herumfuhr. Sie hatten sich hier bei dem Kadaver eines Pferdes +zusammengefunden. Die Geier waren entschieden satt; sie saßen in +Gruppen in einiger Entfernung von dem Kadaver, schienen zu verdauen +und ließen sich von einigen dreisten Raben Gesellschaft leisten. Etwas +weiter unten passierten wir wohl 40 Geier, die auf den dürren Zweigen +abgestorbener Pappeln thronten; sie saßen wie Höllengeister oder +Todesdämonen in dem struppigen Walde da, und die Umgebung paßte gut zu +ihrer unheimlichen Erscheinung. + +Da war es angenehmer, den endlosen Karawanen der Wildgänse, die noch +immer nach Westen zogen und aus Scharen von 80-100 Vögeln bestanden, +mit den Blicken zu folgen. Sie fliegen in den feinsten Drachen- oder +Pfeilspitzen, von denen gewöhnlich ein Flügel sehr lang und der andere +kürzer ist. Stets sieht man an der Spitze einen Führer, der geradeaus +fliegt und nie über die einzuschlagende Richtung unschlüssig zu sein +scheint, während die Flügel, den Bewegungen des Führers entsprechend, +hin und her wogen wie zwei im Winde flatternde Blätter. + +Charakteristisch für diesen Teil des Tarimlaufes war auch die Menge +des steckengebliebenen Treibholzes und der auf Grund geratenen +Pappelstämme. Viele von diesen gehen mit der Zeit unter, andere +befinden sich in einem Stadium abnehmender Tragkraft. Nur das eine Ende +ist untergegangen, während das andere noch in der Richtung der Strömung +liegt und nickend über der Oberfläche auf und nieder steigt. Oft sah +ein solcher Pappelstumpf wie eine auf uns zuschwimmende Seeschlange +aus. Doch nur das um das Hindernis herum kochende Wasser täuschte +das Auge; wir waren es, die sich näherten und darüber hinwegglitten, +während der Stumpf wie ein Wasserkobold gegen den Boden der Fähre +schlug. + +Aus dem Hirtengehöfte +Bostan+ nahmen wir am 6. November einen +neuen Cicerone, einen Jäger, mit, aber Mollah Faisullah durfte trotzdem +bei uns bleiben, denn er war lustig und heiter und las den anderen vor +von den Taten und Leiden der Helden und von sagenhaften Städten mit +tausend Toren und tausend Wächtern an jedem Tore. Die Bewohner von +Bostan wollten uns Melonen schenken, wir nahmen sie aber nicht an, da +solche Delikatessen jetzt nachts gefrieren. Dagegen ließen wir uns +einen großen weißen Hahn gefallen, der kaum an Bord gebracht war, als +er auch schon auf den alten Hahn losfuhr und ihn über Bord drängte. Da +der neue Passagier entschieden alleiniger Herr im Hause sein wollte, +mußte mein bisheriger Morgenwecker von Kasim in Obhut genommen werden. +Von nun an waren sie die besten Freunde -- aus der Ferne; krähte der +eine, so antwortete der andere sogleich; es klang ganz ländlich. + +In +Kara-daschi+, dem Lager vom 6. November, waren wir dicht bei +dem Punkte, wo wir nach dem gefährlichen Zuge durch die Wüste nördlich +vom Kerija-darja im Jahre 1896 zuerst Wasser gefunden hatten. + +7. November. Daß wir uns bevölkerten Gegenden näherten, sah man +daran, daß hier und da Schilfhütten und sogar Lehmhäuser vorkamen +und an den Ufern nicht selten Kähne angebunden lagen. Diese ähnelten +immer mehr dem Lop-nor-Typus; sie waren aus einer einzigen Pappel +ausgehauene, langgestreckte, schmale Fahrzeuge, die sich von den +Lop-nor-Kähnen dadurch unterschieden, daß der Vorderrand in eine Art +von durchbohrtem Handgriffe mit einer Leine auslief und das Hinterteil +eine kleine Plattform, einen Sitzplatz, bildete (Abb. 37). Das Ruder +ist schaufelförmig. + +Die Fährleute nahmen einen kleinen Kahn in Beschlag. Alim führte eine +förmliche Wasserpantomime auf mit seinen verzweifelten Versuchen, des +Bootes Herr zu werden; wie er auch ruderte, er konnte es nicht dazu +bringen, gerade vorwärtszugehen, war aber desto öfter nahe daran, zu +kentern. Bei Tschong-aral wurde das Boot gegen ein größeres vertauscht. +Es war nicht unsere Absicht, den Kahn zu stehlen und so die friedlichen +Ufer zu brandschatzen, wir bezahlten ihn vielmehr noch an demselben +Abend. Islam und Mollah trieben nun in dem Kahne, und die Flottille +hatte sich also um ein Fahrzeug vergrößert. + +In der Gegend von +Gädschis+ mündet links ein Arm des +Schah-jar-darja (Mus-art), der vom Chan-tengri kommt. Er ist in der +Mündung 29 Meter breit, und, soweit das Auge flußaufwärts reicht, +sieht es nicht aus, als ob diese Breite sich verminderte. Das Bett war +mit stillstehendem Wasser von 78 Zentimeter Durchsichtigkeit gefüllt, +während das des Tarim nur bis 4 Zentimeter durchsichtig war. Das Wasser +hatte infolgedessen eine herrliche rein blaue Farbe, und die Grenze war +ziemlich scharf. + +Während ich damit beschäftigt war, den Arm von der Jolle aus zu +untersuchen, erschien der Joll-begi von Tschimen, ein alter Mann in +veilchenblauem Tschapan. Er brachte Briefe von Nias Hadschi und den +Kosaken mit, die uns mitteilten, daß es der Karawane gut gehe. + +Bei dem Dorfe +Teres+ erwarteten mich am Ufer eine Menge +Geschenke, wie Schafe, Früchte, zwei Kisten Birnen aus Kutschar, eine +mit Granatäpfeln, ferner Hasen, Fasanen, Hühner, Eier und Milch, kurz +eine willkommene Verstärkung des Proviants. Unser Transportmittel hat +vor Kamelen den Vorzug, daß es nie knurrt, wenn man ihm auch noch +soviel aufpackt; es geht darum doch ebenso weit und ebenso gut. + +Wir lagerten an dem Punkte, wo der Weg von Kara-dasch und +Kungartschak-bel nach Tschimen, Schah-jar und Kutschar über den Fluß +führt. Es war genau dieselbe Stelle, wo wir 1896 den zugefrorenen +Fluß kreuzten. Chalil Bai, der alte Ehrenmann, in dessen Hause ich +damals zu Gaste war, kam mir, auf einen Stock gestützt, trotz seiner +73 Jahre entgegen. Es ist stets ein großes Vergnügen, alte Freunde +wiederzusehen; es ist ein Band, das wiederangeknüpft wird. Ich saß +lange mit dem Alten in gemütlicher Unterhaltung am Feuer. + +[Illustration: 37. Kähne auf dem mittelsten Tarim. (S. 96.)] + +[Illustration: 38. Der See Koral-dungning-köll. (S. 105.)] + +[Illustration: 39. Der Jumalak-darja von Koral-dung aus gesehen. (S. +105.)] + +[Illustration: 40. Besuch des Beks von Schah-jar in Tschimen. (S. 97.)] + +Während der zwei Rasttage, die wir am Ufer von +Tschimen+ +zubrachten, wurde wie gewöhnlich eine astronomische Ortsbestimmung +nebst verschiedenen Nacharbeiten ausgeführt und der Fluß gemessen. +Hier fand uns Abdurahman, der erste Dschigit aus Kaschgar; er hatte in +seiner versiegelten Posttasche lauter gute Nachrichten. Er nahm meine +Post und außerdem noch einen hermetisch verlöteten Blechkasten mit +Negativen mit nach Kaschgar zurück. Ein neuer Jäger wurde angenommen +und ein Vorrat von Öl gekauft, für den Fall, daß nächtliche Fahrten mit +Fackeln in Frage kommen würden. + +Der 10. November war der erste wirkliche Wintertag. Der Morgen war +bitterkalt, feuchter Nebel lag über der Erde und verteilte sich erst +unter dem recht scharfen Südwestwinde, der sich jetzt erhob und unsere +Fahrt sehr beschleunigte. Der Boden war weiß bereift, und auch die +Fähre und die schwarze Kajüte waren weiß. Die Luft war grau und neblig, +der Himmel mit Wolken bedeckt, und die ganze Landschaft mit blauweißen, +winterkalten Tinten gefärbt. + +Noch um 10 Uhr vormittags hatten wir -2 Grad und nachmittags um 5 Uhr +wieder -1 Grad; nur fünf Stunden erhob sich die Quecksilbersäule ein +wenig über den Nullpunkt. Das waren trübe Aussichten, denn wenn der +Fluß jetzt zuzufrieren begann, wurden wir unvermeidlich vor Beendigung +der Flußreise vom Eise eingeschlossen. Wir sehnten uns von diesem +offenen, kahlen, jedem Wind und Wetter preisgegebenen Tschimen, wo +das Brennholz sehr knapp ist, fort. Abdurahman, der Kurier, wurde in +dem Kahne über den Fluß gesetzt, sein Pferd schwamm nebenher; ich war +herzlich froh, als ich ihn mit der kostbaren Posttasche glücklich auf +dem anderen Ufer sah. + +Der Bek von Schah-jar, der mit Reitergefolge hierher gekommen war, um +mir seine Aufwartung zu machen (Abb. 40), schenkte mir einen Hund, ein +junges Tier, das wie ein Fuchs aussah, den Namen Dowlet erhielt und +ein komischer vierbeiniger Clown war. Gleich vom ersten Tage an hielt +er wütende Wache an Bord und wurde der auserkorene Liebling aller +zweibeinigen Passagiere mit Ausnahme des Hahnes. + +So lichteten wir denn unsere Anker und glitten fort von denen, die +am Ufer standen und uns mit staunenden Blicken nachschauten. Die +Flottille bestand jetzt aus vier Fahrzeugen. Da wir jetzt gewöhnlich +zwei Wegweiser hatten, mußte der eine mit dem Kahne vorausgehen und +Kasim mit der schwer belasteten Proviantfähre hinterdrein fahren. Die +Tagereise wurde lang, aber der Wind half schieben. Das offene Bett +erstreckte sich in Krümmungen nach Osten. Hier und da berührten wir +Wälder auf beiden Seiten, sonst war das ganze Land eine Kamischsteppe +mit ausgedehnten Hochwasseranschwemmungen. + +Es war schön, an diesem Abend die steifgefrorenen Glieder am Feuer +wärmen zu können. Der Sicherheit halber wird jetzt stets ein kleiner +Holzvorrat an Bord genommen, falls es dort, wo man lagert, kein +Brennholz geben sollte. + +Am 11. November passierten wir verschiedene Hirtenlager, und am 12. +begann der Uferwald wieder häufig und schön zu werden. Alle geschützten +Buchten und Arme waren jetzt morgens überfroren, und manchmal sahen wir +kleine Eisscheiben, die sich am Ufer gebildet hatten, auf dem Wasser +schwimmen. + +Der Fluß heißt hier Ugen oder Ögen, aber auch Terem oder Tarim. Die +Kähne haben schon genau dieselbe Form und dasselbe Aussehen wie im +Loplande. Mehrere tausend Wildgänse schwebten täglich über unseren +Häuptern hinweg. Oft waren die Flügel der Pfeilspitze mehrere hundert +Meter lang, und manchmal schien der Führer den anderen um etwa 30 Meter +voranzufliegen. Wahrscheinlich waren es die letzten Pilger, die sich +durch die Kälte der letzten Tage hatten zum Aufbruch bestimmen lassen. +An den Pappeln sitzt kaum noch ein einziges Blatt; sie haben ihr gelbes +Herbstgewand abgeworfen und warten auf den Winter. + +Am nächsten Tage passierten wir den Punkt, wo der Intschikke-darja von +links gerade in einer scharfen Biegung nach Norden einmündet. Es fängt +an, im Zelte grimmig kalt zu werden, und ich pflege in der Jolle Platz +zu nehmen, um mich ein bißchen der Sonne zu erfreuen. Die Temperatur +des Wassers ist jetzt mittags nur 2 Grad über Null, und die langen +Stangen haben unten eine Eishülse. In Biegungen, in denen die Südsonne +nicht ankommen kann, ist die Uferlinie von einem fußbreiten, höchstens +12 Millimeter dicken Eisrande eingefaßt, der jetzt ein wenig über der +Wasserfläche schwebt, die gefallen war, seit er sich gebildet hatte. + +Wir mußten im Dunkeln lange nach einem geeigneten Lagerplatze suchen. +Islam und Nasar gingen zu Fuß und waren bald außer Sicht. Doch spät +abends leuchtete in der Ferne ein Feuer. Sie hatten an einer Uferstelle +Halt gemacht, wo eine alte Sattma stand, und nährten nun, ohne +Rücksicht auf die Hütte und ihren Besitzer, das Feuer mit dem dürren +Holze. + +Unsere Tage flossen ruhig, still und einförmig dahin. Das Eintreten +des Winters veränderte unsere Lebensweise nur wenig. Es ging nur mehr +Brennholz drauf, aber unser Lieferant brummte nicht; es handelte sich +bloß darum, im Dunkeln passende Stellen mit trockenem Holze zu finden, +denn mit solchen, wo nur junge Bäume wuchsen, war uns wenig gedient. +Ich wurde jetzt erst um 6½ Uhr geweckt, und es war wenig angenehm, +bei 11-12 Grad Kälte aufzustehen und die eiskalten Kleider anzuziehen. +Die Toilette wurde daher mit einer virtuosenhaften Geschwindigkeit +abgefertigt, zu der die Gründlichkeit in umgekehrtem Verhältnis stand. +War man angekleidet und hatte man um 7 Uhr die ersten meteorologischen +Ablesungen gemacht, so war es um so schöner, nach dem Feuer eilen zu +können, das in der Morgenkälte lebhaft brannte, nachdem es über Nacht +den Boden um sich herum erwärmt hatte. Wenn ich ans Ufer komme, begrüßt +mich von allen Seiten ein freundliches, höfliches „Salam aleikum“. +Die Männer sitzen dann gewöhnlich beim Frühstück, das aus gekochtem +Schaffleisch mit Bouillon, worin Brotstücke schwimmen, und Tee besteht. +Auch ich verzehre nun mein Frühstück am Feuer. Darauf werden die +gewöhnlichen Ufermessungen vorgenommen, und wenn alles fertig ist und +die Lebensgeister wieder angeregt sind, kommandiere ich „Mangele“ +(Weiterfahren!), und in einem Augenblick sind die Taue gelöst, die +Stangen im Wasser, und die Fähre setzt ihren langen Weg den Tarim hinab +fort. + +Der Fluß ist glücklicherweise so tief, daß wir nur selten auf Grund +stoßen, und in den meisten Fällen können wir uns mit den Stangen +wieder flottmachen. Das Achterdeck gewährt einen recht malerischen +Anblick. Männer, Schafe, Hühner, Säcke, Kisten durcheinander, und eine +Rauchsäule zieht von ihrem Feuer über den Fluß hin, so daß die Fähre +von fern wie ein Dampfer aussieht. Dort wird Brot gebacken, meine +gewaschene Wäsche an ausgespannten Leinen getrocknet, schmutziges +Geschirr abgewaschen und Werkzeuge und Hausgerät angefertigt. Naser +war damit beschäftigt, mit dem Beile ein gewaltiges Steuerruder +zurechtzuhauen, mittelst dessen man mit der in Gegenströmung geratenen +Fähre würde ausbiegen können. Kasim und Kader haben sich in den Besitz +zweier Kähne gesetzt, mit denen sie die kleine Fähre manövrieren, wenn +die Stangen nicht bis auf den Grund reichen. Wenn der Tag einförmig zu +werden beginnt, wird von allen Seiten ein Lied angestimmt, das in dem +Schweigen der Wälder recht stimmungsvoll erklingt. Gegen Abend erstirbt +jedoch der Gesang. Alle sehnen sich nach dem großen Lagerfeuer, aber +wir fahren noch eine ziemliche Weile nach Sonnenuntergang im Mondschein +weiter. Keine Feuer leuchten an diesen einsamen Ufern, nur die Reflexe +des Mondes folgen geschäftig den Ringeln auf der Wasserfläche, und das +Achterdeckfeuer wirft einen matten Schein auf das Schilf am Uferrande. + +Wenn ich endlich „Indi toktamiß“ (Anhalten) kommandiere, wird es an +Bord lebendig. Im Nu wird die Fähre festgemacht, einige Feuerbrände +und alles notwendige Küchengeschirr an Land getragen, in einem +gewaltigen Topfe der Asch (Reispudding) mit Fleisch und Gemüse +zubereitet und die Kiste mit meinem Service, Tee, Gewürzen und +Konserven neben das Feuer gestellt, wo jetzt auch ich mein spätes +Mittagessen zu verzehren pflege. Alle Zutaten zum Pudding sind an +Bord vorbereitet worden, und es dauert daher auch nicht lange, bis +Islam mit der Meldung „Asch taijar“ erscheint. Nicht lange währt es, +so legen sich die Männer um das Feuer herum in ihren Pelzen schlafen; +solange jenes groß und hoch ist, lassen sie den Pelz vorn offen, +doch sobald sie schläfrig werden, hüllen sie sich ganz darin ein und +kriechen näher an das verkohlende Feuer heran, das nachts sich selbst +überlassen bleibt. Sie schnarchen schon eine gute Weile, ehe ich mit +den Tagesaufzeichnungen fertig bin und ihrem Beispiele folgen kann. + + + + +Zehntes Kapitel. + +Der Jumalak-darja auf dem Wege durch die Sandwüste. + + +Am 14. November wurde die Tagereise mit einer mittleren Geschwindigkeit +von 44 Metern zurückgelegt. Während der Nacht hatte sich Eis zwischen +den Fahrzeugen der Flottille gebildet, die als festgefrorenes Ganzes +am Ufer lag. Nur für die kleine Jolle war dies gefährlich, denn die +scharfen Eisscheiben konnten wie Messer auf ihren straffgespannten +Segeltuchrumpf wirken. Die Uferanschwemmungen sind steinhart und geben +einen harten, scharrenden, fast klingenden Ton von sich, wenn sie mit +den beeisten Stangen in Berührung kommen. Während des Tages wurde +jedoch nur eine einzige Treibeisscholle beobachtet, die in dem trüben +Wasser kaum zu sehen war. Noch geht der Erdfrost nicht tiefer als ein +paar Zentimeter, wodurch gerade an der Uferlinie eigentümliche Leisten, +Scheiben und Wülste entstehen, nachdem der darunterliegende lose +Schlamm fortgespült worden ist. Doch sobald die Sonne etwas wärmende +Kraft erhalten hat, werden sie wieder weich und fallen polternd ins +Wasser. Wildgänse sind nicht mehr zu sehen. + +In einiger Entfernung von uns standen vier Männer wie Bildsäulen und +betrachteten uns. Als wir jedoch näherkamen, nahmen sie Hals über Kopf +Reißaus, ihre Habseligkeiten und vier böse Hunde zurücklassend, die uns +wohl eine Stunde unter wütendem Bellen verfolgten. Später sahen wir +ihre Pferde weiden; auch diese folgten uns am Ufer. + +Als es dunkel wurde, mußte Rehim Bai, der eine unserer Cicerones, mit +dem Kahne vorausgehen und das Fahrwasser zeigen. Er hatte an einer +schrägstehenden Stange eine gewaltige chinesische Papierlaterne, in +der eine helleuchtende Öllampe brannte. Er mußte sich ein paar hundert +Meter vor uns halten. Ich machte die Kompaßpeilungen an der Laterne +ebenso sicher wie bei Tageslicht. + +Gleich unterhalb des Lagers +Teppe-teschdi+ passierten wir am +Tage darauf die Grenze zwischen den Verwaltungsbezirken Schah-jar und +Kutschar. Die Grenze war durch ein kegelförmiges Gebinde von Stangen +und Stöcken bezeichnet; östlich davon dürfen nur Kutscharer Hirten ihre +Schafe weiden. + +In der Nähe von +Källälik+ fanden wir inmitten mehrerer +Schafhürden eine außergewöhnlich gut gebaute Lehmhütte. Ein Hund, eine +Hühnerschar und einige Lämmer waren die einzigen Geschöpfe, die wir +erblickten; aber wir sahen bald, daß die Bewohner die Flucht ergriffen +hatten, sowie sich die Fähre an ihrem Ufer gezeigt hatte. Auf dem Herde +in der Hütte brannte Feuer unter dem Topfe, und Kleidungsstücke und +Werkzeuge lagen umher. Die benachbarten Dickichte wurden durchsucht, +aber niemand gefunden. Schließlich zeigte sich von weitem ein Knabe, +der nach einer energischen Treibjagd eingefangen wurde. Der Ärmste war +aber so furchtsam, daß er nicht dazu vermocht werden konnte, den Mund +aufzutun, noch weniger, uns Aufklärungen zu geben. Er zitterte an allen +Gliedern und wagte nicht einmal aufzusehen. + +Was für phantastische Sagen und Märchen in den Wäldern des Tarim über +unsere Fähre und ihre weite Reise wohl in Umlauf sein mochten! Wie oft +passierten wir leere, verlassene Hütten, deren Einwohner sich eben +erst aus dem Staube gemacht hatten! Was sollten diese einfachen Hirten +denken, wenn sie ein solches Ungetüm herannahen sehen, ein ungeheueres +Wassertier, das mit nach vorn und hinten ausgestreckten Fühlhörnern +lautlos wie ein Tiger schleicht? Viele liefen kopflos davon, als sei +ihnen der Böse selbst auf den Fersen, andere blieben in gemessener +Entfernung am Waldrande stehen, um zu sehen, was hieraus werden würde, +und noch andere liefen außer sich herum, als habe ein Waldgeist sie +erschreckt. Doch wie dem auch sei, wenn man die Anlage der Orientalen +für Übertreibungen und Aberglauben kennt, kann man davon überzeugt +sein, daß in dem Kielwasser unserer Fähre eine ganze Menge Legenden +und Geschichten entstanden, die, von der Tradition geschützt, mit +der Zeit noch zu einer ungeheuerlichen Erzählung von dem den Tarim +hinab erfolgten Siegeszuge des Flußgottes, des Wüstenkönigs oder des +Waldgeistes verbessert werden. + +Im Lager +Chade-dung+ wurden am 16. November die Führer aus +Tschimen entlassen, weil sie die Gegend und die Namen der Wälder hier +nicht mehr kannten. Als wir das Lager verließen, hatten wir also keinen +anderen Wegweiser als den gewundenen Lauf des Flusses, und es galt, um +jeden Preis einen Mann zu finden, der mitkommen wollte. Endlich sahen +wir einen Hirtenknaben mit seiner Herde und kamen ihm ziemlich nahe, +ehe er uns gewahr wurde; da lief er aber auch schon davon, so schnell +ihn seine Beine trugen. Wir mußten ihn jedoch haben, und so wurde +wieder eine zeitraubende Treibjagd angestellt, die damit endete, daß +er erwischt wurde. Er teilte uns mit, daß die Gegend +Sarikbuja+ +heiße und wir weiter unten auf dem linken Ufer noch vor Abend dort +ansässige Menschen finden würden. Die Auskunft war richtig, und wir +erhielten bald einen kundigen Lotsen. + +Jetzt tauen die Eisscheiben, die sich auf den ruhigen Uferlagunen +ausbreiten, nicht mehr in der Sonne auf; sie nehmen ungestört an +Dicke zu und tragen die Hunde, denen es auf ihren Schwimmtouren +oft ordentliche Mühe macht, ein von dünnem Eis eingefaßtes Ufer zu +erklimmen. Diese Eisränder werden jetzt sichtlich größer und scheinen +stillschweigend übereingekommen zu sein, daß sie eine Brücke über den +ganzen Fluß spannen und uns unerbittlich den Weg versperren wollen. + +Es wurde jetzt Regel, daß die Fahrt jeden Tag mindestens zwölf Stunden +dauerte, und die Papierlaterne half dem Monde abends beim Leuchten. +Heute abend loderte in der Ferne ein einsames Feuer am Ufer; es war in ++Dung-kotan+, welchen Punkt ich 1896 berührt hatte und der aus +diesem Grunde für die Karte von Bedeutung war. Der hier wohnende Bai +Kader erteilte mir manche wichtige Auskunft über die mit der Jahreszeit +wechselnden Eigenschaften des Flusses. + +Kader erzählte uns auch, daß der Tiger in der Gegend ziemlich häufig +vorkomme. Ich kaufte von ihm das schöne Fell einer großen Bestie, die +hier vor vierzehn Tagen erlegt worden war. Man erstaunt darüber, daß +diese einfachen Waldmenschen mit ihren primitiven Vorderladern es +fertig bringen, einem Tiere wie dem Tiger den Garaus zu machen. Ohne +List würde es jedoch nicht gehen; denn der Tiger ist zu stark für +sie. Er raubt ein Pferd, eine Kuh oder ein Schaf und schleppt seine +Beute ins Schilf hinein. Hier frißt er sich satt und läßt den Rest +bis auf weiteres liegen, und wenn er seiner Wege geht, benutzt er +stets einen ausgetretenen Hirtenpfad. Infolge dieser Eigentümlichkeit +wird er Joll-bars (joll = Weg, Steig, bars = Tiger) genannt. Aus der +Fährte sieht man, wohin er gegangen ist und von woher man ihn erwarten +kann, und an den Resten der Beute erkennt man, ob er zurückzukommen +beabsichtigt, wenn er wieder hungrig wird. Dann wird auf dem Wege das +Fangeisen oder die Falle (Kappgan oder Tosak) aufgestellt, unter ihr +eine 50 Zentimeter tiefe Grube gegraben und das Ganze sorgfältig mit +Zweigen, Reisig und Blättern bedeckt. Der Tiger tritt, wenn er Pech +hat, in das Eisen und sitzt dann fest. Die Falle ist von Stahl und +so schwer, daß der Gefangene sie nur mühsam mitschleppen kann, wenn +er sich zurückzieht. Sie loszuwerden ist unmöglich, denn sie packt +sehr fest und ist mit scharfen Widerhaken versehen. Die Spur ist sehr +deutlich und leicht zu verfolgen, doch die Jäger lassen ihn mindestens +eine Woche damit gehen, bevor sie sich ihm zu nahen wagen. Der Tiger, +der jetzt der Fähigkeit, sich frei zu bewegen, beraubt ist, kann sich +nicht länger Nahrung verschaffen und ist ausgehungert und elend. Er muß +die unschuldige Kuh, die er ins Dschungel geschleppt hat, verwünschen +und fühlt, wie ihm die Tatze abstirbt. Endlich wagen sich die Männer zu +Pferd mit geladenen Flinten an ihn heran und schießen nun gewöhnlich +vom Sattel aus, um weniger angreifbar zu sein, wenn der Tiger es mit +dem Reste seiner Kraft versuchen sollte, sich auf sie zu stürzen. Der +Tiger, dessen Fell ich jetzt kaufte, war ganz erschöpft gewesen, als +sich die Jäger bis auf 40 Meter Schußweite an ihn herangewagt hatten, +und nach der ersten Kugel, die ihm ins linke Auge ging, hatte er sich +auf die Seite gelegt. Doch solchen Respekt hatten sie vor ihm, daß sie +ihm vom Sattel herab noch fünf Kugeln gaben, ehe sie sich ihm zu nähern +wagten. Man kann sich ihre Befriedigung denken, als sie den ärgsten +Feind ihrer Herden getötet hatten. + +Der Tosak ist ein sinnreiches Instrument, ein Tellereisen oder +richtiger eine Kneifzange, deren beide Bogen mittelst zweier stählerner +Federn von großer Spannkraft zum Zusammenklappen gebracht werden. Die +Schneiden der beiden Bogen tragen scharfe ineinandergreifende Zähne. +Die Federn spannen mit so großer, elastischer Kraft, daß man sich aufs +äußerste anstrengen muß, um beide Bogen in die Lage zu bringen, die +sie beim Aufstellen der Falle haben müssen. Die Bogen liegen nun an +dem Stahlringe und werden einfach durch einen Bindfaden und einige +Holzpflöckchen in dieser Lage festgehalten. Der Bindfaden bildet den +Durchmesser des Rings; auf ihn muß der Tiger treten, wenn die Zange +augenblicklich zusammenklappen und seine Tatze festklemmen soll. Einmal +war ein Tiger nur mit den Zehen darin sitzengeblieben, hatte diese +abgerissen und war, wenn auch als Krüppel, doch noch entkommen. + +Nach dem Lop zu tritt der Tiger häufiger auf, besonders auf dem +Südufer; bei Tage zeigt er sich selten, doch nachts streift er +geisterhaft auf den Hirtensteigen umher. + +Der Tigertöter begleitete uns am 17. nach Ostnordosten. Der Fluß ist +schmal und gewunden, und seine nächsten Umgebungen bilden ein Gewirr +von Altwassern, Armen, die sich nur während der Hochwasserperiode +füllen, und von Uferseen, umgeben von Schilf und Wald. Im großen und +ganzen ist meine Karte über den Fluß eine Augenblicksphotographie, +denn kein Jahr vergeht, ohne daß neue Arme entstehen, alte Krümmungen +verlassen werden und Uferlagunen sich bilden oder austrocknen. Es +ist ein unruhiger Fluß; das Land ist flach, und das Bett verändert +launenhaft seine Lage. + +[Illustration: 41. Frühstücksrast auf dem Jumalak-darja. (S. 105.)] + +[Illustration: 42. Rekognoszierender Kahn. (S. 108.)] + +[Illustration: 43. Ördek und Palta als Lotsen. (S. 108.)] + +Nach Sonnenuntergang stieg der Mond rotgelb an einem blauen Himmel +auf, der jedoch immer dunklere Schattierungen annahm, während der +Mond immer weißer und heller wurde. Gegen diesen Hintergrund stachen +die Umrisse der Ufer so scharf ab, als seien sie aus schwarzem Papier +ausgeschnitten; alles sah in dem winterlich farblosen Tone, der in der +Natur herrschte, kalt und frostig aus. Der Tarim lag blank und glänzend +da, und nur um steckengebliebene Treibholzstücke herum war die Strömung +zu erkennen. Wenn der Mond tief stand, schien seine Scheibe vom einen +Ufer zum anderen zu rollen, je nachdem der Fluß einen Bogen nach rechts +oder nach links machte. + +Am 18. November trafen wir bei +Lämpa-akin+ die ersten Lopleute. +Es war ein Greis mit seinen beiden Söhnen, die in drei Kähnen mit +Netzen und anderen Geräten auf dem Wege flußaufwärts waren, um zu +fischen. Sie waren ganz verdutzt, als wir sie mitten in einer Biegung +überraschten, gewannen es aber nicht über sich, davonzurudern, obgleich +dies mit ihren schnellen, leichten Nußschalen eine Kleinigkeit gewesen +wäre. Die Jünglinge durften weiterfahren, den Alten aber nahmen +wir nach vielem Wenn und Aber mit. Er kannte die Gegend bis in die +kleinsten Einzelheiten. + +Bei +Koral-dung+ (Wachthügel) wurde auf dem rechten Ufer +längere Rast gemacht. Hier ist die Grenze zwischen Kutschar und +Lop. Unmittelbar im Süden des Hügels glänzt im Sonnenscheine der ++Koral-dungning-köll+ mit grünblauem, kristallhellem Wasser, zur +Hälfte mit Eis bedeckt und von Tamariskenhecken und außerordentlich +dichten Kamischfeldern umgeben, in denen zahlreiche Tigerspuren von +den nächtlichen Wanderungen des schwarzgestreiften Raubtieres Zeugnis +ablegen (Abb. 38). Im Sommer werden diese Felder überschwemmt, und der +Boden war noch feucht; aber jetzt stehen nur noch die seichten Uferseen +voll Wasser. Der Fluß, der von hier an +Jumalak-darja+ (der runde +Fluß) genannt wird, zieht sich nach Nordosten, macht aber bald wieder +einen Bogen nach Südosten und gleicht einem schmalen Bande zwischen den +Schilffeldern (Abb. 39, 41). + +Hinter +Atschal+ veränderte er wieder sein Aussehen und schrumpfte +auf nur 20 Meter Breite zusammen, war 7 Meter tief und hatte keine Spur +von Anschwemmungen. Die Uferterrassen sind steinhart gefroren, und +stößt die Fähre dagegen, so ist es, als schramme sie an einem Marmorkai +entlang. Hier haben wir rechts den Ufersee +Ak-kumning-jugan-köll+ +(der große See im weißen Sande), der zwischen unfruchtbaren Dünen +eingebettet liegt und so groß ist, daß die Stimme vom einen Ufer +nicht bis zum anderen dringt. Auch am 19. passierten wir eine Reihe +Uferseen, und es ist ein charakteristisches Zeichen des Tarim, daß +diese immer zahlreicher werden, je mehr er sich dem Lop-nor nähert. + +Der Sonnenuntergang rief merkwürdige Beleuchtungen hervor. Die ganze +Steppe leuchtete in so intensivem, feurigem Gelb, als wäre das Schilf +ringsumher in Brand geraten. Dunkel und schweigend schlängelte sich +der Jumalak-darja mit pechschwarzem Wasser durch die Schilfdickichte, +in denen der Königstiger hinterlistig versteckt liegt. Es pfeift und +knistert in den Eisscheiben, die alle Lagunen bedecken. Manchmal +leuchtet es in dem dunkeln Wasser vor uns wie ein Blitz auf, wenn +eine vorher unsichtbare Treibeisscholle sich in einem Wasserwirbel +querstellt und sich eine glashelle Ecke, in der die Strahlen der +untergehenden Sonne sich widerspiegeln und wie in einem Prisma spielen, +über die Oberfläche des Wassers erhebt. Kahl und schwarz stehen die +Pappelstämme da und strecken ihre knorrigen, dürren Arme über den Fluß +hin, noch im Tode seine lebenspendende Flut segnend. + +Wieder wurde der Fluß so krumm, daß ich täglich oft ein paar hundert +Kompaßpeilungen machen mußte, um alle Bogen auf der Karte eintragen +zu können. Wir hatten noch einen Lopmann als Cicerone angestellt, der +uns in einer mit Eis bedeckten Lagune im Vorbeifahren einige Fische +fing. In derartigen klaren, stillen Wasseransammlungen pflegen die +Fische sich gern aufzuhalten. Das Netz wird quer vor der Mündung der +Bucht ausgespannt, und es war lustig anzusehen, wie geschickt der +Fischer seinen Kahn führte. Im Achter stehend trieb er den Kahn mit dem +breitblätterigen Ruder in sausender Fahrt über das Netz hinweg auf das +in der Mündung spröde Eis, das unter dem Gewichte des Kahnes brach und +dann mit dem Ruder bis ans Binnenende der Bucht zerschlagen wurde. Die +Schollen wurden in die Strömung hinausgeschoben und die Fische mit dem +Ruder nach dem Netze hingejagt, das dann in den Kahn gezogen wurde. Ist +das Eis zu stark, so werden die Fische nur durch Ruderschläge gegen +seine Decke aufgescheucht. In den großen Uferseen wird der Fischfang +auch im Winter und selbst wenn sie ganz vom Flusse abgeschnürt sind, +betrieben. + +Am 20. November führte die Richtung des Jumalak-darja auf der letzten +Strecke der Tagereise ganz gerade nach Ostnordost. In weiter Ferne +entdeckten wir mit dem Fernrohre etwa zehn Männer am Strande, bei +denen wir Halt machten. Es waren die Beks der in der Nähe des Flusses +liegenden Ortschaften Tograk-mähälläh und Kara-tschumak. Sie teilten +uns mit, daß sie von Fu Tai, dem Generalgouverneur von Urumtschi, +Befehl erhalten hätten, einem „Tschong mähman“ oder vornehmen Gaste, +der den Jarkent-darja herunterfahre, entgegenzukommen. Die Chinesen +behielten uns also, wenn auch sehr von weitem, im Auge, und das +Gerücht von der Reise auf dem Wasser hatte sich weit verbreitet. Doch +niemand wußte, woher wir kamen und wo unsere Reise enden sollte; alle +fanden nur, daß wir sehr sonderbare Geschöpfe seien. Mehr als zwei +Jahre später fragten mich indische Kaufleute in Ladak, ob ich nichts +von einem weißen Manne wüßte, der mehrere Monate lang einen großen Fluß +im Norden hinabgesegelt sei; auf dem Indus, erklärten sie, würde eine +solche Fahrt unmöglich sein. + +Junus Bek, der vornehmste unserer neuen Freunde, erwartete uns seit +mehreren Tagen und war schon flußaufwärts geritten, aber wieder +umgekehrt, da er von einer Fähre nichts hatte erblicken können. + ++Ketschik+, der Punkt, an dem wir jetzt lagerten, ist von großem +Interesse. Der Name bedeutet „Furt“, weil hier die Straße zwischen +Kakte und Karaul den Fluß kreuzt, wie gewöhnlich an einer geraden +Stelle, wo der Grund keine tiefen Gruben hat. Hier gähnt links ein +mächtiges, mit Schlamm gefülltes Bett. Ich erfuhr, daß dieses Bett +der frühere Lauf des Tarim gewesen und der Fluß darin mindestens 50 +Jahre geströmt habe, da die Greise es schon in ihrer Kindheit gekannt +hätten. Vor vier Jahren habe der Fluß seinen Lauf verändert und dieses +alte Bett so vollständig verlassen, daß nicht einmal während der +Hochwasserperiode ein Tropfen dort hineinlaufe. Der neue Lauf, dessen +Wiedervereinigung mit dem alten Bette wir erst nach mehreren Tagen +erreichen sollten, zieht sich nach Südosten durch öde Gegenden, wo +es früher nur Uferseen gegeben hatte. Es ist eine neue Illustration +der Veränderungen der Gewässer dieser Gegenden, die zunehmen, je +weiter abwärts wir kommen und je geringer der Fallwinkel des ganzen +Tarimbeckens wird. Wenn der Fluß schließlich im Lop-nor-Gebiete selbst +in völlig ebenes Terrain übergeht, hört alle Ordnung auf, und eine +Karte hat nur während der Zeit ihrer Aufnahme Gültigkeit. Flüsse wie +Seen verändern hier ihre Lage und Wassermenge von Jahr zu Jahr, und +derjenige, welcher den Lauf des Flusses bis zu seiner Auflösung und +Vernichtung mitgelebt hat, versteht, daß auch sein Endpunkt, der +Lop-nor, ein wandernder See sein +muß+, ein See, der periodisch +von Norden nach Süden und von Süden nach Norden wandert, ganz wie das +Messinggewicht am Ende eines schwingenden Pendels. Das Pendel hier ist +der Tarim. Es mag sein, daß die Perioden ein paar hundert Jahre lang +sind, aber in der Geschichte der Erde verschwinden sie wie Schwingungen +des Sekundenpendels. + +Die seltsame Gegend, die wir in den folgenden Tagen durchstreifen +sollten, war auch den meisten Eingeborenen ein unbekanntes Land, denn +dort hätten sie nichts zu tun, erklärten sie. Doch so viel wußten sie, +daß der neue Wasserlauf an einigen Punkten Gefahren und Schwierigkeiten +biete, und Junus Bek hatte daher einige Kundschafter mit Kähnen +vorausgeschickt, um uns da, wo es aufpassen hieß, zu warnen (Abb. 42). + +Der 21. November war unser erster Tag auf dem neuen Flusse, wo die +Stromgeschwindigkeit manchmal 100 Meter in der Minute überstieg. Die +Beks mit allen ihren Geschenken wurden an Bord verstaut, und vor uns +gingen zwei Lopkähne, der eine davon mit vier Ruderern. Dieser sah von +hinten prächtig aus, denn er war schmal wie eine Wanne, alle Männer +ruderten im Stehen, aber nur der letzte Mann war sichtbar, und die +vier Ruder wurden ohne Takt ins Wasser getaucht. Noch wuchs das Schilf +ziemlich dicht aber struppig durcheinander und stand in Gürteln und +unterbrochenen Feldern. Die Richtung des Bettes ist unbestimmt; große, +abgerundete Bogen gibt es nicht, wohl aber kleine, die sozusagen nach +dem einzuschlagenden Kurse umhersuchen und tasten. Die Wassermasse +teilt sich unaufhörlich um kleine Holme, wo man den verkehrten Weg +einschlagen könnte, wenn nicht die Kähne vorausgingen und die Ruderer +mit den Rudern sondierten (Abb. 43). Enge Passagen, steckengebliebene +Pappelstämme, Anhäufungen von Kamischwurzeln und Reisig, scharfe Ecken +und rauschende Stromschnellen halten uns in beständiger Spannung. Daß +das Bett sich neugebildet hat, sieht man auch daran, daß hier und dort +mitten darin frische Pappeln stehen, die aber zum Tode verurteilt +sind. Sie waren so gefährlich und drohend, daß wir das Zelt und das +meteorologische Häuschen abnehmen mußten. Rechts hatten wir eine ganze +Reihe Seen; der letzte von ihnen heißt +Buja-köll+ und mündet +wieder in den Hauptfluß ein; der Vereinigungspunkt bildet ein Labyrinth +von kleinen Eilanden. + +Hinter dieser Stelle tritt die +Tschong-ak-kum+, wie die große +Sandwüste hier genannt wird, auf. Die Dünen rücken uns auf beiden +Seiten immer näher, und der Vegetationsgürtel schrumpft plötzlich +zusammen. + +Als die Dämmerung hereinbrach, siedelte ich in die Jolle über und +folgte dem Geschwader der Lopleute. Mit schwindelnder Fahrt ging es +über kleine Wasserfälle, und man befand sich in ununterbrochener +Spannung. Als wir in die Sandwüste hineinkamen und auf beiden Seiten +hohe Dünen hatten, wurde es Nacht, und wir machten Rast. Die Lopleute +hatten Treibholz in ihren Kähnen gesammelt, und bald erhellten zwei +schöne Feuer die Wüstenlandschaft und ihren unverhofften Gast, den +Jumalak-darja. Der Fluß wird hier auch Tärim, Jangi-darja oder +Tschong-darja genannt. + +22. November. Der Jumalak-darja fließt nach Südosten; sein vier +Jahre altes Bett bohrt sich durch die peripherischen Teile des öden +Wüstenmeeres, und die Dünen, die es gewagt haben, sich ihm in den Weg +zu stellen, sind von unwiderstehlichen Wassermassen über den Haufen +geworfen worden. Der Sand ist ohnmächtig dieser wilden Kraft gegenüber, +die, den Fallgesetzen gehorchend, die tausendjährige Wüste durchbricht, +sich zwischen den aufgestellten Sandwogen einen Weg bahnt und an ihrer +Basis zehrt. + +Auf beiden Seiten erheben sich Dünen bis zu 15 Meter Höhe, auf +dem rechten Ufer aber, wo der Sand mächtiger ist, ist er oft auch +unfruchtbar. Dann und wann passieren wir eine einsame Pappel, während +die Tamarisken, diese Kinder des Wüstensandes, recht zahlreich +auftreten und schmale Kamischbänder sich meistens an beiden Ufern +hinziehen. Es ist merkwürdig, daß die Dünen eine so feste Basis +haben können, daß sie aus der Wasserfläche als ganz senkrechte Wand +emporsteigen können; dies kommt daher, daß sie unten feucht sind. +Höher hinauf ist der Sand ebenso lose wie gewöhnlich; er rieselt in +kleinen Furchen an der Düne herunter und bildet da, wo die senkrechte +Wand anfängt, kleine Kaskaden und Fälle, und er fährt so lange fort zu +rinnen, als er von oben herab Zufuhr erhält; läuft aber das Stundenglas +ab, so ist die Düne tot und von Wind und Wellen fortgetragen. Doch +unter anderen Formen wird sie wieder auferstehen und ihre rastlose +Wanderung fortsetzen. Auch das Wüstenmeer hat sein Leben, das hier +ebenso gesetzmäßig pulsiert wie im Schatten der Palmen. + +Auf diesen unglaublich öden Ufern sah alles tot aus; keine Menschen, +keine Tiere, nicht einmal Raben und Geier, diese Gäste der Einöden. Nur +ein „Saldam“ war in einer Pappel zu sehen; es ist eine aus Ästen und +Zweigen geflochtene Art Nest, in dem sich der Schütze versteckt, wenn +er auf die Antilopen wartet, die bei Sonnenaufgang zur Tränke kommen. +Wieder sind wir von Friedhofstille umgeben; kein Gruß dringt aus der +Tiefe der Wüste zu uns, nur die Strömung singt dem Sande ihr murmelndes +Lied, das auf den Lippen des Tarim bald im Froste erstarren wird. + +Dieselbe Strömung führt uns mit jeder verrinnenden Stunde immer tiefer +in die Dünen hinein. Mit seltsamen Gefühlen gleitet man in diesem +unbekannten Lande, das nicht einmal unsere Lopmänner je besucht hatten, +auf dem Wasser dahin. Jetzt, wenn jemals, dienten sie als Avisos. +Sie senken die Ruder ins Wasser und verschwinden in der nächsten +Biegung, sie sind eine Weile außer Sicht, tauchen aber wieder vor uns +auf, sobald sie eine kritische Stelle bemerkt haben. Sie umfahren +uns wie Schaluppen eine Fregatte, gehen dann voraus und zeigen das +Fahrwasser. Und die schwere Fähre gleitet ruhig den Jumalak-darja +hinab. Wunderbar, diese Sandwüste -- auf dem +Wasser+ zu +durchkreuzen; einst war ich in derselben Wüste aus Mangel an Wasser +fast verschmachtet! + +Einmal verkündeten die Kahnleute, daß sich der Fluß in fünf Arme teile. +Sie führten uns nach demjenigen, den sie für den größten hielten. +Das Wasser schäumte weiß zwischen ein paar Reisigholmen; es galt, +den rechten Kurs zu halten. Die Fähre glitt in den Durchgang hinein, +schrammte auf beiden Seiten, gelangte wieder in offenes Wasser und +stieß dort auf Grund. Das Bett war querüber gleichmäßig seicht, aber +vorwärts mußten wir, und wir kamen auch über diese Stelle hinweg, dank +den wenigen Zentimetern, die das Wasser während des letzten Tages +gestiegen war; wäre es um ebensoviel gefallen, so wäre es uns schlimm +gegangen. Wie oft streifte der Boden der Fähre unmittelbar über Bänke +und Untiefen hin, ohne daß wir es ahnten! Vielleicht oft so dicht, daß +nicht ein Blatt Papier dazwischen Raum gefunden hätte. Noch war uns +aber der Fluß gewogen, noch führte er uns vorwärts, dem Ziele entgegen. + +In einem Tograkhaine, wo wir eine Weile landeten, waren sehr viele +Tigerspuren. Wir gingen eine Strecke landein und hielten von Hügeln +Ausschau, doch ist es mir nie geglückt, dieses grausame, in seiner +imponierenden Kraft dennoch fesselnde Tier zu Gesicht zu bekommen. + +Der ganze Jangi-darja oder „neue Fluß“ gibt uns wieder einen Beweis für +die Neigung des Flusses, nach rechts zu drängen. Am linken Ufer finden +wir, daß das Wasser nach dem Flusse zurückstrebt, am rechten, daß es +sich von ihm zu trennen sucht, um das Terrain immer weiter nach rechts +hin vorzubereiten. In alten Zeiten ergoß sich der Tarim in den alten, +nördlichen See Lop-nor, jetzt mündet der Fluß in den südlichen; diese +Verlegung der Mündung war ein Riesenschritt nach rechts. + +Während der letzten Tage sahen wir nicht viel Eis; die Strömung war +zu reißend, als daß es sich hätte ansetzen können. Doch ging die +Temperatur schon gegen 8 Uhr auf -6 Grad herunter. Mit jedem Tage +wird der Wettlauf zwischen uns und dem Zufrieren des Flusses immer +interessanter. Viele Tage konnten wir nicht mehr vor uns haben, denn +die Kälte wurde von Nacht zu Nacht größer. Doch so lange wir die Fähre +behalten durften, war es herrlich, und mit Zittern und Zagen dachte +ich an den Tag, an welchem wir gezwungen sein würden, uns von unserem +gesicherten Heim zu trennen und unsere schwimmende Wohnung im Stiche zu +lassen. Wie man das Haus liebt, in dem man lange behaglich gewohnt hat, +so würde ich diese Flotte, die uns so treu durch Ostturkestan getragen +hatte, vermissen. Ich würde die große Annehmlichkeit vermissen, Tag +und Nacht das Lager aufgeschlagen zu wissen, alles fertig und alles +bereit zu haben, keine Arbeit zu haben mit Belasten und Abladen, +Zeltaufschlagen und Füttern der Karawanentiere. Jeden Augenblick hatte +ich die Dunkelkammer zur Verfügung und brauchte nur meine Hand mit +einem Becher auszustrecken, um ihn mit süßem, kaltem Wasser gefüllt +zurückzuziehen. + +Am 23. November hatten wir noch immer 70,7 Kubikmeter Wasser. Es langte +also noch, aber das Eis -- wann würde dieses uns den Weg abschneiden? +Wir wollten vorwärtsgehen, bis wir die Eisfesseln nicht mehr sprengen +konnten, und wenn wir dann einfrören, würden wir ins Winterquartier +gehen, ein großes Lager anlegen und die Karawane aufsuchen. Landeten +wir in einer waldlosen Gegend, so sollte der Rumpf der Fähre Stück für +Stück als Brennholz verwendet werden. Die alte, gute Fähre! Es sollte +ihr Lohn sein, daß sie uns, nachdem sie uns ans Ziel getragen, auch im +Loplande an den Winterabenden Licht und Wärme spendete! + + + + +Elftes Kapitel. + +Im Kampf mit dem Treibeise. + + +Am Anfange unserer Fahrt vom 24. November machte der jetzt von Wald +begleitete Tarim ein paar große Bogen und nahm darauf die Form eines +ziemlich regelrechten ~W~ an. Dann und wann begegneten wir +Lopfischern; an Stangen vor ihren provisorischen Hütten sahen wir lange +Reihen von zum Trocknen aufgehängten Fischen. Hier und dort hing eine +getrocknete Fischhaut an einer Stange am Ufer. Dies bedeutete, daß +hier nicht von jedermann gefischt werden durfte und daß der, welcher +herkömmlicherweise hier Anspruch auf die Fischereigerechtigkeit erhob, +sein Wahrzeichen aufgerichtet hatte. + +An einer gefährlichen Stelle hing es an einem Haar, daß wir Schiffbruch +gelitten hätten. Es war eine scharfe Biegung, wo die ganze Strömung +unmittelbar am Fuße der Erosionsterrasse entlang ging. Eine dadurch +unterminierte gewaltige Pappel war über den Fluß gefallen und lag, etwa +einen Meter über der Wasserfläche, wagerecht gerade über demjenigen +Drittel der Breite, wo die Strömung war (Abb. 44). Die übrigen beiden +Drittel nahm ein langsam kreisender Wirbel mit Gegenströmung ein. Ein +Lopkahn konnte mit Leichtigkeit unter dem Stamme durchgleiten; wäre +aber die Fähre damit in Kollision geraten, so wären Zelt, Kisten und +schwarze Kajüte unfehlbar über Bord gefegt worden, und wäre die Fähre +dabei in eine schräge Lage gekommen und hätte ihr Oberbau genügenden +Widerstand geleistet, so wäre sicher die ganze Herrlichkeit gekentert. +Es wäre zu einer Kraftmessung zwischen dem Oberbau und der Pappel +gekommen, und der Baum war so massiv, daß er ganz danach aussah, es mit +jedem aufnehmen zu können. + +[Illustration: 44. Drohender Schiffbruch. (S. 112.)] + +[Illustration: 45. Kähne auf dem unteren Tarim. (S. 115.)] + +[Illustration: 46. Tokkus-kum, das Nordufer der Sandwüste. (S. 115.)] + +[Illustration: 47. Dorf Al-kattik-tschekke. (S. 116.)] + +Gerade an diesem Punkte ging die große Fähre der Flottille voran und +glitt sorglos auf ihrer ruhigen Bahn dahin, ohne an einen Hinterhalt +zu denken, als Palta just in dem Augenblicke, da wir in den Sog der +Strömung hineintrieben, einen verzweifelten Schrei ausstieß, denn +wir hatten nur einige zehn Meter die Pappel wie eine Barriere vor +uns. Die Stangen reichten hier nicht bis auf den Grund, weshalb +die Männer paarweise zu den neugezimmerten Stoßrudern griffen. Das +war ein Geschrei und eine Aufregung! Mit rascher Fahrt trieben wir +auf die Pappel zu und sahen, wie ernst die Lage war. Die Strömung +bildete gerade an dieser Stelle einen kleinen Wasserfall, und die +Geschwindigkeit war so groß, daß ein Schiffbruch das Werk eines +Augenblickes hätte sein können. Der Gedanke durchzuckte mich, daß ich +wenigstens die fertigen Kartenblätter und die Notizbücher retten müßte, +denn bei einem Schiffbruche in diesem Strudel würde alles in der trüben +Wassertiefe verloren gehen. Die Leute arbeiteten mit grimmiger Kraft. +Islam und der Bek standen vorn, bereit, die Pappel anzupacken und so +den Stoß abzuschwächen. Da gelang es den Lailikmännern im letzten +Augenblick, die Fähre mit Gewalt aus der Strömung heraus- und in den +Wirbel hineinzustoßen, wo sie sich langsam im Kreise drehte und in die +Gegenströmung hineinglitt. Natürlich wäre sie wieder nach der Pappel +hingetrieben, wenn nicht Alim ins Wasser gesprungen, das nur 1,4 Grad +warm war und ihm bis an die Achselhöhlen reichte, und mit einem Tau +auf das linke, niedrige Ufer geklettert wäre. Er zog uns dann an der +gefährlichen Stelle vorbei. + +Während wir uns im Wirbel drehten, sausten Kasim und Kader mit der +kleinen Fähre und der Jolle an uns vorbei, ebenfalls gerade auf die +Pappel los. Sie führten jetzt ein geschicktes Manöver aus. Sie waren +vor dem Ungetüm gewarnt worden und hatten rechtzeitig die Jolle +losgemacht, die sie im Vorbeifahren mit einem kräftigen Stoße nach der +großen Fähre hintrieben. Mit Hilfe ihrer Ruder war es ihnen gelungen, +so dicht an das rechte Ufer heranzukommen, daß Kasim mit einer Leine +an Land springen konnte. Die kleine Fähre war indessen schon bei der +Pappel angelangt, und es fehlte nicht viel zu einer Havarie, um so mehr +als Kasim sich an den Ästen festhalten mußte, um nicht über Bord gefegt +zu werden. + +Hätte dieses Abenteuer in dunkler Nacht stattgefunden, so wäre das +Zufrieren des Flusses an der Unterbrechung der Wasserreise unschuldig +gewesen. Doch auch diesmal hatten wir das Glück als Gast an Bord und +trieben flußabwärts weiter. Mit jedem Tage stieg die Verwunderung +der Lailikmänner. Sie meinten, der Fluß müsse doch einmal ein Ende +nehmen, aber er eile immer weiter nach Osten. Es schwindelte ihnen +beim Gedanken an die wachsende Entfernung, und sie konnten sich keinen +klaren Begriff davon machen. Es war ihnen nur, als sei ihr Haus und +Heim in Lailik in weiter Ferne hinter Stürmen und Nebeln, Sandwüsten +und undurchdringlichen Wäldern verschwunden. + +An Bord war es wieder ruhig, und die Klänge des Symphonions +beherrschten bei Sonnenuntergang die Stimmung. Islam brachte mir +gerade einen Teller mit frischgekochtem Fisch, der delikat duftete: +da ertönten wilde Hilferufe von flußaufwärts, wo Kasim und Kader +hinter uns zurückgeblieben waren. Das Geschrei war so durchdringend +und angstvoll, daß wir alle bestürzt waren. Ich gab Befehl sofort +zu landen, aber die Fähre befand sich mitten auf dem Flusse, und es +dauerte eine Weile, ehe die Leute sie ans rechte Ufer bringen konnten. +Ich fürchtete, daß einer der Männer am Ertrinken oder schon ertrunken +sei. + +Sofort nach dem Landen eilten alle Männer durch Schilf und Gestrüpp das +Ufer hinauf. Ich sollte unverzüglich Nachricht über das Vorgefallene +erhalten. Bald kam einer der Lopmänner mit dem Berichte, daß die +Proviantfähre an einem aus dem Flußgrunde aufragenden Baumstumpfe, +der kaum bis an die Oberfläche reichte und nicht beachtet worden sei, +gekentert sei. Da kein Menschenleben verloren gegangen, war ich wieder +beruhigt und verzehrte meine inzwischen kaltgewordene Portion Fisch. + +Jetzt folgte ein tragikomisches Schauspiel. Auf der Oberfläche der +Strömung kamen viele unserer Sachen in vergnügtem Durcheinander +fröhlich angetanzt; ihnen auf den Fersen folgten die Lopkähne, um +aufzufischen, was sich noch retten ließe. Da sah man Eimer und +Schüsseln, Kisten mit Mehl und Obst, Brotfladen, schwimmenden gelben +Seerosen vergleichbar, Stangen, Ruder und andere leichte Dinge. Einige +Sachen waren an der Unglücksstelle selbst, wo auch unsere beiden Schafe +an Land geschwommen waren, gerettet worden, verschiedenes aber, wie +eine Metallaterne, eine Axt, ein Spaten u. dgl., war unwiederbringlich +verloren. + +Jetzt lagerten wir da, wo wir waren, und Islam und Alim zündeten ein +paar gewaltige Feuer an. Erst spät abends, nachdem ich mehrere Stunden +in der Dunkelkammer gearbeitet hatte, kehrten die anderen mit den +verunglückten Booten und deren klatschnassem Inhalt zurück. Kasim war +sehr niedergeschlagen; er habe aber dem Mißgeschicke nicht vorbeugen +können. Sie waren in einen Stromwirbel geraten, wo sie einem auf Grund +gestoßenen Stamme auszuweichen versucht hatten, und waren darauf von +der Strömung unwiderstehlich einem anderen zugetrieben worden, den sie +nicht gesehen und vor dem sie sich nicht mehr hatten hüten können. Die +Jolle erhielt den ersten Stoß und einen langen Riß an der einen Seite, +glücklicherweise über der Wasserlinie. Kader, der nicht schwimmen +konnte, hatte sich in die Jolle gerettet, als die Fähre kenterte, +Kasim aber schwang sich auf den Stamm und blieb dort, um Hilfe rufend, +sitzen, bis der Kahn anlangte. Sie hatten dann nach den verlorenen +Sachen gesucht, das Wasser aus der Fähre und der Jolle geschöpft und +sich schließlich zu uns begeben, wo Männer und Sachen an den Feuern +nach und nach trocken wurden. + +25. November. Die „Schang-ja“ oder Beke von Tschong-tograk und Arelisch +erwarteten uns heute und hatten ein paar Kähne mitgebracht, so daß +unser Geschwader jetzt zehn Fahrzeuge zählte, die in feierlicher +Prozession den Fluß hinabglitten (Abb. 45). Die beiden Beke nahmen +rechts und links von Palta Platz und halfen beim Rudern, so daß wir +jetzt etwas schneller als die Strömung gingen. Meine eine Jollenhälfte +wurde zur allgemeinen Heiterkeit von einem ungeübten Schiffer +manövriert, während Islam damit beschäftigt war, ein Stück Leder über +den Riß der anderen Hälfte zu nähen. Bei +Tokkus-kum+ (neue Dünen) +lagerten wir (Abb. 46). Unsere muhammedanischen Freunde glaubten, wenn +das Wetter still bleibe, könnten wir die Reise noch 20 Tage fortsetzen; +nach einem Buran aber könne der Fluß in einer einzigen Nacht zufrieren. +Er gefriere von der Mündung aufwärts, also gegen die Strömung. Sie +wollten beobachtet haben, daß das Wasser um so schneller fließe, je +kälter es sei, was theoretisch richtig sein mag, für das Auge aber kaum +bemerkbar ist. + +Am folgenden Tage trieben wir gerade auf die höchsten Partien von +Tokkus-kum zu, riesenhafte, außerordentlich imponierende Anhäufungen +von gelbem Flugsand. Sie sind ein Ausläufer der großen Wüste, die hier +bis an das rechte Ufer des Flusses heranreicht: die Basis der Dünen +wird vom Wasser zerfressen und unterwühlt. Es war die gewaltigste +Sandanhäufung, die ich gesehen habe. Die Fähre legte am linken Ufer an, +und wir ruderten in Kähnen hinüber und erstiegen die losen Abhänge, +auf denen man in den Sand einsinkt und mit ihm abrutscht. Endlich +erreichten wir doch den Kamm der äußersten Düne, die sich wie eine +steile Wand über dem Flusse erhebt. Hier liegt dem Beschauer eine +selten großartige Landschaft zu Füßen, und man erstaunt über die +eigentümlichen Formen, in welchen die tätigen Kräfte der Erdrinde +Gestalt angenommen haben. Wohl bin ich früher durch das Meer der Wüste +und über berghohe Dünenkämme gewandert und habe über ihre erstarrten +Wogen von Sand und wieder Sand hingeschaut, und nach Süden hin breitete +sich auch jetzt eine solche Landschaft aus. Hier aber standen wir an +der nördlichsten Grenze der Sandwüste, und zwar an einer so scharfen +Grenze, wie man sie nur an den Küsten eines Meeres oder an den Ufern +eines Sees findet. Die äußerste Dünenreihe bildet eine Mauer, einen +Wall, einen geschweiften Bogen von lauter Sand, der in einem Winkel +von 32 Grad unmittelbar nach dem Wasser abstürzte. Die Feuchtigkeit, +die das Flußband sowohl in Gestalt reichlicher fallenden Taus wie +als mechanisch aufgesogene Nässe begleitet, verleiht hier dem Sande +kräftigeren Halt als im Inneren der Wüste; dadurch entsteht das +eigentümliche Relief von Einsenkungen, Terrassen und Kegeln, das +man auf der Abbildung 46 sieht. Die Erosion an der Basis der Düne +verursacht unaufhörlich Sandrutsche; der Sand stürzt hinunter und +bildet Kegel. Der fortgeschwemmte Sand lagert sich nicht weit davon +ab und bildet Bänke und Anschwemmungen. Wenn man diese Sandmauer von +dem gegenüberliegenden linken Ufer betrachtete, sah sie ganz senkrecht +aus, und man glaubte, die Männer würden sich den Hals brechen, als sie +ungestüm den Abhang hinunterliefen und neue Abstürze und Rutsche des +Sandes verursachten. Die Dünen waren hier ungefähr 60 Meter hoch; die +Männer oben auf dem Kamme erschienen verschwindend klein. + +Die Aussicht über den Fluß war großartig. Tief unter uns schlängelte +sich das Wasser wie in einem Kanal und verschwand im Osten in bizarren +Bogen. Auf der östlichen Flanke dieser kolossalen Sandanhäufung war +die Grenze ebenso scharf; dort setzte ohne jeden Übergang Tograkwald +ein, und die Pappeln standen in üppigen Gruppen unmittelbar am Fuße der +Ostabhänge der Dünen. + +In +Al-kattik-tschekke+ wohnt Bek Istam und mit ihm zehn Familien +in Hütten von Stangen und Kamisch (Abb. 47). Die Hütten liegen alle +auf einem Haufen, um Kälte, Wind und Sommerhitze möglichst abzuhalten. +Die ganze Bevölkerung -- etwa 40 Personen, Männer, Weiber und Kinder +in schreienden Farben, zerlumpt und häßlich -- wurde auf einer Platte +verewigt; darunter war ein neunzigjähriger Greis, der vor 60 Jahren +vom Kara-köll hierher gekommen war. Er kauerte am Feuer, war blind und +klagte darüber, daß er seine Söhne verloren habe und sich jetzt niemand +seiner annehme. Er erzählte von den wechselnden Betten des Tarim, aber +das Gedächtnis hatte nachgelassen, und seine Angaben waren daher nicht +zuverlässig. + +Nachdem wir den Fluß gemessen hatten, der jetzt 75,4 Kubikmeter Wasser +in der Sekunde führte, fischte Istam Bek in einer mit 4 Zentimeter +dickem Eise bedeckten Bucht innerhalb einer Schlammbank. Die Fischerei +wurde wie Seite 106 angegeben betrieben, mit dem Unterschiede, daß +jetzt zwei Netze benutzt wurden. Das erste wird in die Mündung +gelegt, dann wird ein etwa 10 Meter breiter Eisgürtel aufgehauen; +an dem neuen Eisrande wird das zweite Netz hinabgesenkt und mit dem +ersten verbunden. Das Wasser ist nur einen Meter tief. Es ist jedoch +wahrscheinlich, daß sich die Fische bei dem Lärm in den innersten +Teil der Bucht zurückziehen. Nun wird wieder ein Gürtel von 10 Meter +Breite aufgehauen und an dem neu entstandenen Eisrande das erste Netz +ausgespannt. Dieses Manöver wird so lange wiederholt, bis nur noch +der innerste Teil der Bucht freibleibt; es ist dann leicht, alle dort +vorhandenen Fische zu fangen. Das Netz wird durch am unteren Rande +angebrachte Steine und am oberen befestigte trockene Binsen im Wasser +vertikal gehalten. An dem Schwanken dieser Binsen sieht man, wenn ein +Fisch sich in den Maschen gefangen hat; dann wird der verdächtige Teil +des Netzes behende mit dem Ruder emporgehoben und der Fisch mit einem +Knüppel auf den Kopf geschlagen und ins Boot geworfen. + +Unsere Tage waren jetzt gezählt, das war sonnenklar; denn wenn sich +auch die Temperatur des Wassers bei Tag ein wenig über Null hielt, +so war sie doch nachts unter dem Gefrierpunkt, und morgens waren die +Fähren eingefroren und mußten erst losgehauen werden. Die Lopleute +hatten uns darauf vorbereitet, daß, sobald das erste Treibeis sich zu +zeigen anfinge, es nur noch zehn Tage bis zum gänzlichen Zufrieren +dauern würde. Mit steigender Spannung erwarteten wir diesen Augenblick. +Er trat am 28. November ein. Als ich am Morgen aus dem Zelte kam, fand +ich den ganzen Fluß mit porösem, weichem Eisschlamme übersät, kleinen +Nadeln und Kristallen, die sich auf dem Grunde, jedenfalls unter der +Wasserfläche bilden und sich zu Fladen und Schollen, die auf der +Oberfläche oft schneeweiß sind, vereinigen. Dieses Treibeis, welches +ein sicheres Anzeichen des nahe bevorstehenden Zufrierens des Flusses +ist, wird „Kömul“ oder „Kade“ genannt. Es treibt die Fische aus dem +Flusse in die Buchten und die Uferlagunen. Wenn sich Kömul zeigt, weiß +man also, wo man mit größter Aussicht auf guten Fang die Netze auslegen +muß. Dann sind auch alle Lopleute draußen, um ihren Vorrat für den +Winter einzusammeln. + +Der Morgen war düster und kalt und der Himmel umwölkt. Mit Beilen und +Brechstangen wurden die Boote aus ihren nächtlichen Banden befreit, +doch sie hatten an der Wasserlinie einen Eisrand, der den ganzen Tag +sitzenblieb. Um ihre Kähne zu schützen, ziehen die Lopmänner sie nachts +aufs Land. Alles ist gefroren; unsere Seile sind hart wie Holz, und der +Strommesser steckt in einer Eishülse, die vor der Benutzung aufgetaut +werden muß. Wir heizten vorn und im Achter und froren trotzdem, aber +die Leute waren guten Mutes und sangen den ganzen Tag; ich argwöhne, +daß die Männer von Lailik gar nichts gegen das Einfrieren hatten, für +sie bedeutete es ja, daß die Reise zu Ende war und sie wieder nach +Hause zurückkehren konnten. + +Wir schoben die Fähre in das Treibeis hinaus und folgten seinen +tanzenden Schollen. Das Beobachten ihrer Bewegungen bot eine +Abwechslung, ein neues Interesse für die Besatzung. Wie die Fähre +waren auch die Schollen gehorsame Sklaven der Launen der Strömung. Sie +wurden in die Stromfurche hineingezogen, wo sie stets am zahlreichsten +waren; sie gerieten in Wirbel hinein, wo sie sich im Kreise drehten, +bis es dort so voll wurde, daß einige wieder in die Strömung +hinausgedrängt wurden; sie blieben stecken, wo Bänke unmittelbar unter +der Oberfläche lagen, und sie sagten uns oft, nach welcher Richtung die +Fähre gesteuert werden müsse. Munter, kleinen Inseln gleich, trieben +sie den Fluß hinab, mit einem schnarrenden Geräusche schlugen sie +gegeneinander, sie stießen gegen unsere Boote, zerschellten, taten sich +wieder zusammen, trieben gegen die Ufer und drehten sich dort wieder +im Kreise. Das Treibeis nahm jedoch im Laufe des Tages ab; um 1 Uhr +war der größte Teil verschwunden, und um 4 Uhr sahen wir keine einzige +Scholle mehr. Wir hatten jedoch die erste Warnung erhalten; in zehn +Tagen würde der Fluß zugefroren sein. + +Während dieser Tagesfahrt war der Tarim außergewöhnlich launenhaft. Er +erstreckte sich erst auf vielversprechende Weise nach Nordosten, dann +aber machte er ganz unerwartet einen Bogen nach links, bis er auch am +linken Ufer auf mächtigen Sand stieß, der ihn zwang, sich in tollen +Krümmungen nach Nordnordosten zu wenden. + +In der Gegend +Siwa+ rasteten wir des Flußmessens wegen eine +Weile. Vermutlich war es das letzte Mal, daß ich diese Arbeit nach +der alten Methode ausführen konnte, denn die kleine Jolle, welche die +Muhammedaner Kagas-kemi, das Papierboot, nannten, vertrug es nicht, +zuviel mit dem Treibeise in Berührung zu kommen. Die Messung ergab +72,45 Kubikmeter Wasser. Stellt man unter Berücksichtigung der vom +Hochwasser stehengebliebenen Anzeichen eine annähernde Berechnung an, +so findet man, daß der Fluß hier in der Hochwasserperiode mindestens +173 Kubikmeter in der Sekunde führen muß. + +29. November. An diesem Morgen hatte der Winter wieder einen großen +Schritt vorwärts gemacht. Die Kälte stieg jetzt nachts bis auf -16 +Grad, und das Wasserthermometer zeigte null Grad. Der Fluß sah seltsam +fremd aus; seine Oberfläche war so mit weißen Treibeisschollen +belastet, daß man glauben konnte, er sei über Nacht zugefroren und +dann mit einer dicken Schneeschicht bedeckt worden. So schlimm war +es jedoch nicht. Die weiße Masse war in unausgesetzter Bewegung wie +eine rotierende Stufenbahn; es war wieder „Kade“ oder „Kömul“, das +von Tag zu Tag mehr und größer wurde. Stand man am Ufer und fixierte +diesen vorbeieilenden, weißglänzenden Streifen, so schwindelte es einem +vor den Augen, bis der Streifen unbeweglich erschien, während man +anscheinend selbst den Fluß hinabglitt. + +Wir hatten am Abend vorher einen sehr unglücklichen Lagerplatz +gewählt, eine kleine Bucht, die am Morgen so fest zugefroren war, +daß man ungehindert um die Boote herumspazieren konnte. Es dauerte +infolgedessen eine ziemliche Zeit, bis ein Kanal in dem Eise nach dem +Flusse hinaus aufgehauen war. An dem äußeren Rande der Eisscheibe +leckte die Strömung, die auf ihm einen ganzen Wall von Treibeis +auftürmte, der kreideweiß glänzte wie Schnee. Die Eisschollen waren +größer und kompakter als gestern und wenn sie aneinander stießen, +klirrte es wie zerbrochenes Porzellan. Auf der ganzen Fahrt klang +es heute um uns herum wie das Glockenspiel einer fernen Kirche, und +Millionen von Eiskristallen funkelten und spielten wie Diamanten im +Sonnenschein. Das ununterbrochene Sausen und Pfeifen, das durch das +Schmelzen der Eisnadeln entstand, und der blendende Lichtschein, der +von ihnen ausging, wirkten betäubend, fast hypnotisierend auf die Sinne. + +Betrachtet man das „Kade“ genauer, so findet man, daß es aus lauter +kleinen, außerordentlich dünnen, zusammengeballten Schuppen und Nadeln +von Eis besteht, die nur da, wo sie sich über die Wasserfläche erheben, +schneeweiß werden, unter dem Wasser aber dieselbe Farbe haben wie +dieses. Die aus diesem leichten, wassergetränkten Materiale bestehenden +Treibeisschollen haben selten mehr als einen Meter Durchmesser und eine +runde Form, was von ihrem unaufhörlichen Reiben aneinander und an den +Ufern kommt. Aus demselben Grunde trägt jede Scholle an der Peripherie +einen etwa 10 Zentimeter hohen Wall, der weiß glänzt, während das +Innere in der Höhe des Wasserspiegels eine gleichmäßige, blaugraue +Fläche bildet und nach und nach zu einem festeren Fladen zusammenfriert. + +Wir sind von zahllosen weißen Ringen umgeben, den Grabkränzen des +Flusses, welche verkünden, daß er bald unter seinem kalten Leichentuche +zur Ruhe gehen wird (Abb. 48). Wie wir monatelang das Leben des Tarim +mitgelebt haben, werden wir auch an seinem Begräbnis teilnehmen. + +Auch heute zehrte die Sonne energisch an den Eiskränzen, aber noch +um 12 Uhr war die halbe Oberfläche des Flusses mit Treibeis bedeckt, +und es verschwand nicht mehr; es fuhr fort zu schwimmen, wenn auch in +gelichteteren Reihen. + +Der Fluß hat hier dieselben Charakterzüge wie der Jarkent-darja +unterhalb Lailik; die großen, breiten Alluvialhalbinseln und Holme +treten wieder auf, das Bett ist breit und wird von kräftigen +Erosionsterrassen, auf denen dichter, alter Wald steht, eingeschlossen. + ++Ansasch-kum+ ist eine hohe, unfruchtbare Sandpartie am rechten +Ufer, so genannt nach einem alten, längst verstorbenen Pavan, der +diese Düne zu besteigen pflegte, um nach Antilopen und wilden Kamelen +auszuschauen. Letztere, die sich jetzt nie an den Ufern des Tarim +zeigen, waren früher dann und wann durch die Wüste an den Fluß +gekommen. Die Hirten in den Wäldern des Tarim haben keine Kenntnis von +dem Vorhandensein des wilden Kamels; nur wenn man sie danach fragt, +pflegen sie manchmal zu antworten, sie hätten gehört, daß es tief +drinnen in der Wüste ein solches Tier gebe. + +Wohl eine Stunde trieben wir im Dunkeln bei Laternenschein, aber es +gab ein nervenangreifendes Rufen und Schreien bei jeder Bank und jeder +Untiefe. Als ich abends am Schreibtisch die Aufzeichnungen für den Tag +machte, prallte jede vorbeitreibende Scholle gegen die Fähre, die dabei +jedesmal knackte und erschüttert wurde. + +Längs der Ufer hat das feste Zufrieren endgültig begonnen, und die +Eisränder nehmen täglich an Breite zu. Sie beschränken jedoch ihr +Gebiet einstweilen noch auf stille Ufer, an denen keine Strömung +entlang geht, oder auf Anhäufungen von im Flußbett steckengebliebenem +Treibholz und Reisig. + +30. November. Das Treibeis fuhr die ganze Nacht fort, gegen die Fähre +zu klirren und zu scheuern, aber es störte mich nicht in meinem +ruhigen Schlafe. Der Fluß war kaum zur Hälfte damit bedeckt, und +merkwürdigerweise verschwand es größtenteils, obgleich der Himmel +bewölkt war und die Einwirkung der Sonne also fehlte. Der Tarim strömte +außergewöhnlich schnell dahin; wir machten eine lange Fahrt und hatten +zur Rechten immerfort den hohen Sand, der einer Bergkette glich, deren +Formen an die nordtibetischen Ketten erinnerten. Menschen waren nicht +zu sehen, auch kein Rauch, nur einige aufgerichtete Stangen, auf denen +ein Pavan geschossene Antilopen aufzuhängen pflegt, um sie vor den +Raubtieren zu schützen. Ein Fasan, ein Falke und einige Raben waren das +einzige Leben, das wir bemerkten. Wildenten und Gänse sind schon längst +spurlos verschwunden. + +Ich arbeitete täglich 14 Stunden von 6½ Uhr an, zu welcher Zeit das +erste Kohlenbecken ins Zelt gebracht wird. Das Frühstück, gekochter +Fisch, wird erst gegessen, wenn wir wieder abgestoßen haben, und auch +das Mittagmahl wird an Bord serviert, weil das Geschirr dort nahe bei +der Hand ist und die Landungsplätze in der Dunkelheit nicht immer +leicht zugänglich sind. Die Zeit war jetzt so kostbar, daß keine +Minute verloren gehen durfte. Mein „Friseur“ Islam mußte mir sogar am +Schreibtische die Haare schneiden. + +[Illustration: 48. Treibeis auf dem unteren Tarim. (S. 119.)] + +[Illustration: 49. Blick vom rechten Tarimufer flußaufwärts (1. +Dezember). (S. 120.)] + +[Illustration: 50. Die Fähre an der Mündung des Ugen-darja. (S. 126.)] + +[Illustration: 51. Begrüßung Parpi Bais und Islam Bais. (S. 126.)] + +1. Dezember. Der Tarim verändert seinen Charakter nicht. Er fließt in +weitem Bogen nach Nordosten, von üppigem Wald begleitet, hinter welchem +der gelbe Sand noch mächtiger zu werden scheint. Der Wasserstand ist +derselbe geblieben. Wir gingen in einer Biegung an Land und machten +von der Höhe des Sandes aus ein paar photographische Aufnahmen, von +denen eine hier (Abb. 49) beigefügt ist. Der Unterschied zwischen den +verschiedenen Teilen des Flusses tritt hier schärfer als je hervor. +Das eigentliche Strombett ist grau und reich an weißen Eisringen; die +Lagunen an den Seiten und innerhalb der Schlammablagerungen sind klar +grünblau und mit 10 Zentimeter dickem, glashellem Eis bedeckt, das +knackt und klingt, wenn man darauf geht. Im Südosten verliert sich der +Blick in unendlich weite Ferne über unzählige Dünenkämme, und auch im +Nordwesten zieht sich ein Sandgürtel hin, der jedoch nicht besonders +umfangreich sein kann. Zwischen diesen beiden Gebieten erreicht die +Breite des Vegetationsgürtels höchstens zwei Kilometer, obwohl einzelne +Tamarisken sich hie und da ein wenig weiter fort vom Ufer verirren. +Unmittelbar am Flusse hat das Ufer gewöhnlich einen Schilfrand. + +Ich wurde in aller Frühe von einem gewaltigen Knattern gegen den +Boden der Fähre geweckt; es war das aufsteigende „Kade“. Es steigt +fast gleichzeitig mit der aufgehenden Sonne; nachts ist es nicht +zu sehen. Wenn man frühmorgens mit einer Stange auf dem Grunde +entlang fährt, ist dieser hart und glatt wie Eis, später am Tage +aber fühlt er sich weich und uneben wie gewöhnlicher Sand an. Dann +ist das Kade bereits hochgegangen. Wenn das Treibeis an den Seiten +der Fähre entlang schrammte, klang es ungefähr, als ob man mit einer +Zuckerschneidemaschine Zucker zerkleinerte. Anfangs waren die Hunde +auf diese neue, unerklärliche Erscheinung wütend und bellten die +unschuldigen Eisschollen ohne Unterschied an, bald aber gewöhnten sie +sich daran und liefen, als diese zahlreicher und dichter geworden, +sogar auf ihnen an Land. + +Oft werden wir von dem Treibeise gewarnt. Es geht ebenso tief wie die +Fähre und bleibt selbst stehen, häuft sich an, knattert und kracht, +sobald das Wasser nicht tief genug ist. Die Lopmänner behaupteten, das +Kade erhöhe die Geschwindigkeit des Wassers, was ich jedoch bezweifle, +da diese ewigen Kollisionen eher die entgegengesetzte Wirkung haben +müssen. + +Am 2. Dezember legten wir bei einer Geschwindigkeit von 66 Zentimeter +in der Sekunde 23,17 Kilometer zurück, und die Windungen waren so +unbedeutend, daß die Luftlinie nicht viel kürzer sein dürfte. Der Fluß +stieg über Nacht ein wenig, aber das Wasser war noch immer ebenso +trübe, was wohl zu einem nicht geringen Teile der auf dem Grunde +vor sich gehenden Eisbildung zugeschrieben werden muß. Die äußerste +Dünenwand des Sandmeeres tritt etwas zurück und ist schließlich nicht +mehr zu sehen. Uferlagunen kommen noch immer vor; sie stehen mit dem +Flusse durch einen schmalen Kanal in Verbindung, aber die Mündung des +Kanals ist jetzt verstopft, so daß die dem Kade entflohenen Fische in +einer Falle sitzen. Die kleinen Seen sind beinahe immer nach ihren +Besitzern genannt, die hier allein das Fischrecht haben. + +Zur Linken war es jetzt nicht weit nach dem früher von mir besuchten +Tarimarme Ugen-darja, den mächtige Wälder umgeben. Das nördliche +Sandgebiet hat auch aufgehört, und die Waldgebiete beider Flüsse bilden +jetzt eine zusammenhängende Waldgegend. + +Eine schwache Brise genügte, um die Kälte fühlbar zu machen; die über +dem Kohlenbecken erwärmte Luft wurde fortgetragen, und die Tinte +gefror unaufhörlich in der Feder. Den Himmel bedeckten dichte Wolken, +die wie Tücher über der Erde lagen, ohne eine Schneeflocke von sich +zu geben. Abends aber glänzte die Sonne wie eine Kugel von glühendem +Golde unter diesem düsteren Thronhimmel hervor, und ihre Strahlen +erzeugten großartige Lichtwirkungen. Die ganze Lufthülle schien wie ein +brennbares Gas Feuer gefangen zu haben; die Schilffelder leuchteten +purpurn, die Pappeln breiteten ihre Zweige wie geöffnete Arme aus +und schienen sich an dem Abschiedskusse der untergehenden Sonne zu +berauschen, und die untersten Teile des Himmels glänzten in intensiv +violetten Schattierungen. Das schöne Schauspiel währte jedoch nur +einige Minuten, dann kam die Dämmerung und hüllte alles in ihren +gedämpften, eisengrauen Ton ein, und die Schilfstauden, die eben noch +ihre langen Speere wie eine Leibgarde zu Fuß bei festlicher Parade +geschultert hatten, standen wieder so einförmig und langweilig da wie +Gartenzäune bei uns zu Hause. + +Wir sehnten uns nach Menschen, denn die Ufer waren so traurig still. +Gab es denn keine Hirten in dieser verlassenen Gegend? Das Wissen +unserer Wegweiser ging auf die Neige, und wir bedurften neuer Leute, +die das Land besser kannten. + +Als die Dunkelheit undurchdringlich wurde, kommandierte ich Halt. Die +Kähne huschten wie Irrlichter über das Wasser, die Laternen schaukelten +auf ihren Stangen hin und her, und ihre Bilder im Wasser beleuchteten +die Stromringel auf der Oberfläche des Flusses und glänzten auf +den Eisschollen. Man sieht nichts weiter als diese Lichtpunkte vor +sich. Sie bleiben stehen und scheinen wie Leuchtkäfer auf das Ufer +hinaufzufliegen und dort im Schilfe umherzuhuschen. Wir folgten den +Kähnen und wählten einen Lagerplatz aus, der jedoch nicht recht für uns +paßte, da es dort an dürrem Holze fehlte. Um die Landschaft zu erhellen +und mit besserem Erfolge nach Brennholz suchen zu können, steckten die +Männer das ungeheuer dichte Schilf, welches die Uferterrasse bedeckte, +in Brand. Wie Bambusrohr knisternd, knallend und pfeifend wurde dieses +dürre Kamisch von den entfesselten Flammen verzehrt. Es wurde ein +riesenhaftes bengalisches Feuer, und sein wilder, gelbroter Schein fiel +auf das dunkle Wasser, wo er die Tausende von Treibeisschollen, die in +rastlosem Zuge vorbeitrieben, scharf beleuchtete. Diese schienen auf +der Pilgerfahrt nach einem gemeinschaftlichen Wallfahrtsorte begriffen +zu sein; sie folgten alle derselben großen Heerstraße, auf der sie +geboren werden und sterben, aber sie wetteiferten nicht miteinander, +sie gingen in schönster Ordnung, alle in demselben Takte. Sie zogen +vorbei wie Wassergeister, welche jeden Abend eine muntere Polonaise +tanzten, um die Beendigung der Jahresarbeit des Flusses zu feiern und +sich vor dem langen Winterschlafe noch gründlich zu amüsieren. Sie +glitten dahin wie eine Prozession friedloser Muselmänner mit weißen +Turbanen um die Köpfe, wie Freier, geschmückt mit Kränzen von kleinen +weißen Immortellen aus vergänglichem Eise. + +Recht eigentümlich wirkte die große Fähre sowohl auf dem Fluß wie auf +das Ufer unseres Lagerplatzes +Ilek+ ein. Das Treibeis trieb +gerade gegen ihre eine Längsseite und strich so an ihr entlang, daß +es nachher eine ganze Strecke flußabwärts eine ganz gerade Richtung +beibehielt, die jedoch nach und nach wieder eingebüßt und in der +Strömung zerstört wurde. Gegen die 1,35 Meter hohe Uferterrasse +erzeugte die Fähre, die wie ein Wellenbrecher dämpfte, einen +Stromwirbel, der schon an demselben Abend begann, das lose Erdreich der +Terrasse zu unterminieren, so daß es nach und nach ins Wasser plumpste. +Ich fürchtete, daß es zu einem verhängnisvollen Rutsche kommen würde, +aber die Terrasse hielt. + +Am 3. Dezember war der Fluß zu drei Vierteln mit Treibeis bedeckt, +welches Verhältnis natürlich im Laufe des Tages unaufhörlich wechselt. +Wo der Fluß schmal ist, wird die ganze Masse so zusammengedrängt, daß +vom Wasser gar nichts zu sehen ist; dann scheint es, als lägen die +Fahrzeuge eingefroren in einem treibenden Eisfelde. Was macht es uns +jetzt aus, ob es weht, wir werden von dieser nachdrängenden Schlange, +die sich zwischen den Ufern hinwindet, widerstandslos mitgenommen. +Dort jedoch, wo der Fluß wieder breiter wird, zerstreuen sich auch die +Eisschollen, und offenes Wasser kommt wieder zum Vorschein. + +Die Eisschollen klirren munter gegen die gefrorenen Ufer; man wird +nicht müde, die streifige Marmorierung, diese glänzenden Eismuster, +diese Schlingen, Girlanden und langsamen Karusselle zu betrachten, +lauter wechselnde Muster, die von dem gesetzmäßigen Laufe des Stromes +vorgeschrieben werden. Die Geschwindigkeit war den ganzen Tag über die +beste, und wir schwebten ungehindert an üppigen Wäldern und mächtigen +Sandausläufern vorbei, die sich beständig in neuen, wunderbaren +Perspektiven zeigten. Doch es war nicht mehr so wie früher auf dem +ruhigen, spiegelblanken Jarkent-darja; jetzt erfüllte die Luft ein +Sausen, das immer stärker wurde, je mehr sich der Fluß verschmälerte, +und das von diesen Massen von Treibeis verursacht wurde. Die Eisränder +der Ufer näherten sich einander immer mehr, und es kann nur noch ein +paar Tage dauern, bis die Brücke fertig ist. Jetzt liegen sogar die +Teile des Flusses, in denen das Wasser langsam fließt, unter einer +Eisdecke, die so hell wie Glas schimmert. Der Wald wird wieder dünn, +der Fluß breiter, die Landschaft offener; man hat nach allen Seiten hin +freie Aussicht. Oft scheint der Fluß vor uns gar kein Ende zu nehmen; +er erstreckt sich geradeaus in die weite Ferne wie ein wunderbares, +weißes Band, eine wahre Milchstraße. + +An der Kanalmündung +Daschi-köll+ überraschten uns zwei Reiter +am Ufer. Hassan Bek von Teis-köll hatte sie ausgeschickt, um uns +ausfindig zu machen. Der Sohn des Beks mit einem Gefolge von zehn +anderen Männern erwartete uns eine ziemliche Strecke weiter unten bei ++Momuni-ottogo+. Er hatte mit den beiden Spähern verabredet, +daß diese, falls sie uns träfen, ihn durch angezündete Feuer davon +benachrichtigen sollten. Sie ritten nun wieder zurück, und wir sahen +eine Rauchsäule nach der anderen aufsteigen, und als wir Momuni-ottogo +erreichten, brannte dort ein Feuer, und die ganze Gesellschaft +erwartete uns mit einem Dastarchan. + +Hassan Beks Sohn brachte wichtige Nachrichten. Meine Karawane hatte +sich drei Tage in Teis-köll aufgehalten und sollte gestern nach +Jangi-köll und von dort weiter nach Argan, dem in Lailik festgesetzten +Vereinigungspunkte, ziehen. Da wir aber jeden Augenblick einfrieren +konnten und es von Wichtigkeit war, die Kamele nahe zur Hand zu haben, +schickte ich an Nias Hadschi und die Kosaken einen reitenden Eilboten +mit dem Befehl, sie sollten da, wo sie sich gerade befänden, bleiben. +Ferner erfuhr ich, daß sich mein alter Freund Chalmet Aksakal aus Korla +bei der Karawane befinde und Parpi Bai mich in Karaul erwarte. + +Über die Eigenschaften des Flusses in diesen Gegenden wurde mir +mitgeteilt, daß er von Anfang Dezember bis Anfang März zugefroren +und dann noch einen halben Monat mit porösem Eise bedeckt sei. Das +Hochwasser erreiche diese von den Quellen so weit entfernten Gegenden +erst Anfang August und stehe Ende September oder Anfang Oktober am +höchsten. Nachher falle der Wasserstand täglich, sei aber einige Zeit +vor dem Zufrieren keinen Veränderungen unterworfen. Wenn der Fluß +zugefroren sei, steige das Wasser, was seinen Grund darin haben solle, +daß das Treibeis sich nach der Mündung hin zusammenpacke und zu einer +Art Damm aufstaue. Wenn dieses sich wieder verteilt habe, falle das +Wasser von neuem. Während des Juni habe es seinen tiefsten Stand, und +man könne dann an mehreren Stellen den Fluß zu Pferd durchwaten. + +Es versteht sich von selbst, daß die Unterschiede zwischen dem +Hochwasser und dem niedrigsten Wasserstande im unteren Tarim, der so +weit vom Gebirge liegt, viel unbedeutender sein müssen als z. B. im +Jarkent-darja bei Jarkent oder im Aksu-darja bei Aksu. Je weiter +abwärts wir kommen, desto mehr gleichen sich diese Unterschiede +aus, und die Wassermenge wird auch in wesentlichem Grade von jenen +unzähligen Lagunen und Uferseen reguliert, welche die Ufer des +Tarim wie Schmarotzer, die sein Blut aufsaugen, begleiten. Die im +Jarkent- und Aksu-darja, im Chotan-darja und Kisil-su so gewaltige +Frühlingsflut verliert daher unterwegs nach und nach ihre ungestüme +Überschwemmungskraft. Denn erst müssen die Lagunen, die im Sommer +ausgetrocknet sind, neu gefüllt werden, wozu ungeheure Wassermengen +gehören. Erst nachdem sie den ihnen zukommenden Anteil erhalten haben, +macht sich das Hochwasser in den unteren Regionen fühlbar. Wenn der +Zufluß von oben sich verringert und aufhört, wirken diese Behälter +wieder als Reservoire. Um die Zeit, als wir Lailik verließen, hatte +das Hochwasser Momuni-ottogo und Karaul erreicht, jetzt aber, Anfang +Dezember, hatte es schon vor ein paar Monaten seine trübe Flut in die +äußersten Seen des Tarimsystems ergossen. + +Bei Momuni-ottogo waren wir wieder mit freundlichen, dienstwilligen +Eingeborenen in Berührung gekommen. Die Nacht war dunkel und +bitterkalt, und der eintönige Zug des Treibeises wurde dann und wann +von einem eigentümlichen Laute übertönt, der dadurch hervorgebracht +wurde, daß unsichtbare Kräfte neue Netze von glashellem Eise über die +ruhigen Flächen des Flusses spannten. Der Tag war im ganzen hell und +freundlich gewesen; wir hatten eine lange lehrreiche Fahrt gemacht +und erfreuliche Nachrichten von den Unseren erhalten. Es war aber +auch schon der erste Adventsonntag, und wir standen auf der Schwelle +des Grabgewölbes des Tarim, das immer mehr mit Kränzen von weißen +Immortellen überhäuft wurde. + + + + +Zwölftes Kapitel. + +Wir frieren fest und gehen ins Winterquartier. + + +Während der letzten drei Tagereisen nahm die Strömung an Schnelligkeit +zu; am 4. Dezember legten wir im Durchschnitt 1 Meter in der Sekunde +zurück, bisweilen aber war die Fahrt beinahe unangenehm stark, +und die Fähre strich längs der Ufer hin, daß es in den Eisrändern +krachte. Der Pappelwald hört nach und nach auf, und bei Karaul, wo der +Ugen-darja mündet (Abb. 50), ist das Land entweder ganz kahl oder mit +Kamischfeldern, kleinen Sanddünen (Abb. 52) und Tamarisken bedeckt. + +Wir lagerten bei +Karaul+, denn dort erwarteten uns Parpi Bai +und eine große Zahl anderer Eingeborener. Mein alter, treuer Diener +von 1896 eilte an Bord, ergriff meine Hände und führte sie an seine +Stirn; er war so gerührt über das Wiedersehen, daß er lange kein Wort +hervorbringen konnte. Wie Islam Bai war auch er gealtert und graubärtig +geworden, aber er sah ebenso prächtig aus wie früher, um so mehr als +er jetzt eine besonders kleidsame Tracht trug, eine mit Pelz verbrämte +blaue Mütze und einen dunkelblauen Tschapan (Abb. 51). + +Den nächsten Tag blieben wir in Karaul. Ich mußte eine astronomische +Beobachtung vornehmen und die Wassermenge des Ugen-darja und des Tarim +messen. Jener führte gar kein Treibeis, dieser aber war voll davon, und +das Messen war schwerer als gewöhnlich. Der Hauptfluß hatte jetzt 55,7 +Kubikmeter, der Ugen-darja nur einige wenige. Das Wasser des Ugen ist +bis zu 69 Zentimeter Tiefe durchsichtig, das des Tarim bloß bis auf 8 +Zentimeter. Noch 300 Meter unterhalb des Zusammenflusses kann man den +Unterschied zwischen dem Wasser beider Flüsse deutlich wahrnehmen. + +Der Aksakal von Korla kam mir hier auch entgegen und brachte ein paar +Kisten mit Birnen und Trauben mit, sowie einige hundert Zigaretten, die +der russische Konsul in Urumtschi mir vor vier Jahren geschickt hatte, +die aber jetzt erst ihren Bestimmungsort erreichten. + +Karaul ist der Punkt, wo der Tarim sein scharfes Knie macht, um nach +dem Lop-nor abzubiegen. Die Richtung ist Südost, und zeitraubende Bogen +kommen nicht vor. Die Stromgeschwindigkeit war stark, und als wir +einmal gegen einen im Grunde steckengebliebenen Pappelstamm stießen, +half das nachschiebende Treibeis der Fähre darüber hinweg. Es war +aber eine ungemütliche Geschichte; die ganze eine Seite wurde über +das Wasser gehoben, schrammte auf der Pappel entlang und knallte dann +förmlich auf die Wasserfläche nieder. + +Der 7. Dezember war der letzte Tag auf dem Tarim im Schifffahrtsjahre +1899, das wußten wir schon am Morgen, denn die Karawane erwartete +uns bei Jangi-köll, wohin wir nur noch eine Tagereise hatten, und +kurz unterhalb dieses Punktes war der Fluß seit zwei Tagen in seiner +ganzen Breite zugefroren. Wir traten also die Fahrt mit gemischten +Gefühlen an; die Lailiker freuten sich, daß die Stunde ihrer Befreiung +geschlagen hatte, Islam und Kader sehnten sich nach ihren Kameraden +und nach dem Leben auf festem Boden, ich selbst war froh, daß die +Reise so gut geglückt war und an einem für meine Pläne so geeigneten +Orte endete; andererseits begann ich aber die letzte Tagereise mit +wehmütigen Gefühlen, denn ich würde die Fähre, die dritthalb Monate +mein friedliches Heim gewesen, mit Bedauern verlassen. + +Drei Beke von den nächsten Dörfern und eine unabsehbare Reiterschar +begleiteten uns auf dem Ufer, doch an Bord durfte nur der Bek von +Jangi-köll, mit dem wir später noch viel zu tun haben werden. + +Die letzte Tagesfahrt war eine der interessantesten der ganzen +Flußreise, denn sie führte uns in ganz anders geartete Gegenden, +als wir bisher passiert hatten. Der Fluß strömt beinahe gerade nach +Südosten. Links dehnen sich endlose Gras- und Kamischsteppen aus, auf +denen sich sehr selten eine einsame Pappel erhebt, rechts türmt sich +ununterbrochen der hohe, unfruchtbare Sand auf, dessen Basis vom Flusse +bespült wird. Das Ungewöhnliche ist, daß dieser Sand nichtsdestoweniger +einer ganzen Reihe höchst eigentümlicher, von lauter öden Dünen ohne +Spur von Vegetation umgebener Seen Raum gewährt. General Pjewzoff hatte +auf seiner Reise einige von ihnen bemerkt, aber weder er noch ich +hatten geahnt, daß ihre Zahl so groß sei, und es gehörte daher jetzt +noch zu meinem Reiseprogramm, sie näher zu untersuchen, eine Karte von +ihnen aufzunehmen und sie auszuloten. + +Der Fluß war jetzt ganz mit Treibeis erfüllt, und nur ein Drittel +der Fläche, wo sich die Stromfurche hinzog, war eisfrei, sonst war +alles zugefroren. An einigen Stellen kamen wir nur mit Mühe hindurch +auf Kosten der Eisränder, die klirrend wie Glas zersplitterten. Den +Eisschollen wurde der Platz knapp; sie prallten aneinander und +schoben sich übereinander, wobei sie Miniaturterrassen oder auf dem +Eisbande der Ufer weiße Wälle bildeten. Die ganze Masse trieb mit +unwiderstehlicher Kraft vorwärts; die Blöcke, die nicht mitkommen +konnten, waren auf sich selbst angewiesen, während wir uns mitten in +der Bahn hielten und sicher auf das Ziel losgingen. + ++Tus-algutsch-köll+, der „See, wo Salz genommen wird“, ist die +erste der langen Reihe von Wüstenlagunen, die gleich Trauben an +einem Stengel am rechten Ufer des unteren Tarim hängen. Obgleich ich +später reichlich Gelegenheit finden werde, diese seltsamen Gebilde +zu besuchen, konnte ich mich nicht enthalten, schon jetzt an Land zu +gehen, um wenigstens einen Blick auf den See zu werfen. Der Kanal, +der den See mit dem Flusse verbindet, war an der Mündung mit Lehm +und Reisig verstopft. Das Wasser wird auf diese Weise 2-3 Jahre lang +isoliert, und die darin eingeschlossenen Fische sollen fett und +schmackhaft werden, sobald das Wasser einen schwachen Anflug von Salz +bekommen hat. Der zweite See ist der +Seit-köll+; er zieht sich +beinahe eine Tagereise weit landeinwärts in den Sand hinein; seine drei +Kanäle waren ebenfalls abgesperrt worden, um das nächste Hochwasser zu +verhindern, mit dem See in Verbindung zu treten. + +In der Nähe der Mündung dieser Seen sahen wir mehrere verlassene +Dörfer. Die aus Pappelholz und Kamisch gebauten Hütten (Abb. 53) +standen noch da und sahen ziemlich neu und brauchbar aus, aber nicht +ein einziges lebendes Wesen war zu sehen, und in dem Sand, der sich +ringsumher schneewehenartig angehäuft hatte, war nicht einmal eine +Fußspur zu entdecken. Mir wurde erzählt, daß die Bewohner dieser, wie +auch die einer ganzen Reihe anderer, weiter flußabwärts liegender +Dörfer vor sieben Jahren fortgezogen seien, nachdem die Pocken +(Tschitschek) die Bevölkerung in schrecklicher Weise dezimiert hätten. +Den Überlebenden wurden von den chinesischen Behörden Wohnsitze auf +dem linken Ufer angewiesen. Sie hatten vorher hauptsächlich vom +Fischfang gelebt, nun aber wurde ihre Lebensweise eine ganz andere; sie +bestellten ihr Feld, säten Weizen und erwarben sich ihren Unterhalt +auch mit Viehzucht. Der Boden ist jedoch mittelmäßig, und obwohl sich +ohne Schwierigkeit Kanäle vom Flusse ziehen lassen, reicht der Ertrag +des Bodens doch nicht für ihren Unterhalt aus, und sie müssen oft ihre +Schafe verkaufen, um sich Mehl aus Korla zu verschaffen. Die reichsten +Eingeborenen besitzen bis zu tausend Schafen, aber die meisten sind arm +und begeben sich im Sommer nach ihren alten Seen, um dort zu fischen. +Hierbei bewohnen sie jedoch nicht ihre alten Hütten, an denen für die +meisten so traurige Erinnerungen hängen, sondern lagern unter freiem +Himmel. Jetzt haben die Chinesen Zwangsimpfung eingeführt, welcher die +skeptische Bevölkerung sich und ihre Kinder unterwerfen muß. + +[Illustration: 52. Kleine gebundene Dünen bei Karaul. (S. 126.)] + +[Illustration: 53. Verlassene Hütten am Seit-köll. (S. 128.)] + +[Illustration: 54. Unser Hauptquartier Tura-sallgan-ui. (S. 135.)] + +[Illustration: 55. Winterquartier in Jangi-köll mit meinen Leuten. (S. +133.)] + +Auch am Seit-köll gingen wir an Land und bestiegen eine hohe Düne, +von der man eine prächtige Aussicht über den See hat, der sich nach +Südsüdwesten hinzieht und einem Fjorde zwischen steilen Felsen gleicht. + +Die Flußkrümmung, an welcher der Seit-köll liegt, ist außerordentlich +energisch in den Sand eingeschnitten, wo sie gleichsam eine +vorgeschobene Bucht des Flusses bildet. Früher hatte das Sandmeer sich +weit nach Nordosten erstreckt, war aber nach und nach von dem Flusse, +der also auch hier nach rechts zu wandern scheint, zurückgedrängt +worden. + +Über die Bildung der Wüstenseen gaben mir die Landeskinder ziemlich +phantastische Aufklärungen. Sie behaupteten, erst seien die Kanäle +gegraben worden, dann habe sich der Fluß während der Hochwasserperiode +durch sie neue Bahnen gesucht; große Wassermassen hätten sich in den +Sand hineingewälzt, die Dünen verdrängt und jene großen Seen gebildet, +die gewöhnlich nach dem Manne heißen, dem sie ihre Entstehung verdanken +sollen. Es versteht sich von selbst, daß trotz alles Grabens keine +Seen entstehen würden, wenn es in der Plastik des Bodens nicht schon +gewisse notwendige Vorbedingungen gäbe. Auch der +Dasch-köll+ +ist in hydrographischer Hinsicht sehr eigentümlich. Dieser See liegt +ganz dicht am Ufer des Flusses, ist aber noch durch einen bedeutenden +Sandwall von ihm getrennt. Neulich hat der Fluß einfach die ganze Düne +fortgespült, und seine Wasserfläche hängt jetzt unmittelbar mit dem +Spiegel des Sees zusammen. Die Fläche des Sees steigt und senkt sich +mit der des Flusses. -- + +An einem Punkte namens +Arelisch+ begegneten uns Tschernoff +und Faisullah und weiter abwärts Nias Hadschi und mehrere der +Karawanenleute und begleiteten uns auf dem Ufer mit einer ganzen Reihe +neuangeschaffter Hunde. Ihre Freude, uns gesund und munter auf der +alten Fähre wiederzusehen, läßt sich nicht beschreiben. Sie hatten es +kaum für möglich gehalten, daß mich dieses Ungetüm Hunderte von Meilen +würde transportieren können, während sie auf staubigen Wegen so manchen +ermüdenden Schritt getan. Jetzt konnten wir bleiben, wo wir wollten, +denn wir waren wieder mit der Karawane in Verbindung. Da mir aber +Tschernoff sagte, wir hätten nur noch ein paar Stunden bis an einen +Punkt, wo das Treibeis sich zusammengepackt habe und zu einer dichten +Masse zusammengefroren sei, durch die nicht hindurchzukommen sei, +beschloß ich, beim Scheine der Laternen weiterzufahren. + +Die letzte Nacht unserer Flußreise war schon einige Stunden unter ihrem +schwarzen Schleier dahingeschritten, als ein großes Feuer am linken +Ufer aufflammte. Es war von unseren Karawanenleuten an einem geeigneten +Landungsplatze gleich oberhalb der Eisbarre angezündet worden. Hier +legten wir zum letztenmal an und gingen müde und frierend nach dem +Feuer hinauf, wo wir bald in lebhaftem Gespräche mit den Unseren waren. + +So hatte denn diese märchenhafte, friedvolle Reise ihr Ende erreicht! +Wie im Traume konnte ich zurückblicken auf alle die verflossenen Tage +mit ihren reichen Erfahrungen, auf unser einsames Leben an Bord, +unsere Abenteuer und Exkursionen, unsere venezianischen Abende und den +endlosen Wald, der unseren Weg mit seinen gelben Blättern bestreute. +Nie hat sich eine Reise so glücklich und bequem ausführen lassen; sie +bildete in der Tat einen passenden Übergang zwischen dem stillsitzenden +Leben in Stockholm und den mühevollen Jahren, die jetzt vor mir lagen. +Ich war wie auf einem Triumphwagen mitten in das Herz von Asien geführt +worden und nun war ich dort; und wohin ich mich wendete, lockte das +Unbekannte mit magischer Anziehungskraft. Es war ein eigentümliches +Zusammentreffen, daß uns das Eis gerade an dem Punkte, an dem sich +die Karawane befand, den Weg versperrte. Sie war vor drei Tagen hier +angekommen und hatte durch ausgesandte Kundschafter Kenntnis vom +Herannahen der Fähre erhalten, worauf sie im ersten besten Dorfe +geblieben war. Es war durchaus keine Enttäuschung, daß wir den anfangs +bestimmten Vereinigungspunkt Argan nicht vor dem Zufrieren des Flusses +erreicht hatten, sondern im Gegenteil ein großer Vorteil. Es stellte +sich nämlich heraus, daß Jangi-köll der vorzüglichste Ausgangspunkt +für die großen, gefährlichen Expeditionen war, die ich nach den Wüsten +im Osten und Westen plante, und daß es überdies noch den Vorzug hatte, +nicht sehr weit von Korla entfernt zu liegen, der nächsten Stadt, wo +wir das, was wir zur Ausrüstung der Karawane brauchten, finden konnten. + +Jetzt war keine Eile mehr nötig, und es war zu schön, am Morgen des 8. +Dezember ruhig ausschlafen zu dürfen. Die Kosaken suchten einen sehr +geeigneten Platz für das Winterquartier aus, der einige hundert Meter +oberhalb des Punktes, an dem wir Halt gemacht hatten, ebenfalls auf +dem linken Ufer des Flusses lag. Dorthin wurde das ganze Gepäck der +Karawane gebracht, und hier schlugen die Leute ihre Zelte auf. Dort war +ein vorzüglicher, jetzt fest zugefrorener kleiner Hafen mit steilen +Ufern, dessen Eis mit Äxten und Stangen aufgebrochen wurde. Die Fähre, +die während der Nacht auch tüchtig festgefroren war, wurde aus ihren +Banden befreit und nach dem Hafen gezogen, wo sie am Ufer vertäut +wurde, welche Vorsichtsmaßregel jedoch überflüssig war, da sie sehr +bald von fußdickem Eise eingeschlossen war. Im Laufe des Winters gefror +das Wasser hier zum Teil bis auf den Grund, und unsere weitgereiste +Wohnung lag wie auf einem Bette von Granit. + +Der erste Abend im Winterlager führte eine jener unangenehmen +Entdeckungen herbei, die jedoch etwas ganz Gewöhnliches sind, wenn man +so naiv oder gutmütig ist, allzu großes Vertrauen auf die Ehrlichkeit +eines Muhammedaners zu setzen. Nias Hadschi hatte in Lailik 4½ +Jamben bekommen, mit denen er teils den Lebensunterhalt der Karawane +bestreiten, teils allerlei Einkäufe machen sollte. Die Summe war so +reich bemessen, daß ein hübsches Stück Geld hätte übrigbleiben müssen. +Statt dessen aber hatte mein Karawan-baschi unterwegs noch eine Anleihe +von gegen 4 Jamben gemacht. Jetzt wurde am Feuer Gericht abgehalten; +ich hatte auf dem Richterstuhle -- einem Mehlsacke -- Platz genommen, +und der angeklagte Sünder, seine Ankläger, die Zeugen und Zuhörer +standen um mich herum; es war feierlich und tragisch, und gern hätte +ich noch ein paar Jamben dazubezahlt, wenn ich mit meinem Diener nicht +hätte ins Gericht zu gehen brauchen. Doch um ein Exempel zu statuieren, +den anderen zur Warnung, und die Autorität, die der Führer haben muß, +aufrechtzuhalten, nahm ich Nias Hadschi vor und verlangte von ihm +Rechenschaft darüber, wie er die ihm anvertrauten Gelder verwaltet +habe. Wie er diesem Verlangen nachkam, wird jeder sagen können, der je +mit Muhammedanern zu tun gehabt hat; er suchte mir auseinanderzusetzen, +daß nicht ein Tenge unnötig ausgegeben sei und daß er ehrlich und treu +seinen Auftrag ausgeführt habe -- aber er log. Sirkin hatte auf meinen +Befehl auf der Reise Buch geführt, und es war leicht, die Ausgaben zu +kontrollieren. Außerdem wurde ihm zur Last gelegt, daß er hochmütig und +stolz gegen die anderen gewesen sei. In Aksu hatte er seine eigenen, in +Korla seines Sohnes Schulden bezahlt, und dieses Herrchen hatte er mir +noch obendrein als Geschenk mitgebracht. Ich wollte ihm nicht an diesem +Tage, der für mich so glückbringend gewesen, ein zu strenges Urteil +sprechen; überdies hatte ich ihn ja selbst in Versuchung geführt, +indem ich ihm soviel Geld anvertraut hatte. Das Urteil lautete auf +Entlassung; im Laufe des folgenden Tages sollte er das Lager verlassen. + +Eigentümlich sind diese Muselmänner; man wird nie recht klug aus ihnen. +Dieselben Männer, die ihn eben noch angeklagt hatten, legten nun +Fürbitte für ihn ein und baten, ich möchte ihn doch nur degradieren +und als Koch der Muselmänner behalten. Es nützte ihnen jedoch nichts; +das Urteil war gesprochen, und ich wollte meinen Entschluß nicht +ändern. Es tat mir freilich leid, den alten Mann, den Mekkapilger, den +Freund des Propheten und Prschewalskijs einstigen Diener, allein in +den öden Winter hinauszuschicken. Ich versprach, der ganzen Geschichte +nicht mehr zu gedenken, und als er abzog, gab ich ihm noch eine +halbe Jamba mit auf den Weg, die seine Tränenfluten stillte. Hiermit +war seine kurze Geschichte zu Ende, und er war sicher der Ansicht, +noch gut davongekommen zu sein. Er hatte bei unserer herumziehenden +Theatertruppe von Karawane als ein Schauspieler figuriert, der nur +im ersten Akte auftritt. Doch im Laufe des Stückes werden immer neue +Schauspieler die alten ablösen und ihre Rollen mit wechselndem Glück +spielen. Der Souffleur ist das Gewissen, die Bühne das innerste Asien, +und die Zuschauer sind die Sterne des Himmels und die am Tage heulenden +Stürme. Wenn man den Himmel als Zuschauer hat, muß man gut spielen und +muß mild gegen schlechte Spieler sein. -- + +Während der drei Tage vom 9. bis zum 11. Dezember wurde das Lager und +die Zusammensetzung der Karawane für die nächste Zukunft geordnet. +Chalmet Aksakal erhielt den Auftrag, uns von Korla eine Verstärkung +einiger unserer Vorräte, zwei mongolische Filzzelte und fünf Maulesel +zu besorgen, sowie einige Silberbarren in Kleingeld umzuwechseln, +und zwar in Tengestücke aus Jakub Beks Zeit, die zwischen Korla und +Tscharchlik noch gangbar sind und von denen 21 auf 1 Sär gehen. Musa +Ahun sollte ihn nach Korla begleiten und mit den Sachen zurückkehren. +Ferner sollte Chalmet Aksakal meine große Post mitnehmen und nach +Kaschgar weiterschicken. + +Die vier Männer aus Lailik, unsere guten, prächtigen Fährleute, traten +jetzt vom Schauplatze ab und kehrten in ihre ferne Heimat zurück. Ihr +vereinbarter Monatslohn wurde verdoppelt, und ich bezahlte ihnen die +Heimreise. Ihre Dankbarkeit war groß, und mit Tränen in den Augen +beteten sie „Dua“ und „Allahu ekbär“ für mich; mit Bedauern trennte +ich mich von diesen Männern, die in jeder Hinsicht ein gutes Andenken +hinterließen. Sie wollten zu Fuß nach Korla gehen, wo der Aksakal ihnen +beim Einkaufen guter Reitpferde helfen sollte. Ich habe nachher nichts +wieder von ihnen gehört, hoffe aber, daß sie glücklich nach Hause +gelangt sind. + +Trotz dieser großen Verminderung des Karawanenpersonals bot das +Lager doch ein außerordentlich lebhaftes Bild dar. Die mir am +nächsten im Range Stehenden der Leute waren die Kosaken und Islam +Bai als unser Karawan-baschi. Parpi Bai wurde zum Oberaufseher der +Pferde ernannt und benutzte seine freie Zeit zur Falkenjagd. In +Friedenszeiten wurde der Falke mit lebendigen Hühnern gefüttert, ein +greuliches Schauspiel. Turdu Bai und Faisullah waren für die Kamele +verantwortlich und hielten abwechselnd an den Weideplätzen derselben +Wache. Kurban, ein sechzehnjähriger, hübscher, offener und heiterer +Junge aus Aksu, war Laufbursche, führte die Pferde zur Tränke und +brachte denen, die draußen die Kamele hüteten, Essen. Ein mit diesen +Gegenden außerordentlich gut bekannter Loplik, der treffliche Ördek, +wurde für die grobe Arbeit im Lager, wie Wassertragen für die Küche, +Holzfällen in dem nächsten dürren Walde und Futterholen für die +Pferde, angenommen. Im Hafen wurde eine Wake aufgehauen und ständig +offengehalten, das Kochwasser aber wurde stets aus dem Flusse geholt, +wo es, weil fließend, frisch und rein war. Die Kamele trugen das +Brennholz ins Lager, und unsere nächsten Loplik-Nachbarn verschafften +uns auf Veranlassung des Beks der Gegend schon am ersten Tage tausend +Bündel Klee und tausend Bündel Heu. Auch ein Schmied wurde für diverse +Arbeiten angenommen; er mußte anfangs Sirkin helfen, mir Schlittschuhe +zu machen. Ich hatte mir nämlich gedacht, mit diesem Transportmittel +über die Seen zu ziehen, doch sie fielen nicht so aus, daß ich sie +zu etwas anderem hätte benutzen können, als mir in der Nachbarschaft +Bewegung zu machen. + +Das Lager bekam Besuch von ganzen Scharen von Lopliks (Abb. 55). Sobald +unsere Nachbarn gehört, daß wir uns in ihrem Lande niedergelassen und +in der Wildnis ein kleines Dorf angelegt hatten, wallfahrteten sie +scharenweise dorthin; sie brachten stets Geschenke mit und gaben uns +so viele Aufklärungen, wie sie nur konnten. Es war ein fortwährendes +Kommen und Gehen, und wenn ich an Bord im Zelte arbeitete, hörte ich +ein ununterbrochenes Stimmengewirr wie von einem Marktplatze. + +Das Zelt der Leute war unter der einzigen Pappel, die es im Lager gab, +aufgeschlagen; dahinter lagen alle Kamellasten auf ihren Saumleitern +aufgestapelt. Die Küche der Leute war ein Feuerherd unter freiem +Himmel, umgeben von einer hohen Einfriedigung von Brennholz, die +mit dem Winterbedarfe an Umfang zunahm. Das Ganze wurde von fünf +Hunden bewacht, denn die Karawane hatte fünf Hunde aus Kutschar und +Korla mitgebracht. Zwei von diesen waren unübertreffliche, schöne, +sympathische Windhunde; sie wurden Maschka und Taigun genannt und +waren schon vom ersten Tage an meine erklärten Günstlinge. Sie waren +groß, hochgewachsen, weiß und sehr kurzhaarig, so daß sie im Winter +beständig das Feuer aufsuchten und nachts bei mir in eigens für sie +angefertigten Mänteln aus weißem Filz schliefen. Es war komisch +zu sehen, mit welcher Gewandtheit sie ohne Hilfe in die Mäntel +kriechen lernten und wie dankbar sie waren und wie wohlgefällig sie +stöhnten, wenn man sie zudeckte. Auf dem Kriegspfade aber waren sie +unüberwindlich und verbreiteten geradezu Entsetzen unter den Hunden +der Umgegend. Ich habe nie Hunde auf so raffinierte Weise Krieg führen +sehen wie Maschka und Taigun. Sie umkreisten ihren Gegner, bis sie ihn +an einem Hinterbeine packen konnten, drehten ihn daran um sich selbst +und ließen ihn erst los, wenn die Geschwindigkeit so groß war, daß +der Ärmste kopfüber eine Strecke weit hintaumelte und dann heulend auf +drei Beinen davonhinkte. Beim Füttern wagte keiner der anderen Hunde +die Fleischstücke auch nur anzusehen, solange die Windhunde sich noch +nicht sattgefressen hatten. Mir waren sie Gesellschafter und ein guter +Ersatz für den ersten Dowlet, leider waren aber auch ihre Tage gezählt. +Nach ihrer Ankunft im Lager fiel Jolldasch zwar nicht in Ungnade, er +zog sich aber freiwillig ins Privatleben zurück und wagte mein Zelt nie +zu betreten, wenn die Neuen dort waren. Er schlief aber getreulich vor +dem Zelte, und wenn ich ihn beim Hinausgehen streichelte, sprang und +bellte er vor eitel Dankbarkeit und Entzücken. Jollbars, der „Tiger“, +war ein kolossaler schwarzbrauner Hund, ein Sohn des Lopdschungels +mit Wolfsblut in den Adern, der immer an einer eisernen Kette bei den +Kamellasten lag und so wild war, daß sich niemand in den Radius der +Kette hineinwagte. Er war ein Hofhund furchtbarster Art, ein Ritter +von den mörderischsten Reißzähnen, aber ich wurde selbst mit ihm bald +gut Freund. Er spielte eine gewisse Rolle in der Karawane, begleitete +mich auch auf dem Wege nach Lhasa, und als er zwei Jahre später spurlos +verschwand, trauerten alle um ihn. Ich liebe die Hunde; sie gehen mit +ihrem ganzen Wesen in den Mühen des Karawanenlebens auf und tun stets +ihre Pflicht. + +Als ich am Morgen des 10. aus dem Zelte trat, das noch immer an Bord +stand, fand ich zu meinem Erstaunen das Holzgerüst zu einem ganzen +Hause am Ufer aufgeschlagen. Der Bek von Jangi-köll hatte diese +vorzügliche Idee gehabt; er hatte seine Leute aufgeboten, Bauholz +besorgt und die Arbeit beim Morgengrauen anfangen lassen. Das Gerippe, +das aus Pfählen, schmalen Stangen und Latten bestand, wurde im Laufe +des Tages mit vertikal gestellten Schilfbündeln ausgefüllt, und sogar +die Dachbalken wurden mit Kamischgarben bedeckt. Es wurde eine ideale +Hütte von der im Loplande üblichen Bauart; sie enthielt zwei große +Zimmer. Die Männer hatten sich das eine als meine Küche und Backstube, +das andere als Aufbewahrungsort für mein ganzes Gepäck gedacht. Mir +fiel jedoch ein, wie der bekannte Afrikaforscher Schweinfurth einmal +Aufzeichnungen und Sammlungen von vielen Jahren dadurch eingebüßt hat, +daß er sie in einer sehr feuergefährlichen Hütte aufbewahrte; ich +ließ das Gepäck daher den ganzen Winter im Freien, es wurde aber mit +Segeltuch und Filzdecken zugedeckt. Hätte es in meiner Absicht gelegen, +in Jangi-köll zu überwintern, so hätte ich natürlich ein vollständiges, +bequemes Holzhaus, in das die Fenster der Dunkelkammer hätten +eingesetzt werden können, bauen lassen, aber ich hatte andere Pläne +und sollte bloß einige Tage, zu drei verschiedenen Malen, an diesem +schönen Orte Gastfreiheit genießen. Doch während dieser Tage kam mir +die Hütte sehr zustatten, und sie erlangte einen gewissen Ruf im ganzen +Loplande. Unser Lagerplatz wurde allgemein +Tura-sallgan-ui+ +(das von dem Herrn erbaute Haus) genannt (Abb. 54), und mir ist von +Lopliks versichert worden, daß dieser Name sich für alle Zeiten in der +geographischen Nomenklatur der Gegend einbürgern werde, geradeso wie +eine Stelle am Kuntschekkisch-Tarim noch heute Urus-sallgan-sal oder +„Der Russe baute eine Fähre“ heißt, weil dort einst Kosloff auf einem +Floße von dürren Tograkstämmen den Fluß überschritten hat. + +Die Hütte sollte jedoch die Vergänglichkeit aller anderen irdischen +Dinge teilen. Als die nächste Frühlingsflut das Bett des Tarim +füllte, überschwemmte er hier seine Ufer und zerstörte nicht nur +den Bootshafen, sondern riß auch unsere Hütten und die Pappel mit +fort; da waren wir aber schon abgezogen und hatten unsere Penaten +auf festerem Boden aufgestellt. Es war dies jedoch eine schlagende +Bekräftigung meiner auf jahrelange Beobachtungen gegründeten Theorien +über die hydrographischen Unberechenbarkeiten in den unteren Teilen +des Tarimsystems; nicht ein Stück blieb von Tura-sallgan-ui übrig, +keine einzige Spur wird in Zukunft von unserem langen Besuche an diesem +reizenden, aber trügerischen Ufer Zeugnis ablegen. + +Wie friedlich vergingen mir die Tage in Tura-sallgan-ui! Ich hätte als +Gast des Schahs von Persien in den Spiegelhallen und Marmorsälen seines +Palastes nicht in gehobenerer Stimmung sein können als hier zwischen +den Kamischmauern dieser luftigen Wohnung, wo der Wind seine unendlich +melancholischen Trauermärsche in den Schilfstengeln pfiff, dem Klagen +unzähliger, friedloser Luftgeister vergleichbar. + +Für unsere acht Pferde wurde aus demselben Material ein geräumiger +Stall erbaut, dessen eine Längsseite nach dem Hofe zu offen blieb. +Unsere Hühner erhielten neue Kameraden, und wir kauften auch Schafe und +Kühe, die uns mit Milch versahen. Das Ganze wurde schließlich der reine +Gutshof, der, wenn er auch gerade nicht als Muster eines solchen gelten +konnte, doch der gemütlichste und behaglichste war, mit dem ich je zu +tun gehabt habe. Zwischen den Hütten, dem Zelte, den Kamellasten, der +Küche und dem Hafen entstand ein freier Platz, der Markt des Dorfes; +dort brannte Tag und Nacht ein Feuer, um das herum Matten ausgebreitet +waren und Gäste empfangen wurden; dies war der „Klub“. Das Feuer +durfte erst im Mai des folgenden Jahres ausgehen; es wurde nicht von +jungfräulichen Vestalinnen, sondern von bärtigen Barbaren unterhalten. +Die Nachtwachen, die alle zwei Stunden abgelöst und von den Kosaken +kontrolliert wurden, speisten die Flammen während der nächtlichen +Stunden und wärmten sich dort in den kalten Winternächten. + +Schon seit unserer Ankunft hatte ich Erkundigungen über die Wüste im +Südwesten eingezogen, aber die Bevölkerung wußte von den Geheimnissen, +die sich hinter dem hohen Sande verbargen, herzlich wenig. Längs des +rechten Ufers erstreckte sich eine berghohe Wand von unfruchtbaren +Dünen und lockte mich mit geradezu unwiderstehlicher Gewalt. Das +einzige, was ich gewiß wußte, war, daß ich jetzt einen gefährlichen +Streich auf ihre Verschanzungen wagen, einen Kampf auf Leben und Tod +mit dem breitesten Gürtel der Wüste Takla-makan beginnen würde. Aber, +wie gesagt, irgendwelche Auskunft von Wert konnte ich nicht erhalten. +Was mich am meisten in Erstaunen setzte, war das Entsetzen, mit dem das +Volk von der Wüste sprach, die gewöhnlich schlechtweg Kum, Tschong-kum +oder, nach einer sagenhaften Stadt, die in ihrem Inneren begraben +liegen soll, Schahr-i-Kettek-kum genannt wurde. Man hielt es für das +Schlimmste, was einem Menschen passieren könne, wenn er sich freiwillig +oder unfreiwillig dorthin verirrte; keiner war je dort gewesen; +ehemalige Kameljäger und die heutigen Goldsucher hatten sich nur zwei +Tagereisen weit vom Flusse zu entfernen gewagt und waren dann stets +schleunigst wieder umgekehrt, von Entsetzen über diesen unheimlichen, +gar kein Ende nehmenden Sand überwältigt. Wir wurden für Selbstmörder +angesehen, als wir dorthin zu wollen erklärten, und man prophezeite +uns, daß wir nie mehr zurückkehren würden. Ich beruhigte die Leute +jedoch ein wenig, indem ich ihnen erzählte, es sei nicht das erste Mal, +daß ich mich erdreiste, den Kampf mit der Sandwüste aufzunehmen. + +Von Tura-sallgan-ui sah man im Südwesten eine Unterbrechung in dem +Sandwalle. In ihr sollte das Becken des Basch-köll liegen, und am +Ufer davor ist ein Dorf +Jangi-köll-ui+, in dem mehrere unserer +Lieferanten und neuen Freunde wohnten. Das Wenige, was mir erzählt +wurde, erhöhte nur noch mein Verlangen, die Wüste zu besuchen. In +der Verlängerung der Seen in dieselbe hinein sollten sich offene, +kahle Bodeneinsenkungen hinziehen, die trockenem Seeboden glichen, +nach Ansicht der Eingeborenen aber durch Nordostwinde, die den Sand +fortfegen, entstanden waren. Diese Senkungen werden „Bajir“ genannt, +doch wie weit sie gehen, wußte niemand. Man hatte nur von früher +gehört, daß vor vielen hundert Jahren fern im Südwesten ein heidnisches +Volk unter dem Herrscher Atti Kusch Padischah gewohnt habe. Heilige +Imame hätten sich zur Verbreitung des Islam dorthin begeben; da das +Volk aber die neue Lehre nicht annehmen wollte, hätten die Imame den +Fluch und die Rache des Himmels über das ganze Land herabgerufen; dann +habe es tagelang Sand geregnet und Land, Volk und Städte seien darunter +begraben worden. + +[Illustration: 56. Zusammentreffen mit dem Franzosen Bonin. (S. 144.)] + +[Illustration: 57. Bonin im Hauptquartier. (S. 145.)] + +[Illustration: 58. Parpi, Palta und Islam auf den äußersten Dünen des +Sandmeeres am Jangi-köll. (S. 150.)] + +Bevor ich endgültig aufbrach, wollte ich eine kürzere Versuchsexkursion +machen, um zu rekognoszieren, und berief daher abends alle nach dem +„Klub“, wo ich folgenden Tagesbefehl für den 11. Dezember erteilte. +Die Kamele, die die Exkursion mitmachen sollten, mußten über den +Fluß geführt werden, der notwendige Proviant war zu ordnen, und die +Verbindung zwischen beiden Ufern offen zu halten. Während meiner +Abwesenheit sollte die Hütte wohnlich eingerichtet werden. Das große, +dem Flusse zugekehrte Zimmer sollte in zwei kleine geteilt werden, +von denen das innere doppelte Kamischwände erhalten und mit Filz +ausgeschlagen werden sollte, um es zugfrei zu machen. Der Fußboden +sollte mit Binsen und Teppichen belegt werden, in der Mitte aber eine +Feuerstelle und darüber ein Loch im Dache sein. Das neue Haus war bis +zu meiner Rückkehr fertigzustellen. + +Während ich am 11. meine wissenschaftlichen Beobachtungen machte, +wurden Anstalten zum Überführen der Kamele getroffen, was durchaus +nicht leicht war. Unsere Annahme, daß das Eis tragen würde, erwies +sich als unrichtig. Ein heftiger Wind hatte die gefrorenen Stellen +wieder aufgerissen; darauf war der Fluß in der letzten Nacht von neuem +zugefroren, aber das Eis war noch nicht genügend tragfähig. Die Kamele +hinüberschwimmen zu lassen, wäre ihr Tod gewesen. Der einzige Ausweg +war, sie auf der großen Fähre zu transportieren, aber diese lag so fest +wie in einem Schraubstock. Die Kosaken wußten aber Rat; sie boten Leute +auf, die eine Rinne durch die fußdicke Eisdecke in unserer kleinen +runden Bucht schlugen. An einer schmalen Stelle unmittelbar oberhalb +des Lagers wurde ein Tau viermal über den Fluß gespannt. Die Strömung +betrug hier beinahe einen Meter in der Sekunde, und gerade dieser +Punkt war der letzte, der im Winter zufror. Die Stelle war bis auf ein +ziemlich breites Eisband an dem niedrigen rechten Ufer noch vollständig +offen. Die Fähre wurde an dem Tau hinübergezogen und nahm ein Kamel auf +dem Achterdeck mit. Sie landete an der Eisdecke des rechten Ufers, die +so fest war, daß sie die Kamele trug. + +Gegen Abend besuchte mich ein chinesischer Siah (Schreiber); er war von +dem Amban von Kara-schahr hergeschickt, um sich nach meinem Befinden +zu erkundigen, eigentlich aber war er ein unschädlicher Spion, der +ausfindig machen sollte, was für ein Kunde ich sei. Nasar Bek, mein +alter Freund und Wirt von Tikkenlik, kam spät abends und blieb über +Nacht, so daß wir lange gemütlich miteinander plaudern konnten. Er +teilte mir allerlei Interessantes mit. Zuerst wußte er zu erzählen, +daß ein Russe von Dung-chan (Sa-tscheo) nach Tscharchlik gekommen sei +und in einer Woche ungefähr hier sein werde; ich ahnte, daß dies kein +Russe, sondern der französische Reisende Bonin sei. + +Nasar Bek erzählte auch, daß sich in der Nachbarschaft von Jing-pen und +Tikkenlik in der letzten Zeit einige Male wilde Kamele gezeigt hätten, +und einmal hatte der Bek selbst eine Herde von fünf Tieren in der Nähe +der Straße nach Turfan gesehen. Er wußte, daß zu den Zeiten seiner +Vorfahren Beke aus Turfan gekommen waren, um von der Lopbevölkerung +einen Tribut von Otterfellen für die Chinesen einzufordern. Sie +pflegten östlich um den Bagrasch-köll über den Kurruk-tag und den +Kum-darja, dann bei Turfan-köbruk über den Ilek zu gehen und am +Kara-köll Halt zu machen. Aus chinesischen Quellen wissen wir, daß +diese Angabe mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Der Otter (Kama) +kommt im Tschiwillik-köll und mehreren andern Seen der Gegend vor, +dagegen aber, soviel ich habe erfahren können, im Kara-koschun nicht; +man muß sich dies merken, denn es läßt vermuten, daß die nördlichen +Seen mit den südlichen, die ein ganz neues Gebilde ausmachen, nicht in +Verbindung gestanden haben. Der Otter wird des Felles wegen mit einer +Art Fischgabel (Sendschkak) auf dem Eise nach Schneefall gefangen. Man +sieht dann in dem Schnee, dessen Menge in diesen Gegenden übrigens +sehr unbedeutend ist, wo ein Otter gegangen ist; hat er sich z. B. in +eine Wake begeben, um Fische zu fangen, so lauert der Jäger mit der +Fischgabel an dem Loche oder er hat rings um das Loch eine Schlinge +gelegt, die zugezogen wird, sobald das Tier wieder den Kopf aus dem +Wasser steckt. Gibt es mehrere Waken, so werden an allen Schlingen +gelegt und Wachen ausgestellt, da man nicht wissen kann, wo sich der +Otter zu zeigen gedenkt. + +Nasar Bek war vor ein paar Jahren in Tusun-tschappgan gewesen und +hatte dort von einem Hügel herab ungefähr einen Tagesritt weit nach +Nordosten eine Wolke oder Nebelwand (Bulut) gesehen, die seiner Meinung +nach von einem im Norden des Kara-koschun liegenden unbekannten See +herrühren mußte. Er glaubte, daß der Kum-darja, das ausgetrocknete Bett +am Südfuße des Kurruk-tag, früher in diesen See gemündet habe, welche +Vermutung von guter Urteilskraft zeugte und, wie ich später nachweisen +konnte, vollkommen richtig war. + +Vor 18 Jahren war der Bek in drei Tagen von Argan nach Lop geritten, +wobei er das trockene Bett des Ettek-tarim als Straße benutzte. Vor 12 +Jahren kamen noch wilde Kamele von Westen her an dieses Bett. Damals +gingen öfters Kameljäger von Wasch-schahri nach Argan durch die Wüste, +in der noch Tamarisken waren; über das Innere der Tschertschenwüste +konnte aber auch Nasar Bek keine Auskunft geben. + +Dies und vieles andere erzählte der dicke Nasar Bek, und ich merkte mir +seine Worte; sie sollten nicht ohne Einfluß auf meine künftigen Pläne +bleiben. + + + + +Dreizehntes Kapitel. + +Eine französische Visite. + + +Der 12. Dezember, an dem die Exkursion beginnen sollte, setzte mit +wenig einladendem Reisewetter ein, denn es stürmte heftig aus Südwest, +und sobald man ins Freie trat, erstarrte man vor Kälte. Durch die +Talsenkung des Basch-köll strich der Wind wie durch einen Flintenlauf. +Die Kosaken, die sich wie Polarreisende eingehüllt hatten, nahmen +unsere Jagdgewehre mit. An dem Ausfluge beteiligten sich außerdem +nur Faisullah, Ördek und Pavan Aksakal (der weißbärtige Jäger), ein +hochgewachsener, heiterer Greis aus dem Dorfe Jangi-köll, der bald +einer unserer besten Freunde wurde und alles tat, um sich uns aufs +beste nützlich zu machen. Die Karawane bestand aus vier Kamelen, auf +denen wir abwechselnd ritten. Die Hunde Maschka und Taigun begleiteten +mich zum ersten Male. + +Meine Ausrüstung war so einfach wie nur möglich: eine kleine Kiste +mit den notwendigen Instrumenten, Kodak, Fernglas und Küchengeschirr; +ein Bündel Kissen, Filzdecken und Pelze bildeten mein Bett. Das +Gepäck wurde in der kleinen Fähre hinübergebracht, die stets, solange +es noch offenes Wasser gab, die Verbindung zwischen beiden Ufern +aufrechterhielt und so fleißig benutzt wurde, daß wir eigens einen +Loplik als Fährmann anstellen mußten. Die Kamele wurden auf dem rechten +Ufer beladen; dann zogen wir nach dem Dorfe Jangi-köll. Ein Vorrat von +Eis wurde mitgenommen, denn das Wasser des Basch-köll ist salzig, seit +sein Kanal vor 10 Jahren abgesperrt wurde. + +Das jetzt 20 Familien zählende Dorf lag früher am Kanale des +Jangi-köll, als aber vor acht Jahren elf Einwohner an den Pocken +starben, zogen die Überlebenden nach der Mündung des Basch-köll und +nahmen den Dorfnamen mit. Erkrankt jemand an den Pocken, so ergreift +alles, was in der Nähe ist, die Flucht. + +Unsere Reise ging längs des Südostufers des Basch-köll weiter. Dieser +war am Rande schon so fest zugefroren, daß er gerade einen Mann tragen +konnte; im übrigen glich die Eisdecke einer sehr dünnen, schwankenden +Scheibe, und in der Mitte des Sees sah man noch große, offene Stellen +klaren, blauen Wassers, das jetzt in Wellen ging und den Eisrand +zerfetzte. Daß der See nicht ganz zugefroren war, kam von seinem +leichten Salzgehalte. + +Einige Enten und Schwäne draußen auf dem Wasser hatten wohl das +Fortziehen vergessen. Der See ist 20 Kilometer lang und an einigen +Stellen nur einen, selten zwei Kilometer breit. Er zieht sich ganz +gerade nach Südsüdwest hin und gleicht einem in die Sandwüste +einschneidenden Fjord; in seinem fernen Hintergrunde erheben sich die +Dünen kaum über den Horizont. Das Seeufer reicht jedoch nicht bis an +die Basis der Dünen heran; ein Gürtel von sehr langsam abfallendem +Erdreich liegt zwischen beiden und besteht aus mit Sand untermischtem +Schlamm, in welchem man um die Sommerzeit einsinkt, der aber jetzt +festgefroren war. Wenn man den Kanal, der vom Flusse nach dem See +führt, jetzt öffnete, würde das Wasser um Manneshöhe steigen und diesen +tiefliegenden Gürtel überschwemmen. Am Ostufer, wo wir wanderten, +fallen die Dünen steil ab, am Westufer aber steigen sie treppenförmig +auf, welches Verhältnis seinen Grund in dem im ganzen Loplande +vorherrschenden östlichen Winde hat. + +In einiger Entfernung vom Ufer sah man einige Brunnen, welche +Schafhirten aus Jangi-köll gegraben hatten, weil das Brunnenwasser +weniger salzhaltig sein soll als das des Sees. Diese Hirten besuchen +auch von Zeit zu Zeit die Steppen am Kontsche-darja. + +Wir machten am Südende des Sees, wo es gutes Brennholz gab, Halt, und +das Biwak unter freiem Himmel -- wir hatten kein Zelt mitgenommen -- +war wirklich gemütlich. Was machten wir uns daraus, daß es in der +dunkeln Nacht um uns herum stürmte. Wir hatten in der Dunkelheit +einen gewaltigen Arm voll trockener Tamariskenzweige gesammelt. Die +Kosaken hatten ein vortreffliches, aus Rebhühnern, Reispudding und Tee +bestehendes Mittagessen bereitet, und nachdem ich die auf dem Marsche +gemachten Beobachtungen in das Tagebuch eingetragen hatte, legten wir +uns schlafen, von dem Zufußgehen ziemlich müde. Sirkin deckte mich so +sorgfältig zu, daß ich mir wie ein in Papier eingewickelter Hering +vorkam. + +Am nächsten Morgen war die ganze Landschaft mit einer gewaltigen +Reifschicht überzogen, und die Dünen sahen wie beschneit aus. Die +aufgehende Sonne drang nicht bis zu uns, sie wurde von den mächtigen +Dünen im Osten verdeckt, und es war ein etwas ungemütliches Aufstehen, +da wir 8 Grad Kälte hatten. + +Im Süden des Sees steigt der Sand in nicht allzu steilen Absätzen an, +und die Vegetation hört mit einem Schlage auf. Von der Höhe sieht man +im Westen eine Bodeneinsenkung (Bajir), die etwa 1 Kilometer lang und +½ Kilometer breit sein mochte, mit feuchtem, unfruchtbarem Salzboden +in der Mitte und vereinzelten Grasbüscheln am Rande. Sie hat die Form +eines Kessels, da sie auf allen Seiten von kolossalen, steilen Dünen +umschlossen ist, und gleicht dem Boden eines alten Sees, den der +Flugsand sorgfältig zu vermeiden scheint. + +Im Süden und Südwesten erscheint ein Meer von Sand mit außerordentlich +markierten Protuberanzen oder kulminierenden Anhäufungen von Dünen, die +den Wellen des Ozeans gleichen. Man kann sich vorstellen, daß in den +zwischen ihnen liegenden Tälern zahlreiche Bajire liegen müssen. Die +Protuberanzen sind hier näher aneinander als in den westlichen Teilen +der Takla-makan, und oft sind die Dünen auf beiden Seiten steil, was +eine Folge wechselnder Winde ist. Jedoch zeigen die großen Sandwogen, +daß der Ostwind vorherrscht und kräftiger ist als alle anderen. +Nachdem ich einen Überblick über das Terrain erhalten hatte und zu +der Überzeugung gelangt war, daß dieser Punkt sich nicht eignete, um +von hier aufzubrechen, da die Bajir des Basch-köll uns nur eine kurze +Strecke weit bequemen, ebenen Boden bot, beschloß ich, für die große +Wüstendurchkreuzung einen anderen Ausgangspunkt zu wählen und längs des +Sees Jangi-köll nach Tura-sallgan-ui zurückzukehren. + +Wir wandten uns also nach Osten, in welcher Richtung die steilen Seiten +der Dünen uns zugekehrt lagen. Wir mußten über alle diese abschüssigen +Treppenstufen hinüber und machten lange Umwege, um die Kamele über die +Riesenwelle, welche die beiden Seebecken scheidet, hinüberbringen zu +können. Die Tiere hatten vor dem unsicheren Boden Angst, und über die +höchsten Pässe rutschten zwei von ihnen auf den Knien, wohl um dem +Boden näher zu sein, wenn sie fallen sollten. + +Während die Karawane weiterzog, führte mich Pavan Aksakal auf eine gut +100 Meter hohe Düne hinauf, die das ganze Land weit umher beherrschte +und von der aus die Kamele in der Tiefe wie kleine Käfer aussahen. In +der südwestlichen Verlängerung des Jangi-köll zeigten sich drei große, +durch ansehnliche Sandmassen getrennte Bajire. Im Nordosten trat der +See selbst mit graublauem, glänzendem Eise hervor und in größerer Ferne +der mächtige Sandwall, der sich zwischen dem Jangi-köll und dem rechten +Ufer des Tarim erhebt. + +Mit Mühe lotsten wir die Kamele über einen gewaltigen Sandrücken und +stiegen dann nach der großen viereckigen Bajir hinab, die dem innersten +Teile des Jangi-köll am nächsten liegt. Ihr Boden ist ganz sandfrei und +besteht aus konzentrischen Ringen. Zu äußerst, an der Basis der Dünen, +haben wir weiche Stauberde, in welche die Tiere fußtief einsinken, +dann folgt ein Ring sumpfigen Bodens, und zuletzt schneeweiße +Salzkristallisationen. Im nordöstlichen Teile der Senkung finden +wir einen großen und mehrere kleine Tümpel mit bitterem Salzwasser. +Im Nordosten breitet sich ein Gürtel von zwei Meter hohem Schilfe +aus; dort fanden wir einen vorteilhaften Lagerplatz mit einer Menge +trockenen Brennholzes. + +Vom See ist unsere Bajir durch eine 30 Meter hohe Sandenge getrennt, +an deren Basis süße Quellen sprudeln; das Wasser derselben wird aber +salzig, nachdem es sich im Grunde der Senkung gesammelt hat. Die +ungewöhnliche Landschaft gewährte, vom Sandrücken aus gesehen, einen +außerordentlich ansprechenden Anblick. Der Jangi-köll ist so lang +und gerade, daß sein nördliches, dem Flusse zunächst gelegenes Ende, +an dem es keinen Sand gibt, gar nicht zu sehen ist, und man hätte +ebensogut glauben können, an einem Fjord mit dem Meere vor sich zu +stehen wie an einem Wüstensee, der von gewaltigen Dünen eingefaßt wird. +Das Wasser ist süß und soll höchstens 7 Meter tief sein. Es ist zwei +Jahre abgesperrt gewesen und sollte, zum Besten des Fischfanges, noch +sieben bis acht Jahre isoliert bleiben. Einige kleine, im Nordosten +offengebliebene Stellen ließen jedoch auf unterirdische Quellen +schließen. Doch der Zufluß durch sie hält nicht gleichen Schritt mit +der Abnahme des Sees; daß sein Spiegel fällt, sieht man schon an den +Rändern der Eisscheibe, die an den Ufern umgebogen zu sein scheinen. + +Wir folgten dem Westufer nach Nordnordost. Der See hat dieselbe Form +und Größe, sogar dasselbe Aussehen wie der Basch-köll und gleicht einem +breiten Flusse. An einem Fischereiplatze mit Feuerspuren lag etwa ein +Dutzend Kähne eingefroren am Ufer. Streckenweise wanderten wir auf dem +Eise, das rein und durchsichtig wie Spiegelglas über kristallklarem +Wasser lag. Bis in drei Meter Tiefe traten die kleinsten Einzelheiten +auf dem Grunde hervor, und anfangs fühlte man sich unsicher, als +sollte man über das Wasser einer ruhigen Bucht gehen. Es glich einem +riesengroßen Aquarium mit Algen, die regungslos waren wie Korallen, +und mit großen schwarzrückigen Fischen, die in den Algenbüschen +schlummerten und von den Kosaken durch Stampfen aus ihrem starren +Winterschlafe aufgeweckt wurden. Sie bewegten dann langsam die Flossen +und zogen sich ruhig und gemächlich in die Tiefe zurück. Die kleinen +Fische schossen in ganzen Schwärmen am Ufer entlang, wo das Eis 10,2 +Zentimeter dick war, während es nur hundert Schritte weiter seeeinwärts +bloß 3 Zentimeter Dicke hatte. Nie habe ich einen so wunderbar schönen +Eisspiegel gesehen. Ich fühlte mich beinahe versucht, mich hier für den +Winter niederzulassen, nur um in einer provisorischen Eisjacht über +seine glatte Bahn hinzusegeln, statt mich in den mörderischen Sand +hineinzuwagen! + +An den Kanälen des Jangi-köll vorbei begaben wir uns längs des rechten +Tarimufers nach dem Ausgangspunkte der Exkursion, wo der Fährmann uns +mit seinem Fahrzeuge erwartete und Islam Bai und Parpi Bai uns in +Empfang nahmen. Im Lager war alles ruhig. + +Der Tagesbefehl für den 15. Dezember lautete, daß Tschernoff, Islam +und Ördek zu Pferd den Seit-köll untersuchen und nachsehen sollten, ob +das Land in seiner südwestlichen Verlängerung sich zum Ausgangspunkte +der Wüstenreise eignete. Sie führten ihren Auftrag schnell und gut +aus. Tschernoff und Ördek, die beide Rekognoszierungen mitgemacht +hatten, konnten infolgedessen Vergleiche über die Güte beider Wege +anstellen. Nach anderthalbtägiger Abwesenheit kehrten sie mit einer +in großen Zügen entworfenen Kartenskizze über ihre Tour zurück. +Meine Kundschafter versicherten, daß solcher Sand, wie wir ihn am +Jangi-köll gesehen, dort weit und breit nicht zu erblicken sei und daß +die Anhäufungen, welche die Bodensenkungen trennen, sogar zu Pferde +passiert werden können. Von ihrem äußersten Südpunkte aus hatten sie +noch einige Bajirmulden sich nach Südwest hinziehen sehen; durch diese +würden uns wenigstens die ersten Tagereisen in hohem Grade erleichtert +werden. Auch jetzt waren die Dünen weißbereift gewesen, und Ördek +sprach den Gedanken aus, daß man bei Wassermangel seinen Durst mit Reif +stillen könne. Ich vermutete indessen, daß der Reif nur in der Nähe des +Flusses so reichlich sei und nach den zentralen Teilen der Wüste hin +abnehmen werde. + +So wurde denn beschlossen, das Seebecken des Tana-bagladi zum +Ausgangspunkte der Wüstenreise zu wählen. + +Bei meiner Rückkehr von der Rekognoszierung hatte sich das Aussehen des +Tarim in einiger Hinsicht verändert. An der Fährstelle war jetzt nur +noch ein Drittel der Breite offen, und das Treibeis hatte sich noch +mehr vermindert, seit sowohl oberhalb wie unterhalb des Lagers große, +ruhige Strecken des Flusses zugefroren waren. Das Wasser wurde klarer +und war auf 19 Zentimeter durchsichtig, aber es war im Fallen begriffen +und in einer Woche 24 Zentimeter gesunken, so daß die Eisfläche eine +Schale mit klaffenden Rissen bildete. + +In Tura-sallgan-ui verbrachte ich wieder ein paar herrliche Ruhetage, +und die Hütte wurde zu einer behaglichen Wohnung eingerichtet. +Das innere Zimmer, wo meine Kisten, Instrumente, Schreibsachen +usw. geordnet wurden und das von dem äußeren durch einen von einem +Dachbalken herabhängenden, dicken Vorhang von rotem Filz getrennt +wurde, war jedoch nicht warm zu bekommen. Inmitten all dieses trockenen +Schilfes wagte ich nicht einen Ofen aufzustellen, da es nur einiger +Funken aus seinem Rohre bedurfte, um das Ganze in Brand zu setzen. +Daher wurde in die Hinterwand des Gemaches eine Tür gebrochen und +unmittelbar vor dieser das Zelt aufgeschlagen; hier war die Benutzung +des Ofens nicht mit Feuersgefahr verbunden. Die Außenseite des Zeltes +wurde zusammengenäht, und rundherum schütteten wir einen Wall auf, um +alle Zugluft abzusperren. Hier wurde mein Bett ausgebreitet; auf einem +Tische hatte ich einige Arbeitsgeräte usw. Ich residierte demnach in +einer Wohnung von drei Zimmern und fühlte mich in meinem eigenen Dorfe +so wohl, daß es einer guten Portion Energie bedurfte, um alles zu +verlassen und das Weihnachtsfest in der Wüste zu feiern. + +Doch wer konnte der „Urus Tura“ (der russische Herr) sein, der sich +unseren Gegenden nähern sollte? Da ich wußte, daß Charles Eudes Bonin +von China aufgebrochen war, um den Kontinent über Sa-tscheo, Lop und +Urumtschi zu durchqueren, nahm ich an, daß er es sein müsse, und +schickte ihm daher einen Eilboten entgegen, mit der Einladung, zu +mir zu kommen und bei mir zu wohnen. Dieser Auftrag wurde Parpi Bai +anvertraut, weil es Bonin interessieren mußte, einen Mann zu sehen, +der den Prinzen von Orléans und Bonvalot auf ihrer Reise durch Tibet +begleitet hatte und der Zeuge der Ermordung von Dutreuil de Rhins +gewesen war. + +Am Abend des 16. kam Parpi Bai mit einer von französischer Artigkeit +überfließenden Antwort wieder. Bonin -- er war es in der Tat -- war +in dem 10 Kilometer nördlich von unserem Dorfe gelegenen Örtäng +(Gasthause mit Posthalterei) von Dschan-kuli angekommen. Bei hellem +Mondschein ritt ich dorthin und fand den berühmten Reisenden, von +seinen anamitischen, französisch sprechenden Dienern umgeben, in einer +Gaststube, die ein mitten auf dem Fußboden brennendes Feuer mit Rauch +erfüllte. + +Auf einer langen Reise durch öde Gegenden kann es nichts Angenehmeres +geben, als einen Europäer zu treffen. Jetzt war es mehr als je der +Fall, denn Bonin war ein reizender, heiterer, witziger und gelehrter +Herr, und es war für mich ein unvergleichliches Vergnügen, seinen +interessanten Erfahrungen und Hypothesen zu lauschen. Er hatte eine +alte Pilgerstraße über den Astin-tag nach Tibet gefunden und eine +ehemalige Heerstraße, die von Sa-tscheo nach der Gegend führte, wo +der alte Lop-nor gelegen hatte, und in betreff der Wanderung dieses +Seebeckens hatte Bonin dieselben Ansichten wie ich. + +Bonin lud mich zu einem vortrefflichen Abendessen ein; am folgenden +Morgen nach dem Frühstück begaben wir uns nach Tura-sallgan-ui, wo +wir einen außerordentlich gemütlichen Tag verlebten (Abb. 56). Mein +französischer Gast nahm mit großem Interesse das Dorf und seine +Sehenswürdigkeiten, die Hütten, den Klub und den Hafen mit den +eingefrorenen Booten in Augenschein. Die ganze Karte über den Tarim +mit seinen zahllosen Krümmungen passierte Revue, und als der Mond +aufging, machten wir sogar eine kleine Bootfahrt zwischen dem Treibeise. + +[Illustration: 59. Sandsturm in der Wüste. (S. 152.)] + +[Illustration: 60. Abstieg über den steilen Abfall einer Sanddüne. (S. +155.)] + +Doch als der Abend kalt wurde, lud ich meinen Gast in das Zelt ein, und +nun wurde im Ofen so eingeheizt, daß es in dem eisernen Rohre krachte. +Ein „lukullisches“ Mahl wurde aufgetragen und alles, was das Haus +vermochte, hergegeben, alle Speicher und Vorratskammern gebrandschatzt. +Die Hauptgerichte waren schwedische Kaisersuppe, tatarischer +Schißlick und turkestanischer Reispudding, dann folgte eine ganze +Reihe Konserven, die wir mit dem Inhalte der einzigen, meinen ganzen +Weinkeller bildenden Flasche, die Oberst Saizeff in einem unbewachten +Augenblick in eine meiner Kisten eingeschmuggelt hatte, anfeuchteten; +nach dem Essen gab es Tee und Zigarren. Es war der vergnügteste Abend, +den ich im innersten Asien verlebt habe; erst nach Mitternacht endete +das Gelage, das auch durch Tafelmusik verschönt wurde; Bonin machte es +sich im Zelte bequem, und ich übernachtete im kalten „Salon“. + +Am Morgen des 18. fuhr Bonins weitgereister chinesischer Karren +vor; die Abschiedsstunde schlug, und wir trennten uns: er, um in +sein Vaterland zurückzukehren, ich, um in der Tiefe der Wüste zu +verschwinden. Er hatte sein gut ausgeführtes Tagewerk hinter sich, vor +meinem Blicke wogte in undurchdringlichem Nebel eine ganze Welt von +Rätseln. Als alles fertig war, wurden Bonin und seine Diener unter +der großen chinesischen Laterne, die an einem Pfahle in der Mitte des +Marktes hing, photographiert (Abb. 57). Er trug einen langen, roten +Mantel und ein ebenfalls rotes Baschlik und glich einem lamaistischen +Pilger. Ein kräftiger Handschlag, und ~au revoir~! Er verschwand +in seinem Karren, der zwischen den Gebüschen fortrollte. So war ich +denn wieder allein, aber ich bewahrte unser Zusammentreffen als eine +der angenehmsten Episoden der ganzen Reise in meinem Gedächtnis. +Ein Hauch aus Europa war mit der Morgenröte über den Lop-nor zu +mir gedrungen und mit der untergehenden Sonne wieder im Westen +verschwunden. -- + +Der stolze Tarim machte jetzt seine letzten Anstrengungen, um vor dem +langen Winterschlafe noch ein bißchen zu leben. Gleich oberhalb des +Lagers war der Fluß jedoch schon so fest zugefroren, daß man auf dem +Eise hinüberreiten konnte, und infolge der großen Wassermassen, die auf +diese Weise in dem Bette gebunden worden waren, fiel der Wasserstand +am Lager immerfort. Wenn dieses kompakte Wintereis an der Lenzsonne +schmilzt, entsteht eine erste Frühlingsflut, die „Mus-suji“ (Eiswasser) +genannt wird; diese reichliche Flut war es, die der Fähre im nächsten +Jahre weiter nach Südosten verhelfen sollte. + +Der 19. Dezember war für längere Zeit unser letzter Tag in +Turasallgan-ui und verging unter Vorbereitungen zur Wüstenreise. Nach +den Rekognoszierungen hatten wir den Tana-bagladi zum Ausgangspunkte +bestimmt; doch lange hatten wir hin und her überlegt, ehe wir soweit +gelangt waren. Die Eingeborenen, denen das Ganze als ein unheimliches, +wahnsinniges Unternehmen erschien und die augenscheinlich nicht +wünschten, daß Selbstmörder gerade von ihren friedlichen Hütten aus +aufbrächen, rieten mir, die Wüste zu umgehen und die Durchquerung von +Tschertschen aus nach dem Jangi-köll hin zu beginnen, und auch meine +eigenen Leute fanden, daß dies ein kluger Vorschlag sei -- sie könnten +uns dann mit einer kleinen Entsatzexpedition entgegenkommen und von +einem bestimmten Tage an, wenn unsere Ankunft bevorstehe, allabendlich +auf einer himmelhohen Düne einen Holzstoß anzünden, der unsere Schritte +in die rechte Richtung lenken würde. Der Gedanke an diese Fackel der +Winternacht, die auf der äußersten Klippe des Wüstenmeeres brennen und +wie ein Leuchtturm ihren blendenden Schein über die Dünenkämme werfen +sollte, war malerisch, phantastisch und recht verlockend. Wie festlich +könnte dann unser Einzug in die warmen Hütten von Jangi-köll sein, wenn +wir erschöpft, auf dem Schiffe der Wüste schaukelnd gerade auf das +freundlich lockende gelbe Licht zusteuerten, dessen Schein uns das Ende +unserer Mühsal verkündete! Doch ich ließ mich dadurch nicht verlocken; +es war besser, mit ausgeruhten Tieren und von einem festen, sicheren +Punkte aus aufzubrechen, und dabei blieb es. + +Mein alter erfahrener Diener aus den Takla-makan-Tagen, Islam Bai, +wurde auch jetzt Karawan-baschi; die übrigen Teilnehmer waren Turdu +Bai, Ördek und Kurban. Wir hatten nur sieben Kamele und ein Pferd, und +von den Hunden durften nur Jolldasch und Dowlet ~II~ mitkommen, da +ich die empfindlichen Windhunde der Mittwinterkälte unter freiem Himmel +nicht aussetzen wollte. + +Eine aus Parpi Bai, Faisullah und einem Loplik namens Chodai Verdi +nebst drei Kamelen bestehende Hilfskarawane sollte uns die vier ersten +Tage begleiten und dann nach Hause zurückkehren. + +Die Kisten, die in der Hütte gestanden hatten, wurden für den Winter +an Bord der Fähre gebracht, um gegen Feuersgefahr geschützt zu +sein, und auf dem Dache der Dunkelkammer hatte das meteorologische +Häuschen seinen ständigen Platz; dort arbeiteten der Thermograph +und der Barograph ununterbrochen den ganzen Winter hindurch. Sirkin +hatte es lernen müssen, mit ihnen umzugehen, und hatte seit dem 7. +Dezember gründlichen Unterricht in meteorologischer Beobachtungskunst +erhalten. Er wurde Oberhaupt und Leiter des Winterlagers; sein +meteorologisches Journal führte er so genau, daß die Daten desselben +als Stütze meiner eigenen, auf der Reise gleichzeitig ausgeführten +Beobachtungen von großem Werte waren. Die Kosaken, die ich blutenden +Herzens als Bedeckung des Lagers zurücklassen mußte, logierten in +ihrem Zelte, in das sie den Ofen setzten, erhielten zwei Jamben zur +Bestreitung der Haushaltkosten und hatten Überfluß an Proviant. Sie +übernahmen auch die Verantwortung für den Wachtdienst und die Pflege +unserer zurückbleibenden Tiere, deren Zahl sich um drei junge Maulesel +vergrößert hatte, die wir für den außergewöhnlich billigen Preis von 70 +Sär bekommen hatten und die 3½ Jahre aushielten. + +Die Ausrüstung wurde mit größter Sorgfalt gewählt; es galt, mit +leichtem Gepäck in den hohen Sand hineinzugehen, nichts Überflüssiges +durfte mitgenommen werden. Wir hatten Reis und Mehl für zehn Tage, +fertiggebackenes Brot für vierzehn Tage und für ebensolange „Talkan“, +geröstetes Weizenmehl, das so wie es ist verzehrt wird. Ich nahm einige +Konservenbüchsen, Tee, Zucker und Kaffee mit, die Männer einen Block +chinesischen Ziegeltee. Der Proviant sollte also nur bis Tschertschen +reichen, wo wir unsere Vorräte leicht erneuern konnten. + +In der einzigen Kiste, die ich mitnahm, lagen das Universalinstrument +mit Stativ, meteorologische Instrumente, Nivellierspiegel, Kodak, +Marschroutenbücher, Bandmaße, Proberöhren, Karten über Ostturkestan, +eine Menge Kleinigkeiten und Kleider. Die Chronometer trug ich stets +bei mir. + +Am 20. Dezember morgens um 7 Uhr weckte mich Islam mit der Frage, +ob wir reisen wollten, da es heftig aus Südwest stürme. Es war dies +deutlich zu merken, denn das Zelt blähte sich wie ein Gummiball und der +Rauch drang aus dem Ofenrohre in meine Behausung; aber der Aufbruch +war auf diesen Tag festgesetzt, und es ist nicht klug gehandelt, eine +einmal beschlossene Sache auf die lange Bank zu schieben. Ich aß also +ein letztes Frühstück in meinem warmen Zelte, dann wurde das Gepäck +nach dem rechten Ufer gebracht, wo sich die Beke und die Bevölkerung +der Gegend versammelt hatten, um uns zu einem Abenteuer aufbrechen zu +sehen, von dem wir, wie sie fest glaubten, nie wieder zurückkehren +würden! + +Das Beladen der Kamele begann. Meine Instrumentkiste, mein Bettsack +und die Kiste mit dem Küchengeschirr bildeten eine Kamellast, der +Hauptproviant und die Kleider der Leute eine zweite; das dritte Kamel +war mit massiven Holzklötzen beladen, das vierte mit Mais für die Tiere +und die drei übrigen mit Eis, das in kompakten Klumpen in Tulumen +(Schläuchen von Ziegenfell) verwahrt wurde. Die drei Reservekamele +hatten tüchtige Lasten, die aus lauter Holz und Eis bestanden. Alle +Reisenden waren mit guten Winterkleidern und warmen Pelzen ausgerüstet. + + + + +Vierzehntes Kapitel. + +Ins Herz der Wüste Takla-makan. + + +Mit dem Flusse zur Rechten und dem gewaltigen Sande zur Linken zogen +wir gerade nach Westen. Der Tarim war auf dem ganzen Wege stromaufwärts +fest zugefroren; wir verließen ihn aber bald und bogen in den Sand +ein, dem Südostufer des Tana-bagladi-Sees folgend. Eine 20 Zentimeter +dicke Eisscheibe bedeckte ihn; offenes Wasser war nirgends zu sehen. +An unserem Ufer war die Tiefe so bedeutend, daß wir trotz des klaren +Wassers nicht bis auf den Grund sehen konnten. Als wir die äußerste +Seebucht im Süden erreichten, wurde eine kurze Rast gemacht; vier +kleine Waken wurden in das Eis gehauen, und die Kamele durften noch +einmal, das letzte Mal für längere Zeit, so viel trinken, wie sie +konnten. Sie schienen zu wissen, daß sie Durst leiden würden, denn +sie tranken lange und mit langem, saugendem Schlürfen. Nach jeder +Wiederholung schnaubten sie und bewegten ihre weichen Lippen, daß +die Wassertropfen weit umherspritzten und Eiszapfen in ihrem üppigen +Winterbarte hingen. Sie waren ein wenig ängstlich davor, sich mit ihrem +ganzen Gewicht über das spiegelblanke Eis zu beugen, das deshalb erst +mit Sand bestreut werden mußte. Auch der kleine Schimmel von Kaschgar, +die Hunde und die Männer benutzten die Gelegenheit, um sich ordentlich +satt zu trinken; denn wenn wir auch für 20 Tage Eis mitgenommen hatten, +konnte es dennoch sein, daß wir später mit dem kostbaren Getränke +würden vorsichtig umgehen müssen. + +So wurde denn dieses letzte Wasser verlassen. Wir gingen über die +Dünen, welche das Seebecken im Süden begrenzen, und lagerten an einem +zugefrorenen Salztümpel, in dessen nordöstlichem Teile Kamisch wuchs, +in welchem die von ihren Lasten befreiten Kamele weiden durften. + +In dem dichtesten Schilfe wurde ein kleiner, runder Aushau gemacht, in +welchem wir uns niederließen, vor dem Winde geschützt, aber nur mit +dem Himmel als Dach. Von dürrem Schilfe wurde ein Feuer angezündet +das dann haushälterisch mit Spänen von dem ersten Holzklotze genährt +wurde. Parpi Bai war Koch. Er wusch den Reis, legte ein Stück Fett in +den Topf, in dem kleine Fleischstücke, Zwiebel und Suppenkraut kochten, +streute den Reis hinein und fügte eine Kanne Wasser hinzu, worauf er +den Topf mit einem Deckel zudeckte; der Pudding muß kochen, bis das +Wasser teils verdampft, teils in den Reis eingezogen ist; so wird ein +orthodoxer Reispudding bereitet. Einige nette Lopleute, die uns aus +eigenem Antriebe begleitet hatten, überraschten uns abends mit je einem +Armvoll Brennholz und Eis. Wir brauchten also unsere eigenen Vorräte +von diesen beiden wichtigen Dingen nicht gleich am ersten Abend in +Anspruch zu nehmen. + +Als ich am folgenden Morgen aus meinem Bette kroch, tobte noch immer +der Sturm aus Südwest, aber die natürliche Schilfhütte schützte uns vor +ihm, und das Feuer verbreitete wohltuende Wärme in dem Halbdunkel. Die +Tagereise ging in jeder Beziehung gut, da das Terrain wider Erwarten +günstig war. Unser Weg war uns vollständig durch jene eigentümlichen +Bajirmulden vorgeschrieben, die in einer Reihe nach Südwesten laufen. +Im Südwesten unseres Lagerplatzes gehen wir über eine sehr niedrige, +bequeme Sandschwelle nach der ersten Bajir, an deren Anfang einige +von Salzkristallisationen umgebene Salzwassertümpel liegen -- wie +gewöhnlich in dem Teile der Bodensenkung, der dem Flusse zunächst +liegt. Die zweite und dritte Bajir waren ein wenig kleiner. Man konnte +fürchten, daß dies ein Zeichen des Aufhörens der Bajire sei und wir +wieder in lauter Sand wie in der Takla-makan würden waten müssen, aber +die Bajir Nr. 4 beruhigte uns; sie war ebenso groß wie die drei ersten +zusammengenommen. Diese Mulden, deren Boden in gleicher Höhe zu liegen +und vollständig eben zu sein scheint, sind voneinander durch schmale +Landgürtel getrennt. + +Der Bajirboden ist selten fest; hier bestand er aus feinem, feuchtem +Staube, in den die Kamele 40 Zentimeter tief einsanken, und die +Wanderung war langsam und ermüdend; wir brauchten vier Minuten zu +einer Strecke von 200 Meter, legten also nur 3 Kilometer in der Stunde +zurück. Das erste Kamel hat es am schlimmsten, denn es muß einen Weg +für die anderen auspflügen, das letzte dagegen geht beinahe wie auf +einem angelegten Fußpfade, den ich auf meinem kleinen Schimmel auch +benutzte. Meine Männer gingen zu Fuß, außer Parpi Bai, der auf einem +Kamele oben auf einem Holzhaufen saß. + +Der Gestalt nach sind alle diese Bajire einander gleich, und man +findet, daß dieselben Naturkräfte sie alle gebildet haben. Denn +dasselbe Relief kehrt mit bewunderungswürdiger Regelmäßigkeit +wieder. Sie erstrecken sich von Nordosten nach Südwesten und sind im +allgemeinen nur einen Kilometer breit. Wir wandern stets an einem +der „Ufer“ hin, weil der Boden da, wo der Sand in den Staub übergeht, +am härtesten zu sein pflegt. Gleich den Seen sind sie überall von +Sand umgeben, aber die Dünen des südöstlichen Randes bilden eine +fortlaufende zirka 33 Grad steil abfallende Wand, während im Nordwesten +die Luvseitenabhänge der Dünen langsam zu einer Kulmination ansteigen, +an deren Westfuße man sicher darauf rechnen kann, noch eine Bajir zu +treffen. Es versteht sich von selbst, daß die von uns eingeschlagene +Richtung die einzig mögliche war; sie mußte uns gerade auf unser Ziel, +das Dorf Tatran am Tschertschen-darja, eine Tagereise unterhalb der +Stadt Tschertschen führen. Nach Osten oder Westen zu gehen, ist in +dieser Wüste sogar für einen Fußgänger beinahe ganz unmöglich. + +Wir schreiten schwer und langsam beim Klange der Glocke des letzten +Kameles dahin. Die Landschaft ist unsagbar tot und öde; selbst die +Sandwüsten auf dem Monde, wenn es solche gibt, können nicht jeglichen +organischen Lebens barer sein als diese hier. Es ist nichts, absolut +nichts vorhanden, was darauf schließen ließe, daß hier je Leben +in irgendeiner Gestalt existiert habe. Nur die Spuren der drei +Kundschafter, die ich ausgeschickt hatte, bewirkten eine Unterbrechung +der leblosen Einförmigkeit; auch sie hörten bald auf (Abb. 58). + +Kurz vor dem Ende der Bajir Nr. 4 machten wir Halt -- Lager Nr. 2 --, +aber jetzt fehlte uns die Schilfhecke, und wir waren dem wirbelnden +Flugsande völlig preisgegeben. Die Kamele wurden angebunden, damit sie +nicht ihrer Gewohnheit gemäß nachts nach den üppigen Weideplätzen am +Flusse durchbrannten. Zwei kleine Feuer wurden angezündet; es waren +unser zu viele, um an einem Feuer Platz zu finden. + +Das große, alles beherrschende Gesprächsthema ist: wie weit erstrecken +sich diese gesegneten Mulden? Denn so weit sie reichen, hat es keine +Not. Ich erklomm die nächste hohe Düne. Die Landschaft, die sich nach +Osten hin aufrollt, ist geradezu unheimlich; dem Blicke begegnen auf +dieser Seite nur die steilen Abhänge auf den südöstlichen „Ufern“ der +Bajire, und man sieht nur ein aufgeregtes Sandmeer in riesenhaften +Wogen, die im Begriffe gewesen zu sein scheinen, gerade auf den +Zuschauer loszurollen, aber unterwegs erstarrt waren und jetzt nur eine +erlösende Zauberformel abwarten, um nach Westen weiterzurauschen. Nach +meinen topographischen Arbeiten von der vorigen Reise mußten wir bis +Tatran 285 Kilometer haben, also beinahe doppelt so weit wie von den +Seen des Masar-tag nach dem Chotan-darja, welche Entfernung hingereicht +hätte, eine ganze Karawane zu töten! Islam und ich, die jene Reise +nie vergessen konnten, sahen nur zu wohl ein, wie gewagt diese neue +Wüstenwanderung tatsächlich war. + +Man bedenkt sich erst noch, ehe man aus den Pelzen kriecht, wenn ein +frischer westlicher Buran weht und die Luft mit Flugsand erfüllt +ist, so daß sich das Tageslicht in Dämmerung verwandelt und wenn +es obendrein -11 Grad kalt ist. Auf dieser ganzen Expedition, die +zwei Monate dauerte, schlief ich jede Nacht, außer in Tschertschen, +unter freiem Himmel, was mir in keiner Weise schlecht bekam. An den +Holzspänen und Eisstücken wurde schon jetzt gespart. + +Parpi Bai war kränklich, und ich wollte ihn schon vom Lager Nr. 2 +zurückschicken, aber er konnte in seinem schweren Pelze nicht gehen und +Tura-sallgan-ui in einem Tage nicht erreichen; eines der Kamele mußte +sich seiner erbarmen. Es war die einzige meiner Wanderungen, an der er +teilnahm; seine Tage waren gezählt. + +Heute wurden 22,4 Kilometer zurückgelegt, größtenteils auf ebenem +Bajirboden; die Sandengen zwischen den Mulden wurden nach und nach +höher und breiter. Das einzige nicht recht Gute war, daß die Depression +sich fortlaufend nach Südwesten erstreckte; hielt diese Richtung an, +so würden wir in das grenzenlose Sandmeer hineingeraten und in die +diagonale Richtung nach Nija hinüber gezwungen werden, was mehr wäre, +als eine Karawane auch unter den günstigsten Verhältnissen würde +aushalten können. Andererseits aber wäre es töricht gewesen, von der +von den Bodensenkungen vorgeschriebenen Richtung abzuweichen, denn ein +günstigeres Terrain konnte man sich in einer Sandwüste nicht wünschen. + +Die schwindelnd hohen, unendlichen Sandmassen, die sich in diesem +Teile des inneren Ostturkestan ausbreiten, gleichen in ihrer +Anordnung einem Netze, in dessen Maschen die Bajire liegen. Wo wir +auch vom Flusse aus die Reise angetreten hätten, stets wären wir in +eine ununterbrochene Rinne von Mulden hineingeraten, die alle auf +derselben Linie nach Südsüdwesten liegen. Die Depressionen erleiden +schon jetzt eine deutliche Veränderung. Ihr Boden wird härter und +bequemer für die Kamele, trockener und sandreicher. Ferner tauchen an +den „Ufern“ Lehmränder in Gestalt von 1½ Meter hohen Tafeln und +Terrassen oder nur unter dem Sande hervorspringenden Leisten auf; sind +sie kein Gebilde der Winderosion, so können sie ihre Entstehung nur +dem Wasser verdanken; sie gleichen uralten Uferlinien, die auf Seen +oder Flüsse schließen lassen. Für die Annahme, daß die Bajirmulden +alte Seedepressionen anzeigen, spricht ihre Beckenform und die +konzentrisch angeordneten Gürtel von Terrassen aus mit Salz gemischtem +Staube (Schor) und Salz, welches Aussehen auch die jetzigen Uferseen +Jangi-köll, Basch-köll, Tana-bagladi usw. erhalten würden, wenn sie +austrockneten. + +Ich selbst neige mehr zu dem Glauben, daß wir jetzt auf dem +Grunde eines riesigen Binnensees wanderten. Dafür sprechen die +Niveauverhältnisse des ganzen Tarimbeckens, die Stromrichtung des +Tarimflusses und des Tschertschen-darja und die Lage der Bajirketten; +denn jede Bajirreihe bildet einen Bogen, dessen Mittelpunkt zwischen +dem alten Lopsee und dem Kara-koschun, wo wir auch die tiefste +Depression des Tarimbeckens finden, gelegen ist. + +Von der sechsten Bajir an wurde der Boden so, daß man die Depression an +jedem Punkte überschreiten konnte; die vorhergehenden waren in ihren +inneren Teilen so weich und tückisch gewesen, daß man in ihnen spurlos +hätte versinken können, wenn man sich zu weit vom Rande entfernt hätte. +Ein interessanter Fund wurde in der Bajir Nr. 8 gemacht: einige poröse +spröde Skeletteile von einem wilden Kamele. + +Im Lager Nr. 3 wurde versuchsweise ein Brunnen gegraben, der schon +auf 1,2 Meter Tiefe reichlich Wasser von +4,8 Grad gab, es war aber +bitteres, konzentriertes Salz. Der Boden ist nirgends gefroren, obwohl +die Feuchtigkeit bis an die Oberfläche reicht; er ist aber auch überall +stark mit Salz vermischt. + +23. Dezember. Heute weckte uns wieder ein richtiger Buran. Der Himmel +war mit Wolken bedeckt und die Luft so mit Flugstaub gesättigt, daß +die Landschaft, wenn man diese Heimat der Todesstarre so nennen kann, +auf einige hundert Meter Entfernung verschwand und nur die nächsten +Gegenstände seltsam und unheimlich hervortraten (Abb. 59). Die einzigen +menschlichen Gäste, welche diese Wüste je gehabt, erstaunten darüber, +daß der Flugsand, der besonders während der Frühlingsstürme in Menge +treiben muß, die Bajire nicht ganz und gar ausfüllt und sie ganz von +der Erdoberfläche vertilgt. Doch in Wirklichkeit scheint jedes Sandkorn +ebenso treu, wie der elektrische Strom durch sein Kabel eilt, gewissen +Bahnen zu folgen, die ihm nicht erlauben, sich in den Depressionen +niederzulassen, sondern es zwingen, sich auf einem der Dünenabhänge +niederzulassen. Es ist, als scheute der Sand die nackten Flächen. +Natürlich werden diese Verhältnisse vom Winde diktiert. + +Vom Lager Nr. 3 wurde die Richtung der Bajirreihe Südsüdwest, und ich +hielt immerfort den Kurs auf das Dorf Tatran. Es war jedoch deutlich, +daß wir uns immer höher werdendem Sande näherten; schon jetzt wuchsen +die Engen zwischen den Bajiren an Höhe und Breite, und wir gingen +längere Strecken in diesem Sande als auf ebenem, nacktem Boden. Ein +paarmal suchten wir sogar vergebens nach einer Bajir; wir waren +offenbar vom Wege abgekommen und hatten uns auf Protuberanzen zwischen +Depressionen, die wir in der dicken Luft nicht sahen, verirrt. Die +Karawane mußte Halt machen, während wir einen Übergang suchten und +darauf die anderen anriefen. + +[Illustration: 61. Das endlose Wüstenmeer. (S. 159.)] + +[Illustration: 62. Karawane auf dem Astin-joll. (S. 174.)] + +[Illustration: 63. Hirtenhütten in Schudang. (S. 176.)] + +[Illustration: 64. Das alte Bett des Tschertschen-darja. (S. 182.)] + +Die Bajire 9-12 waren tief wie Kessel, aber so klein, daß sie unsere +Wanderung wenig erleichterten, um so mehr, als ein System von kleinen +Dünen in der Richtung von Nordosten nach Südwesten ihren Boden kreuzte. +Als wir die zwölfte Depression gekreuzt hatten, sah es bedenklich aus; +wir keuchten lange auf dem Wege über die nächste Schwelle, die kein +Ende nehmen wollte, und die Kamele blieben immer öfter stehen; aber +schließlich erreichten wir den höchsten Rücken, der uns einen angenehm +überraschenden Anblick bot: vor uns und tief unter uns dehnte sich die +dreizehnte Depression aus; ihr Boden war ganz sandfrei, und ihr anderes +Ende verschwand im Staubnebel; sie mußte uns also ein gutes Stück +weiterhelfen. In der Mitte dieser großen Bajir erhoben sich einzelne +Terrassen von Tonerde in horizontalen Schichten, aus der Ferne Häuser- +und Mauerruinen gleichend. + +Wir lagerten zwischen zwei solchen Blöcken. Solange der Kochtopf und +die Teekanne auf dem Feuer brodeln, hocken wir alle um dasselbe herum; +nach dem Abendessen plaudern die Muselmänner über die Aussichten +für den nächsten Tag, während ich beim Scheine einer Laterne meine +Aufzeichnungen mache. Nur drei Holzstücke dürfen in jedem Lager +draufgehen, zwei am Abend und eines am Morgen, sonst würde der Vorrat +nicht zwei Wochen reichen. + +Der Sturm legte sich während der Nacht, und als ich in aller Frühe aus +meinem Pelzneste guckte, warf der Mond seine silberglänzenden Strahlen +auf unser stilles Lager, wo alle fest schliefen und nur die schweren +Atemzüge der Kamele das tiefe Schweigen unterbrachen. Ich mußte daran +denken, daß der Mond, wenn er überhaupt die Fähigkeit besäße, auf +menschliche Weise zu sehen und zu reflektieren, sich sehr über die +armen Würmer wundern würde, die sich in den ewigen Sand hinein verirrt +haben und die in ihrem Trotze über Teile der Erdoberfläche ziehen, die +nicht für Menschenkinder geschaffen sind. Ich dachte mit Neid an seinen +erhöhten Platz im Weltraume, der ihm nicht nur auf dieses Sandmeer im +innersten Asien hinabzusehen erlaubte, sondern auch auf mein Heim im +Norden, nach welchem meine Gedanken gerade an diesem Abend mit ganz +besonderer Sehnsucht eilten, war doch heute der heilige Abend. + +Müde von dem anstrengenden Sandmarsche des gestrigen Tages schliefen +wir uns alle gemütlich aus, und die Sonne stand schon über den Kämmen +der Dünen, als ich am Morgen erwachte. Alle Wolken und aller Flugstaub +waren fortgezaubert worden, und das Sandmeer um uns herum glühte wie +ein Lavastrom. Die Kamele, die stets dicht zusammengedrängt lagen, um +sich aneinander zu wärmen, warfen lange, grelle Schatten auf den Boden, +jenen seltsamen, öden Boden, auf dem man ein hilfloser, linkischer +Gast ist und den zu betreten man sich kaum berechtigt fühlt. Es ist, +als gehörte er einem anderen Planeten an. + +Jetzt wurde es im Lager lebendig; das Gepäck wurde wieder geordnet, +aber die Auslese war schon so gründlich getroffen, daß nichts mehr +entbehrt werden konnte. Parpi Bai, Faisullah und Chodai Verdi kehrten +mit den drei Reservekamelen zurück. Es war die Rede davon, daß Kurban +mit ihnen ziehen sollte, aber er war so heiter und vergnügt, daß das +Weihnachtsfest ohne ihn noch einsamer geworden wäre, weshalb er bleiben +durfte. Die Leute schienen ebenso verhext zu sein wie ich, sie wollten +alle mit durch die Wüste. + +Die Zurückkehrenden erhielten ein paar Eisstücke, einen Holzklotz +und einige Brotfladen, eine sehr knappe Beköstigung für den heiligen +Abend; sie sollten die Entfernung in zwei Tagereisen zurücklegen und +versuchen, den Seit-köll zu erreichen, welcher von hier aus der nächste +Punkt war, an dem es Wasser gab. Im Sande waren unsere Spuren verweht, +in den Bajiren würden sie jahrelang erhalten bleiben. Gefahr war nicht +vorhanden; wohin sie sich auch nach Norden wendeten, stets würden sie +an den Tarim gelangen. Es war mir eine Beruhigung, sie in Sicherheit +zurückkehren zu wissen, und auch für uns war ein großer Vorteil dabei; +der Wasservorrat würde nun länger reichen, da sechs Personen weniger +davon zehrten. Bald entschwanden sie unseren Blicken wie schwarze +Punkte auf dem Gipfel der nächsten Sandenge. + +Unsere sieben übrigen Kamele wurden nun mit schweren Lasten beladen, +die jedoch mit jedem Tage leichter werden sollten. Bis der Proviant +sich nicht bedeutend verringert hatte, durfte keiner reiten. + +Rasch durchschritten wir den Rest der dreizehnten Bajir. Ihr Boden ist +leicht gekörnt, knisternd, hart und trocken, hier und dort mit einer +dünnen, reifähnlichen Salzschicht bedeckt. Doch gräbt man nur ein paar +Dezimeter tief, so stößt man auf ein ziemlich mächtiges Lager von +gediegenem Salze, das deutlich das Bett eines verschwundenen Salzsees +anzeigt. Die Tafeln und die Terrassen, die selten mehr als 2 Meter Höhe +erreichen, sind mit einer völlig horizontalen Schicht von gelbrotem, +beinahe steinhartem Tone von ein paar Dezimetern Dicke bedeckt. + +Die fünfzehnte Bajir war im Südwesten von gewaltigem Sand +abgeschlossen. Wir arbeiteten uns hinauf; es war eine harte Anstrengung +für die Kamele, diese zahllose Folge von Abhängen hinauf und hinunter +zu überwinden. + +Ich ging zu Fuß voraus, aber von einer Bajir war nichts zu sehen; ich +hoffte eine wirklich große, ebene Fläche als Weihnachtsgeschenk zu +erhalten, aber immer höher ging es hinauf in immer tiefer werdendem +Sande, und schließlich erkannte ich, daß ich auf die Protuberanz +zwischen zwei Depressionen geraten war. + +Unvergeßlich ist mir das Gefühl des Ärgers, das mich überkam, als ich +von der 60 Meter hohen, abschüssigen Düne unsere sechzehnte Bajir +erblickte, die wie ein kohlschwarzer Topf unter mir gähnte; ihr Boden +war bis an die Oberfläche durch und durch naß, um ihren Rand herum lief +ein Ring von weißem Salze und ringsumher erhoben sich hohe Dünen; es +war ein Höllenpfuhl, ein Loch, das ganz gut ins Reich der Toten hätte +hinabführen können. + +Doch nachdem mich die Karawane eingeholt, rutschten wir an dem +Sandabhange nach dieser unheimlichen Mulde hinunter (Abb. 60) und +folgten, wo der Boden trug, ihrem Rande. Nach einem Marsche von 15½ +Kilometer hatten wir genug und lagerten an der südlichen Dünenschwelle +der Bajir. + +Wie düster der Tagemarsch auch gewesen sein mag, sobald ich Halt +geboten habe, wird die Stimmung immer gleich fröhlicher. Islam macht +sofort mein Bett am Feuer zurecht, Kurban sorgt für mein Reitpferd, +Turdu Bai und Ördek laden die Kamele ab, deren Lasten so gelegt werden, +daß sie sich am folgenden Morgen bequem wieder aufladen lassen. Darauf +werden die Kamele in unserer unmittelbaren Nähe angebunden, die beiden +Holzklötze in kleine Scheite zerspalten, Feuer angemacht und die +Eisstücke zum Schmelzen in den Eisentopf und in einen eisernen Eimer +gelegt, dann bereitet Ördek den Reispudding. Das Wasser, in welchem der +Reis gewaschen wird, erhalten das Pferd und die Hunde; kein Tropfen +darf umkommen. Nachdem das letzte Holzscheit des Abends verbrannt ist, +bleibt nichts weiter übrig, als in die Koje zu kriechen. Wenn die +Kamele nicht gar zu durstig werden, haben wir noch Wasser für 15 Tage +und Holz für 11 Tage. + +Nie habe ich den heiligen Abend in einer düsterern, einsamerern +Umgebung zugebracht. Nichts weiter als die Kälte erinnerte an dieses +frohe Fest, an dem sich alle Erinnerungen aufrollen und an dem +Blicke, der sich in der ersterbenden Glut des Lagerfeuers verliert, +vorüberziehen. Das fröhlichste, glücklichste aller Feste verbrachte ich +in einem Höllenloche, wo nur der Tod oder der Mangel jeglichen Lebens +einen seiner größten Triumphe feierte. Wie Fledermäuse im Winter saßen +wir zusammengekauert um das spärliche Feuer, über dessen Kohlen nur +noch die letzten blauen Flammen züngelten; wir hüllten uns dichter +in die Pelze, um den eisigen Pfeilen der Mittwinternacht die Spitze +abzubrechen, doch der Weihnachtsengel ging an uns vorüber, obwohl ihm +alle Türen weit geöffnet waren. Es war ein Weihnachtsfest der Wüste, +und selbst am Pol kann es nicht einsamer verlaufen. + +Während des ersten Festtages war das Terrain so günstig, daß wir 18,2 +Kilometer zurücklegen konnten. Hinter der Sandenge des Weihnachtslagers +kamen drei kleine Mulden, aber die Bajir Nr. 20 lag groß wie ein Tal +vor uns. Ihre Längsrichtung ging gerade nach Süden, und ihre östliche +Sandmauer stieg bis gegen 100 Meter hoch direkt vom „Ufer“ auf. Wenn +nur Ostwinde in der Gegend herrschten, würde man diese Regelmäßigkeit +verstehen, doch im Winter waren südliche und nördliche Winde häufiger, +und man sollte denken, daß diese die Mulden mit der Zeit ausfüllen +mußten. In der westlichen Takla-makan hatten wir nur in dem dem +Chotan-darja am nächsten liegenden Teile Flecke mit freiem Boden +gefunden, also in einer Gegend, wo östlicher Wind vorherrscht. + +Als wir die ganze Bajirreihe hinter uns hatten, gerieten wir wieder +in gewaltigen Sand hinein, auf dem es beständig bergauf ging. Auf +beiden Seiten unseres Kurses sahen wir Mulden; da sie uns aber nichts +nützen konnten, zogen wir auf dem höchsten Kamme der Protuberanz +weiter. Wenn man auf dem Kamme selbst bleibt, wo der Sand eine feste, +zusammengepackte Masse bildet, wird der Marsch leichter, doch lag der +Sand an mehreren Stellen so ungünstig, daß für die schwerbeladenen +Kamele mit dem Spaten ein Pfad gegraben werden mußte. Obgleich wir uns +alle durch Gehen warm zu halten suchten, erstarrten wir beinahe vor +Kälte in dem heftigen Südwestwinde, der keinen Augenblick nachließ. +Straußenfedern vergleichbar wirbelte der Sand von den Dünenkämmen, +und alles verschwand in graugelbem Nebel. Man sieht, wie die scharfen +Kammlinien unter der Einwirkung des Windes ihre Lage verändern. Der +Sand durchdringt alles; er juckt auf der Haut des ganzen Körpers, er +knirscht zwischen den Zähnen, und noch heute fallen Sandkörner aus +meinem Tagebuche, wenn ich darin blättere. + +Am 26. Dezember überschritten wir nicht weniger als acht Bajire, aber +sie waren alle klein und von keinem Nutzen für uns, da wir erst nach +ihnen hinunter und dann auf der anderen Seite gleich wieder hinauf +mußten. Es tat mir leid zu sehen, wie dies die Kamele anstrengte, aber +ich hoffte, daß ihre Kräfte ausreichen würden, und ihr Lohn sollte +groß sein, wenn wir erst die üppigen Weiden des Tschertschen-darja +erreichten. Wir wanderten also meistens zu Fuß im Sande, und nur auf +ebenem Bajirboden benutzte ich die Gelegenheit, ein paar Kilometer zu +reiten. + +Die Sandengen werden auf Kosten des ebenen Bodens immer höher und +breiter; für uns ist es ein Glück, daß ihr steiler Abhang immer nach +Süden und ihr allmählich ansteigender nach Norden liegt. Bei jeder +neuen Bajir gelangen wir an den Rand einer solchen jähen Sandklippe. +Ohne sich zu besinnen, lassen sich die Kamele beinahe Hals über Kopf +den Abhang hinabgleiten. Der Sand fängt dann an nachzugeben und +gleitet wie in einem Wasserfall hinab, in dem sie mit steifen Beinen +hinunterrutschen. Sie sind schon daran gewöhnt, balancieren sicher und +fürchten sich nicht mehr vor den hohen Dünenkämmen. + +Islam, mein alter erfahrener Wüstenlotse, geht gewöhnlich voraus und +sucht die Kurve, die unser Weg bildet, soviel wie möglich auf derselben +Ebene zu halten. Auf jedem neuen Kamme, nach welchem wir uns mühsam +hinaufgearbeitet haben, machen wir Halt und schauen uns um, stets +hoffend, in der Richtung des Weges eine neue Bajir zu finden, sehen +uns aber meistens in der Hoffnung getäuscht und folgen dann den besten +Dünenkämmen. + +Im Lager Nr. 7 konnte ich meinen Dienern zu ihrer Beruhigung mitteilen, +daß wir schon 2 Kilometer über die Hälfte des Weges nach dem alten +Bette des Tschertschen-darja hinaus waren, von dessen Vorhandensein der +russische Reisende Roborowskij vor einigen Jahren hatte erzählen hören +und das nach seiner Karte etwa 65 Kilometer nördlich von dem jetzigen +Flußbette liegen mußte. Noch besaßen wir 2½ Kamellasten Eis, was +ausreichen mußte; dafür aber war zu befürchten, daß uns das Brennholz +ausgehen und uns damit die Möglichkeit genommen werden könnte, das Eis +zu schmelzen. + +Am 27. Dezember brachen wir früh auf; die Leute fühlten sich in dieser +endlosen Wüste entmutigt und hielten es für das beste, den Marsch zu +beschleunigen, um in gastfreundlichere Gegenden zu gelangen, ehe unsere +Vorräte gar zu sehr zusammenschmolzen. In der Nacht sank die Temperatur +unter -20 Grad, und als wir aufbrachen, war es noch -18 Grad kalt. Doch +der Sonnenaufgang war schön und der Himmel klar. Das Tagesgestirn war +aber noch nicht viele Grade über den Horizont emporgestiegen, als auch +schon die gewöhnlichen Wolkenbänke heraufzogen, um die Nachtkälte, die +die Sonne noch nicht hatte vertreiben können, auf der Erdoberfläche +festzuhalten. + +Nachdem ich meinen Morgentee eingenommen, brach ich, gut eingehüllt, +als Vorhut auf. Es wehte nicht, und mir wurde bald so warm, daß ich +den Ulster fallen ließ, damit die Karawane, die meinen Spuren folgte, +ihn mitnehme. Über zahllose Kämme hinweg erreichte ich endlich die +Höhe der Schwelle, wo ich überlegend stehenblieb und das Terrain mit +dem Fernglase untersuchte. Hinten in der Richtung des Kurses erschien +eine Bajir, deren Boden ein außergewöhnliches Aussehen hatte und ganz +schwarzpunktiert war. Voller Neugierde, was dies sein möchte, eilte +ich von den Dünen hinab, und meine Verwunderung wurde noch größer, als +ich vom Winde verwehte Kamischblätter und die Spuren eines kleinen +Nagetieres fand, das nicht größer sein konnte als eine Ratte. Als ich +näherkam, sah ich zu meiner Freude, daß in dieser Bajir Kamisch wuchs, +wenn auch dünn und in welken, verdorrten Stauden. Doch es gab dort auch +lebendes, gelbes Schilf; es hatte sich nur gegen die ebenso gelben +meterhohen Dünen, welche die Bodensenkung in der Diagonale kreuzten, +von fern nicht abgehoben. + +Mich an dem Anblicke von Leben freuend, erwartete ich die Karawane. +Die Männer waren froh, als sähen sie vor sich ein Paradies winken, und +die Kamele blähten, die Weide witternd, ihre Nasenlöcher auf. Jetzt +hielten wir Rat; Turdu Bai schlug vor, hierzubleiben, damit sich die +Tiere ordentlich satt fressen könnten. Da wir jedoch vermuteten, daß +die nächste Bajir noch besser sein würde, mußte Islam vorausgehen, um +zu rekognoszieren, indes wir langsam seiner Spur folgten und die Kamele +im Gehen fressen ließen. Der Kundschafter gab uns ein Zeichen ihm +nachzukommen, und wir lagerten mitten in der Bajir Nr. 31, obwohl sie +nicht besser war als die vorige. + +Es war eine in hohem Grade unerwartete, staunenswerte Entdeckung, +mitten in der Wüste, 120 bis 140 Kilometer vom nächsten Wasser +entfernt, Vegetation zu finden. Daß dies nicht die äußerste +„Strandinsel“ des Tarim sein konnte, lag auf der Hand, denn +stark salzhaltiger Untergrund und wüstester Sand trennten uns +von diesem Flusse. Ebensowenig konnte es einer der Vorposten des +Tschertschen-darja sein, denn bis an diesen Fluß hatten wir noch 150 +Kilometer. Vielleicht befanden wir uns in einer Gegend, welche einst +der Fluß Kara-muran durchzogen hatte. Wie dem auch sei, alle lebten +wieder auf, und wir sahen die nächste Zukunft in den hellsten Farben. + +Die Kamele erhielten jedes seinen Eimer mit 30 Liter Wasser, das sie +austranken wie unsereiner eine Tasse Tee. Es war ein tiefer Griff in +unseren Eisvorrat. Die Blöcke wurden im Eisentopfe über Kamischfeuer +geschmolzen, und die Lasten wurden dadurch leichter. Bei Tagesanbruch +durften die Kamele auf die Weide gehen. Auch wir zogen aus dem dürren +Schilfe Nutzen. Solange es noch Tag war, sammelten wir ganze Haufen +davon und brauchten abends die vorgeschriebenen drei Holzklötze nicht +in Anspruch zu nehmen. + +Der Sonnenuntergang war an diesem Abend von einer ungewöhnlichen +Farbenpracht. Die schweren Wolken, die den Himmel den ganzen Tag +erfüllt hatten, verzogen sich; sie waren oben grauviolett mit einem +goldglänzenden Rande, aber ihre Unterseite war ebenso schmutziggelb wie +die Dünen, und man glaubte, das Spiegelbild der Wüste am Himmelsgewölbe +widerscheinen zu sehen. + + + + +Fünfzehntes Kapitel. + +Das endlose Wüstenmeer. + + +Das unfreundliche Wetter hielt noch immer an. Nach einer -21 Grad +kalten Nacht erwachten wir am 28. Dezember wieder bei östlichem Winde, +dicker Luft und bleischweren Wolken, an denen nicht einmal eine +schwache hellere Färbung verriet, wie hoch die Sonne schon gestiegen +war. Wir waren in das Land der ewigen Dämmerung hineingeraten. Auch am +Kerija-darja hatte ich im Winter 1896 solches Nebelwetter gehabt; es +muß wohl ein charakteristisches Zeichen des Winters der inneren Wüste +sein. Man täuscht sich leicht in den Entfernungen und hält eine Bajir, +in die man hinuntergekommen ist, für lang, weil ihr anderes Ende in +weiter Ferne verschwindet; doch man ist noch nicht weit gelangt, so +steigen schon die sie begrenzenden Dünenwände wie Gespenster aus dem +Boden auf. Die Sandprotuberanzen vor uns gleichen im Staubnebel fernen +Bergketten, und doch sind sie uns ganz nahe. Man täuscht sich beständig +und weiß nicht, wohin man am besten seine Schritte lenkt, und auf dem +Sattel wird man so vom Winde durchkältet, daß man vorzieht, zu Fuß zu +gehen und das Pferd zu führen. + +In der Anordnung des Sandes herrscht beständig dieselbe Regelmäßigkeit +(Abb. 61). Gibt es auch sonst nichts in dieser Wüste, so treffen wir +doch hier eine Kraft, die mit souveräner Allmacht aus diesem flüchtigen +Material ein phantastisches Gebilde -- ein Mittelding zwischen Gebirge +und Meer -- gestaltet. Jede einzelne Düne gibt die Form der großen +Protuberanzen wieder, und die Form der Düne wiederholt sich in den +unzähligen kleinen Wellen, die ihren Rücken kräuseln. Der tiefste Teil +des Wellentales ist stets der, welcher der Basis der steilen Leeseite +zunächst liegt, welches Gesetz auch für die Bajirmulden, die größte +Wellentälerform der Wüste, gilt. Der Sand, der von granitharten Bergen +stammt, muß treu denselben Gesetzen gehorchen wie das wenig beständige +Wasser. Er wälzt sich in Wogen dahin, die denen des aufgeregten Ozeans +gleichen; auch die seinen rollen unwiderstehlich vorwärts, nur ist die +Bewegung unendlich viel langsamer. + +In der Bajir Nr. 33 konnte ich ein gutes Stück vorausreiten. Mich +lockte ein schwarzer Gegenstand, der sich höher erhob als das +tote, vertrocknete Kamisch. Dieses ist selten mehr als ein paar +Dezimeter hoch und sieht aus, als wäre es abgeweidet worden, obwohl +es nur verkümmert und abstirbt, sobald seine Wurzeln nicht mehr zum +Grundwasser hinabreichen. Der schwarze Gegenstand stellte sich als die +erste Tamariske heraus. Noch lebte sie ein schwaches Leben, aber rund +umher lagen längst abgestorbene, vertrocknete Zweige, ein willkommener +Zuschuß zu unserem Holzvorrat. + +Noch eine Stunde konnte ich reiten, ohne diese angenehme Bajir endigen +zu sehen. Auch das Kamisch nahm kein Ende. Es lebt, ja besitzt sogar, +besonders in der Nähe von Flugsand, vom Sommer her einen Anflug von +Grün, ist aber auf ebenem Staubboden abgestorben. Es scheint beinahe, +als sei der Sand für sein Gedeihen erforderlich oder trage dazu bei, +es am Leben zu erhalten. Weitere Tamarisken sind nicht zu sehen; ich +machte daher an einem Punkte Halt, wo das Schilf etwas dichter stand +und gegen den Wind schützte; hier band ich das Pferd an und zündete ein +kleines Feuer an. + +Erst in der Dämmerung kam die Karawane herangezogen. Eines der Kamele, +ein prächtiges Männchen, das beste von den fünfzehn Kaschgarern, war +seit vier Tagen kränklich und ging daher langsamer als gewöhnlich. +Einen Kilometer vom Lager hatten sie es, von der Last befreit, +zurückgelassen, und Kurban war bei ihm geblieben. Doch, als es dunkel +geworden, kam Kurban uns nach, weil es ihm allein bei dem kranken Tiere +zu unheimlich geworden war. Nach dem Abendessen mußten Islam und Turdu +Bai mit einer Laterne und einem Beutel voll Häcksel, der eigentlich +für das Pferd bestimmt war, nach jenem Platze zurückkehren. Sie fanden +jedoch das Kamel tot; es lag mit offenem Maule und halbgeschlossenen +Augen da und war noch warm. Es war rührend, Turdu Bai Tränen vergießen +zu sehen; er liebte die Kamele wie ein Vater und er war von allen +Männern derjenige, der sich am wenigsten am Feuer sehen ließ, da er +sich stets bei den Kamelen zu schaffen machte. Das Tier, welches +zuerst auf dieser Reise verendete, erlag weder der Überanstrengung +noch dem Mangel wie seine vielen Nachfolger. Die Muselmänner sagten: +„Choda kasseli värdi“ (Gott hat ihm eine Krankheit gegeben), und +wahrscheinlich würde es ebenso sicher auf den Steppen des Tarim +gestorben sein wie hier in der Wüste. Die übrigen sechs Kamele befanden +sich vorzüglich. Und doch war es der neunte Tag. In der Takla-makan +waren gerade am neunten Tage zwei Männer, vier Kamele und das ganze +Gepäck liegen geblieben, damals aber waren wir vor Hitze und Durst +verschmachtet, jetzt erstarrten wir fast vor Kälte und hatten Wasser +in genügender Menge. + +[Illustration: 65. Eine alte Tograk am Tschertschen-darja. (S. 182.)] + +[Illustration: 66. Auf dem Eise des Tschertschen-darja. (S. 184.)] + +[Illustration: 67. Am Ufer des Tschertschen-darja. (S. 184.)] + +[Illustration: 68. Sattma in Araltschi. (S. 187.)] + +[Illustration: 69. Tränken der Pferde an einer Wake. (S. 189.)] + +[Illustration: 70. Schilfhütten in Scheitlar. (S. 193.)] + +Wir hatten jetzt den Abschnitt der Wüstendurchquerung erreicht, in +welchem man die großen Schwierigkeiten hinter sich hat und jedes neue +Anzeichen von Leben und Wasser mit Spannung und Interesse wahrnimmt. +Derartige Zeichen blieben auch heute nicht aus. Wir hatten schon das +erste Kamisch und die erste Tamariske passiert. Ich ritt jetzt als +Vorhut über die große, lange Bajir Nr. 33, die sich noch immer wie ein +ausgetrocknetes Flußbett vor mir hinzog. + +Den Boden kreuzten in allen Richtungen Spuren von Hasen, welche Tiere +des Wassers gar nicht zu bedürfen scheinen; auch Fuchsfährten waren zu +sehen. Dann traten einige Steppenpflanzen, Grasflecke und „Tschigge“, +eine am Lop-nor vielfach vorkommende Binsenart, auf. Schließlich +zeigten sich wieder Tamarisken, teils frische, geschmeidige, teils +abgestorbene, die auf den charakteristischen Kegeln thronen, die ihre +längst verdorrten Wurzeln umschließen. + +Das Terrain war eben und vorzüglich; wer hätte ahnen können, daß man +ein solches im Herzen dieser Sandwüste finden würde! Es wehte jedoch +aus Osten so kalt, daß ich bisweilen zu Fuß gehen mußte, um nicht Hände +und Füße zu erfrieren. + +Diese schöne Bajir endete jedoch in einer Sackgasse, und ein ziemlich +hoher Sandpaß war ihr im Süden vorgelagert. Da das Terrain aussah, als +könne hier das Grundwasser erreicht werden, beschloß ich, hierzubleiben +und zu versuchen, einen Brunnen zu graben. + +Islam und Ördek machten sich sogleich ans Brunnengraben, während Turdu +Bai die Kamele versorgte und Kurban Holz sammelte. In einer Tiefe von +1,38 Meter stand Wasser. Es war fast ganz süß und hatte +8,2 Grad +Temperatur, es quoll aber so langsam aus dem Boden des Brunnens, daß +man bei der Verteilung Geduld haben mußte. Abends durften zwei Kamele +nach Herzenslust trinken, jedes nämlich sechs Eimer. + +Jetzt hatten wir alles, was wir brauchten: Wasser, Brennholz und Weide; +es war eine wirkliche Oase in der Tiefe der Wüste. Zwei große Feuer +loderten den ganzen Abend in dem intensiven Winde und erhellten mit +ihrem rötlichen Scheine die Dünenkämme, von denen Flugsand auf uns +herabregnete. Als die Männer meiner Spur folgten, hatten auch sie ein +neues, erfreuliches Anzeichen besserer Gegenden erblickt: einen großen, +schwarzen Wolf, der über die Dünen im Westen fortgelaufen war. + +Dieser Ruhetag war für Menschen und Tiere außerordentlich schön und +notwendig. Wir waren meistens zu Fuß gegangen, die Kamele hatten +schwere Lasten schleppen müssen, und die Kälte greift den Körper an, +wenn man nicht hinreichend Brennholz hat, um sich zu erwärmen. + +Wir machten das Lager so gemütlich, wie es die Umstände erlaubten. +Der weiße Filzteppich, auf welchem mein Bett ausgebreitet zu werden +pflegte, wurde in ein improvisiertes, mit ein paar Tamariskenzweigen +gestütztes Zelt verwandelt, das uns Schutz gegen den Sturm gewährte, +der den ganzen Tag tobte. Auf der vor dem Winde geschützten Seite hatte +ich ein gewaltiges Feuer. Die Leute kampierten auf dieselbe Weise. +Während ich den Tag lesend auf meinem sandbedeckten Bette verbrachte, +tränkten sie die Kamele, was geraume Zeit in Anspruch nahm. + +Das während der Nacht hervorgesickerte Wasser war am Morgen gefroren, +und die ausgegrabene Erde war steinhart. Aus den Stangen eines +Packsattels wurde eine Leiter gemacht, die bis auf den Boden der +Grube reichte, wo Ördek die Eimer mit einer Schale allmählich füllte. +Die Kamele tranken nicht weniger als je neun Eimer, zwei von ihnen +sogar elf, und man sah sie förmlich anschwellen, während sie sich die +Flüssigkeit einverleibten. Ihre Stimmung veränderte sich sichtlich. +Sie wurden munter, spielten miteinander, liefen umher und grasten dann +tüchtig in dem spärlichen Schilfe. + +Der letzte Tag des neunzehnten Jahrhunderts sah am Morgen, als es +noch dunkel war, recht vielversprechend aus; ich sah die Sterne auf +das Biwak herabfunkeln, wo die Tamarisken sich auf ihren Kegeln +gespensterhaft erhoben. Als wir uns aber zum Aufbruch rüsteten, war das +Wetter wieder ebenso unfreundlich wie gewöhnlich. Klare, ruhige Nächte +und wolkenschwere, windige Tage charakterisieren den Winter und halten +die Kälte an der Erdoberfläche fest. + +Heute bedeckte sich die Karawane mit Ruhm; sie legte 24,3 Kilometer +zurück, die längste Tagereise auf dem ganzen Wüstenzuge. + +In den Bajiren Nr. 34, 35 und 36 kam andauernd Vegetation vor, aber die +Tamarisken standen dort zerstreuter. Von dem Grenzpasse der letzten +Mulde scheint sich eine Bajir nach Südosten zu erstrecken; sie lag aber +nicht auf unserem Wege und wurde links liegen gelassen. Ich merkte +allerdings, daß es eine Enttäuschung für die Leute war, sie nicht +benutzen zu dürfen, sondern nach Südsüdwest abbiegen und einen hohen +Paß erklettern zu müssen, doch ihre Überraschung war ebenso groß wie +die meine, als wir von der Höhe herab die Bajir Nr. 37 erblickten, die +groß, breit und offen wie ein Feld war und nicht mehr den Eindruck +einer geschlossenen Arena machte. Der sie im Süden begrenzende Paß +sah aus wie eine sehr niedrige Schwelle, und hinter ihm erhob sich +kein Sand mehr, was ich der bedeutenden Entfernung und der unklaren +Luft zuschrieb. Als wir diese Schwelle endlich überschritten hatten, +zeigte sich vor uns die Depression Nr. 38 ebenso groß und offen. Es +war herrlich; eine unsichtbare Hand schien eine Riesenfurche durch den +Wüstensand gepflügt zu haben, um der Karawane den Weg zu bahnen. + +Wir lagerten vorn in der Mulde, wo wir reichlich Brennholz fanden. +Islam wollte uns von der letzten Kamellast Holz befreien, aber Turdu +Bai, der ein vorsichtiger General war, schlug vor, sie noch eine +Tagereise weit mitzunehmen, eine kluge, verständige Rede. + +So ließen wir uns denn in dieser wunderbaren Neujahrsnacht in Ruhe und +Frieden an zwei großen Feuern nieder in einer Gegend, die so still und +ungestört war, daß nicht einmal die Stille eines weit abseits vom Wege +liegenden vergessenen Grabes ihr darin gleichkam. Unsere Freunde wußten +nicht, wo wir waren, und in Tura-sallgan-ui waren sie ganz gewiß in +Aufregung über unser Schicksal, um so mehr, als ihre Phantasie durch +Islams haarsträubende Beschreibungen über unseren früheren Wüstenzug +und Parpi Bais Schilderung unserer ersten Wüstentage schon erhitzt +worden war. Auch die Kosaken hatten während der Rekognoszierung +gesehen, wie es dort aussah, und gestanden nachher, sie hätten +gefürchtet, daß der Sand uns auf allen Seiten den Weg versperren werde +und wir von unserem eigenen Mute verurteilt seien, vor Durst, Müdigkeit +und Kälte umzukommen. Meine vier Begleiter sagten diesen Abend, daß +sie erst jetzt, nun wir in sicheres, eine Küste anzeigendes Fahrwasser +gekommen, von ihrer Unruhe befreit seien; sie konnten aber nicht +begreifen, wie ich die Entfernung nach Tatran mit solcher Sicherheit +zu beurteilen imstande war. Sie glaubten entschieden, daß meine +Versicherungen und Versprechungen eigentlich nur wohlwollende Versuche +seien, sie zu beruhigen. + +Und nun ging die Sonne in diesem Jahrhundert zum letztenmal unter +-- das konnte man nur daran sehen, daß der trübe, neblige Tag in +nächtliche Schatten überging, die das erste Morgenrot des zwanzigsten +Jahrhunderts verjagen sollte. + +Wenn der erste Tag eines neuen Jahres oder noch mehr der eines +neuen Jahrhunderts eine Vorbedeutung enthalten oder ein Wahrzeichen +zukünftiger Dinge sein soll, so sah die Zukunft an diesem 1. Januar +1900 für uns in Wahrheit düster aus. Der Himmel war in ein schwarzes +Trauergewand gehüllt, und von Morgenrot war nichts zu sehen. Die +Temperatur ging um 7 Uhr jedoch bis -15 Grad hinauf, und als ich +aufstand und mich ankleidete, befand ich mich dank dem großen Feuer in +einem noch gemäßigteren Klima. + +Das einzige, was die Neujahrsstimmung hob, war, daß unsere 38. +Bajir sich vor uns bis ins Unendliche hinzog, und leichten +Schrittes zogen wir in ihrer Mitte dahin. Die Leute hegten sogar +die eitle Hoffnung, dies sei der Anfang der Steppen, die sich am +Ufer des Tschertschen-darja ausdehnen. Die Vegetation wurde jedoch +magerer, nur hie und da ein Grasbüschelchen, einige Schilfstengel +oder eine Tamariske, und zwischen kleinen Löchern in dem hier mit +Sand untermischten Boden huschten Feldmäuse, von den Muselmännern +„Säghisghan“ genannt, hin und her. + +Von dominierenden Punkten aus spähten wir vergebens nach der nächsten +Bajir, doch diese Bildungen schienen jetzt aufgehört zu haben. Der +Blick reichte weit nach Süden: das Sandmeer war wie in der Takla-makan +mehr kompakt, die gewaltigen Sandwände, die wir bisher zur Linken +gehabt hatten, fehlten, weitere Depressionen waren nicht zu sehen, die +ganze Bauart hatte sich mit einem Schlage verändert, aber die Dünen +lagen glücklicherweise immer noch im Norden und Süden. + +Wir hatten es bisher gut gehabt, wir hatten es gehabt wie ein Schiff, +das von der offenen See in Gürtel von Treibeis und Tang hineingekommen +ist. Die Wogen gingen haushoch, und wir kamen verzweifelt langsam +vorwärts, es ging bergauf und bergab über große Dünen. Die Vegetation +hörte beinahe ganz auf. Ich fing wieder an zu vermuten, daß die Oasen, +die wir eben durchquert, von den äußersten in die Wüste vorgeschobenen +Vorposten des Kara-muran herrührten und daß diese Landstrecke auch +wohl bald im Sande begraben sein würde. In diesem Falle konnten wir +uns darauf vorbereiten, bis in die Nähe des Tschertschen-darja nur +schwieriges Terrain zu finden. + +Fern im Osten schien es noch Depressionen zu geben, aber diese lagen +außerhalb unseres Weges. Nach Süden hin war alles gleichmäßig hoher +Sand, nur hie und da dominierten pyramidenhohe Dünenkämme, und der +Horizont glich einem Sägeblatt mit gezähnter Schneide. Noch tauchte +gelegentlich eine verdorrte Tamariske auf ihrem Kegel zwischen den +Dünen auf, aber die Entfernungen zwischen diesen abgestorbenen Bäumen +wurden immer größer. Als wir nach einer mühsamen Wanderung von nur +vierzehn Kilometer wieder eine von etwas Kamisch und trockenen Zweigen +umgebene Tamariske trafen, machten wir daher Halt. + +2. Januar 1900. Als ich bei Tagesanbruch geweckt wurde, umgab mich +eine vollständige Winterlandschaft; es schneite leicht, der Boden +war kreideweiß, und die Dünen hätten ebensogut kolossale Schneewehen +sein können, denn vom Sand war gar nichts zu sehen. Islam war so +vorsichtig gewesen, eine Decke über meine Kiste zu legen, auf deren +Deckel Instrumente und Aufzeichnungsbücher nachts gewöhnlich liegen +blieben. Es war noch halbdunkel, als das Morgenfeuer vor meinem Bette +angezündet wurde, und seine Flammen ließen die feinen Schneekristalle +wie Diamanten glitzern und funkeln. Es waren nicht gewöhnliche +Schneesternchen, sondern Nadeln, als wenn Reif in außerordentlicher +Menge gefallen wäre. + +Während der ersten Marschstunden blieb die Landschaft auf allen Seiten +blendend weiß; ich hatte noch nie Sanddünen in diesem ungewöhnlichen +Gewande gesehen, in diesem weißen Leichentuche, das nur dazu beitrug, +ihre totenähnliche Einsamkeit und Nacktheit zu erhöhen. Gegen Mittag +verschwand die dünne Decke von allen nach Süden gekehrten Abhängen, und +gleich nach Mittag hatten auch die anderen ihren gewöhnlichen gelben +Farbenton wieder angenommen; nur hier und dort in Vertiefungen lag noch +ein kleiner, weißer Streifen. + +Der Sand wurde immer beschwerlicher, und es tauchte keine Bajir mehr +auf, die uns einige ermüdende Schritte hätte ersparen können; alles war +jetzt Sand. Freilich lagen die steilen Leeabhänge stets nach Süden und +Westen, auf zwei ein Netz von Vierecken bildende Dünensysteme deutend, +aber alle Depressionen waren hier längst versandet. Augenscheinlich +herrschten hier weniger regelmäßige Windverhältnisse als in der +nördlichen Hälfte der Wüste. Es war ein Glück, daß wir den Marsch nicht +von Süden her begonnen hatten, denn dies wäre nie gegangen; wir hätten +uns zur Umkehr gezwungen gesehen, und auch noch so große Feuer hätten +den in diesem Winter herrschenden Nebel auf größere Entfernung hin +nicht durchdringen können. + +Um 4 Uhr begann es zu schneien, jetzt aber ordentlich. Wir waren nicht +verurteilt, an Wassermangel zu sterben. Es herrschte ein regelrechtes +Schneetreiben mit Wind aus Südsüdwest. Welch ein Unterschied gegen +die Sandstürme in der Takla-makan! Nach einer halben Stunde war die +Landschaft wieder kreideweiß, und die Schneedraperien schienen von den +Wolken herab auf dem Boden zu schleppen. Die Dämmerung breitete sich +über diesem Chaos von Sand und Schnee aus, und wir suchten und spähten +nach einem Platze, wo wir die Kamele über Nacht anbinden konnten. +Endlich erschien im Süden in einer Entfernung von zwei Kilometer ein +schwarzer Punkt; dorthin mußten wir um jeden Preis. Eine gutgemessene +Stunde gehörte dazu, und es war pechfinster, als wir bei einer +Tamariske anlegten und Brennholz fanden. + +Der fallende Schnee zischte nicht einmal im Feuer, er verwandelte sich +in Dampf, ehe es dazu kam, aber auf den Blättern meines Tagebuches +ließ er sich häuslich nieder. Die freundlichen Oasen hatten gänzlich +aufgehört, und um uns herum lag lauter unfruchtbarer Sand. Ein paar +Stunden lang waren wir an zwei Fuchsfährten entlang gegangen, einer +älteren, nach Norden gehenden, und einer frischen, welche die Rückkehr +des Fuchses nach dem Tschertschen-darja anzeigte. Was mochte er in +der Wüste gesucht haben? Er mußte doch wohl am Flusse ein viel +einträglicheres Jagdrevier haben. + +Ich konnte Ördeks Gedankengang verstehen, wenn ihm in dieser Wüste, +die gar kein Ende nahm, in der nicht einmal die Sonne schien, und in +die wir uns immer tiefer hineinverirrten, unheimlich zumute wurde. +Er sprach mit Begeisterung von den Ufern des Tarim, den Seen, den +Kähnen und den Fischnetzen wie von einem Paradiese, in das er nie +zurückkehren würde. Er sprach von den Schwänen, jenen himmlischen, +gefühlvollen Vögeln, welche die Seen zu besuchen pflegen. „Wird das +Männchen erschossen,“ erzählte er, „so grämt sich das Weibchen zu +Tode und weicht nicht von dem Platze, wo sein Beschützer ermordet +worden ist.“ Er habe einmal einen Jäger eine Kugel in eine fliegende +Schar hineinschicken sehen, worauf zwei Schwäne herabgestürzt seien. +Das Männchen sei tödlich getroffen gewesen, und das Weibchen sei ihm +gefolgt, sich in der Verzweiflung mit dem Schnabel die Brust zerfetzend. + +Die Kamele waren jetzt so angegriffen, daß wir ihnen einen Ruhetag +gönnen mußten. In einer Tiefe von 1,13 Meter fanden wir Wasser mit +schwach bitterem Beigeschmack, und Schnee war auch genug da. Der Boden +war 33 Zentimeter tief gefroren. Es schneite den ganzen Tag heftig in +dichten, großen Flocken. Die Leute machten kleine Entdeckungsreisen in +die Nachbarschaft, und in der Dämmerung kam Turdu Bai mit zwei Kamelen +zurück, die je eine volle Last trockenen Brennholzes, das er in der +Nähe gefunden hatte, trugen. Die Flocken prasselten auf die uralte +Zeitung, die ich in der Hand hielt, und glitten an ihr herunter. Oft +mußte ich das Blatt schütteln, um die Worte unterscheiden zu können. +Auch um die Mittagszeit herrschte Halbdunkel, und Dünen, Erdboden und +Himmel verschmolzen zu einem einzigen, weißen, wirbelnden Durcheinander +in höchst unangenehmer, matter, ungleichmäßiger Beleuchtung. Noch am +späten Abend dauerte das Schneewetter an. + +Die Nacht wurde für uns im Freien Liegende recht kalt; das +Minimumthermometer zeigte -30,1 Grad, um 7 Uhr -27 Grad und um 8½, +als ich aufstand, -24 Grad. Das ist recht kühl für ein Toilettenzimmer, +besonders, da ich mich stets entkleidete und im Schlafrocke schlief. +Am scheußlichsten ist das Waschen und Anziehen, wenn man auf der +Feuerseite +30 Grad und im Rücken -30 Grad hat. Die ganze Nacht +schneite es gleich stark, und am Morgen war ich so vollständig im +Schnee begraben, daß Islam mich mit Spaten und Kamischbesen aus +der Schneehülle befreien mußte. Dafür hatte der Schnee aber dazu +beigetragen, mein Nest warm zu halten; ich hatte gar nichts von der +nächtlichen Kälte gemerkt. Es ist zu schön, wenn man erst einmal in den +Kleidern steckt und mit dem Pelze über den Schultern vor dem Feuer +sitzt und seinen Tee trinkt! + +Der Schnee fiel den ganzen Tag, und die Temperatur brachte es nur zu +-13 Grad, was bitterkalt ist, wenn man den Wind gerade entgegen hat. +Das Terrain war nicht unvorteilhaft. Wir konnten oft zwischen den +schlimmsten Dünen hindurchkreuzen, und schließlich zeigten sich wieder +einige kleine Mulden, die jetzt nach Südsüdost gerichtet und voller +Sand waren. In einer solchen, Nr. 43, lagerten wir, obwohl dort keine +Spur von Feuerungsmaterial war. Wir besaßen jedoch noch eine halbe +Kamellast von unserem ursprünglichen Vorrat; da alle halb erstarrt +waren, mußte sie diesen Abend draufgehen, geschehe, was da wolle. + +Auf den nach Süden gerichteten steilen Dünenabhängen vermag sich der +frischgefallene Schnee nicht lange zu halten. Nur auf den Nordseiten +der Dünen bleibt er liegen, und in den Dünentälern ist er mehrere +Zentimeter tief. Wirft man einen Blick nach Norden, so sieht man fast +nur Sand, nach Süden bloß Schnee. + +5. Januar. Endlich hatten die Wolkenmassen, die uns während der ganzen +Wüstenreise verfolgt hatten, sich entschlossen, sich von ihrem Inhalte +zu trennen, denn der Schnee fuhr die ganze Nacht fort, lautlos wie +Watte zu fallen, und am Morgen waren sogar die Stellen, wo unsere Feuer +gebrannt hatten, verschneit. Alle unsere Sachen mußten unter dem Schnee +hervorgesucht werden. Auch die Kamele lagen überschneit im Kreise da +und sahen mit den kleinen Schneewehen auf dem Rücken, Puder in der +Perücke und Eiszapfen im Kinnbarte und am Maule ganz barock aus. + +Jetzt war nicht einmal ein Streifen gelben Sandes zu sehen. Am +Vormittag lagen die steilen, nach Westen gerichteten Abhänge im +Schatten und hatten eine prachtvolle Färbung -- stahlblau in +verschiedener Schattierung, je nach der wechselnden Abschüssigkeit des +Hanges, -- zu oberst aber wölbten sich die weißen Kuppeln der Dünen, +intensiv von der Sonne beleuchtet. + +Die hohen Sandprotuberanzen hatten auffallende Ähnlichkeit mit dem +in ewigen Schnee gehüllten Kamme einer Bergkette; ich glaubte hier +ein Miniaturbild des Transalai mit dem durch eine hohe Dünenpyramide +dargestellten Pik Kauffmann wiederzuerkennen. Das blaßblaue Farbenspiel +war dasselbe. Es blendete die Augen. Ich hatte eine doppelte +Schneebrille, und alle Männer trugen dunkle Brillen. Doch war die Luft +nicht rein, wie sie es im Gebirge an klaren Tagen ist. Die feinen +Kristallnadeln erlaubten uns nicht, Umrisse und Formen über eine +Entfernung von einem Kilometer hinaus deutlich zu unterscheiden; weiter +fort verschwindet alles in undurchdringlichem Schneenebel. Und das war +gut, denn das Terrain war nach Süden hin wenig ansprechend. Lauter +immer höher werdende Berge von Sand, kein sandfreier Fleck von auch nur +einem Quadratmeter Größe, keine Vegetation, weder lebende, noch tote. + +Im Laufe des Tagemarsches erlitt die Schneedecke gewisse Veränderungen. +Trotz des Schmelzens und der Verdunstung wurde sie um so dicker, je +weiter wir nach Süden gelangten, was seinen Grund darin hat, daß die +Schneemenge mit der Entfernung von den Bergen, denen wir uns jetzt +langsam näherten, abnimmt. Manchmal hatte der Schnee eine harte Kruste, +und man hätte lange Strecken auf den Schneeschuhen zurücklegen können. +Wer hätte geglaubt, daß dies in einer Sandwüste möglich sein würde! + +Im allgemeinen wurde unser Marsch durch den Schnee erleichtert, denn +infolge der Regelierung an den Berührungsflächen des Schnees und des +Sandes wurde die Tragkraft des Bodens größer. Namentlich waren alle +Kämme hart wie Eis, und auf die steilen Abhänge brauchte man nur +den Fuß zu setzen, so rutschten schon Schollen von 20 Quadratmeter +Größe hinunter. Jetzt hätte nicht einmal der heftigste Buran den Sand +aufzuwirbeln vermocht, denn der Schnee wirkte wie Öl auf die Wellen. + +Am 6. Januar blieb das Sandmeer sich gleich, ja seine Wogen gingen wenn +möglich noch höher. Islam wandert an der Spitze, wird aber müde und +besteigt ein unbeladenes Kamel. Turdu Bai ist unermüdlich, er führt die +Karawane wie eine Lokomotive ihre Güterwagen. Wenn ich gehe, um mich +warm zu halten, darf Kurban auf meinem munteren Pferdchen reiten. + +Der Lagerplatz war von allen, die wir bisher gehabt hatten, der +schlechteste, eine Grube im Sandmeere, in der nicht einmal ein vom +Winde verschlagenes Blatt zu entdecken war. Es ist im Bette, wenn man +sich schlafen legt, beinahe -20 Grad kalt, und man muß sich eine Weile +gedulden, ehe die Glieder wieder so elastisch werden, daß man sich der +Situation gewachsen fühlt und alle die Diebslöcher, durch welche die +Nachtkälte eindringt, zustopfen kann. Diese Nacht ließen die Kälte +und der Wind uns kaum schlafen, und am Morgen hatten wir der -24 Grad +starken Kälte nur noch ein paar Scheite entgegenzusetzen. Die Leute +lagen auf einem Haufen, um sich aneinander zu wärmen, und waren von +der Bekanntschaft mit diesem unheimlichen Lande, in das wir uns wie +Holzwürmer in eine Planke hineingebohrt hatten, völlig entmutigt. + +Am nächsten Morgen waren wir erst um 10 Uhr hinreichend aufgetaut, um +unseren Weg fortsetzen zu können. Die Luft war außergewöhnlich klar, +und im Süden zeigte sich zum ersten Male die äußerste, Tokkus-dawan +genannte Kette des Kwen-lun. Im Norden war der Himmel rein und blau, +im Süden aber zogen tiefhängende weiße Wolken, die man oft kaum von den +beschneiten Dünen unterscheiden konnte. + +[Illustration: 71. Meine Kosaken Tschernoff, Sirkin und Schagdur. (S. +195.)] + +[Illustration: 72. Meine burjatischen Kosaken Tscherdon und Schagdur +mit tibetischer Jagdbeute. (S. 198.)] + +[Illustration: 73. Basch-tograk. (S. 202.)] + +[Illustration: 74. Tamariskendickicht. (S. 203.)] + +[Illustration: 75. Der Teich bei Kurbantschik. (S. 204.)] + +Von dem Gipfel einer Düne aus machte ich eine erfreuliche Entdeckung. +Als ich den fernen südlichen Horizont mit dem Fernglase musterte, fiel +mir etwas auf, das sich gegen den Schnee wie schwarze Baumstümpfe +abhob und nichts anderes sein konnte als toter Wald. Die Stelle lag +etwas aus unserem Wege, gegen Südost, aber ich ließ die Karawane +nichtsdestoweniger dorthin ziehen, und wir schlugen am Abend unser +Lager unter Massen von abgestorbenen, verdorrten Pappelstämmen auf. + +Mit vermehrter Lebenslust und frischem Mute gingen die Leute an die +Arbeit. Sie schaufelten den Schnee fort und ließen die Äxte zwischen +den Tograkbäumen tanzen, so daß wir bald ganze Stöße von Brennholz +hatten. Ein unmittelbar neben dem Lager stehender Stamm war zum Fällen +zu dick; er wurde deshalb, so wie er war, in Brand gesteckt und +beleuchtete wie eine Riesenfackel das weiße Leichentuch der Wüste. +Quer über mein Feuer wurde eine hohle Pappel gelegt, durch welche die +Flammen wie durch ein Rohr leckten. Sie glühte, krachte, wurde von +innen erleuchtet und glänzte wie Rubine, bis die Rinde platzte und +sich wie in Verzweiflung unter der rasenden Gewalt des losgelassenen +Elementes wand. Gewaltige Rauchsäulen stiegen zum Monde empor, der +jetzt seit langer Zeit zum ersten Male wieder aus seinem Wolkenversteck +hervortrat. Meine Leute überlisteten diesen Abend die nächtliche +Kälte; sie schaufelten Gruben in den Sand, füllten sie mit glühenden +Holzkohlen, schütteten sie wieder zu und legten sich dann darauf +nieder. Die Kamele haben seit zwei Tagen kein Futter erhalten, und die +Hunde bekommen nur Brot. + +Am 8. Januar sollten wir aus der Macht der Wüste befreit werden. Als +wir aufbrachen, sagte ich den Leuten, daß sie diese Nacht am Ufer +des Tschertschen-darja schlafen würden. Wir nahmen kein Brennholz +mit, da wir vor uns überall dürre Stämme sahen, doch sie wurden immer +vereinzelter, und bei dem letzten, wo der hohe Sand wieder anfing, +beluden wir ein Kamel mit Holz. + +Als wir den Gipfelpunkt eines dominierenden Dünenkammes erreicht +hatten, zeigte sich im Südosten das erste Anzeichen des ersehnten +Zieles: eine dunkle Linie am Horizont, die sich scharf gegen die ewige, +weiße Schneedecke abhob. Das mußte der Waldgürtel am Tschertschen-darja +sein! + +Nachdem wir noch eine Stunde marschiert, gelangten wir an die ersten +Tamariskenkegel; ihre Grenze war außerordentlich scharf, kein einziger +Strauch überschritt sie, und der Sand, dessen letzte Abhänge langsam +nach dem Vegetationsgürtel abfielen, hörte ebenso plötzlich auf. Nun +zogen wir in ein vollständiges Labyrinth von Tamarisken hinein; sie +standen so dicht, daß zwischen ihnen nur schmale, gewundene Gänge +waren; auf diesen zwängten wir uns in unzähligen Zickzackbiegungen +durch, wobei die Kamellasten so dicht an den trockenen Zweigen +vorbeischrammten, daß diese krachten. + +Die Leute wollten gern in einem Haine von uralten Pappeln bleiben, wo +alles, dessen wir bedurften, im Überfluß vorhanden war; ich gab ihnen +jedoch die Versicherung, daß, wenn sie sich noch eine Weile geduldeten, +wir am Flußufer selbst lagern würden. Nach einer Viertelstunde +erreichten wir auch den Weg, der von Tschertschen nach dem Lop führt +und auf dem wir im Schnee frische Spuren von Kühen und Schafen +erblickten. Wir folgten diesem Wege eine Strecke, bis er das Flußufer +berührte, und schlugen hier auf einem kleinen Hügel, von dem wir die +schneebedeckte, 100 Meter breite, in dem Rahmen der dunkeln Uferwälder +kreideweiß erscheinende Eisdecke des Tschertschen-darja überschauen +konnten, das Lager auf. Es war sehr angenehm, am Fuße dieser gewaltigen +Bäume rasten und die schöne Aussicht genießen zu können. Die Berge +zeichneten sich scharf und deutlich ab, und der Schnee glitzerte im +Mondschein. Am allerbesten war es jedoch, daß unsere sechs Kamele und +das Pferd sich jetzt in die Schilffelder vertiefen konnten, nachdem sie +die Probe so rühmlich bestanden hatten. Meine Leute waren verwundert, +daß ich die Entfernung fast bis auf eine „gulatsch“ (Klafter) hatte +berechnen können, und erklärten, daß sie mir jetzt überallhin folgen +würden, ohne sich auch nur einen Moment zu bedenken. + +Der Punkt, an dem wir den Fluß erreichten, liegt nach meiner früheren +Karte (Petermanns Mitteilungen Ergänzungsheft Nr. 131) 285 Kilometer +von dem Punkte entfernt, an dem wir den Tarim beim Tana-bagladi +verlassen hatten. Nach dem jetzt aufgenommenen Bestecke betrug die +Entfernung 284,5 Kilometer. Eine größere Genauigkeit kann man bei +solchem Terrain nicht verlangen. + +Es war mir also gelungen, die große, breite Tschertschen-Wüste zu +durchqueren, und zwar ohne weitere Verluste als den eines Kameles und +ohne die übrigen, die noch wohlbeleibt waren, zu überanstrengen. Den +höchsten Sand hatten wir im Norden gehabt, den schwersten aber im +Süden, wo sich die Dünen auf keine Weise hatten umgehen lassen. Daß +alles so gut gegangen, hatte seinen Grund in dem unerwarteten Vorkommen +von Mulden, die etwa zwei Drittel des Weges ausmachten, sowie darin, +daß wir mitten in der Wüste Wasser, Brennholz und Kamisch gefunden +hatten. In einer älteren Auflage der Karte des russischen Generalstabs +über die südlich von der sibirischen Grenze liegenden Gebiete hatte ich +einen Weg eingetragen gefunden, der diese Wüste von Tatran nach einem +Punkte im Westen von Karaul kreuzt. Diese Angabe, die wohl begründet +sein mußte, hatte mich zuerst auf den Gedanken gebracht, diese +gefährliche, lange Wüstenwanderung zu versuchen, und ich halte es jetzt +nicht für unmöglich, daß ein solcher Weg früher wirklich hat vorhanden +sein können. + +Die Kamele verdienten einen ganzen freien Tag in den üppigen +Kamischfeldern; dies traf sich auch insofern gut, als ich eine +astronomische Beobachtung machen mußte, die den ganzen Tag und Abend in +Anspruch nahm. Die Temperatur erhob sich nicht über -14 Grad, und da es +obendrein noch leicht aus Norden wehte, konnte ich mit dem Theodoliten +nicht arbeiten, ohne mir zwischen den Ablesungen die Hände am Feuer +wieder geschmeidig zu machen. Als ich am Abend bei -25,1 Grad den +Sirius observierte, klebten meine Fingerspitzen an dem Instrumente, das +sich glühend heiß anfühlte, fest. + +Ördek machte sich auf die Suche und fischte wirklich einen von Kopf +bis zu Fuß in Schaffelle gehüllten Hirten auf. Dieser war über so +unerwartete Gäste in seinem friedlichen Walde ganz verdutzt. Wir +wurden aber bald bekannt und gute Freunde; er verkaufte uns ein Schaf, +das eine angenehme Abwechslung in unseren Küchenzettel brachte, und +erschien abends noch mit einer Kanne Milch für uns. Die ergiebigen +Schneefälle der letzten Tage waren für die 400 Schafe, die er und +seine beiden Kameraden hüteten, verhängnisvoll geworden; mehrere waren +erfroren, und die übrigen hatten nur mit Schwierigkeit an ihre Weide +gelangen können. Die Waldgegend nannte er +Keng-laika+ (das +breite Überschwemmungsgebiet). Der Fluß war schon 20 Tage zugefroren +und würde es noch 2½ Monate bleiben. Der Tschertschen-darja friert +also bedeutend später zu als der Tarim, er hat aber auch ein größeres +Gefälle und liegt südlicher. + +Wir hatten nur noch 7 Kilometer bis Tatran; nach dem Bestecke hätte +die Entfernung ungefähr eine Tagereise mehr betragen müssen. Der +Unterschied beruht auf der Mißweisung des Kompasses, die in dieser +Gegend 6 Grad nach links von der Richtung des Weges ausmacht, d. h. +daß man, wenn man nach dem Kompasse z. B. direkt nach Süden zu gehen +glaubt, in Wirklichkeit nach Süden 6 Grad Osten geht. + +Der 10. und 11. Januar brachten uns auf dem Wege, den ich von meiner +vorigen Reise her kannte, nach Tschertschen. + +Zu meiner Freude hörte ich, daß Tschertschen vor einem Monate einen +Bek erhalten hatte, der kein anderer war als mein alter Freund aus +Kapa, Mollah Toktamet Bek. Nach seinem Hause begaben wir uns und +wurden dort herzlich empfangen. Er war mit seinen 72 Jahren und +seiner aristokratischen Erscheinung noch ganz derselbe sympathische, +liebenswürdige Greis wie früher und stellte uns sofort sein Haus zur +Verfügung. Ich ließ mich an dem offenen Herde in einem Hinterzimmer +nieder, die Leute mit dem Gepäcke in einem vorderen. Dies war das +erste von den wenigen Malen, die ich auf der ganzen Reise im innersten +Asien unter einem Dach schlief. + +Die Einwohnerschaft von Tschertschen war jetzt auf etwa 500 Familien +angewachsen. Unter ihnen rasteten wir vom 12. bis zum 15. Januar, denn +sowohl die Leute wie die Tiere bedurften der Ruhe. Ich benutzte jedoch +die Zeit gut und zog Erkundigungen über die umliegenden Gegenden ein. +Unaufhörlich erreichten uns unbestimmte Gerüchte von in der Wüste +begrabenen Städten und Schätzen und besonders von einer alten Stadt, +die am unteren Andere-terem, 170 Kilometer westlich von Tschertschen, +liegen sollte. Doch wie ich auch die Eingeborenen verhörte, bestimmte, +zuverlässige Angaben konnte ich nicht erhalten. Sie fürchten, man +könne dorthin gehen und all das Gold finden, das ihre Phantasie so +freigebig unter den Dünen ausbreitet, zugleich aber glauben sie auch, +daß die alte Stadt der Wohnsitz der Wüstengeister sei und nach deren +Belieben ihre Lage verändere. Ein Mann erzählte, er habe sich nach dem +Andere-terem begeben und dort einen 15 Klafter hohen, zylinderförmigen +Turm von blauer Fayence gesehen; dieser habe ihm aber so seltsam und +unheimlich ausgesehen, daß er es nicht gewagt, näher heranzugehen. +Nachdem er sich beruhigt habe und, fest entschlossen, drinnen nach +Gold zu suchen, dorthin zurückgekehrt sei, sei der Turm verschwunden +gewesen. Er wollte es daher nicht unternehmen, mich dorthin zu führen, +denn er war felsenfest davon überzeugt, daß der Turm in der Wüste +umherwanderte und alle Nachforschungen vereiteln würde. + +Die Gegend zwischen Tschertschen und Andere war eine der wenigen +Landstrecken Ostturkestans, die ich noch nicht bereist hatte; ich +beschloß daher, einen Abstecher dorthin zu machen, obschon es sich um +einen anstrengenden Ritt von 340 Kilometer handelte. Außer dem Führer, +den der Bek zum Mitkommen zwang, wollte ich nur drei Diener mitnehmen, +Ördek und Kurban, sowie Mollah Schah, einen Einwohner von Tschertschen, +der mit Littledale durch Tibet gereist war. Drei neue Pferde wurden +gekauft und ebenso viele für unser Gepäck gemietet. Islam Bai, Turdu +Bai, die Kamele, das Wüstenpferd und Dowlet II sollten in Tschertschen +bleiben und sich ordentlich ausruhen, während Jolldasch seinem Herrn, +wohin dieser auch ging, treu folgte. + +Vorher wartete meiner in Tschertschen noch eine große Freude. Am +Morgen des 13. Januar traf einer der Winterdschigiten des Konsuls +dort ein, Musa, derselbe Mann, der 1896 in Chotan mein Dolmetscher +bei den Chinesen gewesen war. Er brachte eine gutgefüllte Posttasche +mit. Ich hatte also reichliche Lektüre an Briefen und Zeitungen aus +der Heimat und verschlang ihren Inhalt mit großem Genusse vor dem +lodernden Herdfeuer im Hause des Beks. Wie es Musa gelungen ist, mich +so leicht zu finden, ist mir noch heute ein Rätsel. Es war verabredet +worden, daß die Kuriere über Aksu nach der Lopgegend gehen sollten; +aber Musa erklärte einfach, er habe „es im Gefühle gehabt“, ich müsse +im südlichen Teile des Landes sein. Islam Bai wollte gehört haben, daß +Musa in Tschertschen eine Herzallerliebste habe und diese wohl auf +dem Wege habe besuchen wollen. Gesegnet sei die Schöne, wenn ich ihr +meine Post verdankte! Wäre Musa zwei Tage eher angekommen, so hätte +ich die Post erst bei der Ankunft in Tura-sallgan-ui in Jangi-köll +erhalten, denn weder der Bek noch sonst jemand in Tschertschen hatte +die geringste Ahnung davon, daß wir aus der Tiefe der Wüste auftauchen +würden, und Musa hätte dann seinen Weg nach Osten fortgesetzt. + + + + +Sechzehntes Kapitel. + +Dreihundertvierzig Kilometer in 30 Grad Kälte. + + +Auf kleinen, munteren, ausgeruhten Pferden traten wir am Morgen des +16. Januar den kleinen Ausflug von 340 Kilometer an. In langsamem Trab +ging es auf dem +Astin-joll+ (unterer Weg) (Abb. 62) nach Nija. +Auf demselben Wege war im Jahre 1889 Hauptmann Roborowskij von General +Pjewzoffs Expedition geritten; es war so gut wie das einzige Mal auf +meiner ganzen Reise, daß ich auf dem von mir eingeschlagenen Wege nicht +der erste war. + +Rasch lassen wir Tschertschens äußerste Gehöfte hinter uns und sind nun +draußen in einer öden, unfruchtbaren Gegend auf einem Wege, der rechts +und links von durch Winderosion entstandenen Lehmterrassen eingefaßt +ist. Der Pfad ist einem dunkeln Bande gleich in dem weißen Schnee +leicht erkennbar. An dem zugefrorenen Brunnen von +Kallaste+ (der +aufgehängte Schädel) wird am ersten Abend Rast gemacht. + +Als ich am Morgen bei 22 Grad Kälte geweckt wurde, standen Sonne und +Mond gleich hoch über dem Horizont und hatten genau dieselbe rotgelbe +Färbung. Hätte man nicht die Himmelsrichtungen gekannt, so hätte man +beim ersten Anblick in Zweifel sein können, welches das Tages- und +welches das Nachtgestirn sei. + +Schnell wieder in den Sattel! Ein greulicher Westwind erhob sich +und durchkältete Mark und Bein. Man versuche nur, bei 20 Grad Kälte +gegen den Wind anzureiten und dabei sklavisch an das Marschroutenbuch +gebunden zu sein. Die Hände erstarren, und man muß die Feder anfassen +wie den Stiel eines Hammers, sonst hat man keine Kraft in den Fingern. +Einen solchen Tag vor sich zu haben, ist eine recht schöne Aussicht. +Länger als eine halbe Stunde hintereinander im Sattel zu sitzen, geht +nicht an; man muß absteigen, laufen und mit den Füßen stampfen, um +nicht zu erfrieren. + +Bei dem Brunnen von +Kettme+ waren wir schon so erschöpft, +daß wir eine Viertelstunde rasten mußten, um uns an einem kleinen +Feuer zu erwärmen; dann ging es in schnellem Trab über den schwach +wellenförmigen Boden nach +Jantak-kuduk+, wo wir wieder eine +Weile rasten mußten, um warm zu werden. Dasselbe Manöver wurde am +Brunnen von +Ak-bai+ wiederholt. + +Am Tage darauf lag eine neue Schneedecke so leicht und weich wie +Daunen über der alten, hartgefrorenen. Die Landschaft ist trostlos +einförmig und öde; kein Tier war zu sehen, nur Spuren von Hasen +und Wolfsfährten zeigten sich im Schnee. Dünnes Kamisch, in weiten +Zwischenräumen stehende Tamarisken und vereinzelte Pappeln wechseln +mit unfruchtbarem Boden und Sandgürteln ab. +Tailak-tuttgan+ ist +ein größerer Brunnen; schon sein Name ist interessant, er bedeutet +„das gefangene wilde Kameljunge“ und verrät, daß diese Herrscher der +Wüste hier vorzeiten vorgekommen sind; jetzt fehlen sie ganz. Namenlose +Brunnen sieht man häufig; sie sind von verschmachtenden Sommerreisenden +gegraben, die nicht bis zum nächsten größeren Brunnen haben warten +können. + ++Osman Bai-kuduk+ trägt den Namen des Mannes, der diesen Brunnen +grub und damit seinen Namen der Nachwelt überlieferte, obwohl er +selbst längst vergessen ist und niemand weiß, wer er war. Gleich +hinter dieser Raststelle nimmt der Sand zu, und es folgt ein Gewirr +von Tamariskenkegeln, zwischen denen sich der Pfad verliert wie ein +gewundener Hohlweg, in dem sich gut Verstecken spielen läßt. + +Das Bett des Kara-muran war leer und ausgetrocknet; nicht einmal +eine Eisscholle war zu sehen. Es ist 1-2 Meter tief in den Lehmboden +eingeschnitten, hat eine Breite von 70-100 Meter und soll im Sommer +zeitweise bedeutende Wassermassen in die Wüste führen. + +Bei +Toktekk+ wurde in der Dämmerung gelagert, weil wir frische +Spuren von Hirten sahen. Auf der ganzen Tagereise hatten wir nur einen +einsamen Wanderer erblickt. Es war ein armer Schlucker, der, nur von +seinem Hunde begleitet, zu Fuß nach Kerija ging. Der Hund hinkte in +jämmerlichem Zustand einher; er war blutüberströmt, sein eines Ohr war +abgerissen, das andere baumelte wie ein Lappen. Der Mann erzählte, daß +der Hund in der Nacht mit einem Wolfe im Kampfe gewesen und von ihm so +zugerichtet worden sei. Es muß unheimlich sein, mitten im Winter allein +und unbewaffnet den Weg zwischen Tschertschen und Kerija zurückzulegen. +Der Mann sagte aber ganz ruhig, an sein mit Feuerstein und Zunder +angezündetes Feuer wagten sich die Wölfe nicht heran, und bei Tage +hielten sie sich gewöhnlich abseits. + +Nach 28 Grad Kälte in der Nacht auf den 19. mußten wir wieder in +kleinen Entfernungen zwischen den Rastfeuern vorwärts. Wir haben eine +Gegend erreicht, die durch die Flüsse von den Nordabhängen des Kwen-lun +reichlicher bewässert wird und daher reicher an Vegetation ist. +Links haben wir noch immer unfruchtbaren Sand, rechts aber Steppe und +bewaldete Hügel. + +In +Pakka-kuduk+ hörten wir von Norden her Rufe, und Mollah Schah +machte bald einen netten, braunbärtigen Hirten ausfindig, der uns nach +einer luftigen Hütte führte, in welcher der Bai, der Besitzer der in +dieser Gegend weidenden Schafherden, mit seiner Familie wohnte. Nur im +Winter hält er sich hier auf, im Sommer wohnt er am Andere-terem; dann +herrscht in diesem ganzen Landstrich eine gräßliche Hitze mit Myriaden +von Mücken und Moskitos. Die Wölfe bereiten den Schafbesitzern große +Verluste; gegen größere Rudel können die Hunde nichts ausrichten. Man +sagt, daß, wenn der Wolf ein Schaf nur streife, dieses schon vor Angst +und Schrecken sterbe. Komme nicht rechtzeitig Hilfe herbei, so werde +die ganze Herde zerrissen. + +Am Brunnen von +Schudang+ fanden wir auch einen Hirten, der etwa +zehn Esel tränkte. Der Brunnen ist 3 Meter tief, liegt in einer Mulde +und hat ganz süßes Wasser. Hier steht eine Lenger (Herberge), welche +die Chinesen vor vier Jahren erbaut haben. In den auf einer Terrasse +gelegenen Lehmhütten der Hirten von Schudang ließen wir uns nieder +(Abb. 63). Wir hatten es hier warm und gut; abends kam der Bai und +verkaufte uns zwei Schafe, die sofort geschlachtet wurden. + +In Schudang holten wir einen Reisenden aus Tschertschen ein, einen +chinesischen Siah (Schreiber), der auf dem Wege nach Kerija war, um +dort vor dem Amban Rechenschaft über sein Amt abzulegen. Gleich uns +blieb er dort, um sich einen Tag auszuruhen, und wir tauschten Visiten +aus. Als wir am folgenden Morgen aufbrachen, hatte er von seinem +Opiumrauchen gräßliche Kopfschmerzen. + +Der +Mölldscha+ ist, wie ich in „Durch Asiens Wüsten“ mitgeteilt +habe, da, wo er den oberen Weg schneidet, ein mächtiger Fluß, hier +aber, auf dem Astin-joll, gewahrt man ihn kaum, weil er sich deltaartig +in mehrere veränderliche Arme teilt. Hierdurch wird die Bewässerung +wirkungsvoller und die Vegetation reicher. Doch scheint der Kara-muran +ein mächtigerer Fluß zu sein, der sich wahrscheinlich tiefer in die +Wüste hinein erstreckt und auch wohl seinerzeit die Vegetation erzeugt +hat, die in den von uns durchzogenen Bajirmulden noch ein kümmerliches +Dasein fristet. + +Bei +Tschaltschik+ lagerten wir in einer kleinen Hütte, durch +deren aus einigen Zweigen bestehendes Dach es ebenso stetig schneite +wie draußen. Von jetzt an begleitete uns ein Eingeborener zu Fuß, um +dem Wegweiser Turduk beim Führen zu helfen. + +[Illustration: 76. Tal zwischen Kurbantschik und Budschentu-bulak. (S. +204.)] + +[Illustration: 77. Tograk-bulak. (S. 204.)] + +[Illustration: 78. Ruine bei Jing-pen. (S. 205.)] + +[Illustration: 79. Tschernoffs wildes Kamel. (S. 213.)] + +[Illustration: 80. Eines unserer zahmen Kamele. (S. 213.)] + +Die Hirten, die in diesen vor den Blicken der Welt so abgesperrten +Gegenden ihre Tage verleben, sind gutmütige, freundliche Leute, die +nur anfänglich eine gewisse Scheu vor dem Fremdling zeigen, aber, +nachdem sie sich überzeugt haben, daß er keine bösen Absichten hegt, +bald zutraulich werden. Sie sprechen alle mit weicher, milder, durchaus +nicht unangenehmer Stimme, die den Eindruck macht, selten zu ertönen +und beinahe vor ihrem eigenen Klange zu erschrecken. Unser Hirt +hatte eine wirklich schön klingende Stimme, die er übrigens in allen +möglichen Nuancen und so leise und vorsichtig ertönen ließ, als fürchte +er sich vor dem Sprechen. Hätte man nur seine Stimme gehört, so würde +man ihn für einen Mann von weit höherem Bildungsgrad gehalten haben, +aber sein Aussehen zeigte, daß er ein echter Wilder war. Er trug einen +Schafpelz, eine Pelzmütze und Schuhe von demselben Material, sah mit +seinem nie gewaschenen Gesichte so dunkel wie ein Indianer aus, hatte +schmale, schrägliegende Augen, eine dicke Nase und fleischige Lippen +und war völlig bartlos. Religion hatte er jedoch, denn als wir an einem +Masar vorbeiritten, blieb er stehen und strich sich mit den Handflächen +über das Gesicht, wie es die Muselmänner bei ihrem „Allahu ekbär“ immer +tun. + +Am Morgen des 22. Januar waren wir wieder ganz eingeschneit. Wir +verlassen jetzt die Straße und schlagen auf ungebahnten Wegen die +Richtung nach der „alten Stadt“ ein. Das Terrain war scheußlich. +Zwischen einem Chaos von Tamariskenkegeln liegen kleine, lockere +Sanddünen, die im Verein mit dem frischgefallenen Schnee das Vordringen +entsetzlich langsam und anstrengend machen. Die Pferde waten im Sande +und sinken bei jedem Schritte fußtief ein. + +Auf solchem Terrain gelangten wir schließlich an die Ruine eines +Hauses, das zwei quadratische Zimmer enthalten hat. Die aus Lehm +bestehenden Mauern und ein Gerippe aus Pfählen und Stangen standen noch +aufrecht bis zu einer Höhe von 5,8 Meter. Sie waren so dick und stark, +daß man in ihnen eine Festung früherer Zeiten vermuten konnte. Wir +lagerten in geringer Entfernung bei den Ruinen einiger uralter Türme. +Der Schnee lag so hoch, daß er die genauere Untersuchung dieses an und +für sich armen Ruinenfeldes in hohem Grade erschwerte. + +Im Laufe des Abends nahm das Schneien so zu, daß wir, die wir kein +Zelt hatten, einige Vorsichtsmaßregeln ergreifen mußten. Mein Bett +wurde, wie gewöhnlich, auf der Erde aufgeschlagen, nachdem der Schnee +fortgeschaufelt worden war, und meine kleine Kiste vor das Kopfende +gestellt. An dieser wurde eine Filzdecke befestigt, deren anderes +Ende ein paar Tamariskenzweige trugen, und die wenigstens meinen Kopf +schützte, während der untere Teil des Bettes sich allmählich mit +richtigen Schneewehen bedeckte. Während der Nacht weckte mich plötzlich +etwas, das mein Gesicht wie eine eiskalte Hand berührte. Es stellte +sich heraus, daß es die Filzdecke war, die infolge des Gewichtes des +Schnees heruntergeglitten war; ein Teil der kalten Niederschläge hatte +längs meines Halses seinen Weg in das Bett hinein gefunden. Nahe am +Feuer sind die Filzdecken wie in Schlamm getaucht. + +Am andern Tage wurde die Kona-schahr (alte Stadt) in Augenschein +genommen. Eine ziemlich massive Lehmmauer ragte aus dem Schnee hervor, +und mehrere Wälle und Trümmerhaufen zeigten die Plätze früherer +Häuser an. Wir fanden Spuren von einem Kanal, der anscheinend aus dem +nahegelegenen Flusse Bostan-tograk nach diesem Orte hingeleitet worden +war. Die am besten erhaltene Ruine war ein zirka 10,5 Meter hoher Turm +von 24,2 Meter Umfang mit einer Öffnung oder Schießscharte oben an der +einen Seite, wohin man jedoch nicht ohne Leiter gelangen konnte, da das +Innere des Turmes kompakt war. Im Südosten sah man noch zwei Türme. +Sie hatten also alle in einer Reihe gelegen und wahrscheinlich einen +alten Weg markiert. Rote und schwarze Scherben von gebrannten Ziegeln +kamen in großer Menge vor. Spuren von Inschriften oder Ornamenten waren +nirgends zu entdecken, und alles war sehr von der Zeit mitgenommen. +Leider wurde eine genauere Untersuchung durch den fußhohen, alles +nivellierenden Schnee erschwert. + +Es mag hier eingeschaltet sein, daß ~Dr.~ Stein von Rawalpindi +während der höchst interessanten, verdienstvollen und ergebnisreichen +Reise, die er 1900-1901 hauptsächlich zu archäologischen Zwecken +durch Ostturkestan machte, auch den unteren Andere-darja besuchte und +dort die Ruinen eines alten Ortes entdeckte. Von besonders großer +Bedeutung sind die von ihm ausgegrabenen Manuskripte. Ich empfehle +jedem, der sich für die archäologischen Probleme in Innerasien +besonders interessiert, aufs wärmste Steins vortreffliche Arbeit. +«~Archæological Exploration in Chinese Turkestan. Preliminary +Report~» (London 1901), um so mehr als die von mir am Lop-nor +gemachten Entdeckungen durch Steins gründliche Untersuchungen an +anderen Stellen in klarerem und vielseitigerem Lichte erscheinen. -- + +Wir ritten am Abend nach dem +Bostan-tograk+ weiter, dessen +Flußbett bis zu 8 Meter tief in den Boden eingeschnitten und 141 Meter +breit ist; es war mit Eis gefüllt, das einen halben Meter dick war und +direkt auf dem Schlammgrunde ruhte. Daß das Eis so dick wird, beruht +darauf, daß eine Quelle den ganzen Winter hindurch das Bett hinabfließt +und nach und nach gefriert, wobei das Eis an Dicke zunimmt. Bei Andere +führte dieser Quellstrom 3 Kubikmeter Wasser in der Sekunde. Der +Bostan-tograk ist also auch in seinem Unterlauf ein ansehnlicher Fluß; +wo der Fluß aufhörte, ein solcher zu sein, eine gute Strecke weiter +nach Norden, lag früher die Ansiedlung Andere-terem, die aber jetzt +verlassen ist. + +Wenn das Lager fertig ist, macht sich Turduk allabendlich seine Pfeife +zurecht, wozu recht originelle Anstalten nötig sind. Er schneidet sich +zwei Stäbchen und steckt sie so in die Erde, daß das eine senkrecht, +das andere in einem Winkel von 45 Grad nach oben zeigt, beide aber +von demselben Punkte ausgehen. Dann wird feuchter Lehmteig um sie +herumgelegt und dicht an sie herangedrückt, worauf die Stäbchen +entfernt werden. In die Öffnung des so gebildeten vertikalen Ganges +wird eine Fingerspitzevoll von dem sauren, schlechten Tabak des Landes +gelegt, an dem Ende des schrägen Ganges wird der Rauch eingesogen. Die +Stellung desjenigen, der sich dieses raffinierte Genußmittel zu Gemüt +führt, ist jedoch weder bequem noch graziös. Der Raucher muß der Länge +nach auf dem Bauche an der Erde liegen. -- + +Am folgenden Tage setzten wir unseren Weg längs des Bostan-tograk nach ++Andere+ und dem +Baba-köll+ fort, von wo aus wir den Rückweg +nach Tschertschen antraten. Unterwegs trafen wir nur eine Eselkarawane, +die Häute von wilden Yaken und Kulanen aus den nordtibetischen Bergen +nach Kerija brachte. Es wurde ein kalter Ritt. In der Nacht auf den 25. +Januar hatten wir -29,6 Grad, und das Maximum stieg selten über -14 +Grad. Man ist der Kälte und dem Winde völlig preisgegeben und gerät +in einen Zustand apathischer Gleichgültigkeit. Jetzt brauchte ich +wenigstens keine Wegaufnahme zu machen, denn wir kehrten auf demselben +Wege, den wir gekommen, wieder zurück, und ich konnte also die Hände in +die Ärmel meines sartischen Wolfspelzes stecken. + +In der Nacht auf den 27. sank die Temperatur auf -31,2 Grad, und +als sie um 1 Uhr auf -16 Grad stieg, erschien uns die Luft, da es +windstill war, beinahe temperiert. Wir ritten schnell. Die Hufe +schlugen dumpf und eintönig auf die gefrorene Erde. Vornübergebeugt, +zusammengekauert, saßen wir mit gekreuzten Armen im Sattel und ließen +den Pferden freie Zügel. Erst im Lager wurde bemerkt, daß Kurban und +ein Packpferd fehlten. Um Mitternacht kam er jedoch zu Fuß an, halbtot +vor Kälte. Sein Pferd war zu müde gewesen, und er hatte es bei Turduk +zurückgelassen. + +Den letzten Tag ritten wir von +Jantak-kuduk+ nach Tschertschen +in 10 Stunden, nachdem wir nachts eine Minimaltemperatur von -32,2 +Grad gehabt hatten, was in diesem ganzen Winter das Minimum blieb. +Wir brachen indessen erst spät auf, so daß wir noch mehrere Stunden +in finsterer Nacht reiten mußten und die nächtliche Kälte wieder +anfing. Es war schneidend kalt und dazu herrschte noch Gegenwind, der +freilich schwach war, aber hinreichte, um uns im Sattel fast vor Kälte +erstarren zu lassen. Ich versuchte, mein Gesicht durch ein Halstuch +zu schützen; aber der Atem gefror und erstarrte im Barte und an der +Nase; das Tuch schützte jedoch ein wenig gegen den schneidenden Wind. +Am schlimmsten ist es für die Augen, denn wenn sie vom Winde tränen, +kleben die Wimpern zu kleinen Eisklumpen zusammen, die man von Zeit zu +Zeit entfernen muß, um die Augen öffnen zu können. + +Schön war es daher, endlich an Ort und Stelle zu gelangen und sich an +den Feuern im Hause des Bek erwärmen zu können, heißen Tee mit frischen +Eiern, Brot und Honig zu bekommen und dann in die Koje zu kriechen, +um noch ein paar Stunden schwedische Zeitungen zu lesen und sich an +dem züngelnden, gemütlichen Spiele des Feuerscheines an den Wänden zu +freuen, während Jolldasch, müde von der langen, kalten Reise, lang +hingestreckt am Feuer schnarchte. + +Das Ergebnis dieser Rekognoszierung war weniger reich, als ich gehofft, +und kaum die dreizehn Tage, die ich geopfert hatte, wert. Dennoch waren +mehrere wichtige geographische Beobachtungen gemacht worden, besonders +hinsichtlich der Ausdehnung der Sandgürtel in diesem Teile des Landes, +der Breite der Vegetationsgebiete und der Größe der Flüsse nebst ihrer +Richtung, die nördlicher ist als auf Roborowskijs Karte, was seinen +Grund in dem langsamen Gefälle des Tarimbeckens nach dem Lop-nor hat. + + + + +Siebzehntes Kapitel. + +Zwischen vergessenen Gräbern und ausgetrockneten Flußbetten. + + +Der 30. Januar war ein wenig einladender Tag zum Aufbruche von +Tschertschen: Wind, dichte Wolken, Schneefall und ein eiskalter, +feuchter Nebel und dabei mittags um 1 Uhr noch -15 Grad. Wir brachen +indessen doch auf. Wir waren eine recht stattliche Karawane mit sechs +Kamelen, fünf Pferden und einer ganzen Schar Bürger von Tschertschen, +die uns bis an den Fluß begleiteten. Mollah Schah wurde fest bei mir +angestellt; er schien mir sehr brauchbar für die Reise nach Tibet. Sein +Abschied von der Vaterstadt, von seiner Frau und seinen sechs Kindern +war so ruhig, als handelte es sich um einen Ausflug von ein paar Tagen. +So leicht verläßt kein Europäer sein Heim, wenn er es erst in 2½ +Jahren wiedersehen soll. + +Wir folgten nicht dem gewöhnlichen Wege auf dem linken Ufer des +Flusses, sondern überschritten ihn und durchzogen in den ersten beiden +Tagen die Steppen des rechten Ufers, um in +Keng-laika+ zu lagern, +wo wir zuerst an den Fluß gelangt waren und wo ich einen astronomisch +bestimmten Punkt hatte. + +Es war jetzt meine Absicht, so genau wie möglich das alte Bett des +Tschertschen-darja festzustellen, das nach Roborowskij, der es jedoch +nie selbst gesehen hatte, etwa 65 Kilometer nördlich von dem jetzigen +liegen sollte. Dies war das Problem, das jetzt zu lösen war und das zu +dem ursprünglichen Programme gehörte. Es stellte sich nachher heraus, +daß die Angaben, welche Roborowskij von den Eingeborenen erhalten +hatte, unzuverlässig gewesen waren und einer Revision bedurften. + +Um uns ordentlich vorzubereiten und uns vor allem zwei zuverlässige +Führer zu sichern, opferten wir einen Rasttag in Keng-laika. Fanden +wir das alte Bett, so mußten wir auf eine neue, wenn auch kleinere +Wüstenreise vorbereitet sein, denn wir mußten dem Bette folgen, um zu +sehen, wohin es führe. + +Von den Hirten erhielten wir sofort die unerwartete Auskunft, daß die +nördliche der beiden Bodensenkungen, die wir in der Wüste gesehen, +sich schon bei Su-ößgen, eine Tagereise abwärts, mit dem Flusse +vereinige. Unterhalb dieses Punktes gebe es ihres Wissens im Norden des +Flusses kein altes Bett, sondern nur lauter hohen Sand, und was dieser +verberge, wisse niemand; dies hatten wir auf unserer Wüstenwanderung +selbst schon zur Genüge gesehen. + +Bei einem kleinen Salztümpel, dem +Schor-köll+, verließen wir am +2. Februar den Tschertschen-darja und gingen durch Tamariskensteppen +und toten Wald nach dem +Tschong-schipang+, wie das hintere +alte Bett genannt wird (Abb. 64). Es ist sehr deutlich, hat ungefähr +dieselbe Breite wie der jetzige Fluß, bildet eine wenig gewundene +Rinne im Boden und hat hohe, deutliche Uferwälle oder nivellierte +Erosionsterrassen mit Tamarisken oder vereinzelt stehenden, teils +lebenden, teils verdorrten Pappeln (Abb. 65). Nach Norden hin erstreckt +sich in unabsehbarer Ferne das Sandmeer. Auf dem rechten Ufer des +Bettes fanden wir einige größtenteils versandete Hirtenhütten, die wohl +ein- bis zweihundert Jahre alt waren. + +Weiter oben teilt sich das Bett in zwei Arme, von denen der rechte +nach dem Tschertschen-darja zurückgeht, der linke aber nach Ostnordost +weiterzieht. In diesem befinden sich die wohlerhaltenen Reste zweier +aus Reisig und Pfählen hergestellter Dämme; ihr Zweck ist gewesen, den +Fluß zu zwingen, sich nach rechts zu wenden, was jedoch, wenigstens +hier, nicht gelungen ist. Auch dieser Arm führte uns allmählich wieder +nach dem Tschertschen-darja, den wir bei Su-ößgen erreichten. + +Als wir festgestellt hatten, daß in dieser Gegend nördlich vom Flusse +kein altes Bett vorhanden ist, zog ich es vor, am rechten Flußufer, +wo es keinen Weg gibt, entlang zu wandern. Hier entdeckten wir indes +einen Kona-darja oder alten Fluß, ein Beweis dafür, daß sich der +Tschertschen-darja nicht immer nach rechts wendet, wenn er seinen Lauf +verändert. + +In der Nähe des verlassenen Bettes trafen wir die massigsten Pappeln, +die ich in ganz Ostturkestan je gesehen habe. Sie sind nicht mehr +als 6 oder 7 Meter hoch, aber zwei, die wir maßen, hatten an der +Erdoberfläche einen Umfang von 4,75 und 6,80 Meter. Der eigentliche +Stamm ist nicht viel mehr als einen Meter hoch, worauf er sich in +bizarre, knorrige, dichtbelaubte Zweige teilt. Das Vorkommen derartiger +Bäume beweist, daß der Fluß hier jahrhundertelang geströmt hat. Denn +wenn man sich der Altersbestimmung der Eingeborenen, daß die Tograk +tausend Jahre lebe, tausend Jahre verdorrt auf ihrer Wurzel stehe +und tausend Jahre umgestürzt liegen bleibe, ehe sie vergehe, auch +nicht gerade anschließt, so kann man doch überzeugt sein, daß diese +Veteranen verschiedene Jahrhunderte auf dem Nacken haben. + +Gleich hinter diesen Pappeln, die als Einsiedler unter lauter +Tamarisken standen, führten uns die Wegweiser nach einem alten +muhammedanischen Begräbnisplatze mit mehreren Gumbes und den Überresten +einiger Häuser, von denen das größte 15 × 13 Meter maß. Durch den Platz +lief ein deutlicher Kanal nach ebenso deutlichen Ackerfeldern. + +Wir lagerten an ein paar Gräbern, die wir am 4. Februar genauer +untersuchten. Vor drei Jahren waren sie von einigen Hirten +ausgegraben worden. Diese hatten natürlich geglaubt, Gold oder andere +Wertsachen darin zu finden. Jetzt standen drei Särge am Fuße des +Tamariskenkegels, in dem sie begraben gewesen waren. Zwei von den +Leichen, die eines älteren Mannes und die einer Frau in mittleren +Jahren, waren gut erhalten. Die Haut umschloß dicht das Skelett und +war hart wie Pergament. Die Frau war mir besonders interessant. Ihr +vollkommen unbeschädigtes Haar war im Nacken mit einem roten Bande +zusammengebunden und hatte eine rotbraune Farbe, die bei den Asiaten, +an die man hier denken könnte, deren Frauen ihr Haar überdies stets in +Flechten tragen, selten vorkommt. Der Schädel hatte indoeuropäische +Form, die Stirn war hoch, die Augen lagen gerade, die Jochbeinbogen +standen wenig hervor, und die schmale Adlernase hatte längliche, +beinahe parallele Nasenlöcher. Es ging daraus unzweideutig hervor, +daß man keine Chinesin oder Mongolin vor sich hatte. Dazu kam, daß +ihre Kleidung nicht asiatisch war. Sie hatte eine Art Hemd von grober +Leinwand an, das enganliegende Ärmel hatte und sich nach unten +rockartig erweiterte. Die asiatischen Frauen haben weite Ärmel und +bauschige Beinkleider, aber nie Röcke, weil diese ihnen, die nach +Männerweise reiten, nur hinderlich sein würden. Um die Stirn hatte sie, +ebenso wie der Mann, eine kleine dünne Binde gehabt, die jetzt beinahe +ganz zu Staub geworden war. An den Füßen trug sie rote Strümpfe. Bei +beiden Leichen waren die Nägel beschnitten, nicht wie bei den Chinesen +langgewachsen. + +Von der Kleidung des Mannes war nicht mehr viel vorhanden. Das weiße +Haar war nicht wie bei den Chinesen teilweise abrasiert, noch weniger +in einen Zopf geflochten. In seinem Sarge lag ein einfacher Holzkamm. +Die Särge waren schnell und provisorisch zusammengeschlagene Laden von +sechs Pappelbrettern mit parallelen Seiten, ebenso hoch wie breit und +etwas länger als die Leichen. Ganz in der Nähe sahen wir die Überreste +einer alten Hütte, deren Wände aus ineinander geflochtenem Reisig +bestanden. + +Alles schien anzudeuten, daß die Toten Russen waren, und mir stieg +gleich der Gedanke auf, es könnten zwei von den Raskolniken, den +russischen Schismatikern, sein, die in den zwanziger Jahren des +19. Jahrhunderts von Sibirien nach dem Lop-nor flohen und von deren +weiteren Schicksalen nichts bekannt ist. Der Tamariskenkegel, in +den die beiden Särge hineingestellt gewesen, hatte damals, als das +Begräbnis stattfand, wohl ebenso ausgesehen wie jetzt. + +Unter den jetzigen Bewohnern Ostturkestans findet man oft Typen, die +durch Kreuzung mit arischem Blut einen großen Teil der Kennzeichen +der mongolischen Rasse verloren haben; doch daß diese Leichen keine +muhammedanischen waren, bewiesen die Särge, denn die Muselmänner +begraben ihre Leichen nicht in Särgen. Die Hirten behaupteten, daß +mehrere andere Kegel ebenfalls Gräber umschlössen, konnten uns aber +keine mehr zeigen. Vielleicht hat einmal eine ganze Raskolnikengemeinde +diesen vor jeder Religionsverfolgung geschützten Ort aufgesucht. Leider +fehlte den Särgen jede Spur von Inschrift. + +So überließen wir denn diese geheimnisvollen Gräber ihrer ewigen Ruhe +in der Einöde und gingen auf dem rechten Ufer weiter. + +Während der letzten Stunden gingen wir auf dem Eise des +Tschertschen-darja, das uns beinahe wie ein eigens für uns angelegtes +Asphalttrottoir erschien, -- so eben und gut ging es sich dort nach +all dem Gestrüpp und den trockenen Ästen, die im Walde umherlagen +(Abb. 66). Nur in den nach Nordosten gerichteten Krümmungen hatte +der Wind den Schnee vom Eise gefegt; sonst lag dieser überall +dezimeterhoch, und die auf dem Eise ungeschickten und hilflosen Kamele +hatten also hier nichts zu fürchten. An diesem Flusse vermissen +wir die energischen Züge des Tarim; das Bett ist nicht so kräftig +ausgemeißelt, wird aber auf den Ufern von den unvermeidlichen Pappeln, +Tamarisken und Kamischfeldern begleitet. Auf dem rechten Ufer ist der +Vegetationsgürtel breiter als auf dem linken, wo er von dem von Norden +herandrängenden Sande, dessen hohe, unfruchtbare Dünen gewöhnlich über +dem Walde zu sehen sind, stark beeinträchtigt wird. + +Am 5. Februar marschierten wir teils auf dem Eise, teils auf dem +rechten Ufer in alten Betten, die den verlassenen Krümmungen des Tarim +entsprechen (Abb. 67). Tigerspuren kreuzten wir oft. Auf dem Eise lag +mitten in einer großen Blutlache das Fell eines Rehs, und um die Lache +herum sah man die Spuren von drei, vier Wölfen. Sie hatten ihrem Opfer +augenscheinlich auf dem Eise aufgelauert, um es zum Ausgleiten zu +bringen, es auf diese Weise überrumpelt und dann einen Schmaus gehalten. + +[Illustration: 81. Eisschollen in der Oase Altimisch-bulak. (S. 222.)] + +[Illustration: 82. Abdu Rehims Beute. (S. 223.)] + +In einem anderen verlassenen Bette, das seit Menschengedenken +kein Wasser mehr geführt hat, hing an der Spitze einer Stange ein +Hirschschädel; die Gegend heißt infolgedessen +Kallaste+ (der +aufgehängte Schädel), welcher Name sich im innersten Asien oft +wiederholt. Der Zweck dieses Nischan (Zeichen) ist zu zeigen, wo +der Weg geht, wenn dieser aus irgendeinem Grunde, wie Flugsand, +Überschwemmung, Buschholz oder dergleichen, schwer erkennbar ist. + +Die Kälte dauerte an. In der Nacht auf den 6. hatten wir -29 Grad, +aber unerschöpfliche Vorräte von vorzüglichem Brennholz. Bei ++Ak-ilek-lenger+ gingen wir nach dem linken Ufer hinüber. +Über der Stromrinne knackte das Eis unter dem Gewichte der Kamele +recht beunruhigend. Die Karawane begab sich von hier direkt nach ++Buguluk+ am Tschertschen-darja, während ich mit zwei Begleitern +in dem alten Bette weiterritt, das bei Ak-ilek anfängt und ein paar +Kilometer nördlich von dem jetzigen Flusse liegt. Es ist reich an +lebender, frischer Vegetation. Als wir gerade vor Buguluk waren, +ließen wir das Bett linkerhand liegen und vereinigten uns wieder mit +den Unsrigen, die schon an dem Punkte lagerten, wo die Straße von +Tscharchlik nach Tschertschen den Fluß kreuzt. Ich hatte diesen Punkt +1896 besucht; wir blieben jetzt einen Tag dort. + +Leider mußten wir hier von unseren beiden Führern, welche die Gegenden, +in die wir jetzt kamen, nicht genau kannten, Abschied nehmen und +unseren Weg allein suchen, bis wir wieder Menschen trafen. + +Der eine unserer Führer wußte nur zu erzählen, daß sich einmal ein +Hirte aus dem unteren Keng-laika nordwärts in den Sand hineinbegeben +habe und schließlich an eine „Kona-schahr“ gelangt sei. Hier habe er +acht Tschugune (Kupferkannen) und 40 Ketmene (Spaten) gefunden und +mit so viel von der Beute, wie er zu tragen vermocht, den Rückzug +nach seiner Hütte angetreten. Während seiner Abwesenheit hätten +Wölfe seine Schafe zerrissen, was man allgemein als Strafe für seine +Habgier angesehen habe. Er sei darauf nach dem Fundort zurückgekehrt +und habe Spaten und Kannen wieder an den Platz gelegt, von dem er sie +fortgenommen habe. + +Auf derartige Erzählungen kann man natürlich keine Pläne bauen, und es +ist überhaupt am besten, nur das zu glauben, was man selbst gesehen und +erlebt hat. + +Toktamet Bek hatte mir auch eine Räubergeschichte erzählt, die +jedoch den Eindruck der Wahrheit machte. Er war einmal in seinem +Hause in Tschertschen von sieben Dieben, die in später Nacht bei ihm +angeklopft hatten, überfallen worden. Auf seine Frage, wer da sei, +hatten sie den Namen eines seiner Bekannten genannt, weshalb er sofort +öffnete. Da hatte einer aus der Bande ein Messer gezogen und ihn +mit dem Tode bedroht, wenn er nicht schweige und sich binden lasse. +Unterdessen plünderten die anderen sein Haus und setzten sich in den +Besitz aller Wertgegenstände, sowie einer Summe von 2000 Tenge in +geprägtem Silber. Dann hatten sie die Flucht ergriffen und den Bek +gebunden mitgeschleppt, damit er keine Gelegenheit habe, Leute zur +Verfolgung aufzubieten. Das Interessanteste aber war, daß die Bande von +Wasch-schahri den Tschertschen-darja überschritten und sich nordwärts +nach dem Tarim begeben hatte, wobei sie einem alten Bette, anscheinend +dem Ettek-tarim, gefolgt war. Es war sicher nicht das erste Mal, +daß dieses Bett, dessen Bekanntschaft wir bald machen sollten, von +flüchtigen Missetätern als Rückzugslinie benutzt wurde. + +8. Februar. Jetzt wanderten wir am linken Ufer des Tschertschen-darja +abwärts, teils um nicht denselben Weg zurückzulegen wie Roborowskij, +teils um zu erforschen, ob sich auf dieser Strecke alte Betten vom +Flusse abzweigen oder sich mit ihm vereinigen. Der Fluß ist oft mächtig +angeschwollen, und das Ufergebiet bildet eine Terrasse, die ein paar +Meter über der Eisfläche liegt. Nur an einem Punkte trat der Sand dicht +an den Fluß heran; dort fielen 10 Meter hohe Dünen steil nach dem +Eise ab. In einem kleinen Tograkhaine wurde das Lager aufgeschlagen. +Obgleich der Tag wie gewöhnlich trübe gewesen, war der Sonnenuntergang +doch herrlich, und ein purpurnes Licht ergoß sich über die Dünen, die +wie auf dem Sprunge standen, auch dieses kleine Vegetationsband, das +der Fluß speist, zu verschlingen. + +Der junge Kurban, der anfangs einen so vielversprechenden Eindruck +machte, schien in Wirklichkeit ein Schlingel zu sein. So verschwand +er z. B. an diesem Abend, nachdem es dunkel geworden war. Alle Tiere +befanden sich im Lager, so daß er nicht bei ihnen sein konnte, und +sein Pelz war auch da, obwohl es 18 Grad Kälte hatte. Als er Stunde +auf Stunde ausblieb und man befürchten mußte, daß Wölfe ihn überfallen +hätten, wurden Leute auf die Suche nach ihm ausgeschickt. Nach langer +Zeit kehrten sie mit dem Jüngling zurück, der während des Tagemarsches +ein Paar Stiefel von einer Kamellast verloren hatte. Islam Bai +hielt dem Bengel, der sich später zu einem ausgewachsenen Schelme +entwickelte, eine Strafpredigt. Es war ja nichts dabei, daß er ein Paar +Stiefel verloren hatte, aber es war dumm von ihm, nicht zu sagen, daß +er sie zu suchen beabsichtige. Wir hatten gefürchtet, er sei irgendwo +eingeschlafen und könne über Nacht erfrieren. + +9. Februar. Erst diese Nacht ließ uns hoffen, daß die ärgste +Winterkälte vorüber sei; das Minimumthermometer zeigte nur -20,1 +Grad, und die Temperatur hob sich im Laufe des Tages auf -7,6 Grad; +so warm hatten wir es seit dem 28. Dezember nicht gehabt. Das Terrain +war gut, und wir konnten 30 Kilometer zurücklegen -- am Tage vorher +wurden es nur 26 --, aber das Land ist trostlos einförmig, und +vergebens schaut man nach Menschen aus. Ich war dieser Wüstenei recht +überdrüssig und sehnte mich nach einem dankbareren Felde. Wir zogen +rasch und in geraden Peilungen über die Steppe zwischen 30 Meter hohen, +unfruchtbaren Dünen zur Linken und dem Flusse zur Rechten. Der Fluß +gleicht noch immer einem kreideweißen Bande, doch große Strecken sind +Anschwemmungen, die jetzt, da alles mit Schnee bedeckt ist, von der +Eisdecke fast gar nicht zu unterscheiden sind. + +Am folgenden Tage stieg die Temperatur um 1 Uhr auf -2,2 Grad, und +wir hatten den ersten Frühlingssturm aus Nordosten, der indessen nur +ein schwacher Vorläufer der heftigen Stürme war, die den Frühling im +Loplande charakterisieren. Auf der Wanderung nach Nordosten fanden +wir ein augenscheinlich ganz verlassenes Bett. Seine Breite betrug 32 +Meter, und es war 6½ Meter tief in den Boden eingeschnitten. Es hat +also eine völlig andere Gestalt als der jetzige Fluß, der seicht und +wohl fünfmal so breit ist, was sich sicher darauf zurückführen läßt, +daß der neue Fluß sein Bett noch nicht hat vertiefen können. An den +Ufern stand dichter, toter, noch wurzelfester Pappelwald. Im Grunde des +Bettes war der Boden an einigen Stellen recht heimtückisch. Zwei Kamele +versanken geradezu in losem, leichtem, kartoffelmehlähnlich trockenem +Staube. Sie mußten mit Spaten wieder herausgegraben werden. + +Vom Anfange dieses alten Bettes an, das sich längs der Grenze +des Sandmeeres hinzieht, hört aller Pappelwald an den Ufern des +Tschertschen-darja auf; die wenigen dort vorkommenden Bäume sind nicht +älter als 30 Jahre. Der ehemalige, jetzt tote Wald begleitet dagegen +das verlassene Bett. + +Am 11. Februar trafen wir bei der Sattma von +Araltschi+ am linken +Ufer des Tschertschen-darja endlich Menschen (Abb. 68). Es waren ein +Mann, zwei Knaben und zwei Frauen mit 600 Schafen, sechs Kühen und +einigen Pferden und Eseln. Sie teilten uns mit, daß das alte Bett, +dem wir gestern gefolgt waren, sich in das äußerste Gebiet des Sandes +hineinziehe und sich weiter abwärts mit dem Ettek-tarim vereinige. In +einem Monate erwarten sie die „Mus-suji“, die Eisschmelzflut, die zehn +Tage lang so gewaltig dahinströmt, daß der Tschertschen-darja dann +nicht durchwatet werden kann; wenn diese Frühlingsflut vorbei ist, +bleibt nicht viel Wasser in dem Bette zurück und es ist sehr seicht, +bis im Spätsommer das eigentliche Hochwasser aus dem Gebirge kommt und +es aufs neue füllt. + +Jetzt zogen wir auf dem zugefrorenen Flusse weiter nach Osten. Dieser +ist so breit wie ein See, und sein Boden liegt beinahe in gleicher Höhe +mit den Ufern; im Schilfe des Ufers waren große, jetzt zugefrorene, +überschwemmte Strecken zu sehen. Der Name +Keng-laika+ (das +ausgedehnte Anschwemmungsgebiet) ist eine sehr passende Bezeichnung +für das ganze ausgedehnte Delta des Tschertschen-darja. Daß dieser +Teil des Flusses ein sehr junges Gebilde ist, sieht man ganz deutlich; +es kann nicht lange her sein, seit der Fluß in dieses südliche Bett +übergesiedelt ist. + +In einem kleinen Pappelhaine bei +Jiggdelik-agil+ ließen wir uns +in der Nähe von zwei Hütten nieder und richteten uns für einen Rasttag, +der der Ortsbestimmung gewidmet werden sollte, häuslich ein. + +Ich schlief mich an diesem Ruhetage gründlich aus. Man darf nicht durch +Gardinen verwöhnt sein, wenn man unter freiem Himmel schläft, besonders +nicht, wenn man erst am hellen Tage und bei schon hochstehender Sonne +erwacht. Und man darf sich nicht vor den Hirten und ihren Familien +genieren, die sich die Morgentoilette des Fremden mit der größten +Verwunderung ansehen, während die frei umhergehenden Kamele dicht neben +dem Bette vorjährige Pappelblätter auflesen. + +Mollah Chodscha, der Herr des Ortes, wußte gut Bescheid; als ich ihn +aber bat, uns den Weg nach dem Ettek-tarim, dem früheren Bette des +Tschong-tarim, zu zeigen, leugnete er hartnäckig, ihn zu kennen. Er log +offenbar, um uns nicht begleiten zu müssen. Meine Leute wollten ihm +eine Tracht Prügel verabreichen, um ihn gefügiger zu machen; da mir +dieses gewiß wirksame Verfahren jedoch nicht zusagte, beschlossen wir, +ihn beim Aufbruch ganz einfach gebunden mitzunehmen und ihn mit dem +jetzt bedeutend zusammengeschmolzenen Gepäck auf eines der Kamele zu +laden. + +Indessen rettete ihn ein für beide Teile glückliches Ereignis von allen +Schikanen. Mein alter Freund aus Tscharchlik, Togdasin Bek, kam abends +in unserm Lager an, weil er vom Amban jener Stadt Befehl erhalten +hatte, nach mir Ausschau zu halten und mir seine Dienste zur Verfügung +zu stellen. Daher war es ihm ein Vergnügen, mich nach dem Ettek-tarim +zu führen, dessen Bett ihm schon zweimal als Straße gedient hatte, und +er machte mir über dieses Bett höchst unerwartete Mitteilungen, die mit +denjenigen, die ich 1896 von Kuntschekkan, dem Bek von Abdall, erhalten +hatte, genau übereinstimmten. Der Ettek-tarim, sagte er, ist erst seit +30 Jahren verlassen. Vor dieser Zeit strömte die Hälfte der Wassermenge +des Tarim (Jarkent-darja) durch dieses Bett. + +Togdasin Bek war einmal auf diesem Wege, wo es jetzt keinen Tropfen +Wasser gibt, sogar in einem Boote gerudert. Das zweite Mal hatte er +den Ettek-tarim 1877 gesehen, als der berühmte Nias Hakim, Bek von +Chotan, der Vertraute und Mörder Jakub Beks, mit einer Karawane von +Kamelen, Eseln und Mauleseln von Chotan nach Korla flüchtete, bei +welcher Gelegenheit Togdasin Bek ihm diesen Ogri-joll (Diebsweg) zeigen +mußte, auf dem alle diejenigen entlang schleichen, die auf dem großen +Karawanenwege den Dienern der Gerechtigkeit in die Hände zu fallen +fürchten. + +13. Februar. Noch immer hoher Sand zur Linken. Der gute alte Bek zeigte +uns jetzt den Weg, und es war merkwürdig, wie gut er Bescheid wußte, +obwohl er seit 23 Jahren nicht hier gewesen war. Der Ortssinn der +Asiaten ist oft unglaublich scharf ausgebildet. Togdasin konnte z. B. +sagen. „Wenn wir noch ein paar “joll„ gehen, kommen wir an eine Stelle +mit besserer Weide“ und er irrte sich dabei nie. + +Die Kamele sind während der Brunstzeit, deren Höhepunkt gerade +im Februar ist, gefährlich und boshaft. Wir haben bloß Hengste +und müssen aufpassen, daß sie einander nicht verletzen. Im Lager ++Koschmet-kölli+ wurden jedoch zwei Bestien handgemein. Sie +kämpften in blinder Wut, die Köpfe am Boden hinstreckend, wickelten +ihre Hälse umeinander wie Schlangen, rangen und stießen aus allen +Kräften, bissen und schlugen nach allen Seiten aus, und der Geifer +spritzte dabei wie Seifenschaum umher. Der Stärkere fuhr seinem Gegner +mit dem Kopfe zwischen beide Vorderbeine, um ihn umzuwerfen. Gelingt +dies, so kann der Besiegte froh sein, wenn er ohne ernste Verletzungen +davonkommt. Das muß jedoch verhindert werden. Alle Männer eilen herbei. +Am Nasenstricke ziehen nützt nichts, denn dies fühlt das Kamel, wenn +es vor Wut schäumt, gar nicht. Nein, sie schlagen die Kämpfenden so +lange mit Knüppeln auf die Nase, bis sie voneinander ablassen und +schaumbespritzt und blutig mit vor Haß glühenden Augen nach ihren +Weideplätzen zurückkehren. Wir mußten, wenn wir lagerten, den ärgsten +Raufbolden stets die Vorderbeine zusammenbinden und ihnen auf dem +Marsche Halftern anlegen. + +Am 14. Februar machten wir einen ganz kurzen Tagemarsch von nur 15 +Kilometer, weil wir bei +Basch-agis+, dem letzten Punkte, wo wir +Wasser bekommen konnten, Halt machen mußten (Abb. 69). Der nördlichste +Arm des Tschertschen-darja biegt an diesem Punkte nach Südosten ab nach +dem Lop-kölli, wie der Kara-buran hier ausschließlich genannt wird. Wir +hatten drei Tagereisen in wasserloser Gegend vor uns und mußten für +unseren eigenen und den Bedarf der Pferde ein paar Säcke Eis mitnehmen. + +Um 1 Uhr zeigte das Thermometer +0,4 Grad; es war das erste Mal seit +dem heiligen Abend, an dem wir +0,1 Grad hatten, daß das Quecksilber +über Null stand. Doch ging die Temperatur in der Nacht bis -24 Grad +herunter. + +Als wir am 15. Februar nach Nordosten wanderten, entfernten wir uns +nach und nach von dem hohen Sande, der jedoch noch immer in etwa 5 +Kilometer Entfernung zu sehen war. + +Am +Julgunluk-köll+ (Tamariskensee) erreichten wir den +Ettek-tarim, dessen Bett von hier an nach Süden geht und der seinerzeit +unweit des jetzigen Fischerdorfes Lop in den Kara-buran mündete. Wir +folgten seinem Laufe den ganzen Tag nach Norden. Hier wächst frisches, +saftiges Buschholz ziemlich üppig, obwohl der Erdboden überall so +trocken wie Zunder ist. Daß jedoch das Grundwasser nicht fehlt, sieht +man schon an dem Julgunluk-kuduk, der gegenwärtig versandet war. +Ein aus einem Pappelstumpfe ausgehöhlter Wassertrog für Pferde und +Esel zeigte auch, daß dieser Schleichweg gelegentlich benutzt wird, +besonders von Leuten, die „Jiggde“(~Elaeagnus~)-Beeren sammeln. +Die das Bett umgebenden Sanddünen sind höchstens 4 Meter hoch. Das +Bett des Ettek-tarim ist sehr deutlich, und man sieht gleich, daß es +nicht länger als einige dreißig Jahre her sein kann, seit der Fluß es +verlassen hat. Es markiert sich als eine nackte, von lichten Wäldern +und Dickichten eingefaßte Rinne. Auch der gewundene Verlauf der letzten +Stromrinne tritt in dem Bette als deutliche Vertiefung hervor. Sogar +Treibholz steckt hier und dort noch im Boden. + +Ein paar geophysische Charakterzüge, auf die ich nur flüchtig hinweisen +will, dienen zur Beleuchtung meiner Theorien über die Wanderungen des +Lop-nor. Erstens beweist die Tatsache, daß der Ettek-tarim reich an +lebenskräftigem Pappelwalde ist, während an dem entsprechenden Teile +des Tarim jeder Wald fehlt, daß letzterer ein neugebildeter Fluß ist, +an dem der Wald noch nicht hat groß werden können. Zweitens beweist die +kolossale Anhäufung von Flugsand, die wir an dem heutigen Lagerplatze +fanden und die den bezeichnenden Namen +Tag-kum+ (Berg-Sand) +trägt, daß der Tarim in früherer Zeit im Osten dieser Stelle noch nicht +existiert hat, denn sonst hätte der hier herrschende Ostwind nicht +solche Massen von Sand hierher treiben können. Dies hat nur zu einer +Zeit geschehen können, als sich der Tarim noch in den alten, jetzt +ausgetrockneten Lopsee ergoß. Schließlich ist zu beachten, daß der Sand +zwischen dem Ettek-tarim und unteren Tarim vom Tag-kum an nach Norden +wesentlich abnimmt. Er hat sich in den Gegenden, die auf der Leeseite +des alten Lopsees lagen, nicht anhäufen können. + +Das Vegetationsgebiet des Ettek-tarim bildet einen 3 Kilometer breiten +Gürtel, gegen welchen im Osten der hohe Sand steil abfällt; im Westen +dagegen erheben sich die Dünen langsam zu den gewaltigen Protuberanzen, +die wir weiter westlich in der innersten Wüste gesehen hatten. + +16. Februar. Während meine Leute die Kamele beluden, erstieg ich am +Morgen den höchsten Kamm des Tag-kum, der wohl 50 oder 60 Meter über +den Wald emporragt. Man hat von hier eine orientierende Aussicht. Im +Nordosten erscheint eine Bajir von dem gewöhnlichen Aussehen dieser +Mulden und mit den charakteristischen konzentrischen Ringen. Im Osten +wird diese Bodensenkung von einer Sandmauer begrenzt, die nur halb so +hoch ist wie der Tag-kum. Weiter nach Osten hin nimmt der Sand ab in +der Richtung nach dem rechten Ufer des Tarim, dessen Vegetationsgürtel +man an dem dunkleren Farbentone erkennt. Im Osten des Tarim taucht +wieder Sand auf, der stets nach Westen steil abfällt. + +Es liegt die Annahme nahe, daß diese Bajirmulden in der ganzen Wüste +verstreut liegen und ein Werk des Windes sind. In dem Bette des +Ettek-tarim haben sich bisher nur unbedeutende Dünen anhäufen können, +aber im Walde sind sie schon 3 bis 4 Meter hoch. Einstweilen liegt +das Bett noch geschützt vor der großen Flutwelle von Sand, die sich +langsam nähert und es zu begraben droht. Teilweise ist es jedoch schon +geschehen; die Welle des Tag-kum hat einen Teil des Ettek-tarim-Bettes +begraben, und weiter nach Norden hin verschwindet das Bett oft unter +dem nachdringenden Sande. Die Bajirmulden sind nicht stationär, +sie wandern nach Westen über den Boden der Wüste. Sie entstehen an +seinem Ostrande und verschwinden im fernen Westen, wo andere, weniger +regelmäßige Windverhältnisse herrschen. Eine Bajir erhält sich also +während ihres ganzen Daseins, obwohl ihr Boden sich im Laufe von 100 +Jahren erneuert, wenn man die Geschwindigkeit der Wanderung der Dünen +auf zirka 5 Meter im Jahre veranschlagt. Wenn auch die Wellen der Dünen +denselben Windgesetzen wie die Wogen des Meeres gehorchen, so liegt +doch ein großer Unterschied darin, daß sich bei den Meereswogen nur die +Wellenbewegung fortpflanzt, das Wasser aber an seiner Stelle bleibt, +während sich bei den Sandwogen auch das Material weiterbewegt, vorwärts +gestoßen wird und überschwemmt. Würde der Wind nicht neues Material +zuführen, so würde der vorhandene Sand weggefegt werden. + +Gegen Norden zeigt der Wald Neigung zum Absterben. Die Wurzeln +scheinen nur noch gerade bis zum Grundwasser hinunter zu reichen; +doch ist er noch dicht, und Stämme von 2,45 Meter Umfang sind nichts +Außergewöhnliches. Am östlichen Ufer des Ettek-tarim ist der Wald +unvergleichlich viel reicher als auf dem westlichen, weil jenes im +Windschatten geschützt liegt, während die Vegetation des letzteren vom +Sande langsam erstickt wird. + +Auf der letzten Tagereise in diesem alten lehrreichen Bette kam toter +Wald ebenso häufig vor wie lebender, und die Vernichtung ist hier im +allgemeinen weiter vorgeschritten, indem sich die Sandmassen beider +Ufer einander bis auf 300 Meter genähert haben. Sie haben hie und da +schon eine Brücke von kleineren Dünen zueinander hinübergespannt. + +Bei +Tana-baglagan+ zeigten sich frische Spuren von Wasser. +Im vorigen Jahre hatte man von Basch-argan am Tarim einen Kanal +gegraben, in der Absicht, das ausgetrocknete Bett des Ettek-tarim +wieder zu füllen, um ausgedehntere Weidegründe zu erhalten und die noch +vorhandene Vegetation zu retten. Aber der kleine Kanal war nur mit +Mühe bis Tana-baglagan geführt worden, und man hatte das Unternehmen +aufgegeben. + +Endlich erreichten wir bei Basch-argan wieder unseren alten Freund, den +Tarim. Wie klein und unansehnlich zeigte sich jetzt dieser Fluß, der +im Herbst auf uns einen so mächtigen Eindruck gemacht hatte! Gefesselt +und regungslos lag er da, einem schmalen, eisbedeckten Kanale ohne +Alluvialbildungen gleichend. Die Eisdecke sah aus wie eine Rinne mit +emporstehenden Rändern -- das Wasser war nämlich gefallen, seit der +Fluß zugefroren war. Als der Tarim zufror, hatte er eine Breite von 43 +Meter, aber jetzt war er nur 23,6 Meter breit. In der Wake, aus der wir +die Kamele, die drei Tage gedurstet hatten, tränkten, war die Eisdecke +52 Zentimeter dick. Dann gingen wir durch Wald, Dickicht und Unterholz +nach +Argan+ oder +Airilgan+, wo wir Lager schlugen. + +Der 18. Februar, ein Sonntag, wurde zur Ruhe bestimmt. Der Tarim +hatte beim Zusammenfluß eine Breite von 59 Meter; der Kontsche- oder +Kun-tschekkisch-tarim war 24 Meter, und der vereinigte Fluß, der nach +dem Kara-buran hinuntergeht, 76,8 Meter breit. Unser Lager stand auf +der Landspitze zwischen dem Tarim und dem vereinigten Flusse, welchen +Punkt wir bei zwei späteren Gelegenheiten wieder besuchen sollten und +der also sowohl für topographische wie für astronomische Messungen ein +wichtiger Knoten- und Kontrollpunkt wurde. Von hier zog der prächtige +alte Togdasin Bek wieder heim, der uns anderthalb Jahre später noch +mehr Dienste leisten sollte. + +[Illustration: 83. Gebäude auf Tonsockeln (S. 228.)] + +[Illustration: 84. Tschernoff und Abdu Rehim bei einem Tora in der +Wüste. (S. 229.)] + +[Illustration: 85. Aufrechtstehender Türpfosten. (S. 230.)] + +[Illustration: 86. Der Platz von Ördeks Entdeckung; + +ein Jahr später photographiert. (S. 232.)] + +[Illustration: 87. Einige von Ördeks Trophäen. + +Das Maß auf der rechten Seite des Bildes stellt einen Meter dar. (S. +232.)] + + + + +Achtzehntes Kapitel. + +Die Ankunft der burjatischen Kosaken in Tura-sallgan-ui. + + +Mit einer Beschreibung des Netzes der Wasserwege, welche die +Landstrecken durchkreuzen, über die wir den Rückzug nach Jangi-köll +antraten, werde ich den Leser nicht ermüden. Eine verwickeltere, +verworrenere Hydrographie läßt sich nicht denken. Namen, die auf +„köll“, „tscholl“, „daschi“, „akin“, „kok-ala“ (= See, Tümpel, +Salztümpel, Strom, Flußarm) endigen, kommen unausgesetzt vor, selbst +da, wo das Land jetzt trocken liegt. + +Das Dorf +Scheitlar+ zählt drei Familien, die von Fischfang +und Schafzucht leben. Eine alte Frau saß vor den Schilfhütten (Abb. +70) und schlug Pflanzenfasern (Tschigge, ~Asclepias~), bis sie +eine baumwollartig feine, weiche Masse bildeten, aus der ein grober, +aber haltbarer Stoff gewebt wird. Sie erzählte, daß ihre Eltern am +Tschiwillik-köll gewohnt hätten, der früher sehr viel größer gewesen +sei als jetzt und noch der größte See sei, den die Leute hier überhaupt +kennen. + +Unser Weg führte jetzt nach Nordwesten. Bei +Arelisch+ teilt sich +der Kun-tschekkisch-tarim in zwei Arme, von denen der östliche nach dem +obenerwähnten See geht; der westliche ist der Kok-ala, an dem wir zum +Teil hingezogen sind. Die Tage werden immer frühlingshafter, obgleich +die nächtliche Kälte noch auf -18,8 Grad herunterging. Am 21. Februar +erreichten wir +Dural+, wo der Amban von Lop residiert, und am +Tage darauf +Tikkenlik+, wo Kirgui Pavan zu mir stieß. Er war es, +der mir 1896 den Weg nach den großen Seen im Osten gezeigt und mir +dadurch Gelegenheit gegeben hatte, eine so bedeutungsvolle Entdeckung +zu machen. + +Im Lager +Turduning-söresi+ wurden wir wieder vom Glück +begünstigt. Ein Mann aus Singer im Kurruk-tag, Abdu Rehim, hatte sich +dort mit acht Kamelen niedergelassen, um einige Tage im Walde zu +rasten. Ich brauchte gerade für die nächste Expedition einen Führer +nach dem trockenen Flußbette Kum-darja, dessen Vorhandensein sowohl der +russische Reisende Kosloff wie ich festgestellt hatte, doch bisher nur +dadurch, daß wir es an einigen Punkten berührt hatten. Es stellte sich +jetzt heraus, daß Abdu Rehim derselbe Mann war, der Kosloff den Weg von +Norden nach Altimisch-bulak gezeigt hatte, der Quelle im Kurruk-tag, +die dem Kum-darja zunächst liegt. + +Es war wirklich ein außergewöhnlich glückliches Zusammentreffen, +daß ich gerade diesem Manne begegnen mußte, der einer von den zwei +oder drei Jägern im ganzen Lande war, die nach Altimisch-bulak +hinzufinden wissen. Ganz leicht ließ sich jedoch nicht mit ihm einig +werden, denn er taxierte seine eigene Bedeutung ganz richtig, und als +wir den Vorschlag machten, ihm seine Kamele abzukaufen, verlangte +er unverschämte Preise. Islam Bai, der in seiner Art, mit seinen +Glaubensgenossen umzugehen, etwas von Tamerlans rücksichtslosem +Despotismus hatte, geriet infolgedessen in eine Schlägerei mit Abdu +Rehim, der anfänglich den Eindruck eines Freibeuters und unbändigen +Gesellen machte. Als dieser sich grollend entfernte, rief ich ihn zu +mir, und nun machten wir die Angelegenheit unter vier Augen ab -- ohne +Handgreiflichkeiten. Er sollte mir sechs seiner Kamele für täglich +½ Sär pro Tier vermieten und mich durch das Bett des Kum-darja +nach Altimisch-bulak führen, von wo er nach Singer, seiner Heimat, +weiterziehen sollte. Seine Kamele trugen keine Lasten; er hatte +seine Schwester und ihre Aussteuer einem Bek in Dural gebracht und +kehrte jetzt mit leeren Händen wieder nach Hause zurück. Islam Bai +prophezeite, daß mir dieser Mann Unannehmlichkeiten bereiten würde, +aber er hatte unrecht. Einen besseren, zuverlässigeren, tüchtigeren +Führer habe ich nie gehabt. Es war das erste Mal, daß ich Veranlassung +hatte, mit Islam unzufrieden zu sein; es sollte aber noch schlimmer +kommen. + +Unsere Kamelhengste waren nach der Erwerbung dieser neuen weiblichen +Gesellschaft für die Karawane kaum mehr zu regieren. Besonders ein +kräftiges baktrisches Kamel war störrisch und wollte seine Kameraden +unaufhörlich beißen. Es war wild geworden, und der Schaum stand ihm vor +dem Munde, als sei es von einem Barbiere eingeseift worden. Es brüllte +und seufzte den ganzen Weg in den sehnsüchtigsten, schwermütigsten +Tönen. Sobald wir lagerten, mußte es mit dem Nasenstricke und starken +Verschnürungen um die Füße an einer Pappel verankert werden. + +Auf dem letzten Tagemarsche (24. Februar) begegneten uns ganze +Scharen von Dorfbewohnern der Gegend, Beke mit Gefolge, Kundschafter +und Kuriere. Alle waren ebenso froh wie erstaunt, uns lebendig +wiederzusehen, nachdem wir spurlos und still in der Tiefe der Wüste +verschwunden waren. Noch feierlicher aber war es, als drei Kosaken auf +schwarzen, schnaubenden Pferden heransprengten. Es waren Sirkin und +die beiden neuen Kosaken aus Transbaikalien; sie waren wie zur Parade +gekleidet, in dunkelgrüner Uniform, das Wehrgehenk über der Schulter, +mit schwarzen Lammfellmützen und blanken Reiterstiefeln! Trotz ihrer +ausgeprägt mongolischen Züge sahen sie auf ihren hohen Pferden, die sie +mit überlegener Sicherheit lenkten, stattlich aus. Ich kam mir neben +ihnen ganz zerlumpt vor. Sie hielten vor mir, grüßten militärisch und +statteten in vorschriftsmäßiger Weise Rapport ab. + +Sirkin, der Höchstkommandierende im Winterquartier, meldete, daß ein +Kamel durchgebrannt und einer der Windhunde auf der Jagd von einem +Wildschweine schwer verwundet worden sei; im übrigen stehe im Lager +alles gut. Der älteste der beiden neuen Kosaken rapportierte, ihm und +seinem Kameraden sei von ihrem kommandierenden General in Tschita +Befehl erteilt worden, sich zu mir nach dem Loplande zu begeben. + +Dann hielten wir unseren festlichen Einzug in Tura-sallgan-ui, wo +Tschernoff und eine große Anzahl unserer Nachbarn sich auf dem Markte +versammelt hatten (Abb. 71). Das Lager sah größer aus, der Stall hatte +einen Anbau, und ein neues Zelt war aufgeschlagen. Alles war sauber +und zu unserer Heimkehr geschmückt, mein Haus gereinigt und der Ofen +im Zelte geheizt. Alle befanden sich wohl, die Maulesel waren dick und +fett, und die Kamele und das Dromedar hatten an Umfang zugenommen, aber +wild waren sie, namentlich das letztere, das auf eine „unterirdische“, +unheimlich dumpf rollende Weise brüllte, mit den Zähnen knirschte und +schäumte, daß ihm der Geifer in großen Flocken vom Maule herabtropfte; +es rollte die Augen und versuchte zu beißen. Wehe dem, der ihm zu nahe +kam! Es duldete nur Faisullah in seiner Nähe. Doch seine Füße waren +mit einem Tau festgebunden, das um einen in die Erde gerammten Pflock +geschlungen war, und die Bestie konnte sich nicht von der Stelle +bewegen. + +Parpi Bai, der sich sofort, als das entlaufene Kamel vermißt worden +war, aufgemacht hatte, um es zu verfolgen, kehrte unverrichteter +Sache wieder zurück. Dieses Kamel, eines der fünfzehn, verschwand +auf rätselhafte Weise vom Schauplatze. Es spukte nachher noch lange +in der Gegend. Bald dieser, bald jener versicherte, es gesehen zu +haben; es sei stets verschwunden, sobald man versucht habe, sich ihm +zu nähern und es einzufangen. Parpi Bai hatte seine Spur ein paar +Wochen hindurch bis nach Schinalga verfolgt, von wo das Tier ins +Gebirge hinein, dann aber wieder abwärts in der Richtung nach Kutschar +gelaufen war, wo Parpi Bai diesem fliegenden Holländer noch einen +ganzen Tag in gestrecktem Galopp nachgesetzt war. Dann aber hatte er +das Tier völlig aus den Augen verloren, und keiner der Bewohner der +Gegend hatte ihm Auskunft über dasselbe geben können. Nur bei Tschadir +hatte ein Jäger es gesehen, für ein wildes Kamel gehalten und gerade +schießen wollen, als er den Packsattel gewahrte. In diesem Augenblick +hatte das Tier seinen Verfolger erblickt und war hinter dem nächsten +Berge verschwunden. Bei Schinalga war ihm ein anderer Reiter ganz nahe +gewesen; als sich aber das verängstigte Kamel nur noch einen Steinwurf +vor dem Lasso, den der Mann bereithielt, befand, war es auf einmal +dahingestürmt, als habe es Feuer hinter sich, und war wie der Wind +entflohen. Gegen Ende des Frühlings wurde uns erzählt, es sei nach dem +Juldustale gelaufen und dort von Kalmücken aufgegriffen worden. Wir +sahen es nie wieder. + +Es ist weder vorher noch nachher je vorgekommen, daß mir ein Kamel +aus der Karawane einfach entlaufen ist, aber Turdu Bai und Faisullah, +die die Lebensgewohnheiten der Kamele aus langjähriger Erfahrung +kannten, sagten, es komme gelegentlich vor, daß das Kamel, wenn es von +Wildschweinen oder Tigern erschreckt werde, vor Angst ganz von Sinnen +sei. Es sei dann so verwirrt und verängstigt und fliehe, als sei der +Teufel und sein ganzer Anhang ihm auf den Fersen. Etwas Derartiges +hatte augenscheinlich unser Kamel betroffen. + +Daß der Tiger auch hier vorkommt, davon erhielt ich einen beinahe +lebenden Beweis. Nicht weit vom Lager hatte Mirabi, einer unserer +Freunde, kürzlich in einer Falle einen Tiger gefangen, der jetzt mit +Haut und Haar, gefroren und steif wie ein Turnpferd, mitten auf dem +Markte paradierte. Nachdem er im Frühling aufgetaut war, bewahrten wir +uns das Fell auf. + +Da gerade von den Tieren die Rede ist, will ich noch erwähnen, daß +meine Menagerie sich um eine Katze und zwei neugeborene Hündchen, die +wir von Pavan Aksakal bekamen, vergrößert hatte. Sie wurden Malenki und +Maltschik (der Kleine und das Bübchen) getauft, weil sie so klein und +niedlich waren. So hießen sie auch noch, als sie schon ausgewachsen und +ein paar Riesen ihrer Gattung geworden waren. Sie waren in der Karawane +geboren, verbrachten ihr Leben in der Karawane und wurden vorzügliche +Karawanenhunde und meine besonders guten Freunde, die alle ihre +Kameraden überlebten. Wir hatten jetzt auch eine Menge Hühner, die dazu +beitrugen, das ländliche Bild noch gemütlicher zu machen; der Jagdfalke +hatte sich eingewöhnt, und die Lailiker Gans, unsere Reisegefährtin +von der Flußfahrt, hatte es in jeder Beziehung gut. Sie schien ihre +früheren Verwandten vergessen zu haben und schenkte den Wildgänsen gar +keine Aufmerksamkeit mehr. + +Diese hatten schon im Februar angefangen, von Westen her +wiederzukommen. Es sind dieselben Scharen, die wir im Herbst nach +Indien ziehen sahen, in der entgegengesetzten Richtung, aber auf +demselben Wege, über dieselben Seen und Flüsse hin, vorbei an +denselben Pappeln und Waldgruppen, die sie seit Generationen kennen. +Der Tarim ist ihre große Heerstraße, und sie scheinen selten den +geraden Weg über die Wüste einzuschlagen. Sie flogen jetzt massenweise +über Tura-sallgan-ui hinweg; wir hörten ihr Geschrei und ihre +schnatternde Unterhaltung zu jeder Tages- und Nachtzeit, bei jedem +Wetter, in pechfinsterer Nacht, wenn die Wolken Mond und Sterne +hinderten, die Erdoberfläche zu erhellen; wir sahen sie am Tage bei +Windstille wie bei Sturm, wenn die Sonne verhüllt war oder zwischen +zerrissenen Wolken hervorguckte; sie zogen in eilender Fahrt vorbei, +ohne Rast und Ruh. Die Lopleute sagten, daß dieselben Scharen Jahr für +Jahr nach denselben Nistplätzen zurückkehren und gerade so wie die +Loplik selbst bestimmte Gesetze über das Besitzrecht haben. Durch ihre +viermonatige Abwesenheit entgehen sie der kontinentalen Kälte, die alle +Seen und Flüsse verschließt. + +An Wild litt ich also keinen Mangel. Täglich gingen die Kosaken auf die +Jagd, und nie kehrten sie mit leeren Händen heim. Sie erlegten mehrere +Wildschweine und brachten uns Fasanen, Enten und Gänse, gelegentlich +auch ein Reh. Von allen Seiten erhielten wir landwirtschaftliche +Erzeugnisse, Eier, Milch, Sahne, Schafe, Hühner, Heu usw., und Fische +hatten wir stets im Überfluß. + +Tura-sallgan-ui war ein Marktplatz, ein im ganzen Loplande bekannter +Ort von Bedeutung geworden. Außerhalb unserer eigenen Grenzen +entstanden kleine „Vorstädte“, in denen Tischler, Schmiede und +andere Handwerker sich niederließen. Ali Ahun, ein Schneider aus +Kutschar, gründete ein wohllöbliches Etablissement, in dem eine kleine +Nähmaschine den ganzen Tag rasselte. Parpi Bai, der gelernter Sattler +war, hatte seine Werkstatt neben dem Stalle und war damit beschäftigt, +vorzügliche Packsättel für Kamele und Maulesel anzufertigen. Von +Kutschar und Korla kamen Kaufleute mit Waren, die wir, wie sie wußten, +brauchen konnten, wie Zucker, Ziegeltee, chinesisches Porzellan, +russische Teekannen, Zeugstoffe usw. Ein Kaufmann aus Andischan baute +sich hier sogar ein eigenes Haus, eine Strohhütte, deren Wände mit +rotem russischem Kattun tapeziert wurden und in welcher ganze Stapel +von Zeugballen, Tschapanen, Mützen und Stiefel standen, ganz wie in den +Läden der Basare. Dieser „Laden“ wurde sehr beliebt, und man sah dort +unsere Muselmänner und Kosaken oft plaudern, Tee trinken, rauchen und +kaufen. + +Und erst alle die Reisenden, die hier vorbeizogen! Die große Landstraße +führte freilich über Dschan-kuli, aber der dortige Herbergsvater +hatte in uns einen gefährlichen Konkurrenten bekommen, und der Weg +fing allmählich an, über Tura-sallgan-ui zu gehen. Alle Reisenden +wollten natürlich in unserem Dorfe übernachten; für sie war es ein +willkommenes Tama-schah, beobachten zu können, wie es bei uns aussah. +Reiter ritten täglich in das Dorf ein und boten auf dem Markte Pferde +aus, von denen mehrere gekauft wurden. + +So wuchs die Bedeutung unserer kleinen Stadt mit amerikanischer +Schnelligkeit, und noch am späten Abend war es ein ewiges Kommen und +Gehen und ein Lärm ohnegleichen. Die einzige Laterne des Marktes mußte +brennen, bis der letzte Fremdling abgezogen war. Dann hörte man nur +noch die Schritte des Nachtwächters und das Bellen der Hunde. + +Während meiner Abwesenheit hatte Sirkin das meteorologische Journal mit +musterhafter Genauigkeit geführt, und da es ein großer Vorteil war, +einen festen Punkt für die Beobachtungen zu haben, erhielt er Befehl, +es während der nächsten Exkursion fortzusetzen und auch dann Chef im +Winterquartier zu sein. Tschernoff wurde zu meinem Leibkoch ernannt und +bereitete kleine vorzügliche Koteletten und Pilmen (Fleischklöße). Er +sollte mich auf der nächsten Reise begleiten. + +Streng genommen hätte ich diese beiden Kosaken, die dem Konsulatskonvoi +in Kaschgar angehörten, jetzt zurückschicken müssen, denn ich hatte nur +das Recht, sie bis zur Ankunft der beiden Burjaten zu behalten. Doch +ich hatte sie so liebgewonnen und gesehen, wie ehrlich und gewissenhaft +sie die ihnen anvertrauten Aufträge ausführten, daß ich mich mit dem +Gedanken, mich von ihnen zu trennen, nicht vertraut machen konnte. Ich +schrieb daher an Generalkonsul Petrowskij und bat ihn, sich an die +betreffende Behörde mit dem Gesuche zu wenden, daß ich die Kosaken noch +behalten dürfe, und überzeugt, daß mein Gesuch bewilligt würde, behielt +ich Sirkin und Tschernoff bis auf weiteres. + +Islam Bai sollte im Lager als Oberbefehlshaber der Muselmänner bleiben. +Er und Sirkin erhielten den Auftrag, sich nach meiner Abreise nach +Korla zu begeben, um 25 Pferde, einige Maulesel und Proviant für die +Sommerkampagne in Tibet zu kaufen. + +Die beiden neuen Kosaken waren Vollblutburjaten. Ihre Sprache +unterscheidet sich nur wenig vom Mongolischen, aber sie sprachen auch +fließend Russisch, und während der Zeit, die sie in meinem Dienste +waren, lernten sie ganz vorzüglich Dschaggataitürkisch. Der Religion +nach sind sie Lamaisten, und ihre Augen strahlten vor Begeisterung, als +ich ihnen einmal anvertraute, daß wir später südwärts nach dem heiligen +Tibet ziehen würden. + +Nikolai Schagdur und Tseren Dorschi Tscherdon (Abb. 72) waren jeder +24 Jahre alt und gehörten dem transbaikalischen Kosakenheere an, das +zu nicht geringem Teile aus Burjaten besteht. Ihre Dienstzeit ist +vier Jahre, von denen meine beiden Kosaken erst die Hälfte hinter +sich hatten, als sie diesen außergewöhnlichen, verlockenden Auftrag +erhielten, der ihnen Gelegenheit geben sollte, eine ihnen unbekannte +Welt zu sehen. Ihren Sold für zwei Jahre hatten sie in 1000 Goldrubeln +erhalten, denn der russische Kaiser hatte bestimmt, daß die Eskorte +mich nichts kosten solle. Ich nahm indessen ihr Gold in Verwahrung, +gewährte ihnen freie Station, solange sie bei mir waren, und gab ihnen +nachher, außer anderen Geschenken, ihre 1000 Rubel wieder, so daß die +Abkommandierung ihnen noch bedeutenden pekuniären Gewinn brachte. Aber +ihre Dienste waren auch unschätzbar, und ihre Aufführung war über jedes +Lob erhaben. + +Sie hatten die Reise von Tschita hierher in 4½ Monaten gemacht, mit +der Eisenbahn, mit der Post, zu Pferde und zuletzt in der Arba. Als +Kosaken in Dienst hatten sie auf russischem Gebiete freie Reise. Die +Reise war über Irkutsk, Krasnojarsk, Kuldscha und Urumtschi gegangen, +an welch letzterem Orte sie von dem großen Sinologen, dem nunmehr +verstorbenen Konsul Uspenskij, zwei Monate aufgehalten worden waren, +weil dieser meine Spur verloren und nicht gewußt hatte, wohin er sie +schicken sollte. + +Nach beendeter Dienstzeit, während welcher sie in Sprache und Disziplin +völlig russifiziert werden können, kehren die burjatischen Kosaken in +ihre Stanitzen (Dörfer) zurück, nehmen die Tracht und die Sitten ihrer +Heimat wieder an und leben hauptsächlich von Viehzucht. Schagdurs und +Tscherdons Stanitza war Ataman Nikolajewska, 200 Kilometer nordwestlich +von Troizkosawsk. Diese beiden Männer wären für mich in den Tod +gegangen, und ich schloß mich ebenso an sie an wie an ihre russischen +Kameraden. Besonders Schagdur war das Ideal eines Menschen und ein +guter, treuer Diener. -- + +Während meines kurzen Aufenthalts in Tura-sallgan-ui war das Wetter +noch recht winterlich. Schon am 25. Februar tobte der erste wirkliche +„Kara-buran“. Es war schön, im Hause sitzen zu können, während +der Sturm um unsere Schilfhütten heulte und unsere einzige Pappel +umzubrechen drohte. Flugsand und Staub trieben über das Eis des Tarim +hin, und die Dünenwand im Süden war im Nebel gar nicht zu sehen. Am +26. fiel Schnee in Gestalt von runden Körnern, die knatternd auf das +Zelttuch schlugen. Die Landschaft wurde wieder kreideweiß, und die +Dünenwand sah aus wie eine schneebedeckte Bergkette. Schließlich aber +wurde das Wetter schön, und ich konnte mich an die astronomischen +Observationen machen; für die Kartenarbeit war Tura-sallgan-ui der +wichtigste Knotenpunkt der ganzen Reise. + +Am 4. März stieg die Temperatur auf +7 Grad. Der feste Eispanzer des +Flusses begann allmählich porös zu werden, und das Schmelzwasser +stand nicht nur hoch auf dem Eise, sondern strömte auch in nicht +unbedeutenden Mengen von den Ufern hinab. Die im ersten Eise +festgefrorene Fähre lag infolgedessen mit ihrer Reeling in gleicher +Höhe mit dem auf dem Eise stehenden Wasser und war schon halb +vollgelaufen. + +Wo die Stromgeschwindigkeit groß war, öffnete sich wieder eine Rinne +im Eise. Sirkin und die anderen wurden ermahnt, wenn die erste +Frühlingsflut komme, sehr vorsichtig zu sein. Meine Kisten sollten für +den Fall, daß dem Lager eine Überschwemmung drohte, an Bord gestellt +werden. Falls auch die Fähre in Gefahr sein würde, sollte sie an einen +sicheren Platz gebracht werden. + +Kurban, der Unglücksrabe, wurde jetzt entlassen und verschwand, sobald +er seinen Lohn erhalten hatte. Der junge Spitzbube verstand, sich seine +Heimreise nach Kaschgar besonders bequem einzurichten. In Kutschar war +er in das Serai der Andischaner gegangen und hatte sich dort als mein +Expreßkurier an den Konsul vorgestellt, worauf ihm die freundlichen +Kaufleute alles, was er verlangte, gegeben hatten. In Aksu war er zu +der jungen Frau eines Beks in recht intime Beziehungen getreten und +hatte Prügel bekommen, war aber vom chinesischen Amban, der sicher +gedacht hatte, gegen den Kurier eines Europäers müsse man klugerweise +höflich sein, gut behandelt worden. Aus der letztgenannten Stadt +verschwand er auf einem gestohlenen Pferde. In Kaschgar erreichte seine +Frechheit den Höhepunkt, indem er dem Konsul einen ganzen Räuberroman +auftischte. Er hatte den Verzweifelten gespielt und erzählt, daß er +von mir beauftragt worden sei, dem Konsul eine besonders wichtige Post +zu überbringen, auf dem Wege aber von Banditen überfallen worden sei, +die ihm die Postsachen und alles Geld geraubt hätten. Doch Petrowskij +war an Räubergeschichten gewöhnt und setzte den Jüngling hinter Schloß +und Riegel, um ihm Gelegenheit zu geben, über sein hartes Schicksal +nachzudenken! Weiteren Gewinn hatte er von seinem Wagestücke nicht, +und die Armen, die sich unterwegs von ihm hatten beschwindeln lassen, +mußten allein für ihre Unvorsichtigkeit büßen und ihre Ansprüche, so +gut sie konnten, mit dem jungen Kurban ausmachen. + +[Illustration: 88. Ein Tschappgan auf dem Kara-koschun. (S. 240.)] + +[Illustration: 89. Im Schilf unterhalb Kum-tschappgan. (S. 240.)] + +[Illustration: 90. Nordufer des Sees Kara-koschun. (S. 240.)] + + + + +Neunzehntes Kapitel. + +Der Kurruk-tag und der Kurruk-darja. + + +Als das Wetter frühlingshaft zu werden begann, schickte ich Faisullah +und Abdu Rehim mit den Kamelen und dem schwereren Gepäcke nach Dillpar +am Kontsche-darja voraus, damit sie einen guten Weideplatz aussuchten +und dort unsere Ankunft erwarteten. Ich selbst brach mit Tschernoff, +Ördek und Chodai Kullu, einem Loplik, der nachher zwei Jahre in +meinem Dienste war, sowie einer ganzen Schar Begleiter am 5. März +auf. Diesmal nahmen wir zwei Zelte und einen Ofen mit, im übrigen +aber nur das gewöhnliche Gepäck, die Instrumentkiste, zwei Kisten mit +Küchengeschirr, zwei Jagdgewehre usw. Chodai Kullu galt für einen +gewaltigen Jäger und hatte ein eigenes Gewehr. Weil mehrere Pferde von +Jing-pen, wo die Wüste anfängt, wieder zurückgeschickt werden sollten, +mußte der Dschigit Musa uns bis dorthin begleiten. + +Unsere erste Tagereise auf dieser neuen Expedition führte uns nach +Norden quer über das Steppenland, das sich zwischen Tarim und +Kontsche-darja ausdehnt. Wir brachen spät auf, wie es der Fall zu sein +pflegt, wenn man ein Hauptquartier auf längere Zeit verläßt; es ist +so vieles zu ordnen und zu besorgen, und in der letzten Minute noch +sind eine Menge Kleinigkeiten zu erledigen. Die drei zurückbleibenden +Kosaken und die Muselmänner standen in Reih und Glied, als ich ihnen +Lebewohl sagte und Parpi ermahnte, sich nicht in eine der Töchter des +Landes zu verlieben -- er war nämlich wegen seiner Schwäche in dieser +Beziehung bekannt. Hochaufgerichtet stand er in seinem blauen Tschapan +da und erwiderte lächelnd, ich könne ganz ruhig sein. Er hatte recht, +seine Liebesabenteuer waren für immer zu Ende -- zwölf Tage später +starb er nach kurzer Krankheit und wurde feierlich auf dem stillen +Friedhofe beerdigt; Eingeborene und Kameraden folgten seiner Leiche, +und Stangen mit Wimpeln und Yakschwänzen schmücken jetzt sein Grab. + +Er hatte also keine Gelegenheit, sich auf dieser Expedition so +auszuzeichnen wie auf der vorigen, als er noch ein kräftiger Mann +war, aber ich bewahre ihm ein gutes, freundliches Andenken. Ich habe +vielleicht manchen Diener, der während meines Karawanenlebens bei mir +angestellt gewesen ist, vergessen, aber die Verstorbenen vergesse ich +nie; ihr Andenken liegt mir warm am Herzen, sie sind auf ihrem Posten +zusammengebrochen und haben in meinem Dienste alles hingegeben, was sie +besaßen -- ihr Leben. Möge er sanft am Fuße der Dünen ruhen, der alte, +redliche Parpi Bai. -- + +Es war mittlerweile dunkel geworden, bevor Faisullahs Lagerfeuer +zwischen den Pappeln am Ufer des Kontsche-darja aufloderte. Der Fluß +war noch fest zugefroren, und wir lagerten am linken Ufer in der +Waldgegend +Dillpar+, wo wir auch den folgenden Tag blieben. Die +uns begleitenden Beke kehrten am Morgen wieder um, und wir waren jetzt +von neuem auf uns selbst und unsere Vorräte angewiesen. + +Als wir am 7. März nach Nordnordost weiterzogen, war die Karawane +folgendermaßen zusammengesetzt: Abdu Rehim und seine beiden jüngeren +Brüder mit acht Kamelen, von denen sechs zu unserer Verfügung standen, +die beiden übrigen trugen ihre Besitzer; ferner Faisullah mit unseren +fünf Kamelen, Tschernoff, Ördek, Chodai Kullu und Musa mit je einem +Pferde und ich auf demselben kleinen starken Schimmel, der mich durch +die Tschertschenwüste getragen hatte. Jolldasch und Maschka war das +Nachtwächteramt übertragen. + +Unweit Dillpar kreuzten wir drei alte Betten des Kontsche-darja. + +Darauf lassen wir die Wälder des Kontsche-darja hinter uns zurück und +reiten auf hartem, salzhaltigem, knisterndem Boden mit spärlichen +Tamarisken und einer dünnen Sandschicht. +Basch-tograk+ ist ein +kleiner Waldsee in der Einöde mit mächtigen, wenn auch niedrigen, +absterbenden Pappeln (Abb. 73). Westlich davon erscheint eine in +dem ebenen Terrain weithin erkennbare Tora (Wegpyramide), die auf +der alten Straße gestanden hat, die von den Bewohnern des Loplandes +Kömur-salldi-joll (der Weg, auf dem Steinkohlen ausgebreitet worden +sind) genannt wurde und die Korla und Sa-tscheo verband und sich jetzt +am Ufer des alten Lop-nor hinzieht. In „Durch Asiens Wüsten“ habe ich +den Teil dieser Straße, der nach Nordwesten von Jing-pen bis Korla +führt, beschreiben können. Ihre Fortsetzung nach Osten, von Jing-pen +an, zu erforschen, war einer der Zwecke dieser neuen Reise. + +Nachdem wir die letzten Tamarisken (Abb. 74) hinter uns haben, beginnt +die von den Eingeborenen „Sai“ genannte Terrainform, die am Fuße +aller zentralasiatischen Bergketten gewöhnlich vorkommt, eine fürs +Auge unmerklich langsam ansteigende Bodenerhebung, hart wie Asphalt, +unfruchtbar und mit feinem, dünnschichtigem Gruse bestreut. Durch den +Boden zog sich eine trockene Erosionsfurche, die aus dem Sugett-bulak, +einem Quertale des Kurruk-tag, kam, welches Tal das Ziel unserer +Tagereise war; in dieser Furche fanden wir einen bequemen Weg nach dem +Fuße des Gebirges. + +Eben wie das Meer dehnt sich der wüste Sai um uns her aus. Fern im +Süden unterscheidet man noch als dunkle Linie den Vegetationsgürtel +des Kontsche. Einige scheue Antilopen entflohen bei einem Fehlschusse, +sonst gab es kein Tierleben. Der Boden wird steiniger, der Anstieg +nimmt zu; in dem Bette liegt Treibholz von Tamarisken und Weidenbäumen, +welches eine Sil (Regenflut) mitgeschwemmt hat. + +Endlich haben wir auf beiden Seiten Berge und machen in der +trompetenförmigen Mündung des Sugett-bulak-Tales Halt, wo ein kleiner +Bach 88 Liter Wasser in der Sekunde führt. Hier steht ein einsamer +Weidenbaum, daher der Name +Sugett-bulak+ (Weidenquelle). Wir +hatten 33 Kilometer zurückgelegt; die Temperatur war auf 13,1 Grad +gestiegen, und Mäntel waren nur abends nötig. Die Quelle, die den Bach +speist, liegt eine Tagereise talaufwärts; es sind zwei Tagereisen bis +zu den nächsten mongolischen Nomaden, die sich ständig in den größeren +Tälern zwischen den Parallelketten des Kurruk-tag, wo es vorzügliche +Weide geben soll, aufhalten. + +Ein frischer Talwind wehte die ganze Nacht über unseren schönen, +angenehmen Lagerplatz. Zum erstenmal im Jahre blieb die +Minimaltemperatur über Null, nämlich auf +1,3 Grad. Unsere Tiere +waren während der Nacht hoch oben im Tale umhergestreift, wo Gras und +Weidenbäume wachsen, und es kostete Zeit, sie wieder herunterzutreiben. + +Der heutige Tagemarsch führte nach Osten am Fuße des Gebirges +entlang, wo wir unzählige trockene Erosionsfurchen überschritten. +Wir sahen Hasen, Antilopen und Archaris (Bergschafe); letztere +verschwanden gewandt und leichtfüßig in einer Klamm, als Tschernoff +sie zu überraschen suchte. Zur Linken lösen ständig wechselnde +Bergperspektiven einander ab; unzählige Gipfel werden passiert und +verschwinden, und neue tauchen vor uns auf. Die dominierenden Gipfel +werden von verschiedenen Punkten aus gepeilt. Die nächsten Vorberge +verdecken jedoch die hinter ihnen liegenden Hauptkämme, deren Gipfel +nur in den Quertälern sichtbar sind. Die Berge sind braun, violett, +rot, grau und gelb in stets wechselnder Skala, die sich auch durch die +Schatten verändert, welche entstehen, wenn Wölkchen unter der Sonne +hinsegeln. + +Zur rechten Hand fällt das Terrain langsam ab, nach der Ebene +hinunter, wo der Kontsche sich nach dem Kara-köll hinschlängelt. +Nach Passierung mehrerer kleiner, schwach eingeschnittener, durch +Hügelreihen voneinander getrennter Betten stehen wir am Rande des +besonders kräftig eingeschnittenen Gebirgstales +Kurbantschik+, +das 40 Meter unter unseren Füßen liegt. Ein Bach rieselte zwischen +porösen Eisschollen hin. Unser Lager an seinem linken Ufer hatte +eine entzückende Lage. Im Norden öffnete sich der breite Schlund +der Talmündung, im Süden standen die Jarterrassen wie dunkle Wände. +Hinter einem Hügel hat sich ein kleiner Teich mit herrlichem, reinem, +smaragdfarbigem Wasser gebildet, der so tief ist, daß man in seiner +Mitte nicht bis auf den Grund sehen kann (Abb. 75). Ein kleiner Arm des +Baches ergießt sich in ihn und tritt auf der anderen Seite wieder aus +ihm heraus; es ist ein Bagrasch-köll im kleinen. Das Becken befindet +sich gerade in der Mündung einer Erosionsfurche, und nach Regen muß +hier ein ziemlich hoher Wasserfall herabrauschen; da aber Niederschläge +in diesen „trockenen Bergen“ eine große Seltenheit sind, so kann man +sich denken, welche Zeit dazu gehört, das Becken auszumeißeln. Die +Berge der Umgebung bestehen aus Diorit. + +Von Kurbantschik sollen es zwei Tagereisen bis an den Kamm der +Hauptkette sein, wo ein Weg über einen Paß führt, der Dawan, von +den Mongolen aber Többwe genannt wird. Vom Passe sind es anderthalb +Tagereisen nach dem Bagrasch-köll. + +Am 9. März mußten wir noch das Kurbantschiktal eine ziemliche Strecke +hinabreiten, ehe wir durch ein Seitental auf seine linke Terrasse +hinaufgelangen konnten (Abb. 76). In südöstlicher Richtung kommen +wir über eine holperige Steppe in einen gewundenen, trocknen Hohlweg +hinunter, den abgerundete Höhen von weichem Material, das jedoch weiter +oben in festes Gestein übergeht, einfassen. + ++Tograk-bulak+ ist eine reizende Stelle in diesem stillen Tale +(Abb. 77). Wir rasteten in einem Pappelhaine, wo es eine Quelle gab, +die jetzt mit dickem Eise, aus dem dichtes Schilf hervorguckte, bedeckt +war. + +Stunde auf Stunde wandern wir nach Osten, zur Linken das Gebirge. Der +Sai wird nicht von bedeutenderen Furchen durchschnitten, wohl aber +von Tausenden kleiner Betten, die nur einen Fuß tief in den Boden +eingeschnitten und mit Schutt gefüllt sind. Die Sonne ging glutrot +unter, dann trat Dämmerung ein; aber noch hatten wir einen weiten Weg +bis an die Bergpartie, wo die nächste Quelle sein sollte. Chodai Kullu +hatte sie früher besucht und führte jetzt die Karawane. Im Dunkel der +Nacht hörten wir ihn rufen, und wieder standen wir am Rande einer +gewaltigen Erosionsfurche, deren Uferhang die Kamele hinunterrutschten. +Es stellte sich heraus, daß wir in der Dunkelheit in ein falsches Tal +gelangt waren; es war ganz unfruchtbar, und es gab dort keinen Tropfen +Wasser. Doch wir hatten heute schon 42 Kilometer zurückgelegt und +lagerten trotz alledem. + +Am folgenden Morgen machten wir die Entdeckung, daß die Quelle von ++Budschentu-bulak+ nur einen Kilometer weiter östlich lag, und die +Tiere wurden daher dorthin geführt. Ich selbst wurde bei Sonnenaufgang +geweckt, und zwar gründlich. Tschernoff war, wie gewöhnlich, in mein +Zelt gekommen und hatte, während ich schlief, den Ofen geheizt, +aber nicht darauf geachtet, daß der abwärtsgehende Talwind das +Zelttuch gegen das erhitzte Kaminrohr drückte. Ich erwachte von einer +unleidlichen Wärme und sah das Zelt in Flammen stehen. In demselben +Augenblick stürmten auch schon die Männer herbei, rissen das Zelt um, +während Tschernoff die Kisten und die herumliegenden Sachen und Papiere +hinaustrug, und ich selbst warf über das Zelt eine Filzdecke, die das +Feuer erstickte. Meine luftige Wohnung sah nach diesem Abenteuer wenig +einladend aus; die Männer wußten jedoch Rat. Sie nahmen ein Stück +Sackleinwand, schnitten die Ränder der angebrannten Stelle weg und +machten das Loch mit dem Sackleinen zu. Glücklicherweise hatte das +Feuer noch nichts anderes vernichten können. + +Der Bach von Budschentu-bulak war in mehrere Arme geteilt, die unter +einer umfangreichen Eisscholle rieselten. Wir entfernten uns jetzt +von den Bergen und zogen in südlicher Richtung weiter. In der Ferne +zeichnete sich die „Kona-schar“ von +Jing-pen+ auf dem Nebel der +hinter ihr liegenden Sandwüste ab. Die Ruinen lagen in einer Linie +von Norden nach Süden, so daß ich sie im Vorbeiziehen alle besehen, +messen und abzeichnen konnte. Die beiden ersten sind Tora oder Türme +aus Lehm, 4,5 Meter hoch und 15 Meter im Umfang (Abb. 78). Ein Guristan +(Begräbnisplatz) war, wie schon aus der Lage der Leichen hervorging, +von Muhammedanern angelegt. Die Füße lagen nach Süden, der Kopf nach +Norden und das Gesicht nach der Kibla gewendet. Die Gräber sind mit +zigarrenkistenförmigen Denkmälern von an der Sonne getrocknetem Lehm +geschmückt. Spätere Überschwemmungen haben die Außenseite der Terrasse, +in welcher die Gräber liegen, zerstört, so daß mehrere derselben +freigelegt sind und die Schädel wie aus Schießscharten in einer Mauer +herausgucken. Das Skelett eines ungefähr fünfzehnjährigen Jünglings +war aus seiner Grabhöhle herausgefallen; es konnte etwa 200 Jahre alt +sein. Dicht daneben stand etwas, das ein „Mesdschid“ oder „Chanekah“, +ein „Gumbes“ oder Monument auf dem Grabe eines Vornehmen hätte sein +können und von dem nur noch drei Mauern ohne Dach standen; die vierte +Mauer war anscheinend gleich dem Außenrande der Terrasse vom Wasser +fortgespült worden. Die Hinterwand war 6 Meter lang, die Höhe der +Mauern betrug 4,13 Meter. Um die Ruinen herum lagen eine Menge Scherben +von Krügen aus gebranntem Ton, rote sowohl wie schwarze; an einigen +von ihnen saß noch der runde Henkel. Darauf fanden wir ein Tora von 8 +Meter Höhe und 31,4 Meter Umfang. Sieben solche von kleinerem Umfange +thronten auf einem isolierten Hügel; entweder sind sie als Denkmäler +auf den Gräbern hervorragender Persönlichkeiten errichtet worden, oder +sie sind chinesische Potai (Meilensteine), die, wie noch heute an +wichtigeren Plätzen, durch ihre Anzahl die Entfernung bis zur nächsten +größeren Station der Gegend in Li (etwa 450 Meter) angeben. + +Die interessanteste dieser Ruinen war eine Ringmauer von demselben +Aussehen wie die, welche ich bei Sai-tschekke und Merdek-schahr gesehen +hatte. Sie war aus an der Sonne getrocknetem Lehm erbaut, dem ein +Skelett von horizontalen Balken Festigkeit verlieh, und besaß vier +Tore. Der Durchmesser betrug 182 Meter, die Dicke der Mauern 11 Meter +und die Höhe 6,6 Meter; die Tore lagen im Norden, Süden, Osten und +Westen. Im Zentrum stand eine kleine Lehmpyramide. + +Welchen Zweck eine solche Mauer gehabt hat, ist schwer zu sagen. +Für eine Stadtmauer ist sie zu klein, und überdies fehlt im Innern +jegliches Anzeichen von Häusern. Für eine Festung dürften die vier +offenen Tore überflüssig sein. Ich bin daher eher geneigt anzunehmen, +daß hier eine Art Wirtshaus oder Posthalterei gewesen und die +Bewohner in Zelten oder Holzhäusern im Schutze dieser provisorischen +Mauer gewohnt haben. Die Lop-nor-Straße ist wahrscheinlich mitten +hindurch gegangen, denn das Ost- und das Westtor liegen gerade in der +Längsrichtung dieses Weges. Alte Lopleute bewahren noch eine Tradition, +wonach die große Heerstraße nach Peking über Jing-pen und weiter nach +Dung-chan oder Sa-tscheo geführt habe. + +Wenn wir von den Ruinen nach Jing-pen gegen Ostsüdost ziehen, haben +wir weit nach rechts einen üppigen Gürtel von ansehnlichen Pappeln, +der das trockene Bett begleitet, dessen Untersuchung der wichtigste +Punkt des Programmes war. Alle Jäger im Lande, die es kennen, nennen +es Kurruk-darja (trockener Fluß), manchmal auch Kum-darja (Sandfluß), +welchen Namen auch Kosloff gebraucht. + +Die Örtäng von Jing-pen ist eine chinesische Poststation, die seit +einem Jahre öde und leer steht. Die Behörden versuchten vor einiger +Zeit, den Verkehr auf dem alten Wege zwischen Lop und Turfan wieder ins +Leben zu rufen, doch diese Straße wird äußerst selten benutzt und ist +überdies überflüssig, da der Weg über Korla, wenn auch länger, viel +angenehmer und bequemer ist. + +Jing-pen ist eine wahre Oase, die auf allen Seiten von Wüsten eingefaßt +wird; wir brauchten nicht zu fürchten, daß unsere Tiere uns während +der beiden Ruhetage, die wir ihnen gewährten, fortlaufen würden. Die +Posthalterei liegt auf einer scharf markierten Terrasse, die sich ein +paar Meter über einen langgezogenen reichbewachsenen Salzsumpf erhebt. + +In geographischer Hinsicht ist dieser Punkt von größtem Interesse, +denn man findet bald, daß der Sumpf in der Biegung eines alten +Flußbettes liegt und auf beiden Seiten, ganz wie der Tarim, mit alten +Pappelgruppen eingefaßt ist. Sogar die Eingeborenen erkannten, daß wir +uns hier an dem früheren Laufe jenes Flusses befanden. Weiter nach +Osten hin erstreckt sich die Feuchtigkeit jedoch nicht; das Bett liegt +trocken wie Zunder da, bis es sich in dem ebenso trockenen Becken des +alten Lop-nor verliert. Enten, Gänse und Rebhühner bevölkern die Oase, +und süßes Wasser erhält man aus einem Brunnen. + +Die Temperatur stieg am 12. März auf +21,4 Grad; Fliegen und Spinnen +fingen an sich zu zeigen, und mit Bangen sah ich der Zeit entgegen, +da man täglich von Hitze und Insekten gequält werden und nur nachts +Kühlung finden würde. Diese deutlichen Anzeichen des Sommers mahnten +uns indessen, das Gepäck wesentlich zu erleichtern. Musa, der von hier +mit allen Pferden, meinen kleinen erprobten Wüstenschimmel ausgenommen, +und einem Kamele, das schlechten Appetit hatte, zurückkehren sollte, +mußte auch meinen Pelz, meinen Regenrock, den Ofen usw. mitnehmen, was +ich jedoch später bei ein paar Gelegenheiten sehr zu bereuen hatte. + +Der Zweck dieser langen Rast war, daß die Tiere ordentlich weiden +sollten, denn auf der ganzen Strecke nach dem Kara-koschun konnten +wir nach Abdu Rehims Aussage nur an zwei Stellen gute Weide finden. +Anhaltender Westwind mit 8 Meter Geschwindigkeit in der Sekunde und +undurchdringlicher Nebel erschwerten jegliche Arbeit im Freien. + +Doch die Stunden vergehen schnell, und am 13. März konnten wir uns +wieder in Bewegung setzen. Abends sprang der Wind nach Osten um +und riß um Mitternacht das Zelttuch in die Höhe, so daß es wie ein +losgerissenes Segel flatterte. Darauf wurde das Zelt an der Windseite +mit Stricken und Pflöcken festgemacht und auf den am Boden schleppenden +Saum des Zelttuches große Lehmschollen gelegt. + +Während des Tages schwoll der Wind immer mehr an und artete abends +in einen vollständigen Orkan aus. Wir wanderten auf der linken +Uferterrasse nach Osten; die Anordnung der Pappelgruppen bezeichnete +den Verlauf des Bettes. Eine seiner Biegungen war so deutlich, daß sie +gut erst im vorigen Jahre hätte verlassen worden sein können. Ihre +salzige, eisfreie Wasseransammlung bildete einen Halbmond, ganz wie in +den Bold-schemal des Tarim, und auf dem linken Ufer stand eine Gruppe +von Pappeln mit bis zu 4,10 Meter Umfang an der Basis. Eine Schar Enten +flog auf, bevor Tschernoff hatte schießen können, und die Hunde liefen +sich außer Atem, um eine Antilope zu erjagen, die mit elastischen +Sprüngen wie ein Gummiball über die Steppe flog. + +Dann ist es mit Wasser und lebendem Walde vorbei -- der noch +vorhandene ist tot, aber die Stämme stehen noch auf ihrer Wurzel, wie +Grabdenkmäler auf einem Kirchhof. Der Boden ist mit feinem, losem +Staub bedeckt, der sich wie ein Kometenschwanz hinter der Karawane +erhebt. Schon um 2 Uhr herrschte Dämmerung; der Sturm wurde ärger, und +Abdu Rehim erklärte, daß wir Halt machen müßten, weil es den Tieren +zu schwer werde, gegen diesen Luftdruck anzukämpfen. Wir machten also +Halt, und es galt nur noch, einen einigermaßen geschützten Lagerplatz +zu finden. + +Die Lehmwüste hat hier eigentümliches Relief. Sie ist vom Winde +modelliert. Würfel, Terrassen und Tische in horizontaler Lage erheben +sich überall ein paar Meter hoch, und Holz von toten Bäumen liegt auf +der Erde umhergestreut. + +Beim Suchen nach einem geschützten Platze hätten wir einander beinahe +verloren. Ich ging nach Südwest oder wurde vielmehr dorthin geweht; es +ging sich so leicht, daß ich nicht merkte, wie ich mich von den anderen +entfernte; doch als ich keinen geeigneten Platz fand und umkehrte, +kam mir der ganze Sturm mit rasender Heftigkeit entgegen und jagte +mir einen horizontalen Regen von Sand und feinem, rotgelbem Staub ins +Gesicht, und von der Karawane war keine Spur zu sehen. Es war dieselbe +Empfindung wie beim Gehen durch Wasser oder Schlamm, und trotz all +meines Bemühens entfernte ich mich nur von den Meinen. Alle Spuren +sind sofort verwischt. Augen, Mund und Nase werden von Sand und Staub +verstopft, und ich mußte stehenbleiben, um Atem zu schöpfen. Da sah ich +im Nebel eine Gestalt erscheinen und erkannte Tschernoff, der auf der +Suche nach mir war. + +Nachdem wir die anderen gefunden hatten, lagerten wir da, wo wir +uns befanden. Im Schutze eines Tamariskenkegels wurde mein Zelt +aufgeschlagen, wobei nur die halben Zeltstangen benutzt und ihre +oberen Enden mit Tauen befestigt wurden. Die Seitenstricke wurden um +massive Wurzelstämme gebunden und Stücke von trockenem Holz auf die +Säume gelegt, so daß schließlich alles fest war und den Sturm aushalten +konnte. Doch feiner Sand sickerte durch das Zelttuch und bedeckte das +Bett und die Sachen im Zelte. + +[Illustration: 91. Transport der Kähne über Land. (S. 242.)] + +[Illustration: 92. Hütten bei Jekken-öi. (S. 245.)] + +[Illustration: 93. Flußmessung bei Schirge-tschappgan. (S. 246.)] + +[Illustration: 94. Brücke über den Ilek. (S. 247.)] + +Die Männer hüllten den Kopf in den Mantel, als sie sich niederlegten; +sie konnten ihr Zelt, dessen Stangen nicht zerlegbar waren, nicht +aufschlagen. Die Kamele lagen in einer Reihe da, den Hals in der +Windrichtung ausgestreckt und den Kopf vor dem Winde geschützt. Am +Boden betrug die Geschwindigkeit des Windes 18,1 Meter in der +Sekunde, auf einem nur 2 Meter hohen Hügel aber 26,1 Meter. Dort mußte +ich auf den Knien liegen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. +Der Sturm kam jetzt aus Nordosten, und man konnte sich leicht davon +überzeugen, was für ungeheuere Massen von Sand und Staub von diesem +kräftigen Träger nach Westen und Südwesten befördert wurden. Sobald +man sich nur niederkauert, wird man von den sausenden Wolken, die am +Boden hinfegen und im Windschatten wirbeln, beinahe erstickt. Zweige, +entwurzelte Grasbüschel und erbsengroße Sandkörner treiben im Winde und +schlagen einem ins Gesicht. + +In der Dämmerung schien der Sturm des Tobens überdrüssig zu sein, +er schien sich die Sache zu überlegen und Atem schöpfen zu wollen; +die Luft klärte sich für ein paar Minuten auf. Es berührte uns ganz +eigentümlich, als wir uns überzeugten, was für Irrtümer man beim +Schätzen vertikaler und horizontaler Dimensionen begeht, wenn man +überall von Nebel umgeben ist. Wir hatten in einer Talmulde zu lagern +geglaubt und fanden nun, daß wir uns inmitten eines wenig kupierten +Geländes befanden. + +Da pfiff es schon wieder um die Ecken und heulte und sauste um meine +Höhle, wo ich wie in Nacht und Nebel verschwand. An Kochen des Essens +war nicht zu denken, und ich mußte mich mit Wasser und Brot und dem +Inhalte einer Konservendose begnügen. + +Maschka und Jolldasch rollten sich jeder in seiner Zeltecke zusammen. +Als ich beim Scheine der Laterne in meinem Tagebuche schrieb, trocknete +die Tinte sofort von dem darauf fallenden Sand, und die Feder +kratzte und quietschte in den kleinen Dünen, die sich auf dem Blatte +bildeten. Die ausgepackten Sachen waren nach einer halben Stunde total +verschwunden. Es war nicht besonders angenehm, sich in diesem Gestöber +von Sand, von dem auch das Bett voll war, entkleiden zu müssen, und es +war in der schwülen, staubschweren Luft zum Ersticken. + +Woher kamen wohl diese Milliarden von Kubikmetern Luft, und wo +zogen sie hin? Welche Kräfte verursachten eine so revolutionäre +Umwälzung in der Atmosphäre? Hatte dies seinen Grund darin, daß die +westlichen Wüsten schon stärker von der Sonne erwärmt worden waren +als die östlichen, welche daher Luft liefern mußten, um den durch die +aufsteigende warme Luft entstandenen leeren Raum zu füllen? Oder war +es eine lokale Erscheinung, ein Wind, der kaskadenartig vom Kamme +des Kurruk-tag herabstürzte, um auf anderen, höheren Bahnen wieder +dorthin zurückzukehren, nachdem er hier unten die Erdoberfläche nur +gestreift hatte. Man konnte es nicht wissen; sicher aber ist, daß der +Wind in diesen Gegenden die stärkste physische Kraft ist, die an der +Umgestaltung der Erdoberfläche arbeitet. + +14. März. Die Minimaltemperatur sank auf -7,1 Grad, und obgleich der +Sturm bedeutend nachgelassen hatte, war es doch schneidend kalt; es war +notwendig, ein ordentliches Feuer von Baumstämmen anzuzünden und dann +eine tüchtige Strecke zu Fuß zu gehen -- hatte ich doch meine Pelze zur +Unzeit heimgeschickt. + +Im Südosten des Lagers war das Bett des Kurruk-darja an ein paar +Stellen noch feucht; dort wuchsen lebende Tamarisken und etwas Schilf, +der Wald auf den Ufern aber war tot, teils noch auf der Wurzel stehend, +teils schon umgefallen. Wir verirrten uns in einem wüsten Durcheinander +von Lehmterrassen mit scharfen Kanten. Die Eingeborenen nennen sie +„Jardang“, ein bezeichnender Name, dessen ich mich fernerhin auch +bedienen werde. In einem solchen Terrain zu wandern, ist ermüdend und +zeitraubend; man muß unausgesetzt hinauf und wieder hinunter von diesen +Terrassen, die ursprünglich vom fließenden Wasser erodiert, dann aber +vom Winde phantastisch und launenhaft geformt worden sind. Daher ist +es nicht immer ganz leicht, ein fortlaufendes Flußbett zwischen diesen +Jardang herauszufinden und zu verfolgen. Sie scheinen sich weit nach +Süden hinzuziehen, wo nur ein paar isolierte Sanddünen aus der ebenen +Wüste emporragen. + +Weiterhin überschreiten wir wieder ein paar gut erhaltene +Flußkrümmungen, deren Ufer dichter toter Wald begleitet. Die +liegenden Stämme sind gewöhnlich dicker als die stehenden, die +Wind und Wetter mehr ausgesetzt und der vernichtenden, feilenden +Einwirkung des Flugsandes direkt preisgegeben sind. Sie stehen da wie +balsamierte Mumien ehemaliger Bäume, und die Landschaft gleicht oft +einem Stoppelfelde von riesigen Dimensionen. Nur längs des Laufes +des Kurruk-darja tritt dieser tote Wald auf, der seinerzeit von dem +trügerischen Wasser des Flusses gelebt hatte und abgestorben war, +als dieses sich einen südlicheren Ablauf suchte und die neuen Seen +Kara-buran und Kara-koschun bildete. + +Unmittelbar zur Linken haben wir die äußersten Vorberge des Kurruk-tag. +Ihre unterste Terrasse bot uns einen ebenen, bequemen Weg. Eine +dominierende Bergpartie heißt Tschartschak-tag (der Berg der Müden), +weil Tausende von chinesischen Soldaten, die von Turfan nach dem +neuangelegten Tscharchlik kommandiert worden waren, hier gelagert +und, nachdem sie ihren ganzen Proviant verzehrt, Uniform und Gewehr +weggeworfen haben und nach Turfan durchgebrannt sein sollen. + +Rechts zieht sich noch immer das Bett des Kurruk-darja hin, links ein +anderes, dessen linke Uferterrasse außerordentlich scharf ausgeprägt +ist. Wir gehen demnach auf einer langen, schmalen Erhöhung zwischen +zwei Betten, von denen das linke älter ist als der Kurruk-darja; dies +sah sogar Abdu Rehim ein, der wußte, daß es sich noch eine weite +Strecke nach Osten erstreckte. Manchmal lichtet sich der tote Wald, +und seine noch aufrechtstehenden Stämme haben von fern täuschende +Ähnlichkeit mit Telegraphenstangen. In vor dem Winde geschützten Tälern +sahen wir jetzt zum ersten Male Spuren von wilden Kamelen. + +Unter den toten Bäumen kommen jetzt häufig Jiggde-Büsche (Ölweide, +~Elaeagnus hortensis~) vor. Nach der ganz richtigen Auffassung der +Eingeborenen bilden sie den besten Beweis für eine frühere Bewässerung, +denn die Jiggde ist die erste unter Büschen und Bäumen, die eingeht, +wenn die Bewässerung aufhört, und schon verdorrt, wenn das Wasser +salzhaltig ist. Tograk (Pappeln) und Julgun (Tamarisken) sind weit +zäher und leben noch lange Zeit auf den Wurzeln. + +Auch heute rasteten wir in einer absolut öden Gegend, aber wir hatten +sieben Tulume (Schläuche von Ziegenleder) voll Eis mitgenommen, von +denen zwei täglich draufgingen, wenn die Kamele nichts erhielten. + +Am 15. März herrschte wieder starker Ostwind. Seine Geschwindigkeit +betrug nur 7 Meter in der Sekunde, aber er machte sich bei -1,1 Grad um +7 Uhr morgens fühlbar und drang durch unsere dünnen Frühjahrsanzüge. +Selbst wenn man den halben Tag zu Fuß geht, kann man nicht warm werden. +Um 1 Uhr stieg die Temperatur nur auf +6,8 Grad. In Jing-pen hatten +wir bei Westwind +21,4 Grad gehabt. Es ist wahrscheinlich, daß dieses +Verhältnis mit der verschiedenen Erwärmung des Kontinents in enger +Verbindung steht. Im Jahre 1897 hatte ich in der östlichen Mongolei +um diese Jahreszeit noch einen bitterkalten Winter mit tiefem Schnee +gehabt. In den zentralen Wüsten dagegen bildet sich ein barometrisches +Minimum, das seine Saugkraft auf die Randgebiete ausübt. Diese +Ungleichheit des Luftdrucks ist im Frühling am größten und gleicht sich +im Sommer aus. Daher treten im Lopgebiete im Frühling heftige östliche +und nordöstliche Stürme ein. + +Abdu Rehim kannte eine Quelle in den niederen Bergen, die wir seiner +Ansicht nach besuchen mußten. Wir verließen daher den Kurruk-darja bis +auf weiteres und schlugen den Weg nach Nordosten ein. Nachdem wir einen +niedrigen Bergrücken passiert hatten, erblickten wir eine ausgedehnte +offene Arena. Im Norden derselben sah man merkwürdigerweise kaum etwas +vom Gebirge, so niedrig sind die Hügel, die sich auf dieser Seite +schwach abzeichnen. Mitten in diesem flachen Kesseltale finden wir die ++Oase Oi-köbruk+, wo Kamisch wächst. Wasser gibt es jedoch nicht, +und die Vegetation lebt von den Regenfluten, die sich dann und wann +hier ansammeln. + +Spuren von wilden Kamelen kamen jetzt in solcher Menge vor, daß wir +ihnen kaum noch Aufmerksamkeit schenkten. An einer Stelle hatte vor ein +paar Tagen ein großes Tier im Sande gelegen und sich dort behaglich +eingewühlt. Wahrscheinlich waren alle diese Wanderer auf dem Wege von +oder nach Jardang-bulak gewesen, dem einzigen Punkte der Gegend, wo +Wasser offen zu Tage tritt. + +Ein Kamm, bestehend aus einer grobkristallinischen Gesteinsart, +durchzogen von Diabasgängen, alles stark verwittert, trennte uns +noch von Jardang-bulak, und nachdem wir ein unfruchtbares Gebiet +überschritten hatten, lagerten wir in dem Talgange dieser Quelle. + +Hier wächst auf einem ganz kleinen Flecke üppiges Schilf. Es war der +eine von den beiden Plätzen, wo wir Weide und Wasser finden sollten; +daher beschlossen wir, den Tieren hier zwei Ruhetage zu gewähren. Drei +andere ähnliche Quellen -- doch ohne nennenswerte Vegetation -- liegen +ganz in der Nähe. Unsere Quelle heißt +Atschik+ (die bittere). Das +Wasser derselben rieselt in einer Erosionsfurche zwischen niedrigen +Granitplatten hin und trägt eine dezimeterdicke Eisdecke, deren +Oberfläche wilde Kamele und Antilopen, die hier zur Tränke gegangen +sind, beschmutzt haben. Das Eis mußte daher gewaschen werden, ehe wir +es verwenden konnten, aber sein Schmelzwasser war vorzüglich und hatte +keinen Beigeschmack, obwohl das Aräometer in dem Quellwasser direkt am +Ursprung 1,012 spezifisches Gewicht zeigte. + +Abdu Rehim, unser Wegweiser, ist ein gewaltiger Kameltöter; er benutzte +daher den ersten Rasttag zu einem Jagdausfluge. Er blieb vierzehn +Stunden fort und erzählte bei seiner Rückkehr, daß er auf ein großes +männliches Kamel gestoßen sei, welches er, nach der blutigen Spur zu +urteilen, schwer verwundet habe. Der Jäger hatte das Wild bis weit +über den Kurruk-darja hinaus verfolgt, und es war ihm dabei mehrmals +gelungen, sich dem Tiere bis auf 300 Schritt zu nähern, welcher Abstand +für asiatische Flinten jedoch zu groß ist. Schließlich war das Kamel +südwärts nach den ersten Sanddünen gelaufen, wo es Abdu Rehim bald +aus den Augen entschwand, und da es auch zu dämmern begann, hatte er +umkehren müssen. Er sagte, daß die Kamele, wenn sie verwundet worden +sind, stets südwärts nach der offenen Wüste laufen, und glaubte, daß +sie sich auch dann, wenn sie den Tod auf natürliche Weise kommen +fühlen, nach den Dünen begeben, um dort ihr Grab zu finden. Er glaubte +dies, weil er in den Bergen des Kurruk-tag selten oder nie Kamelgerippe +gefunden hatte. Vielleicht wissen sie, daß, wenn ihr Todeskampf +lang wird, sie sicher sein können, ihn in der Sandwüste in Ruhe +auszukämpfen, während sie im Gebirge Belästigungen leichter ausgesetzt +sein würden. + +Abdu Rehim hatte auch ganz frische Spuren einer Herde von sieben +Kamelen gesehen, eines alten Männchen mit zwei Weibchen und vier Tailak +(Jungen). + +Besser glückte es Tschernoff. Frühmorgens hörte ich die Männer äußerst +lebhaft, aber mit leiser Stimme davon reden, daß die Hunde angebunden +werden müßten. Darauf wurde es ganz still, und dann krachten dicht +beim Lager fünf Schüsse. Mit dem Winde hatte sich ein Kamel, ohne +einen Hinterhalt zu ahnen, der Quelle genähert. Tschernoff und Chodai +Kullu legten an, aber das Kamel machte kehrt und entfloh, nur leicht +verwundet, in östlicher Richtung. Tschernoff verfolgte es; das Tier +blieb bisweilen stehen und betrachtete ihn neugierig. Auf 500 Schritt +Entfernung wurde ein letzter Schuß abgefeuert und traf aufs Blatt. Das +Kamel lief langsam nach Süden, fiel ein paarmal, erhob sich wieder und +brach schließlich, als die Jäger ihm schon ganz nahe waren, etwa 2 +Kilometer vom Lager tot zusammen (Abb. 79). + +Es war ein junges Weibchen. Es hatte eine sehr weiche, feine Wolle, +die jetzt, zu Anfang der Zeit des Haarens, beinahe von selbst abfiel; +die Männer sammelten sie, um Schnüre und Stricke daraus zu drehen. +Darauf wurde das Tier zerlegt; sein Fleisch war uns sehr willkommen, +da unser Vorrat an Schaffleisch, das in den letzten Tagen schon etwas +verdorben gewesen war, jetzt gerade ein Ende genommen hatte. Die Hunde +hielten von den Fleischresten und Eingeweiden einen Festschmaus, und +die Füchse der Gegend werden sich gewiß auch noch eingestellt haben. Am +Tage darauf kreiste ein Geier über dem Platze, wo das arme Tier den Tod +gefunden hatte. Abdu Rehim glaubte, daß die wilden Kamele die Gegend, +wo einer ihrer Kameraden gefallen war, noch lange scheuen würden. Zum +Vergleich mit dem erbeuteten Kamele habe ich eines unserer zahmen +Kamele mit abgebildet (Abb. 80). Dieses Tier hatte schon 1896 an meinem +Zuge durch die Kerijawüste und zum Lop-nor teilgenommen; es starb 1901 +im Innern von Tibet. + +Abends schoß Tschernoff ein paar prächtige Rebhühner, die uns gut +zustatten kamen. Die Fleischverproviantierung ist nämlich während der +heißen Jahreszeit stets eine heikle Frage. Ich hatte mit Kirgui Pavan +und zwei anderen Jägern, die Jardang-bulak kannten, vereinbart, daß sie +sich dort mit fünf Schafen nebst Hühnern und Eiern einfinden sollten. +Da sie jedoch nichts von sich hören ließen, konnten wir nicht länger +warten. Bei unserer Rückkehr erfuhren wir, daß sie zwar aufgebrochen +waren, sich aber in der Wüste verirrt und während des Sturmes drei +Schafe verloren hatten. Die übrigen waren halbtot, als sie endlich +Jardang-bulak erreichten, wo sie auch unsere Feuerstelle fanden; da war +es aber zu spät, und sie traten daher den Rückweg nach Tikkenlik an. +Wir regten uns aber ihres Nichtkommens wegen nicht auf, denn wenn wir +nur wohlbehalten den Kara-koschun erreichten, brauchten wir keine Not +zu leiden. + + + + +Zwanzigstes Kapitel. + +Das gelobte Land des wilden Kamels. + + +Abdu Rehim gab mir manche Auskunft über die Eigenschaften des wilden +Kamels, die mit dem übereinstimmte, was ich 1896 von dem alten +Kameljäger am unteren Kerija-darja darüber erfahren hatte. + +In der gegenwärtigen Jahreszeit muß das Kamel alle acht Tage saufen, im +Winter aber kann es zwei Wochen dursten. Doch kann es auch im Sommer +das Wasser einen halben Monat entbehren, wenn es saftige Weide hat. +Daß es den Durst im Winter nicht länger als 14 Tage ertragen kann, hat +seinen Grund darin, daß das Futter dann vertrocknet ist. Die Tiere +kennen die Lage der Quellen so genau, als richteten sie sich nach +Karte und Kompaß. Die Jungen sind von ihren Müttern dorthin geführt +worden, und die Reliefverhältnisse des Terrains verwachsen mit ihrem +Bewußtsein. Auch stark salzhaltiges Wasser saufen sie mit großem +Behagen. Zwischen Tamarisken und im Schilfe, wie auch überall, wo der +Schütze Deckung findet, kann er gegen frischen Wind bis auf 30 Schritt +an das Tier herankommen, und im allgemeinen schießt er nicht gern aus +größerer Entfernung als 50 Schritt. + +Der Geruch ist der feinste Sinn des Kamels, und es soll den Menschen +in einer Entfernung von 20 Kilometer wittern können; wenn es merkt, +daß etwas nicht geheuer ist, entflieht es mit Windesschnelle. Gleich +seinen Vettern am Kerija-darja hegt es große Furcht vor dem Rauche +von Lagerfeuern. Es flieht auch vor dem zahmen Kamele mit Packsattel, +ja selbst, wenn dieser abgenommen ist, denn es wittert sogleich den +fremden Geruch des zahmen Kamels. Dagegen war es bisweilen vorgekommen, +daß junge, noch nicht zur Arbeit verwendete Kamele sich in wilde Herden +hineinverirrt und dort Aufnahme gefunden hatten. Bei einer solchen +Gelegenheit hatte einmal Abdu Rehims Bruder ein seinem Vater gehöriges +Kamel in dem Glauben, es sei ein wildes, geschossen. Im großen und +ganzen scheinen die Kamele des Kurruk-tag dieselben Eigenschaften zu +haben wie die vom Kerija-darja. Sie vermeiden bewohnte Gegenden sowie +Stellen, welche Menschen, wenn auch noch so selten, passieren. In +Verbindung hiermit sei erwähnt, daß nach Prschewalskij wilde Kamele in +der Kum-tag-Wüste östlich vom Sumpfe des Kara-koschun häufig vorkamen. +Jetzt fehlen sie in dieser Wüste oder sind wenigstens sehr selten +geworden, was seinen Grund in dem Austrocknen des Sees, wie auch darin +haben kann, daß die noch vorhandenen Wasserflächen bewohnten Gegenden +zu nahe liegen. + +Die wilden Kamele nähern sich einem Platze, wo Jäger gelagert haben, +für längere Zeit nicht wieder. Abdu Rehim glaubte, sie würden nicht +eher als nach dem nächsten Regen wieder nach Jardang-bulak kommen oder +dort wenigstens nicht eher weiden, als bis die Stelle reingewaschen +und jede Spur unserer Feuer fortgeschwemmt worden sei. Im allgemeinen +bleibt die Kamelherde bloß 2-3 Tage an einem Platze mit Weide und sucht +dann einen anderen auf. Nach einer Quelle gehen sie nur, um zu trinken, +und bleiben nie länger dort, selbst wenn die Weide noch so gut ist. +Mein Gewährsmann behauptete, dem Kamele sage sein Instinkt, daß es bei +den Quellen die größte Gefahr laufe, mit Menschen zusammenzutreffen. +Wenn es solche gesehen oder gewittert hat, flieht es mehrere Tage +ohne Aufenthalt, bewerkstelligt seinen Rückzug aber im ganzen mit +großer Ruhe. Findet es auf der Flucht Weide, so hält es sich dort eine +Weile auf und frißt sich satt, bevor es weiterläuft. Wenn die Nacht +hereinbricht, legt es sich neben eine Tamariske, wo der Boden weich +ist, und setzt seine Flucht erst fort, wenn es wieder hell ist. Es +frißt alles mögliche aus dem Pflanzenreiche, am liebsten aber trockene, +losgerissene, vom Winde verwehte Grasbüschel. Auch die Weideplätze +findet es mit überraschender Sicherheit auf und begibt sich in gerader +Linie vom einen zum anderen, selbst wenn sie mehrere Tagemärsche weit +voneinander entfernt liegen und die Gegend keine Anhaltspunkte für die +Orientierung zu bieten scheint. + +Während der Brunst, die in die Monate Dezember, Januar und Februar +fällt, kämpfen die Männchen förmliche Schlachten. Sie beißen sich, wo +sie sich nur treffen. Der im Streite Unterliegende muß oft einsam und +allein abziehen, während dem Sieger dann bis zu acht Weibchen zufallen +können. Geraten zwei gleich starke Männchen aneinander, so trennen sie +sich nicht eher, als bis eines oder beide kampfunfähig geworden sind. +Sie richten einander mit den Zähnen gräßlich zu und ziehen sich blutig +und zerbissen zurück; oft reißen sie einander ganze Fleischstücke aus +dem Leibe, und selten trifft man ein ausgewachsenes Männchen, das nicht +durch scheußliche Narben entstellt ist. + +Oft stößt man auf einzelne Kamele, auch auf Paare; aber Herden von +4 oder 6 Tieren sind die Regel, während Herden von 12-15 selten +sind; stets ist jedoch ein starkes Männchen der Führer. Das zahme +Kamelweibchen geht ein Jahr lang trächtig, bei dem wilden soll es 14 +Monate dauern. Man ist der Ansicht, daß das zahme jeden 18. Monat ein +Junges gebären kann, und zwar zum ersten Male im Alter von 8 und zum +letzten Male mit 15 Jahren. Das Junge wird 40 Tage gesäugt, ehe es Gras +fressen lernt, setzt das Säugen aber noch über ein Jahr fort. Bevor +es anderthalb Monate alt ist, kann es mit dem Maule kaum an die Erde +kommen. Bei den wilden soll es ebenso sein. + +Das zahme Kamel ist bis zum Alter von 20 Jahren arbeitsfähig. Das wilde +soll 50 Jahre alt werden, was jedoch unsicher und unwahrscheinlich ist. +Doch Abdu Rehim hatte einmal in den Muskeln eines alten Kamelmännchens +eine mongolische Kugel gefunden, deren Form erkennen ließ, daß sie +dort 40-50 Jahre gesessen haben mußte, denn solange bedienten sich die +Mongolen schon nicht mehr solcher Kugeln. Seinen Beschreibungen nach +schienen die Kamele der Berge schwerer zu schießen zu sein als die der +Takla-makan. Tschernoff glaubte, dies könne darauf beruhen, daß die +Jäger des Landes weniger reichliche Pulverladung in ihren Flinten haben +als wir und daß ihre Waffen unvollkommener sind. Die Kugel dringt nicht +tief genug ein und bleibt oft sitzen, ohne ein empfindliches Organ +verletzt zu haben. + +Zwischen Jardang-bulak und Chami kommt das wilde Kamel überall vor. +Es geht nach Westen hin nie über den Weg zwischen Jing-pen und Turfan +hinaus. Unser Lager Nr. 6 (am 13. März) kann als sein westlichster +Verbreitungspunkt im Bette des Kurruk-darja betrachtet werden. Im +Kurruk-tag findet man es am häufigsten im Tale von Altimisch-bulak +und östlich von diesem. Es ist aber ein unruhiges Tier, das ein +Nomadenleben im großen Stile führt. + +Abdu Rehim war 6 Jahre Kameljäger gewesen und hatte in dieser Zeit +13 Kamele erlegt, was darauf schließen läßt, daß sie eine keineswegs +leicht zu gewinnende Beute sind. Sein Vater hatte einmal versucht, ein +Junges zu fangen, um es aufzuziehen und zu zähmen. Geduldig legte er +sich auf die Lauer. Sobald das Junge geboren war, witterte jedoch die +Mutter Unrat, nahm das Neugeborene zwischen Hals und Kinn und entfloh +mit solcher Geschwindigkeit, daß sie nicht einzuholen war. + +[Illustration: 95. Unsere Kähne auf dem Ilek. (S. 247.)] + +[Illustration: 96. Pappeln am Ufer des Ilek. (S. 247.)] + +[Illustration: 97. Im Schilf auf dem Suji-sarik-köll. (S. 248.)] + +[Illustration: 98. Unsere Kähne bei einem Nachtlager. (S. 248.)] + +[Illustration: 99. Brücke bei Tikkenlik. (S. 250.)] + +[Illustration: 100. Der Kalmak-ottogo-Arm. (S. 250.)] + +Bevor uns der prächtige junge Abdu Rehim verläßt, seien noch ein paar +Worte über seine Familie gesagt. Er ist ein Sohn des Pavans Ahmed, +der seit 40 Jahren in Singer mit seinen vier Söhnen wohnt, die alle +dort geboren und von denen drei verheiratet sind. Alle Bewohner des +Dörfchens sind demnach Mitglieder der Familie Ahmeds. Der älteste Sohn +ist Karaultschi, der vom Amban von Dural eingesetzte Stationswächter +des Dorfes. Wenn in der Gegend etwas Unerlaubtes oder Verdächtiges +geschieht, ist es seine Pflicht, darüber Bericht zu erstatten. Er ist +Besitzer von 200 Schafen, die ein Mongole in der Gegend von Argan unter +der Bedingung hütet, daß die Hälfte der im Jahre geborenen Lämmer dem +Mongolen, die andere Hälfte aber Ahmed zufällt, welch letzterer auch +noch so viel Wolle beansprucht, wie zur Herstellung von drei Kigis +(Filzdecken) erforderlich ist. Den Rest darf der Mongole, der selbst +große Herden besitzt, behalten. + +Ferner ist Ahmed Besitzer von 27 Kamelen, mit denen er nicht selten +Geschäfte macht, indem er neue ankauft, wenn sie billig sind, und sie +teuer verkauft, sobald sich die Gelegenheit dazu bietet. Schließlich +hat er noch 2 Pferde und 10 Kühe. Er baut Weizen, Gerste, Melonen, +Zwiebeln und andere Gemüse in Singer, wo der Boden besonders ergiebig +sein soll, so daß sie dort jedes Jahr auf Ernte rechnen können, während +man in anderen Gegenden die Äcker einige Jahre ruhen lassen muß. Die +Leute sind von ihrem Dorfe entzückt und möchten mit keinem anderen +tauschen. + +Abdu Rehim war ein hübscher, munterer, kräftiger und zuverlässiger +Mensch, und was ich an ihm besonders schätzte, war seine Wahrheitsliebe +und die Zuverlässigkeit seiner Angaben. Konnte er eine gewünschte +Auskunft nicht erteilen, so antwortete er, daß er es nicht wisse. Sonst +pflegen die Muselmänner in einem solchen Falle rasch eine Geschichte +zu erfinden. Er besorgte seine acht Kamele mit bewundernswerter +Geschicklichkeit, war überall bei der Hand, belud und lud ab wie ein +Sklave und fand den geraden Weg zwischen den Quellen wie ein wildes +Kamel. Ihn zu sehen, wie er sich mit der schweren, plumpen Flinte auf +der Schulter auf sein Reitkamel schwang, war ein wahres Vergnügen; er +war geschmeidig und stark wie ein Tiger. Jeden Abend pflegte ich ihn +in mein Zelt zu rufen, um ihn eine Stunde lang über seine Erfahrungen +auszuhorchen. Ich versuchte, ihn noch länger an unsere Karawane zu +fesseln, aber er sehnte sich nach seinem Heim in den Bergen zurück. + +Beim Aufbruch am 18. März wurden sieben Ziegenfellschläuche und +zwei Säcke mit Eis mitgenommen, sowie zwei Säcke Kamisch, um an +Lagerplätzen ohne Weide sparsam an die Kamele verteilt zu werden. +Unterwegs sahen wir Spuren von einem alten und einem jungen Kamele, +und zwar so frische, daß die Tiere am selben Morgen dort gegangen sein +mußten. Tschernoff brannte vor Eifer und verschwand, von Chodai Kullu +begleitet, hinter den Hügeln. Abdu Rehim ritt wie gewöhnlich an der +Spitze, seine Kamele anführend, ihm folgte Faisullah mit unseren vier +Tieren; ich war der letzte. Ördek ging gewöhnlich zu Fuß. + +Plötzlich machte der Vortrab Halt, und die Männer saßen ab. Sie hatten +ein großes, liegendes Kamel wahrgenommen. Abdu Rehim kroch mit der +Flinte auf dem Rücken am Boden entlang. Ich schlich mich zu ihm hin +und beobachtete mit dem Fernglase eine Herde, die aus einem großen +schwarzen Bughra (Männchen) und fünf helleren Kamelen bestand. Das +Bughra hatte sich gerade erhoben und wendete den Kopf mit aufgeblähten +Nüstern unruhig und aufmerksam nach unserer Seite. Drei von den anderen +lagen wiederkäuend, und zwei weideten. + +Während wir anderen in einer Entfernung von 800 Schritt auf einem +gutversteckten Aussichtspunkte, von dem man allen Bewegungen der Herde +folgen konnte, stehenblieben, schlich Abdu Rehim nach dem Platze, +wohin auch Tschernoff durch die Spuren geleitet worden war. Doch der +Wind kam gerade von hier, und das Männchen witterte offenbar Unrat. Es +ging nach Westen, wo die Weibchen lagen, blieb stehen, schnüffelte, +den Blick unverwandt nach unserer Seite gerichtet, in der Luft und +ging dann weiter; die anderen, zwei ausgewachsene Weibchen und drei +Jährlingsfüllen, merkten nichts. + +Jetzt krachte ein Schuß. Er traf nicht, die Entfernung war zu groß; +aber, erschreckt von dem Knall, ergriff das Bughra schleunigst die +Flucht. Die Weibchen zögerten einen Augenblick, schnellten darauf wie +Sprungfedern in die Höhe und schwenkten in so starkem Galopp ab, daß +der Staub hinter ihnen aufwirbelte. Das Bughra lief allein, die anderen +dicht aneinander gedrängt 100 Schritt rechts von ihm. Ich betrachtete +die Schar durch das Fernglas, aber nach wenigen Minuten waren die +großen Tiere zu kleinen schwarzen Punkten zusammengeschrumpft, und +nachher sah ich nur noch die Staubwolke, die ihren Weg angab. Die +Tiere flohen mit großer Schnelligkeit und ohne sich zu verschnaufen; +sie waren in den Wind hineingekommen, der ihnen den Karawanengeruch +zuführte, und hatten die Gefahr erkannt. Abdu Rehim glaubte, daß sie +drei Tage in der Sandwüste bleiben würden, ehe sie sich auf einem +weiten Umweg wieder in die Berge wagten. + +Sehr weit waren wir auch am folgenden Morgen noch nicht gelangt, als +die Schützen wieder anhielten und nach Süden zeigten, wo ein einsames +Kamel philosophierend zwischen toten Tamariskenkegeln umherspazierte. +Drei Flintenläufe wurden auf das Tier gerichtet, und drei Schüsse +krachten, aber die Entfernung war zu groß, und das Kamel lief in wenig +hastigem Trabe nach Nordosten; dabei kreuzte es unseren Weg, so daß +wir es jetzt zur Linken hatten, wo es plötzlich stehenblieb und sich +die Friedensstörer der Wüste betrachtete. Daß die Hunde auf das Kamel +losstürmten, ließ es sich mit merkwürdiger Ruhe gefallen. Tschernoff +schoß wieder, worauf das Tier zusammenzuckte, alle Beine spreizte, den +Schwanz aufrichtete und ziemlich langsam, die Hunde auf den Fersen, +nach Osten lief. Verwundet war es, das sah man an den spärlichen +Blutspuren, aber die Verwundung schien nur leicht zu sein, und es +entschwand uns bald aus dem Gesichte. + +Wir hatten einen neuen Beweis von der unbegreiflichen Dummheit und +Unvorsichtigkeit des wilden Kamels erhalten. Das jetzt in Frage +kommende schien sich außerordentlich für unsere Kamele zu interessieren +und stand nach der ersten Salve einige Augenblicke ganz still. +Tschernoff verfolgte es zu Pferd und näherte sich ihm auf 50 Schritt, +aber die Hunde verdarben ihm die Jagd. Das Kamel, eines jener einsamen +Männchen, die von einem stärkeren Nebenbuhler besiegt worden sind, war +wohl gerade an die Quelle gekommen, um zu saufen. Es hatte sicherlich +nur eine ungefährliche Schramme erhalten. + +Zur Linken haben wir noch immer die untere Terrasse und finden auf ihr +unzählige tiefe Regenwasserrinnen. Zur Rechten schlängelt sich der +Kurruk-darja mit seinem toten Walde und seinen Jarterrassen. Von dieser +Gegend an sind Schneckengehäuse (Limnaea) außerordentlich häufig. +Hier hat es also an den Seiten des früheren Flusses Uferseen gegeben. +Diese Behauptung bedarf keines anderen Beweises als des Vorkommens von +Süßwassermollusken, die sich nicht in schnell strömendem Flußwasser, +sondern nur in stillen Seen und Lagunen mit reichlicher Vegetation +aufhalten. + +Dann überschreiten wir das Bett und gehen nach Südosten, um ein Bild +von dem Aussehen der Wüste nach dieser Seite hin zu erhalten. Der harte +Felsboden ist außerordentlich unangenehm und höckerig. Die Jardang +werden niedriger, die Furchen zwischen ihnen sind nur einen Fuß tief +eingeschnitten, aber die Kamele stolpern über diese ewigen Schwellen. +Sand tritt auf, bildet aber keine Dünen. Ördek fand einige Scherben +eines an starkem Feuer gebrannten Tongefäßes und eine Art von Schiefer. +Noch aufrechtstehende Pappelstämme sind nicht ungewöhnlich, aber sie +sind tot und grau, spröde und zerbrechlich. Sie sind stets dünn, als +ob nur ihr innerstes Mark der Beschädigung durch die Atmosphärilien +zu widerstehen vermöchte. Der Boden ist mit Limnaeaschalen bestreut. +Tschidschegan (totes Kamisch), gestutzt wie die Borsten einer +Scheuerbürste, bedeckt große Flächen; es sind die früheren, üppigen +Felder auf den Ufern dieses Flusses und seiner Lagunen. + +Es kam uns sehr unerwartet, daß wir in einer Bodensenkung ein Dutzend +lebender Pappeln fanden, die allerdings kümmerlich aussahen, aber doch +Wurzeln hatten, um ihren Lebenssaft aus dem Grundwasser zu saugen. +Um sie herum kreuzten sich mehrere Kamelspuren, und man sah auch die +Fährte eines Wolfes, der von Süden gekommen war, wohin auch ein paar +Kamelspuren gingen. Abdu Rehim glaubte, daß es nach dieser Richtung hin +Weide gebe oder daß dort ein See liege. Er hatte nie vom Awullu-köll +gehört und ahnte gar nicht, wie recht er hatte. + +Wir ziehen dann zwischen 3 Meter hohen, steil nach Westsüdwest +abfallenden Dünen hindurch, die außerordentlich regelmäßig gebildet +sind, eine hübsche Halbmondform haben und isoliert liegen. Im Süden +dieses noch in den Windeln liegenden Übersandungsgürtels erscheinen +höhere Dünen, zwischen denen jedoch noch immer toter Wald auftritt. +Es war nicht unsere Absicht, uns jetzt in dieser Richtung noch weiter +zu begeben, sondern wir kehrten nach Nordosten zurück und lagerten in +einer wüsten Gegend, wo die Kamele, die hier in der Heimat ihrer wilden +Verwandten stets angebunden wurden, Kamisch aus den Säcken erhielten. + +Oft verlieren wir das alte Bett ganz, um uns dann nach stundenlangem +Suchen plötzlich wieder am Rande einer Biegung zu befinden. +Wahrscheinlich finden wir in dem gegenwärtigen Relief der Landschaft +verschiedene hydrographische Epochen abgespiegelt. Die außerordentlich +scharf markierte Terrasse am Fuße des untersten Sai ist eine +Uferlinie, die seinerzeit von den Wellen eines sehr ansehnlichen Sees +bespült worden ist. Dieser ist nach und nach flacher geworden und +zusammengeschrumpft; die Schneckenschalen sind liegen geblieben und +zeigen, welche Gegenden früher unter Wasser standen. + +Die Wüste wird immer unfruchtbarer. Oft kreuzen wir nach Süden führende +Kamelspuren; es ist nicht unwahrscheinlich, daß das Kamel sich nach +dem Awullu-köll, der selten von Lopleuten besucht wird, zu begeben +pflegt. Und dann geht unser Zug wieder durch ein Stück Flußbett, +das bewundernswert deutlich ist. Es ist 94 Meter breit, 6,5 Meter +tief eingeschnitten und trägt auf seinen Ufern toten Wald. Es ist +ein fossiler Fluß. Nimmt man ein Stück vom Tarim, läßt sein Wasser +verschwinden und seinen Wald welken und verdorren, so wird das Resultat +genau dasselbe sein, das wir hier vor uns hatten. + +Wir rasteten in einer Bodensenkung. + +Von diesem Lager folgten wir einem Kamelpfade, der jedoch +wahrscheinlich nur einmal von einer Herde benutzt worden war, denn es +liegt nicht in der Natur des wilden Kamels, sich an bestimmte Wege +zu halten, sondern es pflegt im Gegenteil seine Sicherheit dadurch +zu vergrößern, daß es sich davon ganz unabhängig macht. In dieser +Beziehung ist es schlauer als der Tiger, der sich in Fallen fangen +läßt, weil er stets alte Wege benutzt. + +Die Landschaft verändert sich wenig. Die Berge sehen eher aus wie eine +niedrige Hügelreihe mit eingekerbtem Kamme. Toter Wald ist spärlich, +aufrechtstehende Stämme selten. Rechts ein Meer von Jardang mit +Milliarden von Schneckenschalen. Ördek fand einen Tonkrug, Stücke einer +großen Schüssel mit einem glasierten Rankenornament und ein Stück von +einem großen Kupferkessel mit horizontal umgebogenem Rande. Hier hat +ein Gehöft oder ein kleiner Weiler gelegen; jedenfalls zeigte der Fund, +daß die Gegend bewohnt gewesen ist. Die Gefäße waren chinesische Arbeit. + +Während des heutigen Tages hörte das Bett des Kurruk-darja ganz auf, +und der Boden, den wir jetzt betraten, war ehemals vom Wasser des alten +Lop-nor-Sees überschwemmt. Daher endigte der Wald hier, die Schnecken +aber waren noch zahlreicher als früher. Die Jardang bildeten jetzt ein +paar Meter breite und einen Meter hohe Rücken von ziemlich festem, +horizontal geschichtetem gelbem Tone, deren Richtung Nordost-Südwest +war und die einander bis ins Unendliche folgten. Furchen oder +Rinnen von derselben Breite und Tiefe trennten sie voneinander. Die +Richtung dieser eigentümlichen Bodenform läßt uns vermuten, daß sie +ausschließlich ein Werk des vorherrschenden Nordostwindes ist, dessen +Flugsand an dem leicht vergänglichen Tone beständig feilt und frißt. +Alle Ränder und Seiten dieser langen Tafeln zeigen deutlich vom Winde +abgeschliffene Flächen. Anhäufungen von Treibsand fehlen jedoch, weil +der See erst vor relativ kurzer Zeit verschwunden ist. Marco Polos +Behauptung, daß zur Durchquerung der Lopwüste ein Jahr erforderlich +sei, ist nicht so übertrieben, wenn man bedenkt, daß dazumal Kara-buran +und Kara-koschun noch nicht existierten und man also von der +Takla-makan bis nach der Mandschurei von einer ununterbrochenen Wüste +sprechen konnte. + +Unweit des Lagers Nr. 12 wurden dicke, graublaue Scherben von einem +großen Tongefäße mit kleinen Henkeln gefunden. Es war das dritte Mal, +daß wir an diesen ausgetrockneten Wasserwegen Spuren von Menschen +fanden. Der Boden ist hier und da mit Salzablagerungen bedeckt, an +denen man sieht, daß der See, nachdem er seines Zuflusses beraubt +worden war, allmählich salzig geworden ist. Daß die Salzschichten so +selten sind, hat seinen Grund darin, daß der Wind die Oberschicht des +Bodens beständig abhobelt. + +Jetzt galt es, Altimisch-bulak (die sechzig Quellen) zu finden. Wir +schlugen daher den Weg nach Nordnordost ein, die niedrigen Ausläufer +und Hügel des Kurruk-tag ersteigend, von wo aus der Blick sich auf der +absolut ebenen, aber rauhen Fläche der Wüste verliert. Nur zweimal +während aller seiner Wanderungen in diesen Gegenden hatte Abdu Rehim +fern im Süden einen schneebedeckten Kamm gesehen, aber er hatte nie +etwas vom Astin-tag gehört. + +Gegen Abend erhob sich ein heftiger Nordwind; der Himmel bedeckte sich +mit Wolken, und es war bei der herrschenden Finsternis nicht möglich, +die Quelle zu finden, weshalb wir nach einem Marsche von 38 Kilometer +in einer gänzlich unfruchtbaren Tonwüste lagerten. Seit fünf Tagen +hatten wir keinen Tropfen Wasser gefunden, und das bißchen, das sich +noch in den Schläuchen befand, war verdorben. Der Fleischvorrat war +auch zu Ende, und die Bewirtung fiel an diesem Abend kärglich aus. + +Der Wind hielt die ganze Nacht an; das Zelttuch war straffgespannt, +es flatterte und riß an den Tauen, und ich hatte alle meine Papiere +und Karten eingepackt, denn wenn der Wind das Zelt umstürzte, wären +sie fortgeflogen und nicht wieder zu erlangen gewesen. Noch am Morgen +betrug die Windstärke 11 Meter in der Sekunde. + +Als ich bei Tagesanbruch aus dem Zelte trat, lag eine trostlose +Landschaft vor mir. Im Nordosten erstreckt sich ein niedriger Rücken, +im Südosten fällt das Terrain nach der Wüste ab, im übrigen sieht man +in weiter Ferne unbedeutende Kämme und Landrücken; der Boden ist mit +Schutt bedeckt, keine einzige Pflanze; alles ist verwittert, kahl und +öde. Die Chinesen haben diese Landrücken auf ihren Karten nicht als +Gebirge verzeichnet, nur der Hauptkamm weit hinten im Norden ist darauf +angegeben. + +Heute war es Melik Ahun, Abdu Rehims Bruder, der den Zug führte. +Schweigend und ruhig thronte er auf seinem hohen Kamele an der Spitze, +den ganzen Zug hinter sich, wie ein Lotse ein ganzes Geschwader leitet. + +Nachdem wir einen Hügel passiert hatten, erblickten wir ein großes, +offenes Feld, und in der Mitte desselben glänzte der Boden gelb -- es +war die gesegnete, herrliche Oase +Altimisch-bulak+! + +Mit ihren durch ständiges Leben im Freien geschärften Augen hatten Abdu +Rehim und Melik sogleich eine am Ostrande weidende Kamelherde erblickt +-- ich konnte die Tiere kaum mit dem Fernglase erkennen. Jetzt übernahm +der erfahrene Kameljäger die Führung und gab der Karawane Anweisung, +einen Umweg hinter einem niedrigen Bergrücken herum zu machen. Abdu +Rehim und Tschernoff eilten nach dem Kamischfelde der Oase; ich folgte +ihnen, um mir den Verlauf der Jagd als passiver Zuschauer anzusehen. +Wir kreuzten das Bächlein der „sechzig Quellen“, wo, wie unser +Wegweiser schon vor einem Monate richtig prophezeit hatte, noch große +schöne Eisschollen lagen (Abb. 81) und gingen dann in das Schilf und +die Tamarisken hinein. + +Auch diese Herde bestand aus einem großen dunkeln Bughra und fünf +hellen Kamelen; vielleicht war es dieselbe, die wir schon gesehen +hatten. Das alte und eines der Jungen weideten eifrig, die übrigen +lagen, die Köpfe uns zugewandt. Wir waren 300 Schritt von ihnen +entfernt und der Wind kam gerade von ihnen, weshalb weder Gehör noch +Geruch sie warnen konnte; für uns war es das Wichtigste, uns nicht +sehen zu lassen. Eigentlich war es feige, sich auf diese Weise an +die edeln Tiere heranzuschleichen und sie aus dem Hinterhalte zu +überfallen. + +Mich interessierte es am meisten, möglichst viel von ihren Bewegungen +und Gewohnheiten im Freien zu sehen, aber ich wollte den Männern nicht +das Schießen verbieten, denn dies würde in der Karawane Unzufriedenheit +und Ärger erweckt haben, die verdrießliche Folgen haben konnten. Dazu +kam, daß Abdu Rehim Kameljäger von Beruf war. Die Muselmänner besitzen +keine Spur von Gefühl für die Leiden eines Tieres und hätten das +Verbot sicherlich als einen gegen sie selbst gerichteten launenhaften +Einfall aufgefaßt. Für einen Jäger mußte auch die Jagd auf ein solches +Tier ein Fest sein, das sah man unseren Schützen an; sie sahen und +hörten nichts anderes, wenn sie Kamele beschlichen, und ihre Augen +strahlten vor leidenschaftlicher Freude. Ich aber seufzte erleichtert +auf, wenn sie fehlten, denn meine Sympathien waren ganz auf seiten der +Kamele. Diesmal stand es jedoch in den Sternen geschrieben, daß ein +unschuldiges Leben erlöschen sollte. + +Abdu Rehim bat uns, dort, wo wir uns befanden, zu warten, während er +einen großen Umweg machte, um ungesehen an einer Lücke im Dickicht +vorbeizukommen. Lautlos und unsichtbar wie ein Panther glitt er +durch die Büsche; wir konnten weder sehen noch hören, wo er blieb. +Mittlerweile hatte ich vortreffliche Gelegenheit, die Bewegungen der +Tiere zu beobachten. Die beiden Weidenden gingen mit gesenktem Kopfe, +erhoben ihn manchmal, wenn das Maul voll war, kauten langsam und +kräftig, so daß das dürre Kamisch zwischen den Zähnen knisterte, und +ließen den Blick über den offenen Horizont gleiten. Sie zeigten keine +Spur von Unruhe und hatten keine Ahnung von dem, was ihnen bevorstand. + +Jetzt krachte Abdu Rehims Flinte, und fünf Kamele liefen in langsamem +Trab auf unsere Büsche zu; doch wahrscheinlich hielten sie den Punkt +für verdächtig, denn sie machten plötzlich kehrt und rannten in wildem +Laufe bergauf, gerade gegen den Wind. Dies war eine ebenso kluge wie +natürliche Strategie, denn gegen den Wind wittern sie die Gefahr, +während in der entgegengesetzten Richtung alle möglichen Fallstricke +verborgen sein können. + +Das jüngere weidende Kamel hatte eine Kugel in den Bauch erhalten und +bekam eine zweite in den Hals, als es sich erhob, um sich den anderen +zuzugesellen. + +Als wir es erreichten, lag es auf allen vier Knien und kaute an dem, +was es noch zwischen den Zähnen hatte. Manchmal erhob es sich auf +den Hinterfüßen, fiel dann aber, weil ihm die Vorderbeine den Dienst +versagten, auf die Seite. Der Blick war ruhig und resigniert, ohne +Furcht oder Verwunderung; nur wenn man ihm über die Nase strich, +versuchte es zu beißen. Es glich auffallend den zahmen Kamelen aus +Singer und hatte gerade angefangen, Wolle zu verlieren. Nachdem +es von verschiedenen Seiten photographiert worden war (Abb. 82), +öffnete ihm Abdu mit einem kräftigen Schnitte die Adern am Halse; +das Blut spritzte in einem dicken Strahle heraus, es folgten einige +Todeszuckungen, und dann ging dieser Sohn der Wüste, der noch vor ein +paar Minuten so friedlich und ruhig in dieser einsamen Gegend geweidet, +in die ewigen Weidegründe ein. Die anderen waren unseren Blicken schon +entschwunden. Abdu Rehim war selig, seinen alten Vater nun mit einem +großen Vorrate von Kamelfleisch überraschen zu können. + +Das erlegte Kamel war ein etwa vierjähriges Männchen. Wie bei den +zahmen, kann man bei den wilden Kamelen das Alter mit ziemlich großer +Sicherheit am Aussehen der Vorderzähne erkennen. Daß es bei einer +Herde weilte, in der ein Bughra das Szepter führte, läßt sich dadurch +erklären, daß es ein für allemal durch einen scheußlichen Biß in den +Nacken gezüchtigt worden und überdies noch so jung war. Sonst weiden +Bughrakamele nur während des Sommers friedlich zusammen, in der +Brunstzeit duldet keines ein anderes Männchen in seiner Nähe. + +Die Kamele aus Singer wurden nachts angebunden und tags bewacht, sonst +wären sie heimgelaufen. Ihr Ortssinn ist scharf entwickelt, und sie +würden sich selbst dann dorthin finden, wenn man sie in eine ihnen ganz +unbekannte, dreißig Tagereisen von Singer entfernte Gegend führte. Abdu +versicherte, es seien die Kamele gewesen, die uns im Dunkeln an jenem +Abend, als wir in der Steinwüste lagerten, direkt nach Altimisch-bulak +geführt hätten, und sie würden sicher weitergegangen sein und die +Quelle gefunden haben, wenn ich nicht Halt kommandiert hätte. + +Der Reichtum an wilden Kamelen am Fuße des Kurruk-tag wechselt in +verschiedenen Jahren sehr. Werden sie in der Gegend von Luktschin sehr +von Jägern bedrängt, so begeben sie sich hierher und umgekehrt. In +diesem Jahre waren sie zahlreich. Läßt man sie in Ruhe, so besuchen sie +die Quellen alle drei Tage. Eine Herde von acht Kamelen kam von Süden +her an die unterste Eisscholle, um Eis zu kauen. Die Männer kamen mit +ihren Flinten erst dorthin, als die Tiere schon wieder fort waren. + +[Illustration: 101. Jugend am Ufer des Tarim. (S. 254.)] + +[Illustration: 102. Malenki und Maltschik. (S. 254.)] + +[Illustration: 103. Dünen auf dem rechten Tarimufer. (S. 258.)] + +[Illustration: 104. Gewaltige Sanddünen am rechten Tarimufer. (S. +258.)] + + + + +Einundzwanzigstes Kapitel. + +Der frühere See Lop-nor. + + +Unsere Zelte wurden zwischen Tamarisken und Schilf unmittelbar neben +der Quelle aufgeschlagen. Nach der Wüstenwanderung war dies ein +reizender, einladender Lagerplatz, und ein Genuß war es zu sehen, wie +die Kamele und mein Pferd in der üppigen Weide schwelgten und von Zeit +zu Zeit an die Quelle kamen, um an der Eisrinde zu knabbern. Hier +wollten wir einige Zeit bleiben, um die Tiere zu der bevorstehenden +Wüstenreise nach Süden Kräfte sammeln zu lassen. Wir selbst litten +beinahe Mangel an Nahrungsmitteln. Reis und Brot waren allerdings noch +im Überfluß vorhanden, aber bekommt man weiter nichts, so wird das +Menü sehr einförmig. Tschernoff und ich konnten uns nicht überwinden, +Kamelfleisch zu essen, das den Muselmännern jedoch gut schmeckte. + +Die Leute aus Singer sehnten sich nach Hause, aber es gelang mir +dennoch folgendes Übereinkommen mit ihnen zu treffen. Melik und sein +jüngerer Bruder sollten mit vier Kamelen in Altimisch-bulak bleiben, +während Abdu uns mit den übrigen vier Kamelen zwei Tagereisen weit +begleitete, um unseren Kamelen die Last zu erleichtern und Säcke mit +Eis zu transportieren. Weiter wagte er nicht mitzukommen; er hatte +riesigen Respekt vor der Wüste, die er nicht kannte. + +Vom 23.-27. März blieben wir in dieser wunderbaren Oase, der +herrlichsten, die ich je besucht hatte. Nach dem angestrengten Marsche +von Jardang-bulak hierher war es schön sich auszuruhen. Die Atmosphäre +war in Aufruhr, aber das genierte mich wenig; mein Zelt war von +undurchdringlichem Kamisch und Tamarisken umgeben, und lieblich klang +es, wenn der Wind durch das Dickicht ringsum sauste und pfiff. + +Unsere Jäger streiften nach Wildenten und Antilopen umher, aber mit +beiden Wildarten war es hier gleich schlecht bestellt. Ein einsames +Kamel kam von Nordwesten nach der Quelle herunter; einige von Abdus +Kamelen wurden, von ihren Packsätteln befreit, auf den Sai getrieben +und gingen dem wilden neugierig entgegen. Es näherte sich vorsichtig, +beobachtete unverwandt die unseren und hatte entschieden die Absicht, +sich zu ihnen zu gesellen. Dann aber kam es auf andere Gedanken, kehrte +um und verschwand im Westen. + +Nur ein Fuchs, der an der Kamelleiche geschmaust hatte, wurde die Beute +der Jäger. Er hatte ein großes Fleischstück im Maul und wollte damit +wohl in seinen Bau gehen, als er statt dessen ins Gras beißen mußte. + +Ich benutzte die Ruhetage zu einer astronomischen Beobachtung in +mehreren Serien und zum Lesen. Die Luft fing an, frühlingshaft +zu werden. Am 25. hatten wir mittags +17,2 Grad, obgleich die +Minimaltemperatur in der Nacht vorher auf -7,1 Grad heruntergegangen +war. Abdu Rehim bereicherte meine Kenntnisse in der Geographie der +Gegend und zählte die Namen aller Quellen, die er kannte, auf, wobei +er auch ihre Lage zueinander genau beschrieb. Von der Zuverlässigkeit +seiner Angaben erhielt ich ein Jahr später deutliche Beweise. Er sagte +mir nämlich, daß er nach Osten hin nur drei namenlose Quellen in einer +Entfernung von zwei kleinen Tagereisen jenseits Altimisch-bulak kenne. +Ich fand sie alle drei, und sie retteten uns im rechten Augenblick aus +einer kritischen Lage. Ferner beschrieb er alle alten Wege, die er im +Kurruk-tag kannte. Sie werden durch Steinpyramiden bezeichnet, welche +die Singerleute „Ova“ (das mongolische Wort „Obo“) nennen. Ein solcher +Weg führte über Singer nach Südsüdwest und ist wahrscheinlich mit dem +alten Weg der chinesischen Steuereinnehmer nach dem Lop-nor identisch. + +Nachdem alle Vorbereitungen getroffen, ein großer Eisvorrat und vier +Tagare (Säcke) Kamisch beschafft worden waren, brachen wir am Morgen +des 27. März wieder auf. + +Unsere Absicht war, die Lopwüste von Norden nach Süden zu durchqueren +und dabei einen klaren Überblick über die Ausdehnung des früheren Sees +und unwiderlegliche Beweise für das Vorhandensein des Seebeckens zu +erhalten. Schon durch den Marsch im Bette des Kurruk-darja und die +Feststellung, daß dieser schließlich in einen See mündete, war die +Richtigkeit der chinesischen Karten, sowie der Ansichten v. Richthofens +und meiner eigenen in dieser geographischen Streitfrage bewiesen +worden; es blieb nur noch übrig, ein Profil der Gegend, wo der See sich +früher ausgedehnt hatte, zu erlangen. + +Mit eigentlichen Gefahren war diese neue Wüstendurchquerung nicht +verknüpft. Die Entfernung nach dem Kara-koschun, wo wir Wild und +weiter westwärts auch Lopfischer finden sollten, ließ sich in einer +Woche zurücklegen, und selbst wenn der mitgenommene Wasservorrat sich +als unzureichend erwies, würden wir kaum vor Durst verschmachten +können. Die Tagare waren so dicht mit Eis gefüllt, daß alle Ecken +straff gespannt waren; doch wie wir sie auch vor der Sonne zu +schützen suchten, ein paar Eimer vertropften wohl während des ersten +Tagemarsches. + +Wir zogen das Bett des Rinnsals von Altimisch-bulak hinunter nach +Ostsüdost. Der Quellbach verschwindet schon etwa 100 Meter vom Lager +unter Sand und Schutt. In einer gleich links liegenden Rinne, wo +auch eine kleine Quelle aufsprudelte, ließ sich gerade, als wir dort +vorbeizogen, eine Schar Enten nieder. Tschernoff schlich sich mit der +Doppelflinte dorthin und erlegte fünf Stück mit einem Schusse; sie +waren recht fett und eine willkommene Verstärkung unseres mageren +Proviants. + +Die 30 Kilometer lange Tagereise führte uns vom Fuße des Gebirges +auf die ebene Wüste hinunter, wo Tonformationen drei verschiedene +Stockwerke bilden. Das unterste bilden die Bodenfläche oder die Rinnen, +in denen wir nach Südwesten hinziehen, das mittlere die gewöhnlichen +Jardang von 2 bis 3 Meter Höhe, welche die Hälfte des ganzen +Wüstenareales einnehmen; das oberste besteht aus mächtigen Tischen, +Türmen und Würfeln von rotem Tone, die sich 15-20 Meter über den Boden +erheben und östlich von unserem Wege am zahlreichsten sind. Sie stehen +hier in langen Reihen und sehen Mauerruinen so täuschend ähnlich, daß +wir sie ein paarmal ganz nahe betrachten mußten, um uns vom Gegenteil +zu überzeugen. + +Es ist beachtenswert, daß die Rinnen zwischen den Jardangrücken in +jeder Hinsicht den Bajiren der Tschertschenwüste entsprechen. Beide +eigentümliche Terrainformationen verdanken ihre Entstehung dem Winde. + +Nach Osten hin erscheint keine eigentliche Fortsetzung des Kurruk-tag, +sondern nur ein isolierter Bergstock. Ich hatte allen Grund, die +gewaltige Bergkette, die in dieser Richtung auf unseren Karten des +innersten Asien angegeben ist, schon jetzt als apokryph zu betrachten. + +Die Wüste ist gänzlich unfruchtbar, nicht einmal dürres Holz kommt vor. +Schnecken liegen hier und dort, aber nirgends so zahlreich wie weiter +westlich. + +Während des Marsches am 28. veränderte sich das Aussehen des +Seebeckens. Schnecken wurden immer zahlreicher, und toter Wald trat +wieder ziemlich häufig auf. In den Tonablagerungen sind noch zwei +Stockwerke zu unterscheiden. Sie lassen verschiedene Perioden und den +verschiedenen Wasserstand in dem früheren See erkennen und enthalten +auch Schneckenschalen. In dem Maße, wie der Wind an dem Tone frißt +und zehrt, fallen die Schnecken heraus, und der Boden ist oft ganz +weißpunktiert von ihnen. Eine dünne Sandschicht, selten einen Fuß +dick, bedeckt stellenweise den Boden. Eine kleine eiserne Tasse wurde +gefunden, und Scherben von Tongefäßen sind so häufig, daß wir ihnen gar +keine Aufmerksamkeit mehr schenken. Darüber steht toter Wald in einem +Gürtel, den man deutlich nach beiden Seiten verfolgen kann und der eine +wichtige, lange bestehende Uferlinie des Lop-nor bezeichnet. + +So schritten wir zwischen den Tonrücken hin, während das Wasser in +beunruhigender Weise aus den Eistagaren tropfte. Es war erst 3 Uhr, +als Tschernoff und Ördek, die zu Fuß vorausgingen, um den besten Weg +auszusuchen, stehenblieben und uns zu sich riefen. Sie hatten die +Ruinen einiger Häuser gefunden! + +Die Rinne, der wir gefolgt waren, hatte uns gerade zu dieser +merkwürdigen Entdeckung hingeführt; wären wir einige hundert Meter +westlicher oder östlicher in die Wüste hineingezogen, so hätten wir +die Ruinen nicht sehen können, um so mehr als sie dem gewöhnlichen +toten Walde so sehr glichen, daß man dicht davor stehen mußte, um zu +erkennen, was es war: menschliche Wohnungen am Nordufer des Lop-nor! + +Natürlich schlugen wir sofort das Lager auf und sahen uns den Platz +erst flüchtig an, um einen allgemeinen Überblick zu gewinnen. Drei +Häuser hatten hier gestanden, aber ihre mächtigen Balken und Pfosten, +ihre Dächer und Bretterwände waren eingestürzt, arg von der Zeit +und den Stürmen mitgenommen und teilweise im Sande begraben. Die +Grundbalken hatten jedoch ihre Lage noch beibehalten, so daß ich leicht +einen Grundriß der Häuser zeichnen und ihre Maße nehmen konnte. + +Ein Umstand, der sogleich ein recht bedeutendes Alter angab, war, +daß die Gebäude auf Tonsockeln (Abb. 83) standen, die 2½ Meter +hohe Hügel bildeten, an Areal und Form gleich der unteren Fläche der +Häuser. Ursprünglich waren diese auf ganz ebenem Boden erbaut gewesen, +welcher aber, nachdem er ausgetrocknet, vom Winde so ausgehöhlt und +abgefeilt worden war, daß nur die von den Häusern geschützten Teile +stehenblieben. Scherben von Tongefäßen und kleine irdene Tassen, wie +sie noch heute vor den Buddhabildern oder an anderen heiligen Orten +hingestellt werden, lagen massenweise umher. Auch einige chinesische +Münzen und ein paar eiserne Äxte wurden gefunden. + +Bei dem östlichsten dieser drei Häuser fanden wir beim Graben +verschiedene merkwürdige Holzschnitzereien, die zur Verzierung seiner +Wände gedient hatten. Darunter war das Bild eines Königs mit einer +Krone auf dem Kopfe und einem Dreizacke in der Hand, sowie ein Mann +mit einem Kranze, außerdem allerlei Muster und Ornamente, Gitter und +Lotosblumen, alles kunstfertig geschnitzt, aber sehr von der Zeit +mitgenommen. Von den verschiedenen Mustern wurden Proben beiseite +gelegt, die um jeden Preis mitgenommen werden mußten. + +In Südosten erhob sich ein Tora, das wir besuchen mußten, um +nachzusehen, ob auch dort Entdeckungen zu machen wären. Es war +kuppelförmig und teilweise eingestürzt; wahrscheinlich war es ein Weg- +oder Signalzeichen gewesen (Abb. 84). Drei andere ebensolche bildeten +mit dem ersten dieselbe Figur wie die vier Hauptsterne im Sternbilde +des Löwen; die Entfernungen zwischen ihnen betrugen 5-7½ Kilometer. +Weitere Spuren von alten Häusern trafen wir nicht. Die Nacht hatte +schon ihren dunkeln Schleier über die Wüste gebreitet, als wir nach dem +großen Signalfeuer des Lagerplatzes zurückkehrten, müde und erschöpft +von dreistündiger Wanderung auf ungünstigem Terrain, denn alle die +unzähligen Jardang mußten unter rechten Winkeln gekreuzt werden. + +Indessen hatten wir so durch eine glückliche Fügung die Fortsetzung +des Kömur-salldi-joll gefunden, jenes alten Weges, der von Korla am +Nordufer des Lop-nor entlang nach Sa-tscheo und Peking führte. + +Abdu Rehim sollte uns jetzt verlassen und seine Bezahlung erhalten. +Sein Lohn belief sich auf 1½ Jamba, was allerdings viel war, aber +durch seine vortrefflichen Dienste und die unschätzbaren Aufklärungen, +die er mir gegeben hatte, mehrfach aufgewogen wurde. Chodai Kullu +erhielt den Auftrag, ihn nach Altimisch-bulak und Singer zu begleiten +und sich von dort mit den Holzschnitzereien auf irgendeine Weise nach +Tura-sallgan-ui zu begeben. Er entledigte sich seines Auftrages wie ein +ganzer Mann und erreichte das Hauptquartier lange vor uns. Als er dort +ankam, erzählte er, er habe in Altimisch-bulak ein Kamel getötet, wurde +aber gehörig ausgelacht, da man dies für erlogen hielt; keiner von uns +hatte ihn auch nur einen Hasen töten sehen. Er hatte jedoch später +Gelegenheit, nicht nur zu beweisen, daß er die Wahrheit gesprochen, +sondern auch, daß er ein sehr guter Schütze war. + +Am folgenden Morgen zogen die beiden Männer nach Norden. Sie sollten +versuchen, in einem Tage nach Altimisch-bulak zu kommen, denn sie +erhielten keinen Tropfen aus unserem Vorrat, der schon so klein war, +daß ich leider nicht noch einen Tag an dieser interessanten Stelle +bleiben konnte. Die Karawane war jetzt noch mehr zusammengeschmolzen. +Ich hatte nur Tschernoff, Faisullah und Ördek, vier Kamele, ein Pferd +und zwei Hunde bei mir. + +Wir brachen sehr spät auf, denn der halbe Tag ging mit verschiedenen +Nacharbeiten bei den Ruinen hin. Einige Einzelheiten wurden +abgezeichnet, ein paar Ansichten aufgenommen und die Maße gemessen. + +Das kleinere Haus, das, seiner Ausschmückung und dem Vorkommen der +Opfertassen nach zu urteilen, ein Tempel gewesen war, maß an den Seiten +5,6 und 6,6 Meter. + +Das größere Haus hatte in seinem Grundriß die Dimensionen 52,4 × 18 +Meter; seine Längsrichtung war Südwest nach Nordost. Seine Grundbalken +waren über den Hügel, an dem der Wind ständig zehrt, vorgeschoben. Das +Haus war in mehrere Zimmer von verschiedener Größe geteilt gewesen. +Wie der Sand das Bauholz konserviert, sah man leicht daran, daß +verschüttete Teile sehr gut erhalten, die freiliegenden aber übel +zugerichtet, porös und oft an den Enden besenförmig aufgesprungen sind. +An viereckigen Löchern in Balkenrahmen (Abb. 85), in welche vertikale +Eckpfosten hineinpaßten, sah man sogar die Striche des Stiftes, mit +dem die Form der Löcher einst aufgezeichnet worden war. Mehrere solche +Pfosten waren hübsch verziert und so rund gedrechselt, daß sie einer +Menge übereinandergestellter Kugeln und Scheiben glichen. + +Einer der äußeren Räume hatte wahrscheinlich als Schafstall gedient, +denn dort lag eine fußdicke Schicht von Schafdung. Dieser wird von den +Chinesen zur Feuerung benutzt, aber in einer so holzreichen Gegend, +wie die Uferwälder des Lop-nor es gewesen sind, wäre eine solche +Sparsamkeit überflüssig gewesen. Alle Dachteile lagen in je einem +Haufen auf der Westseite der Häuser. Der letzte Oststurm, dem sie nicht +länger hatten widerstehen können, hatte sie dorthin geschleudert. +Alles Bauholz war Pappelholz aus der unmittelbaren Nachbarschaft. Nach +der Bodengestalt zu urteilen, hatten diese beiden Gebäude und ein +drittes, das beinahe zerstört war, auf einer Halbinsel in einem See +oder auf einer Landenge zwischen zwei Seen gelegen. Man hat allen Grund +zu der Vermutung, daß der Verlauf der Uferlinie beim Lop-nor ebenso +unregelmäßig und launenhaft gewesen ist wie beim Kara-koschun. + +Man wird fragen, welchen Zweck diese Häuser erfüllt und was für Leute +sie erbaut und dort gelebt haben. Mein erster Eindruck war, daß sie +eine „Örtäng“ oder größere Poststation auf der Straße nach Dung-chan +(Sa-tscheo) gebildet haben. Eingehenderes darüber behalte ich mir für +ein späteres Kapitel vor. + +Während ich und Tschernoff mit Messungen beschäftigt waren, hatten die +beiden anderen Männer von frühmorgens an die Umgegend abgestreift, ohne +noch mehr Entdeckungen zu machen. Daher wurden die Kamele beladen, +und wir zogen nach Südwesten, in einer durch die Lage der Jardang mit +absoluter Notwendigkeit vorgeschriebenen Richtung; wir mußten den +zwischen ihnen vom Winde ausgemeißelten Furchen sklavisch folgen. Die +Schwellen werden jedoch allmählich niedriger, und unausgebildete Dünen +treten auf. Toter Wald ist sehr häufig, aber er steht in Gehölzen, die +sicher Inseln in dem alten See gewesen sind. Welch ein Unterschied +gegen den Kara-koschun, an dem es jetzt keine einzige Pappel gibt. +Milliarden von Schnecken liegen umher, und die harten, scharfen +Kamisch- und Binsenstoppeln sind nicht gut für die Fußschwielen der +Kamele. Solche Kamischstoppeln werden auch stehenbleiben, wenn der +Kara-koschun einst austrocknet. + +Darauf hört der Sand wieder auf; es war nur ein erster Gürtel, den wir +eben gekreuzt hatten. Alles ist tot und öde, erstickt und verdorrt in +dieser Gegend, die früher so reich bewässert und so reich an üppiger +Vegetation war. + +Nach einer Wanderung von 20 Kilometer blieben wir in einer +unbedeutenden Bodensenkung, wo ein paar lebende Tamarisken wuchsen und +wir also Hoffnung hatten, an das Grundwasser zu kommen. Als aber der +Brunnen gegraben werden sollte, stellte sich heraus, daß der Spaten bei +den Ruinen vergessen worden war. Ördek, der sich diese Nachlässigkeit +hatte zuschulden kommen lassen, erbot sich sofort, ihn zu holen. + +Ich hatte großes Bedenken, ob ich ihm erlauben sollte, allein einen so +weiten Gang zu machen, noch dazu in einer Jahreszeit, wo man nie vor +Sandstürmen sicher ist; da aber unser Wasservorrat gering war und der +Spaten für uns alle noch von unschätzbarem Nutzen sein konnte, sagte +ich ihm, er solle sich aufmachen und unseren Spuren folgen. Doch sollte +er sich erst durch ein paar Stunden Schlaf stärken, und ich ermahnte +ihn, wenn er uns nicht wiederfände, nur gerade nach Süden zu gehen, da +er dann früher oder später das Ufer des Kara-koschun erreichen würde. +Wir selbst konnten nicht auf ihn warten, um ihm aber seine Aufgabe zu +erleichtern, gab ich ihm das Pferd. Nach einem tüchtigen Abendessen +ritt er um Mitternacht durch die Wüste nach Norden zurück. + +Was ich gefürchtet hatte, trat schon gegen 2 Uhr morgens ein; ein +halber Sturm aus Nordost weckte mich und hielt den ganzen Tag mit +Sandgestöber und Staubnebel an. Man sah nicht weit vor sich, und die +Spuren konnten nicht lange erhalten bleiben. Ich hoffte jedoch, daß +Ördek bei Beginn des Sturmes so klug gewesen sei, den Spaten seinem +Schicksal zu überlassen und sofort umzukehren. + +Uns, die wir nach Südwesten weiterzogen, war der Sturm willkommen; er +schob uns, erleichterte das Gehen und nahm einen Teil der stechenden +Glut der Mittagssonne fort. Die Wüste wurde jetzt immer öder; sogar der +tote Wald hörte fast ganz auf, der Sand wurde zusammenhängend und nur +selten von kleinen Bajiren unterbrochen, die Dünen waren aber nur noch +5 Meter hoch. Von ihnen aus sieht man, daß der Sand gegen Westen und +Südwesten, wohin der Wind ihn beständig trägt, immer höher wird. Das +tote Kamisch, an dem wir dann und wann vorüberziehen, ist vom Winde +nach Südwesten niedergeschlagen, als sei es mit einer Riesenbürste nach +dieser Seite niedergebürstet worden. + +An einem Punkte, wo wir ein paar Holzstücke fanden, wurde das Lager Nr. +18 aufgeschlagen. Während wir noch damit beschäftigt waren, stellte +sich der prächtige Ördek wieder ein; er brachte den Spaten mit und +führte das Pferd, das, wie er selbst, von dem 60 Kilometer weiten +anstrengenden Ritte auf schlechtem Terrain vor Müdigkeit beinahe +umfiel. Das Allermerkwürdigste aber war die wichtige Neuigkeit, die +Ördek, nachdem er sich eine Weile ausgeruht hatte, zu erzählen wußte. + +Er hatte sich während des Sturmes verirrt, unsere Spuren verloren und +einen Tora erreicht, in dessen Nähe er die Ruinen mehrerer reich mit +geschnitzten Planken verzierter Häuser gefunden hatte (Abb. 86, 87). +Dort hatten auch irdene Tassen, Spieße, Beile, Metallstücke, Münzen und +dergleichen gelegen, von denen er einiges mitgenommen hatte und uns +nun zeigte. Er hatte auch zwei geschnitzte Planken mitgenommen, und +zwar die besten der vorhandenen, und dann das Suchen nach der ersten +Ruinenstelle fortgesetzt, die zu finden ihm schließlich auch gelungen +war. Vergebens hatte er die Bretter auf das Pferd zu binden versucht; +dieses scheute so davor, daß er sie schließlich selbst hatte tragen +müssen. Seine Schultern waren noch blutig von den Stricken. Als er +unser Lager Nr. 17 erreicht hatte, versuchte er wieder, seine Last +dem Pferde aufzubürden, dieses riß sich aber los und ging durch. Nach +vielen Bemühungen gelang es ihm, das Pferd wieder einzufangen; er war +aber so müde, daß er die Bretter liegen ließ und uns aufsuchte. + +Daß diese Nachricht das Programm für das nächste Jahr umgestalten +würde, war mir sofort klar. Zunächst wurde der arme Ördek beauftragt, +den zurückgelassenen Fund am nächsten Morgen zu holen, welcher Auftrag +schon ausgeführt war, bevor wir aufbrachen. Die Planken waren sehr gut +erhalten und mit geschnitzten Blumen und Girlanden verziert. Ich hatte +jetzt sehr große Lust zum Umkehren, was jedoch eine Torheit gewesen +wäre, da unser Wasservorrat nur noch für ein paar Tage reichte und die +warme Jahreszeit mit großen Schritten nahte. + +[Illustration: 105. Sandsturm auf dem Beglik-köll. (S. 263.)] + +[Illustration: 106. Die Fähre sitzt auf dem Tuwadaku-köll im Schilfe +fest. (S. 261.)] + +[Illustration: 107. Frauen und Kinder in Tscheggelik-ui. (S. 273.)] + +[Illustration: 108. Stall in Tscheggelik-ui. (S. 273.)] + +Nein, der ganze Reiseplan mußte geändert werden. Nach den Ruinen +mußte ich zurückkehren, koste es was es wolle, aber den Sommer über +wollten wir nach Tibet gehen und uns im Winter dann wieder nach dem +Lop-nor begeben. Würden wir die Stelle in dieser ebenen Wüste, wo +das Auge vergebens nach einem einzigen Anhaltspunkte sucht, auch +wiederfinden? Ich zweifelte nicht daran, denn ich vertraute fest auf +meine Ortsbestimmungen. Wenn ich es nur übernähme, den Weg nach +Altimisch-bulak zu zeigen, so würde Ördek, wie er fest behauptete, die +von ihm so glücklich entdeckten Ruinen ganz bestimmt wiederfinden. +Schon jetzt sehnte ich mich dorthin zurück, mußte mich aber noch acht +Monate gedulden. Ich segnete den Spaten, der vergessen worden war und +dadurch Veranlassung zu dieser großartigen Entdeckung gegeben hatte. + +31. März. Die Temperatur ist nachts noch unter 0 Grad, bei Tage aber +steigt sie bedeutend. Der Sturm hatte aufgehört, und die Luft war klar, +der Himmel prunkte in der reinsten türkisblauen Farbe, die grell gegen +die trostlos graugelbe Wüste absticht. Der tote Wald hat aufgehört; +Bruchstücke, die sein ehemaliges Vorhandensein ahnen lassen, kommen +nicht mehr vor; wir haben das Vegetationsgebiet des Lop-nor hinter uns +gelassen. Ich gehe zu Fuß voraus und gewinne dadurch Zeit; denn mein +Vorsprung übt eine gewisse Zugkraft auf die Karawane aus, und außerdem +trage ich als Führer die Verantwortung. Wir pflegten den Marsch barfuß +anzutreten, aber die Füße sind auf dem erhitzten Boden bald wie +verbrannt, und man muß wieder Schuhe anziehen. Abkühlung spürt man nur, +wenn man als letzter im Zuge in die Spuren der Kamele tritt, die den +nachtkalten Sand aufgewühlt haben. + +Die Lopwüste ist öder als die Tschertschenwüste, denn dort fanden wir +wenigstens Weide und Brunnenwasser; hier hätte das Graben nirgends +Erfolg gehabt. Bei einer toten Tamariske lagerten wir. Die Kamele sind +müde und matt, denn seit fünf Tagen haben sie nicht getrunken; am +Morgen des 1. April aber erhielten sie jeder einen Eimer Wasser, worauf +der Vorrat nur noch einen Tag reichte. Auch den letzten Kamischsack +durften sie leer fressen. Wir mußten nach dem Kara-koschun eilen, wohin +es noch 60 oder 70 Kilometer sein mußten. Wie gewöhnlich brach ich +früher auf und ging direkt nach Süden. Wüste Dünen auf allen Seiten, +dieselbe trostlose Wüstenperspektive, die ich schon so oft gesehen +hatte. + +So erreichte ich eine hohe Düne, auf der ich mich ermüdet niedersetzte +und den Horizont mit dem Fernglase absuchte. Lauter Sandrücken. +Doch was war dies! Im Südosten breiteten sich zwischen Dünen und +Jardangterrassen große Wasserflächen aus. Wasser in dieser Wüste! Ich +traute kaum meinen Augen; es mußte eine Luftspiegelung sein! + +Jetzt mußte ich mich sputen und eilte sofort dorthin. Nein, es war +richtig ein See mit den bizarrsten Einschnitten, Buchten, Inseln, +Holmen und Sunden, dem tollsten Gewirre von Wasserflächen, wie sie +nur auf ebenem Terrain zwischen Dünen und vom Winde ausgearbeiteten +Terrassen entstehen können. Außer ein paar jungen Tamariskensprossen +auf dem weichen sumpfigen Uferrande und etwa 20 Kamischstengeln war +die Gegend jedoch ebenso unfruchtbar wie bisher. + +Ich ging an dem gebuchteten Ufer entlang nach Südwesten. Der See +verengerte sich manchmal bedeutend, erweiterte sich aber bald wieder +zu größeren Flächen. Das Wasser hatte einen leichten Anflug von Salz, +wurde aber von allen Tieren gern getrunken. Darauf wandte sich unser +Ufer nach Norden, und wir mußten ihm dorthin folgen, denn eine Furt +fanden wir nicht, und die Kamele wären im Schlamme versunken. + +Der See streckte seine schmalen Buchten wie Finger nach Nordosten +aus, die uns ärgerliche Umwege verursachten. Der Boden ist feucht und +schwankt unter den ängstlichen Kamelen; er geht auf und nieder, als sei +eine Gummihaut über ein verborgenes Wasser gespannt, und man hat das +Gefühl, als bedürfe es nur eines Loches darin, um die Karawane in den +Fluten verschwinden zu lassen. + +Das Land ist gänzlich unfruchtbar. Der See zeigt einen auffallenden +Parallelismus mit Bajirmulden und Jardangterrassen, mit Dünen, +Dünentälern und Windfurchen; alles zieht sich von Nordosten nach +Südwesten, und ziemlich oft sieht man die Jardangrücken unter dem +Wasser. + +Daß dies nicht der Anfang des Kara-koschun sein konnte, schien mir +keinem Zweifel zu unterliegen, denn sonst hätte es hier Kamisch im +Überflusse gegeben. Doch woher kommt dann dieses Wasser? Sein geringer +Salzgehalt zeigte, daß es ziemlich neu war. Wäre es alt, so sähe +man hier schon junges aufkeimendes Kamisch, das sich so unglaublich +schnell mit dem Wasser verbreitet. Ich vermutete, daß der See von dem +neugebildeten Arme von Schirge-tschappgan herrührte. + +So merkwürdig diese Entdeckung auch war, indem sie mich der Lösung +der verwickelten Lop-nor-Frage einen Schritt näher führte, so hatten +wir doch unter den gegenwärtigen Umständen wenig Nutzen davon; wir +bedurften jetzt vor allem der Weide für die Tiere und der Lebensmittel +für uns selbst, denn wir hatten nur noch Reis und Tee, und bei so +kärglicher Kost konnten wir nicht anders als hungrig sein. Statt die +Schritte rasch südwärts nach dem Kara-koschun zu lenken, hatten wir +uns von diesem unfruchtbaren See aufhalten lassen -- ein richtiger +Aprilscherz! + +Da der See sich immer weiter nach Westen hinzog, beschloß ich Halt zu +machen, um zu sehen, ob sich keine Furt würde entdecken lassen. Wir +standen augenscheinlich an einem ganz neuen Wasserarme des Tarim und +mußten hinüber. Eine Strömung war allerdings nicht wahrzunehmen, wohl +aber eine ganz frische Wasserlinie, die zeigte, daß der Wasserspiegel +um einen Meter gesunken war, was seinen Grund im Fallen des Tarim +während des Winters hatte. Die bedeutenden Dünen, die den See auf allen +Seiten einrahmen, ja bisweilen kleine Inseln bilden, beweisen, daß sie +sich an Ort und Stelle befunden haben, als diese Überschwemmung das +Land unter Wasser setzte. Die Anordnung der Dünen würde sonst eine ganz +andere sein; sie hätten im Süden und im Südwesten des Sees gefehlt, wo +sie nun statt dessen am höchsten waren. + +2. April. Tschernoff gab sich nicht eher zufrieden, als bis er eine +90 Zentimeter tiefe Furt mit tragfähigem Sandboden gefunden hatte. +Den Kamelen gefiel das Bad. Auf der anderen Seite drangen wir wieder +in hohe Dünen ein, und der See entschwand uns bald aus den Augen. Der +Sand wurde immer gewaltiger; 8-11 Meter hohe Dünenkämme wurden mit dem +Nivellierspiegel gemessen. + +Die Muselmänner waren mißmutig und glaubten, der See, den wir verlassen +hatten, sei der Kara-koschun gewesen. Ich selbst begann unwillkürlich +darüber nachzugrübeln. War es so, dann waren wir verloren! Die Kamele +keuchten in dem weichen Sande und sahen so melancholisch aus, als +zerbrächen sie sich den Kopf darüber, warum wir den See sogleich +verlassen hatten. Die Hitze war unerträglich, und die Sonne schien uns +gerade ins Gesicht. + +So gefährlich war es jedoch nicht. Das Terrain veränderte sein Aussehen +in erfreulicher Weise. Der Sand nahm ab, ein Gürtel von toten Pappeln +wurde durchquert, und dann kam einer von lebenden Tamarisken. Vor uns +erhob sich ein 5 Meter hoher Hügel. Ich sagte Faisullah, er solle mich +hinaufbegleiten, um den Kara-koschun in Augenschein zu nehmen. Und +richtig! Von dieser Anhöhe sah man im Südwesten, Süden, Südosten und +Osten große und kleine Flächen reinen, blauen Wassers, die durch gelbe +Kamischfelder voneinander getrennt waren. + +Auf einer Landzunge in dem nächsten großen See wurden die Zelte +unmittelbar am Strande aufgeschlagen. Mit Genuß betrachtete ich von +meinem Zelte aus durch das Fernrohr die Scharen von Gänsen, Enten und +Schwänen, die auf dem See schwammen und tauchten. Ein Wüstenreisender +kann sich keine schönere Aussicht träumen. Leider waren die +Schwimmvögel zu weit vom Ufer entfernt. Aus ihrer Art zu tauchen konnte +man schließen, daß der See nicht sehr tief war. Sein Wasser war ganz +süß. + +Das Zelttuch flatterte im Seewinde. Welch ein Unterschied gegen den +Wüstenwind und seinen Staub! Das Wasser plätscherte so herrlich am +Ufer, und halb träumend lag ich da, über diese jetzt so glücklich +beendete Fahrt nachdenkend. Das Vorhandensein des Seebeckens des alten +Lop-nor war festgestellt, ein ehemals bewohnter Ort war entdeckt, ein +neuer See in der Wüste angetroffen worden. Weder Menschen noch Tiere +waren dabei verloren gegangen. + +Was das Profil quer durch die ganze Lopwüste betraf, so fand ich, daß +es nicht genügte. Man kann die Ergebnisse des Kochthermometers und des +Aneroids in einem Lande mit so unbedeutenden Höhenunterschieden nicht +verwerten. Mein schon gefaßter Entschluß, diese Gegend noch einmal zu +untersuchen, wurde nur noch fester, denn nur ein Präzisionsnivellement +des Beckens konnte über die äußerst unbedeutenden Höhenunterschiede +zwischen dem Lop-nor und dem Kara-koschun Auskunft geben. Ich hatte +nach meiner früheren Reise gerade deshalb betont, daß der Lop-nor ein +wandernder See sein müsse, weil dieses ganze Gebiet nahezu in ein und +derselben Fläche liege. + + + + +Zweiundzwanzigstes Kapitel. + +Fünfundzwanzig Tage im Kahn. + + +Am 3. April stürmte es den ganzen Tag heftig aus Nordosten. Der See +lockte mich mit unwiderstehlicher Gewalt; ich wollte mich nach all dem +erstickenden Sande und der Hitze auf seinen frischen Wogen tummeln +und seine Tiefe messen, aber wir hatten kein Boot. Hätten wir nur die +eine Hälfte der Segeltuchjolle mitgenommen, so hätte es damit keine +Not gehabt. Es mußte sich aber mit den Ziegenlederschläuchen und den +Leitern, an denen sie befestigt gewesen, ein Floß oder jedenfalls eine +Art Fahrzeug herstellen lassen, in welchem man mit dem Winde über +den See treiben konnte. Mit Tschernoff und Ördek ging ich am Strande +entlang. Die Leitern wurden mit Stricken an zwei Stangen festgebunden, +und das auf diese Weise hergestellte Floß wurde von den sechs +Ziegenlederschläuchen getragen, die mit Luft gefüllt waren, die Ördek +hineingeblasen hatte. Tschernoff und ich nahmen an Bord Platz, jeder +auf einer Leiter reitend. Als Tschernoff seinen Platz einnahm, wäre +die ganze Herrlichkeit beinahe umgeschlagen; die Ziegenlederschläuche +lagen schon auf dem Wasser, die Leitern etwas unter diesem, und wir +saßen halbnackt da und ließen die Beine ins Wasser herunterhängen. +Unsere breiten Rücken dienten als Segel. Wir trieben gerade auf das +Lager zu. Hunderte von Enten flogen, erschreckt durch die ungewöhnliche +Erscheinung, in lärmenden Scharen auf. Wir mußten uns festhalten +und balancieren, um nicht zu kentern, wenn die großen Wellen an uns +vorüberrauschten. Binnen kurzer Zeit waren auch unsere Oberkörper +völlig durchnäßt, denn jede Schlagwelle ging über das Floß weg und gab +uns eine ordentliche Dusche. + +Die Fahrt dauerte 2½ Stunden. Das Wasser war jetzt weder vollkommen +süß noch ganz klar, denn von diesem Winde wird aus den östlichen +Seegebieten stagnierendes Wasser nach Westen getrieben und durch den +Wellenschlag getrübt. + +Beim Lager war der Strand so seicht, daß Ördek eine Strecke weit in +den See hineinwaten und uns dann an Land ziehen mußte. Wir waren +derart steifgefroren, daß wir kaum nach dem Feuer hinaufgehen konnten. +Mich überfiel ein sehr heftiger Schüttelfrost; meine Zähne klapperten +und die Hände flogen, ich zog die nassen Kleider aus, trocknete mich +am Feuer und ging dann zu Bett. Erst nach einer Stunde, als ich mich +wieder warm angezogen und eine große Tasse brühheißen Kaffee getrunken +hatte, fühlte ich mich am Lagerfeuer wieder einigermaßen normal. + +Beim Sonnenuntergang nahm der Himmel einen seltsamen Farbenton an. Er +leuchtete gelbrot über den Dünen im Norden. Der schon vorher heftige +Wind schwoll zum richtigen Buran an. In zügelloser Wut stürmten die +Wogen gegen das Ufer und überschütteten die Zelte mit Spritzwasser. +Wir mußten mit den Zelten eine Strecke landeinwärts ziehen und ihre +Befestigungen in der gewohnten Weise verstärken. + +Noch einen Tag durften die Kamele sich ausruhen, während der Sturm +zu heulen fortfuhr. Im Norden und Süden des Kara-koschun flammt der +Horizont in unheimlichem, brandgelbem Farbentone, in der nordöstlichen +Verlängerung des Sees aber ist er dunkelstahlgrau, was darauf schließen +läßt, daß sich die Wasseransammlungen ziemlich weit nach dieser +Richtung hin erstrecken und daß es dort keinen Flugsand gibt. + +Als wir am 5. aufbrachen und am Strande entlang zogen, hoffte ich, daß +es bis zu den ersten Menschenwohnungen am Kum-tschappgan nicht mehr +weit sein würde. + +Wildenten, Gänse, Schwäne, Taucher, Möwen, Seeschwalben und besonders +Krähen kommen in Menge vor; Hasen und Igel sind nicht selten. Spuren +von Füchsen, Rehen, Luchsen und Wildschweinen sieht man beständig an +den Ufern. Zwei Jäger waren vor einigen Monaten auf dem Eise gewesen; +ihre Spuren waren in den feuchten Uferlehm eingedrückt. + +Längs des Ufers und auch ziemlich weit davon entfernt findet man +Schneckenschalen und abgestorbenes Kamisch. Daß das Leben aus +diesen Organismen entflohen ist, beruht darauf, daß sie einer +längstvergangenen Periode angehören und älter sind als der jetzige See. + +Am folgenden Tage wurde die Wanderung längs des Sees fortgesetzt. +Ich ging schnell zu Fuß voraus, fest entschlossen, nicht eher Halt +zu machen, als bis wir Menschen träfen. Nach solchen sehnten wir uns +eigentlich nicht, wohl aber nach Fischen, Geflügel und Eiern und nicht +zum wenigsten nach einem Boote, mit dem ich die jetzige Ausdehnung des +Sees untersuchen konnte. + +Als ich gegen Abend mitten in den unabsehbaren Sümpfen, die sich +südlich von unserem Wege ausdehnten, eine gewaltige Rauchwolke +erblickte, blieb ich daher sofort stehen und erwartete die anderen. +Sicherlich hatten sich einige Lopfischer dorthin begeben und das dürre, +vorjährige Schilf angezündet, einmal wohl, weil es ihnen irgendwo +den Zutritt zu ihren Fischplätzen versperrte, dann aber auch in der +Absicht, den frisch aufkeimenden Pflanzen Raum zu verschaffen. Während +wir das Lager aufschlugen, mußte sich Ördek zu Pferd in der Richtung +nach dem Rauche auf den Weg machen, obwohl ich lebhaft bezweifelte, +daß er durch dieses Labyrinth von Sümpfen durchkommen würde. Er hatte +Streichhölzer bei sich, um uns, falls er nicht zu den Lopfischern +gelangen konnte, dies mittels eines Signalfeuers mitzuteilen. + +Tschernoff machte sich mit der Flinte auf der Schulter auf und kam nach +ein paar Stunden mit einer prächtigen Gans wieder, die er auf einem See +geschossen hatte und zu der er dann hinausgeschwommen war. Er hatte +auch das Pferd gefunden, das Ördek angebunden zurückgelassen hatte, um +seinen Kundschafterweg zu Fuß und schwimmend fortzusetzen. Ördek gelang +es schließlich doch, eine Fischergesellschaft ausfindig zu machen, und +er kehrte noch am Abend mit acht Männern und ganzen Säcken voll des +sehr nötigen Proviantes, bestehend aus drei Gänsen, vierzig Eiern, +Fischen in Menge, Mehl, Reis und Brot, zurück. + +Am 7. zeigten uns die redlichen Lopleute den Weg nach dem +Kum-tschappgan. Am Kum-tschappgan lagerten wir da, wo sich der Tarim +in zwei Arme teilt, in den Kum-tschappgan und den Tusun-tschappgan. +Die Hütten standen noch an derselben Stelle wie 1896, die Verteilung +der Gewässer war in der Hauptsache dieselbe, und alles war sich +gleichgeblieben. Ich hatte wieder einen Punkt erreicht, wo ich +die Marschrouten von dieser und der vorigen Reise vergleichen und +aneinanderfügen konnte. Während der Nacht trat das in diesen Gegenden +ziemlich wunderbare Phänomen ein, daß ein ziemlich heftiger Regen fiel +und auf mein Zelt klatschte. Meine Leute, die unter freiem Himmel +lagen, eilten in die nächste Sattma. + +Schon am folgenden Morgen stellten sich zwei alte Bekannte ein, +Numet Bek von Abdall und Tokta Ahun, der Sohn des alten redlichen +Kuntschekkan Bek, der vor zwei Jahren tief betrauert von all seinen +Leuten gestorben war. Numet Bek sollte uns jetzt in vieler Beziehung +von großem Nutzen sein. Er wurde beauftragt, für die Kamele und das +Pferd zu sorgen, sie nach den Weideplätzen von Mian zu schicken, sie +dort bewachen zu lassen und uns später, wenn wir nach Tibet zogen, in +gutem Zustande wieder abzuliefern. Ferner sollte er uns Proviant und +Führer für die Rückreise nach Tura-sallgan-ui, die ich in Kähnen zu +unternehmen beabsichtigte, besorgen. + +Die Ruhezeit in Kum-tschappgan wurde zu zwei großen Bootexkursionen +benutzt, die erste nach derselben Richtung wie 1896, die zweite durch +den Tusun-tschappgan und über den südlichen Teil des Sees in Gegenden, +die ich bisher noch nicht besucht hatte. + +Tschernoff und ich nahmen in einem großen Kahne mit drei Ruderern +Platz, Faisullah mit dem Proviant und zwei Ruderern in einem kleineren. +Wie Aale glitten wir durch das Schilf, das vom Regen naß war und uns im +Vorbeifahren ab und zu eine Dusche gab (Abb. 88, 89). + +Es war unmöglich, diese Landschaft von Wasser, Sand und Schilf +wiederzuerkennen, so hatte sie sich in den vier Jahren verändert. +Seen, die damals offen und frei dalagen, waren jetzt ganz mit Kamisch +zugewachsen, während sich neben ihnen andere gebildet hatten, die neue +Namen trugen (Abb. 90). Kum-köll (Sandsee) und Jangi-köll (neuer See) +sind Benennungen, die für sich selbst sprechen. Alles ist in diesem +flachen Anschwemmungsgebiet veränderlich. Die größten während dieser +Fahrt gemessenen Tiefen betrugen 4,85 und 5,15 Meter; sie befanden sich +in einem ganz neugebildeten Seebecken namens Tojagun, was beweist, daß +es neben dem Kara-koschun tiefere Senken geben kann, während ältere +Teile des Sees allmählich versanden und zuwachsen. + +Auf der ganzen Tagereise sahen wir Massen von toten Fischen, die +bald auf dem Wasser trieben, bald im Schilf staken, bald, den Bauch +nach oben, weiß auf dem Grunde schimmerten. In einigen Durchgängen +war die Luft mit dem ekelhaften Gestanke verfaulter Fische erfüllt, +die immer zahlreicher wurden, je weiter wir nach Osten kamen; man +sagte mir, die Massen von Krähen, die wir überall erblickten, seien +dadurch hierhergelockt worden. Einige unserer Ruderer glaubten, eine +unbekannte Krankheit habe unter den Fischen gewütet, ein anderer aber +erklärte, die große Sterblichkeit sei auf die ungewöhnliche Schneemenge +des letzten Winters zurückzuführen. Der Schnee hatte fußhoch auf dem +Eise gelegen, und unmöglich ist es nicht, daß dies den Fischen in +den seichten Becken geschadet hat. Mit Recht klagten die Leute über +Fischmangel und konnten sich nicht erinnern, je ein so schlechtes +Fangjahr gehabt zu haben. + +Wir ruderten auf neuen Wasserwegen auf den +Kanat-baglagan-köll+ +hinaus, wo das Schilf so dicht und dick stand, daß jedes weitere +Vordringen eine absolute Unmöglichkeit war. Im Jahre 1896 konnte ich +dieses Becken, das jetzt zugewachsen war, noch ungehindert befahren. + +[Illustration: 109. Die umgebaute Fähre. (S. 274.)] + +[Illustration: 110. Der Bau der Pontonfähren. (S. 274.)] + +[Illustration: 111. Sattma in Abdall. (S. 275.)] + +[Illustration: 112. Die Pontonfähren auf dem Wege nach Abdall. (S. +275.)] + +Auf der Rückfahrt schaute ich mit großer Spannung zu, wie die Ruderer +einen großen schönen Schwan mit den Händen griffen. Wir sahen ihn +auf dem offenen Wasser am Schilfrande schwimmen; er tauchte aber +unter, als wir uns näherten. Die Leute senkten die Ruder mit aller +Kraft ins Wasser und ruderten nach der Stelle hin, wo der Schwan +sich wahrscheinlich wieder zeigen würde, was an den Ringeln auf der +Wasserfläche zu sehen war. Als der Schwan wieder emporkam, waren +wir ihm so nahe, daß er sich in seiner Verwirrung in das Schilf +hineinbegab; damit war er verloren, denn dort konnte er nicht die +Flügel zur Flucht ausbreiten. Der Kahn flog ihm wie ein Pfeil nach; der +alte Jaman Kullu sprang ins Wasser, das ihm bis an die Hüften reichte, +fiel über das arme Tier her und schleppte dann seine Beute in das Boot. +Der Schwan war so verängstigt, daß er mit schlaffem Halse und hängendem +Kopfe wie tot dalag; er wurde sofort getötet. + +Zahllose Wildenten und Gänse bevölkerten den See. Vielleicht hatten +sich einige von ihnen schon zu Prschewalskijs Zeit hier als Junge +aufgehalten. Die Generation der menschlichen Eingeborenen, die damals +in ihrer vollen Kraft stand, ist jetzt zu Greisen und Greisinnen +geworden, und ein neues Geschlecht ist seitdem herangewachsen. Nicht +einmal die Seen sind dieselben geblieben, sie sind geschrumpft +und zugewachsen und haben die Lage gewechselt; die Sanddünen sind +vorgerückt, alles hat sich in der kurzen Zeit von 20 Jahren verändert, +und das Bild, das man von einem flüchtigen Besuche mitnimmt, ist, genau +genommen, nur eine Momentphotographie. + +Wir verbrachten die Nacht an einem sehr notwendigen Feuer auf einem +kleinen Eilande im „See der vergessenen Fischhaut“ und kehrten am +nächsten Tage bei starkem Winde und hohem Seegange nach Kum-tschappgan +zurück. Faisullah, der nie in einem Boote gesessen hatte, wurde bleich +und sehnte sich, wieder an Land zu kommen. + +Am 10. April wurde an dem Punkte, wo der Fluß sich in Sümpfe auflöst, +die Wassermenge des Tarim gemessen; sie betrug 29,7 Kubikmeter in der +Sekunde. Im Jahre 1896 hatte ich an derselben Stelle und um dieselbe +Zeit 50,5 Kubikmeter gefunden. Der bedeutende Unterschied beruht teils +auf dem neugebildeten Schirge-tschappgan-Arme, teils auf einer Menge +von natürlichen Kanälen, die sich seit meinem vorigen Besuche oberhalb +des Kum-tschappgan vom Hauptflusse abgetrennt haben. + +Die Sanddüne, die dem Kum-tschappgan seinen Namen gegeben hat, ist +10,24 Meter hoch. Die größte Tiefe des Sees beträgt 5,15 Meter. Man +kann diesen Vertikalunterschied von 15,39 Meter als den größten im +ganzen unteren Lop-nor-Becken betrachten. + +Am 11. April unternahmen wir eine Kahnfahrt nach den südlichen Teilen +des Kara-koschun, die den nördlichen sehr unähnlich sind. So betrug +die größte gemessene Tiefe nur 1,90 Meter, aber während des ganzen +späteren Teiles der Fahrt hatten wir nur 0,3 und noch weniger. Der +Grund besteht aus feinem gelbem Schlamm, der auf schwarzem Moore oder +blauem Tone ruht; sobald das Ruder ihn streift, steigt es wie Tinte +im Wasser auf. Als das Wasser so seicht wurde, daß die Kähne nicht +mehr darauf schwammen, mußten die Leute aussteigen und sie an Stricken +weiterziehen; als aber auch dies bald unmöglich war, mußten wir +umkehren. Man sinkt 10 Zentimeter tief in den Schlamm ein, findet dann +aber einen festen, aus einer dünnen Salzschicht bestehenden Untergrund. +Der Sate-köll ist eine ausgedehnte, seichte Wasserfläche mit wenig +Schilf und liegt ganz in der Nähe des Wüstenweges, der am Südufer von +Abdall nach Sa-tscheo führt. Weder Seevögel noch Fische gibt es in +diesen sterilen Seebecken, die zu baldigem Verschwinden verurteilt +sind; keine Algen bedecken ihren Boden. Während des Sommers trocknen +sie vollständig aus, und ihr Bett verwandelt sich dann in eine harte, +rissige Lehmschicht. Der ganze Kara-koschun wandert langsam nach Norden +zurück. + +Den Tag darauf ruderten wir nach Abdall und lagerten auf dem westlichen +Ufer, wohin auch die Kamele geführt wurden. Der Tarim führte hier +nicht weniger als 93,3 Kubikmeter in der Sekunde, verlor also auf der +kurzen Strecke bis Kum-tschappgan 63,5 Kubikmeter, die sich in vielen +Tschappganen oder Kanälen von dem Hauptflusse abtrennen. Das Tarimdelta +wandert flußaufwärts, wie auch die Seen, die von den vielen Armen +gebildet werden. Der Fluß hatte hier jetzt infolge der Eisschmelze +seinen höchsten Wasserstand und war ungefähr ebenso hoch angeschwollen +wie beim Hochwasser im Herbst vor dem Zufrieren. Im Sommer steht die +Wasserfläche volle 2 Meter niedriger. + +Eine kurze Tagereise nördlich von der Gegend von Abdall wird die Wüste +von einem neugebildeten Arme durchschnitten, der von Schirge-tschappgan +am unteren Tarim ausgeht. Dieser Flußarm war bisher nur von Jägern aus +Abdall besucht worden; ich wollte eine Karte von ihm aufnehmen. Da das +Gebiet aber nur mit Kähnen untersucht werden konnte, mußten solche +auf irgendeine Weise über den Wüstenstreifen, welcher den neuen Arm +vom Tarim trennte, mitgenommen werden; es handelte sich nun darum, +wie dies zu bewerkstelligen sei. Einen schweren Kahn auf einem Kamele +zu balancieren, ist unmöglich, und zwei hintereinander gehende Kamele +mit zwei Kähnen in der Länge zu beladen, gelang ebensowenig; durch den +ungleichen Takt ihres Ganges war es ein ständiges Hin- und Herreißen, +und die Tiere scheuten auch vor diesen ungewöhnlichen Lasten. + +Die einzige Möglichkeit war, sie wie Schlitten auf der Erde +weiterzuziehen, wobei vor jeden Kahn ein Kamel gespannt wurde (Abb. +91). Die Tiere mußten vorsichtig geführt werden, damit sie nicht +scheuten und durchgingen. So gelangten die Fahrzeuge mit ein wenig +abgescheuertem Boden, sonst aber in gutem Zustand an Ort und Stelle. + +Unser Zug nahm sich recht komisch aus. Die Kamele hatten den größten +Teil ihrer Wolle verloren und waren, ein paar hier und dort noch +sitzende Haarbüschel abgerechnet, nackt. Sie zogen die langen, +knirschenden Kähne geschickt durch den Sand, in welchem dadurch eine +abgerundete Furche entstand. Alle Mann gingen zu Fuß; ein drittes +Kamel trug das Gepäck, alle notwendigen Instrumente und Proviant für +sieben Tage. + +Faisullah sollte die Kamele wieder zurückführen und dafür sorgen, daß +sie nach Mian gebracht würden, worauf er und Ördek uns wieder bei +Schirge-tschappgan zu treffen hatten. + +Ich, Tschernoff, Tokta Ahun, Jaman Kullu und noch zwei Ruderer lagerten +bei +Jangi-jer+ (neue Stelle), wo wir die erste seeartige +Anschwellung des Schirge-tschappgan-Armes erreichten, die größtenteils +mit Schilf zugewachsen war, im Norden aber von ziemlich hohem Sand +begrenzt wurde. + +Die Kähne wurden sofort ins Wasser gebracht, und die Männer machten +eine kleine Rekognoszierung, um die Strömung zu suchen, der wir +aufwärts folgen mußten, um uns in diesen Irrgängen von Kamisch und +Wasser nicht ganz zu verlieren. + +Der Tag war so weit vorgeschritten, daß wir unser Nachtlager da, wo wir +uns befanden, aufschlugen. Die Nacht unter freiem Himmel war jedoch +wenig angenehm. Ein heftiger Nordoststurm erhob sich und brachte +starken Regen. Als Tschernoff mich gegen 4 Uhr mit einem Filzteppiche +bedeckte, war ich schon ziemlich durchweicht, hatte einen kleinen See +an den Füßen und ein paar kleine Bäche auf dem Kopfkissen, schlief aber +wieder ein, ohne mich um den Regen zu bekümmern. + +Unsere erste Beschäftigung am Morgen war, unsere Kleider an einem +schönen Feuer zu trocknen, worauf das Geschwader ausgerüstet wurde. +Ich hatte die Instrumente in meinem Kahne, Tschernoff den Proviant in +dem seinen; dieser war aber so schwer belastet, daß die Reling nur 4 +Zentimeter über dem Wasser lag, und an offneren Stellen des Flusses +schlugen die Wellen dann und wann in den Kahn. Jolldasch, der ohne +Erlaubnis bei uns geblieben war, durfte auch mitkommen, fiel uns aber +nur lästig; wenn es ihm im Kahne zu langweilig wurde, sprang er ins +Wasser und schwamm in das Schilf hinein, und wir hatten viele Mühe, ihn +wieder zu erwischen. + +Die Fahrt war ziemlich mühsam. Der Buran fuhr fort, im Schilfe zu +heulen und zu pfeifen, und wir mußten an dem dichten Schilfbestande +entlang rudern, um Schutz zu finden. Auf offenem Wasser drohten die +Kähne sich selbst bei ziemlich unbedeutendem Wellenschlage mit Wasser +zu füllen und unterzugehen. In dem Schilfdickicht war es halbdunkel. +Hier und dort plätscherte ein Fisch; Schwäne und Gänse eilten fort, und +bei ein paar Gelegenheiten wurden sie ihrer Eier beraubt. + +Solange die Strömung deutlich war, ging alles gut; dann aber wurden +wir durch ein vollständiges Labyrinth von dichtem Kamisch, aus dem +Wasser herausguckenden Tamariskenkegeln, Anschwemmungen, Landzungen +und Landengen gehemmt. Über drei Stunden lang suchten wir hier kreuz +und quer nach einem Durchgange, gingen denselben Weg, den wir gekommen +waren, wieder zurück, verloren uns in schlängelnden Buchten, wo wir +wieder umkehren mußten, forcierten den Schilfbestand, indem wir +die Kähne mit den Rudern durch seine knackenden Wände trieben, und +schleppten sogar die Fahrzeuge über schilfbewachsene Landengen, die +benachbarte Wasserflächen voneinander trennten. Jede Düne, die dabei +passiert wurde, mußte einer von uns besteigen; doch der Blick reichte +bei dem Nebel nicht weit, und die ganze Umgebung war ein einziges +dichtes Dschungel. + +Als dieses Suchen umsonst war, steckten wir das Kamisch in Brand. Es +gab in dieser mit Dämmerung gesättigten Atmosphäre ein großartiges +Schauspiel, als sich die Flammen in die regenfeuchten Schilfhecken +hineinwarfen und diese knallten, knisterten und dampften und +rabenschwarze Wolken emporsteigen ließen, die vom Sturme zerzaust +wurden und wie ein Trauerflor über diese irreführenden Sümpfe mit ihren +überwachsenen Irrgängen führten. Rußflocken erfüllen die Luft, und +man wird ebenso schmutzig wie naß, während man in dem seichten Wasser +umherpatscht und die Kähne in die vom Feuer gebahnte Gasse schleppt, +die jetzt auch einen Blick nach vorn gestattet und uns sehen läßt, wo +wir den nächsten Weg zum offenen Wasser haben (s. bunte Tafel). + +Endlich waren wir wieder auf dem rechten Wege, wo das Wasser +tüchtig strömte. Die Strömung war so saugend und so schnell, daß +die Ruderer all ihre Kraft aufbieten mußten, um den Kahn gegen sie +vorwärtszubringen. Gegen Abend sahen wir uns nach einem geeigneten +Lagerplatze an dem hier überall feuchten Ufer um; da es uns aber nicht +gelang, einen solchen zu finden, blieben wir bei einigen Tamarisken +und legten, um wenigstens trocken zu liegen, Kamisch auf die Erde. In +schneidendem Wind machte ich meine Aufzeichnungen beim Scheine des +Lagerfeuers, und der Sturm peitschte den Flußarm derart, daß von den +Wogenkämmen weißer Gischt sprühte. + +Der Morgen war wenig verlockend zur Fortsetzung der Fahrt. Im Norden +war der Himmel schwarzgrau von Flugsand, und bei Wellenschlag läßt +sich die Strömung schwer unterscheiden. Erst um 11 Uhr konnten +wir aufbrechen und zogen nun nach Nordwesten über langgestreckte +Seen, die uns wieder in ein deutliches Flußbett führten. Manchmal +verengte sich dieses bis nur auf 10 Meter Breite und hatte dann eine +Stromgeschwindigkeit von 0,9 Meter. Dann folgt eine verwickelte +Strecke, von den Jägern Tokkus-Tarim (neun Flüsse) genannt, weil der +Strom hier in mehrere Arme geteilt ist. + +[Illustration: In brennendem Schilfe.] + +Der größte See auf dem ganzen Wege zog sich glücklicherweise von Norden +nach Süden hin. Indem wir seinem östlichen, von hohen Dünen eingefaßten +Ufer folgten, blieben wir vor dem Sturme geschützt. Gerade über den +See hinüberzufahren, wäre unmöglich gewesen; er war ganz weiß von den +schäumenden Wellen, und es war mehr Glück als Geschicklichkeit, daß +wir uns auf der anderen Seite wieder in den Flußarm hineinfanden. Der +Wasserweg lief alsdann nach Südwesten, und der Wind neutralisierte den +hemmenden Einfluß der Strömung. Bei dem Lager Nr. 30 führte dieser Arm +10,6 Kubikmeter Wasser, die dem unteren Tarim entzogen worden waren. + +Auch die folgende Tagereise war verwickelt, und der Wind dauerte +fort. Die Minimaltemperatur war auf -0,3 Grad heruntergegangen. Wir +ruderten längs des Ufers weiter, gerieten aber oft in Sackgassen. Ein +junger Hirt, auf den Tokta Ahun gestoßen war, diente uns als Lotse, +bis wir eine Sattma erreichten, von welcher aus ein alter Fischer +uns zu Boot begleitete. Ohne seine Hilfe wäre es uns nicht möglich +gewesen, die Mündung des Flußarmes zu finden, denn sie war total vom +Schilfe verdeckt. Ein wenig weiter aufwärts lotste er uns durch einen +kaum meterbreiten Kanal, wo die Kähne an einer Stelle auf das Land und +durch das Schilfdickicht gezogen werden mußten, um an einem etwa 55 +Zentimeter hohen Wasserfalle vorbeizukommen. Ein zweiter Katarakt hatte +eine Höhe von 60 Zentimeter. + +Man erhält durch diese Wasserfälle den Eindruck, daß der +Schirge-tschappgan-Arm stärkeres Gefälle hat als der Hauptfluß, sich +also auf einem etwas höheren Niveau befinden muß. Hierdurch erklärt +sich auch die Tendenz des ganzen hydrographischen Systems, nach Norden +zu wandern und sich nach diesen flachen Depressionen hinüberzuwerfen. +Ein Niveauunterschied von einem Meter spielt in einem Lande, das +beinahe ganz horizontal ist, eine sehr große Rolle. + +Bei +Jekken-öi+ fanden wir ein Dörfchen (Abb. 92) von 4 Sattmen +und 20 Einwohnern, ausschließlich aus Greisen, Frauen und kleinen +Kindern bestehend, denn die kräftigere männliche Bevölkerung hatte +sich nach Tscharchlik begeben, um Ackerbau zu treiben. Die Bevölkerung +lebt hier von Fischfang, Wildenten, die sie massenweise fangen, und +Enteneiern. Sie besitzen auch 150 Schafe und eine Anzahl Kühe. Vor vier +Jahren waren sie von Tscheggelik-ui hierher gezogen und sie erzählten, +daß der neue Flußarm erst vor sieben Jahren angefangen habe, sich von +ihrem See aus einen Arm nach Osten zu bahnen. + +Von einem ganzen Geschwader von Kähnen begleitet, steuerten wir am +18. nach Südwesten über eine Seenreihe, die Tiefen bis zu 4,6 Meter +zeigten. Diese Seen sind dadurch eigentümlich, daß das Wasser sich von +ihnen nach zwei Seiten teilt; die Bifurkation findet nach Osten und +Westen statt. Die Hauptmasse geht ostwärts und bildet den Arm, dem +wir gefolgt waren, ein Teil aber fließt bei Schirge-tschappgan in den +Tarim, und der Spiegel des Sees liegt 60 Zentimeter über dem Niveau des +Tarim. + +Allmählich kommen wir in einen Kok-ala (kleinen Flußarm) hinein, der +sich nach dem Tarim hinunterschlängelt, wo sein kristallhelles Wasser +sofort in den trüben Fluten des Flusses verschwindet. + +Eine Strecke weiter abwärts machen wir an den Hütten von ++Schirge-tschappgan+ Halt und haben eine prachtvolle Aussicht +über den gewaltigen Fluß, der hier gerade und regelmäßig ist und von +ehrwürdigen dichtbelaubten Pappeln eingefaßt wird. Hier werden 5,6 +Kubikmeter Wasser aus den Seen von Jekken-öi wieder an den Tarim +abgegeben, der selbst an diesem Punkte 108,4 Kubikmeter in der Sekunde +führte, die größte Wassermenge, die ich bis dahin in dem Flusse +gefunden hatte (Abb. 93). + +In der Nacht auf den 20. April ging die Temperatur wieder auf -4 Grad +herunter, was für diese Jahreszeit recht ungewöhnlich ist. Nachdem wir +uns mit Faisullah, Ördek und Maschka wiedervereinigt hatten, war unser +Plan, auf den östlichen Seen, die ich das vorige Mal entdeckt hatte, +nach Tikkenlik zurückzurudern. Es war recht ärgerlich, zwei Tage lang +denselben Weg wie damals gehen zu müssen, nach Kum-tschekke, aber die +hydrographischen Verhältnisse hatten sich so verändert, daß ich auf +mehrere neue Erfahrungen hoffen konnte. + +So ließen wir denn jetzt den Nias-köll zur Linken liegen und ruderten +über den Tschong-köll, der seinen Namen (großer See) mit Recht führt +und auf dem man sich mit den wenig seetüchtigen Kähnen nicht zu weit +hinauswagen darf. + +Sodann gehen wir einen mächtigen Flußarm hinauf, der lauter Sand +durchschneidet und Lailik-darja heißt. Indem ich von Zeit zu Zeit +die Wassermenge in diesem östlichen Arme auf dem Wege aufwärts maß, +würde ich allmählich seinen Charakter erforschen und ausfindig machen +können, wieviel Wasser unterwegs in den Seen verloren geht, sich durch +Verdunstung verflüchtigt, in den Boden einsickert usw. + +Der Sadak-köll hatte sein Aussehen in den vier Jahren vollständig +verändert. Er war mit Schilf zugewachsen und voller Sand und +Anschwemmungen, in denen ein Flußarm mit starker Strömung entstanden +war. Die Hütten, bei denen ich damals vom Sturme aufgehalten wurde, +standen noch. Ihre Bewohner waren größtenteils noch dieselben; sie +erkannten mich wieder und empfingen uns mit der größten Freundlichkeit. +Sie nennen ihr mit 26 Menschen bewohntes Dorf +Merdektik+, +nach einem neugebildeten Arme des Merdek-köll. Schritt für Schritt +sehen wir, wie das ganze hydrographische System nach Norden und +Osten wandert, um dereinst wieder in das Seebecken des alten Lop-nor +zurückzukehren. + +Von dem Dorfe begleitete uns ein Fischer in seinem Kahne und zeigte uns +den gegen die ziemlich reißende Strömung angehenden Weg nach Norden. +Tschernoff hatte uns eine 6 Meter lange Stange besorgt, die er in Meter +und Dezimeter eingeteilt hatte, so daß er die Tiefen direkt ablesen +konnte, wenn ich Sondieren für wünschenswert hielt. Längs der Ufer +stand reicher Tograkwald in seinem ersten, zarten Lenzgrün und wirkte +da, wo er, wie hier, die gelbe, öde Sandwüste als Hintergrund hatte, +besonders anziehend. + +In +Kulaktscha+ machten wir eine kurze Frühstücksrast; dort +wohnten noch immer fünf Familien, lauter alte Bekannte von 1896. Seit +meinem vorigen Besuch hatten die Hirten der Gegend eine ziemlich +feste Brücke (Abb. 94) von Balken, Ästen und Kamisch über den Fluß +geschlagen, um ihr Vieh im Sommer von einem Ufer nach dem anderen +hinübertreiben zu können. Sie ist so niedrig, daß man mit belasteten +Kähnen nur gerade unter ihr durchfahren kann; aber sie ist pittoresk, +wie sie ihre Pfähle und Balken in dem Ilek spiegelt, dessen Wasser +schwarz wie Tinte, aber auch klar wie Kristall ist. + +Dann ruderten wir mit einer Geschwindigkeit von 1,8 Meter in +der Sekunde zwischen üppigen Wäldern und undurchdringlichen +Schilfdickichten weiter und langten bei Sonnenuntergang unter +Mückentanz in +Kum-tschekke+ an, wo wir gleichfalls von Freunden +aus dem Jahre 1896 empfangen wurden. + +Mit ihnen machte ich am folgenden Tage eine Fahrt nach dem Merdek-köll, +um von diesem eine Karte aufzunehmen. Dieser Fluß empfängt sieben +Kubikmeter Wasser vom Ilek und hat Tiefen bis zu 7,4 Meter, also viel +bedeutendere als der Kara-koschun. + +Von Kum-tschekke gingen wir weiter den Fluß hinauf, der noch immer +außergewöhnlich tief ist und von prächtigen Wäldern eingefaßt wird. Es +ist eine sehr schöne Gegend, die mit ihrem Kanale und ihrem blanken, +dunkeln Wasserspiegel einem Parke gleicht, und es ist eine Freude, die +unaufhörlich wechselnden Uferszenerien zu betrachten (Abb. 95, 96). + +Von dem See und Dorfe +Tosgak-tschantschdi+ an nahmen wir neue +Ruderer, und ich machte einen Ausflug nach dem auf der vorigen Reise +entdeckten Arka-köll. + +Auf der folgenden Tagereise wurde mitten im Flusse eine der größten +Tiefen gelotet, die ich im ganzen Tarimsysteme je gefunden habe, 12,55 +Meter. Von dem Punkte, wo wir am Ufer lagerten, unternahm ich wieder +eine Bootexkursion nach dem nahegelegenen +Tajek-köll+. Ich hatte +nur einen Mann bei mir, und der Kahn mußte einen halben Kilometer über +Land von dem Flusse nach dem See getragen werden. Der Tajek-köll, an +dessen östlichem Ufer wir 1896 mit Kamelen durch mühsames Terrain +wanderten, ist ziemlich offen und hat in der Mitte Tiefen von 5,7 +Meter, 6,9 Meter und 9,5 Meter, die also beinahe doppelt so groß sind +wie die tiefsten Stellen des Kara-koschun. + +Als ich wieder ins Lager kam, war das Zelt so voller Mücken, daß sie +ausgeräuchert werden mußten, worauf die Leinwand auf allen Seiten +zugezogen und Jolldasch angebunden wurde, damit er nicht, wie er zu +tun pflegte, aus und ein liefe und diese verwünschten Insekten, die +uns jetzt abends zu plagen begannen, mitbrächte. Es ist eine Art +großer hellgrauer Mücken, die ihr Opfer mit unglaublicher Energie und +unglaublichem Eigensinn umschwärmen; sie hinderten mich am Schreiben +sowie an jeder anderen Beschäftigung. Man ist ihrem Blutdurste, gegen +den der eines Tigers nichts ist, völlig preisgegeben. Sie zeigen eine +Todesverachtung, die nicht Mut, sondern Dummdreistigkeit ist, greifen +von allen Seiten an und gehen gern in den Tod, wenn sie nur erst eine +tüchtige Mahlzeit Blut haben einsaugen können. + +Am 27. brachen wir bei Tagesgrauen aus diesem unwirtlichen Mückenneste +auf. Es dauerte nicht lange, so fegte ein warmer, dunstiger Südwestwind +über das Wasser in diesem unheimlich verwickelten Labyrinthe von +Seen, Sümpfen und Flüssen hin. Wir folgten unserem alten Ilek +aufwärts; er gleicht kaum einem Flusse, sondern eher einer offenen +Gasse in einem Sumpfsee. Unsere Richtung ist anfangs nördlich, aber +beim +Suji-sarik-köll+ (See des gelben Wassers) biegen wir nach +Westen ab, um in ungeheuer verwickelten Dickichten und Dschungeln von +Kamisch, durch die ein schlecht instandgehaltener Tschappgan führt, zu +verschwinden (Abb. 97). Drinnen ist es dunkel und schwül; das Kamisch +ist von den Stürmen über den engen Wasserweg gelegt worden und ist mit +Staub und Flugsand bedeckt. Stellenweise bildet das Ganze eine Brücke, +auf der man bequem weite Strecken über das im allgemeinen 2 Meter tiefe +Wasser gehen kann. Es war jedoch nicht immer ganz leicht, unter diesen +mächtigen natürlichen Gewölben, wo man so staubig wird wie auf einer +Landstraße, vorzudringen. Zwischen Milliarden von Schilfstengeln rinnt +das Wasser nach dem Ilek hinab. Diesen Abend lagerten wir im Dorfe ++Scheitlar+, das wir auch im Winter besucht hatten (Abb. 98); ich +erhielt also einen Anknüpfungspunkt an die Karte der Expedition nach +Tschertschen. + +[Illustration: 113. Tokta Ahun und seine Mutter in Abdall. (S. 275.)] + +[Illustration: 114. Tamarisken bei Tattlik-bulak. (S. 292.)] + +[Illustration: 115. Frauen und Kinder der Loplik. (S. 278.)] + +[Illustration: 116. Das Gerüst meiner Jurte. (S. 292.)] + +Von diesem Punkte aus machte ich am folgenden Tage mit zwei Führern +einen Ausflug nach dem +Kara-köll+. Wir mußten 4,1 Kilometer +zu Fuß gehen, ehe wir an sein Ufer gelangten, wo ein Kahn im Schilfe +angebunden lag. Auch jetzt hatten wir einen Nordoststurm von der +schlimmsten Sorte uns gerade entgegen. Wir ruderten um die größte +offene Wasserfläche des Sees herum, indem wir uns längs des Schilfes +oder innerhalb seines äußeren Randes, wo der Wellenschlag gemildert +war, bewegten. Im Kara-köll sieht man ganze Fladen von Kamischwurzeln, +die mit Lehm, Schlamm und verfaulten Algen vom Seeboden zusammengeballt +sind und teils auf dem Wasser, teils ein wenig unter der Oberfläche +treiben. Sie werden von der Bevölkerung „Sim“ genannt und sehen oft +aus, als könnten sie einen Mann tragen. Sie zeigen jedenfalls deutlich, +daß die Wasservegetation einer der Faktoren ist, die zur Verseichtung +dieser ausgedehnten, wenig tiefen Sumpfseen beitragen. + +Mit Tschernoff als Gehilfen maß ich jeden Arm, jeden Kanal, der Wasser +nach dem Ilek und nach Argan führte und gewann die interessantesten +Resultate, unter anderem den Beweis, daß das Wasser des Tarim sich +seit meinem vorigen Besuche in immer größerer Menge in dieses östliche +System hinübergezogen hatte. + +Mit neuen Booten und Ruderern fuhren wir am 29. nach Westen und +Nordwesten, den gewaltigen See Tschiwillik-köll kreuzend, der +bedeutende offene Wasserflächen besitzt, aber gleich den anderen +größtenteils von Schilf und Binsen überwuchert ist. Bei dem Dorfe ++Kadike+, das 40 Bewohner zählt, durften die anderen lagern, +während ich mit zwei Kähnen nach dem Awullu-köll weiterfuhr, um seinen +Zusammenhang mit den übrigen Wasserwegen zu untersuchen. + +In Kadike gesellten sich am nächsten Tage Kirgui Pavan und Schirdak +Pavan, meine alten Führer, zu uns, und erst jetzt erhielten wir die +Nachricht von Parpi Bais Tod. Als wir uns vor ein paar Tagen von +Faisullah trennten, der sich schleunigst nach Tura-sallgan-ui begeben +sollte, hatte er den Befehl an Parpi Bai und Tscherdon mitgenommen, +mit der Hauptmasse der Karawane nach Tschimen vorauszugehen, damit die +Tiere nicht unnötig von Bremsen und Mücken gepeinigt würden. Doch Parpi +Bai sollte von dem Vertrauen, das ich zu seiner Fähigkeit hegte, eine +große Karawane leiten zu können, nie Kenntnis erhalten. + +Am 1. Mai hatten wir wieder neue Boote und neue Leute, darunter +Kirgui und Schirdak. Die Fahrt ging auf dem Kuntschekkisch-Tarim nach +Westnordwest. Bei Dargillik sind im Walde noch Spuren von etwa 20 +Hütten, nach denen die Beke von Turfan sich unter der chinesischen +Herrschaft vor Jakub Beks Zeit über Turfan-köbruk am oberen Ilek +begaben, um die hauptsächlich in Otterfellen bezahlten Steuern für den +Kaiser einzutreiben. Sie pflegten Geschenke in Gestalt von Mehl für +die Beke und die Bevölkerung des Landes, die sich in ihren Kähnen von +allen Seiten hier einfanden, mitzubringen. Dargillik war damals eine +Art Marktplatz, und alle sehnten sich dorthin, in der Hoffnung, mit +einem Beutel Mehl zurückzukehren, denn damals wurde im Loplande noch +kein Ackerbau getrieben. + +Bei dem Lager +Dillgi+ fanden wir, daß jetzt 84,3 Kubikmeter +Wasser dem Tschiwillik-köll zuströmten, aber ein paar Tage vorher +hatten wir 91 Kubikmeter gemessen, die aus ihm abflossen. Dieses beim +ersten Anblick seltsame Verhältnis beruht darauf, daß der Zufluß schon +angefangen hat, abzunehmen, so daß der See, der als Reservoir wirkt, +sich noch eine Zeit lang mehr Wassers entledigt, als er empfängt. + +Die drei folgenden Tage ruderten wir angestrengt flußaufwärts. Am 4. +Mai lagerten wir bei dem alten Naser Bek in +Tikkenlik+ (Abb. +99) und erhielten gute Nachrichten aus dem Hauptquartier. Der 5. +wurde Tikkenlik geopfert, denn am Morgen langte die erste Karawane +aus Tura-sallgan-ui unter Tscherdons Oberbefehl hier an und mußte +inspiziert werden. Die übrigen Teilnehmer waren Faisullah, Mollah +Schah, Musa, Kutschuk und zehn Loplik samt 35 Pferden, 5 Mauleseln und +5 Hunden; Menschen wie Tiere waren in gutem Zustand. Das Gepäck der +Karawane war imponierend und bestand aus Reis, Mehl, Konserven usw., +der privaten Habe und den Kleidungsstücken der Leute, einem großen +mongolischen Filzzelte und unzähligen anderen Dingen. Eine kleine +Strecke außerhalb des Dorfes hatte die Karawane ihr großes Lager +aufgeschlagen. Nach dem von mir durch Faisullah gesandten Befehl sollte +sie den großen Karawanenweg bis Abdall benutzen und von dort direkt +nach Tschimen in Nordtibet gehen, ein passendes Standlager aussuchen +und meine Ankunft dort abwarten, wobei vor allem dafür gesorgt werden +sollte, daß die Tiere gut gepflegt wurden, damit sie die Strapazen, die +ihrer im Sommer warteten, aushalten konnten. + +Der Amban von Tscharchlik, Dschan Daloi, passierte Tikkenlik während +meiner dortigen Anwesenheit. Er war auf dem Wege nach seiner +Residenzstadt und zeigte sich als ein ungewöhnlich liebenswürdiger, +artiger, feiner Chinese, der mir später von großem Nutzen sein sollte. + +Am 6. Mai wechselten wir zum letzten Male auf dieser langen Fahrt die +Ruderer und Kähne. Wir brauchten leichte Fahrzeuge und starke Muskeln, +denn ich beabsichtigte, die uns noch von Jangi-köll trennende Strecke +möglichst schnell zurückzulegen. Über den +Kalmak-ottogo+-Arm +(Abb. 100) gelangten wir wieder in den Tarim, wo wir am 7. gute Hilfe +vom Winde hatten, was bei der starken Strömung, die jetzt nach der +Eisschmelze herrschte, auch sehr nötig war. + +Den letzten Tag lag wieder Staubnebel schwer über dem Lande. Bei ++Artillma+ ersparten wir uns eine große Flußbiegung dadurch, +daß wir die Kähne über eine schmale Landzunge schleppten. Als wir +schließlich an unseren wohlbekannten Strand mit der einsamen Pappel +gelangten, standen alle Mann zu unserem Empfang bereit. Sirkin +berichtete über alles Vorgefallene und überreichte das meteorologische +Journal nebst seinen Aufzeichnungen und Beobachtungen über die +Veränderungen des Flusses während meiner Abwesenheit. Auf dem Korso +hatten sie eine hübsche kleine mongolische Jurte aufgeschlagen, in der +ich von nun an wohnte. Die Kosaken logierten in der Kamischhütte, Islam +und Turdu Bai im Zelte. Die Fähre lag im Hafen vertäut und sollte jetzt +wieder zu Ehren gelangen. + + + + +Dreiundzwanzigstes Kapitel. + +Gefährliche Wasserfahrten. + + +Durch die Rückkehr in das alte Winterquartier war ein neues Glied in +die Kette der Exkursionen eingefügt worden und hatte ein neues Kapitel +der Reise seinen Abschluß gefunden. Der unschätzbaren Operationsbasis, +die wir in Jangi-köll gehabt hatten, bedurften wir jetzt nicht länger, +denn jetzt sollte all unser lebendes und totes Hab und Gut nach anderen +Gegenden Asiens, in eine neue Welt und neue Verhältnisse übersiedeln: +auf die unwirtlichen Berge zwischen dem Himalaja und dem Kwen-lun, +welche die mächtigste Erhebung der Erdrinde bilden. + +Die zehn Tage, die ich jetzt im Hauptquartiere zubrachte und die +zur Ruhe so sehr notwendig waren, vergingen sehr schnell unter +mannigfaltigen Beschäftigungen. Zuerst wurden alle Geschäfte mit +Chalmet Aksakal von Korla abgeschlossen, der uns Pferde und Proviant +auf lange Zeit hinaus besorgt hatte und der, als er uns verließ, meine +große Post nach Europa mitnahm. + +Unterdessen waren die Kosaken durchaus nicht müßig. Sie veränderten +den Oberbau der Fähre in besonders bequemer, gemütlicher Weise. Unser +altes Schiff sollte nämlich bald wieder in Gebrauch treten, da die +Reise den Tarim hinunter fortgesetzt werden sollte. Statt des Zeltes +wurde auf dem Vorderdeck eine ordentliche Hütte errichtet, die ganz +wie die Dunkelkammer aussah, nur mit dem Unterschiede, daß die Latten +mit weißen Filzdecken tapeziert wurden. Die Vorderwand bildeten zwei +Filzvorhänge, von welchen der rechte vor dem Schreibtische nur nachts +heruntergelassen wurde. Hier wurde auch eine kleine Markise gegen die +Sonne, die mir sonst auf der Fahrt nach Süden sehr lästig geworden +wäre, angebracht. An die aus Brettern bestehende Backbordlängswand +wurden drei meiner Kisten gestellt, von denen eine als Eßtisch diente. +Das Bett hatte seinen Platz an der Steuerbordlängswand, die nur aus +einer großen herabhängenden Filzwand bestand. Ein Teppich wurde dagegen +nicht auf den Boden gelegt; die Behausung sollte so luftig wie möglich +sein. Das meteorologische Observatorium hatte denselben Platz wie +früher, und die Instrumente ließen sich bequem von drinnen ablesen, +wenn ich nur den kleinen Filzvorhang ein wenig zurückschlug. Die +Decke bildeten sieben mit einem Teppiche bekleidete Latten. Von einer +derselben hing an Stahldrähten ein mehr als einfacher „Kronleuchter“ +herab. + +Als die neue Residenz fertig war, wurden all meine Habseligkeiten +dorthin gebracht, außer den Sachen, deren ich auf dem Flusse nicht +bedurfte und die mit der Karawane gingen. Meine kleine Mongolenjurte +wurde zusammengelegt und an Bord verstaut, denn ich wollte von ihr auf +der Reise nach dem neuen Hauptquartier im Gebirge Gebrauch machen. +Das neue Studierzimmer war so einladend und gemütlich, daß ich nicht +begriff, wie ich mich auf der langen, kalten Herbstreise mit dem Zelte +hatte begnügen können; die Filzdecke, die das Eindringen der Sonnenglut +verhinderte, hielt auch die Wärme im Zimmer fest. Am besten von allem +war, daß ich in dieser angenehmen Wohnung auf dem Tarim bis an den +Punkt bleiben konnte, wo wir früher oder später unsere gute alte Fähre +würden im Stiche lassen müssen, was sich, wie ich hoffte, noch recht +lange würde hinausschieben lassen. + +Auf dem Achterdeck bauten sich die Kosaken aus Brettern und Filzdecken +eine ähnliche Kajüte, in der sie ihre Sachen unterbrachten. Sirkin +hatte dort seinen kleinen Beobachtungstisch mit Aneroiden, einer +Uhr, Wasserthermometern, Strommessern, Bandmaßen, Papier und +Schreibmaterial. Er war mir auf der Reise nach Abdall ein unschätzbarer +Sekretär. + +Die Arbeit an der Fähre war schnell erledigt. Weil die Kosaken vor dem +Aufbruche nicht müßig gehen sollten, gab ich ihnen ein neues Problem zu +lösen. Die kleine englische Segeltuchjolle taugte zu allem, nur nicht +zum Kreuzen; da aber unsere Freunde, die Fischer und die Bootsleute, es +einstimmig für unmöglich erklärten, ohne Zuhilfenahme der Ruder gerade +gegen den Wind anzugehen, fühlte ich mich versucht, sie in Erstaunen zu +setzen und ihnen einen schlagenden Beweis von der Richtigkeit meiner +Behauptung des Gegenteils zu geben. + +Ich schnitzte daher ein kleines Modell, und nach dieser Vorlage hieben +die Kosaken aus einem Pappelstamme ein Segelboot zurecht, dessen +Rumpf nach allen Regeln der Kunst geformt wurde. Mit eisernen Krampen +wurde am Boden ein loser Kiel und unter diesem ein paar Eisenstangen +befestigt. Darauf wurde das Boot mit Leder gedeckt, das so fest +gespannt wurde wie ein Trommelfell; ein abnehmbarer Mast hatte seinen +Platz am Vorderteil, und das Fahrzeug trug ein einziges Segel. Unser +Schmied verfertigte ein vortreffliches Steuer mit Ruderzapfen, drehbar +auf zwei Stiften. Am Boden wurden zwei Sandsäcke festgemacht, um dem +an und für sich schwankenden Fahrzeuge etwas Halt zu geben. Es trug nur +einen Mann und war so schmal, daß der Segler kaum im Achter Platz fand +und, so gut er konnte, mit den Beinen auf der Reling balancieren mußte. + +Während all dieser Arbeiten hatte sich der freie Platz in unserem +Dorfe, wo abends treu die chinesische Laterne brannte, aus einem Markte +in eine Werft verwandelt, und mit Interesse und Neugierde verfolgten +die Eingeborenen unser Tun (Abb. 101). Als das Boot fertig war und bei +starkem Winde auf dem Flusse probiert wurde, versammelten sie sich +an den Ufern und legten die größte Verwunderung über meine Manöver +an den Tag. Das Boot kreuzte leicht und gehorchte willig dem Steuer, +aber man durfte nicht gegen Nässe empfindlich sein, denn die Reling +tauchte gewöhnlich unter die Oberfläche, und das Wasser stürzte in den +Achterraum, den es bald füllte. Das Boot ging ausgezeichnet schnell, +und seine Benutzung war ein erquickender Sport an den Tagen, da wir mit +der großen Fähre starken Windes halber nicht weiter konnten. + +Am Abend des 17. Mai besuchten alle Muselmänner Parpi Bais Grab +und sprachen dort ihre Gebete; es war ihr letzter Abschiedsgruß +an den alten Kameraden. Darauf wurde die Bevölkerung der Gegend +zusammengetrommelt, und Holzfäller, Wasserträger, Hirten und alle, die +uns sonst Dienste geleistet hatten, erhielten ihre Bezahlung. + +Als ich am folgenden Morgen aus meiner Kajüte trat, standen die neun +Kamele bereit und warteten auf ihre Lasten, die schon geordnet und +an den Leitern festgebunden waren. Es war ursprünglich beabsichtigt, +daß sie nachts marschieren sollten, um von den Bremsen verschont zu +bleiben, die sie besonders jetzt, da sie nach dem Haaren nackt und +empfindlich sind und mit den vereinzelten Haarbüscheln auf Kopf und +Höckern wie junge Krähen aussehen, entsetzlich peinigen. Da sie aber +lange geruht hatten und an das Gehen mit Lasten noch nicht gewöhnt +waren und daher wahrscheinlich anfangs spielen und bocken würden, +beschlossen wir, daß sie die ersten Märsche bei Tag zurücklegen und +erst, sobald sie sich eingewöhnt hatten, nachts marschieren sollten. + +Islam, Turdu Bai, Chodai Kullu und zwei Lopleute führten die Karawane; +Tschernoff hatte den Auftrag, sie nach dem Gebirge zu eskortieren. +Maschka, Jolldasch und die beiden, jetzt schon tüchtig gewachsenen +jungen Hunde Malenki und Maltschik wurden angebunden, damit sie nicht +mit der Karawane liefen (Abb. 102). Als meine besonderen Lieblinge +sollten sie mir auf der Fähre Gesellschaft leisten. Die übrigen Hunde +dagegen durften die Karawanenreise mitmachen; Jollbars, dem ein +Wildschwein einen schlimmen Riß in der Seite beigebracht hatte, sollte +nach seinem Belieben handeln. Er lag, seine Wunde leckend, in meiner +alten Hütte, erholte sich aber wieder und begleitete mich später auf +dem Wege nach Lhasa. + +Als die Kamele mit ihren hohen Lasten und die Männer in farbigen +Gewändern, von einer Menge Schaulustiger umgeben und von berittenen +Lopleuten und Beken begleitet, durch Schilf und Unterholz fortzogen, +boten sie ein schönes, farbenprächtiges Schauspiel. Doch in +Tura-sallgan-ui war es, als sie fort waren, öde und leer geworden. Das +Dorf lag verlassen, und sogar die Laterne war fort; auf dem Markte, +wo es eben noch so lebhaft zugegangen war, spazierten jetzt nur noch +ein paar Krähen umher. Die Ställe standen leer, die Kaufleute, die +in unserer Nähe ihre Läden aufgeschlagen gehabt, hatten sich nach +dankbareren Handelsplätzen begeben und nur aus der alten Küche der +Muselmänner stieg noch der Rauch des letzten Feuers. + +Die Hütten aber, in denen jetzt nur Skorpione und Spinnen hausen +würden, sollten nicht niedergerissen werden; Chalmet Aksakal hatte +erklärt, daß sie reisenden Kaufleuten von Nutzen sein könnten. Ein +Jahr darauf wurde jedoch, wie schon erwähnt, die ganze Herrlichkeit +durch die Frühlingsflut zerstört; die Hütten wurden dem Erdboden +gleichgemacht, und selbst die Pappel ging den Weg alles Irdischen. + +Der Klang der Kamelglocken war kaum verhallt, als Sirkin, Ördek und ich +mit ein paar Ruderern in zwei Kähnen die Fähre, die für die Zukunft +unser Lager bilden sollte, verließen. Wir eilten in sausender Fahrt +flußabwärts und in den schmalen Kanal hinein, der nach dem Göllme-ketti +(See des verlorenen Netzes) führte, wo Tiefenmessungen vorgenommen +werden sollten. Merkwürdigerweise nahmen die Tiefen nach Süden zu, wo +sie bis zu 7 Meter betrugen, also bedeutend mehr als gerade gegenüber +im Flusse. Die größten Tiefen findet man im allgemeinen am östlichen +Ufer, wo auch die Dünen steil nach dem See abfallen. + +Während wir den Göllme-ketti hinabfuhren, nahm der Wind schnell an +Heftigkeit zu und ging in einen halben Sturm über mit Dämmerung +und Wolken von Staub und Sand, der wie Besen von allen Dünenkämmen +aufwirbelte. Die Wellen schlugen in die Kähne, die bald hinter einem +Vorsprunge an Land gezogen und leergeschöpft werden mußten. + +Nachdem dies getan war, fuhren wir weiter; es wurde aber eine +abenteuerliche Fahrt. Weit nach Süden hin erstreckte sich der See mit +weißschimmernden, hellgrünen Wogen. Die Lage war insofern kritisch, +als der See manchmal ziemlich flach war; wenn der Kahn an solchen +Stellen den Sandboden streifte, konnte das Fahrzeug im Wogenschwalle +kentern. Um eine solche Katastrophe zu vermeiden, mußten wir ziemlich +weit vom Lande abhalten. Die Wellen schlugen über die niedrige Reling, +und nach einer Weile saßen wir pudelnaß in einem erfrischenden Bade. +Ich zitterte für das Skizzenbuch und die Instrumente, fand aber sonst +die Lage höchst amüsant und spannend. Auf die Dauer wurde sie jedoch +unhaltbar, denn die Kähne waren halb voll Wasser, und je tiefer sie +lagen, desto leichter konnten die Wellen hineinströmen. Auf einmal sank +Sirkins Boot und wurde von der Brandung hin und her geworfen, nachdem +die Leute hinausgesprungen waren und ihre Sachen zu retten versucht +hatten, was ihnen teilweise auch geglückt war. Wir sahen sie nachher +ihr Fahrzeug ganz ruhig auf das Trockene ziehen, wo sie das Wasser aus +ihren Kleidern wrangen. Wir anderen fuhren noch etwas weiter, bis auch +unsere Lage höchst bedenklich wurde. Der Kahn wurde wie eine Nußschale +von den Wellen hin und her geworfen. Noch hoben ihn jedoch die Kämme, +und ich schöpfte, während die anderen ruderten, was das Zeug hielt; +aber seine lange, schmale Form verursachte, daß jede Welle wenigstens +mit ihrer Spitze hineinschlug und unter den Filzdecken, die meinen +Sitzplatz bildeten, Spritzwasser zurückließ. + +Der Atem stockt einem unwillkürlich, wenn eine gewaltige, +weiß-schäumende Woge gegen die Seite des Kahns anstürmt; man glaubt, +das leichte Fahrzeug müsse im nächsten Augenblick unfehlbar kentern +oder vollständig von dem Schaumfalle unter Wasser gedrückt werden; es +hält aber den Anprall noch aus und hebt sich wieder. Bald aber mußte es +unfehlbar untergehen. Wir trieben daher den Vordersteven dem Lande zu, +wobei die ganze Wassermasse auf das Achter drängte, und der Schiffbruch +fand auf seichtem Wasser mit Sandboden statt, wo man an Land waten +konnte, ohne mehr als bis zur Mitte naß zu werden, und so noch mit Mühe +und Not alle Papiere zu retten vermochte. + +Hier zogen wir uns nackt aus und breiteten unsere Anzüge und Sachen auf +dem noch sonnendurchglühten Sande zum Trocknen aus. Die Leute benutzten +die Gelegenheit zu einem Schläfchen, während ich auf besseres Wetter +wartete. Da der Sturm sich aber nicht legte, wir keinen Proviant hatten +und ich der Chronometer halber rechtzeitig wieder daheim sein mußte, +mußten zwei Ruderer die Kähne am Lande entlang führen, während ich die +Kartenarbeit zu Fuß fortsetzte. + +[Illustration: 117. Hauptquartier bei Mandarlik. (Blick talabwärts.) +(S. 299.)] + +[Illustration: 118. Lager bei Mandarlik. Blick talabwärts. (S. 299.)] + +[Illustration: 119. Landschaft oberhalb von Mandarlik. (S. 299.)] + +[Illustration: 120. Hauptkamm des Tschimen-tag, oberhalb von Mandarlik +gesehen. (S. 300.)] + +Wenn auch die Tiefenmessungen auf dieser Exkursion mangelhaft gewesen +waren, so hatte ich wenigstens die Überzeugung gewonnen, daß die Kähne +bei starkem Wellenschlag geradezu lebensgefährlich sind. Es ist recht +lustig, nach seinen eigenen „Seekarten“ zu manövrieren, aber auf dem +Rückwege hatten wir wenig Nutzen von ihnen. Die Gegend verschwand in +undurchdringlicher Finsternis. Die Männer schienen nach dem Gefühle +zu rudern; sie müssen aber auch Katzenaugen gehabt haben, denn sie +stießen nicht ein einziges Mal an. Schagdur, der Haus und Heim behütet +hatte, zündete auf der Hafenspitze rechtzeitig ein Feuer an, und als +wir an der Fähre anlegten, strahlte es aus den Kajüten so hell wie aus +den Salons eines Flußdampfers. + +Nachts stürmte es so heftig aus Südosten, daß die Fähre im Hafen +schlingerte. Der Wasserstand stieg in den letzten Tagen um einige +Zentimeter. Die Einwohner sagen, daß, wenn die große, durch das +Auftauen des Eises verursachte Frühlingsflut vorbei sei, ein zweites, +wenn auch unbedeutendes Hochwasser alljährlich beobachtet werde, +und zwar gerade um die Zeit, wenn die Ölweidenblüten aufbrechen und +die jungen Wildgänse selbständig zu werden beginnen. Wahrscheinlich +hängt diese Erscheinung mit der Verteilung des Luftdruckes während +dieser Jahreszeit zusammen. Uns war jeder Zuschuß zu der Wassermenge +willkommen. Am 16. Mai hatten wir 73,4 Kubikmeter, oder 22 Kubikmeter +weniger als am 7. Mai. So schnell fällt der Fluß, wenn die große +Frühlingsflut vorbei ist. + +Wir mußten uns sputen. Am 19. Mai befahl ich, die Anker zu lichten, +nachdem die noch rückständigen Schulden und Belohnungen ausbezahlt +worden waren. Die neuen Fährleute, Ak Käscha, Sadik, Tokta Ahun und +Atta Kellgen, sahen angenehm und verständig aus und waren mit ihrer +Ausrüstung und ihren Stangen bereit. Die englische Jolle manövrierte +ein Loplik, das mit unserem großen Kahne zusammengebundene Segelboot +nahm ein zweiter in seine Obhut, die kleine Lailiker Proviantfähre +und unsere übrigen, jetzt überflüssigen Kähne wurden den Bewohnern +von Jangi-köll geschenkt. Auf der großen Fähre war Ördek Kemi-baschi +(Schiffskommandant), und vor dem Schreibtische hatte der alte Aksakal +Pavan, der uns gern begleiten wollte, seinen Platz. + +Die Frauen der Gegend hatten sich in unseren verlassenen Hütten +versammelt, von wo aus sie uns zwischen dem Schilf hindurch begafften, +und als die Fähre von der Strömung erfaßt wurde und mit flotter Fahrt +flußabwärts trieb, begleitete uns am Ufer die männliche Bevölkerung, +die sich jedoch nach und nach verlor, um nach Hause zurückzukehren. + +Während der ganzen ersten Tagereise zog sich der Fluß unmittelbar +längs hohen Sandes hin. Wir lagerten auf dem Westufer, der Mündung des +Karunalik-köll gerade gegenüber. Das Programm der jetzt beginnenden +Reise bestand darin, vom untersten Laufe des Tarim und möglichst +vielen der an seinen Ufern liegenden Seen Karten aufzunehmen. Dies +sollte die dritte Marschlinie in dieser Gegend werden. Nur bei +Argan, Schirge-tschappgan und Abdall würde ich Punkte der beiden +vorhergehenden Expeditionen berühren. Beunruhigende Gerüchte waren +freilich in Jangi-köll in Umlauf gewesen. Man hatte gesagt, daß der +Fluß sich immer mehr in neue, östliche Betten hinüberziehe und daß +das Wasser kaum ausreiche, um die Fähre bis an das Ende des Flusses +zu tragen. Wir waren jedoch entschlossen, die Fähre nicht eher zu +verlassen, als bis jedes weitere Vordringen mit ihr wirklich unmöglich +sein würde. + +Am 20. Mai machte ich eine Fahrt nach dem See +Karunalik-köll+, +die in jeder Hinsicht glücklich ausfiel und von herrlichem Wetter +begünstigt wurde. Die Lotungen konnten daher kreuz und quer über +den See auf planmäßig ausgewählten Linien gemacht werden. Schon im +Einlaufskanal wurde eine interessante Beobachtung gemacht. Nicht +weniger als 2,3 Kubikmeter Wasser in der Sekunde strömten vom Flusse +in den See, der also um diese Zeit den Tarim um eine Wassermenge von +200000 Kubikmeter im Tage brandschatzte. So vielen Wassers bedarf es, +um den See auf gleiches Niveau mit dem Flusse zu bringen. Man bekommt +dadurch einen Begriff davon, wieviel Wasser selbst in einem so kleinen +See durch Verdunstung und Einsickern in den Sand verloren geht. + +Der See besteht aus zwei elliptischen Becken und gleicht an Gestalt +einer Acht, welches Relief sich bei diesen eigentümlichen Wüstenseen +wie auch bei den trockenen Bajirmulden oft wiederholt. Man findet +daher bei ihnen ständig dieselben Bezeichnungen wie „Bolta“, d. h. +Abschnürung oder schmale Passage zwischen den beiden Becken des +Sees, „Kakkmar“ oder Buchten an den Seiten von „Modschuk“, welcher +Name vorspringende Landspitzen oder Zungen bedeutet usw. Die größten +Depressionen liegen wie bei den Bajiren an den steil abfallenden Dünen +im Osten. Die meisten, wenn nicht alle Pappeln stehen auch am östlichen +Ufer, oft im ärgsten Sande, so daß man sich wundern muß, daß sie nicht +davon erstickt werden. Ihr Schicksal ist aber doch besiegelt, denn +die Dünenmasse wälzt sich unter dem Drucke der Oststürme unausgesetzt +westwärts. Tamarisken und Ölweiden kommen vereinzelt vor, und auf dem +Westufer steht viel Schilf, obgleich nur auf dem Trockenen. + +Die Höhe des nächsten dominierenden Dünenkammes wurde mit dem +Nivellierspiegel gemessen; sie belief sich auf 89,5 Meter. Dabei ist +jedoch zu bemerken, daß ich mit dem Spiegel die Höhe einiger anderen +naheliegenden Dünen auf 10 bis 15 Meter mehr schätzen konnte, so daß +diese Dünen auf dem rechten Ufer des Tarim also eine Höhe von zirka 100 +Meter erreichen (Abb. 103, 104). + +Nachdem wir abends mit der Fähre noch bis an den Einlauf des Ullug-köll +(großer See) gefahren waren, lagerten wir und bestimmten den folgenden +Tag zu einem Ausfluge dorthin. Gleich mehreren anderen Seen auf dem +rechten Tarimufer hat auch dieser in seinem südlichsten Teile zwei +durch eine gewaltige Sanddüne getrennte Buchten. + +Fische sind sehr reichlich vorhanden, aber regelmäßiger Fischfang +wird erst dann betrieben, wenn der Fluß so weit gefallen ist, daß der +See abgeschnürt wird und zusammenschrumpft. Dann sollen die Fische +fetter werden und wohlschmeckender sein. Sie werden auf andere Weise +gefangen als in den schilfreichen Seen, wo man in jedem Tschappgan +Netze auslegt. Hier fängt man sie mit einem Schleppnetze, das bis zu 80 +Meter lang ist und von zwei Kähnen in seichtem Wasser gerudert wird. +Man bildet erst einen Halbkreis, dann aber schwenkt das eine Boot in +diesen hinein wie in eine Spirale, während andere Ruderer die Fische +mit den Rudern in diesen Schneckengang hineinjagen, wo sie dann in +dem Schleppnetze hängenbleiben, mit diesem aufgenommen und mit einem +Knüttel totgeschlagen werden. + +An den Ufern ist das Tierleben durch Rehe und Wildschweine vertreten, +die sich dort jedoch nur sporadisch zeigen. Adler, Seeschwalben und +einige kleine Sumpfvögel waren die einzigen Vögel, die wir sahen. Enten +und Gänse würden hier vergeblich nach Nahrung suchen. + +Diese ganze Reihe von Seen, die am rechten Ufer des Tarim wie Blätter +an einem Zweige hängen, sind Schmarotzer, Auswüchse an dem Leibe des +Flusses; sie erhalten von ihm ihre Lebenskraft und würden sterben und +verschwinden, wenn der Fluß eine andere Richtung einschlüge. Im Herbst +sind sie zur Hälfte ausgetrocknet und müssen wieder gefüllt werden. Der +Fluß wird also jährlich ungeheuerer Wassermengen beraubt, die sonst +dem Kara-koschun zugute kommen und der Karte ein ganz anderes Aussehen +geben würden. Man kann sich daher denken, daß, als die Seenreihe noch +nicht vorhanden war, die Lopseen viel größer gewesen sein müssen +als jetzt, und ihre Zunahme ist eine der Ursachen des langsamen +Verschwindens der unteren äußersten Seen. + +Am 22. Mai sollte eine lange Fahrt flußabwärts gemacht werden, aber +schon gegen 11 Uhr jagte uns ein toller Südwest in eine Bucht hinein, +in der wir fast den ganzen Tag bleiben mußten. Erst um 6 Uhr konnten +wir weiterfahren. In den ziemlich gerade nach Osten laufenden Teilen +des Flusses ging es mit reißender Geschwindigkeit vorwärts, denn der +Wind half, und wir legten 1,52 Meter in der Sekunde zurück, was von +der Schnelligkeit, mit welcher die Kähne gewöhnlich gerudert werden, +nicht weit entfernt ist. Es war ein Genuß, die Ufer wieder vorbeieilen +zu sehen, und es ging so geschwind, daß ich mit dem Kompaß und der Uhr +aufpassen mußte, um nicht mit der Karte im Rückstand zu bleiben. Sirkin +war mir eine unschätzbare Hilfe; er führte Tiefenmessungen aus, maß +die Stromgeschwindigkeit und von Zeit zu Zeit auch die Geschwindigkeit +der Fähre. + +Das Leben an Bord war ebenso ruhig und friedlich wie im Herbst; alle +taten ihre Pflicht. Die Kosaken, die damals noch nicht bei mir gewesen +waren, fanden diese Fahrt höchst vergnüglich. Sie saßen plaudernd vor +ihrer Kajüte oder umkreisten zu Kahn die Fähre, gingen an Land, um in +den Buchten Wildenten zu schießen und belustigten sich nach beendeter +Tagereise mit Fischfang. Wir leben beinahe ausschließlich von Fischen +und Enten, doch konnten wir von den Hirten an den Ufern auch Schafe und +Milch bekommen. Schagdur war mein Koch und Kammerdiener. Ördek, der +Kapitän, kommandierte ein wenig geräuschvoll, versah aber sein Amt in +vortrefflicher Weise. An den Lagerplätzen schliefen die Muselmänner an +Land, die Kosaken und ich an Bord. Jeden Abend wurden die jungen Hunde +gebadet, zum großen Vergnügen der Zuschauer, aber zum Entsetzen für die +kleinen Sündenböcke selber. + +Am 23. Mai machten wir eine außergewöhnlich lange Fahrt. Gerade als +wir am Abend mit dem Messen des Flusses beschäftigt waren, erschienen +Nasar Bek, Kirgui Pavan und Temir Schang-ja in ihren Kähnen. Der letzte +wurde sogleich fortgewiesen, weil er ein ausgemachter Schuft war, der +durch seine dressierten Spießgesellen Chalmet Aksakal um eine Partie +Zeugstoffe und andere Waren hatte bestehlen lassen und der überdies die +Bevölkerung seines Distrikts gewohnheitsmäßig aussog. All sein Bitten +half ihm nichts; ich zeigte ihn beim Amban von Tscharchlik an, der ihm +seine Amtstracht und sein Amt entzog. + +In Verbindung hiermit möge man es nicht für vermessen halten, +wenn ich sage, daß so lange wir unseren Wohnplatz im Loplande +aufgeschlagen hatten, dort Ordnung und Ruhe herrschten; ich duldete +keine Ungerechtigkeiten gegen die arme, aber redliche Bevölkerung. +Es wurde auch eine Gewohnheit, daß die, denen ein Unrecht zugefügt +worden und die nicht die Kraft und die Mittel besaßen, sich ihr Recht +zu verschaffen, sich mit Bittschriften um Hilfe und Beistand an mich +wandten, und Tura-sallgan-ui ist daher seinerzeit auch der Sitz eines +„Landgerichts“ gewesen, das unserem Lager mit Übergehung von Dural, +Kara-schahr und Tscharchlik, wo chinesische Ambane regieren, den +Anstrich einer Metropole des Landes gab. Bei schwereren Fällen pflegte +ich an die Ambane zu schreiben und sie daran zu erinnern, daß es +ihnen schlimm gehen würde, wenn sie meinen Wünschen nicht nachkämen; +leichtere Rechtsstreitigkeiten aber konnten wir selbst schlichten. Die +Lopbevölkerung wird tatsächlich mehr von ihren Beken und Ambanen als +von Bremsen und Mücken gepeinigt. + +Wir bekamen jetzt recht viele Passagiere, unter anderen auch einen +Mann, der nach Kum-tschappgan wollte und es für bequem hielt, auf +diese Weise dorthin zu gelangen; er mußte aber als gewöhnlicher +Matrose gegen freie Station an Bord dienen. Ein Geschwader von neun +Kähnen war aufgeboten worden, um uns einen Weg über die Seen, die wir +heute zu passieren hatten, zu bahnen und uns durch ihre verwickelten +Schilflabyrinthe zu führen. Bei +Keppek-ui+ begann dieses Gewirr +von neugebildeten Seen, die voller Kamisch waren, in dem wir nur mit +Schwierigkeit vorwärtskamen. Alle überflüssigen Passagiere mußten in +die Kähne steigen, und alle Fischer und Ruderer, die das Geschwader +bemannten, begaben sich ins Wasser, zogen aus Leibeskräften und preßten +die Fähre zwischen den kompakten Schilfbeständen hindurch. Über die +Seen Kurban-dschajiri und Süssük-köll ging es dagegen gut, dank dem +nachschiebenden Winde und unseren Leuten, welche die Stangen mit Rudern +vertauschten und die Fähre über ziemlich offenes Wasser ruderten. + +Auf der anderen Seite mußten wir uns wieder durch einen Korridor +zwängen, wo das 4 Meter hohe Schilf einer dichten Hecke glich. Das +war ein Geschrei und Lärm in diesem Hohlwege, wo wir drauf und dran +waren, wie in einer Mausefalle steckenzubleiben, ohne vorwärts oder +rückwärts zu können; wir hatten allen Grund zu fürchten, daß dies der +unglückselige Punkt sei, an dem wir die Fähre zurücklassen mußten! + +Solange wir festsaßen, hatten wir es schön in dem kühlen Schatten. +Dagegen bildeten die durch die Luft schwärmenden Bremsen (Kökkön) +eine wirkliche Landplage. Unaufhörliches Brummen ertönt in den Ohren; +sie setzen sich klatschend auf das Kartenblatt, lassen sich in meiner +Kajüte häuslich nieder und stechen und quälen uns wie böse Geister. +Ich hätte mich freilich mit dem Moskitonetze schützen können, schämte +mich aber vor den Leuten, die nackt im Wasser gingen und sich gar +nicht beklagten. Bei Sonnenuntergang verschwinden diese scheußlichen +Insekten, aber nur, um Mücken und Moskitos Platz zu machen. In dieser +Jahreszeit hat man im Loplande weder Tag noch Nacht vor den Insekten +auch nur eine Stunde Ruhe. + +In den See Tuwadaku-köll war nicht leicht hineinzukommen. Die Passage +war gerade 1½ Meter zu schmal, dazu seicht und winkelig; aber +dies war der einzige Weg, der sich uns bot (Abb. 106). Etwa 20 Leute +arbeiteten ein paar Stunden mit Spaten an der Vertiefung des Kanals +und hieben das Schilf auf beiden Seiten fort; auf diese Weise drang +die Fähre Fuß für Fuß vor. Um die Arbeit zu erleichtern, steckten +wir nach und nach das Schilf in Brand, wodurch kolossale Feuersäulen +und Rauchwolken von dem See aufstiegen. Dieses Verfahren ist jedoch +manchmal recht unangenehm und konnte nur auf der Leeseite der Fähre +vorgenommen werden. Man begab sich sozusagen mit Hab und Gut auf einen +brennenden See hinaus; wäre uns das Feuer zu nahe gekommen, so hätte +der Oberbau der Fähre ebenso hell gebrannt wie das Schilf. + +Bei dem Dorfe +Jekkenlik+, das auf einer Insel inmitten des +gleichnamigen Sees liegt und von zwei Familien bewohnt wird, ließen wir +nach einem sehr anstrengenden Tage die Anker fallen. + +Die Exkursion, die wir am 25. Mai nach dem Beglik-köll unternahmen, +wurde eine ziemlich muntere Fahrt. Früh am Morgen war die Luft +außergewöhnlich frisch, obwohl das Minimumthermometer nicht unter +16 +Grad heruntergegangen war; es ist merkwürdig, wie schnell sich der +Körper an die verschiedenen Temperaturen gewöhnt; im Winter war es +uns bei -10 Grad oft warm vorgekommen. Die Atmosphäre war vollkommen +ruhig, und der Jekkenlik-köll lag spiegelblank, als wir nach dem Dorfe ++Kattik-arik+ hinüber ruderten. Dieses besteht aus zwei Sattmen +mit drei Familien, die uns freundlich begrüßten und uns halfen, die +Kähne über eine schmale Landenge nach dem alten, jedoch noch mit +stillstehendem, klarem Wasser gefüllten Bette des Jarkent-darja zu +schleppen. + +Der Abwechslung halber hatte ich Schagdur mitgenommen. Er war im +Ablesen der Tiefen und Geschwindigkeiten schon ebenso geschickt wie +Sirkin; nur eine Eigenschaft machte ihn für diese abenteuerlichen +Seefahrten ungeeignet, und diese bestand darin, daß er nicht schwimmen +konnte. + +Still und ruhig lag der Beglik-köll da, und man ahnte kaum, daß +dieser Wasserspiegel von den Mächten des Himmels zu schäumenden Wogen +aufgepeitscht werden könne. Es tat mir beinahe leid, die Spiegelbilder, +die sich naturgetreu wie Photographien auf der Wasserfläche zeigten, +zerstören zu müssen. Heißer denn je brannte die Sonne. Ich mußte meinen +weißen Anzug unaufhörlich mit Wasser bespritzen, um es einigermaßen +kühl zu haben. Der ganze Tag wurde diesem See gewidmet, und dennoch +kamen wir nicht mehr dazu, die Messungen auf ein paar Fjorden ganz zum +Abschlusse zu bringen. Einer von ihnen wurde von einem Dünenkamme aus +in die Karte eingetragen. Der Sand war glühend heiß, er brannte durch +die Schuhsohlen, und es war daher schön, eine Weile auf der Kahnreling +zu sitzen, mit den Füßen im Wasser zu plätschern und eine Pfeife +Virginia zu rauchen. + +Wir hatten dort noch nicht lange gesessen, als mein alter Freund Kirgui +Pavan, auch Kurban genannt, auf die hohen, steilen Dünen des uns gerade +gegenüberliegenden östlichen Ufers zeigte und mit fragendem Tone +„Kara-buran“ (schwarzer Sturm) sagte. Dort sah man eine dunkle, ein +wenig schräge Säule mit einem Kapitäl aus helleren Wolken am Horizont +aufsteigen. Ähnliche Säulen tauchten nach und nach in langen Reihen +auf beiden Seiten der ersten auf, Händen und Fingern vergleichbar; sie +zogen sich allmählich zu einer zusammenhängenden Wand mit gezähnten +Konturen zusammen, die immer höher wurde. Wir schwebten nicht länger +über das, was uns bevorstand, in Ungewißheit. + +Einen Augenblick überlegten wir die Situation. Die Lopleute stimmten +dafür, zu bleiben, wo wir waren; darauf konnte ich aber durchaus nicht +eingehen, nicht weil wir nicht genügend Proviant hatten und ich die +Nacht lieber in meiner bequemen Hütte zugebracht hätte, sondern einzig +und allein, weil die Chronometer zur bestimmten Zeit aufgezogen werden +mußten. Kirgui Pavan war gar nicht dafür, bei einem von Osten kommenden +Sturme am Westufer zu liegen. Er war außerordentlich vorsichtig und +klug, hatte aber nie Angst, und wenn Gefahr vorhanden war, verlor er +nie seine Kaltblütigkeit. Jetzt machte er seine Berechnungen und schlug +dann vor, wir sollten versuchen, die Mündung des schmalen Kanales zu +erreichen, der den Beglik-köll vom Flusse aus mit Wasser versieht und +der so lang ist, daß wir am Morgen zwei gute Stunden gebraucht hatten, +um ihn zurückzulegen. Doch von seiner Mündung trennte uns die größte +Partie des Sees mit einem breiten Fjord, der sich westwärts in den See +hineinzieht. + +Nach dem Ostufer hinüberzugehen, wo wir unter den Dünen Schutz gehabt +hätten, wäre das beste gewesen; aber obwohl der See noch so gut wie +ganz ruhig dalag, rieten doch alle davon ab, denn die Entfernung war +zu groß und es wäre uns nicht gelungen, noch hinüberzukommen. Es blieb +uns also nichts weiter übrig, als die Fjordmündung zu kreuzen und dann +am nördlichen Seeufer, wo wir zwischen kleinen Holmen und Inseln Schutz +finden würden, entlang zu rudern. + +Die Männer ruderten mit solcher Kraft, daß ich erwartete, die Ruder +zerspringen zu hören; diese standen so straff gespannt im Wasser wie +Pfeilbogen, als wir über das stille Wasser hinsausten, und der Schaum +spritzte büschelförmig vom Bug der Kähne auf (Abb. 105). Wir machten +fast 9 Kilometer in der Stunde. Die Leute waren fürchterlich ängstlich +und unausgesetzt riefen sie mit dumpfer, hohler Stimme: „ja Allah!“ +Noch war die Atmosphäre still, aber deutlich fühlte man, daß eine +fürchterliche Revolution bevorstand, und man sah, wie der Sturm an +Boden gewann. + +„Jetzt ist er schon auf den äußersten Dünen“, sagte Kirgui Pavan in +demselben Augenblick, als sich ihre Konturen auflösten und wie auf +einer Schiefertafel ausgelöscht wurden; im Nu verschwand die ganze +Dünenwand, der ganze Strand in dickem, gelbgrauem Nebel. „Rudert, +rudert, Kinder, es gibt einen Gott.“ fügte er, die Leute anfeuernd, +hinzu. „Chodaim var“ (es gibt einen Gott) war in allen kritischen +Fällen sein stehender, beruhigender Wahlspruch. + +Jetzt kamen die ersten Windstöße aus Ostnordost, dann hörte man das +Brausen, als der schwarze Sturm auf das Wasser niederschlug, welches +zischte und spritzte und in wenigen Minuten mit hohen, dunkeln, +rollenden Wogen in völligem Aufruhr war. Je näher der Sturm kam, desto +angestrengter wurde gerudert, und die Geschwindigkeit betrug jetzt bis +an das Nordufer sicherlich 10 Kilometer. „Wir kommen nicht mehr hin,“ +riefen sie, „ja Allah!“ + +Ich steckte die wenigen mitgenommenen Instrumente zu mir, zog mir +Schuhe und Strümpfe aus und war auf alles gefaßt. „Jetzt ist er hier!“ +schrien unsere Ruderer, die alle auf den Knien lagen, die Ruder fester +fassend, und die Ruderschläge folgten so dicht aufeinander, als würden +die Arme der Ruderer mit Dampf getrieben. + +Gerade als der Sturm uns erreichte und die leichten Boote umgerissen +hätte, wenn wir uns nicht rechtzeitig luvwärts gebeugt hätten, wurden +wir in dicken Nebel gehüllt, der aus lauter feinem Staube bestand. +Jetzt verhüllte er auch das westliche und nördliche Ufer, und recht +ernste Gefühle bemächtigten sich unserer, als wir nichts weiter +sahen als tobende Wellen, zwischen denen die Kähne wie Strohhalme +verschwanden. + +Kirgui Pavan aber und seine Ruderer kannten einen feinen Kniff, der +darin bestand, bei jeder heranstürmenden hohen Welle die Kähne ein +bißchen gegen den Wind zu kehren; auf diese Weise nahmen wir nicht so +sehr viel Wasser ein, obwohl wir alle von dem aufspritzenden Gischt +völlig durchnäßt wurden. + +Wir waren noch im letzten Augenblick vom Westufer aufgebrochen; ein +paar Minuten später und die Kähne wären untergegangen. Schön war es, +als wir endlich die am Nordufer stehenden Tamarisken wie dunkle Flecke +durch den Nebelschleier schimmern sahen, und bald darauf befanden +wir uns im Schutze eines vorzüglichen Wellenbrechers, einer langen, +schmalen Halbinsel. + +Sirkin und Nasar Bek hatten sich unsertwegen sehr beunruhigt, und +letzterer begab sich selbst mit zwei großen Kähnen von Jekkenlik +nach dem Beglik-köll, um uns Entsatz zu bringen. Wir trafen ihn +und seine Begleiter in der Nähe der Kanalmündung, und sie waren +freudig überrascht, uns wohlbehalten auf dem Rückwege zu sehen. Er +hatte Betten, warme Kleidungsstücke und Proviant mitgebracht, eine +vollständige Ausrüstung, die Sirkin für den Fall, daß wir am Abend +nicht zurückkehren könnten, zurechtgemacht hatte. + +[Illustration: 121. Aufbruch ins tibetische Hochgebirge. (S. 300.)] + +[Illustration: 122. Zwei gefangene Kulanfüllen. (S. 309.)] + +[Illustration: 123. Die Kulanfüllen von vorn gesehen. (S. 309.)] + +[Illustration: 124. Ein Parallelkamm des Arka-tag, von Lager Nr. 19 aus +gesehen. (S. 315.)] + +[Illustration: 125. Einige unserer Pferde im südlichen Quertale (3. +Aug. 1900). (S. 317.)] + +Bei solchem Wetter, in dem man nicht sieht, nach welcher Seite +man schwimmen muß, hätte ein Schiffbruch draußen auf offenem See +verhängnisvolle Folgen haben können. Alle, außer Schagdur, waren +allerdings gute Schwimmer; dagegen ist die Tragkraft der Kähne, wenn +sie erst mit Wasser gefüllt sind, gering; die Instrumente wären wohl +für immer verloren gewesen. + +Leicht war es nicht, die Fähre in dem so schilfreichen Jekkenliksee +zu finden. Es war pechfinster, als wir an dem See anlangten, und der +Sturm war jetzt auf dem Gipfel seiner Wut. Wir sahen absolut nichts, +fühlten aber um so mehr, wie die Schilfhecken vom Buran auf unsere +Kähne niedergeschlagen wurden und unser Gesicht peitschten. Ich mußte +die ganze Zeit über die Arme hoch halten und mit ihnen abwehren, um +nicht von den langen scharfen Blättern geschnitten zu werden. Rufen +und Warnen nützte gar nichts, das Sausen des Windes in dem Kamisch +ließ jeden anderen Laut ersterben. Wie die Ruderer den Weg fanden, +weiß ich nicht, aber schließlich wurde doch das von Sirkin angezündete +Feuer sichtbar. Wir befanden uns schon dicht vor dem Lager; obwohl die +Scheiter in dem intensiven Winde weiß glühten, hatten sie den Nebel +nicht weiter zu durchdringen vermocht. + +Dies war einer der unheimlichsten Stürme, die ich je erlebt habe, und +in dieser Nacht wurde nicht viel aus dem Schlafen. Das meteorologische +Observatorium wurde hereingenommen, in den Kajüten wirbelten alle +leichteren Sachen umher und mußten rechtzeitig fest verstaut werden, +und durch die Filzdecken kam ein Regen von Sand und Staub. Am +unruhigsten war ich des Feuers wegen, denn die Fähre war überall von +Schilf umgeben; daher wurden sowohl an Bord wie auf dem Land die ganze +Nacht hindurch Wachen ausgestellt. + + + + +Vierundzwanzigstes Kapitel. + +Die letzte Reise der Fähre. + + +Den ganzen folgenden Tag tobte der Sturm, und geduldig mußten wir in +Jekkenlik warten. Gegen Abend ließ er ein wenig nach, und ich machte in +dem neuen Boote eine herrliche Segelfahrt über die offenen Flächen des +Sees. + +Am 27. Mai, der windstilles warmes Wetter brachte, wurde der Rest +des Jekkenlik-köll bis an den Punkt zurückgelegt, wo sein Wasser in +Kaskaden in das Bett des Tarim hinunterströmt. Wir waren umgeben von +einer Flottille von 12 Booten mit 30 Mann Besatzung, die uns über die +Fälle hinweghelfen sollten. Es war ein eigentümliches Gefühl, als +die Fähre von Fallkamm zu Fallkamm sank; sie beugte sich mit ihrem +Vorderteile vornüber, um im nächsten Augenblick von der aufgeregten +Wassermasse in Empfang genommen zu werden. Es herrschte die größte +Spannung, und die Leute schrien, daß einem der Kopf schwindeln konnte; +aber es lief doch alles glücklich ab, und die Fähre glitt ruhig auf den +Tarim hinaus. + +Am folgenden Tage wurden alle unnötigen Gäste, mit dem alten Naser Bek +an der Spitze, verabschiedet, und in ihrer Einwohnerzahl dezimiert, +zog die Flottille langsam flußabwärts. Die Tage waren folgendermaßen +eingeteilt. Bei Sonnenaufgang wurde ich von Schagdur geweckt und +inspizierte dann das Lager mit einem „Guten Morgen, Kosaken“, was +mit militärischem Honneurmachen und „Starovie schelajim vasche +prevoschoditelstvo“ (wir wünschen Euer Exzellenz Gesundheit) erwidert +wurde; an die Muselmänner wurde der gewöhnliche Gruß „Salam aleikum“ +(Friede sei mit euch) gerichtet, der wie ein Echo von allen Lippen +zurückschallte. Das Frühstück bestand aus Fisch, Eiern, Tee und Brot. +Während des Tages stand das Teegeschirr in meiner Kajüte, und der +Samowar war bei den Kosaken stets angeheizt. Die Hauptmahlzeit wurde +gegen 8 Uhr abends eingenommen und bestand aus Reispudding, Fisch, +Kaffee und Milch. Die Arbeit wurde, solange es Tag war, ununterbrochen +fortgesetzt, und den Abend nahm das Eintragen der am Tage gemachten +Beobachtungen in Anspruch. + +Schagdur machte sich vortrefflich, und ich gewann diesen prächtigen +Kosaken, zu dem ich unbeschränktes Vertrauen hatte, immer lieber. Er +hatte schon ziemlich geläufig mit den Muselmännern sprechen gelernt +und nahm aus eigenem Antrieb bei Sirkin Unterricht in meteorologischer +Beobachtungskunst, sowie im Lesen und Schreiben in russischer Sprache, +worin er sich während dieser Fahrt so vervollkommnete, daß er mir +später bei mehreren Gelegenheiten, als wir getrennt waren, Briefe +schreiben konnte. Hätten die Kosaken einen weniger guten Charakter +gehabt, so wären sie vielleicht während der Reise verdorben worden, +denn sie hatten sehr viel Freiheit, solange sie in meinen Diensten +standen. Doch ihre Disziplin erschlaffte nicht um Haaresbreite, und nie +vergaßen sie die Achtung, die sie dem ihnen zugeteilten Vorgesetzten +schuldig waren. + +Der Beste unter den Muhammedanern war Kirgui Pavan, der siebzigjährige +Kameljäger aus Tikkenlik, ein durch und durch ehrlicher, anständiger +Mensch, angenehm und munter im Umgang. Er hielt sich tagelang vor dem +Schreibtisch im Vorderteile auf, wo er die Steuerbordstange führte, +während Aksakal aus Jangi-köll, ein großer, starker, weißbärtiger +Mann von 60 Jahren, die Backbordstange hatte. Es bereitete mir ein +Extravergnügen, der Unterhaltung dieser beiden Greise über die +Aussichten der Fahrt und die beständig größer werdenden Entfernungen, +die sie von ihrer Heimat im Nordwesten trennten, zuzuhören. Sie +zerbrachen sich den Kopf darüber, wie sie überhaupt wieder zurückkommen +sollten, und ich mußte sie wiederholt beruhigen und ihnen versprechen, +daß ich für ihre Rückkehr sorgen würde. Vorläufig war Kirgui Pavan das +Land noch bekannt, und es war ein großer Vorteil, ihn beim Beginnen +jedes neuen Kartenblattes nach der nächsten Hauptrichtung des Flusses +fragen zu können, denn sonst geschah es leicht, daß die angefangene +Zeichnung nach einer Weile über den Rand des Blattes hinausging. + +Ördek, der sich so vortrefflich gemacht hatte, meldete sich krank und +mußte zu Kahn nach seiner Heimat zurückgebracht werden. -- + +Wir hatten beim Einbrechen der Dunkelheit die Fähre vertäut, ich +hatte zu Mittag gegessen und war mit meinem Tagebuch beschäftigt, +als die Hunde zu bellen begannen und ein unbekannter Kahn im Dunkeln +heranruderte und anlegte. Ich glaubte, ein Loplik wolle uns besuchen, +doch es ertönten schnelle Schritte auf dem Seitengange der Fähre, +die Filzvorhänge meiner Kajüte wurden zurückgeschlagen, und die +wohlbekannten Züge des Dschigiten Musa zeigten sich. Er war in 33 Tagen +mit Post von Kaschgar geritten und war uns von dem Lager in Jangi-köll, +das er öde und leer gefunden, flußabwärts zu Boot gefolgt. Die Ankunft +der Dschigiten bildete stets die großen Festtage der Reise, an denen +die Verbindung mit der Heimat und der Außenwelt wieder angeknüpft +wurde. Nachdem Pakete von Briefen, Büchern und Zeitungen auf dem +Fußboden aufgereiht worden, wurde die Kajüte zugemacht, und ich legte +mich hin und las bis um 3 Uhr morgens. + +29. Mai. Mein alter Lotse Kirgui Pavan teilte mir wie gewöhnlich die +Namen der Gegenden und einzelnen Stellen mit und erzählte mir alles, +was er von dem Flusse aus früherer und aus jetziger Zeit wußte. An +einen Hügel bei einer einsamen Pappel namens Kamschuk-tüschken-tograk +(die Pappel, wo sich Kamschuken niederließen), knüpfte er eine dunkle +Geschichte von Menschen unbekannten Stammes, aber obenerwähnten +Namens, die vor mehreren Jahrzehnten von Korla gekommen und auf +einigen aus Pappelstämmen zusammengefügten Flößen den Kontsche-darja +hinuntergegangen waren. Es waren etwa fünfzig Familien mit Frauen und +Kindern, aber verhältnismäßig wenig alten Leuten gewesen. Sie reisten +langsam, rasteten hier und dort ein paar Tage, waren arm und tauschten +sich gegen Flinten und Pulver Lebensmittel ein. Kirgui Pavan hatte sie +in seiner Jugend selbst gesehen. Er erinnerte sich, daß sie geschickte +Schützen gewesen, die sich von Fischen und Wildschweinfleisch ernährt +haben. Ihr Führer hieß Jiwen (Iwan?) und hatte das Land vorher allein +besucht, um zu sehen, ob es sich zur Ansiedelung eignete. Beim +Schafschlachten hatten sie nicht ebenso verfahren wie die Muselmänner, +sondern das Schaf erst durch einen Keulenschlag vor die Stirn betäubt. +Ein älteres Mitglied ihrer Gesellschaft war von den Lopbewohnern +Jeghalaghak, der „Weinende“, genannt worden; seine Gattin war gestorben +und lag bei der obenerwähnten Pappel begraben. Auf Befehl Aschur Beks +von Turfan hatten sie nach dreijährigem Aufenthalt im Loplande, wo sie +bis Tscharchlik gekommen waren, auf demselben Wege wieder zurückkehren +müssen. Die Rückreise hatten sie zu Land angetreten und waren in einer +dunkeln Nacht von einem Buran überfallen worden. Hierbei verschwand ein +junges Mädchen, die Braut eines Mannes namens Eweranj. Dieser war vor +Gram beinahe wahnsinnig geworden und hatte seine Verlobte Tag und Nacht +gesucht; da sie sich aber offenbar im Sturme verirrt hatte, hatten sie +sie ihrem Schicksale überlassen und waren weitergezogen. Alle sprachen +fließend „Turki“ und sagten, daß sie Flüchtlinge seien. + +Diese unzusammenhängende, bruchstückhafte Erzählung war die einzige +Raskolnikenüberlieferung, die ich im Loplande hörte. -- + +Gegen Abend begann der Fluß wieder unruhig und launenhaft zu werden; +er teilte sich in mehrere Arme, unter denen wir unseren Weg mit großer +Vorsicht auswählen mußten, und ergoß sich schließlich in den neuen See ++Sattowaldi-köll+, wo wir auf einer kleinen Insel, dem einzigen +in Sehweite befindlichen festen Boden, lagerten. Hier waren die Mücken +noch lästiger als gewöhnlich, und ich hatte in meiner Kajüte ein +brennendes Becken mit Kamischhäcksel, um Ruhe vor ihnen zu haben. + +Die nächste Tagereise führte ununterbrochen über Seen und durch ein +Labyrinth von engen Kanälen, in denen wir nur mit Hilfe aufgebotener +Leute vordringen konnten. Wir lagerten jedoch abends wieder auf dem +alten Tarim, der hier 23,8 Kubikmeter in der Sekunde führte. + +Nachdem am 1. Juni der Dschigit Musa mit der neu gefüllten Posttasche +wieder zurückgeschickt worden war, setzten wir unseren Weg auf dem +Flusse fort. Der Tarim fing an, unangenehm gewunden zu sein, und der +Wind war uns hinderlich; bisweilen half nicht einmal das Arbeiten +mit Rudern und Stangen, und erst am Abend des 2. Juni erreichten wir ++Ajag-argan+, wo wir auf derselben Landzunge lagerten, wo unser +Zelt schon zweimal aufgeschlagen gewesen war. + +Hier blieben wir verschiedener Arbeiten wegen zwei Tage liegen. Die +Muselmänner beschäftigten sich mit gründlicher Reinigung der Fähre. Ich +maß die beiden Flüsse, die der Tarim bei Argan aus dem Tschiwillik-köll +erhält und die zusammen 36,5 Kubikmeter Wasser führten. Wir würden also +während der noch folgenden Tagereisen nicht über Wassermangel zu klagen +haben. Der vereinigte Fluß, der von hier an auch Baba Tarim (Flußgreis) +genannt wird, hatte jetzt 60,8 Kubikmeter in der Sekunde. + +Die Strecke am 5. Juni war voller Biegungen und Windungen und führte +durch ziemlich üppigen Wald, der jetzt in seiner größten Sommerpracht +stand. Das Wasser des Flusses hatte 23,5 Grad. Sirkin pflegte oft von +der Fähre hineinzuspringen und eine kleine Schwimmtour um sie herum +zu machen. Ich selbst badete nur um Mitternacht und 7 Uhr morgens, +hatte aber den ganzen Tag über einen großen Zuber mit Wasser in meiner +Kajüte, um mich zwischen den Kompaßpeilungen erfrischen zu können. +Jeden Abend legten die Kosaken ihre Netze aus, und wir konnten uns also +selbst mit Fischen versorgen. Eines Morgens betrug der Fang zwanzig +Stück, die so groß waren, daß ein Fisch gut für einen hungrigen Mann +ausreichte. + +Flußabwärts nehmen Bremsen, Mücken und Moskitos in beängstigendem Grade +zu, und wo sie sich zusammentun, hat man keine sonderliche Freude am +Dasein. Sie sind außerordentlich gesellschaftlich und übertreffen +einander an Aufmerksamkeit. Doch gegen sie zu kämpfen, ist ganz +vergeblich; man zieht dabei in jedem Falle den kürzeren. Die Stiche +der Bremsen brennen wie Feuer, und jeden Abend liegen Hunderte dieser +Insekten tot um den Schreibtisch herum, so daß täglich ausgefegt +werden muß. Die Hunde führen einen verzweifelten Krieg mit ihnen und +haben nur nachts Ruhe. Die Hütten, die wir gelegentlich passieren, +sind unbewohnt, und Hirten fehlen, weil ihre Herden von den Bremsen +vernichtet werden würden. Die Kaufleute, die in dieser Jahreszeit +zwischen Tscharchlik und Korla reisen, reiten nur nachts und schützen +ihre Tiere in Kamischhütten. + +Wir rasteten bei +Küjüsch+, um dort unser Abendbrot zu essen und +den Fluß zu messen, aber um 10 Uhr brachen wir wieder auf und hatten +noch ein paar Stunden Nutzen vom Monde. Nachdem dieser untergegangen +war, umgab uns tiefes Dunkel. Vor uns war nur die uns führende +chinesische Papierlaterne zu sehen, die, an ihrer Stange schaukelnd, +wie ein Elmsfeuer über das Wasser hinhuschte. Die Nacht war absolut +ruhig und windstill; kein Laut war zu hören, kein Hauch zu spüren. +Die Bremsen schlummerten längst zwischen Gras und Schilf, bisweilen +plätscherte ein Fisch im Wasser, oder man hörte das leise Rauschen um +einen steckengebliebenen Stamm. + +Auf der Kommandobrücke saßen die Kosaken, rauchten ihre Pfeifchen und +amüsierten die Gesellschaft mit der Spieldose, wodurch sie auch die +Leute wachhielten, was jedoch infolge der Furcht derselben vor dem +Anprallen gegen überhängende Pappeln und dem Aufgrundgeraten eigentlich +überflüssig war. Sirkin hatte eine gewaltige Ölfackel angezündet, um +die Ufer zu beleuchten, und er und Schagdur berichteten mir ständig +von dem Aussehen der Ufer, z. B. „rechts dichter Wald am Ufer, links +Kamischfelder, Gesträuch und junger Wald“ usw. Die Kompaßrichtungen +wurden nach der Laterne gepeilt. + +So gleiten wir denn, von stiller Nacht umgeben, diesen endlosen Fluß +hinab. Alle freuen sich nach einem glühend heißen Tage der erquickenden +Kühle und können jetzt ihre sommerlich dünnen Kleidungsstücke +öffnen, ohne juckende Stiche befürchten zu müssen. Ich begleite am +Schreibtische mit der Flöte die wohlbekannten Melodien der Spieldose, +die Kosaken qualmen ihre Schifferpfeifen, Kirgui ruft dann und wann +sein: „Chabardar“ (gebt acht), wenn er besondere Wachsamkeit für +nötig hält, und Stunde auf Stunde gleiten wir den gewaltigen Fluß +hinab, seinem Grabe in der Wüste entgegen. Das Stundenglas ist bald +abgelaufen; es sind die letzten Pulsschläge, denen wir folgen, und mit +einem Gefühle des Bedauerns sehe ich eine Flußbiegung nach der anderen +hinter uns verschwinden. + +Wenn dann die Musik den Reiz der Neuheit eingebüßt hat, stellen sich +Müdigkeit und Schlaflust ein. Die Spieldose verstummt, die Fackel darf +erlöschen, Sirkin pufft Aksakal, dessen geneigter Kopf bedenklich +hin und her schwankt, wird aber selbst eine Weile darauf überrascht, +wie er, den Rücken an die Reling gelehnt und den Kopf über den Rand +hinaushängend, mit weitgeöffnetem Munde eine Serenade zu Ehren des +Sandmannes anstimmt. Hinterlistig gerät seine Mütze ins Gleiten und +fällt ins Wasser, er fährt auf und ist eine Weile munter wie ein Fisch. + +Um 2 Uhr nachts erbarmte ich mich meiner müden Diener, die nicht von +denselben Interessen wachgehalten werden konnten wie ich. Wir vertäuten +die Fähre am Ufer, und nach fünf Minuten herrschte an Bord lautlose +Stille. + +Wir hatten jedoch nicht lange geruht, als ein neuer Buran heransauste +und meine Filzdecken losriß; er tobte den ganzen Tag und machte uns +das Aufbrechen unmöglich. Erst um 10 Uhr abends nahm er ab und gönnte +uns Zeit zu einer dreistündigen Fahrt. Aber am 8. und 9. Juni hielt +uns der wütende Sturm wieder fest. Kleine Flugsanddünen lagerten sich +überall in der Kajüte ab; man braucht beim Schreiben kein Löschpapier; +ich selbst bin wie mit Puder überschüttet, in der Teetasse kann man, +wenn man sie zuzudecken vergißt, alluviale Gebilde und sedimentären +Schlamm studieren, und Schagdurs Frühstückskotelette sind mehr sandig +als gesalzen. + +Ganz passend, um mir während dieses gezwungenen Wartens Beschäftigung +zu geben, langte noch ein Dschigit an, und ich dachte mir gleich, daß +er mir wichtige Nachrichten bringen würde, denn er war ein Extrakurier, +dessen Absendung nicht vereinbart worden war. Konsul Petrowskij teilte +mir denn auch mit, er habe vom Generalgouverneur von Turkestan ein +Telegramm bekommen, daß die beiden Kosaken Sirkin und Tschernoff unter +den jetzigen unruhigen Verhältnissen an mehreren Grenzen Asiens nicht +länger zu entbehren seien, sondern nach Kaschgar zurückgeschickt werden +müßten. + +Diese Nachricht traf mich sowohl wie Sirkin, der uns danach in einigen +Tagen verlassen mußte, wie ein Donnerschlag. Wir sprachen lange +darüber und mutmaßten, daß an der sibirischen Grenze ernste Unruhen +ausgebrochen seien; von den wahren Verhältnissen, dem Kriege in China, +hatten wir ja keine Ahnung. Zunächst schickte ich sofort einen Eilboten +mit einem Briefe an Tschernoff, daß er sich unverzüglich nach Abdall +zu begeben habe. Sirkin mußte ja seinen Kameraden erwarten, einzeln +konnte ich sie nicht reisen lassen. Als ich nun vor dieser gezwungenen +Trennung stand, freute ich mich, daß ich in einem von Jangi-köll an +den russischen Kaiser abgegangenen Briefe ausführlich von diesen +beiden Kosaken und den unschätzbaren Diensten, die sie mir geleistet, +gesprochen hatte. + +Am Abend des 9. waren wir sehr in Unruhe um Schagdur, der gegen 5 Uhr +auf die Jagd gegangen war. Als er um die Abendbrotzeit, um 9 Uhr, noch +nicht da war, zündeten wir an verschiedenen Punkten des Ufers sechs +Feuer an, die malerisch und unheimlich leuchteten und den feinen Staub, +der noch immer die Luft erfüllte, rot färbten. Doch er kam nicht, und +es war klar, daß er sich verirrt hatte. Ich schickte nun alle Mann mit +Öl- und Kienfackeln nach verschiedenen Seiten aus. Ich hörte ihre Rufe +in der Ferne verhallen und dachte an die Gefahren, die einen einzelnen +Fremdling unter Flugsanddünen, Tigern und Wildschweinen umlauern +können. Es wäre schlimm gewesen, drei von den vier Kosaken auf einmal +zu verlieren. + +Die Kundschafter kehrten einer nach dem anderen unverrichteter Dinge +zurück. Um Mitternacht kam Schagdur selbst und berichtete, daß er ein +Reh verwundet habe, das nach Westen in den Sand hinein geflohen sei. +Er habe seine Beute stundenlang verfolgt, und als er beim Eintreten +der Dunkelheit umgekehrt sei, habe er seine Spur verloren, sei aber +gerade nach Osten gegangen. Dann sei er längs des Flusses am Ufer +weitermarschiert, bis er endlich eines der Feuer erblickt habe. + +Am 10. konnten wir weiterfahren. +Tuga-ölldi+ (das Kamel starb) +ist eine Gegend auf dem linken Ufer. Mongolen, die zu Jakub Beks Zeit +nach Lhasa pilgerten, pflegten aus Furcht vor Jakub Beks Leuten auf +dem linken Ufer hinzuziehen. Auf einer solchen Reise war eines ihrer +Kamele an diesem Punkte gestorben. Ein längst vergessenes, unwichtiges +Ereignis bleibt so durch den Namen der Nachwelt erhalten. Jetzt +benutzen die Mongolen stets die große Karawanenstraße, die am rechten +Ufer entlang geht. + +Bei Schirge-tschappgan hielten wir abends an, um den Fluß an demselben +Punkte wie am 18. April zu messen; die Wassermasse betrug 68,3 +Kubikmeter; der Fluß fällt also in dieser Jahreszeit sehr bedeutend. +Nachdem der letzte Dschigit von hier nach Kaschgar zurückgeschickt +worden war, fuhren wir nachts weiter und hatten mehrere Kähne vor uns, +welche die Ufer mit Fackeln erhellten. Es war ein seltsamer Fackelzug, +der in stiller Nacht den Tarim hinabzog, während die Kahnleute ihre +eintönigen, schwermütigen Liebeslieder sangen. + +Von der Strecke von Schirge-tschappgan bis +Tscheggelik-ui+ hatte +ich 1896 eine Karte aufgenommen, und als wir am 11. Juni +Ak-köll+ +passierten, sah ich, daß die früher hier befindliche große Flußbiegung +verlassen worden war und der Fluß sich quer durch die Landzunge +gearbeitet hatte. + +[Illustration: 126. Aussicht vom Passe nach Ost zu Nord (3. Aug. 1900). +(S. 317.)] + +[Illustration: 127. Aussicht vom Passe nach Norden (3. Aug. 1900). (S. +317.)] + +Im Laufe des Tages hörte der Wald auf, und das Land war nach allen +Seiten hin offen und flach. Die Luft war still, aber noch herrschte +nach all den Stürmen Halbdunkel. Einige Kähne begegneten uns; in dem +ersten saß Temir Bek von Tscheggelik-ui. Er wurde an Bord eingeladen +und teilte mir unter anderem mit, daß es unmöglich sei, mit der Fähre +jenseits seines Dorfes weiterzukommen, denn der Semillaku-köll sei ganz +mit Schilf zugewachsen. Obgleich ich mich nach der frischen Gebirgsluft +und meine Ruderer sich nach Hause sehnten, dachten wir doch mit einer +gewissen Wehmut daran, daß dies die letzte Fahrt unserer alten Fähre +war. In später Nacht vertäuten wir unser Fahrzeug zum letztenmal am +linken Tarimufer, +Tscheggelik-ui+ gerade gegenüber. + +Schon am folgenden Morgen schickte ich Kirgui Pavan auf Rekognoszierung +nach den Seen. Er kam mit der Nachricht zurück, daß die Fahrstraße für +die große Fähre unpassierbar sei. Um seine Ansicht zu bekräftigen, +brachte er ein Bündel Kamischstengel mit, deren Länge die Tiefe des +Wassers in den seichtesten Stellen angab. Er glaubte jedoch, daß wir +mit 25 Mann in 4 Tagen einen fahrbaren Kanal herstellen könnten. Dieser +Vorschlag wurde nicht angenommen, weil es bis Abdall nur noch drei +Tagereisen waren. Ich beschloß daher, einige Tage in Tscheggelik-ui zu +bleiben, weil ich der Dunkelkammer noch einmal zum Entwickeln bedurfte +und ein paar neue Fahrzeuge hergerichtet werden sollten. + +So brachten wir denn in diesem friedlichen Fischerdorfe eine +behagliche Ruhewoche zu (Abb. 107). Wir lagen am westlichen Ufer und +hatten Aussicht auf das Dorf mit seinen Kamischhütten, auf seine +offenen Ställe (Abb. 108), wo Rinder, Pferde und Esel von Millionen +Bremsen gepeinigt wurden, und den Strand, wo kleine nackte Kinder +umherliefen und zwischen den Kähnen spielten. Der Hintergrund dieses +lebhaften Bildes war ein ~memento mori~, der Begräbnisplatz des +Fischerdorfes mit seinen Stangen und Wimpeln, die über den Wohnungen +der Toten im Winde flatterten. + +Jede Nacht arbeitete ich bis 4 Uhr in der Dunkelkammer; Sirkin war +dabei mein Gehilfe, er holte reines Wasser und trocknete die Kopien. +Das Wetter war eigentümlich, denn es stürmte beinahe ununterbrochen +aus Nordosten. Wer sich einen ganzen Frühling und Vorsommer inmitten +dieser ewigen Burane aufgehalten und ihre Gewalttätigkeit und Kraft, +ihre umgestaltende Arbeit kennen gelernt hat, wundert sich nicht mehr +darüber, daß die Verteilung der Wüsten, Seen und Flüsse in diesem Lande +eine ständige Veränderung erleiden muß. Die Arbeit wurde von dem Heulen +des Sturmes begleitet; beim Plätschern der Wellen und dem klagenden +Sausen des Windes im Schilf legte man sich zum Schlafen nieder, und +wenn man erwachte, hatte man wieder dasselbe wohlbekannte Pfeifen, +dieselbe staubgesättigte Atmosphäre um sich herum. Einen Vorteil hatte +dieses Wetter aber doch: es verscheuchte Bremsen und Moskitos und +kühlte die Luft angenehm ab. Bisher hatten wir nur zweimal über +40 +Grad im Schatten gehabt, jetzt zeigte das Thermometer selten über 25 +Grad, nachts sogar nur +9,3 Grad und 11 Grad. + +Die Kosaken machten kleine Ausflüge, um zu jagen und Fische zu fangen, +beschäftigten sich im übrigen aber mit der Herstellung unserer neuen +Fähren, die aus je drei langen Kähnen bestanden. Meine Pontonfähre +wurde etwas ganz Außergewöhnliches (Abb. 110). Ein Bretterfußboden +wurde quer über die Kähne gelegt und darauf ein prismatisches Gitter +von Latten gestellt, das mit Filzdecken überzogen einem Zelte glich. +Als ich am 18. Juni zum letztenmal auf der großen Fähre zu Mittag +gespeist hatte, traf diese das Gesetz der Veränderung; die Kajüten +wurden abgerissen, alle Nägel verwahrt und die mit Sand und Staub +bedeckten Filzdecken ausgeklopft; meine Kisten wurden in die neue +schwimmende Wohnung gebracht, die 26 Mann trug, also für mich, meine +vier Ruderer und das Gepäck mehr als ausreichend war (Abb. 109). Ein +Teil des Proviants wurde unter den Bretterfußboden in die Kähne gelegt, +den Rest beförderten einzelne Kähne, die uns begleiten sollten. Wir +hatten freilich weniger Platz als bisher, aber das neue Zimmer war doch +außerordentlich gemütlich. Die Kosaken wohnten ebenso auf der zweiten +Pontonfähre. + +Kirgui Pavan, Aksakal und unsere alten Ruderer erhielten ihre +Entlassung. Eines Abends gaben wir ihnen zu Ehren ein prächtiges +Gastmahl; mehrere Schafe wurden geschlachtet, und die Reispuddinge +dampften auf gewaltigen Holzschüsseln. Sie bekamen ihren Lohn in bar, +ein paar Kähne und Proviant für die ganze Heimreise und bedankten sich +dafür nach der Sitte des Landes mit Gebeten für mein Wohlergehen. Als +ich am folgenden Morgen bei Sonnenaufgang aus der Laboratoriumhütte +trat, standen sie alle in Reih und Glied und sprachen ihr Morgengebet. +Bevor ich mich schlafen legte, sah ich sie noch ihre Boote bemannen und +nach einem letzten Lebewohl die Heimreise antreten. + +Beim Zurücklassen der Fähre war mir zumute, als sollte ich einen +sicheren Haltepunkt verlieren und ein altes Heim verlassen. Sie +hatte uns unter wechselndem Geschick treu den Fluß hinabgetragen und +ihren Zweck auf vortreffliche Weise erfüllt. Sie wurde jetzt der +Bevölkerung von Tscheggelik-ui geschenkt, die über das vorzügliche +Beförderungsmittel -- besonders für Viehtransporte über den Fluß +und das Hinüberschaffen von Gütern und Karawanen -- ganz entzückt +war. Später hörten wir, daß der Amban befohlen habe, sie nach Argan +zu schaffen, wo die Karawanenstraße den Tarim überschreitet und wo +bisher nur eine sehr mangelhafte Fähre zur Verfügung stand. Kommt ein +europäischer Reisender dorthin, so wird er sie gleich wiedererkennen, +sei es auch nur an der Etikette. Schagdur hieb nämlich in ihre Seiten +meinen Namen in großen lateinischen Buchstaben und die Jahreszahlen +1899-1900 ein. + +Erst am 19. Juni gegen Mittag verließ unsere neue Flottille mit vielen +neuen Ruderern und Beken Tscheggelik-ui. Ohne weitere Schwierigkeit +ruderten wir mit prächtiger Fahrt über die Seen und durch ihre schmalen +Durchgänge, in denen das Vordringen mit der großen Fähre unmöglich +gewesen wäre. Nachdem wir bei dem Dorfe +Tokkus-attam+ gelagert +hatten, gingen wir am folgenden Tag über den Semillaku-köll, dessen +Tiefe nirgends 1 Meter überstieg. Der See Kara-buran war noch mehr +gefallen und würde, wie man mir sagte, in zwei Monaten vollständig +austrocknen; Anfang Oktober füllt ihn die Herbstflut wieder. An +der Mündung des Tschertschen-darja wurde der Messungen wegen eine +Weile gerastet. Obwohl das Flußbett scharf ausgeprägt, tief und mit +Wasser gefüllt war, betrug sein Tribut an die Kara-koschun-Seen nur 4 +Kubikmeter in der Sekunde. + +Die letzte Tagereise auf dem Tarim war kurz und wurde zum +Versöhnungsfest mit dem Winde, der uns vorher so oft Abbruch getan +hatte. Jetzt wehte es gerade von Osten mit 11 Meter in der Sekunde +und kühlte frisch und herrlich ab; die Ruderer brauchten tüchtig ihre +Arme und fanden gute Hilfe an der Strömung (Abb. 112). Die Bremsen, +die sich bei solchem Wetter hinausgewagt hatten, ließen sich in +meinem Zelte nieder. Es wäre für beide Teile besser gewesen, wenn wir +Waffenstillstand geschlossen hätten; hätten sie mich mit ihren Stichen +verschont, so würde ich sie nicht totgeschlagen haben. + +In Abdall trafen wir unsere alten Freunde Numet Bek und Tokta Ahun +(Abb. 113). Letzterer hatte die Pferdekarawane und die Kamele bis an +den Tschimen-tag begleitet und konnte mir mitteilen, daß in dem neuen +Hauptquartier alles gut stehe. Die von uns im Frühling zurückgelassenen +Kamele und mein kleiner Grauschimmel waren, fett und ausgeruht, mit ins +Gebirge genommen worden. Der Kurier mit dem Briefe hatte schon lange +sein Ziel erreicht, und in einigen Tagen mußten Tschernoff und die +Karawane, die mich ins Gebirge führen sollte, hier sein. + +Während des Aufenthalts in Abdall (Abb. 111) hatten wir anfangs gutes +Wetter, d. h. Wind, der bis auf 16 Meter in der Sekunde anschwoll. +Ich blieb daher an Bord der Pontonfähre wohnen, die ich beinahe nie +verließ; es war der reine Stubenarrest. Ich saß die ganzen Tage +am Schreibtisch und machte eine gewaltige Post fertig, welche die +Kosaken nebst fertigen Platten mitnehmen sollten. Draußen heulte +der Wind im Schilfe, der Bretterfußboden knackte von der Dünung und +rieb sich an den Kähnen, und der Wellenschlag plätscherte gemütlich +um die letzteren. Während der Windpausen machte ich astronomische +Beobachtungen. Groß war mein Erstaunen, als ich, hiermit beschäftigt, +eines Morgens einen Reiter nach den Hütten von Abdall sprengen sah und +bald meinen prächtigen Tschernoff erkannte, der nach Empfang meines +Briefes sofort in unglaublich kurzer Zeit aus dem Gebirge hierher +geritten war. In den letzten 35 Stunden hatte er überhaupt nicht +geschlafen, war aber geradeso munter und aufgeweckt wie gewöhnlich. +Als ich ihn nachher zu einer längeren Segeltour einlud, berichtete er +mir von dem neuen Hauptquartier, das für den Rest des Jahres meine +Operationsbasis werden sollte. Es schmerzte ihn tief, uns gerade jetzt, +da ein neues Kapitel dieser Reise begann, verlassen zu müssen. + +Ein paar Tage darauf langten Turdu Bai und Mollah Schah mit vier +Kamelen und zehn Pferden bei uns an. Obgleich sie, seitdem sie das +Gebirge verlassen hatten, nur nachts marschiert waren, waren doch +die Hälse und Beine der Kamele von den Bremsen blutig gestochen; die +anderen Körperteile waren durch Filzdecken geschützt gewesen. + +Jetzt trat ein unangenehmer Umschlag im Wetter ein. Der Wind hörte +auf, und es folgte drückende Hitze. Wir mußten die Kamele mit größter +Vorsicht und Sorgfalt schützen, denn die Luft wimmelte buchstäblich von +Bremsen. Ich ließ daher ihretwegen eine Sattma ausräumen, die Wände +derselben gut dichtmachen und stets ein paar Leute bei ihnen aufpassen, +die nichts weiter zu tun hatten, als die Bremsen totzuschlagen, die +sich dort einschlichen, um die armen Tiere zu stechen. Nachts durften +sie auf die Weide gehen. Eines Morgens wurden sie vermißt, und Turdu +Bai, der seine Schutzbefohlenen kannte, ahnte sofort, daß sie von +diesem scheußlichen Orte durchgebrannt seien. Sie hatten sich, ihrer +eigenen Spur folgend, auf den Weg nach dem Gebirge gemacht, wo, wie +sie wußten, ihre Kameraden sie erwarteten und sie sich nicht von der +Hitze und schmerzhaften Insektenstichen plagen zu lassen brauchten; +sie wurden aber rechtzeitig wieder eingefangen und mußten sich in ihr +Schicksal finden. Jeden Abend wurden sie im Flusse gebadet, was ihnen +sehr gefiel. + +Im Filzzelte auf der Pontonfähre war es bei dieser Hitze unerträglich. +Draußen ertönte unausgesetzt ein summendes Brausen, und als ich den +Filzvorhang zurückschlug, füllte sich das Zelt mit Bremsen. Ich nahm +meine Dusche und kleidete mich schleunigst an; darauf wurde die Fähre +nach dem rechten Ufer hinübergerudert, und ich eilte wie durch einen +Kugelregen nach Tokta Ahuns Hütte. Dort war es schön; es war mindestens +6 Grad weniger heiß als im Zelt, und die Sonnenglut vermochte die +dicken Kamischgarben des Daches nicht zu durchdringen. Die Hunde +hielten den Umzug für eine brillante Idee; sie siedelten sich in je +einer Ecke an und schlugen dadurch den Bremsen, die ihnen nicht folgen +konnten, ein Schnippchen. + +Inzwischen vergingen die Tage, und es wurde Zeit zum Aufbruch. Ich +mochte gar nicht an die Trennung von Sirkin und Tschernoff denken; +ohne sie würde es so leer und öde sein. Wir warteten nur auf den +nächsten Sturm, der uns von den Bremsen befreien würde, denn bei dem +jetzt herrschenden Wetter wurden wir von diesen unangenehmen Tieren +buchstäblich belagert. Doch der Sturm kam nicht, und die Tage gingen +hin. Wir versuchten freilich einmal, auf jeden Fall aufzubrechen, aber +daraus wurde nichts; die Kamele warfen sich in Verzweiflung auf die +Erde und wälzten sich die Lasten ab. Ich wollte der Kartenarbeit wegen +nicht in der Nacht reisen; so warteten wir denn wieder, und ich schob +den Augenblick der Trennung von Tag zu Tag hinaus. + + + + +Fünfundzwanzigstes Kapitel. + +Poesie im innersten Asien. + + +Solange wir still lagen, ging es uns nicht schlecht. Wir hatten alles, +dessen wir bedurften, und die Bewohner von Abdall (Abb. 115) wußten gar +nicht, was sie uns alles zuliebe tun sollten. Beschäftigung hatten wir +auch vollauf; die Kosaken jagten Wildenten und machten Bootfahrten, wir +maßen zum letztenmal den alten Tarim und fanden 43,7 Kubikmeter Wasser +in der Sekunde. In zweieinhalb Monaten war der Fluß auf weniger als die +Hälfte zusammengeschrumpft und er sollte im Sommer noch mehr abnehmen. + +Während dieser Tage zeichnete ich zu meinem Vergnügen einige alte +wohlbekannte Lieder auf, die seit über hundert Jahren von den Söhnen +und Töchtern des Loplandes gesungen worden waren. Auch einige neue +Lieder, welche die Fischer am Kara-koschun singen, schrieb ich nieder. +Alle diese Lieder sind einfach und ungekünstelt und zeugen von +beschränkter Phantasie und naiver Lebensanschauung. Aber sie beweisen +doch, daß auch diesem kleinen Fischervolke, das seine Tage im Herzen +von Asien abseits von den großen Karawanenstraßen und isoliert von +anderen Stämmen einförmig verlebt, Poesie nicht fremd ist und daß die +Liebe, bald süß, bald bitter, wie überall bei den Menschenkindern, auch +bei ihnen herrscht. Durch diese Lieder erhält man auch einen Begriff +von den Grenzen der Welt, in der sich ihre Gedanken und ihr Wissen +bewegen. Doch sie verlieren durch Übersetzung und machen sich in ihrer +ursprünglichen Form, in der Turkisprache mit holperig gereimten Versen +nach einer eintönigen Melodie zu den Akkorden einer Dutar gesungen, +viel besser. Die Wehmut, die sich wie ein roter Faden durch die Worte +und die Musik zieht, paßt gut für den, der einsam ist, und läßt seine +Hoffnungen schärfer hervortreten. Hier einige Proben dieser einfachen +Dichtkunst. + +Es folgt ein Lied, das Dschahan Bek, der Vater des alten Kun-tschekkan +Bek, gesungen hat, das also gegen hundert Jahre alt ist; es spricht +sich darin ein Weib aus, dessen Liebe verschmäht worden ist: + +Die Geister haben dich schöner geschaffen als alle anderen Männer. +Als du in deine Heimat zurückkehrtest, wäre ich dir nachgeflogen +wie eine Gans, wenn ich Flügel gehabt hätte, und ich habe geschrien +wie eine Wildgans. Du wußtest nicht, daß ich dich ein ganzes Jahr +erwartet und auf deine Rückkehr wartend keinen anderen Mann geliebt +habe. Ich erwarte dich seit lange und bitte alle, die zu dir reisen, +dich, du meine andere Hälfte, zehnmal zu grüßen. Du nimmst alle auf, +die vorbeiziehen und zu dir kommen, und du spielst und singst, aber +wenn du spielst und singst, darf ich nicht mit dabei sein. Deine Füße +scheinen gebunden zu sein, sonst kämst du her. Dein Name ist über ganz +Alti-schahr bekannt. Mach’ es wie Juldus Wang, sei faul und laß andere +für dich arbeiten. Wenn du mich nicht haben willst, komme ich doch und +werde, so gut ich es kann, deine Magd. Alle Frauen raten mir, zu dir zu +gehen; ein ganzes Jahr lang habe ich deinetwegen nicht lächeln können, +denn du hast die Unwahrheit gesprochen; ich habe keine Freude von dir +gehabt, meine Augen sind übergeströmt wie ein Fluß. Gott hat nicht +befohlen, daß wir vereinigt werden sollen. Deine Wimpern und Brauen +sind das Schönste, was es gibt. + +Aus derselben Zeit stammt das mit Bitterkeit gemischte, sehnsuchtsvolle +Lied eines Liebenden, dem seine Angebetete einen Korb gegeben hat: + +Seitdem du dich zu Pferde fortbegeben, gehe ich hier umher und sehne +mich nach deinen schwarzen Augenbrauen. Wenn ich Gelegenheit finde, +reise ich dir im Laufe dieses Monats nach, um zu singen, zu spielen und +zu trommeln. Du bist noch jung, und deine Eltern haben dich einem guten +Manne gegeben. Du bist wilder als der Teufel, Jungfrau Sahib, du bist +hartherzig; du verstehst meine Worte nicht, du wilder Teufel! Du bist +wie das Wetter, bald trübe, bald sonnig. Deine Eltern hielten viel von +dir und mußten dich fein und weich kleiden. Laß mich wissen, wann deine +Hochzeit sein soll, damit ich komme und sie mitmache. Deine Mutter war +besser als Imam Pattma und rein wie Nephrit. Imam Pattma liebt dich; +als wir alle jung waren, spielten wir miteinander und waren Freunde. Du +schwankst hin und her wie die Nackenfeder des Okkarvogels, und dein Ruf +ist wie auf Flügeln bis Tschimen geflogen. Wenn wir uns im Herbst nach +dem Tarim begeben, werden sich unsere Augen begegnen. Du bist jetzt +vater- und mutterlos, aber alle werden dir mehr geben, als Vater und +Mutter gekonnt hätten. Wenn du dein Gewand angelegt hast, gleichst du +einem Sternwurme (Glühwürmchen). + +Kuntschekkan Beks Schwiegervater pflegte nachstehendes Lied zu +singen, das also wenigstens achtzig Jahre alt ist, obgleich es ebenso +wahrscheinlich ist, daß es damals schon ein altes Lied war. Ein +Liebender, der noch nicht alle Hoffnung aufgegeben hat, singt: + +Ich bin sehr traurig darüber, daß ich nicht meine kleine Freundin nahm; +ich friere deswegen wie eine verfrorene Fischotter. Du hast einen +schönen Chalat, aber ich war nicht stark genug, um deinen Chalat zu +gewinnen. Wenn ich dich jetzt nicht zur Frau bekomme, werde ich doch +an deinem Hause vorbeireisen und dich sehen. Dein schwarzes Haar ist +sehr schön; wenn ich dich bekommen hätte, würde dein schwarzes Haar +an meiner Brust geruht haben, aber mein Nebenbuhler nahm dich und gab +dich mir nicht. Hätte ich gewußt, daß du einen Ring am Finger trägst, +so hätte ich nie mit dir bekannt werden wollen, aber ich komme im +zehnten Monat. Wenn ich im zehnten Monat komme, werde ich dich fragen, +wie es dir geht, du bezaubernder Engel, der du allein in deinem leeren +Hause geblieben bist. Deine Brust ist so weiß wie eine angezündete +Lampe; wenn du dein Gewand öffnest, sieht man deine kreideweiße Brust. +Deine Nägel gleichen dem Tage. Ich liebe dich glühend, du bist wie +der Stern, der in die Spur des Mondes tritt. Wenn ich dich bitte, ein +wenig zu verweilen, eilst du auf deinem schnellen Pferde davon. Nun, +da ich ein alter Bettler geworden, kann ich dich, die du die schönste +der Frauen bist, nicht bekommen; du bist schöner als die Sonne. Du, +Assan, begib dich zu ihr und bringe die Worte vor, die ich gesagt! Ich +werde die Beke bitten, dich mir zu geben. Als ich deine Fußspuren auf +dem feuchten Sande sah, weinte ich so, daß kleine Hügel unter Wasser +standen. Du gleichst einer Fürstin, und hast deine Teetasse auf einer +Metallschale. Ich kam nach Jatschi hinüber, um dich zu sehen, fand aber +nur deine Schale mit Reispudding. Da ich dich nicht bekam, habe ich tot +in dieser Welt gelebt. Ich werde Gott bitten, mich noch ein paar Jahre +leben zu lassen, damit ich dich doch noch bekommen kann. Ich jagte +meine alte Frau fort. Möge Gott dich mir geben. Du gehst so leicht, wie +der Falke fliegt, aber dein Mann hat dich noch nicht verlassen, und ich +bin allein. + +[Illustration: 128. Rast der Karawane während Tscherdons +Rekognoszierung (3. Aug. 1900). (S. 318.)] + +[Illustration: 129. Auf der höchsten Bergkette der Erde. (S. 320.)] + +Ein zehn Jahre altes Lied aus Argan, gesungen von einem Manne, der an +die Unrechte geraten ist, lautet: + +Wie Tajir Chan und Suja Chan in derselben Nacht starben, haben wir +einander auch nicht bekommen. Tajir Chan starb in dem Dorfe seines +Mädchens, ehe er es bekommen hatte. Kara Vater schlug ihn dreimal mit +dem Schwerte, und nun erholt er sich nie wieder. Er war nicht schwer +verwundet, muß aber viele Sünden auf seinem Gewissen gehabt haben, weil +er doch gestorben ist. Wie keiner Tajir Chans Tod rächte, so wird sich +auch niemand darum kümmern, daß ich dich nicht bekommen habe. Jetzt, +seit ich mit dir bekannt geworden, kommt am Ende jemand und schlägt +mich tot. Jetzt habe ich eine andere Frau genommen, und nun mögen sie +mit dir tun, was sie wollen. Nun aber reut es mich, daß ich den Bek und +Ahun nicht gebeten habe, lieber dich mir zu geben. Und nun denke ich, +daß, wenn Gott mich nicht sterben läßt, die Menschen mich nie werden +töten können. Es wäre freilich besser gewesen, mit dem ganzen Dorfe zu +kämpfen und totgeschlagen zu werden, als die Frau, die ich jetzt habe, +auf dem Halse zu haben. + +Agatscha Chan war ein Mädchen aus Kum-tschappgan, das sich tröstete und +sang: + +Mein Freund ist hierhergekommen, und seitdem grünt alles. Es ist für +dich, der du die Erde mit deinem Spaten bearbeitest, Zeit, deinen +Weizen zu säen. Wenn ich die Sprache der Wildente verstehen könnte, +würde ich sie fragen, wie es dir geht. Du kamst hierher, wolltest mich +aber nicht ansehen, und dann reistest du wieder heim. Agatscha Chan +begleitete dich nicht, sie stieg aufs Pferd und ritt mit einem anderen +Manne fort. + +Noch ein Liebeslied trostlosen Inhalts, das vor einigen Jahren in +Tusun-tschappgan gedichtet ist, lautet: + +Du gleichst der weißen Ente. Ich möchte die Nacht an deinem Busen +zubringen. Wenn du zum abendlichen Saitenspiele tanzest, umflattern +dich die schönen Bänder. Ich sitze bei mir, du bei dir, aber ich weiß, +daß du an mich denkst. Sende mir den Falken, den du auf deiner Hand +trägst. Wenn ich mich abends hinlege, kann ich nicht schlafen, weil ich +an dich denke. Deine Eltern wollen dich mir nicht geben, sie geben dich +gewiß einem Bek aus Turfan. Die Leute sagen, daß deine Eltern dich mir +darum nicht geben, weil sie mich nicht mögen. Meine Sehnsucht nach dir +macht mir den Kopf wirr, mir ist, als drehten sich die Wolken um mich +herum. Du hast einen vornehmen Mann bekommen, und ich bleibe einsam und +verlassen. Ein anderer hat dich genommen, ich bekam dich nicht. Deine +Mutter hat Brot und Saatkorn in Menge, ihr Vorrat nimmt kein Ende. Wenn +deine Mutter morgens Brot backt, kocht schon der Kessel. Es ist so +lange her, seit ich dich sah. + +Es ist derselbe Klageton, der durch alle diese Liebesergüsse geht: es +ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie ewig neu, wo man ihr auf +Erden begegnet. Aber auch die Lieder, die nichts mit Liebe zu tun +haben, sind ebenso wehmütig. So singt zur Zeit des alten Numet Bek +(etwa 1700 geboren) ein Jüngling ein Lied an seinen Bruder; sie waren +beide vom Kara-koschun, hatten sich aber nach Abdall begeben: + +Reise du heim und erkundige dich, wie es dort steht; ich fahre aus und +fange Fische. Wenn die Fische hier knapp sind, reise ich lieber nach +Hause und fische dort. Ich sehne mich so nach Hause, daß ich nicht +essen kann. Alle in dieser Gegend, Gute und Böse, schelten auf mich, +so daß ich nicht essen kann. Ich kam hierher, um zu sehen, ob dies ein +guter Ort sei, aber meine Frau und die Kinder blieben in Jatschi (Dorf +am alten Kara-koschun). Wenn ich mit dem Kahne früh abfahre, komme ich +in einem Tage heim. Jetzt reise ich; es war dumm, daß ich den Pelz und +andere Sachen, die ich hätte zu Hause lassen können, mitnahm. Wenn +die Abdalleute mich auch töten wollen, werde ich mich nicht umsehen, +sondern heimreisen. Sie mögen nach Belieben hinter mir herschelten und +schreien, aber heim fahre ich. Wie das Siebengestirn am Himmel und das +Archari auf den Bergen ging ich von Hause fort, und nun weine ich. +Jetzt fahre ich heim; lebe wohl du mein einziger Freund an diesem Orte. +Wenn ich dich verlassen habe und nach Hause zurückgekehrt bin, sind wir +wie durch einen hohen Berg getrennt. + +Vor hundert Jahren sprach ein blinder Greis in Tusun-tschappgan seinen +Schmerz in folgendem Liede aus, das noch gesungen wird: + +Ich Armer bin von Gott mit Blindheit gestraft worden. Wie bin ich jetzt +unglücklich; nun sehe ich weder die Hütten noch die Kamischhecken um +sie herum, sondern muß einsam in meiner Sattma sitzen! Jetzt ist es +traurig, ich kann meine Freunde weder sehen noch treffen, meine Knochen +sind so weich wie Mehl geworden. Seit ich blind geworden bin, ist mir, +als ob mein ganzer Körper schmerze. Gott hat mich hart gestraft, daß +er mich die Hütten und die Kamischfelder nicht sehen läßt. Weshalb, +Gott, ließest du mich geboren werden, wenn du mich nachher meines +Augenlichtes berauben wolltest? Seit ich blind geworden, ist mein +Inneres voll Kummer und Gram. Möchte Gott nie einen anderen Elenden +mit Blindheit heimsuchen! Da ich nicht sehe, kann ich nicht gehen, +ohne die Hände zum Fühlen auszustrecken. Meine Kinder rufen mir zu: +du tust nichts, du fängst keine Fische, du verschaffst uns nichts zu +essen. Es wäre besser, wenn Gott mich sterben ließe, statt mich zu +meiner Qual in dieser Welt zu lassen. Früher konnte ich Geld verdienen, +jetzt sehe ich es nicht einmal und kenne es nur wieder, wenn ich daran +rieche. Gott hat mich hart gestraft, als er mich so elend werden ließ. +Wenn ich mit meinem Weibe sprechen will, antwortet sie mir nur mit +harten Worten. Als ich sah, erhielt ich gut zubereitetes Essen; jetzt +stellt sie mir kaum Tee hin. Wenn ich nur sehen könnte, würde ich wie +früher auf den See hinausfahren und meine Netze auslegen. Würde ich +es jetzt versuchen, so würde ich den Weg nicht finden können und an +die unrechte Stelle kommen. Als ich Kind war, müssen meine Eltern für +ein Versehen meinerseits den Wunsch ausgesprochen haben, daß ich blind +werden möchte. Früher konnte ich meine Netze auslegen, doch dem Blinden +ist das Fischen unmöglich. Jetzt, da ich die Meinen nicht mit Fischen +versehen kann, werden sie nur halbsatt. Ich glaubte, daß du, mein Sohn, +mir auf meine alten Tage helfen und mich ernähren würdest, aber du hast +mich von dir gestoßen. + +Daß ein Volk, welches früher fast ganz von Fischnahrung gelebt +hat, den Fischfang und die kleinen Abenteuer dabei besingt, ist +selbstverständlich. Als Probe dieser kunstlosen Seepoesie mag das im +Fischerdorfe Kara-koschun passierte und besungene Mißgeschick dienen: + +Ich war draußen auf dem See, als der Sturm kam und meinen Kahn umriß, +und hier liege ich nun, und Vater und Mutter wissen es nicht. Die +Fische und das Brot, die ich mit hatte, landeten im Magen des Sees +statt in meinem Magen. Beim Schiffbruche konnte ich nichts weiter +retten als den Kochtopf, Gott sei gelobt. Ich habe gewiß harte Worte +gegen einen Älteren gebraucht oder irgendein Unrecht getan, weil ich +diese Strafe erhalten habe. Mein Kamerad, der gleichzeitig mit mir +draußen war, verlor nichts; Gott muß ihn lieben. Ich hatte 30 Fische in +einem Bunde und 12 in dem anderen, und alle gingen sie unter. Wenn ich +jetzt aufstehe und mich spute, komme ich zum Abendessen nach Hause. Ich +warf einen Blick auf die Binsenbündel, die auf dem Wasser schwammen, +und eilte dann heim. Bei meiner Heimkehr schalten meine Eltern und +sagten: Was hast du mit all den Fischen gemacht? Und ich antwortete: +Wäret ihr froher über die Fische gewesen als über meine Rettung, so +könnt ihr mich ja totschlagen. Du, mein Freund, komm, laß uns das Boot +an Land ziehen und es zum Trocknen hinlegen. + +Ich kann auch einige Proben geben, wie die Menschen, welche derartige +Lieder singen, ihre Briefe schreiben, was ebenfalls von Interesse +sein dürfte. Die Schriftstücke zeugen bei all ihrer sklavischen +Untertänigkeit von großem Wohlwollen und großer Höflichkeit, und +zwischen den Zeilen schimmert das Ansehen hervor, dessen sich unsere +Karawane überall erfreute. Während meines Aufenthalts im Lande erhielt +ich Massen von Briefen und mußte einen einheimischen Sekretär für ihre +Beantwortung haben. Der Sekretär las mir die Briefe vor, und ich teilte +ihm mit einigen Worten mit, was er antworten sollte. Es ist sowohl +komisch wie für die Achtung, die wir genossen, bezeichnend, daß alle +diese Briefe mit den Worten. „Dem großen König, dem gnädigen Herrn, +Gottes Segen“ begannen. Als die Kosaken mich Exzellenz nannten, fand +ich diesen Titel schon übertrieben, aber den Beken des Loplandes war +er noch viel zu nichtssagend; sie kamen sofort mit Ullug Padischahim +(Eure Majestät). Ich fühlte mich zweihundert Tage lang beinahe als +König von Lop-nor. + +Der alte Naser Bek von Tikkenlik überraschte mich mit folgendem Briefe: + +Wir, Eure allerschlechtesten Untertanen, Naser Bek, mein Schwiegersohn +und alle, Große wie Kleine, wünschen unserem großen Padischah, daß Ihr, +was Gott gnädig geben möge, in Tschimen ruhig und friedvoll anlanget; +und wenn Ihr dorthin gekommen seid, hatten wir zu Euch eilen und Euch +dienen wollen, aber der Amban ist hier, und ich kann daher nicht um +Urlaub bitten. Indessen wäre es notwendig gewesen, daß ich mich bei +Euch eingestellt und meine Verbeugung gemacht hätte. Wenn Ihr mich +durch eine Zeile von Tschimen wissen laßt, daß Ihr ruhig und friedvoll +dort angekommen seid, wäre ich sehr dankbar. Zum Zeichen, daß ich lebe, +sende ich Euch zehn Ellen weiße Leinwand. Bitte, vergeßt mich nicht. + +Mirab Bek von Ullug-köll schreibt: + +Eure niedrigen Sklaven und Diener, Mirab Bek von Ullug-köll und sein +Sohn Baker Schang-ja, Seidulla Imam, Mahmet Baki Masin, Sati Ahun, +Allah Kullu, alle großen und kleinen Bewohner Ullug-kölls, fragen durch +diesen Brief nach der Gesundheit des Tura (des Herrn). Wir hätten Euch +begleiten und Euch dienen müssen, konnten es aber nicht, weil wir den +Amban fürchteten. Gott allein weiß, ob wir Euch noch einmal wiedersehen +werden; doch hoffen wir es. Wenn wir erfahren, daß Ihr glücklich im +Gebirge angelangt seid, werden wir in Wahrheit Gott danken, und wir +werden beten, daß Ihr wieder hierherkommt, damit wir uns wieder treffen. + +Mehr kollegialisch schreibt der Amban von Tscharchlik: + +An den sehr lieben und gnädigen Herrn He-dani (Hedin) von Dschan Daloi +aus Tscharchlik. Ich bitte, schriftlich mein Bedauern aussprechen zu +dürfen, daß wir, als wir uns zum erstenmal in Tikkenlik trafen, keine +Gelegenheit hatten, einander zum Gastmahl einzuladen. Wir trafen uns +spät, Ihr fuhrt nach Eurem, ich nach meinem Bestimmungsorte, aber wir +werden einander nie vergessen. Gebe Gott, daß wir uns einmal unter +günstigen Verhältnissen treffen! Wir müssen uns nahetreten, einander +kennen lernen und die besten Freunde werden. Möchten wir nicht anders +als gut voneinander denken. Von woher und wann es auch sein möge, +schreibt mir einen Brief und fordert mich zu einer Begegnung auf. +Wir bitten, Euch mitteilen zu dürfen, daß wir den Brief von Chalmet +Aksakal gelesen haben und sehr dankbar sind, daß Ihr uns gebeten habt, +die Diebe ausfindig und dingfest zu machen. Wir haben die abhanden +gekommenen Waren bei den Dieben gefunden und die Sache, die gesetzlich +behandelt und abgeschlossen ist, schon erledigt. Wünscht Ihr noch +etwas mehr, so seid so gnädig und laßt mich es wissen. Leider konnte +ich nicht mehr zu Euch kommen, habe aber Nachricht erhalten, daß Ihr +hier vorbeipassiert seid. Für alle Fälle schicke ich Euch 100 Dschin +Reis und ein paar Flaschen Branntwein und bitte Euch, mich nicht zu +vergessen. + +Infolge der Etikette konnte er mich nicht aufsuchen, weil ich keine +Miene gemacht hatte, ihm eine Visite abzustatten. Den Branntwein mußte +der Bote wieder mitnehmen; dergleichen durfte es in unserer Karawane, +wo strenge Mannszucht gehalten wurde, nicht geben. Im allgemeinen ist +auf die Artigkeiten der Chinesen, ob sie mündlich oder schriftlich +ausgedrückt werden, nicht viel zu geben, doch hinsichtlich Dschan +Dalois hatte ich keinen Grund, mich zu beklagen. Als er ein Jahr +darauf von dem Generalstatthalter in Urumtschi abgesetzt wurde, hieß +es in Tscharchlik, der Grund seiner Absetzung sei seine allzu große +Dienstwilligkeit gegen einen „Jang-kwetsa“ oder „fremden Teufel“. Von +dem Boxeraufstande in China verspürten wir nicht einmal eine schwache +Dünung; kein verhallendes Echo davon drang bis ins innerste Asien. + + + + +Sechsundzwanzigstes Kapitel. + +Aufbruch nach Tibet. + + +Das Warten dauerte uns schließlich zu lange, und mit sehnenden Blicken +betrachteten wir die Kurve des Barographen, die durchaus keine Neigung +zeigte, Sturm zu verkünden. Ich lag meistens auf meinem Bett, las +Bücher von Selma Lagerlöf und Kipling und studierte die buddhistische +Mythologie; doch die Bremsen hoben die Belagerung nicht auf, und der +Wind gab uns keine Gelegenheit, einen Ausfall zu machen und ihre +Umzingelungskette zu sprengen. Nun verlor ich die Geduld und beschloß, +am Abend des 30. Juni auf jeden Fall aufzubrechen. Die Karawane sollte +zu Land den etwa siebenstündigen Weg um die Sümpfe machen und mich in +Joll-arelisch oder an dem Punkte, wo die Straße nach Sa-tscheo sich von +der ins Gebirge führenden scheidet, wieder treffen. Ich selbst wollte +zu Kahn über dieselben Seen wie im April fahren, und da Joll-arelisch +bereits auf einer der Karten von jener Exkursion eingetragen war, +entstand also dadurch keine Lücke in der Karte. + +Im Laufe des Tages wurde alles gepackt, Kisten und Lasten wurden +geordnet, die englische Jolle verstaut, alle Forderungen bezahlt und +die Post nach Europa den Kosaken überantwortet, die beide ihre Pässe +und je ein Geschenk von 2 Jamben, sowie das Versprechen erhielten, daß +ich sie ihrem obersten Kriegsherrn, dem Zaren, aufs beste empfehlen +würde. Sie nahmen auch einen Brief nach Tscharchlik an Dschan Daloi +mit, in welchem ich diesen bat, sofort 3000 Dschin Mais (30 Esellasten) +in das Hauptquartier zu schicken. Die Bezahlung für die Furage und den +Transport konnte ich erst beim Empfang aushändigen, weil ich infolge +des unvorhergesehenen Aufbruchs der Kosaken ganz leere Taschen hatte. +Die Kasse befand sich im Hauptquartier am Tschimen-tag. + +Um 5 Uhr nachmittags fing das Beladen an. Sobald die Kamele ins Freie +gekommen waren, wurden sie von Tausenden von Bremsen umschwärmt. Sie +benahmen sich indessen würdig, mit ihrer gewöhnlichen Geduld; bei +jedem fertigbeladenen Kamele wurden vier Männer aufgestellt, welche +die Insekten mit großen Kamischblättern fortwedelten. Als alles zum +Aufbruch fertig war, stieg Turdu Bai zu Pferd und begab sich an die +Spitze des Zuges, der sich eiligst entfernte. + +Jetzt kam die Reihe an die Pferde, welche störrisch waren, ausschlugen +und sich sogar zu Boden warfen; die Lasten mußten sehr fest gebunden +werden, damit sie sie nicht abschütteln konnten. Mollah Schah, Kutschuk +und Tokta Ahun, Kuntschekkan Beks Sohn, marschierten mit ihnen den +Kamelen nach. + +Der Klang ihrer Glocken und Schellen war schon verhallt, als uns auf +einmal einfiel, daß die Hunde fehlten. Sie waren auf eigene Hand auf +Entdeckungsreisen ausgegangen und wurden erst nach einstündigem Suchen +erwischt, gebunden und Schagdur übergeben, der der Karawane folgte, +nachdem er seinen Kameraden Lebewohl gesagt hatte. + +Der große, bequem eingerichtete Kahn, der mich nach dem verabredeten +Orte bringen sollte, lag mit Proviant, Filzdecken, Rauchgeschirr und +Laterne bereit. Jetzt stand das schlimmste bevor: der Abschied von den +Kosaken. Voller Rührung dankte ich ihnen für ihre Dienste, und nach +einem kräftigen Händedruck und einem letzten Lebewohl sah ich sie ihre +Rappen besteigen und auf dem Wege nach Tscharchlik, das sie am nächsten +Morgen zu erreichen gedachten, verschwinden. Sie waren mit Empfehlungen +an Ambane, Beke und Aksakale versehen und sollten längs des Gebirges +über Kopa und Sourgak reisen und von dort während der Nächte über +Chotan und Jarkent nach Kaschgar reiten. + +Es war pechfinster, als ich allein mit meinen Ruderern die Bootfahrt +antrat. Meine Karawanen, Diener und Güter waren jetzt zerstreut, und es +galt, sie wieder aufzulesen und das Ganze zu vereinigen. Die Strömung +half uns, und mit sausender Fahrt ging es den Fluß hinab, dessen dunkle +Ufer hinter uns verschwanden. In +Kum-tschappgan+ rasteten wir nur +so lange, wie für den Rudererwechsel erforderlich war. Der Mond ging +gerade unter, aber die Nacht war klar, und die Sterne leuchteten über +den wandernden Seen hell wie Wachsfackeln. + +Um 11 Uhr nachts verließen wir +Tusun-tschappgan+, von einem +des Weges kundigen Manne in einem Einrudererkahne geleitet. Daß er +in der Dunkelheit durch diese Labyrinthe von hohem dichtem Schilf, +durch Tschappgane und enge Kanäle, Lagunen und Seen hindurchfand, war +ein vollendetes Meisterstück. Die Männer ruderten ohne Zögern und +Unterbrechung, als ob die Kähne auf unsichtbaren Schienen liefen. +Sie sprachen nicht, sie ruderten nur, taktfest und stetig. In die +dichten Hecken aber drangen die Lüfte der Sommernacht nicht; dort war +es erstickend heiß, dumpfig und moderig, und Miasmen stiegen aus dem +lauwarmen Wasser der Sümpfe auf. Ich schlummerte dann und wann ein +wenig, und gegen Morgen begannen die Leute zu singen, um sich wach zu +halten. Der Sate-köll war bedeutend seichter als im April, weshalb +die Ruderer ausstiegen und mich weiterzogen; doch wir mußten bald den +großen Kahn verlassen und uns des kleinen bedienen. Als auch dieser +nicht weiter konnte, gingen wir zu Fuß durch den Schlamm und erreichten +so das Ufer. + +Jetzt folgte ein mehrstündiges Warten in der baumlosen, stillen, +finsteren Einöde. Endlich ertönten Rufe, anfangs aus der Ferne, dann +aus größerer Nähe; mit brennender Laterne gingen wir den Erwarteten +entgegen. Es waren Schagdur und Tokta Ahun mit der Pferdekarawane. Sie +hatten die Kamelkarawane bald überholt, und wir mußten nun auf diese +warten. Die Lopleute gingen weit in den See hinaus, um eine Kanne süßen +Wassers und einige Bündel Kamisch zur Feuerung zu holen, denn das Ufer +war gänzlich ohne Vegetation. + +Beim ersten Tagesgrauen kam die Kamelkarawane herangezogen; sie +hatte sich in der Dunkelheit verirrt und war, durch einen Eselpfad +irregeführt, zu früh nach dem Gebirge abgebogen. Sie zog jetzt weiter, +ohne sich aufzuhalten; als die anderen mit dem Frühstück fertig waren, +stiegen auch wir zu Pferde. Das Land ist entsetzlich öde; im Norden des +Sumpfes geben wenigstens die Sanddünen der Wüste ein gewisses Relief, +und der tote Wald verkündet, daß dort einst Leben geherrscht hat, hier +aber gibt es gar nichts; die Erde ist eben wie ein Fußboden und besteht +aus hartem, salzhaltigem Lehm, der einst unter Wasser gestanden hat. + +Wir entfernen uns in spitzem Winkel vom Ufer, und die äußersten Seen +des Tarim waren kaum noch wie eine dunkle, gleichsam über dem Horizont +schwebende Linie sichtbar, als sich die Sonne im Osten erhob und ein +Meer von Licht und Wärme über die Wüste fluten ließ. Das Tagesgestirn +trat in seltener Schönheit auf. Seine Strahlen brachen sich in den +feinen, leichten Wölkchen, die wie ein Schleier vor seinem Antlitz +schwebten. Die Ränder der Wölkchen wurden von hinten erleuchtet und +glühten wie Kränze von flüssigem Gold, die Mitte jeder Wolke aber +färbte sich violett in verschiedenen Schattierungen. Die Luft war klar +und still, und der Himmel prunkte in fleckenlosem, reinem Blau. + +Noch schöner als dieses Schauspiel war jedoch das Gebirgspanorama, +das in der schiefen, beinahe horizontalen Beleuchtung scharf und +deutlich hervortrat; die Ketten zeigten abwechselnd hellbraune, rosa +und violette Nuancen, die infolge der großen Entfernung nicht grell, +sondern ruhig, gedämpft und harmonisch waren und einen entzückenden +Hintergrund zu dieser dürren Wüste bildeten, wie ja auch der +Sonnenaufgang viel schöner ist, wenn er auf eine schwüle, düstere Nacht +folgt. + +[Illustration: 130. Allgemeines Trocknen an der Sonne. (S. 328.) + +Von links nach rechts: Aldat, Nias, Kutschuk, Mollah Schah, Turdu Bai +und Tscherdon.] + +[Illustration: 131. Gletschermassiv im Südwesten vom Lager Nr. 27. (S. +329.)] + +Die Sonne hat aber auch ihre Schattenseiten. Kaum guckt sie über den +östlichen Wüstenrand, so füllt sich die Luft mit Millionen Bremsen, +die, Wolkensäulen vergleichbar, Pferde und Reiter begleiten und +umgeben. Man muß sich verteidigen, so gut man kann, und die Pferde +werfen und schlagen mit Kopf und Mähne. + ++Dunglik+ (die Hügel) ist eine kleine Oase auf dem Wege nach den +Bergen und liegt gerade da, wo die flachen Schuttkegel der letzteren +langsam anzusteigen beginnen. Von Abdall, das 838 Meter über dem +Meere liegt, waren wir 203 Meter gestiegen. Alle waren müde von +der durchwachten Nacht; ich selbst schlief unter der ersten besten +Tamariske ein und wachte erst wieder auf, als mir die Sonne auf den +Kopf brannte. Da siedelte ich in das Zelt über und setzte mich dort, +sehr leicht gekleidet, zum Arbeiten hin. + +Am folgenden Morgen wurde ich um 3 Uhr geweckt, Lichter und Laternen +wurden angezündet und das aus Tee, Eiern und Brot bestehende Frühstück +gebracht. Das Gepäck wurde geordnet und die Tiere beladen; es fing an, +im Osten hell zu werden, und als wir um 4½ Uhr aufbrachen, wobei +wir Wasservorrat für uns selbst und die Hunde mitnahmen, war es schon +ganz hell, und geschäftig gingen die Bremsen an ihr Tagewerk. Ich +schlug ein paar Hundert tot, die sich auf der nackten Haut der Kamele +festgesogen hatten. Sie summten in Schwärmen um uns und folgten uns +ein paar Kilometer weit, wie vor Wut erglühend, als die aufgehende +Sonne durch ihre mit Blut gefüllten Leiber schien. Es knallt, wenn die +Peitschenschnur den aufgeschwollenen Sauger trifft und er platzt. Doch +bald wagten sie sich nicht weiter vom Vegetationsgebiete zu entfernen, +und wir waren sie für den Rest des Tages los. + +Wir kamen jetzt auf den offenen, wüsten, kiesigen und unfruchtbaren +Sai hinaus, der langsam nach dem Gebirge ansteigt; hier gibt es keinen +Grashalm, kein Insekt, keine Spur von Leben, nur auf asphalthartem +Boden dünn verstreuten Kies und Sand. + +In launenhaft wechselnden Abständen sind kleine Steinpyramiden +errichtet, deren einzige Aufgabe es ist, als Richtschnur beim Sturme +zu dienen. Die Asiaten finden, daß sie ihren Wegen und Stegen einen +gewissen Dankbarkeitstribut schuldig sind, der den Pyramiden in Gestalt +eines Zuschusses von einem oder mehreren Steinen gebracht wird. Ohne +Weg würden sie nicht nach Quellen und Weiden hinfinden, und besonders +denkt der glücklich einem Sturme entronnene Wanderer an die, welche ihm +unter schwierigen Verhältnissen folgen, und liefert daher gern seinen +Beitrag dazu, die Wegweiser noch deutlicher zu machen. + +Mittlerweile begann die Tageshitze mit heißen Dämpfen und +Luftbewegungen anzurücken. Ich wußte, daß der Weg nach der ersten +Quelle Tattlik-bulak weit war, denn dieser Schuttkegel am Nordfuße des +Kwen-lun war an allen Punkten, wo ich ihn früher überschritten hatte, +unendlich breit gewesen. Doch wenn ich gehofft hatte, ziemlich bald +ins Gebirge hineinzukommen, so wurde diese Illusion vernichtet, als +wir zwei mächtige Steinhaufen, zwischen denen der Weg hindurchführte, +passierten und damit nach Tokta Ahuns wenig erfreulicher Erklärung +gerade die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten. Wir ritten schon +sieben Stunden in ununterbrochenem Karawanentempo. + +Die kleinen, fünf Monate alten Hunde waren schon zu Anfang des Marsches +müde und in einem Korbe auf ein Kamel gesetzt worden, wo es ihnen +sehr gut ging. Als die Sonne zu stechen begann, wurden sie mit einer +Filzdecke zugedeckt, und wir hörten nichts weiter von ihnen, bis wir +an unserem Bestimmungsorte anlangten, wo sie munter und gesund, nur +etwas steifbeinig, aus ihrem Verstecke hervorkamen und die Gegend in +Augenschein nahmen. + +Maschka und Jolldasch waren empfindlicher gegen die Hitze und +schienen vor Müdigkeit erschöpft zu sein, als wir die zweite Hälfte +des Tagemarsches antraten. Obgleich sie ein paarmal Wasser bekamen, +blieben sie doch zurück und mußten geholt werden. Schließlich wurden +sie gebunden auf ein Kamel gelegt. Aber diese Art zu reisen war nicht +nach ihrem Geschmack; sie wälzten sich herunter, sobald das Kamel sich +in seinen wiegenden Gang setzte. Dann blieben sie wieder zurück, und +Schagdur ritt mit der Wasserkanne zurück. Nach ziemlich langer Zeit +sahen wir ihn mit Jolldasch zurückkehren; er war sehr niedergeschlagen +und meldete, daß Maschka gestorben sei. Beide Hunde hatten sich an +einer schattigen Terrasse in einem Hohlwege halb eingegraben. Maschka +hatte alles Wasser, das in der kupfernen Kanne war, bekommen und es +gierig verschlungen. Dann hatte Schagdur Jolldasch an der Leine geführt +und Maschka vor sich auf den Sattel genommen; er war aber noch nicht +weit mit ihnen gekommen, als der Hund aufgeregt wurde, das Pferd in den +Hals biß und den Kopf fallen ließ. Die letzten Wassertropfen nützten +nichts; der beste und klügste aller unserer Hunde war und blieb tot und +mußte am Wegrande zurückgelassen werden. + +Jetzt war das Wasser zu Ende, und ich fürchtete das Schlimmste für +Jolldasch. Nach mehrfachem Fortlaufen band ich ihn selbst auf einer +Kamellast fest, wo er halb tot und seekrank geschaukelt wurde. + +Im übrigen hielten sowohl Menschen wie Tiere sich gut. Es war aber +auch einer großen Anstrengung wert, dem stickigen Sommer drunten zu +entfliehen. Des Reitens müde ging ich mehrere Stunden zu Fuß. Die +Landschaft bleibt sich gleich; die Steigung ist unmerklich. Gegen Abend +wurde das Terrain kupiert, und wir gelangten zwischen niedrige Hügel +von Rollsteinkies, Sand und Lehm. Später tritt anstehendes Gestein +auf, außerordentlich verwitterter und brüchiger hellgrüner Schiefer +und Granit. Wir folgen einem ausgeprägten Trockentale aufwärts, +das Seitentäler aufnimmt, und die Landschaft wird immer kräftiger +ausgemeißelt von Regenbächen, die jetzt keinen Tropfen Wasser mehr +enthalten. + +Von dem oberen Teile einer schmalen, abfallenden Talfurche öffnet +sich die Perspektive über die Oase, den Bach und die Herberge ++Hung-lugu+, ein doppelt angenehmer Anblick nach einem solchen +Tage. Sobald wir dort angekommen waren, wurden die Hunde nach dem +Bache gebracht, und es folgte ein Trinken, das gar kein Ende nehmen +wollte. Sie liefen in das frisch sprudelnde, schwach salzhaltige +Wasser, das sie mit großer Begierde „löffelten“, wobei ihre Augen vor +Freude strahlten. Manchmal ging es zu schnell, und das Wasser kam in +die unrechte Kehle; dann husteten und räusperten sie sich, um sofort +weiterzuschlürfen. Darauf legten sie sich der Länge nach ins Wasser, +wälzten sich in dem am Ufer wachsenden Grase, bellten vor Freude und +tranken von neuem. + +Die Vegetation ist in diesem herrlichen Tale üppig und besteht +hauptsächlich aus prächtigen, zu wirklichen Bäumen entwickelten +Tamarisken, im übrigen aus Gras, Kamisch und allerlei Kräutern; +in einer Erweiterung des Tales steht sogar eine Gruppe alter +knorriger Pappeln. Wir zogen talaufwärts weiter. In einem herrlichen +Tamariskenhaine fanden wir die Pferdekarawane, die den ganzen Tag +bedeutenden Vorsprung gehabt hatte, und eine kleine Karawane von sieben +Eseln und sieben Schafen, die Numet Bek einen Tag vorher von Abdall +geschickt hatte, um uns mit Proviant zu unterstützen. + +Nichts kann herrlicher sein, als nach 14½stündigem, angestrengtem +Marsche durch eine Wüste von 70 Kilometer Breite eine solche Oase zu +erreichen. Hier wurde auch in der Dämmerung eines der gemütlichsten +Lager, die ich je gehabt habe, aufgeschlagen. Meine Jurte wurde zum +ersten Male am Außenrande des Tamariskenwaldes aufgerichtet und war mit +Bett, Teppich und Kisten so nett, sauber und einladend, daß ich die +Fähre und ihre behagliche Kajüte nicht länger vermißte. Schagdur, Turdu +Bai und Mollah Schah pflanzten ihr weißes Zelt unter den Tamarisken +auf, die anderen kampierten in einem Dickicht, das einer Laube glich. +Um 9 Uhr zeigte das Thermometer +20 Grad und im Wasser +12,8 Grad, so +daß mir die gewöhnliche Abenddusche nach all der Hitze ziemlich kalt +vorkam. Schon hier befanden wir uns in einer Höhe von 1953 Meter, 1115 +Meter über Abdall. + +Alle waren entzückt über den Tagesbefehl für den 3. Juli, der auf +Ausruhen an der +Tattlik-bulak+ (süßen Quelle) lautete. Über die +Hitze brauchten wir uns nicht länger zu beklagen; die Sonne stach +mittags allerdings, aber es wehte aus Südwest, nicht gleichmäßig und +ununterbrochen wie in der Ebene, sondern stoßweise, manchmal so heftig, +daß die Jurte umzufallen drohte, manchmal hörte der Wind auf und +machte der Windstille Platz. An der linken Talseite steht ein kleiner +senkrechter Wall von Rollsteinen, und aus dieser Wand sprudelt mit +einer Temperatur von +10 Grad die kristallklare süße Quelle hervor. Auf +dem Walle oberhalb erhebt sich eine Steinpyramide mit ein paar Stangen. +Auf einer derselben las ich: P. Splingaert 1894 und C. E. Bonin 1899. + +Die Vegetation ist reich, obwohl sie nur in wenigen Arten auftritt. +Von Tieren kommen nur einige kleine Vögel, Ameisen, Spinnen, Fliegen, +Zecken und Käfer vor. Ein paar Bremsen hatten sich hierher verirrt; sie +waren vielleicht von unseren eigenen Kamelen mitgebracht. Wir genossen +unser Glück in vollen Zügen, und alles wäre gut gewesen, wenn wir nicht +Maschka, den Liebling aller, verloren gehabt hätten. Beim Aufbruch von +diesem herrlichen Ruheplatze wurden einige Veränderungen mit dem Gepäck +vorgenommen. Die Jolle wurde in eine Filzdecke genäht, um vor dem +Scheuern geschützt zu sein, und die Jurte wurde auf die Pferde geladen, +die immer zuerst nach dem Lagerplatz gelangten. Von nun an sollte ich +schon bei der Ankunft mein Haus fertig finden. + +Der Weg führt zwischen Felsen von schwarzem Schiefer in dem Tale +des Baches von Tattlik-bulak aufwärts. Die Tamarisken stehen gerade +in Blüte, und ihre prachtvollen Blütentrauben mit ihrer reinen +violetten Farbe erheitern sozusagen die sonst eintönige, braungraue +Berglandschaft (Abb. 114). Unaufhörlich kreuzen wir den kleinen Bach, +dessen frisches Wasser in unmittelbarer Nähe zu haben uns sehr angenehm +war, da der Tag heiß wurde. Im Winter ist dieses ganze Tal mit Eis +bedeckt. Der Bach friert nach und nach zu, und diejenigen, welche dann +hier durchkommen, müssen auf dem Eise gehen. Man vermeidet dann diesen +Weg, weil die Tiere sich leicht die Beine brechen können. Hier lag noch +ein totes Kamel von einer mongolischen Pilgerkarawane, die diesen Weg +im Winter gemacht hatte; es war auf dem Eise ausgeglitten und hatte ein +Bein gebrochen. Gleich hinter Tattlik-bulak steht eine kleine Gruppe +von Pappeln, und zwischen ihren Ästen lagen Stangen, die eine Art Bahre +bildeten. Hier sollen früher Kameljäger ihr erlegtes Wild auf die Bäume +gelegt haben, um es vor Hunden und wilden Tieren zu schützen. Jetzt +kommen selten wilde Kamele in diese Gegend. + +Als wir am Abend auf der kleinen Weide von +Basch-kurgan+ +ankamen, war mein tragbares Hotel schon fertig und möbliert, ganz +wie ein Wirtshaus an der Landstraße (Abb. 116). Doch darf ich dort +nicht eintreten, um mich ausschließlich der recht notwendigen Ruhe +hinzugeben. Nein, erst werden Thermo- und Barograph ausgepackt, +dann die heute unterwegs gesammelten Gesteinproben etikettiert und +eingepackt, darauf die Kartenblätter gezeichnet und zuletzt die +Aufzeichnungen und Beobachtungen eingetragen. Um diese Zeit ist das +Mittagessen fertig; ihm folgen um 9 Uhr die gewöhnliche meteorologische +Ablesungsreihe und das Ablesen des Hypsometers; wenn dann auch noch die +Chronometer aufgezogen und verglichen sind, gehe ich ins Freie, um eine +Weile mit den Hunden zu spielen und sie zu füttern. Vor 11 Uhr ist die +Tagesarbeit selten zu Ende; dann lese ich noch eine halbe Stunde im +Bett, bevor ich in der frischen, gesunden Gebirgsluft fest einschlafe. + +Um die Höhen nicht zu schnell zu nehmen, hatten wir beschlossen, +während des Rittes nach dem Hauptquartier oft Rasttage einzuschieben; +so wurde auch Basch-kurgan ein Tag geopfert. Hier treffen drei Täler +zusammen, die in das lange Tal von Tattlik-bulak übergehen. Der Name +„Festung des Talkopfes“ schreibt sich von der Ruine eines auf einem +isolierten Hügel thronenden kleinen chinesischen Forts her. Schagdur +und Mollah, mein Sekretär von Abdall, machten einen weiten Ausflug +nach Osten, auf welchem ersterer nach einiger Unterweisung im Gebrauch +von Kompaß und Uhr eine rohe Kartenskizze von dem Lande zu machen +beauftragt war. Es war das erstemal, daß er eine solche Aufgabe löste, +und wenn die Karte auch nur als Kroki verwendbar war, gab sie mir doch +einen guten Begriff vom Verlauf der Bergketten und Täler in jener +Richtung. Schagdur vervollkommnete sich später zu einem bedeutenden +Grade von Sicherheit in der Auffassung des Terrains. + +Bei Basch-kurgan kreuzten wir die untere Kette des Astin-tag, welche +das Tal von Tattlik-bulak durchbricht; ein Paßübergang ist daher +unnötig. Der nächste Tagemarsch führt uns weiter aufwärts nach dem +Hauptkamme desselben Bergsystems. Dorthin gelangten wir jedoch nicht in +einem Tag, sondern wir lagerten unterwegs schon in +Basch-joll+, +einem kleinen Weideplatz mit einer herrlichen Quelle (+5,8 Grad) und +den Ruinen einer chinesischen Festung. + +Am 8. Juli hatten wir einen langen Wüstenweg vor uns und nahmen Wasser +mit. Um 6½ Uhr brachen wir auf und zogen immer höher nach dem Kamme +des Astin-tag hinauf. Auf beiden Seiten erheben sich steile, wilde, +zackige Felsenmassen. Der Hohlweg erweitert sich und führt nach einem +bequemen, hügeligen Passe hinauf, der merkwürdigerweise keinen anderen +Namen als „Dawan“, der Paß, hat. Der bisher nach Osten führende Weg +bog jetzt nach Süden ab. Doch auch ostwärts erstreckt sich zwischen +felsigen Bergen ein Tal, in welchem zwei wilde Kamele davonflüchteten. +Dies ist im innersten Asien das dritte Gebiet, wo ich wilde Kamele +getroffen habe, und ich bin, nach den Beobachtungen, die später gemacht +wurden, in der Lage, eine Karte ihrer Verbreitung zu geben. + +Auf dem Passe sprühregnete es leicht; als wir aber hinuntergingen und +das breite, flache Längental, das den Astin-tag vom Akato-tag trennt, +überschritten, begann es tüchtig zu regnen, und der Donner rollte +über den Bergen. Das Land ist eine Wüstenei; man sieht keine Spur +von Leben. Wir waren über 13 Stunden geritten, als wir endlich die +namenlose Steppe erreichten, wo die Karawane Halt gemacht hatte und die +Tamariskenbüsche Feuerung gaben, wo aber weder Wasser noch Weide zu +finden war. + +Am Morgen des 9. Juli war der Himmel völlig klar und die Temperatur auf ++0,7 Grad heruntergegangen. Die jetzt herrschende Marschordnung war +folgende: voran gingen die Esel und die noch übrigen Schlachtschafe. +Ihnen folgten Mollah Schah und Kutschuk mit den Pferden, und da sie +schneller ritten als alle anderen, waren sie stets die ersten an den +Lagerplätzen. Dann kamen Turdu Bai und Mollah mit den Kamelen und +zuletzt ich mit Schagdur und Tokta Ahun. Letzterer war mein Cicerone, +da er die Gegend sehr gut kannte. Schagdur hielt mein Pferd, wenn ich +Berggipfel anpeilte oder Gesteinproben abschlug, deren Einpacken in +Zeitungspapier seine Sache war. Infolge all des dadurch verursachten +Aufenthalts langten wir stets ein, zwei Stunden später im Lager an als +die anderen. + +Im Südwesten leuchten die Firnfelder eines prachtvollen Bergmassivs, ++Illwe-tschimen+ genannt; an der uns zugekehrten Seite desselben liegen +zwei kleine Salzseen, der +Usun-schor+ und der +Kalla-köll+. + +Während der kurzen Rast an einem Quellbecken am Fuße des Akato-tag +veränderte sich plötzlich das Wetter; der Himmel überzog sich, und es +gab einen Platzregen; wir waren augenscheinlich schon mitten im Klima +Tibets, wo Sonnenschein, Wind und Regen miteinander in wenigen Minuten +abwechseln. + +Von der Quelle gehen wir durch eine trockene Rinne nach Südwesten. +Hier erhob sich ein heftiger Südweststurm, der keinen Regen brachte, +aber Staub und Sand aufwirbelte und uns so das Gesicht peitschte, daß +die Haut schmerzte. Er kam wie eine kompakte gelbgraue Wand von lauter +Wirbeln angezogen und hüllte uns in einen Nebel ein, der die Landschaft +auf allen Seiten verschwinden ließ. Nichts als der Weg ist sichtbar; +man schwankt im Sattel und kann nur mit Mühe seine Aufzeichnungen +machen, wobei die Marschroutenblätter beinahe zerrissen werden. Nach +zwei Stunden endete der Orkan ebenso plötzlich, wie er losgebrochen +war. Wir waren sozusagen durch einen Fluß von Wirbelwind gewatet. Im +Gegensatz zu den Stürmen des Tieflandes klärte sich die Luft sofort +auf und wurde wieder ebenso rein und durchsichtig wie vorher. Daß der +Flugsand von diesen heftigen Bergwinden wirklich weitergetragen wird, +sahen wir sofort; auf dem leichten Doppelpasse des Akato lagen kleine +Dünen angehäuft, die südwestliche Winde dorthin geführt hatten. + +Auf dem Südabhange, den wir südostwärts kreuzten, wiederholte sich +dasselbe orographische Relief, das wir beim Astin-tag gesehen hatten. +Der Sai, der harte Schuttkegel, fällt langsam nach einem neuen +Riesentale ab, das sich von Westen nach Osten zieht und im Süden von +einer neuen Bergkette, dem Tschimen-tag, begrenzt wird. Der Sai geht +in Kakir, horizontalen, im Wasser nach Regen abgelagerten Tonschlamm, +über. Hier lagen die Gerippe der beiden Pferde, die von Tscherdons und +Faisullahs Karawane gestorben waren. Endlich hob sich vom Ufer eines +kleinen Sees, der nur den Namen „+Köll+“ führt, einen halben +Kilometer Durchmesser hat und von Rasen umgeben ist, die Jurte ab. + +Seltsamerweise traten jetzt wieder Mücken und Bremsen auf, und +namentlich die ersteren plagten uns sehr, bis wir das Hauptquartier +in Tschimen-tag verlassen hatten. Sobald man einen Augenblick +stillsteht, wird man von ihnen umschwärmt; Pferde und Hunde werden +ebenso heftig angegriffen, aber die Haut der Kamele ist für ihre feinen +Folterwerkzeuge zu dick. Hier in den Bergen leben und regieren die +Mücken jeden Sommer 2½ Monate. Man wundert sich, daß ihre Larven die +hier im Winter herrschende strenge Kälte überdauern können. + +Am 10. Juli zogen wir schräg über das Tal nach Südosten und kreuzten +dabei verschiedene Rinnen, bis wir an die Schlucht Temirlik kamen, wo +wir an einigen von frischer Weide umgebenen Quellen rasteten. + +Es war eine wahre Feuerprobe, am folgenden Morgen mitten im ärgsten +Mückentanze die astronomischen Beobachtungsreihen auszuführen; die +Mücken nahmen immer die Gelegenheit wahr, wenn ich an den Schrauben +drehte und mich nicht verteidigen konnte. + ++Temirlik+ (2961 Meter über dem Meere) sollte später während +der Reise ein wichtiger Punkt werden. Auch jetzt stellten sich +mehrere Gäste in unserem Lager ein. Gleichzeitig mit uns kamen vier +Goldgräber aus den Gruben von Bokalik an; sie hatten sich ein paar +Monate im Gebirge aufgehalten, aber nicht so viel Gold gefunden, daß +es der Rede wert war, und kehrten daher mißmutig nach Chotan zurück. +Während des Ruhetages stieß die in Tscharchlik bestellte Maiskarawane +mit ihren fünf Führern und einem artigen Briefe des Ambans, den ich +S. 284 mitgeteilt habe, zu uns. Schließlich kamen auch Boten aus +dem Hauptquartier, wohin wir noch zwei Tagereisen hatten, mit der +Nachricht, daß dort alles gut stehe. + +Der eine war Chodai Värdi, „der von Gott Gegebene“, wie der Name +besagt, tatsächlich aber ein unangenehmer Kerl aus Jangi-köll, der +mir später einmal beinahe einen verhängnisvollen Streich gespielt +hätte. Der andere hieß Aldat und war afghanischen Stammes, wohnte +aber in Tschertschen. Er hatte in den Bergen überwintert, um Yake zu +schießen, deren Haut er an Kaufleute aus Kerija verhandelte. Er war ein +prächtiger, hübscher junger Mann, der jährlich als Nimrod in diesem +wilden Gebirge umherstreifte. Er wandert im Herbste hierher und nimmt +großen Munitionsvorrat mit. Die Flinte und der Pelz sind das einzige, +was er sonst noch zu tragen hat, und dann streift er den ganzen +Winter wie ein halbwilder Bergbewohner ohne Zelt und Proviant umher +und lebt von dem Fleisch der Yake, die er schießt, und stillt seinen +Durst aus den Quellen, die der ewige Schnee speist. Im Sommer kommen +dann seine Brüder mit Eseln, um die Yakfelle von seinen verschiedenen +Stapelplätzen abzuholen; sie schneiden die brauchbaren Stücke aus und +bringen sie nach Tschertschen. Islam hatte ihn engagiert, weil er +alle Gebirgsgegenden bis an den Fuß des Arka-tag genau kannte; weiter +südlich war Aldat aber nie gewesen. + +Aldat war ein seltsamer, aber sympathischer Mensch, hatte eine +Adlernase und einen Vollbart, sowie den harmonisch geformten Schädel +der arischen Rasse, ein Typus, dessen edle Züge durch keinen Tropfen +mongolischen Blutes verdorben waren. Das einsame, düstere, an +Entbehrungen reiche, aber dennoch fesselnde Leben, das er auf den +Bergketten und in den engen Tälern des Kwen-lun zu führen gewohnt war, +spiegelte sich wider in seinem wehmütigen Blicke, der zu grübeln und zu +fragen schien. Er war noch nicht lange bei uns, als er sich auch schon +gut zurechtfand. Er redete nie unnötigerweise, antwortete kurz und +klar auf Fragen und ging, die Flinte auf der Schulter, beinahe stets +für sich allein. Sein Gang war königlich; er schien über den Boden +hinzuschweben, wurde nie müde und verspürte nichts von dem ermattenden +Einflusse der Luftverdünnung. + +Ich fand großen Gefallen an Aldat und schlug ihm vor, sich an unserer +ersten Tibetexpedition zu beteiligen, was er ohne Zögern annahm. Das +Leben, das er führte, erschien mir ebenso unerklärlich wie verlockend. +Ich fragte ihn, was er anfange, wenn die Jagd fehlschlage und er nichts +zu essen habe. „Dann hungere ich,“ antwortete er, „bis ich wieder einen +Yak finde.“ Wo er schlafe? In Klüften und Schluchten, manchmal auch +in Höhlen. Ob er sich vor Wölfen fürchte? Nein, er habe Zunder, Stahl +und Stein und zünde allabendlich ein kleines Feuer an, an dem er sein +Yakfleisch brate; überdies vertraue er auf seine Flinte. Sich verirren? +Nein, das könne er nicht; er kenne alle Pässe und habe die Täler +unzählige Male durchstreift. Und das beständige Alleinsein falle ihm +durchaus nicht schwer; er habe keine anderen Freunde, die ihm fehlen +könnten, als seinen alten Vater und seine Brüder. + +[Illustration: 132. Aussicht nach Süden vom Lager Nr. 28 aus. (S. 330.)] + +[Illustration: 133. Bugsierung eines Kamels über den Fluß. (S. 339.)] + +[Illustration: 134. Fester Boden unter den Füßen. (S. 339.)] + +[Illustration: 135. Ein glücklich über den Fluß gebrachtes Kamel. (S. +339.)] + +Ein unruhig umherirrender Geist in Menschengestalt! Ich kann mir kaum +ein Land denken, in dem das Alleinsein unheimlicher ist als Tibet; die +Wüste wäre nicht schlimmer. Bei Tag geht es noch an, aber nachts, wenn +die Kälte die Haut schmerzen macht und die dunkeln Bergketten sich +unheimlich drohend im Mondschein erheben! Armer Aldat, wie manches Mal +war er müde und matt nach fehlgeschlagenen Hoffnungen an die einsame +Quelle gekommen, wo nur die Antilopen zu trinken pflegten, und hatte +sich, in seinen Pelz gehüllt, am Rande ihres Bettes hingelegt und +dort den langsamen Gang der Stunden der Nacht abgewartet. Und wenn +die Sonne, seine einzige Freundin in der Wildnis, endlich aufging, +geschah es nur, um ihn zu ermahnen, die Jagd nach wilden Yaken ohne +Rast und Ruh wie ein Spürhund fortzusetzen. Sein Leben war in Wahrheit +gefährlich, arm und groß, und, als er schon lange tot war, konnte +ich nicht verstehen, wie er es ausgehalten hatte; noch heute ist er +mir ein Rätsel. Ich hatte alles, dessen ich bedurfte, Diener, eine +Leibwache von Kosaken, Wächter und Hunde, aber dennoch war mir, wenn +der Schneesturm klagend um die Jurte sauste und die Wölfe in den Bergen +heulten, oft ganz wunderlich zumute. + +Die Leute, die mich auf dieser Reise nach dem Hauptquartier im +nördlichen Tibet begleiteten, sollten sich alle auf die eine oder +andere Weise auszeichnen. Turdu Bai war, wie schon erwähnt, der beste +Muselmann, den ich in meinem Dienste gehabt habe, und wenn er zugegen +war, war ich stets der Kamele wegen beruhigt. Schagdur war über jedes +Lob erhaben, und ich kann nicht Worte genug finden, um die Dienste, +die er mir leistete, zu würdigen. Er lernte alles, vergaß nichts und +brauchte nie erinnert zu werden, und ich hatte ihn stets gern in meiner +Gesellschaft. Es war ein gewisses Etwas an ihm, das ihn so sympathisch +machte. Ich bewunderte hauptsächlich seinen wilden, verwegenen Mut in +Gefahren und die Ruhe, mit der er schwere Aufgaben übernahm. Zweimal +hatte er später Gelegenheit zu zeigen, wie gern er sein Leben für mich +hingegeben hätte. Es war ein ebenso erhebendes wie wohltuendes Gefühl, +sich von solcher Treue in der blindesten, uneigennützigsten Gestalt, +die ich je kennen gelernt, umgeben zu wissen; daher hielt ich sehr viel +von diesem jungen burjatischen Kosaken, der in seiner Heimat vor den +Götzen des Lamaismus gekniet hatte, ihnen jetzt aber verächtlich den +Rücken kehrte. Es war nicht mein Verdienst, daß dies geschah, denn ich +fühlte mich nicht berufen, den Glauben der Asiaten zu erschüttern, wohl +aber gab das Leben in meiner Karawane sowohl Schagdur wie den anderen +mancherlei zu denken, wovon sie früher nie geträumt hatten. + +Tokta Ahun aus Abdall war ein durchaus ehrlicher Naturmensch, ein +verständiger Kerl, der mir von großem Nutzen war. Ich habe vorher +erwähnt, daß er sowohl die Pferde wie die Kamele nach Temirlik +begleitete und jetzt mit uns zum dritten Male in zwei Monaten die Reise +nach dem Hauptquartier hinauf machte, das kürzlich der Mücken halber +von dieser Quelle nach +Mandarlik+ (3437 Meter) verlegt worden +war. Da er bei einer späteren Expedition eine hervorragende Rolle +spielen wird, sage ich jetzt nichts weiter über ihn. + +Auch mit Kutschuk wird der Leser bald genauere Bekanntschaft machen; er +war ein prächtiger, außergewöhnlich tüchtiger Mensch. Auch Mollah Schah +war mit in Nordtibet. + +Bleibt also nur noch Mollah, der „Herr Doktor“, eine klassische +Erscheinung von fünfzig Lenzen, ein kleines, dürres, verhutzeltes +Männchen, ohne ein Härchen auf Kinn und Lippen, weshalb wir ihn +manchmal scherzend fragten, ob er nicht eigentlich ein verkleidetes +Weib oder im besten Falle ein Mongole sei, welche Reden für die +Gläubigen des Propheten gerade nicht schmeichelhaft sind. Er redete mit +einer Stimme, die scharf wie ein Pfriemen war, und schwatzte immer, +sogar abends, wenn keiner zuhörte. Doch er war sehr lustig, wußte gut +Bescheid und war bei allen beliebt. Auch Mollah Schah werde ich noch +genauer vorstellen, denn er begleitete mich auf der zweiten Expedition +nach dem Lop-nor. + +Der Abend wurde durch ein rasendes Gewitter aus Westen verherrlicht, +und die Windstöße drückten beinahe die Jurte nieder, die auf allen +Seiten verankert werden mußte. Ein strömender Regen durchweichte +unsere Wohnungen und machte den Boden schlüpfrig, und die Leute, +die den Mais gebracht hatten, kauerten sich unter den Filzstücken +und Sackleinwandstreifen, die sie zur Hand hatten, wie Murmeltiere +zusammen. Die jungen Hunde bellten wütend bei den Donnerschlägen, die +sie jetzt zum ersten Male hörten und wohl für irgendeinen unerlaubten +Spektakel in den Bergen hielten. Doch da es fortfuhr zu donnern, +beruhigten sie sich allmählich und knurrten nur noch leise. Schließlich +schienen sie dahinterzukommen, daß der Donner zum Stück gehöre und sich +durch Hundegebell nicht erschrecken lasse. + +Am 12. Juli gingen wir nach Osten über das Tal +Usun-jar+. +Hinter der trockenen Schlucht +Basch-balgun+ verlassen wir den +Vegetationsgürtel und reiten auf hartem, unfruchtbarem Kiesboden +weiter; links aber sehen wir noch immer den hellen Grasgürtel, der sich +bis an den Geröllfuß des Akato erstreckt, von wo aus die Karawane von +ein paar Kulan- oder wilden Eselherden neugierig betrachtet wird. + +Östlich von der Quelle +Kumutluk+ sieht man im Nordosten die +bedeutende Wasserfläche des +Gas-nor+ einen großen Teil des +Talgrundes einnehmen. Die Ufer sind von so heimtückischen Sümpfen +umgeben, daß man nur an einem einzigen Punkte an den See gelangen kann. +Sie glänzen hier und dort kreideweiß wie von Schnee, und das Wasser ist +scharf salzig. Im Westen des Gas-nor liegt eine kleine Süßwasserlagune, +Ajik-köll genannt, weil sich dort Bären von den Früchten der Sträucher +ernähren sollen. + +Bei +Tschiggelik+ (Binsenstelle, 2977 Meter) oder Dundu-namuk +(mittelste Quelle), wie die Mongolen den Platz nennen, wachsen +„Boghana“-Sträucher, Kamisch und Binsen; hier war die Luft buchstäblich +voll von Mücken und Moskitos, die uns ärger peinigten als je am Tarim +und ein Jucken wie von einem Ekzem hervorriefen. + +Jetzt hatten wir nur noch eine Tagereise vor uns. Wir ritten gegen +Süden das Tal von Mandarlik hinauf, das sich zwischen 8 Meter hohen +Geröllterrassen scharf markiert und höher oben von einem kristallhellen +Bach durchrauscht wird. Wir treten in dieses Quertal auf dem +Nordabhange des Tschimen-tag ein; die äußersten Felsausläufer lassen +wir hinter uns zurück, die Granitmassen mit ihren wilden, bizarren +Vorsprüngen rücken einander immer näher. Wendet man sich im Sattel um, +so sieht man wie durch ein breites Tor den Gas-nor und dahinter in der +Ferne den Kamm des Akato-tag. Das breite Tschimental läuft im Osten in +das Zaidambecken aus. + +In einer Erweiterung des Mandarliktales weiden unsere Pferde, Maulesel +und Kamele. Tscherdon, Islam, Faisullah und die anderen kommen uns zu +Fuß entgegen, und bald darauf sind wir wieder daheim in einem großen, +gut ausgestatteten Hauptquartier (Abb. 117, 118, 119). + + + + +Siebenundzwanzigstes Kapitel. + +Über den Tschimen-tag, Ara-tag und Kalta-alagan nach dem oberen +Kum-köll. + + +Vor dem Aufbruch zur ersten tibetischen Expedition gönnten wir uns +im Hauptquartier im Tale von Mandarlik eine Woche Ruhe. Es war +eine weidereiche, schöne, herrliche Gegend, die zwischen mächtigen +Granitfelsen eingeschlossen war. Auf einer Terrasse am linken Ufer des +munter rauschenden Flusses dieses Tales erhob sich unser wanderndes +Dorf. Die Kosaken und der Schneider Ali Ahun, der beständig vollauf zu +tun hatte, residierten in der großen mongolischen Jurte, hinter welcher +Schagdur aus mitgebrachten Brettern eine Einfriedigung zimmerte, um das +meteorologische Häuschen vor etwaigen Besuchen der Kamele zu schützen. +Die Muselmänner wohnten teils in zwei geräumigen Zelten, teils in den +schützenden Verschanzungen, die dadurch entstanden, daß die Kamellasten +und die Maissäcke in Kreisen und Reihen aufgestapelt wurden. Ich +selbst hauste in der kleinen Jurte, vor welcher alle meine Kisten +standen, die zum Schutze gegen die oft genug fallenden Regenschauer +mit einer weißen Decke zugedeckt waren. Die Aussicht talaufwärts war +großartig; im Hintergrund erhob sich der Hauptkamm des Tschimen-tag +mit seinen bei klarem Wetter blendenden Schneefeldern (Abb. 120). Die +Kamele, die jetzt fast zwei Monate im Gebirge geweidet hatten und bald +ins Feuer sollten, waren rund wie Tonnen und glänzten vor Fett. Auch +die anderen Karawanentiere hatten es in jeder Beziehung gut. Von der +Schafherde waren noch 42 Stück da; die verlorenen Hunde wurden durch +drei zugelaufene ersetzt, welche halbwilde Deserteure von den nächsten +mongolischen Lagerplätzen in Tschurchak waren. + +Nach diesem Orte machte Schagdur einen Ausflug und wurde dort sehr +freundlich aufgenommen. Die Mongolen versprachen uns alles, was wir +an Tieren brauchen würden, zu verkaufen, und hofften, daß ich ihnen +gelegentlich einen Besuch abstatten würde. Tscherdon ritt eines Tages +talaufwärts, stieß dort auf eine Herde von 50 Yaken und erlegte eine +prächtige fette Kuh. Ich beschäftigte mich mit Beobachtungen und +Exkursionen und bereitete die nächste Reise vor. Proviant für sieben +Mann auf 2½ Monate wurde beiseite gestellt. Alle überflüssigen +Gäste, die unser Lager bevölkerten, wurden fortgeschickt. + +Im Hauptquartier blieben Islam als Karawan-baschi, Faisullah als Hüter +der vier Kamele von Abdall, Chodai Kullu, Kader und Chodai Värdi zur +Besorgung der Pferde, Ali Ahun als Schneider und Schagdur als Bedeckung +und Meteorolog. Er sollte die ganze Zeit über täglich dreimal ablesen +und die selbstregistrierenden Instrumente in Gang halten. Musa aus Osch +sollte uns bis an den Kum-köll mit sechs Pferden begleiten, die dazu +bestimmt waren, anfangs den anderen Tieren die Lasten zu erleichtern, +und Tokta Ahun sollte von dort mit ihm umkehren. Letzterer hatte +gebeten, den Sommer in Mian, wo er Weizen baute, zubringen zu dürfen, +erhielt aber Befehl, sich in 2½ Monaten wieder bei uns einzufinden +und dann ein halbes Dutzend Kamele mitzubringen. + +Die Karawane war mit besonderer Sorgfalt ausgewählt und folgendermaßen +zusammengesetzt: Tscherdon als meine rechte Hand, Zelterrichter, +Kammerdiener und Koch, Turdu Bai als Karawan-baschi für die sieben +Kamele, Mollah Schah als solcher für die elf Pferde und einen Maulesel, +Kutschuk als Ruderer für die geplanten Seefahrten. Nias aus Kerija, +ein Goldgräber, den wir im Gebirge getroffen hatten, sollte als +Handlanger der höhergestellten Muselmänner fungieren, und Aldat war +so weit Wegweiser, als seine Kenntnis der Gegend reichte. Jolldasch +kam natürlich mit und wohnte, wie gewöhnlich, in meiner Jurte. Von den +übrigen Hunden nahmen wir nur Maltschik mit, sowie einen großen, gelben +Mongolenhund, der einem Wolfe glich. Die zurückbleibenden Hunde zausten +die abreisenden, mit denen sie nicht in Eintracht gelebt hatten, zum +Abschiede noch tüchtig im Nacken. Von den Schafen wurden sechzehn +mitgenommen, die der Goldgräber Nias hinter der Karawane hertrieb. + +So zogen wir denn fort aus den Wohnungen des Friedens, unbekannten +Schicksalen in unbekannten Teilen der Erde entgegen, und der Klang der +Glocken und Schellen hallte von Mandarliks Granitfelsen wider (Abb. +121). Bald ließen wir das Haupttal, das sich bis an die Schneefelder +hinauf zu erstrecken schien, rechts liegen und folgten einem kleinen, +wasserlosen Tale. Von einem kleinen Passe zweiter Ordnung läuft nach +Südosten ein von Jägern und Goldgräbern ausgetretener Pfad, der uns +über ausgedehntes, kupiertes Weideland führt. + +Obgleich wir im Zickzack über Hügel und Pässe auf und nieder wandern, +gelangen wir doch allmählich in immer höhere Regionen. + +Im Tale +Kar-jakkak+ (der fallende Schnee) fing die Natur schon +an, einen mehr alpinen Charakter anzunehmen. Die absolute Höhe betrug +3984 Meter. Ein klarer Bach rieselte zwischen rundgeschliffenen +Granitstücken, und auf seinen Uferwällen waren niedliche Blumen in +üppiges Moos und Gras eingebettet. Überall war Überfluß an Kulan- +und Yakdung, der uns gute Feuerung lieferte. Ein paar Yakschädel +verkündeten, daß Jäger die Gegend besuchen, wo ihnen eine Höhle mit +Feuerherd als Nachtlager dient. Das Murmeltier (Dawagan) hatte an +mehreren Stellen seine Löcher in den Boden gegraben; die lebhaften, +achtsamen Nagetiere saßen an den Eingängen ihrer Wohnungen und pfiffen, +wenn wir herannahten. Rebhühner gackerten geschäftig auf den Berghalden. + +Im oberen Teile dieses einladenden Tales schlugen wir Lager. Allerdings +waren wir nicht sehr weit gekommen, aber ausgeruhte Tiere unter +schweren Lasten dürfen zu Anfang nicht angestrengt werden. Das Gepäck +wird mit der Zeit leichter, ja der Proviant vermindert sich leider +viel zu schnell, und gegen ihn spielt das Gewicht der gesammelten +Gesteinproben keine Rolle, obwohl auch diese schließlich zu einer nicht +unbedeutenden Last anwachsen. + +Wir hatten Mandarlik bei stechendem Sonnenbrand und Mückenspiel +verlassen, aber schon jetzt sahen wir uns vom kalten Herbst umgeben. +Als ich am anderen Morgen aus der Jurte trat, herrschte vollständiger +Winter; der Schnee fiel in dichten Flocken, und der Boden verschwand +unter einer kompakten Schneedecke. Mitten in Asien Mitte Juli +vollständiger Winter! Wenn der Sommer schon so ist, bekommt man Respekt +vor dem Winter in diesen Bergen. + +Wir warteten besseres Wetter ab, aber das Schneien dauerte fort, und +der Tag war verloren. Bisweilen fiel der Schnee nicht in Flocken, +sondern in runden Hagelkörnern, die kräftig auf das Dach der Jurte +schmetterten. Die Temperatur hielt sich etwas über Null, und gegen +Mittag taute der Schnee auf der Jurte auf und tropfte durch alle Säume +hinein. + +Diese vierte Parallelkette des Kwen-lun-Systems zeigte sich schon bei +der ersten Bekanntschaft den vorhergehenden sehr unähnlich. Letztere +waren trocken, hatten keinen ewigen Schnee und besaßen abgerundetere +Formen; hier waren wir in wirklichen Alpen mit Niederschlägen und +reicher Vegetation. Bisher hatten wir 13-14 Stunden von einer der +spärlich vorkommenden Quellen zur anderen wandern müssen; hier fanden +wir auf Schritt und Tritt Wasser. + +Obgleich das Schneien auch am 22. Juli fortfuhr, beschlossen wir +trotzdem aufzubrechen. Der weiche Boden war glatt und tückisch, aber +die Kamele kamen doch gut vorwärts. In den Tälern fiel der Schnee in +großen, federleichten, feuchten Flocken, die verschwinden, sobald sie +den Boden berühren, der nach und nach durchtränkt und naß wird. Auf +den Höhen fiel er in Gestalt runder, leichter Graupeln. Diese sind +für den Reitenden angenehmer, weil sie leicht herunterrollen, während +man von den Flocken naß wird. Es tropft von der Mütze; die Hände sind +naß und steif, das Kartenblatt wird knitterig und ruiniert. Der Blick +dringt nicht weit, man erhält keinen Überblick über die Anordnung und +Gestalt der Bergkämme. Nur im Norden wurde es ein paarmal hell, und man +erblickte wie durch einen Tunnel den kuppelförmigen, flach gewölbten +Rücken des Akato. + +Der Tagemarsch führte in einem Bogen um einen mächtigen Teil des +Tschimen-tag, immer bergauf und bergab. Nach all diesem durchkältenden +Schnee war es schön, in +Jappkaklik-sai+ (3998 Meter), wo Teresken +wachsen, die Weide aber kümmerlich ist, rasten zu können. + +Die Temperatur sank abends unter Null; der Schnee blieb daher liegen +und häufte sich zu einer dicken Schicht an, da er den ganzen Abend +außerordentlich dicht fiel. Eigentümlicherweise war es dabei von Zeit +zu Zeit im Zenit so klar, daß wir die Sterne funkeln sahen, während der +Schnee in gewaltigen Flocken durch die Luft wirbelte. Ein Vorteil war, +daß er nicht mehr schmolz, sondern sich wie eine wärmende Decke auf und +um die Jurte legte. Die Temperatur ging auf -4,8 Grad herab. + +Als am nächsten Morgen der Tag graute, wurde ich von einem +entsetzlichen Lärm im Lager geweckt und eilte hinaus. Der Hirt Nias und +alle Schafe, bis auf vier, wurden vermißt, und an den Spuren im Schnee +konnte man leicht erkennen, daß uns während der Nacht Wölfe in dem +Schneesturm und der dabei herrschenden undurchdringlichen Finsternis +einen Besuch abgestattet hatten. Sofort wurden alle Mann auf die Fährte +losgelassen, und Tscherdon nahm seine Flinte und stieg zu Pferd. Erst +gegen 10 Uhr kamen sie mit Nias und einem Schafe wieder. Neun der +übrigen hatten sie hier und dort zwischen den Hügeln erfroren gefunden; +nur eines fehlte ganz. + +Den Hergang beschrieb Nias folgendermaßen. Er hatte wie gewöhnlich +im Freien unter einem Filzteppich neben seinen Schafen geschlafen, +von denen nur vier angebunden gewesen waren; wenn nämlich nur einige +stillstehen, bleiben die übrigen auch an der Stelle. Mitten in der +Nacht hatten ihn Tritte im Schnee und das Blöken der Tiere, das jedoch +das Heulen des Sturmes nur schwach durchdrang, aus dem Schlafe geweckt. +Er fuhr in die Höhe und sah drei Wölfe, die gegen den Wind auf die +Schafe losfuhren, um sie aus dem Lager zu treiben. Nias verfiel gar +nicht darauf, erst die anderen Leute zu wecken, sondern stürmte, ohne +sich zu besinnen, zu Fuß den Schafen nach. Er war die ganze Nacht wie +ein Verrückter hinter ihnen hergelaufen, hatte aber nur das eine retten +können. Der schlaue Angriffsplan war so gut geglückt, daß die Hunde +nichts gemerkt hatten. Der „Mongole“ war schon wieder durchgebrannt, +Jolldasch schlief in meinem Zelte, und der unerfahrene Maltschik lag, +wie ein Igel zusammengerollt, hinter dem Zelte der Leute. Es nützte +wenig, daß die Leute über alles, was Wolf heißt, fluchten und die +Graubeine verwünschten; unser Proviant war und blieb schwer geschädigt. +Aber Schafe sind und bleiben Schafe; warum mußten sie den sicheren +Hafen des Lagers verlassen und ihren listigen Feinden gerade in den +Rachen laufen? + +Als wir dieses traurige Lager verlassen hatten und unseren Weg nach dem +Passe hinauf fortsetzten, waren wir sehr erstaunt, das vermißte Schaf +über die Hügel galoppieren zu sehen, wobei es uns erschreckt, wild und +vorsichtig betrachtete und anscheinend nicht recht wußte, ob es uns für +Freunde oder Feinde halten sollte. Doch sobald das arme Tier seine fünf +Kameraden erblickte, gesellte es sich auf der Stelle zu ihnen. Es war +wohl die ganze Nacht umhergeirrt, hatte sich zu seinem Glücke von den +anderen getrennt und war so den Wölfen entwischt, die es übrigens, als +sie sich ertappt sahen, für gut befunden hatten, sich zurückzuziehen. + +Der Tag war klar und herrlich, und der Schnee schmolz weg. Wir +schritten nach dem Hauptpasse des +Tschimen-tag+ (4269 Meter) +hinauf, von wo aus man nach Süden ein stattliches Panorama vor sich +hat. Eine neue Bergkette, der Ara-tag, zieht sich von Westen nach Osten +hin; er ist jetzt ganz mit Schnee bedeckt, obwohl nur einige Gipfel im +Südwesten wirkliche Firnfelder tragen. Das breite Längental zwischen +Tschimen-tag und Ara-tag heißt einfach +Kajir+ (Lehmschlammtal) +und wird von einem Flusse durchströmt, der nach Westen fließt. Wo er +blieb, machten wir später ausfindig. + +Von dem orographischen Bau des Tschimen-tag will ich jetzt nur sagen, +daß er Mangel an Ebenmaß zeigt. Das Tschimental liegt 2961 Meter über +dem Meere, das Kajirtal 4185 Meter, weshalb wir hier eine Stufe höher +nach dem nordtibetischen Plateau hinauf gelangt sind. Wenn man den +Tschimen-tag von Norden betrachtet, hat man eine gigantische Bergkette +vor sich; von Süden gesehen, erscheint er unbedeutend, weil der +relative Höhenunterschied gering ist. + +[Illustration: 136. Salzsee bei Lager Nr. 35 (27. Aug. 1900). Aussicht +nach Nordosten. (S. 341.)] + +[Illustration: 137. Salzsee bei Lager Nr. 35 (27. August 1900). +Aussicht nach Südosten. (S. 341.)] + +Auch in diesem Lager hatten wir ein kleines Abenteuer mit den Schafen. +Als ich wie gewöhnlich nach der meteorologischen Ablesung die +Abendrunde machte, stellte sich heraus, daß von den sechs Schafen nur +zwei angebunden waren. Da aller Wahrscheinlichkeit nach auch hier Wölfe +umherstreiften, befahl ich, daß alle Schafe angebunden werden sollten. +Doch als die vier losen Schafe gebunden werden sollten, jagte ihnen +dies einen solchen Schreck ein, daß sie in wilder Flucht ins Gebirge +hinaufrannten. Trotzdem es schon pechfinster war, eilten ihnen alle +Mann nach, und eine halbe Stunde lang hörte ich verhallende Rufe von +den Hügeln. + +Schließlich kam Tscherdon mit zweien wieder, die er mit dem Lasso +glücklich eingefangen hatte. Erst nach zwei Stunden näherte sich die +Treibjagd auf die anderen wieder dem Lager; aber die armen Tiere waren +derartig verängstigt, daß es unmöglich schien, sie zu ergreifen. +Schließlich gelang es freilich, aber nur durch List. Erst wurden sie +talabwärts getrieben und dann in Schlingen gefangen. Sie wurden von nun +an immer angebunden, bis sie der Reihe nach geopfert wurden, um nicht +den Wölfen, sondern uns selbst zugute zu kommen. + +Von herrlichem Wetter begünstigt, bereiteten wir uns am Tage +darauf unter tiefblauem Himmel, ohne ein Wölkchen, ja ohne einen +Luftzug, auf die Erstürmung der nächsten Verschanzung in Nordtibets +Randgebirgen, des +Ara-tag+ (Zwischenkette), vor. Auf dem Passe ++Ak-tschokka-aituse+ (der weiße Felsenpaß, 4373 Meter) wiederholte +sich das Panorama von gestern, nur sah man jetzt eine neue westöstliche +Kette, den +Kalta-alagan+ (Kaltas Jagdgebiet), von dem der Ara-tag +durch ein neues Längental geschieden wird, das sich weiter westwärts +mit dem vorhergehenden vereinigt. Der vereinigte Fluß durchbricht +darauf den Tschimen-tag und strömt in das Tschimental. + +Zwei prächtige Kulane sprengten in unserer unmittelbaren Nähe heran und +guckten über die hohe Terrasse; man hätte sie für zahme Pferde halten +können. Als sie uns erblickten, stoben sie davon und setzten quer über +das Tal, wobei sie mit unglaublicher Gewandtheit an dem jähen Abhange +herab- und ebenso sicher an dem gegenüberliegenden hinaufkletterten, um +im Nu zwischen den Hügeln zu verschwinden. + +Die Unseren waren weit voraus. Ich wurde beständig durch Beobachtungen +auf Pässen und in Tälern, Sammeln von Gesteinproben, Photographieren, +Skizzieren usw. aufgehalten. Tokta Ahun kannte freilich einen Weg nach +Südwesten über die nächste Kette, aber aus den Spuren ersahen wir, daß +Aldat den Weg nach Osten durch das Haupttal hinauf eingeschlagen hatte. + +In einem Seitental mit magerer Weide manövrierte eine Herde von zehn +Kulanen und zwei kleinen Füllen, die erst ein paar Tage alt sein +konnten; sie waren nett und geschmeidig und folgten ohne Schwierigkeit +dem schnellen Laufe der älteren, als diese uns vorn und auf den Seiten +umkreisten und unser Tun und Lassen mit größtem Interesse beobachteten. + +Noch immer ging es höher hinauf; über einen hügeligen Paß gelangten wir +in ein anderes, tief und energisch eingeschnittenes Tal. Es begann zu +dämmern und kalt zu werden, und wir sehnten uns nach dem Anblicke der +Rauchsäule, die wie gewöhnlich verkünden sollte, daß die Karawane einen +geeigneten Lagerplatz gefunden. Doch die Spur schlängelte sich immer +weiter aufwärts, und soweit der Blick reichte, sah man keine Zelte. Die +Vegetation nahm ab, und wir näherten uns immer kälteren Regionen. + +Es war klar, daß die Karawane den Weg über den Paß hinüber fortgesetzt +hatte; doch nach dem mächtigen Flusse zu urteilen, dessen Tal wir +folgten, mußte der Paß über den Kalta-alagan noch weit entfernt sein, +und wir zerbrachen uns den Kopf darüber, weshalb die anderen einfach +drauflosgegangen waren und nicht da Halt gemacht hatten, wo es noch +Brennholz und Weide gab. Bei Sonnenuntergang ballten sich schwere, +drohende Wolken zusammen; als es aber dunkel geworden war, zerteilten +sie sich wieder, und eine sternklare Nacht brach herein. Die Berge +verschmolzen immer mehr zu schwarzen Silhouetten, und die Kartenarbeit +konnte nur mit Schwierigkeit fortgesetzt werden. Der Bach war noch +groß und das Tal mit Schutt angefüllt, trotzdem aber sahen wir noch +die Spur, die um einen Felsvorsprung bog und in ein kleines Nebental +hineinging, das anscheinend nach einem näheren Passe hinführte. + +Jetzt war alle Arbeit unmöglich. Was tun? Einfach in der Nacht +weiterreiten, war keine Kunst, aber es durfte mir nicht passieren, daß +ich in meiner Karte eine Lücke entstehen ließ, noch dazu an einem so +wichtigen Punkte, wo es sich darum handelte, einen Paß erster Ordnung +zu überschreiten. Ich blieb daher einfach da, wo wir waren, und befahl +Tokta Ahun weiterzureiten, bis er die Karawane erreichte, und dann mit +meiner Jurte und meinen Kisten zurückzukehren. + +Währenddessen hatten Tscherdon und ich es in der nächtlichen Kälte +und Dunkelheit in diesem Lager, das 4652 Meter über dem Meere lag, +nichts weniger als gemütlich. Um 9 Uhr beschäftigten wir uns mit +den meteorologischen Ablesungen. Dann waren wir der Untätigkeit und +Erwartung preisgegeben. Wir kauerten uns dicht nebeneinander nieder, +um uns warm zu halten, und unterhielten uns von ähnlichen Lagen, in +denen wir uns früher einmal befunden hatten. Tscherdon hatte in dieser +Hinsicht von den Manövern in Transbaikalien nicht viel zu berichten, +ich aber hatte in Persien inmitten der Schakale im Freien gelegen, +war am Ufer des Kara-kul im Pamir beinahe erfroren und hatte viele +unheimliche Nächte in der Takla-makan-Wüste durchwacht. + +Zum Schlafen war es zu kalt; die Kälte wurde immer stärker, wir +hatten keine Pelze und mußten uns bewegen, um nicht zu erfrieren. +Aber schließlich macht sich nach elfstündigem Ritt und all der damit +verbundenen Arbeit Müdigkeit geltend, und der Kopf wird einem wüst und +schwer. So krochen wir denn wieder zwischen zwei Felsblöcken, die uns +Schutz gewährten, zusammen. Langgezogenes Wolfsgeheul in der Ferne +ermunterte uns wieder, die Flinte wurde in Bereitschaft gehalten und +die ungeduldig zwischen den Steinen scharrenden Pferde in unserer +unmittelbaren Nähe angebunden. Hätten wir nur Feuer anmachen können, +so wäre die Lage weniger ungemütlich gewesen, doch wie wir auch in der +Nachbarschaft umhersuchten, wir fanden weder Yakdung noch Teresken. Es +war zu dunkel; man konnte nur mit den Händen umhertasten, und es blieb +uns nichts weiter übrig, als durch Stampfen und Armbewegungen dafür zu +sorgen, daß der Blutumlauf nicht ins Stocken geriet. + +Nach fünf unendlich langen Stunden hörten wir Hufe auf dem Schutte +klappern. Kutschuk und Tokta Ahun kamen mit zwei Pferden und der +Jurte. Eine halbe Stunde später erschien Turdu Bai mit den Kisten +und Küchengeschirr auf Kamelen. Sie schoben alle Schuld auf Mollah +Schah, der mit den Pferden weitergezogen sei, als Aldat ihm von einem +guten Weideplatze an einer kleinen Quelle jenseits des Passes erzählt +habe. Sie brachten einen Sack voll Feuerung mit, und das Mittagessen +schmeckte nach siebzehnstündigem Fasten gar zu schön. Es graute schon +über den kahlen Bergen, als wir uns schlafen legten. + +Ermattet von den Anstrengungen des Tages und der Nacht kamen wir am +folgenden Morgen nicht vor 10 Uhr in Gang; nun wurde die noch fehlende +Strecke nach dem Lager Nr. 14, wo die übrigen warteten, zurückgelegt. +Der Anstieg nach dem +Awraspasse+ (4786 Meter), auf dem wir den +Kalta-alagan überschreiten, ist ganz unbedeutend. Hier entrollt sich +uns eine unendlich weitgestreckte, großartige Aussicht nach Süden; aber +jetzt handelt es sich nicht mehr um eine einzige, leicht orientierte +Bergkette, sondern um eine ganze Welt von Bergen, deren richtige +Einteilung Monate in Anspruch nehmen würde. + +Von dem Passe führt ein trockenes Quertal auf offenes, flaches Terrain +hinab. Bei einigen Hügeln, wo eine Quelle entspringt, hatte die +Karawane am vorhergehenden Abend das Lager aufgeschlagen. Mollah Schah +und Musa erhielten für ihren unnötig langen Marsch gehörige Schelte. + +26. Juli. Jetzt ging es nach Westen weiter, in rechtem Winkel gegen die +Route der letzten Tage und in der Richtung nach dem oberen Kum-köll, +der mit dem Fernglase in der Ferne zu sehen war, später aber wieder +durch kleine Hügel und Bodenanschwellungen verdeckt wurde. Auch jetzt +marschierten wir in einem großen, breiten Längentale, das den Südfuß +der mächtigen Kalta-alagan-Kette begleitet. Im Süden begrenzt unser +Tal ein kolossaler Sandgürtel, der mir anfangs eine kleinere, mit den +übrigen parallellaufende Kette von Hügeln zu sein schien, sich aber, +als wir näherkamen, als eine Reihe von Dünen entpuppte, die beinahe +ebenso gewaltig waren wie in der Takla-makan und die gleiche Farbe +hatten. Dieselben Vorbedingungen für die Entstehung eines Sandmeeres, +die in der Wüste vorhanden sind, finden sich also auch hier auf 4000 +Meter Höhe vor. Die nördliche Grenze des Sandgürtels markiert sich +außerordentlich scharf gegen den weichen oder kiesigen Talboden, wo die +Tereske und andere Brennholz liefernde Büsche zerstreut wachsen. Die +Dünenkämme ziehen sich in nord-südlicher Richtung hin und scheinen von +vorwiegend westlichen Winden gebildet worden zu sein. + +Mit dem Sande zur Linken und dem Kalta-alagan zur Rechten wurde der +Tagemarsch recht einförmig. Das einzige, was dem Auge ein wenig +Abwechslung gewährte, war das Tierleben. Kulane waren den ganzen Tag +außerordentlich zahlreich; wir sahen sie überall auf den gleichmäßig +und langsam nach dem See abfallenden Steppen grasen und auch +miteinander kämpfen. + +Die Murmeltiere beobachteten uns von ihren Löchern aus. Sie sahen zu +drollig aus, wenn sie auf den Hinterbeinen standen und die Vorderpfoten +über der Brust kreuzten. Erst wenn die Hunde ganz nahe sind, stürzen +sie sich Hals über Kopf in ihre Höhlen. Auch Hasen waren häufig, und +Wildenten sah man nach dem See fliegen. Die Mücken machten einen +Angriff, der jedoch bald nach Sonnenuntergang endete. Den ganzen Tag +herrschte Sommer; die Mittagstemperatur stieg auf +20 Grad, und es kam +uns heiß vor, weil die Luft windstill war; man würde die bedeutende +Höhe vergessen haben, wenn nicht selbst geringfügige Bewegungen Atemnot +und Herzklopfen verursacht hätten. + +Während des Rittes wurden zwei Kulanfüllen lebend gefangen. Aldat +und Tscherdon ritten auf eine Herde von 34 Tieren zu, die bei ihrem +Herannahen die Flucht ergriff. Eine Mutter aber blieb mit ihrem +viertägigen Füllen zurück. Als sie die Gefahr näherkommen sah, ließ sie +das Junge im Stich und vereinigte sich mit der Herde. Das Füllen blieb +ruhig stehen und ließ sich ergreifen, ohne auch nur einen Versuch zur +Flucht zu machen. Aldat nahm es vor sich auf den Sattel, dann wurde +es, in eine Filzdecke gewickelt, auf ein Kamel gelegt. Es schien diese +Beförderungsart ganz natürlich zu finden, aber es war auch noch nicht +lange her, seit es von der Mutter in wiegendem Gange über diese Berge, +die sein Aufenthaltsort werden sollten, getragen worden war. Das andere +Füllen wurde auf dieselbe Weise beim Lager Nr. 15 gefangen. + +Als ich im Lager anlangte, liefen die Füllen ganz ungeniert umher +und zeigten keine Spur von Furchtsamkeit, wenn man sie streichelte +(Abb. 122, 123). Es war mein Wunsch und meine Absicht, den Versuch zu +machen, sie mit Mehlgrütze großzuziehen, bis sie sich selbst ernähren +konnten, was im Alter von 20 Tagen geschehen soll. Wir würden sie mit +der größten Liebe gepflegt haben und sie hätten uns über die Höhen +ihres Heimatlandes begleitet. Doch als wir über die Sache sprachen, +versicherte Tokta Ahun, daß sie binnen fünf Tagen sterben würden; er +habe achtmal versucht, Kulane aufzuziehen, aber es sei stets mißlungen. + +Nun befahl ich, daß sie nach dem Platze, wo sie gefangen worden, +zurückgebracht werden sollten, damit ihre Mütter sie leicht +wiederfinden könnten. Tscherdon und Aldat stiegen sofort zu Pferde, +aber Tokta Ahun sagte, daß dies nichts nützen würde. Er habe die +Erfahrung gemacht, daß die Mutter, deren Junges man gefangen und +berührt habe, von ihrem Kinde nichts mehr wissen wolle, sondern das +Füllen wie einen Pestkranken fliehe. Sie scheine ihr verlorenes Kind +weder zu vermissen noch zu betrauern, sondern fliehe mit der übrigen +Herde und wolle nicht wieder nach dem Platze zurück. + +Hätten wir dagegen eine Stute gehabt, so wäre das Aufziehen sicher +möglich gewesen. Im Tschimentale sollen jährlich Massen von Füllen +umkommen, weil sie in den ersten Tagen ihres Lebens den älteren +Kulanen nicht folgen können, wenn diese vor einer drohenden Gefahr die +Flucht ergreifen. Sie verhungern oder werden eine Beute der Wölfe. +Wahrscheinlich vermögen die älteren jedoch sich zu einer geordneten +Verteidigung gegen diese Raubtiere aufzuschwingen; sonst würde die neue +Generation gar zu arg mitgenommen werden. + +Inzwischen wurden unsere kleinen Gäste im Lager gehegt und gepflegt +und lernten leicht die Mehlsuppe hinunterschlürfen. Doch sie waren dem +Untergange geweiht, und als sie schon am Abend anfingen hinzusiechen +und heftiges Verlangen nach der Muttermilch verrieten, ließ ich sie +schlachten; es war der einzige Dienst, den ich diesen Kindern der +Wildnis, die sonst in die Krallen der Wölfe gefallen wären, leisten +konnte. Die Muselmänner nahmen die Häute und das Fleisch, das sie für +besonders zart und wohlschmeckend hielten, mit. + +Ehe die Füllen geschlachtet wurden, photographierte ich sie mehrere +Male. Das eine war 90, das andere 91 Zentimeter hoch. Der Kopf ist +unverhältnismäßig groß, und die Beine sind im Verhältnis zum Leib +geradezu lächerlich lang entwickelt, aber diese Glieder sind ja auch +dasjenige, dessen sie zuvörderst und am meisten bedürfen. Der Leib +ist sehr kurz und zusammengedrückt und gibt kaum eine Andeutung von +den edeln, harmonischen Formen, welche die ausgewachsenen Kulane +kennzeichnen. Die, welche wir fingen, waren noch zu unerfahren, um das +geringste Erstaunen über Menschen, Kamele und Zelte zu zeigen. Eine +Woche später hätten sie sich weder fangen lassen noch wären sie unter +uns umhergegangen, ohne einen Fluchtversuch zu machen. Man konnte sich +durch Hinhalten eines Fingers überzeugen, ob sie hungrig waren; sie +fingen dann an, eifrig zu saugen. + +27. Juli. Nachdem die Minimaltemperatur in der Nacht knapp +1 +Grad geblieben war, folgte wieder ein warmer, herrlicher Tag. Die +Längentäler haben im allgemeinen ein gemäßigteres Klima, sie bilden +aber auch die relativ niedrigen Gegenden des Hochlandes. Als wir uns +zum Aufbruche rüsten wollten, stellte sich heraus, daß die Pferde +fortgelaufen waren und sich talaufwärts nach den besseren Weideplätzen, +wo sich die Kulane aufhielten, begeben hatten. Mollah Schah mußte eine +halbe Tagereise zu Fuß machen, um sie zu suchen, und kam erst gegen 11 +Uhr wieder. + +Wir hatten bei +Bulak-baschi+ (erste Quellen) gelagert und +ritten von dort nach Westen. Rechts haben wir den ganzen Tag eine +ununterbrochene Reihe von Sümpfen, Mooren und Tümpeln. Das Gras ist +üppig, aber der Boden trägt nicht einmal einen Fußgänger, sondern +ist außerordentlich tückisch und gefährlich. Einige Becken sind ein +paar hundert Meter lang. Das Wasser, welches sie speist, sprudelt in +unzähligen Quelladern unter dem Sande hervor; diese vereinigen sich +weiter unten zu einem Flusse, der am Ostende des Kum-köll mündet. + +Wir spähten nach dem See aus. Endlich trat im Westen sein heller +Streifen hervor. Der Tag war warm und ruhig, die Mücken lästig, und +eine Bremsenart, „Ila“ genannt, peinigte die Pferde und machte sie +durch Eindringen in ihre Nüstern unruhig und aufgeregt. Die Kulane +schützen sich gegen diese Insekten dadurch, daß sie die Nüstern +beim Grasen dicht am Boden halten, die Orongoantilopen, indem sie +an den heißen Tagen im Sandgürtel bleiben und erst abends nach den +Weideplätzen herunterkommen. + +Die Yake schützen sich auf dieselbe Weise, gehen aber tiefer in den +Sand hinein, weshalb wir sie auf dem heutigen Ritte nicht sahen, +während wir überall Fußspuren und Dung von ihnen erblickten. Als aber +gegen 4 Uhr ein heftiges Unwetter mit Hagel und Regen losbrach, mochten +sich die Yake sagen, daß ihre Feinde sich zurückziehen würden, und nun +erschienen sie truppweise auf den Dünenkämmen. Erst sahen wir eine Kuh +mit ihrem Kalbe den steilen Abhang herunterrutschen; sie erblickte +uns rechtzeitig und kehrte sofort wieder um. Dann zeigte sich eine +große Herde von mehr als 30 Tieren, die sich in einer Reihe auf einem +mächtigen Dünenkamme aufstellten und sich durch die Karawane nicht +erschrecken ließ. Ich mußte eine Weile halten und diesen wirklich +stattlichen Anblick durch das Fernglas genießen. Die Tiere hoben sich +mit außerordentlicher Schärfe rabenschwarz vom gelben Hintergrund ab. +Sie waren auf dem Wege nach ihren Weideplätzen am See, als sie sich +davon abgeschnitten sahen. Man konnte beinahe beobachten, welchen Genuß +ihnen der noch immer auf die Erde klatschende Regen bereitete. Die in +dieser Gegend lebenden Yake sollen immer dieselbe Taktik befolgen, um +den Bremsen zu entgehen. Die ganze Nacht gehen sie auf die Weide, bei +Sonnenaufgang aber sieht man sie wieder den Rückzug nach den Dünen +antreten, wo sie ruhig bleiben, bis die Dunkelheit einbricht oder ein +Sturm sie wieder herunterlockt. + +Die Reihe der Sanddünen nahm vom Regen einen dunkleren Farbenton an. +Man meint, solch ein heftiger, plätschernder Regen müsse alles in einen +Brei verwandeln, aber nicht einmal die scharfen Kanten der Dünen werden +dadurch verändert, und die Regentropfen vermögen nur kleine Gruben auf +der Oberfläche hervorzubringen. Der Sand nimmt nach und nach an Höhe ab +und tritt weiter zurück; rechts haben wir den See, dessen Südufer sich +nach Nordwesten hinzieht; hier grasten 14 große Yake. + +Tscherdon, der mit mir ritt, konnte seine Augen nicht von ihnen +abwenden und bat schließlich, ob er nicht sein Glück versuchen dürfe. +Er schlich sich wie eine Katze nach einem gewaltigen Stiere hin; da +dieser aber ruhig stehenblieb und ihn nur wütend, ohne eine Spur von +Furcht betrachtete, wurde Tscherdon dabei unbehaglich zumute und er +trat ohne Blutvergießen den Rückzug an. Ich hatte ihm anempfohlen, +sich mit den Yaken vorzusehen und sich lieber nicht allein auf eine +solche Jagd einzulassen, weil der Yak, wenn er verwundet wird, oft den +Schützen angreift. + +Ein wenig weiter vorn erblickte Tscherdon einen einsamen, vier Monate +alten Wolf, dem er im Galopp nachsetzte und den er auch glücklich +einfing. Der Gefangene blieb gefesselt im Lager. Die Hunde behandelten +ihn mit größter Gleichgültigkeit, aber die Leute gaben ihm alle +möglichen liebenswürdigen Ehrentitel, in Erinnerung an die neun Schafe, +die jetzt gerächt werden sollten. Tokta Ahun riet mir, gut auf die +Schafe aufpassen zu lassen, denn die Wölfin, die wahrscheinlich ihre +Höhle in der Nachbarschaft habe, werde ihr Junges schwerlich aus dem +Auge verlieren und, wenn ihm etwas Böses widerführe, an den Schafen +Rache nehmen. Zweimal hatte er junge Wölfe gefangen, und beide Male +hatten ihm die älteren Wölfe einen Esel zerrissen. Ausgewachsene Kulane +lassen sie in Frieden, weil sie sie im Laufe doch nicht einholen +können, jüngere aber pflegen sie in schlammige Moräste hineinzujagen +und ihnen dort die Kehle durchzubeißen. + +Das jetzt gefangene Wölflein, das aufgezogen und mitgenommen werden +sollte, überlistete jedoch seine Wächter. Es biß nachts den Strick +durch und entfloh mit dem Ende desselben. Die Muselmänner hofften, +daß es, wenn es wüchse, von dem Stricke, den es um den Hals hatte, +erdrosselt würde; ich hielt es jedoch für wahrscheinlich, daß die +Mutter die Strickschlinge rechtzeitig durchbeißen würde. + +Das Lager Nr. 16 am oberen Kum-köll war in jeder Hinsicht befriedigend. +Es gab dort gute Weide und Brennholz, und das Wasser des Sees war süß. +Die absolute Höhe betrug hier nur 3882 Meter. Im Norden erhob sich +stattlich und deutlich der Kalta-alagan und erstreckte sich, soweit das +Auge reichte, nach Westen. Im Süden war die Bergwelt in dicke Wolken +gehüllt. + +Am folgenden Morgen lag das Boot zusammengesetzt am Ufer bereit, und +mit Kutschuk als Matrosen fuhr ich mit passendem Winde über den See, +indem ich alle notwendigen Instrumente für die Kartenarbeit und die +Lotungen, die Jurte usw. mitnahm. Wir waren noch nicht weit vom Ufer +entfernt, als ein heftiger Windstoß die Rahe abbrach, so daß wir +zurückrudern mußten, um sie erst zu reparieren. Beide Stücke wurden +aneinandergebunden und mit Tamariskenlatten geschient; darauf steuerten +wir in der Richtung nach einem Schneegipfel in Nordnordosten über den +See. Ich hatte nicht erwartet, diesen See so seicht zu finden; die +größte Tiefe betrug 3,73 Meter. Am Nordufer landeten wir auf einer +kleinen Insel. + +Jetzt begann der Himmel im Osten beunruhigend auszusehen, und das Tal +füllte sich mit dichten Wolken. Über dem Dünengürtel wirbelten gelbe +Sandwolken auf, und wir hielten es für das klügste, noch eine Weile +zu warten. Der Sturm brach auch richtig los, und wir suchten uns +vor dem Sturzregen dadurch zu schützen, daß wir uns gegen den Wind +gedeckt zusammenkauerten. Der See ging hoch mit schäumenden Wogen, +aber ich konnte, als der Regen aufgehört hatte, nicht der Versuchung +widerstehen, das Segel loszumachen und das leichte Fahrzeug förmlich +vom Ufer wegfliegen zu lassen. Jetzt hieß es aufpassen. Das ganze +flache Tal war gleichsam eine Rinne für den Wind, der rücksichtslos +über den See hinsauste. Dieser erstreckte sich vor uns, soweit der +Blick reichte, und wir balancierten vorsichtig über die Wogenkämme, +um nicht Wasser einzunehmen. Als der Wind stärker wurde und der Mast +zu brechen drohte, mußte Kutschuk das Segel einziehen; dann trieben +wir auch ohne dieses mit reißender Geschwindigkeit. Das Sondieren +ließ sich nur bisweilen ausführen, denn die Fahrt war zu stark, aber +die Geschwindigkeit konnte ich leicht messen und auch Kompaßpeilungen +vornehmen. + +[Illustration: 138. Meine Jurte im Lager Nr. 35 (27. August 1900). +Aussicht nach Norden. (S. 341.)] + +[Illustration: 139. Der Fischberg. (S. 346.)] + +[Illustration: 140. Der Fischberg vom See aus. (S. 346.)] + +Als der Wind an Stärke abnahm, hatte der See schon angefangen sich +zu verschmälern, so daß wir nicht mehr weit von dem Punkte entfernt +zu sein schienen, wo er sein überschüssiges Wasser in einen Fluß +entleert und es nach dem weiter westlich gelegenen großen Salzsee ++Ajag-kum-köll+ (unteren Sandsee) entsendet. Unser See wurde immer +flacher, selten über einen Meter tief, und das naheliegende, langsam +abfallende Südufer wurde von Schlammbänken fortgesetzt, über denen sich +das Wasser bei den Ruderschlägen schwarz färbte. Enten und Gänse waren +hier zahlreich. Letztere brüteten und konnten nicht weit fliegen, aber +um so besser tauchen, was wir erfuhren, als wir versuchten, mit einer +Schar um die Wette zu rudern und sie mit den Rudern anzugreifen. + +Die Rückkehr von diesem herrlichen Ausfluge war tragikomisch. Wir +ruderten aus Leibeskräften, aber der Wind erhob sich wieder, und nicht +lange dauerte es, so fing es auch wieder an zu regnen. Wir wurden +pudelnaß, wozu auch die dann und wann in das Boot schlagenden Wellen +das Ihrige beitrugen. Endlich tauchten in der Ferne die Zelte auf, aber +es dauerte noch ein paar Stunden, ehe wir sie erreichten. Ich hatte +stets Pech mit den Seefahrten: sie konnten bei herrlichstem Wetter +angetreten werden, endeten aber immer mit Sturm. + + + + +Achtundzwanzigstes Kapitel. + +Fünftausend Meter über dem Meere. + + +Am 30. Juli wurden Tokta Ahun und Musa mit sechs Pferden nach dem +Hauptquartier zurückgeschickt. Das Gepäck wurde dadurch für die +zurückbleibenden Tiere etwas schwerer. Unsere Gesellschaft bestand nun +aus mir, sechs Mann (Tscherdon, Turdu Bai, Mollah Schah, Kutschuk, Nias +und Aldat), 7 Kamelen, 11 Pferden, 1 Maulesel, 5 Schafen und 2 Hunden. +Am nächsten Morgen lag das Becken des Kum-köll in undurchdringlichen, +feuchten Nebel gehüllt, und die Kalta-alagan-Kette war spurlos +verschwunden. Die Luft war warm und still und mit Moskitos gepfeffert, +die uns den ganzen Tag treu begleiteten. Wir sehnten uns nach Gegenden, +in denen diese gemeinen Wesen nicht leben konnten, und gedachten, erst +dann in ihre Heimat zurückzukehren, wenn der Winter ihnen den Garaus +gemacht haben würde. + +Der Kum-köll lag wie ein Spiegel da, verschwand aber hinter uns gleich +im Nebel. Wir dringen in den westlichen Randgürtel des Sandes ein, +wo die Dünen wie Landspitzen auslaufen; dazwischen finden wir festen +Boden und eine Reihe kleiner Becken mit je einem schwach salzhaltigen +Tümpel. Es ist eine schwere Arbeit für unsere Tiere, denn ihre Lasten +sind ansehnlich; auf so bedeutender Höhe ist das Gehen schon auf ebenem +Boden mühsam, und hier sinken sie dazu noch in den losen Sand ein. + +Nachdem der Sandgürtel aufgehört hat, reiten wir über dünn +mit Gras bestandenen kupierten Boden und gelangen an den Fluß ++Pettelik-darja+. Er führte wohl 10 Kubikmeter Wasser in der +Sekunde und war höchstens 65 Zentimeter tief, aber sein Boden war +trügerisch und für die Kamele gefährlich. Turdu Bai und Mollah Schah +probierten es wiederholt, ihn zu überschreiten, und versanken dabei mit +ihren Pferden beinahe im Schlamm. Schließlich fanden sie eine Stelle, +welche die Kamele trug, die, wenn der Boden unter ihnen nachgibt, +unverbesserlich ungeschickt sind. Nach einem Marsche von noch einigen +Stunden gelangten wir wieder an das Ufer des Pettelik-darja, wo wir +Lager schlugen. + +Der nächste Tagemarsch führte nach Südsüdost und war ebenso lang +wie der vorhergehende. Es war der vierte Tag, daß wir über ebenes, +offenes Terrain inmitten der höchsten Berge der Erde zogen. Der Fluß +wurde von neuem überschritten, und vor uns erhob sich eine kleinere +Bergkette, die uns den Weg versperrte und wahrscheinlich ein Ausläufer +des Arka-tag war. Die öde Steppe dient zahllosen Orongoantilopen als +Aufenthalt; doch wie sehr unsere Jäger sich auch bemühten, es gelang +ihnen nicht, eine zu erlegen. Die Tiere scheinen hier die Gefahr kennen +gelernt zu haben, denn das Land wird von Zeit zu Zeit von Goldgräbern +und Yakjägern durchstreift; daher sind sie auf ihrer Hut und kommen +nicht zu nahe an uns heran. Nun war Aldats Terrainkenntnis erschöpft; +so weit südlich war er noch nie gewesen und von den anderen natürlich +auch keiner, weshalb ich für die Zukunft selbst das verantwortliche Amt +des Führers übernehmen mußte. + +Wir richteten den Kurs auf einen Einschnitt in der Kette, wo sich ein +vielversprechendes Tal öffnete. Doch als wir darin waren, stellte es +sich heraus, daß es trocken war. Zur Rechten, d. h. an der linken +Talseite, leuchtete jedoch in einer Schlucht frisches grünes Weideland, +und dort fanden wir eine kleine Quellader, die unseren Bedürfnissen +genügte. + +Am 1. August legten wir 29 Kilometer nach Südsüdost zurück. Im großen +betrachtet, führte unsere Reise nach Süden, weil ich alle diese +Bergketten rechtwinkelig überschreiten und außer den geographischen +Entdeckungen auch Material zu einem geologischen Profile sammeln +wollte. Wir gedachten, soweit wie nur irgend möglich nach Süden +zu gehen und wieder umzukehren, sobald die Hälfte unserer Vorräte +verbraucht war. Bei dieser Berechnung vergaß ich jedoch einen wichtigen +Faktor zu berücksichtigen, den nämlich, daß auf dem Rückwege die +Kräfte der Tiere so gesunken sind, daß die Heimreise viel längere Zeit +erfordert. Ich dachte zwar daran, aber mir war die Hauptsache, auf +jeden Fall möglichst weit zu gelangen. Auf irgendeine Weise würden wir +wohl wieder nach Hause kommen, schlimmstenfalls zu Fuß. Der Wendepunkt, +hatte ich mir gedacht, sollte in eine weidereiche Gegend fallen, wo +die Tiere sich ausruhen könnten. Ich ahnte nicht, wie anstrengend +unser Rückzug sein und welche Mühe es kosten würde, mit den Resten der +Karawane zurückzukommen. + +Es war nicht leicht, die Granitmauer, die sich uns jetzt in den +Weg stellte, zu forcieren. Es kostete den ganzen Tag, gelang aber +schließlich doch. Durch gewundene Furchen und Täler, über Ausläufer +und kleinere Pässe suchten wir uns einen Weg nach der Wasserscheide +auf diesem neuen Kamme hinauf und sahen im Süden in ihrer ganzen Länge +eine gewaltige, rabenschwarze, schneebedeckte Kette, die ich für den ++Arka-tag+ hielt (Abb. 124). Ich kannte diese mächtige Bergkette +von 1896 her und fürchtete, daß ihre Besteigung auch jetzt für uns +eine harte Nuß werden würde. In dem Längentale vor dieser neuen Mauer +lagerten wir an einem kleinen Bache. Die Weide war schlecht, aber +Yakdung, unsere einzige Feuerung, reichlich vorhanden. Die Höhe über +dem Meeresspiegel betrug hier 4638 Meter. + +Der Tag war herrlich gewesen, ohne Bremsen und Moskitos. Um 7 Uhr +begann jedoch der Regen auf die Jurte zu prasseln, und als ich +ins Freie trat, sah ich nichts von den Bergen, denn alles war in +Regenwolken gehüllt. Die paarweise gekoppelten Pferde lassen die +Köpfe hängen. Sie blinzeln und sind halb im Schlafe, und das Wasser +tropft von ihren Packsätteln und Mähnen herab. Die Kamele liegen dicht +aneinander gedrängt, um sich warm zu halten; sie atmen schwer und +scheinen sich des Ausruhens zu freuen. Das Lagerfeuer glüht und raucht +vor dem Zelte der Leute, wo Tscherdon mein Mittagessen und Mollah +Schah das der Leute bereitet. Bald daraus lassen Kutschuk und Nias die +Pferde weiden; sie bleiben die ganze Nacht auf der Weide, doch ab und +zu muß sich ein Wächter nach ihnen umsehen, damit sie sich nicht gar +zu weit entfernen. Die Kamele können erst zur Weide gehen, wenn es Tag +wird, und bleiben daher die ganze Nacht liegen, erhalten aber einige +Scheffel Mais zum Abendessen. Jolldasch hütet sich, bei solchem Wetter +auszugehen, sondern liegt lieber zusammengerollt in meinem Zelte. +Maltschik hat die Entdeckung gemacht, daß es bei den Kamelen warm ist. +Er hat einen schlimmen Fuß und ist in den letzten Tagen auf ein Kamel +gepackt worden, dessen wiegende Bewegungen er mit der Geschicklichkeit +eines Akrobaten und mit einer gewissen Eleganz pariert hat. Man ist +froh, in die hell erleuchtete Jurte kriechen zu können, wenn draußen in +der Dunkelheit der Regen die Erde peitscht. + +Wir blieben den nächsten Tag dort, weil ich eine astronomische +Beobachtung machen mußte, eine die Geduld auf die Probe stellende +Arbeit, wenn man unaufhörlich durch Hagelschauer und Wolken +unterbrochen wird. Der Morgen sah wenig versprechend aus. Seit +Mitternacht hatte es geschneit, und das Schneien hielt noch bis 9 Uhr +an. Das überhaupt spärlich vorhandene schlechte Gras lag unter einer +weißen Decke begraben, und die Tiere wurden nicht zur Hälfte satt, +obwohl sie den ganzen Tag nach Gras suchten. Die Berge zeichnen sich in +wechselnden Beleuchtungen ab; bald stehen die Schneefelder grellweiß +auf einem Hintergrunde von dunkeln Wolken, bald ist der Himmel im +Hintergrunde klar, während die Schneefelder, wenn Wölkchen die Sonne +verschleiern, einen kalten, stahlblauen Ton annehmen. Der ewige +Schnee mit seinen rudimentären Gletschern, der sich gestern so scharf +markierte, macht sich nicht länger geltend, denn alles ist gleich weiß. + +Die Nacht auf den 3. August war eine der kältesten, das Thermometer +fiel auf -5,2 Grad. Die ersten Symptome der Müdigkeit zeigten sich +jetzt bei den Tieren; ein Pferd mußte ohne Last gehen, und ein Kamel +ließ nach, wenn es bergauf ging. Wir zogen gerade ins Gebirge hinein, +wo es uns am niedrigsten erschien, und gelangten in eine Talweitung, +wo es von Hunderten von Orongoantilopen wimmelte; es waren große, +prächtige Tiere mit Hörnern, die wie Bajonette in die Luft standen. Sie +flüchteten schnell und leicht die Abhänge hinauf, und es schien ihnen +nicht die geringste Anstrengung zu sein, in der verdünnten Luft über +die Hügel zu eilen. + +Von dieser Talweitung führte ein Tal nach Süden und ein zweites nach +Südwesten; wir wählten das erstere (Abb. 125). Das Tal verschmälerte +sich und wurde steil. Da hier dem Anscheine nach kein Vordringen +möglich war, mußte Tscherdon weiterreiten und rekognoszieren, während +wir warteten und ich mich mit Photographieren beschäftigte. Er kam bald +mit dem Bescheid wieder, daß hier kein Weg für die Kamele sei, weshalb +wir es in dem anderen Tale versuchten. + +Dieses Tal bog nach Südsüdwesten ab und schien nach einem schneefreien +Passe hinaufzuführen. Ich ritt voraus. Die Steigung war entsetzlich +steil. Auf dem mit Schutt bedeckten Passe (Abb. 126, 127), dem höchsten +Punkte, den wir bisher erreicht hatten (4962 Meter; der Montblanc hat +nur 4810 Meter!), mußte ich eine halbe Stunde auf die anderen warten, +die schwer und mühsam den steilen Schuttweg emporkeuchten. Die Aussicht +vom Kamme war nichts weniger als erfreulich. Ein Chaos von Felsen, +Bergästen und schneebedeckten Kämmen breitete sich im Süden vor uns +aus. Es war klar, daß wir noch nicht auf dem Kamme des Arka-tag waren. + +Endlich war es den anderen möglich, die Höhe zu erklimmen. Die +Kamele hatten sich so angestrengt, daß ihnen die Knie zitterten. +Ihre Nasenlöcher waren aufgebläht; sie brauchten mehr Luft, und müde +und gleichgültig schweiften ihre Blicke nach Süden, als hätten sie +die Hoffnung ganz aufgegeben, sich in dieser Welt von unfruchtbaren, +kahlen Bergen je satt grasen zu können. Vom Passe ging es im Zickzack +zwischen Felsvorsprüngen hindurch in ein kleines Tal hinunter, das +nach Südsüdwesten führte. Auch dieses war in anstehendes Gestein von +schwarzem Schiefer, Porphyr und Diorit eingeschnitten. An dem Bache +wuchs nur Moos; doch da, wo er in ein mächtiges Längental mündete, +wuchs auch „Jappkak“, von den Leuten sogleich zur abendlichen Feuerung +gesammelt. + +Dieses Längental durchfließt der größte Fluß, den wir gesehen, seit wir +den Tarim verlassen hatten; bei einer Breite von 65 Meter und einer +Maximaltiefe von 60 Zentimeter führte er 27 Kubikmeter Wasser in der +Sekunde; er strömte nach Westnordwesten. + +Nach einem schwierigen steilen Übergang auf das linke Ufer steuerten +wir auf der Südseite hinauf, wo wir (4783 Meter hoch) auf offenem +Terrain an einem Nebenflusse lagerten (Abb. 128). Ein wenig höher +oben grasten 13 große, schwarze Yake. Sie beachteten uns nicht, doch +als das Lager aufgeschlagen wurde, witterte der Führer Unrat, und die +Herde setzte sich in geschlossener Reihe in Bewegung nach dem Arka-tag, +dessen Hauptkamm sich jetzt in seiner ganzen düsteren Größe vor uns +erhob. Kamen wir nur glücklich über ihn hinüber, so mußte nachher im +Süden ziemlich offenes Terrain vor uns liegen. + +Damit Tscherdon und Aldat die nächsten nach dem Arka-tag +hinaufführenden Täler untersuchen konnten, blieben wir am nächsten +Tag liegen. Am 5. August kamen wir an ein großes Tal mit einem +wasserreichen Flusse, von dem wir hofften, daß es uns zu einem +geeigneten Passe im Arka-tag führen würde. + +Ein in seiner gigantischen Größe überwältigendes Panorama entwickelte +sich vor uns. Die Ausläufer des Arka-tag glichen Sphinxen, die +nach Norden starren und ihre Tatzen vom Flusse benetzen lassen. +Bald verschleierte sich jedoch die starre Schönheit der Natur mit +tröpfelnden Wolken und Regennebel, der den Blick trübte, während wir +unseren mühsamen Marsch immer höher talaufwärts fortsetzten, wo die +Luft kalt und rauh war. + +Während wir nach dem besten Wege Ausschau hielten, wurde Jolldasch +vermißt, der sich die Freiheit genommen hatte, mit Turdu Bai zu laufen. +Dieser hatte ihn einer Herde Orongoantilopen nachsetzen gesehen +und geglaubt, er würde sich, wie gewöhnlich, schon wieder bei uns +einstellen. Aber er ließ nichts von sich hören, und als wir dann bei +Platzregen bei der nächsten Talgabelung lagerten, kehrte Turdu Bai um, +um den Hund zu suchen. + +Unterdessen wurden die Zelte so schnell wie möglich aufgeschlagen; der +Regen plätscherte, und es wehte ein heftiger Wind. Mollah Schah dagegen +ritt weiter, um zu sehen, wohin das Tal führte; gab es hier keinen Paß, +der sich überschreiten ließ, so würden wir durch das Weiterziehen mit +der ganzen Karawane die Tiere nur unnötig ermüden. Der Regen ging um 4 +Uhr in Hagel über, was weit besser war. Wir waren jedoch mit unserem +ganzen Sack und Pack bereits so durchnäßt, daß wir von dem Wechsel +keinen Vorteil mehr hatten. + +Nach dem Regen wurden alle Lasten bedeutend schwerer für die armen +Tiere. Diese fingen auch schon an nachzulassen. Tscherdons Reitpferd +hatte all seine Freßlust verloren und sah jämmerlich aus. Dies +schmerzte den Kosaken, der eine unendliche Liebe für seinen Rappen +hegte, tief. Er hatte ihn vorzüglich dressiert. Wenn er den Rappen +beim Namen rief, kam dieser gelaufen und legte seinen Kopf auf +Tscherdons Schulter. Der kleine burjatische Kosak war ein richtiger +Akrobat. Er stand auf den Händen im Sattel, wenn der Rappe im Schritt +ging, sprang Bock und machte einen Purzelbaum über ihn hinweg. Das Tier +stand bei solchen aufregenden Vorgängen ganz still. Tscherdon hegte und +pflegte es daher, so gut er konnte, und war sehr niedergeschlagen, es +krank zu sehen. + +Die vier noch übrigen Schafe sind merkwürdig. Sie folgen der Karawane +wie Hunde, erklimmen mit Leichtigkeit jede noch so steile Höhe und +scheinen von der spärlichen, schlechten Weide ganz befriedigt zu sein. + +Wir haben uns an die kolossale Höhe gewöhnt. Sitze ich still im Sattel +oder Zelte, so spüre ich nichts davon, aber die geringste Anstrengung, +wie einige Hammerschläge gegen eine Felswand, verursacht Atemnot und +Herzklopfen. Ein Vorteil ist, daß wir von Moskitos und Bremsen, die +spurlos verschwanden, befreit sind. Statt ihrer kommt hier eine Art +gewaltiger Hummeln vor, die im Sonnenschein umhersausen und deren +Summen wie Orgeltöne durch die Luft braust. Ihre Ausstattung paßt sich +diesen winterkalten Gegenden an, denn sie tragen richtige Pelze und +Überstiefel von dichten, gelben Haaren. + +Bei diesem Lager fehlte jegliche Weide; es nützte also nichts, die +Tiere frei umherlaufen zu lassen, es wäre sogar grausam gewesen. Statt +Nahrung zu finden, erhalten sie nur Duschen von Wasser und Eis. + +Nach einigen Stunden kam Turdu Bai mit Jolldasch zurück, den er +jenseits des von ihm rekognoszierten Passes gefunden hatte. Der Hund +war wie toll und verzweifelt hin und her gelaufen und hatte vergebens +nach der Spur der Karawane, von der ihn ein ganzer Bergrücken trennte, +gesucht. Ohne Hilfe würde er uns nie gefunden haben. Damit er es +künftig unterließ, hinter Antilopen her zu jagen, bekam er zur Strafe +nichts zu fressen und wurde außerhalb der Jurte angebunden. + +Mollah Schah kehrte nach sechsstündiger Abwesenheit zurück und +versicherte, daß der mit unserem Tale verbundene Paß überschritten +werden könne. Doch was jenseits auf der Südseite lag, wußte er nicht, +denn er hatte sich dort mitten in einem Schneegestöber befunden, das +die Aussicht versperrte. + +Als wir am Morgen diesen unwirtlichen Lagerplatz verließen, lag die +Landschaft wieder unter Schnee. Am Vormittag zeigte sich jedoch +die Sonne, die Schneefelder wurden kleiner, und man hörte überall +Schmelzwasser rieseln. Das Tal stieg langsam und gleichmäßig nach dem +Passe des Arka-tag an; sein Boden war mit schwarzem Schieferschutt +bedeckt, der unter den Pferdehufen knisterte. + +Der Paß bildete einen kuppelförmig abgerundeten Kamm, den sogar die +Kamele ohne Schwierigkeit erstiegen. Mittelst des Photographiestativs +wurde ein kleines Zelt für das Thermohypsometer errichtet, das eine +Höhe von 5180 Meter anzeigte. +Wir befanden uns hier auf der+ -- +der Kammhöhe nach -- +höchsten Bergkette der Erde+ (Abb. 129). Vor +uns breitete sich das Längental aus, das ich 1896 durchwandert hatte. +Gerade im Süden erhob sich ein kolossaler Gebirgsstock mit ewigen +Schnee- und Firnfeldern und kurzen, nach allen Seiten auslaufenden +Gletscherzungen -- aus der Vogelperspektive mußte er einem Seesterne +gleichen. Nach Norden erstreckten sich drei breite, stumpfe Gletscher +mit gewaltigen Stirnmoränen aus schwarzem Schutt. Von dem Felsstocke +selbst sieht man nur einzelne schwarze und braune Zacken, sonst ist +alles kreideweiß, und selbst das Eis ist überschneit. + +Es ist sehr angenehm abwärts zu ziehen, wenn man mehrere Tage lang +immer höhere Regionen mühsam erklommen hat. Die Tiere gehen leicht, und +man hofft, eine Bodensenkung mit Weide zu finden. Wir zogen demnach in +gutem Marschtempo das Quertal hinab, welches von dem Passe nach Süden +in das Längental hinunterführt. In der Nähe seiner Mündung überraschte +Aldat eine junge Orongoantilope, die er mit seiner plumpen, primitiven +Vorderladeflinte erlegte. Es war ein schöner Zuschuß zu unserem +Fleischvorrat, und unsere drei noch übrigen Schafe durften sich ihres +Lebens noch ein paar Tage länger freuen. + +Statt nach dem Flusse des Haupttales hinunterzugehen, bogen wir nach +Westen ab und lagerten auf einer Halde, wo dünnes Gras wuchs. Da es +Aldat auch hier gelang, eine prächtige Orongo zu erlegen, hatten wir +für mehrere Tage Proviant. Der Reis ist auf diesen Höhen ein wenig +appetitliches Gericht; der Pudding bäckt sich zu einem unschmackhaften +Teige zusammen, und wir hatten beschlossen, die letzten Schafe so lange +wie irgend möglich am Leben zu lassen. Leider hatte Tscherdon viel zu +wenig Patronen mitgenommen und war anfangs viel zu verschwenderisch +damit umgegangen. Für die Zukunft waren wir auf die Flinte Aldats +angewiesen, dessen Munitionsvorrat glücklicherweise mehr als +ausreichend war. + +So war es uns denn endlich gelungen, den gewaltigen Wall zu bemeistern, +den die Natur wie ein Bollwerk gen Norden aufgerichtet hat, um Tibets +Geheimnisse zu schützen und zu umgürten. Schon lange hatten wir die +Pfade der halbwilden Yakjäger und der törichten Goldgräber hinter uns +zurückgelassen, und eine vollkommene ~Terra incognita~ breitete +sich vor uns im Süden aus, wo ich nur an ein paar Punkten meinen +früheren Weg sowie Wellbys, Rockhills und Bonvalots Routen schneiden +würde. Das Wissen des Führers war erschöpft; er betrachtete die +unendlichen Einöden, nach denen unser Weg führte, mit fragenden, +fremden Blicken. Er konnte mir keine Auskunft mehr geben, woher die +Wasserläufe, die wir überschritten, kamen, noch wohin sie gingen; ich +bin nun auf mich selbst angewiesen und kann nur das auf der Karte +angeben, was ich mit eigenen Augen sehe. Die Karte wird daher ein +schmaler Gürtel um die Route, die wir einschlagen, aber es ist mein +Plan, mir später durch neue Routen Gelegenheit zu verschaffen, den Bau +des Gebirges klarlegen zu können. + +[Illustration: 141. Blick vom See aus nach Westen auf den abziehenden +Sturm. (S. 347.)] + +[Illustration: 142. Blick vom See aus nach Osten. (S. 347.)] + +[Illustration: 143. In Todesgefahr. (S. 349.)] + +Arbeit habe ich von früh bis spät vollauf, freie Augenblicke sind +selten. Muß man in diesem Lande, das so öde ist, wie man es vom Monde +annimmt, auch viel Ungemach ertragen, so wird man dafür doch täglich +durch Entdeckungen und Erfahrungen überreich belohnt. Es ist ein +großer Reiz, zu wissen, daß man überall der erste ist, der über diese +Berge wandert, wo es weder Wege gibt noch je gegeben hat und wo man +vergeblich nach anderen Spuren als denen sucht, welche die gespaltenen +Hufe der Yake und Antilopen und die runden der Kulane in den Boden +eingedrückt haben. Das Gebiet ist herrenlos; Flüsse, Seen und Gebirge +haben keine Namen, ihre Ufer und Schneefelder sind nie von den Blicken +eines anderen Forschungsreisenden als den meinen betrachtet worden; +sie bilden mein ephemeres Eigentum. Es ist erhebend und wonnig, seinen +Weg über die gewaltigen Gebirge zu suchen, wie das Schiff seine +spurlose Bahn durch die Dünungen des Weltmeeres zurücklegt; hier +aber sind die Wellen, die über das tibetische Hochland hinrollen, in +Stein verwandelt, und alle Entfernungen, alle Dimensionen sind in so +gigantischem Maßstabe angelegt, daß ein Marsch von Wochen die Situation +nicht verändert; wir befinden uns stets im Mittelpunkte einer Welt +von Bergen. Ebenso wunderbar ist es, inmitten der Stürme, dieser +Revolutionen des Luftkreises, zu leben, welche über die kahlen Berge +jagen und das Gestein mit dem Feuer ihrer schnell einherrollenden +himmlischen Batterien, mit ganzen Schauern schmetternder Hagelkörner +beschießen. + +Als ich in der Nacht hinaustrat, war der Himmel mit Wolken bedeckt, +deren Ränder, vom Monde mit Silber umgossen, hier und dort hell +glänzten. Nur das Gletschermassiv wurde nicht beschattet, und seine +kalten Firnfelder wurden vom bleichen Lichte des Mondes beleuchtet. +Meine Diener lagen in tiefem Schlafe, die Karawanentiere waren +festgebunden, das Lagerfeuer verglomm, nur der Bach sang sein +murmelndes, melancholisches Lied zwischen den Schieferscheiben in +seinem Bette. + +Still wacht die Nacht allein über der Wildnis; ringsumher breitet +sich auf allen Seiten ein Chaos von unbeantworteten Fragen, von +ungelösten Rätseln aus; fern im Süden ahnt man den Kamm des Himalaja +und dahinter Indien mit seinen stickigen Dschungeln. Im fernen Westen +verflechten sich unsere Berge mit dem Hochlande von Pamir, und wenn die +Sonne bei uns aufgeht, hat sie schon ihr strahlendes Licht über das +Reich der Mitte und die Gebirgsgegenden auf seiner westlichen Grenze +ausgegossen. Im Norden, im innersten Asien, sind wir heimischer; aber +hier in Tibet ist man einsam in einem unbekannten Lande. Vergebens +späht man umher nach einem Feuer, nach der Spur eines Menschen; man +hat einen unbewohnten und unbewohnbaren Teil der Erde erreicht, man +hat das Gefühl, wie ein Staubkorn auf diesen unermeßlichen Flächen zu +verschwinden, und glaubt zu spüren, wie der Planet mit schwindelnder +Fahrt rastlos durch den Weltraum rollt. + +Am 7. August zogen wir nach dem Lagerplatze Nr. 23, von Abdall an +gerechnet. In der Hoffnung, einen meiner alten Seen zu finden, zogen +wir in dem Längentale nach Westen. Jetzt war es mit Tscherdons Pferde +zu Ende. Es wurde langsam von einem Manne geführt, fiel aber oft +und konnte nur mit Mühe wieder aufstehen; dagegen war sein Appetit +gut, und wir taten alles, um es zu retten. Tscherdon behandelte es +auf mongolische Weise; er ließ es an den Ohrenzipfeln zur Ader und +schnitt ihm ein paar drüsenähnliche Auswüchse aus den Bindehäuten der +Augenlider fort, was ihm ein wenig zu helfen schien, denn es lief nun +längere Strecken. Sobald wir einen Weideplatz erreichten, wollten wir +Halt machen und ihm einen Ruhetag schenken. Ich wollte es töten lassen, +doch da Turdu Bai glaubte, es sei noch zu retten, mußte Mollah Schah es +uns nachführen. + +Da wir vergebens nach einem See im Westen ausschauten, beschloß ich, +nach Süden abzuschwenken, um die Bergkette zu überschreiten, die von +dem Gletschermassiv nach Westen ging. Das Tal war ziemlich schmal; +sein Fluß führte jetzt wenig Wasser, und auf der Südseite unterhalb +der Moränen fanden wir, wie beim Kum-köll, ein Gebiet von Flugsand +in ziemlich mächtigen, oft isoliert liegenden Dünen, die regelmäßige +Halbmonde bildeten, mit dem konkaven, steilen Abhange nach Osten. + +Von dem Bache, auf dessen Uferabhange wir lagerten, erschien das +Gletschermassiv im Osten ganz nahe; wir hatten es also zur Hälfte +umgangen. + +Fünf Stunden später kam Mollah Schah. Er hatte das Pferd ein paar +Kilometer vom Lager zurückgelassen; es war weder besser noch schlechter +als am Morgen gewesen. Als sich jedoch Tscherdon dorthin begab, war +das Tier schon verendet. Turdu Bai ritt ein Quertal in der jetzt zu +überschreitenden Kette hinauf und kehrte am Abend mit der Nachricht +zurück, daß der dortige Paß nicht gefährlich sei und daß sich südlich +vom Passe ein großer See ausdehne. Weideland hatte er dagegen nicht +gesehen. + +Er mußte also am nächsten Tage den Weg zeigen. Das Tal stieg so eben +und langsam an, daß der Paß uns keine Mühe machte. Von dem 5122 Meter +hohen Passe aus hatten wir das schon so oft gesehene Panorama vor uns: +ein Längental und eine teilweise mit ewigem Schnee bedeckte Bergkette. +Diese mußte mit dem +Koko-schili+ identisch sein. Ein großer Teil +des Talgrundes wurde von einem ansehnlichen See mit west-östlicher +Richtung eingenommen. + +Die Karawane, die, wie gewöhnlich, einen großen Vorsprung hatte, war, +statt nach dem Ufer hinunterzugehen, noch eine ziemliche Strecke +westlich vom See weitergezogen. An der westlichsten Bucht des Sees +hatte sie Halt gemacht und das Lager Nr. 24 (5028 Meter) aufgeschlagen, +das schlechteste, das wir bisher gehabt hatten. Soweit das Auge +reichte, gab es weder eine Spur von Weide noch von Brennholz oder Dung +zur Feuerung. Wir zerschlugen eine überflüssige Kiste, um wenigstens +heißen Tee zu bekommen. Jedes der Tiere erhielt eine Handvoll Mais. + +Kaum war das Lager in Ordnung, so brach ein wildes Unwetter los, erst +Regen, dann Hagel und darauf wieder strömender Regen, der durch die +Filzdecken in meine Jurte hineintropfte und rieselte. Der Sturm kam +von Westen, und in der Nacht verwandelten sich die Niederschläge in +Schnee. Die Kamele lagen im Halbkreise, alle an denselben in den Boden +gerammten Pflock so angebunden, daß die Köpfe vor dem Winde geschützt +waren. Die beiden äußersten waren mit Filzmatten zugedeckt. Sie froren +derart, daß sie bebten, aber sie sind nach dem Verlieren ihrer Wolle +auch beinahe nackt, und man beobachtet mit Interesse, wie die neue +Wolle langsam hervorkommt und wächst. Sie wächst hier oben schneller +als in den warmen Tiefländern; die Natur macht ihr Recht geltend und +paßt sich den Verhältnissen an. Hätten die Pelze eine Ahnung von dem +Winter gehabt, dem wir mitten im Sommer entgegengingen, so hätten sie +ihre Besitzer wohl nicht verlassen. + +Das Erwachen nach einer solchen Nacht ist nicht angenehm. Es ist einem +kalt und frostig; alles ist feucht, Jurte und Gepäcklasten sind mit +Wasser durchtränkt und die eigenen Kleidungsstücke naß. Am Morgen war +die Luft mit feinem, leichtem Sprühregen erfüllt, und der Westwind +heulte durch das Tal. Frierend und schauernd brachen wir mit unseren +hungrigen Tieren auf. + +Die neue Bergkette im Südwesten unseres Lagers sah niedrig und bequem +aus, ja wir glaubten, daß sie, mit den vielen schon überschrittenen +verglichen, die reine Bagatelle sein würde. Ihre Nordabhänge bestanden +nicht einmal aus anstehendem Gestein, sondern nur aus niedrigen +Hügeln; über diese hinüberzukommen, schien ganz einfach, aber in +der Wirklichkeit wurde es das Ärgste, was uns bisher begegnet war. +Zunächst war es durchaus nicht leicht, nach dem Fuße der Hügel hin zu +gelangen, denn der Boden war überall sumpfig, und um die gefährlichsten +Fallgruben, wo die Pferde bis ans Maul in den Schlamm gerieten, zu +umgehen, mußten wir mit der größten Vorsicht weiterziehen. Wir hielten +es jedoch für selbstverständlich, daß der Boden wieder hart und +tragfähig werden würde, sobald wir den Abhang erreichten. + +Erst ging es auch leidlich, denn der Boden bestand aus gelber Tonerde, +die mit Steinen und Schieferstücken bedeckt war. Langsam zogen wir +aufwärts. Nur ein großes Kamel, das gegen alles, was Paß hieß, einen +ausgesprochenen Widerwillen hatte, blieb zurück und legte sich ganz +gemächlich nieder; Turdu Bai blieb bei ihm. + +Als wir glücklich auf den ersten Kamm hinaufgelangt waren, zogen wir +auf seinem Rücken nach Südosten weiter. Ich ritt voran und folgte einer +Yakspur, die anfangs zeigte, wo der Boden trug, höher oben aber in dem +losen, durch und durch nassen Schmutze verschwand, in dem es unter den +Hufen des Pferdes klatschte und quatschte. Schließlich sank das Pferd +so tief ein, daß ich vorzog, abzusteigen und es zu führen. Ich hätte +natürlich umkehren müssen, aber der Kamm erschien mir so verlockend +nahe. Als ich einen Punkt erreicht hatte, wo mir der Stiefel im +Schlamme beinahe steckenblieb, wartete ich auf die anderen. Die Männer +gingen zu Fuß und keuchten bei jedem Schritte. Die wie immer geduldigen +und fügsamen Kamele kamen hinterdrein, bei jedem Schritte fußtief +einsinkend, aber doch besser von ihren Fußschwielen getragen als die +Pferde von ihren Hufen. Eines von ihnen fiel und mußte abgepackt +werden. Sie wunderten sich wohl, was wir mit diesen wahnsinnigen +Anstrengungen auf schwankendem Boden mit merklicher Steigung und in so +verdünnter Luft zu erreichen beabsichtigten. + +Man wird vom Gehen schwindlig, der Boden gibt nach und scheint zu +schwanken, unaufhörlich muß man stehenbleiben, um nach Luft zu ringen. +Nicht einmal die ziemlich großen Schieferplatten, die hier und dort +liegen, sind zuverlässig, sondern drücken sich allmählich in den +Boden ein, und in der dadurch entstandenen Grube sammelt sich ein +Wasserpfuhl. Man hört das Wasser unter dem Schutte sickern und brodeln; +man wandert wie über unterirdische Fluten hin, die jeden Augenblick uns +alle verschlingen können. Man meint, daß dieser Teig von Hügeln, der +aus einer zähen Flüssigkeit oder Grütze zu bestehen scheint, mehr und +mehr nach allen Seiten auslaufen müsse. + +Eine solche Terrainform entsteht durch die ewigen Niederschläge, +die beim Fallen in den Boden eindringen und nur einen unbedeutenden +Beitrag zu den sichtbaren Flüssen und Bächen liefern. Auch das Fehlen +jeglicher Vegetation mit ihren bindenden Wurzeln trägt dazu bei. Nicht +selten stehen die Schieferplatten quer, und einigen Kamelen brachte das +Abenteuer blutige Füße ein. An einer Stelle mußten ein paar Pferde, +die buchstäblich drauf und dran waren, im Schlamme zu ertrinken, +schleunigst von ihrem Gepäck befreit und herausgezogen werden. + +Als die Lage gar zu schwierig wurde, schickte ich Tscherdon nach dem +Kamme hinauf, um zu rekognoszieren. Er kehrte mit dem Bescheide zurück, +daß dieser Kamm nur der erste einer ganzen Reihe solcher sei, die sich +nach Süden ausdehnten und die Aussicht versperrten. Sie seien fleckig +von Schnee, der durch sein Auftauen den Boden noch ungangbarer mache. + +Seine Worte gaben endlich das Signal zum Rückzug. Wir hatten auf dieser +erbärmlichen Strecke über vier Stunden verloren und uns unnötigerweise +nach einer Höhe von 5248 Meter hinaufgearbeitet; schlimmer aber war, +daß wir die Kräfte der Tiere so angestrengt hatten. Nach einigem Suchen +fanden wir ein Erosionstal und zogen mitten in seinem Bache, der +einzigen Linie, auf welcher der Boden trug, abwärts. Er bog nach Westen +in das Längental ein; an seinen Ufern war der Boden ebenso lose und +sumpfig wie oben auf dem Kamme. Von mehreren Seiten kamen Zuflüsse, so +daß der vereinigte Fluß schließlich 8 Kubikmeter Wasser führte. Als wir +endlich an seinem rechten Ufer in 5011 Meter Höhe ein wenig Weideland +fanden, lagerten wir und beschlossen, die Tiere zwei Tage ruhen zu +lassen. + +Doch wie fiel es in diesem Lager Nr. 25 mit der Ruhe aus! Der Morgen +sah allerdings vielversprechend aus, doch als ich mit dem Observieren +der Sonne anfangen wollte, bedeckte sich der Himmel mit Wolken. Sodann +sollten mein Bett, meine Filzdecke und mein Teppich nach der Nässe der +vorhergehenden Tage getrocknet werden; doch kaum hingen sie auf der +Leine, als der Himmel im Westen blauschwarz wurde. Wir konnten die +Sachen kaum noch unter Dach bringen, bevor ein Hagelsturm mit Geheul +und Geprassel durch das Tal fegte. Nachdem dieses Unwetter abgezogen +war, hatte ich Gelegenheit, eine Sonnenbeobachtung zu machen, mit der +ich eben fertig wurde, als ein neuer Sturm im Anzuge war, der ebenso +schwarz wie der vorige aussah, aber siebenmal so arg war. Einige +heftige Windstöße bildeten den Vortrab, dann folgten Hagel und nasser +Schnee. Selten habe ich in Tibet ein ärgeres Unwetter erlebt. Es +blitzte und donnerte mehrere Male in der Minute, und der Orkan fegte +ganz dicht am Erdboden unmittelbar über unseren Köpfen hin. Es krachte, +als zerrissen die Berge und als rollten Felsblöcke mit Donnergepolter +in die Tiefe. Man schloß bei den blendenden Blitzen unwillkürlich die +Augen und fühlte den Boden unter den Donnerschlägen erbeben. Es ist +unheimlich und feierlich, sich in einem solchen Unwetterzentrum zu +befinden und den Leidenschaften der Naturkräfte preisgegeben zu sein. +Man legt seine Arbeit fort, sieht, lauscht und staunt. + +Die Hunde heulten erbärmlich. Der Wind riß das Zelt der Männer um, und +sie konnten es nur mit großer Mühe wieder festmachen. Die Landschaft +wurde wieder mit Schnee und Hagel zugedeckt, unter welcher Decke die +hungrigen Pferde ihr kärgliches Futter suchten. + +Turdu Bai war den ganzen Tag mit den Kamelen draußen gewesen und +kam abends heim. Sie legten sich in ihren gewöhnlichen Halbkreis +und wurden bald überschneit, nachdem wir alles getan hatten, um sie +warm einzupacken. Sie zitterten vor Kälte. Die Männer gaben zwei +Filzteppiche her, ich einen, und die beiden, in welche die Boothälften +eingenäht waren, wurden auch genommen und über die armen Tiere gedeckt. + +Der zweite Rasttag war besser; die Sonne taute den Schnee auf, und +der Hagelsturm kam erst um 5 Uhr. Als wir am 12. August nach Südosten +zogen, um die Bergkette zu überschreiten, ging Turdu Bai mit zwei +kranken Kamelen, die unbeladen blieben, voraus. Wir überholten ihn +bald, denn er kam nur außerordentlich langsam vorwärts, da das eine +Kamel, der Paßhasser, oft liegen blieb und sich eine Weile ausruhen +mußte. + +Vor uns waren keine hohen Berge sichtbar; doch der Boden war +widerwärtig: ein einziger Morast von gelbem Schlamm, mit Wasser +vollgesogen wie ein Schwamm, trügerisch selbst da, wo er mit dünnem +Schutt bedeckt ist und sicher und vertrauenswürdig aussieht. Bei +jedem Tritt sinken die Tiere fußtief ein, und da jeder Schritt ein +Herausziehen der Füße aus dem zähen, saugenden Schlamme ist, ist das +Vordringen sehr anstrengend. Der Boden ist jetzt so lose, daß die +anfangs schwarzgähnenden Fußspuren sich bald wieder schließen und +verschwinden. Im allerglücklichsten Falle sinken die Tiere nur etwa 10 +Zentimeter ein, und man freut sich ihretwegen, wenn man an derartige +rettende Inseln in einem unabsehbaren Sumpfe gelangt. Doch die Freude +ist kurz; bald versinken sie wieder knietief, fallen, müssen von +ihren Lasten befreit, herausgezogen und von neuem beladen werden. Ein +fluchwürdiges Land! Daß Weide und Brennholz 5000 Meter über dem Meere +fehlen, kann man verstehen, doch warum trägt uns die Erde nicht, warum +droht sie die ganze Karawane zu verschlingen? + +Kein einziges Fleckchen, wäre es auch nur so groß wie ein +Fünfmarkstück, ist trocken; alles ist von Wasser durchtränkt; man +befindet sich wie auf schlammigem Seeboden, von dem das Wasser gerade +abgezapft worden ist. Die Tiere sind zu bewundern, daß sie überhaupt +gehen; weshalb legen sie sich nicht nieder und weigern sich, sich +in einem so barbarischen Dienste anzustrengen? Das große Kamel, der +Paßhasser, hatte vollkommen recht, daß es sich nicht weiter abmühte. +Das Innerste der Wüste Takla-makan ist nicht lebloser als dieses +entsetzliche Bergland. + +Alle müssen zu Fuß gehen; das Herz klopft, als wolle es zerspringen, +und man schnappt nach Luft. Und wenn man wieder im Sattel sitzt, fällt +das Pferd beinahe alle Augenblicke vornüber. Es ist, als wären ihm +unausgesetzt die Füße mit Bindfaden festgebunden, der bei jedem Schritt +erst abgerissen werden muß. Ich reite jetzt voran, um den Boden zu +erproben. Aber die Lasttiere scheuen vor den tiefsten Spurgruben und +weigern sich ihnen zu folgen; sie schwenken lieber seitwärts ab, aber +nur, um an noch schlechtere Stellen zu geraten. + +So schreiten wir Stunde auf Stunde dahin. Dieses Land will uns +festhalten. Unser Vorrücken erinnert an einen Feldzug in Feindesland, +wo man auf sich selbst und seine eigenen Vorräte angewiesen ist, sich +immer mehr von einer sicheren Operationsbasis entfernt und auf dem +Marsche nichts weiter findet als eingeäscherte Städte, zerstörte Dörfer +und verwüstete Felder. Je weiter es geht, desto deutlicher erkennt man, +daß die Schwierigkeiten des Rückzuges wachsen werden, und gerade diese +Schwierigkeiten sind es, die anreizen. Mit gespanntem Interesse fragt +man sich, ob es wohl gelingen werde, sie zu überwinden. Und man denkt +nicht im entferntesten ans Umkehren! + +Es ist eigentümlich, in verhältnismäßig so kurzer Entfernung wie +zwischen dem Akato-tag und diesen Gegenden so ungleichartige +Naturverhältnisse zu finden. Bald muß man lange Tagemärsche machen, um +eine erbärmliche Quelle zu finden; bald braucht man nur, wo man will, +auf den Boden zu stampfen, um die Grube sich gleich mit Wasser füllen +zu sehen. + +Auf einem niedrigen sattelförmigen, die Wasserscheide bildenden Paß, +nach dem wir hinsteuerten, ging gerade ein einsamer Wolf in Gedanken +versunken spazieren, ergriff aber die Flucht, sobald er uns erblickte. +Wir befanden uns gerade auf dem Passe (5111 Meter), als der übliche +Sturm kam. Als der Donner rollte, klang es wie das Kugelrollen auf +einer riesenhaften Kegelbahn oder das Bombardement einer Festung. Es +war erst 4 Uhr, aber es wurde so dunkel wie an einem Herbstabend. Die +Pferde gehen schräge, um den Hagelschauer zu parieren. Das Lager wurde +in aller Hast mitten in einem Morast aufgeschlagen. Ehe man noch mit +dem Aufschlagen fertig wird, ist man schon pudelnaß, und wenn man +dabei dem Schauer nicht die ganze Zeit den Rücken zudreht, so schlägt +einem der Hagel ins Gesicht. Nach zwei Stunden war der Sturm vorüber, +und die Sonne guckte hervor, aber wir lagen im Schatten, und der +Sonnenschein vergoldete wie hohnlächelnd die Hügel im Osten. + +Der große Paßhasser konnte nicht mehr bis zum Lager gehen, sondern war +jenseits des Passes zurückgelassen worden. Um zu versuchen, ob wir +ihn nicht doch noch retten könnten, blieben wir einen Tag in diesem +greulichen Lager in 5076 Meter Höhe. Tscherdon und Turdu Bai ritten +am Morgen hin, kamen aber mit der Nachricht wieder, daß das Tier dem +Tode geweiht sei. Sie hatten es dazu gebracht, sich zu erheben und +einige Schritte zu gehen, dann aber war es auf die Seite gefallen, und +da es nicht dazu vermocht werden konnte, aufzustehen, hatten sie es +totgestochen. + +Den ganzen Tag goß es. Ich hatte +2 Grad in der Jurte und konnte nichts +weiter tun, als mit Pelzen zugedeckt lesen. Man muß sich sehr genau +überlegen, wohin man empfindliche Sachen legen kann, denn durch das +Dach tropfte das Wasser, und ich hatte an beiden Seiten des Bettes ein +paar kleine Seen, die abgeleitet werden mußten. Überall ist es naß und +ungemütlich; man sehnt sich von einem solchen Platze fort, einerlei +wohin, denn schlimmer kann es nicht werden. Tscherdon und Turdu Bai +waren vom Regen überfallen worden, als sie bei dem Kamele waren. Sie +saßen fünf Stunden bei ihm, unter ihren Mänteln zusammengekauert, und +ihre Pferde waren bis an den Bauch gelbbraun; nach dem frischen Regen +waren sie doppelt so tief wie gestern eingesunken. + +Der 14. August brach endlich mit Sonnenschein an. Die Temperatur war in +der Nacht auf -3,2 Grad heruntergegangen, so daß der Boden am Morgen +steinhart gefroren war und eine dünne Eiskruste die in unseren Spuren +entstandenen Pfützen bedeckte, aber die Freude währte nicht lange, denn +schon am Vormittag war alles wieder naß und weich. + +Der heutige Tag brachte uns über diese greuliche Bergkette hinüber, +die uns so viel Mühe gekostet hatte. Von ihrem leichten, hügeligen +Passe aus sah man wieder ein Längental, das im Süden von einem neuen, +ansehnlichen Rücken begrenzt wurde. Weiter aufwärts im Tale, nach +Südwesten zu, schimmerte der Boden grün; dorthin lenkten wir unsere +Schritte, denn der Weide bedurften wir jetzt am allermeisten. + +Sobald wir den Platz erreicht hatten und uns endlich auf trockenem +sandigem Boden befanden, wurde Halt gemacht; es war ein Vergnügen, +die Tiere in dem dünnen Grase wieder aufleben zu sehen. Alles, was +Bettstücke und Decken hieß, wurde auf dem Sande ausgebreitet, um im +Sonnenbrande zu trocknen (Abb. 130); die Jurte und das Zelt trockneten +am besten, wenn sie in gewöhnlicher Weise aufgeschlagen wurden. + +[Illustration: 144. Lagerplatz im tibetischen Hochland. (S. 355.)] + +[Illustration: 145. Umbetten des kranken Aldat. (S. 356.)] + +[Illustration: 146. Ein im Schlamm versinkendes Kamel. (S. 359.)] + +[Illustration: 147. Turdu Bai auf einem Berge in der Nähe des Lagers +Nr. 54. (S. 361.)] + +Am 15. August waren gerade 15 Jahre vergangen, seit ich meine erste +Reise nach Asien angetreten hatte; ich konnte den Tag nicht besser +als durch Verweilen an diesem gastfreundlichen Platze feiern. Das +Wetter war gut, obwohl es ein paar Stunden regnete, und die Temperatur +stieg auf etwas über +15 Grad. Die müden Tiere erholten sich sichtlich, +und da wir nicht wußten, was unserer wartete, wurde ihnen noch ein +Ruhetag zugestanden. Wenn es dunkel wird, kommen die Kamele ganz von +selbst gravitätisch nach dem Lager gezogen, doch in einem Halbkreis +können sie sich nicht ohne Hilfe legen. Sobald der Tag graut, erheben +sie sich und gehen wieder auf die Weide. Man denkt, es müsse sie +ermüden, die ganze Nacht mit erhobenem Kopfe in derselben Lage +zuzubringen, aber es scheint ihnen gar nichts auszumachen. + +Dieser Platz (Abb. 131) rettete uns für die nächste Zukunft. Er glich +einer Oase in der Wüste (Lager 27). Tiere und Menschen sammelten hier +neue Kräfte. Letztere hatten eigentlich nichts weiter zu tun, als Brot +zu backen, schmutziges Zeug zu waschen und Feuerung einzusammeln, die +uns eine kleine in harten Büscheln wachsende Pflanze mit trockenem +Stamme, die „Jer-baghri“ genannt wird, lieferte. + + + + +Neunundzwanzigstes Kapitel. + +Eine lange Seefahrt. + + +Am 17. August brachen wir auf, um die nächste, von Osten nach Westen +gehende Bergkette zu überschreiten. Der Anstieg macht sich unseren +müden Tieren bald recht fühlbar. So, wie wir jetzt zogen, waren wir +gezwungen, unnötigerweise über drei Pässe zweiter Ordnung zu gehen, +ehe wir den Hauptpaß erreichten. Hinten im Westen erhebt sich der +mächtige Gebirgsstock mit den Gletschern und den ewigen Schneefeldern +im Osten erscheint ein Tafelberg, dessen Kammlinie so gerade ist, +als sei sie mit einem Lineale gezogen worden; wahrscheinlich war der +Berg mit dem porösen Tuff, der in diesen Gegenden allgemein vorkommt, +bedeckt. Vom Passe führte ein zwischen roten Hügeln eingeschnittenes +Tal langsam nach Süden. Sein Bach mündet schließlich in einen wohl +10 Kubikmeter Wasser führenden Fluß vom nächsten Gletscher. In der +Nähe des Zusammenflusses hatte sich die Karawane auf einem mageren +Rasenplatze, wo der sandige Boden wenigstens trocken war, im Lager Nr. +28 niedergelassen (Abb. 132). + +Jetzt hatten wir nur noch zwei Schafe, von denen hier eines dem +Hunger geopfert werden mußte. Das letzte blökte ängstlich und suchte +vergeblich seinen toten Kameraden. Schlimmer war, daß Aldat, als er auf +eine Orongoantilope schoß, seine Flinte ruinierte; eine hinten am Laufe +befindliche Stahlschraube wurde losgesprengt und hätte ihn beinahe ins +Gesicht getroffen. Zum Glück fand er die Schraube wieder; sie wurde nun +mit Stahldraht und einem Lederriemen in ihrer Lage so festgemacht, daß +die Flinte im Notfalle benutzt werden konnte. + +Als wir am Tage darauf gerade aufbrechen wollten und die Tiere +schon zum Beladen bereitstanden, verdunkelte sich der Himmel in +beunruhigender Weise, weshalb wir es für das klügste hielten, noch eine +Weile zu warten; wir wären in ein paar Minuten durch und durch naß +geworden. So warteten wir denn einen Regenguß nach dem anderen ab, und +auf diese Weise ging der Tag hin. Um 2 Uhr klärte es sich auf, aber +nun war es zum Aufbrechen zu spät. Statt dessen begab ich mich mit dem +großen photographischen Apparat nach der nächsten Gletscherzunge und +wollte mich gerade anschicken, ein paar Aufnahmen zu machen, als der +Himmel wieder seine freigebigen Schleusen öffnete. Gleichzeitig näherte +sich von Süden her, schwarz wie die Nacht, ein Hagelsturm, der sich wie +eine dicke Masse über die Erde hinwälzte und ihre Oberfläche hinter +sich weiß färbte. + +Es war uns einerlei, wohin uns unser Weg das Flußtal abwärts führte, +die Hauptsache war, daß wir niedrigere Gegenden mit Weide erreichten. +Wir folgten dem Flußlaufe über 30 Kilometer weit, lagerten aber eine +ziemliche Strecke von seinem Westufer entfernt. Zu Anfang des Marsches +hatten die Leute einen recht ungewöhnlichen Fund gemacht, nämlich ein +Stück eines alten Muhammedanerhemdes, ein Tauende und ein Holz mit +Kerben, wie es beim Beladen der Tiere gebraucht wird. Ob diese Sachen +von einer mongolischen Pilgerkarawane oder von Hauptmann Wellbys Reise +herstammten, ließ sich nicht feststellen; letzteres ist jedoch nicht +unwahrscheinlich. Wellby und Malcolm reisten 1896 gleichzeitig mit +mir durch Nordtibet, von Westen nach Osten, von Ladak nach Zaidam und +wählten das Längental, welches meiner Route nach Süden hin zunächst +liegt. Sie machten eine denkwürdige, schöne Reise. Ein paar Jahre +darauf fiel Wellby im südafrikanischen Kriege, in dem auch Malcolm +schwer verwundet wurde. + +Der größere Teil des Tages wurde von einigermaßen gutem Wetter +begünstigt; die Regenschauer fielen in solchen Pausen, daß wir +dazwischen wieder trocken wurden, doch kaum war dies geschehen, so goß +es wieder vom Himmel herunter, daß das Wasser von den Lasten rieselte +und unsere Anzüge vor Nässe glänzten. Jolldasch fing ein ganz kleines +Wölflein, einen wütenden, kleinen Teufel, der gebunden mitgenommen +wurde und die verzweifeltsten Versuche zur Wiedererlangung seiner +Freiheit machte. + +Am 20. August war der Boden im großen ganzen so eben, daß sich keine +Rinnsale oder Erosionsfurchen bilden, sondern sich das Wasser in +zahllosen kleinen, trüben Lachen ansammelt. Die Grasvegetation wird +allmählich besser, als wir sie bisher in Nordtibet gesehen haben, und +hier und dort wächst üppiger wilder Lauch. Die Kamele fressen diese +Pflanze mit Begierde, und auch in unseren Suppen schmeckte sie gut. + +Nach Süden hin ist das Land bis ins Unendliche offen, und keine +mächtigen Bergketten stellten sich uns mehr in den Weg. Am Horizont +zeigten sich allerdings Bergkämme, aber sie sahen ganz unschuldig +aus. Das Land hatte Plateaucharakter angenommen, und wir wanderten +über unabsehbare Hochebenen hin. An dem Ufer eines Tümpels weideten +drei große schwarze Yake. Sie setzten uns in schwerem Galopp nach, +wahrscheinlich in dem Glauben, daß wir zu ihren alten Bekannten +gehörten. Als sie nur noch 200 Schritt entfernt waren, erkannten sie +ihren Irrtum und kehrten in langsamem Trabe um. Im Südosten erblickten +wir einen ungeheueren See, an dessen Nordwestufer die Weide ziemlich +gut war, weshalb wir das Lager Nr. 30 dort aufschlugen. + +Der 21. August wurde zur Ruhe und zu astronomischer Observation +bestimmt. Das Wetter war herrlich, wirklich warm, und Fliegen summten +wieder in der Luft. Wir hatten die Zelte unweit des Ufers auf sandigen +Hügeln, die das Regenwasser aufsaugen und davon nicht schlammig +werden, aufgeschlagen. Der Strand selbst war flach und kiesig, und +ein 50 Zentimeter hoher Kieswall zeigte, wie weit die Wellen zu +dringen pflegten. Das Wasser war bittersalzig, aber in der Nähe gab +es glücklicherweise eine süße Quelle. An Feuerung litten wir keinen +Mangel, denn hier wuchsen Jappkakstauden in ziemlicher Menge; einige +Männer brachten ganze Arme voll davon ins Lager. Ihnen war unheimlich +zumute, denn sie hatten ganz seltsame Klagelaute gehört und glaubten, +es seien Menschenstimmen gewesen. Doch Aldat, der von der Jagd +zurückkam, erklärte, es seien Wölfe. Außer sich warf er seine Flinte +hin, die ihm noch nie so schlechte Dienste geleistet. Er hatte einen +Kulan und einen Yak verwundet, aber beide hatten die Flucht ergriffen. +Gestern hatte er eine Orongoantilope angeschossen, deren Skelett wir +später auf dem Marsche fanden; das Fleisch und die Eingeweide waren von +Wölfen gefressen worden. Es fing an Zeit zu werden, daß Aldat uns etwas +Fleisch verschaffte, denn wir lebten jetzt meistens von Reis und Brot. +Ein paar Konservendosen hatte ich noch, und Tscherdon bewirtete mich +täglich mit einer vortrefflichen Suppe von grünen Erbsen, wildem Lauche +und Liebigs Fleischextrakt, der mir auf dieser Reise große Dienste +leistete. + +Jetzt wurde folgende Verabredung getroffen. Am 22. August sollte +Kutschuk mich schräg über den See nach einem ziemlich bedeutenden +Gipfel, der sich im Südosten zeigte, hinrudern. Gleichzeitig sollte die +Karawane nach Westen und Süden um den See herummarschieren und am Ufer +vor dem erwähnten Gipfel Halt machen. Da ich fürchtete, daß es ihnen +vielleicht unmöglich sein möchte, auf diesem Wege hinzugelangen, ließ +ich Mollah Schah auf Rekognoszierung dorthin reiten. Er kam am Abend +wieder und versicherte, daß keine Hindernisse vorlägen. Im Westen hatte +er einen zweiten, ebenso großen See gesehen, in den sich wahrscheinlich +das Schmelzwasser des Gletscherstockes ergoß. Die Sache lag also klar, +und ich hielt es für selbstverständlich, daß die Karawane vor uns an +dem verabredeten Platze eintreffen würde, da Tiefenlotungen und andere +Beobachtungen naturgemäß ziemlich viel Zeit kosteten. Tscherdon wurde +daher ermahnt, bei der Ankunft ein Feuer anzuzünden, das uns abends als +Leuchtfeuer dienen sollte und nach welchem wir, wenn es nötig wäre, +unseren Kurs rechtzeitig ändern könnten. + +Warm und klar brach der Tag an; nur einige leichte Wölkchen segelten +an dem türkisblauen Himmel, und spiegelblank lag der See. Während die +Karawane beladen wurde, brachten wir das Boot am Ufer in Ordnung. +Segel, Ruder und Rettungsbojen wurden mitgenommen, im übrigen nur die +notwendigen Instrumente. Wir fuhren eine gute Weile vor der Karawane +ab, sahen aber nachher ihre lange Reihe am Ufer entlang schreiten. + +Mit der Uferlinie beginnt die zusammenhängende Salzkruste, die den +ganzen Seeboden bedeckt und hier anfänglich 2-4 Zentimeter dick war. +Sie bricht unter unseren nackten Füßen. Wir mußten das Boot nämlich +erst 1½ Kilometer in den See hineinziehen, ehe es schwamm, und in +dieser Entfernung vom Strande betrug die Tiefe noch kaum 50 Zentimeter. +Jetzt steuerten wir erst nach einer kleinen Insel in Ostsüdosten. +Kutschuk brauchte nicht zu rudern, sondern schob das Boot vorwärts; +das Ruder scharrte wie auf Stein, wenn es die allmählich immer fester +werdende Salzkruste berührte. + +Dieser umfangreiche See ist nur ein kolossaler Salztümpel ohne Spur +von Leben. Keine Schwimmvögel, keine Wassertiere, keine Algen waren +zu sehen. Auch der Uferstreifen ist, soweit der Wellenschlag reicht, +unfruchtbar; nur auf den sandigen Hügeln, welche die Wasserfläche um +einige Meter überragen, wächst Gras. + +Wir landeten an der kleinen, birnförmigen Insel, deren größte Höhe +5 Meter über dem Wasserspiegel nicht übersteigt. Sie liegt wie eine +Semmel im See und hat vortreffliches, geschütztes und unberührtes +Weideland. Das Gerippe eines Vogels war das einzige Lebenszeichen, das +wir finden konnten. Die Aussicht aber ist großartig und orientierend. +Nach Westen und Osten erstreckt sich völlig offenes Land, auf dem +bis an den Rand des Horizontes auch nicht der kleinste Berggipfel +sichtbar ist. Im Nordwesten glänzt das mächtige Firnmassiv, vor dessen +Gletscherzungen wir vor ein paar Tagen lagerten. Im Süden erscheinen +flache, weich abgerundete Landrücken und im Norden die sich hie und +da bis zu Schneebergen erhebende größere Kette, die wir zuletzt +überschritten hatten. + +Darauf steuerten wir nach Südosten in der Richtung des vereinbarten +Sammelplatzes. Nur in einem Ringe um die Insel herum lag Kies auf +plastischem blauem Ton, dann aber setzte die Salzkruste wieder ein. +Die Tiefe nahm ein wenig zu, so daß Kutschuk das Boot nicht mehr mit +dem Ruder weiterstoßen konnte, sondern rudern mußte. + +Die Tiefenverhältnisse in diesem See waren höchst unerwartet. Der Boden +ist beinahe ganz eben, und die größte Tiefe betrug nur 2,33 Meter. Der +See liegt also wie eine papierdünne Wasserschicht über der Salzkruste +und ist nur halb so tief wie die Kara-koschun-Sümpfe. Die Unterschiede +zwischen den einzelnen Lotungsstellen beliefen sich auf einen oder ein +paar Zentimeter. Ich hatte eine mehrere hundert Meter lange Lotleine +mit Bleigewicht mitgenommen, doch meistens genügte das 2,13 Meter +lange, in Dezimeter und Zentimeter eingeteilte Ruder. + +Gerade im Osten schien sich der See bis ins Unendliche zu erstrecken, +einer Meeresbucht vergleichbar; dies beruhte aber auf einer durch +Luftspiegelung hervorgerufenen Sinnestäuschung. + +Es war ein wunderbarer, in Wahrheit höchst außergewöhnlicher Tag, +den wir auf diesem Salzsee zubrachten. Das Wetter war prächtig; kein +Lüftchen regte sich, und der Himmel spiegelte sich deutlich im Wasser +wieder. Nur um die Randgebirge herum lag ein Kranz von dichteren +weißen Wolken. Die Sonne, ein seltener Gast in diesen Gegenden, wärmte +ordentlich; man freute sich, wieder etwas vom Sommer zu sehen, und +träumte von den entflohenen Annehmlichkeiten dieser Jahreszeit. Es war +schon wohltuend, das Gesicht in der Strahlenflut baden zu können und +nach all der Nässe und Kälte in der Nachbarschaft des Arka-tag einmal +wirklich das Gefühl des Trockenseins zu haben, aber ohne die giftigen +Insekten, die tiefer unten die treuen Sommerbegleiter der Sonne bilden. +Um uns herum ist es so still wie im Grab; keine Fliege summt in der +Luft, kein Fisch plätschert im Wasser, das leblos daliegt wie eine +chemische Lösung, überall war es still und friedlich wie an einem +Sonntage. Die vor kurzem noch so unruhigen Geister der Luft und des +Wetters hatten sich einen freien Tag gemacht, wahrscheinlich nur, um +sich zu neuem wildem Streitgetümmel auszuruhen. + +Die Landschaft hat in dieser reinen, verdünnten Luft einen ganz +ungewöhnlichen, leichten Ton. Man könnte sie mit einer Braut in weißer +und hellblauer Seide vergleichen; es ist das duftigste Aquarell in den +zartesten Farben, denn alles ist ätherisch und durchsichtig wie eine +Luftspiegelung oder ein Traum. Nur unmittelbar beim Boote schimmert das +Wasser grün, sonst ist es hellblau vom Widerscheine des Himmels. + +Welch herrliche Art, nach dem nächsten Lagerplatze zu gelangen, +verglichen mit dem Reiten mit der schwerfälligen, müden Karawane! +Ich saß im Vorderteile des Bootes so bequem wie in einem Lehnstuhl +und machte meine Beobachtungen und Aufzeichnungen wie vor einigen +Monaten auf der Fähre. Der Kurs war ein für allemal gegeben, und ein +Blick nach dem Berggipfel genügte zur Kontrolle der Richtung. Die +Geschwindigkeit wurde alle fünf, die Tiefe alle zehn Minuten gemessen, +und Kutschuk sang und summte zu den Ruderschlägen allerlei Weisen. Er +ruderte das Boot mit einem Ruder, das bald an der Backbord-, bald an +der Steuerbordreling senkrecht ins Wasser getaucht wurde. Mast und +Segel waren in der Mitte des Bootes querüber festgebunden, um uns nicht +im Wege zu sein. Mäntel hatten wir nicht mitgenommen; hätte ich mich +erwärmen müssen, so würde ich mit dem zweiten Ruder geholfen haben, +nun aber freute ich mich untätig meines Daseins, aller Hagelschauer +uneingedenk. Die Temperatur stieg auf 14 Grad und betrug im Wasser 17,1 +Grad; es war ordentlich warm. + +Das Wasser ist so salzig, daß die ins Boot fallenden Tropfen wie +Stearin erstarren. Nachdem das Wasser verdunstet ist, bleibt eine +kreideweiße dünne Glocke zurück, die jedoch gewöhnlich einfällt. Das +Lotungsruder wird so weiß, als wäre es angestrichen, unsere Hände +werden weiß und rauh, unsere Kleider von Spritzern weißgetüpfelt, und +der Strommesser glitzert mit tausend Facetten. Die Ränder und der Boden +des Bootes sehen aus, als wäre es kürzlich zu einem Mehltransport +benutzt worden. + +Während der ersten Stunden sahen wir die Karawane am Westufer entlang +schreiten, und ich beobachtete mit dem Fernglase ihren gewöhnlichen +ruhigen Gang und ihre Marschordnung. Sie beschrieb einen Bogen, während +wir in gerader Linie nach dem Sammelplatze ruderten. Zuerst entfernten +wir uns demnach voneinander, darauf verschwand die Karawane hinter +den Uferhügeln, mußte aber bald am südlichen Ufer wieder auftauchen, +und dann würden wir uns einander wieder nähern und schließlich an +demselben Punkte zusammentreffen. Aber sie erschien nicht wieder. War +sie vielleicht auf schwankenden Boden gestoßen und mußte einen Umweg +machen, sammelten am Ende die Leute unterwegs noch Brennholz oder +war gar Wildbret geschossen worden, das erst abgehäutet, zerlegt und +eingepackt werden mußte? + +Kilometer auf Kilometer blieb die Tiefe 1,88 Meter. Stunde auf +Stunde schien sich der Abstand zwischen uns und dem Südufer nicht zu +verringern. Aber, wie gewöhnlich, verging die Zeit auf dem Wasser +schnell. Am Nachmittag bedeckte sich der Himmel mit leichten, dünnen +Wolken, und die blaue Wasserfläche nahm eine marmorierte Schattierung +an. Das Boot schoß in gerader Linie nach Südosten, und das Wasser +plätscherte um das Ruder; dies war der einzige Laut, der die Stille +auf diesem tibetischen „Toten Meere“, dessen Spiegel 4765 Meter über +dem Weltmeere liegt, unterbrach. + +Um 4 Uhr guckte die Sonne wieder hervor. Unter der sinkenden Sonne +schien sich der See am weitesten nach Westen auszudehnen; es ist die +Strahlenbrechung, die diese Sinnestäuschung hervorruft. Die Karawane +war nicht zu sehen, aber die Entfernung war auch bedeutend, und sie +mochte wohl hinter einigen Uferhügeln marschieren. + +Gegen Abend sah der vor kurzem noch so klare, blanke Wasserspiegel beim +Südufer mattgeschliffen aus. Ein brausendes Geräusch ließ sich immer +deutlicher vernehmen und wurde von Kutschuk für das Rauschen eines +in der Nähe mündenden Flusses gehalten. Bald wurde uns jedoch klar, +daß das Brausen von einem sich erhebenden Winde herrührte, in dessen +Bahn wir bald hineingerieten. Der Wind kam von Osten; es ruderte sich +schwer, und als er stärker wurde, hißten wir Segel und änderten den +Kurs in Südwest ab. Mit reißender Fahrt und in hohem Seegange strichen +wir nach dem Ufer hin, wo sich die Brandung weißschäumend und donnernd +über scharfkantige Kiesel wälzte, die das Segeltuchboot aufzuschlitzen +drohten. Das Segel wurde rechtzeitig gerefft, Kutschuk sprang ins +Wasser, ich half mit dem Ruder, und so brachten wir das Fahrzeug +unverletzt an Land und zogen es hoch am Ufer hinauf. + +Bevor die Dämmerung in Dunkelheit überging, eilten wir nach den +nächsten Hügeln hinauf, um nach der Karawane auszuspähen. Doch von +Menschen und Tieren war keine Spur zu entdecken! Die ganze Gegend lag +schweigend und ausgestorben, beinahe unheimlich vor uns, und mir war +zumute wie beim Eintreten in eine Klosterruine, in der seit tausend +Jahren niemand gewesen ist. Während Kutschuk Jappkakbüschel sammelte, +ging ich weiter in die Hügel hinein, wurde aber von ein paar Buchten +und Lagunen aufgehalten, deren nur von einer außerordentlich dünnen +Wasserschicht bedecktes Salz wie Eis glänzte. Ein Kulanschädel lag, +verwittert und gebleicht, an einem Abhange, und in dem losen Erdreiche +stand eine Bärenspur eingedrückt. Ich lauschte und rief, aber die +Karawane war und blieb verschwunden. + +[Illustration: 148. Tscherdons Yak. (S. 361.) + +Von links nach rechts: Mollah Schah, Turdu Bai, Kutschuk.] + +[Illustration: 149. Ein erbeuteter Yak. (S. 361.)] + +[Illustration: 150. Ein junger Kulan. (S. 362.)] + +[Illustration: 151. Kopf und Seitenfransen des Yaks. (S. 361.)] + +Als ich nach dem Landungsplatze zurückkehrte, war es schon dunkel. +Kutschuk hatte einen gewaltigen Armvoll Jappkak zur Feuerung +zusammengesucht, und ich half ihm den Vorrat noch vergrößern. Jetzt war +es ganz klar, daß sich den anderen irgendein unerwartetes Hindernis in +den Weg gestellt haben mußte, sonst wären wenigstens ein paar Reiter +nach dem Sammelplatze gekommen, um uns Bescheid und -- was für uns das +Wichtigste war -- Essen, Wasser und warme Kleider zu bringen. Erst +überlegten wir, ob wir nicht den heftigen, günstigen Wind benutzen +und westwärts segeln sollten; aber in der Dunkelheit wäre dies doch zu +gewagt gewesen, besonders da der Wind immer heftiger wurde. Vielleicht +hatte die Karawane auch einen so weiten Umweg machen müssen, daß sie +noch gar nicht hier sein konnte. + +Es blieb uns also kein anderer Ausweg, als uns auf beste Weise für die +Nacht einzurichten. Ein ebener Fleck wurde für das Lager aufgesucht, +der ganze Feuerungsvorrat dort aufgestapelt, alle Sachen aus dem Boote +geholt und dieses selbst in seine beiden Hälften auseinandergenommen. +Letztere wurden aufgerichtet und bildeten so vorzügliche +Schilderhäuschen, die uns gegen den Wind schützten. Wir waren gerade in +Ordnung, als es zu regnen begann. Nun wurden die Boothälften, gegen je +ein Ruder gelehnt, in einem Winkel von 45 Grad aufgestellt; wir hatten +sowohl ein Dach über dem Kopfe wie Schutz vor dem Winde. Ich nahm die +eine Rettungsboje, Kutschuk die andere, und mit diesen als Kopfkissen +gelang es uns, solange die Luft noch warm war, eine Weile zu schlafen. + +Um 9 Uhr zog ich die Chronometer auf und besorgte eine meteorologische +Ablesung, während Kutschuk Feuer anmachte. Dann blieben wir noch ein +paar Stunden sitzen und stellten philosophische Betrachtungen an. Es +wäre zu schön gewesen, wenn wir eine Tasse heißen Tee und ein bißchen +Brot oder wenigstens einen Becher Wasser gehabt hätten. Ich zog mir aus +dieser Fahrt die Lehre, mich künftig nie ohne Proviant und warme Decken +für die Nacht aufs Wasser zu begeben! + +Als alle Feuerung verbrannt war, krochen wir in die Koje; jetzt kamen +uns die Boothälften wieder vorzüglich zustatten. Erst wurde das Segel +auf dem Kiese ausgebreitet, der dadurch auch nicht viel weicher wurde, +dann wurde die Rettungsboje zur Hälfte in den Boden eingegraben, darauf +legte ich mich entsprechend zusammengekrümmt nieder und zuletzt deckte +Kutschuk die eine Boothälfte über mich. Alle Ritzen, durch die Zug +kommen konnte, verstopfte er mit Sand, wobei er ein Ruderblatt als +Spaten benutzte. Der Boden des Bootes war nur 1-2 Zoll über meinem +Kopfe, und ich lag wie eine Leiche in ihrem Sarge, welcher Gedanke +sich um so mehr aufdrängte, als Kutschuk draußen stand, Sand aufgrub +und um mich herumschüttete. Drinnen war es so eng, daß ich mich in +meinem Grabe nur mit Mühe umdrehen konnte, und ebenso dunkel wie in der +Ruhestätte der Toten. + +Ein ganzer, auf dem Wasser zugebrachter Tag greift an und macht +hungrig, und wenn man nichts zu essen bekommt, friert man leicht; +aber in unseren kleinen „Zelten“ wurde es bald warm. Kutschuk packte +sich auf dieselbe Weise ein. Ein prächtiges Boot, das uns erst den +ganzen Tag getragen hatte und uns hinterdrein noch als Zelt diente! +Die Annehmlichkeit wurde noch größer, als es wieder zu regnen begann +und die schweren Tropfen auf dem straffgespannten Bootboden wie +Trommelwirbel schmetterten. Wir unterhielten uns eine Weile; Kutschuks +Stimme klang durch die beiden Segeltuchwände wie eine Stimme aus +dem Grabe, und auch meine tönte dumpf und hohl. Doch die Müdigkeit +machte sich geltend, und wir schliefen, Wölfe, Bären und unsere eigene +treulose Karawane vergessend, auf unserem Kirchhofe ein. + +Ein paarmal wachte ich von der eindringenden Nachtkälte auf, schlief +aber wieder ein, und als endlich das Morgenlicht unter den Bootrelingen +hereinflutete, sah ich zu meinem Erstaunen, daß es schon 7 Uhr war. +Kutschuk wurde gerufen und mußte den Sargdeckel öffnen; richtig stand +die Sonne schon hoch über dem Horizont. Wir waren starr vor Kälte und +sammelten schleunigst Feuerung, die mit den letzten Zündhölzern in +Brand gesteckt wurde und uns wieder neues Leben gab. Es wehte frisch +und gleichmäßig aus Osten, und da von der Karawane nichts zu sehen und +zu hören war, blieb uns nichts weiter übrig, als westwärts zu gehen und +sie zu suchen. + +Also wurde das Boot wieder zusammengefügt, getakelt, ins Wasser gesetzt +und bemannt, das Segel wurde aufgespannt, das eine Ruder diente als +Segelbaum, das andere als Steuer, und mit sausendem Winde strichen wir +längst des Südufers hin. Der Wind war ziemlich stark, der See ging +hoch, die Jolle rollte ordentlich, und Kutschuk, der vorn im Boote +saß, wurde seekrank. Die Geschwindigkeitsmessungen und die Lotungen +wurden fortgesetzt und die Route eingetragen. Nachdem wir eine gute +Stunde unterwegs waren, konnte ich mit dem Fernglas am Westufer des +Sees zwei weiße Punkte wahrnehmen, die wir für die Jurte und das Zelt +hielten. Kleine schwarze Punkte, die beide umgaben, mußten unsere Leute +und Tiere sein. Nach drei Stunden waren wir dort. Tscherdon und Aldat +wateten uns entgegen, um die Jolle vorsichtig ans Land zu ziehen. +Der Karawane war richtig von einem mächtigen Fluß, den zu durchwaten +unmöglich war, der Weg abgeschnitten worden. Der Fluß kam von einem +großen See im Westen. Sie waren daher nach der Quelle zurückgekehrt, +bei der wir sie fanden, und hatten die ganze Nacht auf einem Hügel ein +Feuer unterhalten, das uns als Richtschnur dienen sollte, wenn wir +draußen auf dem See umherirrten. Aldat hatte einen Kulan geschossen, +denn frisches Fleisch war uns hochnötig. Das Wölflein hatten sie jedoch +so freigebig damit traktiert, daß es an Überfütterung starb. + +Sobald wir an Land gekommen waren, mußte Tscherdon mir ein Frühstück +mit Kaffee bereiten; der Rest des Tages wurde zu verschiedenen +Nacharbeiten benutzt. Jetzt handelte es sich darum, nach welcher Seite +wir zunächst unsere Schritte lenken sollten. Gingen wir nach Westen, +so brauchten wir drei Tage zur Umgehung des dort liegenden Sees, und +im Osten hatten wir unseren großen Salzsee. Im Süden versperrte uns +der Fluß, der von dem westlichen, entschieden süßen See Wasser nach +dem salzigen führte, den Weg. Von Umkehren konnte noch keine Rede +sein; dies durfte erst geschehen, wenn das morastige Hochland so +fest gefroren war, daß der Boden trug. Ich beschloß daher, die ganze +Karawane mit der Jolle über den Fluß zu führen. + +Die Karawane mußte also nach der schmalsten Stelle des Flusses ziehen, +während ich mit Kutschuk nach dem Mündungsgebiete ruderte. Die Breite +beträgt hier etwa 300 Meter, und unmittelbar vor der Mündung lag eine +Bank mit nur 50 Zentimeter Wasser, die eine prachtvolle Furt gewesen +wäre, wenn sie nicht in der Mitte eine schmale Rinne von 2,56 Meter +Tiefe gehabt hätte. Wir fuhren nach dem schmalen Übergange, wo die +anderen warteten und alles Gepäck abluden. Auch hier ist das Wasser +scharf salzig, obwohl die Strömung von dem Süßwassersee ziemlich +stark ist; man sieht, wie sich süßes und salziges Wasser miteinander +vermischt, wobei Flockenbildungen und Wirbel entstehen wie bei +Zuckerwasser. + +Die beiden Ufer bestanden aus hartem Kies. Die schmalste Stelle, wo +die Überführung stattfinden sollte, war 58 Meter breit. Die größte +Schwierigkeit war das Ausspannen eines Taues zwischen beiden Ufern. +Beinahe alle Stricke, mit denen die Packlasten auf Kamelen und Pferden +festgebunden wurden, mußten dazu genommen und aneinandergebunden +werden. Am linken Ufer wurde das eine Ende festgemacht, dann wurde das +Seil flußabwärts gezogen, worauf ich aus allen Kräften in einem Bogen +hinüberruderte, während Kutschuk mit dem anderen Ende bereitstand, am +rechten Ufer ans Land zu springen. Wir trieben indessen, da das Seil +sich als zu kurz erwies, an der hier vorspringenden Landspitze vorbei +und mußten uns wieder zurückschleppen und noch ein Ende anbinden, +worauf dasselbe Manöver mit besserem Erfolge wiederholt wurde. Das Tau +wurde nun auch an diesem Ufer festgebunden und so straff gezogen, daß +es die Wasserfläche nicht mehr berührte. + +Die Pferde sollten hinübergetrieben werden, aber sie ließen sich nicht +dazu bringen, ins Wasser zu gehen. Es gelang erst, als wir eines von +ihnen hinüberbugsiert hatten. Am schlimmsten war das Übersetzen der +Kamele (Abb. 133, 134, 135). Sie ließen sich nicht bewegen, selbst +hinüberzuschwimmen. Wir mußten sie einzeln mit dem Boote holen. +Dabei wird das Kamel ins Wasser getrieben, und ein Strick wird ihm +um den Kopf geschlungen. Diesen hält Turdu Bai, der im Achter des +Bootes sitzt, über Wasser. Ich ziehe das Boot an dem ausgespannten +Seile entlang quer über den Fluß. Da es dem Kamel aber durchaus nicht +einfällt zu helfen, sondern es sich ganz bequem im Wasser ziehen läßt, +habe ich die ganze durch die unaufhörlich saugende Strömung verursachte +Wucht auf meinen Händen ruhen, und ich muß beim Weiterschieben alle +meine Kräfte aufbieten, um das Seil nicht loszulassen, in welchem Falle +natürlich die ganze Bescherung nach dem See hinuntergetrieben wäre und +das Kamel leicht hätte verloren gehen können. Ich brachte es jedoch +nach dem anderen Ufer hinüber, wo es eine Weile zappelte, bis es festen +Boden unter sich fühlte und für gut fand, sich wieder auf eigene Füße +zu stellen. Das Wasser strömte von seinen Seiten, als es dort in der +Einsamkeit stand und sich verwundert nach seinen Kameraden umsah. + +Nach dem zweiten und dritten Kamel wurde das Tau so schlaff, daß es ins +Wasser hing; es mußte mit den übrigen Laststricken verstärkt werden, +so daß es doppelt wurde und straffer war. Mitten in dieser Arbeit riß +das erste Seil, und wir konnten wieder von vorn anfangen. Meine Hände +waren schon ganz abgeschürft. Tscherdon mußte die Überführung der drei +übrigen Kamele besorgen; endlich hatten wir alle Tiere unversehrt +drüben. Das letzte Schaf, das sich daran gewöhnt hatte, bei den Kamelen +zu kampieren, schwamm von selbst hinüber. + +Schließlich wurde das Gepäck hinübergebracht; dann wurde das Lager auf +dem rechten Ufer aufgeschlagen. Die Wassermenge dieses Flusses betrug +47,5 Kubikmeter in der Sekunde. Es war der größte Fluß, den ich bisher +in Nord- und Mitteltibet gesehen hatte. Verschiedene Wassertierchen +wurden von der Strömung aus dem Süßwassersee mitgeführt, um, sobald +die Salzmischung ihnen zu stark wird, einem sicheren Untergang +entgegenzugehen. + +Ein Kamel und zwei Pferde hatten wundgescheuerte Stellen auf dem Rücken +und trugen daher während der nächsten Tage kein Gepäck. Auch mein alter +Wüstenschimmel bedurfte der Ruhe, und ich bestieg deshalb ein anderes +Pferd. Gewöhnlich pflegte ich meine Reitpferde so zu dressieren, daß +sie stillstanden, sobald ich eine Kompaßpeilung vornehmen wollte. In +dieser Beziehung war das Wüstenpferd vorzüglich. Ich brauchte nur +die Hand in die Kompaßtasche zu stecken, so stand es ohne weitere +Aufforderung unbeweglich still. + +Wir zogen die aus lauter weichem Material, ohne Spur von festem Gestein +bestehenden Hügel, welche die beiden großen Seen im Süden begrenzten, +hinauf. Hier und dort wuchs an den Bächen vortreffliches Gras, das +nebst Quellen und brennbaren Sträuchern zum Rasten aufforderte; aber +die Tiere waren jetzt so ausgeruht, daß wir unseren Weg fortsetzten. +Ein niedriger Kamm wird überschritten; südlich davon erscheint ein +neuer See, der keinen sichtbaren Abfluß hat, aber doch süß ist. + +Zwischen den Hügeln im Südwesten des Sees grasten 18 Yake, und höher +hinauf sah man eine Yakherde von über hundert Tieren, alten und jungen; +der Boden erschien von ihnen ganz schwarz punktiert. Während wir sie +beobachteten, wurde es sowohl im Westen wie im Osten dunkel, und das +Rollen des Donners, das wie das Brüllen des Löwen ein tyrannisches +Warnungssignal zum Aufpassen ist, verkündete, daß ein Sturm im Anzuge +war. Der Hagelschauer schlug mit überwältigender Macht nieder, die Yake +verschwanden im Nebel, und Aldat, der mit der Flinte auf der Schulter +nach den Höhen auf der anderen Seite des Tales geeilt war, ebenfalls. +Er wurde sich selbst überlassen, während wir längs des Sees weiterzogen +und an einem einige Kilometer von seinem Südufer gelegenen Tümpel das +Lager aufschlugen. + +Gegen 9 Uhr ertönten Rufe durch die Dunkelheit, und ein paar Leute +wurden ausgeschickt, um Aldat entgegenzugehen, der ganz müde nach +Hause kam und unter der Last eines großen Fleischstückes und eines +Yakschwanzes keuchte. Er hatte geglaubt, daß wir am See bleiben +würden, und deshalb Pelz und Flinte liegen lassen, um sie später zu +holen. Sein Opfer war ein ziemlich großes Yakkalb, das beim ersten +Schuß zusammengebrochen war. Die anderen Tiere hatten nicht die +Flucht ergriffen, sondern sich nur ein wenig höher auf die Hügel +hinaufbegeben. Aldat hätte leicht noch einige schießen können, hatte es +aber für unnötig gehalten. + +Da der folgende Tag, ein Sonntag, zur Ruhe bestimmt wurde, begab er +sich mit Kutschuk nach der Stelle, und beide holten eine ganze Ladung +Fleisch, das eine unschätzbare Verstärkung unseres sehr kümmerlichen +Proviants war. Tscherdon briet mir ein paar Schnitzel, die nicht +schlecht waren; es war aber auch ein junges Tier mit zartem Fleisch. + +Am 27. August ritten wir direkt nach Süden. Auch an diesem Abend +lagerten wir im Lager Nr. 35 am Ufer eines großen Salzsees, wo es in +der Nachbarschaft eine Quelle gab und wo die Weide zu gut war, als daß +wir hätten vorbeiziehen können (Abb. 136, 137, 138). + +Am 28. August wurden wir wieder von einem Labyrinth von Tümpeln, +Seebuchten und Wasserläufen aufgehalten. Einer der letzteren war recht +bedeutend und hatte eine starke Strömung. Mollah Schah versuchte es, an +ein paar Stellen hinüberzukommen, aber das Wasser war zu tief. + +Jetzt standen wir von neuem da, von einem unüberschreitbaren Flusse +gehemmt, und bereiteten uns gerade vor, an seinem linken Ufer +hinaufzuziehen, um weiter aufwärts nach einer Furt zu suchen. Doch über +uns lauerte ein anderer, wohlbekannter alter Feind. Obwohl Ostwind +wehte, verfinsterte sich der westliche Horizont, und bleischwere +Wolkenmassen wälzten sich über das Land wie eine Schlagwelle, die auf +ihrem Wege alles zu begraben droht. Das Ganze glich einem riesenhaften +Netzzuge oder einem Heere, dessen beide Flügel in gleichmäßigem +Takt zum Angriff stürmten. Die Wolken des linken Flügels hatten +dunkelrot gefärbte Ränder, die auf dem rechten waren rabenschwarz. +Die alleräußersten Vorposten waren in die unglaublichsten, von einem +dämonischen Sturm gejagten Gestalten zerrissen. Noch badet sich die +Landschaft im Osten in Licht und Sonnenschein. Doch von Westen her +schnürte sich das unheimliche Netz immer dichter um uns zu. Wir +beschlossen also, schleunigst zu lagern, aber ja nicht zu nahe an dem +Ufer dieses Flusses, der vielleicht von den heftigen Niederschlägen +anschwellen würde. Wir halfen alle beim Aufrichten des Jurtengestelles +und hatten gerade ein paar Filzdecken über die Dachlatten gezogen, als +der Sturm über den Teil der Erdoberfläche, auf dem wir uns befanden, +hinfuhr und die Hagelschauer an der Erde entlangfegten. Es schmerzt im +Gesicht und an den Händen, als sei jedes Hagelkorn aus einem Blasrohr +geschossen, und man läuft buchstäblich Spießruten, ehe man unter Dach +kommt. + +Am anderen Morgen war das Wetter wenig angenehm. Im Norden hatten +wir jetzt den letzten Salzsee und im Süden einen neuen See von +achtunggebietenden Dimensionen. Von diesem strömt das Wasser, wie +auch der von Westen kommende Fluß, nach dem ersteren hin. In seinem +Unterlaufe erweitert sich der Fluß zu nicht unbedeutenden Becken. In +ein solches ruderten wir aus Unkenntnis der Flußrichtung hinein und +gerieten dort in eine Sackgasse. Auf dem innersten Ufer saßen ungefähr +50 Gänse, die vermutlich auf ihrer Winterreise nach Indien hier Rast +hielten. Alle flogen langsam und niedrig, außer einer, die auf dem +Wasser liegenblieb und untertauchte, als wir an sie heranruderten. +Wir verfolgten sie nahezu eine Stunde. Das Untertauchen dauerte immer +kürzere Zeit, und als sie nur 10 Meter vom Boote auftauchte, begann +ich, sie mit der einzigen vorhandenen Waffe, dem Ruder, zu harpunieren. +Mehreremal wurde sie von dem Blatte gestreift und schließlich mit einem +gutgezielten Schlage getötet, worauf sie gerupft wurde, um uns eine +angenehme Abwechslung im Speisezettel zu bereiten. + +Nachher fanden wir die Mündung des Flusses in dem sehr breiten Arme, +der vom Süßwassersee in den salzigen geht. Wir bestiegen am anderen +Ufer einen Hügel und sahen uns dort beinahe auf allen Seiten von +ansehnlichen Wasserflächen umgeben. Gerade nach Osten erstreckte sich +die Landenge, auf deren äußerster Zunge wir uns befanden, im Norden +dehnte der Salzsee seinen großen Wasserspiegel aus, und im Süden lag +der neuentdeckte süße See. Die Mittelpartie dieser Landenge bestand aus +einer kleineren Bergkette, an deren Südfuß es gute Weide und reichlich +Wildbret zu geben schien. Ehe wir noch in dunkler Nacht nach dem Lager +zurückkehrten, hatte ich schon den Plan zu einer besonderen Exkursion +um diesen neuen See gefaßt. + + + + +Dreißigstes Kapitel. + +Über stürmische Seen und himmelhohe Berge. + + +Das Lager Nr. 36 am Flusse wurde jetzt zur Operationsbasis gewählt. +Hier sollten Turdu Bai, Aldat und Nias mit allen Kamelen und vier +müden Pferden zurückbleiben. Mich sollten Tscherdon, Mollah Schah +und Kutschuk begleiten, und die Karawane aus dem Maulesel, sieben +Pferden und den Hunden bestehen. Wir hatten Proviant für eine Woche +und nahmen nur absolut notwendige Sachen, Filzdecken und Pelze mit. +Meine Instrumente wurden in das Futteral des großen photographischen +Apparates gepackt; in diesem von Seen überschwemmten Hochlande war auch +das Boot unentbehrlich. Nur die Hälfte meiner Jurte wurde mitgenommen, +d. h. die Holzgitter, die den unteren Teil ihres Gerüstes bilden. Das +Gepäck war also leicht; es wurde zu Boot nach dem gegenüberliegenden +Ufer gebracht. Die Pferde durchwateten den Fluß. + +Darauf wurde die Karawane beladen, und wir setzten uns in Marsch. Doch +wir waren noch nicht weit gelangt, als uns der Sund zwischen den Seen +Halt gebot; wir mußten wieder alles abpacken, das Gepäck hinüberrudern +und die Pferde über den Sund schwimmen lassen. Endlich standen wir +jedoch auf der Spitze der Enge und konnten im Ernst darauf losgehen, +indem wir dem Nordufer des Süßwassersees folgten. Bald erreichten +wir jedoch einen Teil desselben, wo die Berge steil ins Wasser +abfielen, ja sogar überhingen, so daß wir zu einem Umweg über den Kamm +gezwungen wurden. Dort hatten wir sowohl links wie rechts weitgedehnte +Wasserflächen. + +An einem kleinen Bache wurde unsere sehr provisorische Jurte +aufgeschlagen. Auf den Abhängen weidete 300 Schritt von uns entfernt +eine Herde von elf großen schwarzen Yaken, die nicht die geringste +Miene zur Flucht machten. Man konnte sich versucht fühlen zu glauben, +daß sich Nomaden in der Gegend aufhielten und zahme Yake bei sich +hätten. Doch als unsere Pferde auf die Weide geschickt wurden und +allmählich nach den besseren Weideplätzen hinaufgingen, blähten die +Yake ihre Nüstern auf, spähten aufmerksam nach unserer Richtung hin +und bewegten sich dann in langsamem Trab über den Kamm nach dem Salzsee. + +[Illustration: 152. Blick nach Süden von Aldats Begräbnisplatz. (S. +364.)] + +[Illustration: 153. Lager Nr. 60 in 5111 Meter Seehöhe. (S. 366.)] + +Meine Jurte war so eng, daß Tscherdon erst mein Bett zurechtmachen und +dann die Gitter über dem Bett aufschlagen mußte. Ich mußte wie in eine +Hundehütte hineinkriechen; sobald ich aber erst drinnen war, hatte ich +es gut und warm, und Jolldasch half noch wärmen. + +Nachdem wir über Nacht es bei einer Temperatur von -5,2 Grad hatten +aushalten müssen, erwachten wir am 31. August an einem wirklich +herrlichen Sommertage ohne ein Wölkchen oder einen Windhauch. Der See +lag wie ein Spiegel da. Ein Kulan kam heran und besah sich die Pferde +so ungeniert, als wisse er ganz genau, daß Tscherdons Patronen schon +lange zu Ende waren. Auf dem Südufer erhoben sich zwei blendendweiße +Schneeberge ohne Spur von Wolkenkranz und spiegelten sich im See wider. +Ein mehrstündiger Marsch am Ufer entlang führte uns nach dem Ende des +Sees, aber dieser wurde nur durch eine mehrere hundert Meter breite +Landenge von einem neuen getrennt, der sich weit nach Osten erstreckte +und dessen nördlichem Ufer wir ebenfalls folgten. + +Eine Strecke weit gingen wir oben auf den Uferfelsen zirka 70 Meter +über der Wasserfläche, einen Kulanpfad benutzend, der so dicht am Rande +entlangführte, daß einem beinahe unheimlich zumute wurde. In dem tiefen +Wasser sahen wir einen Schwarm ziemlich großer, schwarzrückiger Fische, +die besonders Kutschuks lebhaftes Interesse erregten. Wir lagerten +in der Nähe, weil wir versuchen wollten, einige von ihnen zu fangen. +Jolldaschs Halsband lieferte Material zu Angelhaken, die in der Glut +des Lagerfeuers eine entsprechende Gestalt erhielten. Für den Fall, daß +es in der Gegend Wildgänse oder Enten geben sollte, wurde aus einer +Holzlatte ein Bogen fabriziert. Wir lebten ungefähr wie Robinson Crusoe +und mußten uns mit der dürftigen Ausrüstung, die uns gerade zu Gebote +stand, weiterhelfen. + +Der Abend war kalt und windig, und die Aussichten auf den nächsten +Tag waren wenig hoffnungsvoll. Meine Jurte stand fest wie ein Berg, +und ich lag darin wie ein Begrabener, aber es war dort so eng, daß +die Toilette mit gewissen Schwierigkeiten verbunden war. Am nächsten +Morgen machte ich in aller Frühe einen Spaziergang nach den nächsten +Hügeln in der Nachbarschaft und hatte von dort aus einen großartigen +Überblick über dieses eigentümliche Gebiet, das reicher an Wasser als +an Land ist. Der innerste Teil des Sees erstreckte sich keilförmig nach +Nordosten. Er liegt 4848 Meter über dem Meere. Wir waren hier wieder +in verhältnismäßig tiefere Gegenden gelangt, und doch befanden wir uns +noch höher als der Gipfel des Montblanc! + +Unterdessen wurde das Boot ins Wasser gebracht und ausgerüstet, und +nun ruderten wir dicht an die senkrechten roten Sandsteinfelsen heran, +unter denen die Fische standen. Die Karawane zog um den See herum +weiter, um an seinem Südufer gegenüber einem Berggipfel zu lagern (Abb. +139, 140). + +Das Boot wurde ganz nahe am Ufer verankert. Die Blöcke der Bergwände +schienen oft nur an einem Haar zu hängen; es war, als drohten sie +herabzustürzen und uns zu zerschmettern. + +Als Angelruten wurden Zeltstangen benutzt, als Köder kleine Stücke +Yakfleisch, und eine leere Zündholzschachtel diente in tadelloser Weise +als Kork. Die Fische bissen gut an, aber die Ausbeute war doch gering. +Nur vier mittelgroße Asmane blieben an unseren Angelhaken hängen. +Wir angelten nicht zum Vergnügen, sondern der Nahrung wegen, der +Fang reichte jedoch nur gerade zu einer Mahlzeit für uns. Wenn unser +Mittagsessen an diesem Abend auch nur dürftig ausfiel, so war es dafür +aber wenigstens außergewöhnlich und delikat. + +Während ich in Gedanken versunken saß und mich des Sonnenbades und der +Ruhe erfreute, flogen die Stunden nur so hin, und es wurde Zeit, nach +dem Sammelplatze zu steuern. Im Westen wurde es dunkel, und der Himmel +überzog sich bald mit Wolken. Ein Sturm war im Anzug. Wir mußten uns +entscheiden, ob wir ihn erst vorüberziehen lassen wollten, was sich +nicht verlohnt hätte, da es schon 2 Uhr und die Karawane wahrscheinlich +bereits am Vereinigungspunkte angelangt war, oder ob wir uns auf den +See hinauswagen sollten; ich zog das letztere vor. Kutschuk brauchte +nicht lange zu rudern, so kamen wir in den nordwestlichen Wind hinein, +der uns großartig weiterhalf. Im Süden strichen schon blaugraue Wolken +mit lang herunterhängenden, nachschleppenden Hagelfransen längs der +Berge hin, die allmählich verschwanden, und hinter uns verdichtete sich +die Luft auf dieselbe Weise. Der Sturm kam immer näher, der See ging +immer höher, und um uns her waren die Wogen mit weißem Schaum bedeckt. + +Jetzt schlug die Hagelbö nieder, und die großen Körner prasselten +auf das Wasser. Das Innere des Bootes wurde binnen wenigen Minuten +kreideweiß. Nach allen Seiten hin war nichts weiter zu sehen als +Wasser und Hagelwolken, keine Spur vom Ufer und von den Bergen. Wir +mußten der Wellen wegen, die der anschwellende Wind zu bedeutender +Höhe aufpeitschte, scharf aufpassen; da sie aber mehrere Male so +lang waren wie das Boot, wurden wir gut mit ihnen fertig. Die Jolle +wurde wacker nach Südosten getragen, und der Schaum spritzte um den +Vordersteven. Unmittelbar südlich von den Felsen hatte die Tiefe +48,67 Meter betragen, die größte von mir in Tibet gemessene, nach dem +Südufer zu aber nahm sie schnell ab. Je weiter wir uns von diesen +Felsen entfernten, desto mehr waren wir dem Sturme ausgesetzt, und ich +fürchtete, daß der See so flach werden würde, daß unser Fahrzeug wie +eine Nußschale von der Brandung umhergeworfen werden könnte. + +Nachdem der Hagelschauer aufgehört hatte, tobte der Wind noch ärger; +aber jetzt konnten wir wenigstens sehen, wo das Land lag (Abb. 141, +142). Wir hatten noch nicht den halben Weg zurückgelegt und steuerten +nach einer Landspitze hin, hinter der wir im Windschutz sein würden. +Die Wellen waren jetzt so hoch, daß wir das Ufer nicht sehen konnten, +wenn wir uns in ihren Tälern befanden. Sie sahen unheimlich aus +und waren, wenn die Sonne aus den Sturmwolken hervortrat, blank +wie Delphinrücken und glänzten bald grün, bald blau, während die +Sonnenstrahlen den spritzenden Schaum wie Juwelen funkeln ließen. Der +Segeltuchrumpf der Jolle bauchte sich bei dem Stampfen aus; er war so +gespannt, daß ein heftiger Seitenstoß ihn hätte sprengen können, und +wir mußten das Boot jetzt mit beiden Rudern manövrieren und die Stöße +parieren. Doch auch diesmal lief alles glücklich ab. Der Sturm ging +vorüber, der Wind legte sich, die Einzelheiten des Ufers ließen sich +erkennen, und wir änderten den Kurs, indem wir ihn jetzt gerade auf das +Lager richteten. Der Sonnenuntergang war prachtvoll. Die Sonne selbst +versteckte sich hinter einer kohlschwarzen Wolke, ihre reflektierten +Strahlen aber glänzten wie Quecksilber auf der Oberfläche des Sees. + +Wir hatten uns jetzt so weit von Turdu Bais Lager entfernt, daß wir +an den Rückzug denken mußten. Nach meinem Besteck konnten wir nicht +mehr weit von den Quellen des Jang-tse-kiang sein, und ich hatte +den Gedanken an einen Versuch, sie zu finden, noch nicht gänzlich +aufgegeben. Daß die drei großen Seen, die wir in dieser Gegend entdeckt +hatten, mit ihnen nichts zu schaffen haben, war klar; diese Seen +bilden ein abflußloses Becken für sich. Ganz sicher war ich meiner +Sache jedoch noch nicht und ich beschloß daher, den 2. September einer +Exkursion nach Süden zu opfern. Diese führten uns über wellenförmige +Ebenen mit spärlichem Graswuchs und morastigem Boden, und nach einer +Wanderung von 27 Kilometer machten wir am Ufer eines Flusses Halt, +der sich in den nächsten See, einen südöstlich von den vorhergehenden +liegenden kleinen Salztümpel, ergießt. + +Weiter konnten wir mit unseren abgetriebenen Pferden und unseren +zusammenschmelzenden Vorräten nicht gehen, sondern mußten am folgenden +Tage wieder nach Westen ziehen, wobei wir in dem tückischen Boden +beinahe steckengeblieben wären. Die Pferde sanken bisweilen 60 +Zentimeter tief ein. Ein mächtiger, von den Bergen im Süden kommender +Fluß strömte nach Norden, nach dem von uns übersegelten See hin; sein +Bett bot uns guten, festen Boden zum Reiten dar. + +Diese Gegend ist außerordentlich reich an Wild. Von Orongoantilopen +sahen wir ein halbes Dutzend Herden von etwa je 20 Tieren; Yake und +Kulane traten einzeln oder in kleinen Gruppen von ein paar Tieren auf; +Feldmäuse, Murmeltiere und Hasen gab es überall, und am Seeufer schrien +Gänse und Möwen. Die Karawane ritt in zwei Gruppen, zwischen denen +eine Lücke von 50 Meter war. Gerade durch diese Lücke jagte Jolldasch +drei Kulane, die in schmetterndem Trab vorbeisausten. Kaum war ich mit +meinem kleinen photographischen Apparate in Ordnung, so waren sie schon +fort. Eine Weile darauf verschwand der Hund, einer Orongoherde auf den +Fersen folgend, und als er nach langer Abwesenheit wieder erschien, war +er mit Blut befleckt und augenscheinlich übersatt. Es war ihm gewiß +gelungen, eine der Antilopen zu erwischen, und er hatte an ihr eine +ordentliche Mahlzeit gehalten. Auch Wölfe und Füchse streiften auf den +Ebenen, die sich im Süden des Sees ausdehnen, umher. + +Es war meine Absicht gewesen, am Tage darauf nach Norden über den See +zu rudern, um eine neue Lotungslinie zu erhalten, aber wir erwachten +unter höchst ungewöhnlichen Witterungsverhältnissen. Der Himmel war +ganz klar, die Sonne schien in all ihrem Glanze, dabei aber wehte ein +halber Sturm aus Norden, und die Wogen rauschten gegen das langsam +abfallende Ufer. Aus einer Seefahrt konnte demnach nichts werden. Wir +ritten daher westwärts weiter, immer am Ufer entlang, das hier so weich +ist wie ein großes Moorbad, ein Schlammpfuhl, ein abscheulicher Sumpf, +worin man bei jedem Schritt Gefahr läuft zu versinken. Ein seltsames, +unwirtliches Land! Sogar die Erde scheint gleich der Luft verdünnt zu +sein, ja selbst die Berge sind porös wie Bimsstein. Alles ist in einer +Art Auflösungszustand; auf das Wetter ist hier gar kein Verlaß, und es +ist lebensgefährlich, sich den Seen anzuvertrauen. + +An einigen Stellen trägt der Boden, geht aber in Wogen und schwankt +unter dem Gewichte der Pferde. Endlich nimmt der See ein Ende, +und sein Wasser ergießt sich durch einen breiten, ziemlich großen +Flußarm in den unteren süßen See. Hier hatten sich Hunderte von +Wildgänsen niedergelassen, die in kurzen Kreisen ihre neugefiederten +Flügel erprobten und sich zu der bevorstehenden Reise nach wärmeren +Himmelstrichen vorbereiteten. Ein einsamer Königsadler beobachtete sie. + +In der Nähe des Punktes, wo der Fluß in den unteren See mündet, wurde +das Lager Nr. 62 aufgeschlagen. Von hier aus konnten wir von dem +Hauptquartiere, wo Turdu Bai wartete, nicht mehr als eine Tagereise +längs des südlichen Seeufers entfernt sein. Während Mollah Schah und +Tscherdon zu Land weiterzogen, fuhr ich mit meinem sicheren Ruderer +Kutschuk diagonal über den See. Ich trat die Fahrt im herrlichsten +Wetter bei günstigem östlichem Winde an. Der Wind wurde stärker, schlug +nach einer Weile aber wieder um. Die gewöhnlichen Vorboten des Sturmes, +die schwarzen Wolken, verdunkelten den Himmel im Westen. Sie teilten +sich in zwei Abteilungen. Die eine zog über die Berge im Süden hin und +ließ eine weiße Schneedecke hinter sich zurück, die andere eilte uns +über den See entgegen. Wieder erhoben sich die unruhigen Wellen, denen +hier nie Ruhe gegönnt ist. Das Klügste wäre gewesen, mit dem Sturme zu +treiben; aber dann hätten wir uns von den Unseren entfernt, die uns vom +Nordufer, von welchem sie der breite Sund trennte, nicht hätten abholen +können. + +Wir beschlossen, mit Aufbietung aller unserer Kräfte gegen Wind und +Wellen anzurudern. Schon stampfte das Boot greulich, und ich, der vorn +saß, nahm das Spritzwasser jeder hohen Welle in Empfang und war bald +klatschnaß (Abb. 143). Ein Gußregen tat das Seine, um die Situation +noch unbehaglicher zu machen. Wir arbeiteten mit je einem Ruder, daß +diese knackten, aber die Wellen warfen uns immer wieder zurück. Das +Boot schwebt auf einem Wogenkamme oft zur Hälfte über dem Wasser und +plumpst dann in das Tal mit einem Knalle hinunter, der leicht ein +Sprengen des schwachen Fahrzeuges verursachen könnte. + +Jetzt trat ein neuer, unheilvoller Umschlag in der Windrichtung ein; +der Wind sprang mit ungeheurer Geschwindigkeit nach Süden um, so daß +ein neues Wogensystem, welches das bisherige kreuzte, entstand. An +den Kreuzungspunkten bilden sich Wellenpyramiden von doppelter Höhe. +Es gilt ihnen entgegenzutreten, sie zu parieren und möglichst auf +den verhältnismäßig ebenen Wasserflächen zwischen ihnen zu bleiben. +Doch ehe man sich besinnen kann, wird die Jolle auf einen Wellenkamm +gehoben, und balanciert man dann nicht, so kann man leicht kentern. +Lotungen konnten nicht mehr vorgenommen werden. Man darf sich freuen, +wenn man von diesem Abenteuer mit dem Leben davonkommt, und wir fragen +uns unwillkürlich, ob diese oder die nächste Welle unser Boot umreißen +wird. + +So arbeiteten wir anderthalb Stunden, ehe sich die Sturmbö und mit ihr +auch die Wellen legten. Doch der Himmel sah noch immer unheilverkündend +aus. Überall sah man Sturmzentren, die Tromben mit schwarzen, hängenden +Wolkendraperien glichen. Das Ufer schien noch immer gleichweit +entfernt, als die zweite Bö kam und uns mit Massen von Schnee und +Hagelkörnern, die uns gerade ins Gesicht schlugen, überschüttete. Man +mußte den Kampf aufnehmen, denn ein unvorsichtiger Augenblick des +Erschlaffens konnte bewirken, daß eine Welle die Gelegenheit benutzte +und das Boot umkehrte. Den ganzen Tag arbeiten wir wie Galeerensklaven. + +Während der Pause, die jetzt eintrat, beeilten wir uns Terrain zu +gewinnen, denn der Himmel verfinsterte sich zum dritten Male, und die +dritte Sturmbö sauste mit strömendem Regen auf uns los. War das Innere +des Bootes vorher kreideweiß von Schnee und Hagel gewesen, so stand +jetzt in beiden Hälften Wasser, das mit den Wellen im Takte plätscherte. + +Nach achtstündiger angestrengter Arbeit erreichten wir endlich das +Ufer; es war ein schönes Gefühl, wieder festen Boden unter den Füßen +zu haben. Von einem Hügel sah ich Mollah Schah, der uns an einer +Landspitze mit vier Pferden erwartete. Wir steuerten dorthin und +hielten zur Messung der Wassermengen in dem Sunde an, den wir vor einer +Woche passiert hatten. Die Breite und die Tiefen wurden gemessen, aber +nur drei Geschwindigkeiten konnten bestimmt werden, als die vierte +Sturmbö kam. Obgleich die Sonne noch über dem Horizont stand, wurde +es so dunkel wie bei Nacht, und nur zackige Blitze erhellten das +unheimliche Chaos. Nur mit Aufbietung der äußersten Kräfte konnten wir +über den 60 Meter breiten Sund hinüberkommen. Es war ein gründlicher +Abschiedsgruß des entfliehenden Sturmtages. Wir hatten wirklich genug +davon. Segel, Mast, Ruder und Rettungsbojen wurden am Ufer unter das +umgekehrte Boot gelegt, ich verteilte die Instrumente unter uns, dann +stiegen wir zu Pferd und trabten langsam nach Hause. + +Das Reiten war gar zu schön nach all der anstrengenden Ruderarbeit. +Jetzt glänzte der Mond zwischen zerrissenen Wolken hervor, und sein +Licht vermischte sich in phantastischer Weise mit den zuckenden +Blitzen, die einander unaufhörlich ablösten. + +Ganz erschöpft kamen wir endlich in unseren kalten Hütten an, wo alles +gut stand. Aldat hatte vier Orongoantilopen geschossen; wir hatten +daher Proviant für ein paar Wochen. Die Kamele und die abgetriebenen +Pferde waren fetter geworden und hatten sich ausruhen können. Doch der +Sturm jagte noch immer über die Erde hin, als wir uns in Morpheus’ Arme +warfen. + +Der 6. September, an dem wir im Hauptquartier verweilten, hatte beinahe +den Charakter eines Winterabends. Kein Schimmer war von der Sonne zu +sehen, und die Hagelschauer folgten dicht aufeinander. Ich beschäftigte +mich mit den Ergebnissen der Exkursion, Tscherdon und Kutschuk gingen +auf ziemlich erfolgreichen Fischfang aus, und die anderen präparierten +Orongoskelette. Eine der vier Antilopen hatte, schwer verwundet, die +Flucht ergriffen und Aldat hatte sie verloren gegeben, Turdu Bai aber +verfolgte die Spur und fand das Tier tot an einem Tümpel liegen, +bewacht von einem Adler, der schon ein paarmal in die von der Kugel +verursachte Wunde gehackt hatte. Er wurde jetzt eine leichte Beute. + +Vielleicht erwähne ich in dieser Reisebeschreibung viel zu oft solcher +Dinge und Verhältnisse, die dem Leser als reine Bagatellen erscheinen +mögen; es geschieht jedoch, um ihm einen Begriff zu geben von dem +Leben, das der einsame Wanderer in diesen öden, unbewohnten Gegenden +führt. Aneinandergereiht können sie ein vollständiges Bild liefern von +dem Verlaufe der Tage durch Monate und Jahre hindurch in dem kleinen +Gemeinwesen, das unsere Welt ausmachte. Letztere ist nicht groß und sie +lebt unter einförmigen Verhältnissen; dieselben Beschäftigungen kehren +regelmäßig mit dem Glockenschlage wieder, und nur das Land, das wir +durchwandern, hält mit seinen beständigen Veränderungen das Interesse +wach. + +Mit der Wahl meiner Diener hatte ich allen Grund zufrieden zu sein. +Turdu Bai sorgt mit stoischer Ruhe für die Kamele, als wären es seine +eigenen Kinder. Tscherdon ist ordentlich, pünktlich und aufgeweckt +und überdies ein sehr komischer Geselle mit seiner eigenen kleinen +Philosophie. Mollah Schah pflegt die Pferde tadellos, ist aber ein +bißchen wortkarg, brummig und verschlossen. Während des Marsches wird +die halbe Pferdekarawane von Kutschuk geführt, der, wenig über zwanzig +Jahre alt, ein Riese ist, stets heiter und zufrieden, besonders wenn er +auf dem Wasser sein kann, denn seit seiner Kindheit hat er die Ruder +geführt. Ohne Aldat wäre unsere Lage jetzt recht besorgniserregend +gewesen. Er hat uns mit frischem Fleische versorgt und läuft stets +hinter Wildbret her. Sowohl im Lager wie auf dem Marsche mag er am +liebsten allein sein, und er redet nur wenig. Nias verrichtet die +gröberen Arbeiten, trägt Wasser, wenn wir lagern, sammelt Feuerung, +treibt morgens die Tiere ein und hilft beim Beladen. + +Am besten haben es die Hunde; sie erhalten frisches Fleisch im Überfluß +und haben weiter nichts zu tun, als Wache zu halten; bellen sie einmal +des Nachts, so gilt es nur Yaken, Kulanen oder unseren eigenen Tieren. +Sie spielen mit dem letzten Schafe, das zu schlachten keiner übers Herz +bringen kann; treu zu den Kamelen haltend, weidet es mit ihnen und ruht +nachts zwischen ihren wärmenden Leibern. + +Das Lager Nr. 43 wurde ein Wendepunkt. Weiter südlich konnten wir +nicht gehen, da unsere Vorräte nur für 2½ Monate berechnet und wir +schon 1½ Monate unterwegs waren. Reis hatten wir noch genug, aber +mit dem Mehl mußte mit der größten Sparsamkeit umgegangen werden. Es +war davon zuviel draufgegangen, als wir versuchten, das Kamel, welches +starb, zu retten. Der Winter würde nicht lange auf sich warten lassen, +und wir mußten daher in einem großen westnordöstlichen Bogen nach dem +Hauptlager im Tschimentale eilen. + +Ich wollte, bevor wir diesen Teil von Tibet verließen, noch eine der +latitudinalen Bergketten, die in einem im Südwesten sich erhebenden +gewaltigen Bergmassiv mit ewigem Schnee kulminierte, überschreiten. +Im Lager Nr. 44 (4888 Meter) beschlossen wir also, die Karawane zu +teilen. Turdu Bai sollte mit dem größeren Teile nach Westsüdwest +durch das sich in dieser Richtung öffnende Längental ziehen. Er +hatte Befehl, uns auf offenem Lande unmittelbar nordwestlich von dem +Bergmassive, um dessen Südseite ich herumgehen wollte, zu erwarten. +An dieser Exkursion, deren mutmaßliche Dauer auf vier Tage berechnet +war, sollten Tscherdon und Aldat teilnehmen. Wir hatten nur sechs +Pferde, die kleinen provisorischen Jurten, Proviant für eine Woche +und Feuerung für zwei Tage. Ich würde mich mittelst meines Besteckes +und des Kompasses schon zurechtfinden, aber von dem Gesichtspunkte +aus, daß sich die Muselmänner verirren konnten, war das Ganze doch +etwas abenteuerlich. Indessen mußten die Spuren der einen Gesellschaft +doch immer der anderen als Leitschnur dienen, und gab es in der zum +Sammelplatze ausersehenen Gegend gar keine Spuren, so sollte die zuerst +angelangte Gesellschaft dort warten. Für den Fall aber, daß alle +Spuren durch Schnee oder Regen bald verwischt werden würden, sollte +Turdu Bai, wenn wir nach einer Woche noch nichts von uns hören ließen, +alle Nachforschungen aufgeben und sich nach Norden nach dem großen +Hauptquartiere durchzuschlagen suchen. Ihr Proviant reichte im Notfalle +aus, und was uns betraf, so würde uns Aldat wohl mit Fleisch versorgen +können. + +Am 8. September brachen die beiden Abteilungen gleichzeitig aus dem +Lager Nr. 44 auf. Nachdem wir den Fluß, der vor einigen Tagen unseren +Marsch nach Süden gehemmt hatte, in seinem oberen Laufe überschritten +hatten, gingen unsere Wege auseinander. Wir eilten nach Südsüdwesten. +Nach einem mehrstündigen schnellen Ritt gelangten wir an eine +Hügelreihe, der Quellen entsprangen, die kleine Becken kristallhellen +Wassers bildeten und von niedrigem, dichtem, intensiv grünem Grase von +der Weichheit eines indischen Rasens umgeben waren. Da nach Süden hin +keine Weide zu erblicken war und wir in der Nähe der Quellen reichliche +Feuerung fanden, weil Yake und Kulane sie zu besuchen pflegten, blieben +wir dort in einer Meereshöhe von 4973 Meter. + +Während des Rittes hatten wir Gesellschaft von ein paar großen, ganz +hellgelben Wölfen, die uns mit gespannter Aufmerksamkeit beobachteten. +Jolldasch, der sie in die Flucht jagen wollte, mußte an die Leine +genommen werden; er wäre ihnen ein willkommener Bissen gewesen. Das +Wetter war natürlich abscheulich. Es war der achtzehnte Tag mit Schnee- +und Hagelsturm aus Westen; die Nacht aber war wie gewöhnlich windstill +und sternklar. + +[Illustration: 154. Unser Lager in Togri-sai am 8. Oktober. (S. 370.)] + +[Illustration: 155. Die Kamelkarawane. (S. 372.)] + +[Illustration: 156. Das Illwe-tschimen-Gebirge aus dem Tschimental. (S. +374.)] + +[Illustration: 157. Obo beim Lager Nr. 71 im untern Togri-sai. (S. +373.)] + +Auch am 9. ritten wir bei starkem Wind nach Südwesten. Es geht bergauf +und bergab über eine Menge Hügel. Wir nähern uns immer höheren +Regionen. Ein aus lauter Moor bestehender Ausläufer mußte umgangen +werden, bevor wir wieder nach Westen abschwenkten und das Schneemassiv +vor uns hatten. Steifgefroren und abgespannt lagerten wir auf dem +letzten Grasplatz. + +Als das Lager fertig war, meldete Aldat, daß ein großer Yak in der +Nähe weide, und bat, auf die Jagd gehen zu dürfen, was erlaubt wurde. +Ich beobachtete ihn, wie er katzengleich in den Bodensenkungen +hinschlich, um auf genügende Treffweite an das nichts Böses ahnende +Tier heranzukommen. Er hatte dem starken Gegenwinde zu danken, daß er +sich dem Yak bis auf 30 Schritt nähern und die Flinte auf die Gabel +legen konnte. Der Schuß krachte, und der Yak machte einen Satz, daß +der Sand hoch aufwirbelte, lief dann noch ein paar Schritte, blieb +stehen, taumelte, versuchte sich im Gleichgewicht zu halten, fiel, +stand wieder auf und wiederholte diese Bewegungen mehrere Male, bis er +schließlich wie ein Klotz auf die Erde fiel und liegenblieb. Aldat lag +noch, unbeweglich wie eine Statue, hinter seiner Flinte, um nicht die +Aufmerksamkeit des sterbenden Tieres zu erwecken. + +Tscherdon und ich begaben uns nun dorthin. Alle drei bis vier Schritte +bleibt man stehen und hat das Gefühl, als müsse man in dieser ungeheuer +verdünnten Luft von der Anstrengung sofort einen Herzschlag bekommen. +Der gefallene Yak war ein großer fünfzehnjähriger Stier. Die Messer +wurden hervorgeholt, der Kopf vom Rumpfe getrennt und die Eingeweide +herausgenommen; dann blieb das Tier bis zum nächsten Morgen liegen, da +das uns besonders nötige Fett erst dann geholt werden sollte. Betrübten +Herzens mußte Aldat das prächtige Fell zurücklassen, das ihm in +Tschertschen eine hübsche Summe eingebracht hätte, aber wir hatten nur +drei Lastpferde, und ich versprach ihm, seinen Meisterschuß zum vollen +Werte zu bezahlen. + +Der 10. September war ein harter Tag. Vor Sonnenaufgang trieb Aldat die +Pferde ein, die sich bis weit ins Tal hinunter verirrt hatten; dann +ging er wieder fort, um das Fett und den Yakkopf in das Lager zu holen. +Der Westwind, unser schlimmster Feind, verschlief sich und stellte +sich erst um 9 Uhr ein; er entschädigte sich aber für den Zeitverlust, +denn so arg hatte er selten getobt. Das Lager lag auch sehr offen und +in einer Höhe von 5143 Meter, so daß der Wind in den hohen Regionen +freien Spielraum hatte. Im Westen zeigte sich der auf der Südseite des +Schneegebirgsstockes liegende Paß, über den wir hinüber sollten. Man +bebte zurück vor dieser unheimlichen Schwelle, deren Höhe bedeutend +sein mußte. Gefährlich sah der Paß jedoch nicht aus. + +Da Aldat noch immer nicht kam, schickte ich Tscherdon aus, um tragen +zu helfen. Erst um 11 Uhr kehrten sie zurück. Tscherdon hatte den +jungen Jäger krank neben seinem Opfer liegend gefunden, außerstande, +seine Arbeit fortzusetzen. Der Kosak half ihm nach dem Lager zurück und +brachte einen Teil des Yakfettes mit. Der arme Jäger sah wirklich sehr +angegriffen aus und hatte heftiges Kopfweh und Nasenbluten. Er mußte +sich ruhig verhalten, während ich und Tscherdon das Zelt abbrachen und +unsere Tiere beluden. + +Die Erde war bei -6 Grad Kälte gefroren; in der vorhergehenden Nacht +hatten wir sogar -10,7 Grad gehabt; dies waren deutliche Anzeichen des +Winters. Aldat war so schwach, daß er ohne Hilfe nicht in den Sattel +kommen konnte; schließlich aber waren wir mit allem in Ordnung und +konnten uns auf den Weg nach dem abscheulichen Passe machen. Rechts +von uns defilierten alle bisher aus der Ferne erblickten Schneegipfel +vorbei, jetzt aber in unserer unmittelbaren Nähe. Als die Sonne +kräftiger wurde, taute der Boden wieder auf, und wir mußten mühsam +durch den Schlamm patschen. Stundenlang ging es bergauf; wir glaubten +unaufhörlich, den Paß dicht vor uns zu haben, aber immer wieder war er +in die Ferne gerückt. Neue Höhen, neue kleine Schwellen erheben sich +vor uns; wir überschreiten sie und müssen dann sehen, daß die Aussicht +nach Westen schon wieder von einer neuen Höhe verdeckt wird. + +Die Pferde sinken in den Schlamm ein. Der lockere Boden ist mit +Schieferplatten bedeckt; die armen Tiere gleiten auf ihnen aus, +geraten in den Schlamm daneben und verletzen sich die Beine an den +scharfen Kanten. Im Schutze eines großen Felsblockes rasten wir eine +Viertelstunde, um unsere steifgewordenen Glieder wieder geschmeidig +zu machen. Etwa 10-20 Meter nördlich von unserem Wege enden zwei +scharfabgeschnittene Gletscherzungen. An ihnen entlang gingen ebenso +langsam wie wir zwei Yake. Jolldasch lief hin und bellte sich heiser, +aber sie schenkten ihm nicht die geringste Aufmerksamkeit. Manchmal +blieben sie stehen und betrachteten uns, hielten uns aber sichtlich für +ungefährlich. Diese großen Tiere bewegten sich auf diesem Moorboden und +in dieser dünnen Luft mit beneidenswerter Leichtigkeit und Gewandtheit. +Auf dem Passe zeigten die Aneroide eine Höhe von 5426 Meter; man hat +dort genau die halbe Höhe der Atmosphäre unter sich! + +Das Thermometer stieg an diesem Tage nicht einen halben Grad über Null, +und der Wind drang uns durch Mark und Bein; Pelze und Lederwesten +nützten gar nichts. Könnte man gehen, so wäre es leicht, die +Körperwärme wieder zu erhalten, aber man kann nicht gehen, man hockt +auf den vorwärtstaumelnden Pferden und sehnt sich nach einem leidlichen +Lagerplatze. Der einzige Trost, den wir hatten, war, daß es wieder +bergab ging, nachdem wir den Paß endlich erreicht hatten. In einer Höhe +von 5263 Meter, 450 Meter über dem Gipfel des Montblanc, lagerten wir +in einem vom Passe nach Südwest führenden Tale. Dort wuchsen einige +erbärmliche Grashalme, und wir hatten nur noch eine Handvoll Feuerung. +Aldat konnte nicht auf den Beinen stehen; er mußte an der Stelle, wo +er vom Pferde heruntersank, bleiben und wurde sofort in Filzdecken +eingepackt; wir konnten ihn nicht einmal dazu bewegen, ein wenig heißen +Tee zu trinken, und er stöhnte die ganze Nacht. + +Am folgenden Morgen erschien im Südwesten ein neues Schneemassiv und in +seiner Südostverlängerung ein ganzer Kamm von schneebedeckten Bergen, +gewiß die +Tang-la-Kette+. Von Osten nach Westen erstreckt sich +ein Haupttal, in welches alle Flüsse und Bäche der Gegend einmünden. +Um nicht alle ihre Täler überschreiten zu müssen, beschlossen wir, +in dieses Längental hinunterzugehen. In der Nähe des Bergfußes erhob +sich ein kleiner isolierter Hügel, auf dem Tscherdons scharfe Augen +einige dunkle Punkte entdeckten, die er für Menschen oder Yake hielt. +Wir machten Halt und beobachteten sie mit dem Fernglase. Etwas war es, +denn sie bewegten sich, aber der eine Punkt schien unförmlich groß; +vielleicht war es eine Yakkuh mit ihren Kälbern. + +Angeregt von diesem Anblick schlugen wir die Richtung nach dem Hügel +ein. Der arme Aldat befand sich jetzt so schlecht, daß er festgebunden +werden mußte, um nicht herunterzufallen. Er redete unzusammenhängende +Worte, schien zu phantasieren und bat unaufhörlich, wir sollten ihn +zurücklassen. Als wir weiter unten am Abhange waren, konnten wir in den +schwarzen Punkten zwei Männer erkennen, die Steine zu einer Pyramide +sammelten. Noch ein bißchen weiter und wir sahen, daß die beiden Männer +unsere Freunde Turdu Bai und Kutschuk waren, die sich am Abend vorher +hierher begeben hatten, um nach uns auszuspähen. Da sie keine Spuren +von uns hatten finden können, hatten sie beschlossen, in ihr Lager +zurückzukehren, vorher aber noch ein Wahrzeichen für uns zu errichten. +Für eine künftige Expedition wird die Pyramide, die über zwei Meter +hoch ist, ein gutes Merkmal und ein leicht wiederzuerkennendes Zeichen +sein. + +Nach einem sehr notwendigen Ruhetage im Lager Nr. 48 (5073 Meter) zogen +wir am 13. September nach Westen weiter (Abb. 144). Es war nicht unsere +Absicht, einen Kranken den Strapazen der Reise auszusetzen, aber unsere +knappen Vorräte erlaubten uns nicht, noch länger zu verweilen. Aldat +hatte die ganze Nacht phantasiert, gestöhnt und Lieder in persischer +Sprache gesungen. Die Behandlung, die ich für geeignet gehalten hatte, +wirkte nicht. Er hatte die Herrschaft über seinen Körper und seinen +Geist verloren, verfiel sichtlich und starrte mit wirrem Blicke ins +Leere. Während des Marsches lag er auf einem Bett, das ihm auf einem +Kamel zwischen ein paar Säcken zurechtgemacht worden war. Er hatte ein +Kopfkissen, war mit Filzdecken zugedeckt und mußte festgebunden werden, +um nicht herunterzugleiten (Abb. 145). + +In dem Längentale gingen wir über eine niedrige Schwelle (5107 Meter) +und folgten dann einem Bett, dessen Boden aus Sand bestand; es war ein +vortrefflicher Untergrund, der die Tiere trug. Vor uns ging in aller +Gemächlichkeit ein Yakstier, dessen schwarzer Fransenbehang die Erde +berührte und der wie ein mit einer Trauerdecke versehenes Turnierroß +aussah. Jolldasch lief ihm nach und zupfte ihn an den hinteren Zotteln. +Der Yak drehte sich um, richtete den Schwanz in die Höhe und senkte +die Hörner zum Angriff, worauf Jolldasch auskniff, um das Spiel nach +einer Weile wiederzubeginnen. Eine Herde von 20 Archaris oder wilden +Schafen verschwand wie der Wind, als Tscherdon mit Aldats Flinte sie zu +beschleichen versuchte. + +Das Tal, dem wir gefolgt waren, mündete in eine Ebene, in der wir an +dem ersten Süßwassertümpel (4903 Meter) lagerten. + +Von nun an wurde meine Jurte sowohl abends wie morgens geheizt. Der +Deckel des großen Eisentopfes oder, wenn dieser gebraucht wurde, meine +Waschschüssel wurde mit glühenden Kohlen auf einem Bett von Asche +in die Jurte gestellt; dies war bei dem ewigen Winde, der über das +Hochland hinstrich, wirklich notwendig. + +Am 14. September konnten wir infolge des vorteilhaften, wenig kupierten +Terrains volle 30 Kilometer zurücklegen. Die Landschaft wird durch +zahllose kleine Salztümpel charakterisiert, von denen jeder das Zentrum +eines ganz kleinen abflußlosen, sehr oft auch keinen sichtbaren Zufluß +erhaltenden Beckens bildet. Wir suchten lange nach süßem Wasser +und blieben bei einer kleinen Quelle, die mit spärlichem Graswuchs +umgeben war. Das Wetter war zu Anfang des Tages herrlich gewesen, +nachmittags aber kamen die gewöhnlichen Stürme, jetzt der Abwechslung +halber von Osten. Es hagelte und gewitterte. Gerade als wir lagerten +(4890 Meter), begann ein ärgeres Schneetreiben, als wir es je erlebt +hatten. Das kurze Gras war bald unter dem Schnee begraben. Auf der +Windseite meiner Jurte türmte sich eine ganze Düne von Schnee auf. Es +war nicht leicht, um 9 Uhr die gewöhnliche meteorologische Ablesung +auszuführen, denn es war so dunkel wie in einem Sacke, und man wurde in +kompakte Wolken von wirbelndem Schnee gehüllt. Die Ablesungslaterne +ist invalid geworden, denn drei ihrer Glasscheiben sind durch Pappe +ersetzt, und die vierte ist in zwanzig Stücke zersprungen, die durch +Papierstreifen und Syndetikon zusammengehalten werden. Der Schnee +knirscht unter unseren Füßen, und man braucht sich nur ein paar Minuten +im Freien aufzuhalten, um einem Schneemanne zu gleichen. Das Zelt der +Leute schlägt und knallt im Winde; ich kann daraus entnehmen, wo es +steht, denn obwohl es nur ein paar Meter entfernt ist, kann ich es im +Schneegestöber nicht sehen. Man kann sich indessen noch freuen, daß +man sich bei solchem Wetter unter Dach befindet, während die armen +Tiere müde und frierend, die Schwänze gegen den Wind gekehrt, draußen +stehen müssen. Es ist unheimlich in einem Lande, das nichts weiter als +Wasser bietet, eingeschneit zu werden. Die Aussichten für die Zukunft +sind auch nicht gut; all dieser Schnee kann schmelzen und den Boden in +einen Schlammpfuhl verwandeln. Schon um 9 Uhr abends war die Temperatur +auf -2,1 Grad heruntergegangen, nachdem wir um 1 Uhr +11 Grad gehabt +hatten. Wir waren jetzt jedoch so von Schnee umgeben, daß sowohl das +Zelt wie die Jurte die Nacht über warm gehalten wurden. + +Die Stimmung wurde durch den Zustand des armen Aldat noch gedrückter. +Er war von einer schweren Krankheit befallen, auf die ich mich nicht +verstand. Er klagte über Schmerzen im Herzen und im Kopfe, und seine +Füße waren kalt und hart wie Eis und sahen schwarz aus. Ich rieb sie +tüchtig, um das Blut in Umlauf zu bringen, aber ohne Erfolg. Sie waren +wie tot, und man konnte mit einer Stecknadel hineinstechen, ohne daß +er es fühlte. Dieser Zustand schritt nach und nach immer höher an +den Beinen hinauf. Spät am Abend gab ich ihm ein warmes Fußbad, das +ihm gut zu bekommen schien. Merkwürdig kam es uns jedoch vor, daß er +sozusagen verrückt geworden war. Während der Märsche schwatzte er +ununterbrochen und rief seinem Kamele zu, es solle sich legen, und +noch eine gute Weile, nachdem er im Zelte in sein Bett gelegt worden +war, bat er die andern in der herzbewegendsten Weise, doch das Kamel +halten zu lassen. Mollah Schah, der ihn von Tschertschen her kannte, +erzählte uns, daß er früher verrückt gewesen, aber von einem gewissen +Abdurrahman Chodscha, einem Ischan (Arzt), geheilt worden sei, welch +letzterer in das Haus von Aldats Eltern gekommen sei, dort Gebetformeln +über diesen gesprochen und ihn mit Koranversen beschriebene +Papierzettel habe verschlucken lassen. Es war herzzerreißend, diesen +vierundzwanzigjährigen, vor kurzem noch so kräftigen Mann in seinen +Fieberphantasien von seinem Vater und seinen Brüdern in Tschertschen +sprechen zu hören. Jetzt wurde nachts stets bei ihm Wache gehalten, und +wir taten alles, um ihn zu retten. Doch dazu ist nicht viel Aussicht +vorhanden, wenn man einen Sterbenden durch eisige Schneestürme und über +himmelhohe Berge schleppen muß! + +Von Hunger getrieben gingen die Pferde über Nacht auf +Grasentdeckungsreisen aus, und es dauerte am Morgen ziemlich lange, +bis wir sie wieder alle hatten. Jetzt schien die Sonne warm auf die +30 Zentimeter dicke Schneedecke, die durch ihre glänzend reine Weiße +blendete. Der Tag wurde jedoch kalt und rauh, denn ein häßlicher +Westwind wehte über die Schneefelder hin. Wenn er gelegentlich +aussetzte, war es richtig heiß in der Sonne, aber schon nach ein paar +Minuten waren wir wieder mitten im Schneegestöber. Dieses dauert zwar +nie lange, und die Sonne tritt bald wieder aus den Wolken hervor, +aber der Wind macht kalt. Es ist Winter und Sommer in brüderlicher +Vereinigung, ein charakteristisch tibetisches Wetter. + +Wir hielten jetzt konsequent nordwestliche Richtung ein und brauchten +daher keine mächtigen Bergketten zu überschreiten. Das Land war nach +dieser Seite ziemlich offen. Die Temperatur blieb den ganzen Tag +unter Null, und der gefrorene Boden trug. Aber der Schnee verbarg die +unglaublich dicht nebeneinanderliegenden Murmeltierlöcher, in welche +die Pferde oft traten und dann fielen. Unsere Marschregel lautete +jetzt: drei Tage Wanderung, den vierten Rast. Der 16. September, ein +Sonntag, war solch ein herrlicher Ruhetag mit gutem Wetter (in 4997 +Meter Höhe). Tscherdon hatte vorsorglich einige Patronen aufgespart, +gab sie nun aber für einen jungen Yak hin, der uns einen großen Sack +voll prächtigen Fleisches einbrachte; gut schmeckt es nicht, aber man +ist wenig wählerisch, wenn einem nichts anderes geboten wird. Er schoß +auch einen jungen Wolf, der es augenscheinlich auf unser letztes Schaf +abgesehen hatte. Der Kadaver wurde eine willkommene Speise für einige +Raben, die unsere immer müder werdende Karawane seit einigen Tagen +begleiteten; vielleicht ahnten sie, daß es nicht mehr lange dauern +konnte, bis jemand zurückgelassen werden würde. + +Abends bat Aldat, die Nacht im Freien zwischen zwei Kamelen zubringen +zu dürfen. Die Muselmänner glauben nämlich, daß die von diesen Tieren +ausströmende Körperwärme einen Kranken, dessen Kräfte im Abnehmen +begriffen sind, zu heilen und zu stärken vermag. Er wurde gut +eingepackt in den Kreis gelegt, und Mollah Schah und Nias leisteten ihm +Gesellschaft. + +Am 17. September wurde ich frühmorgens durch einen entsetzlichen Lärm +im Lager geweckt; die Hunde bellten, daß ihnen der Atem ausging, und +die Männer überschrien sich förmlich. Ich guckte hinaus und sah kaum +50 Schritt vom Zelte einen großen Bären forttraben. Aus den Spuren im +Schnee erkannten wir, daß er das Lager gründlich besichtigt und eine +Runde um meine Jurte gemacht hatte. Als die Hunde anschlugen, hatte er +es für gut befunden, den Rückzug anzutreten. + +Das Wetter war jetzt gut, aber das Terrain geradezu abscheulich. Die +kupierte Landschaft scheint mit kantigen, unangenehmen Tuffstücken in +allen Größen bedeckt zu sein. Nicht ein Quadratfuß ist frei davon. Und +gibt es eine kleine freie Stelle, so haben Feldmäuse und Murmeltiere +sie benutzt, um dort ihre tückischen Höhlen zu graben. Unsere Tiere +stolperten unausgesetzt gegen die spitzen Steine, und zwei von den +Kamelen verletzten sich die Fußsohlen derartig, daß sie bluteten. + +Dann folgte eine Strecke losen Bodens, der am Vormittag an der +Oberfläche noch so fest gefroren war, daß die dünne Kruste die +schweren Kamele trug. Doch allmählich taut diese obere Schicht auf, +und dann gehen wir wie auf schwachem Eise. An einer Stelle waren die +fünf Kamele in allerschönster Ruhe eben darüber hinweggeschritten, +als das sechste, das letzte, mit beiden Vorderfüßen durchtrat. Es +saß im Schlamme fest und sank immer tiefer hinein (Abb. 146). Die +anderen gingen weiter, der Nasenstrick riß, und das Kamel brüllte vor +Schmerz. Wir eilten herbei und nahmen ihm die Last ab. Dabei fiel es +auf die Seite; der Boden wurde immer weicher, und schließlich schwamm +es im Schlamme wie ein Stück Butter in einer Breischüssel. Wir banden +Stricke um seine Beine, um sie nacheinander herauszuziehen, aber +was wir auch mit ihm anstellten, es sank immer tiefer ein und hielt +sich überdies ebenso regungslos still wie im Wasser. Ich fürchtete +schon, daß wir sechs Männer es nicht würden herausholen können. Der +Packsattel hatte sich im Schlamme festgesogen und wurde abgeschnallt. +Schließlich kam ich auf den Gedanken, unter jedes Bein, das wir +herausgezogen hatten, eine Filzdecke zu breiten, und dann wälzten wir +es in die Höhe, bis es seine gewöhnliche Liegestellung einnahm. Nachdem +es sich so eine Weile ausgeruht hatte, brachten wir es dazu, eine +verzweifelte Kraftanstrengung zu machen; es taumelte nach dem festen +Boden hin, während ihm der Schmutz klumpenweise von den Beinen und den +Seiten fiel. Es war mit einem Schlammpanzer bedeckt, der mit Messern +abgeschabt wurde, und stand zitternd da, außer Atem und kollerig. + +Darauf erreichten wir ein eigentümliches Tal, das sich nach Ostnordost +bis zu einem in 10 Kilometer Entfernung sichtbaren See erstreckte. +Nordöstlich von diesem erhebt sich ein gewaltiges Schneemassiv, das wir +den ganzen Tag auf der rechten Seite gehabt hatten und das entschieden +der riesige Gebirgsstock war, dessen Nordseite ich 1896 umwandert und +den ich +König-Oskar-Gebirge+ genannt hatte. + +Im Talboden stehen tafelförmige, mit 15-20 Meter dicken Tuffbetten +bedeckte Terrassen, und der Boden ist dicht mit Tuffblöcken besät. + +Am folgenden Tag hatte die Sonne ihre Herrschaft wiedererlangt, und die +Stürme schwiegen. Der Rest des letzten Schnees schmolz und verdunstete. +Um 1 Uhr stieg die Temperatur bis auf +12 Grad. Es geht auf günstigem +Terrain nach Nordwesten. Zur Linken zieht sich eine kleinere Bergkette +hin, fern im Nordosten eine mächtigere und zwischen beiden ein +Längental von dem gewöhnlichen Aussehen. Vor uns erhebt sich ein +gewaltiges Schneemassiv, dessen Firnfelder in der Westsonne wie Silber +glänzen, während die hügeligen schwarzen Seiten einem Panzerturme +gleichen. + +[Illustration: 158. Aus dem Hauptquartier in Temirlik. (S. 379.)] + +[Illustration: 159. Das Hauptquartier bei Temirlik. (S. 380.) + +Auf dem andern Ufer des Baches meine Jurte und die Terrassen mit den +Höhlen, im Hintergrund der Akato-tag.] + + + + +Einunddreißigstes Kapitel. + +Aldats Tod. + + +So zogen wir durch das öde Tibet hin. Zwei Monate waren schon +vergangen, ohne daß wir Spuren von Menschen gesehen hatten, und wir +fingen an, uns zu den Unseren zurückzusehnen. Aber jeder Tagemarsch, +den ich auf meiner Übersichtskarte mit Punkten verzeichnete, zeigte, +wie langsam wir uns ihnen näherten und wie viele Tagereisen uns noch +blieben. Über 400 Kilometer trennten uns noch von Temirlik. + +Wir folgten dem Längentale nach Westen und blieben dadurch auf ein und +demselben Niveau. Die Gegend ist außerordentlich wildreich. Schädel und +Skeletteile von Yaken zeigen an, daß auch diese zähen Tiere sich der +Macht des Todes nicht entziehen können. + +Der dritte Marschtag hat seinen besonderen Reiz, denn dann wissen alle, +daß wir morgen rasten dürfen. Den 20. September über blieben wir also +im Lager Nr. 54 (4917 Meter) (Abb. 147). Tscherdon schoß mit Aldats +Flinte einen fünfzehnjährigen Yak, der, bevor wir ihn abhäuteten und +zerlegten, in mehreren Stellungen photographiert wurde (Abb. 148, 149, +151). Am Abend kam Tscherdon mit einer Orongoantilope heim, und nun +wurde eine neue muselmännische Kur mit Aldat versucht. Der Kranke wurde +entkleidet und in das noch weiche, warme Fell der Antilope gehüllt, +das dicht an seinen Körper gedrückt wurde. Ich glaubte nicht recht an +die Wirkung, und es tat mir bitterlich weh, daß ich ganz machtlos war +und ihm nicht helfen konnte. Die letzten Abende gab ich ihm ein paar +Zentigramm Morphium; er konnte sonst nicht einen Augenblick schlafen. + +Auf dem Zuge nach dem Lager Nr. 55 hatten wir andauernd gutes Terrain. +Ein paar Kilometer vom Ufer eines nicht unbedeutenden Sees, dem alle +Bäche des südlichen Gebirges zuströmten, rasteten wir in einer ziemlich +gastlichen Gegend. Der Boden war hier von Murmeltieren, deren Höhlen +überall ihre gähnenden Eingänge zeigten, derartig zugerichtet, daß er +wie wurmstichig aussah. Diese großen, starkgebauten Nagetiere sehen, +wenn sie einzeln oder paarweise über dem Höhleneingang in der Sonne +sitzen, unbeschreiblich drollig aus. Sobald wir uns nähern, rollen +sie wie Billardbälle in ihre Löcher hinein, und sobald sie unsere +schweigend und langsam dahinschleichende Karawane erblicken, lassen +sie durchdringende, gellende Pfiffe ertönen, die von allen Seiten +widerhallen. Die Karawane wird in diesem sonst so friedlichen Lande +förmlich ausgepfiffen. + +Ein alter Invalide, der taub gewesen sein oder sich von seiner sicheren +Höhle zu weit entfernt haben muß, mußte diese Unvorsichtigkeit mit dem +Verluste seiner Freiheit büßen. Er lag auf einem Abhange in der Sonne +und sah prächtig aus, er hatte sogar Ähnlichkeit mit einem Menschen +oder wenigstens mit einem Affen. Jolldasch flog wie ein Pfeil hin und +störte das Murmeltier in seinem friedlichen Schlafe, und während es +sich verteidigte, kamen die Männer, banden es und legten es unversehrt +auf ein Kamel. Wir beabsichtigten, es zu zähmen; es lebte zwei +Monate, blieb aber die ganze Zeit gleich wild. Sobald man sich ihm +näherte, setzte es sich auf die Hinterbeine und war bereit, mit seinen +messerscharfen Vorderzähnen, in denen es eine achtunggebietende Kraft +besitzt, sofort zuzubeißen. Es biß große Späne aus den Stöcken, die man +ihm hinhielt. Ein Biß von seinen Zähnen soll gefährlich sein und die +Wunde sehr schwer heilen. In seine Höhle kehrte es nie wieder zurück, +und es gewöhnte sich bald daran, auf dem Kamelrücken zu schaukeln. + +Wo Murmeltiere, Dawagan werden sie von den Muselmännern genannt, +vorkommen, kann man beinahe sicher sein, auch Bären anzutreffen. Der +tibetische Bär lebt zum größten Teile von diesen Nagetieren, die er +mit Haut und Haar, Knochengerüst und allem auffrißt. Er belauert sie +nicht, wie Jolldasch es tat, sondern überzeugt sich nur, wenn er auf +Besuch nach der Höhle kommt, ob die Herrschaften zu Hause sind. Mit +seinen starken Tatzen gräbt er die Erde an den Seiten des Ganges auf +und erwischt schließlich sein Opfer. Er macht sich auf diese Weise noch +tüchtig Bewegung vor dem Mittagessen. Ein gewaltiger Erdwall verrät +schon von weitem, daß ein Bär dagewesen ist und Haussuchung abgehalten +hat. + +Kleinere Herden von Kulanen kreisten auf diesem breiten Talboden. +Sechs Kulane begleiteten uns in nächster Nähe wohl eine halbe Stunde +weit. Sie sind außerordentlich hübsch anzusehen (Abb. 150); ihre +schlanken Formen besitzen vollendete natürliche Schönheit; sie laufen +im Halbkreise, einen Winkel von 45 Grad mit dem Erdboden bildend, und +bleiben plötzlich ein wenig vor und neben uns in einer Reihe stehen. +Ihre Bewegungen sind so regelmäßig und so sicher, als trügen sie +unsichtbare Kosaken auf dem Rücken. + +Während dieses Tagemarsches hatte Aldat zu Pferde sitzen können, obwohl +gut festgebunden und beaufsichtigt. Wir hofften alle auf Besserung, +aber abends wurde es wieder schlechter mit ihm. Jeden Atemzug +begleitete ein stöhnender Laut, und er atmete 58 mal in der Minute, +was selbst in einer Höhe von 4838 Meter abnorm ist. Seine Temperatur +war merkwürdig niedrig; von den Herzschlägen war nichts zu vernehmen, +wie angestrengt man auch horchte, und ebenso schwach war der Puls. +Sein Bewußtsein umnachtete sich. Er sprach davon, fortgehen und Yake +schießen zu wollen. Obwohl es gegen die Marschordnung verstieß, blieben +wir seinetwegen einen Tag liegen. Die Leute wollten indessen gern +weiter, denn mit unseren Vorräten war es schlecht bestellt; das Brot +mußte in ein paar Tagen zu Ende sein, und Pulver war nur noch für ein +Dutzend Schüsse vorhanden. + +Da der Zustand des Kranken auch am Morgen des 23. September so gut wie +unverändert war, obgleich er jetzt nur 24mal in der Minute atmete, +beschlossen wir aufzubrechen. Daß er nicht mehr lange leiden würde, +war klar, aber wir konnten nicht länger warten. Er wurde zwischen zwei +Feuerungssäcke auf ein Kamel gebettet und erhielt eine weiche Unterlage +von Filzdecken. Die Beine wurden in Filzmatten eingepackt, und unter +den Kopf wurde ihm ein zusammengerollter Pelz geschoben. Über das Ganze +wurden Stricke gebunden; er lag so bequem wie in einem Bett. + +Gerade als das Kamel sich zum Aufbruch erheben sollte, hörte Aldat auf, +zu atmen. Seine gebrochenen Augen, schöne, graue afghanische Augen, +schienen in der Ferne ein Land zu suchen, wohin unsere Blicke nicht +reichen. Er, der früher mit leichten, schnellen Schritten in den Spuren +der Yake über die Berge geeilt war, hatte den Strapazen erliegen müssen +und ein Leben beendet, das an Freuden so arm gewesen war. + +„Getti“ (er ist fortgegangen), sagten die Muselmänner und standen +schweigend um dieses seltsame Totenlager herum. Turdu Bai aber +betrachtete die Lage von der praktischen Seite und fragte mich, was wir +mit der Leiche machen sollten. Ich wollte ihn nicht sofort begraben, +und alle waren sichtlich zufrieden, als ich „Marsch“ kommandierte. Das +Kamel hatte ihn schon so manchen Tag getragen, und er war eine leichte +Last. Ich hatte den Leuten versprochen, daß wir Temirlik in 18 Tagen +erreichen würden, wenn wir 6 Rasttage machten und täglich 24 Kilometer +zurücklegten. Sie zählten daher die Kilometer mit steigendem Interesse +und waren eifrig darauf bedacht, keine Zeit zu verlieren. + +So brachen wir denn auf und näherten uns dem Seeufer. Unsere Karawane +hatte sich in einen Leichenzug verwandelt, der durch Tibets wüste +Täler einen Kameraden zu Grabe trug. Keiner sprach; eine stille, +feierliche Stimmung herrschte. Kulane und Yake weideten ungestört +neben unserem Wege, und die schwarzen Totenraben folgten uns in weiten +Kreisen. + +Nun erreichten wir das Ufer, wo der Boden hart und vorzüglich zum Gehen +war. + +Der See nahm ein Ende, und wir zogen nach Nordwesten über eine +langsam ansteigende kupierte Ebene, die von Furchen mit gefährlichem +Schlammboden durchschnitten war (Abb. 152). In einer solchen fanden +wir ein kleines Holzstück, das zu einem mongolischen Packsattel +gehört hatte. Es war mürbe wie Rinde und stammte vielleicht von einer +mongolischen Pilgergesellschaft, die sich aus den nördlicheren Tälern +hierher verirrt hatte, oder auch von Hauptmann Wellbys und Leutnant +Malcolms unglücklicher Karawane, deren Weg wir gerade heute gekreuzt +haben mußten. + +Während die anderen im Lager ihre gewöhnliche Arbeit verrichteten, +gruben Mollah Schah und Nias ein Grab für Aldat. Ein Pelz wurde unter, +ein zweiter über die Leiche gelegt, und so wurde er in dieser feuchten, +heimtückischen Erde zur ewigen Ruhe bestattet. + +Es war von allen Beerdigungen, bei denen ich zugegen gewesen bin, die +einfachste; keine Zeremonien, keine Tränen, keine anderen Gebete, als +die, welche ich stumm für die Seelenruhe des Toten in einer anderen, +besseren Welt zum Himmel emporsandte. Das Grab wurde zugeschüttet +und ein länglicher Hügel darüber aufgeworfen. Am Kopfende wurde eine +Holzlatte eingerammt, an deren Spitze wir eine von Aldats eigenen +Jagdtrophäen, einen Yakschwanz, als „Tugh“ festbanden, wie es die +muhammedanische Sitte verlangt. Auf ein kleines Holzstück schnitt ich +mit arabischen und lateinischen Buchstaben den Namen des Toten, das +Datum und meinen eigenen Namen ein, für den Fall, daß das Schicksal +jemand hierherführte, bevor alle Spuren des Grabes vertilgt sein würden. + +Die Flinte des Toten, seinen noch nicht ausbezahlten Lohn und den Wert +seiner Kleidung und seines Pelzes hatte ich später Gelegenheit, seinem +Bruder, den wir im Tschimentale trafen, eigenhändig zu übergeben. Sein +alter Vater besuchte mich ein Jahr später in Tscharchlik. Es war mir +eine Beruhigung, daß die Mutter tot war und ihr der Kummer, einen so +guten, prächtigen Sohn zu verlieren, erspart geblieben war. + +Am 24. September wurde die Karawane außergewöhnlich früh fertig; +meine Begleiter wollten gewiß möglichst schnell von diesem traurigen +Friedhofe fortkommen. Die Muselmänner sprachen ein Dua (Gebet) am +Hügel, dann wurde der arme Aldat in der großen Einsamkeit allein +gelassen; keine anderen Pilger als die Tiere der Wildnis würden künftig +nach seinem Grabe wallfahrten. Der schwarze Yakschwanz flatterte im +Winde, wurde aber, als wir fortzogen, bald von den Hügeln bedeckt. + +Wir mußten jetzt lange nach Norden ziehen und steuerten zuerst auf ein +in der nördlichen Bergkette gähnendes Taltor los. Es war nicht leicht, +dorthin zu gelangen. Der Boden besteht aus losem rotem Sand und wird +von einer Menge 30-50 Meter tiefer Schluchten durchfurcht, nach deren +Moorgrunde es steil hinuntergeht und in denen man leicht mit Mann +und Maus ertrinken könnte, wenn nicht einer der Leute zuvor zu Fuß +versuchte, ob der Moorboden trägt. + +Der folgende Tagemarsch führte uns über mehrere parallele kleine +Ketten. Als wir sie endlich überschritten und die Freude hatten, +im Norden offenes, flaches Land, ein breites Längental, zu sehen, +war dort keine Spur von Vegetation zu erblicken. Obgleich wir eine +gute Tagereise hinter uns hatten, setzten wir daher unseren Weg +quer über das Tal fort. Wir ritten stundenlang, ehe wir einige +Grashalme und einen Süßwassertümpel fanden. Wir waren offenbar in ein +vegetationsloses Gebiet gekommen und würden uns jetzt mit jedem Tage in +immer unfruchtbarer werdenden Gegenden befinden. + +Die verdünnte Luft dieses Hochlandes, das 5000 Meter über dem Meere +liegt, tat mir nichts; ich hatte mich an sie gewöhnt, und auch meine +Leute hielten sich tapfer. Vermeidet man alle Anstrengungen, so kann +man die Luftverdünnung sicherlich ziemlich lange ertragen. + +Je mehr wir uns in den folgenden Tagen dem Arka-tag näherten, desto +wüster wurde das Land. Am 27. September suchten wir vergebens +nach einem Grashalm; keine Spur von Pflanzen- oder Tierleben war +zu erblicken. Es ging bergauf und bergab, über Berge und Täler, +die jetzt stets durchquert wurden. Kaum ist man nach einem Flusse +hinuntergelangt, so muß man sich schon wieder an der anderen Seite +hinaufarbeiten, und obgleich diese Höhenunterschiede nur 100 Meter +betragen, so werden sie doch durch die unaufhörliche Wiederholung +mörderisch. Nach vielen zeitraubenden Bogen und Rasten erreichten wir +endlich den Hauptpaß dieser neuen Bergkette (5203 Meter). Unmittelbar +nördlich davon erhob sich ein einzelner Bergrücken, der auf der +östlichen oder auf der westlichen Seite umgangen werden mußte. Ich +entschied mich für die letztere und ritt der Karawane weit voraus. Als +es dunkelte, mußte ich jedoch Halt machen und die anderen erwarten. +Sie kamen todmüde in kleinen Partien an und hatten einen Schimmel aus +Jangi-köll in hoffnungslosem Zustand zurückgelassen. + +Nach dem Abendessen inspizierte ich mit der Laterne, wie gewöhnlich, +besonders nach schwereren Tagereisen, das Lager (5111 Meter) und die +Tiere. Sowohl die Kamele wie die Pferde waren geknebelt, damit sie +nicht auf die Suche nach Weide gingen. Die Leute schliefen, müde von +den Strapazen des Tages. Ich selbst wollte gerade einschlafen, als der +Türvorhang der Jurte von einem heftigen Windstoß in die Höhe gerissen +wurde und feiner Schnee hereinwirbelte. + +Am nächsten Morgen waren wir wieder von Winterlandschaft umgeben (Abb. +153). Doch die Wolken verzogen sich bald; es wurde ruhig, und die Sonne +glühte mit intensiver Kraft. + +Unsere Straße ging jetzt nach Nordwesten ein schmales, von roten +Felsen, Sandstein und Schiefer eingefaßtes Tal hinab, das in ein +Längental ausmündete. Solange wir uns in dem engen Durchgange befanden, +dessen Bach über Nacht zu Eis gefroren war, hatten wir Schutz vor dem +Winde, sobald wir aber die Hügel hinter uns hatten, fuhr der Wind, +der sich eben erhoben hatte und bald zu einem vollständigen Orkan aus +Westen anschwoll, über die Karawane her. Man muß die Knie ordentlich +andrücken, um nicht aus dem Sattel geworfen zu werden. Pferde, Reiter +und Kamele beugen sich nach der Windseite hinüber und liegen auf dem +Winde; die ganze Karawane sieht schief aus, alle leichten Gegenstände, +die Pferdeschwänze und die Kleider der Leute stehen auf der Windseite +wie Flaggen ab. Die Atmung wird erschwert, man erstickt beinahe. Die +Kamele schwanken in ihrem wiegenden Gange. Das erste beste Weideland +sollte das Signal zur Rast geben, denn lange kann man in solch einem +Winde nicht gehen; wer es nicht selbst erprobt hat, kann sich keinen +Begriff davon machen. + +Am Südufer des Sees lagerten wir an einem kleinen Bache. + +Bei der veränderlichen Temperatur und dem ewigen Witterungswechsel wird +die Haut empfindlich. Besonders Nase und Ohren sind übel daran und +blättern unaufhörlich ab. Die Nägel werden spröde wie Glas und springen +ein, und beständig hat man Schmerzen in den Fingerspitzen. + +Mehrere Pferde waren jetzt kränklich, und Mais hatten wir nur noch +für zwei Tage. Daher wurde der Reisvorrat hervorgesucht; alles, was +wir davon entbehren konnten, sollte den Tieren gegeben werden. Unser +kleinster Maulesel wäre uns in diesem Lager Nr. 61 (4907 Meter) beinahe +gestorben, wurde aber von Tscherdon, der ihn auf burjatische Weise +behandelte, gerettet. Das Tier schwoll unförmlich auf und krümmte +sich am Boden. Nachdem der Kosak durch Befühlen eine passende Stelle +ausgesucht hatte, nahm er einen Pfriemen und rannte ihn dem Tiere mit +einem kräftigen Stoße bis an den Stiel in den Leib. Da strömte Gas +heraus, aber kein Tropfen Blut. Dann wurde der Maulesel gezwungen, +aufzustehen. Ein Strick wurde um sein Hinterteil geschlungen. Ein Mann +zog ihn vorwärts, und ein zweiter prügelte ihn mit einer Holzlatte. +Jedesmal, wenn er hinten ausschlug, zogen zwei Männer an dem Stricke, +so daß der Esel von rechts nach links gerissen wurde. Über die Methode +selbst mag man sagen, was man will, aber diese echte Pferdekur hat dem +Tiere geholfen. Es wurde gesund, war mit auf dem Ritte nach Lhasa, zog +mit durch ganz Tibet nach Ladak, ging über den Kara-korum nach Kaschgar +und befand sich ausgezeichnet, als ich Ende Mai 1902 in letzterer Stadt +von ihm Abschied nahm. + +Nach einem Rasttage zogen wir uns an dem kalten letzten Tage des +September recht warm an, um die Verschanzungen des Arka-tag zu +erstürmen. Wir folgten dem Ostufer des Sees und gingen nach Norden, +wo sich ein vorteilhafter Paß zeigte. Dann aber zwang uns eine Bucht, +die der See nach Osten ausschickt und in die sich ein Fluß ergießt, zu +einem bedeutenden Umwege. + +Bald gelangten wir an ein Erosionstal, das uns einen guten Weg nach +den Höhen bot. Ich ritt mit Tscherdon und Mollah Schah voraus nach dem +Passe hinauf. Von der Südseite, auf der wir uns befanden, war der Paß +leicht zu ersteigen, und wir erreichten bald seine Schwelle; auf der +Nordseite aber, wo die Schichtköpfe zutage treten, fiel er sehr steil +ab. + +Gerade auf diesem Kamme, der fast die ganze Erdrinde überragt und wie +ein Schwungbrett in den Weltenraum hinauszeigt, tobte der Schneesturm +mit solcher Wut, daß man das Gefühl hatte, verloren zu sein. Ich hatte +kaum die Kraft, die nötigen Beobachtungen auszuführen. Die Hände +werden steif und ganz gefühllos. Die Höhe betrug 5203 Meter. Da die +Karawane auf sich warten ließ, gingen die beiden Männer wieder zurück. +Ich kehrte dem Sturme den Rücken zu und kauerte mich nach Möglichkeit +zusammen. Nach dem Abgrunde im Norden zu ist jetzt nichts weiter zu +sehen als wirbelnde Schneewolken, ein kochender Schneekessel; es heult +und stöhnt auf allen Seiten, es pfeift, wenn der Wind sich über den +scharfen Paßkamm wälzt. + +Nun ertönten die Kamelglocken ganz in der Nähe. Die Tiere zogen wie +Schatten an mir vorüber, ihre Tritte waren nicht zu hören. Turdu Bai +ging vornübergebeugt, den einen Arm zum Schutze erhoben, als arbeite er +sich durch ein Dickicht hindurch. Jetzt galt es, auf der Nordseite des +Passes hinunterzusteigen; es war, als sollte man sich auf gut Glück in +einen unbekannten Abgrund stürzen, dessen Boden nicht zu sehen ist. + +Um bei der Hand zu sein, sobald die Kamele der Hilfe und Stütze +bedurften, gingen alle zu Fuß. Kutschuk geht voran und untersucht den +Weg. Er nimmt die Wand in unzähligen Zickzacklinien. Wir müssen alle +zehn Schritte stehenbleiben, damit uns nicht das Gesicht erfriert. Wir +gleiten und rutschen auf dem Schnee hinunter. Ein Kamel gleitet aus und +fällt, rollt noch ein halbes Mal herum, aber bleibt in so vorteilhafter +Stellung liegen, daß es aufstehen kann, ohne erst abgeladen werden zu +müssen. + +Jetzt war der Tag zu Ende, und es wurde dunkel; aber wir gingen +trotzdem weiter, bis wir den steilen Abhang hinter uns hatten. In +finsterer Nacht lagerten wir auf einer Halde (4977 Meter), wo es keinen +Grashalm gab; Feuerung hatten wir auch nicht, nur Wasser in Gestalt von +Schnee und Eis, davon aber im Überfluß. + +Als die Sonne am 1. Oktober aufging, konnten wir sehen, wie sich die +Gegend, in der wir in der Dunkelheit Halt gemacht hatten, ausnahm. +Vollständiger Winter umgab uns auf allen Seiten, und dabei schneite es +noch immerfort. Die Tiere waren steifbeinig und hungrig; daher rasteten +wir schon nach wenigen Kilometern auf einer Halde mit leidlichem +Graswuchse (4899 Meter). Mit wehem Herzen gab ich Befehl, das letzte +Schaf zu schlachten; es kam mir wie ein Mord vor. + +Am 2. Oktober zogen wir 30 Kilometer nordwärts bergab. Noch eine +Tagereise half uns dieses freundliche, langsam abfallende Tal weiter. +Die Luft war klar geworden, und wir sahen das Tschimengebirge in einer +Entfernung von gewiß 100 Kilometer vor uns liegen. Doch bevor wir +aufbrachen, war schon wieder der Westwind im Gange, um uns auf unseren +elenden Kleppern vor Kälte erstarren zu lassen. + +Das Tal erweitert sich, und wir sehen im Norden den See ++Atschik-köll+. Wir hätten bleiben sollen, wo der Bach, dem +wir bisher gefolgt waren, endete, aber wir hofften, den See bald zu +erreichen und dort Quellen zu finden. Die armen Tiere waren ganz +erschöpft. Das Pferd, auf dem ich nach Andere geritten war, blieb mit +Nias zurück, und ein zweiter Schimmel wurde mit Kutschuk als Pfleger +zurückgelassen. Sie sollten uns langsam nachkommen. Wir ritten nach +Norden weiter, es dämmerte und wurde dunkel, aber der Mond erhellte mit +seinem bleichen Lichte die kalte Einöde. Wasser war nicht zu sehen, und +der See blieb eine ziemliche Strecke östlich von unserem Wege liegen. +Frierend ging Turdu Bai zu Fuß voraus. Wir waren seelenfroh, als er +endlich stehenblieb und uns zurief, wir hätten einen sich in den See +ergießenden Fluß erreicht. 37½ Kilometer täglich war ungefähr das +meiste, was die Tiere nunmehr aushalten konnten. Die kranken Pferde +erreichten wirklich noch dieses Lager Nr. 65 (4251 Meter), aber erst +gegen Mittag und nachdem sie die Nacht in einiger Entfernung vom Lager +zugebracht hatten. Sie wurden dann aufs beste gepflegt und mit Reis +traktiert. + +[Illustration: 160. Tscherdon und Schagdur mit ihrer Beute. (S. 382.) + +Rechts der Schneider Ali Ahun.] + +[Illustration: 161. Die Packpferde am Ufer des Ajag-kum-köll. (S. +384.)] + +Ein eigentümlicher, kalter, feuchter Nebel lag am 6. Oktober über dem +Seebecken, und durch seinen Schleier zeichnete sich die nördliche +Bergkette matt und schwach, aber doch malerisch ab. Sie schien leicht +auf die Leinwand des Himmels hingeworfen zu sein, und zu oberst +leuchtete der Schnee halbklar hindurch. Infolge der gedämpften Nuancen +schien die Kette noch mindestens eine Tagereise entfernt zu liegen. + +Die Karawane ist im Sterben, und im Begräbnistempo schreiten wir die +langsame Steigung hinan. Kulane und besonders Orongoantilopen kommen +zu Hunderten vor. Jolldasch erbeutete eine der letzteren, die er über +die Nase biß und sie dann festhielt, bis Tscherdon hinzukam und sie +erstach; dadurch erhielten wir eine sehr notwendige Verstärkung unseres +Proviantes. + +Die Steigung nimmt zu; wir überschreiten zahllose Schluchten und +Pässe; oft müssen wir eine Weile rasten, um die Tiere Atem schöpfen zu +lassen. Bald wird gemeldet, daß ein Pferd nicht weiterkann. Kaum ist es +erstochen worden, als sich schon ein zweites hinlegt, um nicht wieder +aufzustehen. Ehe wir diesen abscheulichen Paß erreichten, der für eine +ausgeruhte Karawane eine Bagatelle gewesen wäre, waren noch zwei Pferde +verlorengegangen, unter ihnen mein treuer Wüstenschimmel, der mich nach +Tschertschen und Altimisch-bulak getragen hatte. + +Die Aussicht vom Passe war ebenfalls nicht erfreulich. Auf beiden +Seiten hatten wir kleine Gletscherzungen und im Norden ein Gewirr +von Bergen. Merkwürdigerweise bekamen wir die Kamele hinüber, worauf +wir in einer Kluft lagerten, in der jedoch weder von Gras noch von +Brennmaterial die geringste Spur zu finden war. + +Soviel Reis, wie nur irgendwie entbehrt werden konnte, wurde an +die letzten Pferde verteilt, die angebunden und mit Filzdecken +zugedeckt wurden. Am Morgen lag eines von ihnen tot in der Reihe mit +vorgestrecktem Halse, starren Augen und schon steif gefroren. Keiner +hatte gemerkt, wann und wie seine Qual zu Ende gewesen war, und die +noch vorhandenen Pferde schenkten ihm keine Aufmerksamkeit. Sie waren +zu erschöpft und ermattet, um Teilnahme zu zeigen; sie schienen sich +nur nach Ruhe zu sehnen, und sie starben ohne einen Seufzer, ohne einen +Klagelaut, während es mich unsagbar schmerzte, ihren Untergang auf +meinem Gewissen zu haben. + +Bewundernswert in ihrer Resignation lagen die Kamele wie gewöhnlich +regungslos in derselben Stellung, in der wir sie am Abend vorher +verlassen hatten. Sie waren mit Reif bepudert und blickten sehnsüchtig +nach dem Tale hin, dem wir dann nach Nordosten folgten. Sehr lange +konnten wir es nicht mehr aushalten. Die Tagemärsche wurden immer +kürzer, und die Kräfte der Tiere waren bis aufs äußerste erschöpft. + +Die Nacht auf den 8. Oktober war ruhig, kalt und klar, und die +Minimaltemperatur sank bis auf -18,3 Grad. Eiskalte Luft strömte durch +das Tal herunter; es war der gewöhnliche Nachtwind, der wie Wasser +in seinem Bett strömt. Schon um 8 Uhr hatte er aufgehört zu wehen, +und wenn kein Sturm losbricht, kehrt er im Laufe des Tages um. Diesem +scharfausgeprägten Tale folgten wir nach Nordosten. Eine frische +Karawane könnte von hier in vier Tagen nach Temirlik gelangen, mit uns +aber ging es langsamer. Nur sechs kleine Stücke Brot waren noch da, und +Reis hatten wir für drei oder vier Tage. Es hatte den Anschein, als +würden wir während der letzten Strecke hungern müssen. Es wäre schön +gewesen, wenn wir hätten Brennmaterial finden können, aber diese Gegend +wird nicht von Yaken besucht. + +In pfeifendem Schneegestöber zogen wir durch dieses Tal, das sich +bald zu einem Hohlwege zusammendrängt, dessen Boden mit ganzen Mauern +und Stapeln von herabgestürzten, teilweise rundgeschliffenen Blöcken +bedeckt ist. Es ist ein außerordentlich energisch in den Granit +eingesägtes Durchbruchstal, und die Landschaft trägt die gewöhnlichen +wilden, felsigen, malerischen und launenhaften Charakterzüge des +Granits. Ich saß buchstäblich festgeschneit auf meinem stolpernden +Pferde, die meisten der Leute aber mußten zu Fuße gehen, da ihre +Reittiere gefallen waren. Unaufhörlich kreuzten wir den Fluß, um +möglichst auf den ebeneren Erosionsterrassen bleiben zu können. Oft +trägt das Eis des Flusses sogar die schweren Kamele und muß dann mit +Sand bestreut werden; da aber, wo es nicht trägt, wird es vorher mit +Steinen und Stangen zertrümmert. Manchmal brechen die Tiere ein und +fallen. Die alten Kamele bewährten sich auf diesem schwierigen Terrain +vorzüglich, trotzdem sie nun auch noch die Lasten der toten Pferde +tragen mußten. + +Das Tal trägt den Namen +Togri-sai+ (das gerade Tal) (Abb. 154) +und ist den Goldgräbern aus Tschertschen und Kerija wohlbekannt; +hier gibt es nämlich ein Goldfeld, das wir auf dem heutigen Marsche +passierten. Vor ungefähr einem Monat sollten die letzten Goldgräber +abgezogen sein; jetzt gab es im Tale keine frischen Spuren von +menschlichen Besuchern mehr. Wir hatten ungefähr die Hälfte unseres +Weges zurückgelegt, als wir die drei ersten, aus Granitstücken erbauten +Hütten passierten. In der Nähe sahen wir eine Menge Gruben in den +Schuttbetten, umgeben von Sand- und Schuttwällen, welche die Goldgräber +aufgeworfen hatten. Selten sind diese Gruben mehr als 2½ Meter tief. +Man kann sie zu mehreren Hunderten zählen; die meisten sind längst +verlassen, einige aber scheinen während des letzten Sommers bearbeitet +worden zu sein. Die Hütten sind sehr provisorisch, viereckig mit 2-3 +Meter langen Seiten; die Mauern sind von Blöcken ohne das geringste +Bindemittel aufgetürmt, und das Dach besteht im besten Falle aus grober +Leinwand oder einer Filzdecke, unter die eine Stange gelegt wird. Hier +und dort laufen in diesem asiatischen Klondike Gänge und Zäune zwischen +den Schutthaufen hin, und an einigen Gruben waren Zeichen aufgerichtet, +z. B. ein Antilopenschädel oder eine Kulanhaut auf einer Stange, +wodurch das Besitzrecht angezeigt wird. Manchmal hat der Besitzer sein +Gebiet noch besonders mit einer niedrigen Mauer von Granitstücken +eingefriedigt. + +Einige Hütten besaßen sehr einfache Öfen zum Brotbacken. Die Goldgräber +bringen einen Vorrat von Mehl mit, leben im übrigen aber von Yak-, +Kulan- und Antilopenfleisch, das ihnen von den Jägern, die um des +Verdienstes willen in dieser Wildnis mit ihnen kampieren, für eine +geringe Summe überlassen wird. Die Vorräte werden auf Eseln hierher +befördert, die für die Zeit von zwei Monaten, während welcher in +den Gruben gearbeitet wird, in die tiefer gelegenen Täler, wo es +Weideland gibt, hinuntergeschickt werden. Nur in zweien der Hütten +fanden wir einiges Hausgerät, ein paar plumpe Harken, um den Schutt +von den goldhaltigen Gesteinarten zu entfernen, eine Bahre, ein paar +Dachfirststangen und einen Trog zum Backen oder Goldwaschen. Wir +machten uns kein Gewissen daraus, dieses vortreffliche Holz, das uns +mehrere Tage ein prächtiges Feuer liefern sollte, mit Beschlag zu +belegen. + +Eines der Kamele verfiel sichtlich und wurde zurückgelassen, sollte +aber am folgenden Morgen in das Lager geholt werden. Bei kaltem Wetter +mit Schneegestöber und -3 Grad zogen wir außerordentlich langsam +abwärts. Erst um 11 Uhr lagerten wir in 4515 Meter Höhe nach diesem +anstrengenden, aber interessanten Tage; eben war der Mond wieder aus +der Nacht der Schneewolken hervorgetreten. + + + + +Zweiunddreißigstes Kapitel. + +Ein trügerisches Feuer. + + +Das Kamel starb während der Nacht und war schon steif gefroren, +als Turdu Bai es aufsuchte. Es wurde der Preis, den die Götter des +Togri-sai-Tals für den Brennholzraub forderten. Jetzt blieb uns gerade +noch die Hälfte der ursprünglichen Zahl der Karawanentiere, 6 Kamele, +3 Pferde und 1 Maulesel. Da auch diese Tiere sich in jämmerlicher +Verfassung befanden, mußten alle Mann zu Fuß gehen. + +Es ist lehrreich, die Kamele zu beobachten (Abb. 155). Sie sind +prächtige Tiere, stets ruhig und geduldig in ihrem harten, ermüdenden +Dienste, und es ist ein Vorbild für den Menschen, einen solchen Riesen +ohne einen traurigen Blick in seinem erlöschenden Auge, ohne einen +Klagelaut über den Verlust eines Lebens, dessen einzige Befriedigung +mit frischen, sättigenden Weideplätzen verknüpft gewesen ist, +zusammenbrechen zu sehen. Das Tier machte seinen Tagemarsch, solange +es noch konnte; es ging mit schwankenden Füßen, aber hocherhobenem +Kopfe, es suchte nicht mehr nach Gras zwischen diesen unfruchtbaren +Granitfelsen; würdig und majestätisch blieb es bis an die Stelle, wo +sein Gebein im Tale bleichen wird. Als es nicht mehr imstande war, noch +einen Schritt weiter zu tun, als die Schatten des Todes sein Bewußtsein +umflorten, nahm es einen letzten Abschied von dem entfliehenden Tage +und legte sich so bequem nieder, wie das Schuttbett es erlaubte. Den +anfeuernden Schlägen setzte es stolze Verachtung entgegen; einige +Peitschenhiebe mehr oder weniger bedeuteten für das Tier nichts mehr, +das jetzt im Begriffe stand, das irdische Leben für immer zu verlassen. + +Das Tal erweitert sich immer mehr. Nach Weide suchen nützte nichts, +und die Tiere konnten nicht weit gehen. Wir mußten Halt machen, um sie +ruhen zu lassen, und die letzten Packsättel wurden ihres Strohpolsters +beraubt. + +Langsam, müden Schrittes wanderten wir am 10. Oktober nach Nordnordost +in demselben Tale weiter. Auch ich ging zu Fuß, um das mir noch zur +Verfügung stehende Pferd zu schonen. Der Fluß ist nach den -18,8 +Grad in der Nacht fest zugefroren. Ich ging nach der rechten Talseite +hinüber, um das Gestein zu untersuchen, und fand dort durch reinen +Zufall einige sehr interessante Zeichnungen. Sie sind auf von Wind und +Wetter blankgeschliffenen, dunkelbraun gewordenen Flächen von sonst +hellgrünem Schiefer angebracht, und dadurch, daß sie mit einem spitzen +Werkzeug durch die äußerste Rindenschicht hindurch eingehauen sind, +treten sie deutlich in hellen Linien auf dunkelm Grunde hervor. Ihr +Alter muß bedeutend sein, denn einige Teile der Bilder sind verwischt. + +Die dargestellten Szenen sind alle dem Leben eines Jägers entnommen. +Dieser Jäger ist ein vielseitiger Mensch gewesen. Er hat Yake, Kulane, +Orongoantilopen und Wölfe im Gebirge, Enten, Gänse und Tiger am +Lop-nor gejagt. Besonders beachtenswert ist der Umstand, daß alle fünf +abgebildeten Schützen sich des Bogens bedienen. Die Felsenzeichnungen +rühren also von einem Meister her, dem Feuerwaffen noch unbekannt +waren, denn sonst hätte er die Flinte auf ihrer Stützgabel abgebildet. +Die langen Pfeile haben nach vorn gerichtete Widerhaken und gleichen +dem Dreizacke Neptuns. + +Obgleich nur mit ein paar Konturlinien ausgeführt, sind die +verschiedenen Tiere charakteristisch und leicht erkennbar gezeichnet. +Die Schützen sind in verschiedenen Positionen dargestellt, bald +stehend, bald kriechend, bald liegend; derjenige, welcher seinen Pfeil +gegen den Tiger richtet, hat es für das Sicherste gehalten, im Sattel +sitzenzubleiben. Die drei Felsplattenflächen, denen der Meister seine +Kunstwerke anvertraut hat, sind 1½ und 1 Meter hoch und die Bilder +ungefähr 3 Dezimeter lang. Gewiß stammen sie aus der Zeit, als Mongolen +am Lop-nor wohnten und wahrscheinlich einen Teil des Sommers im Gebirge +zubrachten. + +Eine kräftige Stütze für die Richtigkeit dieser Annahme erhielt ich +an dem Punkte, wo wir am linken Ufer des Flusses auf ziemlich gutem +Weidelande lagerten (4067 Meter). Hier fanden wir einen mongolischen +Obo, einen zusammengetragenen Steinhaufen mit Schieferscheiben, in +welche alle „~Om mani padme hum~“ (O das Kleinod im Lotos, +Amen), das Fundamentaldogma des Lamaismus, in tibetischen Buchstaben +eingehauen war (Abb. 157). + +Wegen dieser Menschenspur war uns die Stelle sympathisch, und wir +hielten uns noch einen Tag bei dem Obo auf. Dieser Tag brachte eine +große, erfreuliche Veränderung in unserer Lage hervor. Tscherdon hatte +dicht beim Lager mit Aldats letztem Schusse einen jungen Kulan erlegt, +als Mollah Schah atemlos zu mir gelaufen kam und mir sagte, er habe +fern im Osten zwei Jäger zu Pferd gesehen. Er wurde sofort beauftragt, +ihnen nachzusetzen und sie um jeden Preis ins Lager zu bringen. Sie +kamen und waren anfangs ein wenig scheu, wurden aber bald zutraulich. +Drei Monate hatten sie im Gebirge zugebracht und die Goldgräber mit +Kulanfleisch versehen. In Temirlik waren sie nicht gewesen; wir +schwebten also noch immer in Unkenntnis über unser Hauptquartier. + +Durch diese unerwartete Berührung mit Menschen nach 84tägiger +Isolierung hob sich die Stimmung. Ich kaufte sofort ihre beiden Pferde, +die, mit den unseren verglichen, wie englisches Vollblut aussahen. +Ein kleiner Sack Weizenmehl kam uns ebenfalls vortrefflich zupasse. +Was uns aber am meisten interessierte, war die abends am Lagerfeuer +geführte Unterhaltung. Mollah Schah hatte sich schon erboten, zu Fuß +nach Temirlik zu gehen und eine Entsatzkarawane aufzubieten, doch +das war jetzt nicht mehr nötig. Togdasin, so hieß der eine Jäger, +kannte die Gebirgspfade genauer und sollte auf seinem eigenen, eben +an mich verkauften Pferde nach dem Hauptquartier reiten und eine +Entsatzkarawane holen. Er sollte in zwei Tagen dort sein und Islam Bai +den Auftrag bringen, uns mit 15 Pferden und Proviant bis an die Quellen +von Supa-alik, zwei Tagereisen westlich von Temirlik im Tschimentale, +entgegenzukommen. + +Um 11 Uhr in der Nacht sprengte Togdasin fort. Er nahm ein paar +leere Konservenbüchsen mit, um seine Legitimation als mein Kurier zu +bekräftigen und Islam begreiflich zu machen, daß er mir neue Büchsen +von derselben Art mitzubringen habe. Togdasins ganzer Proviant bestand +aus einem kleinen Stück Kulanfleisch. Ich beneidete ihn nicht um seine +nächtliche Reise; die letzte Nacht hatten wir -20,2 Grad gehabt; es war +ihm aber eine ansehnliche Vergütung versprochen, wenn er seinen Auftrag +gut ausführen würde. Er konnte sich natürlich mit dem Pferd aus dem +Staube machen, aber ich vertraute ihm, obwohl er uns fremd war, und er +vertraute uns. + +Die beiden folgenden Tagemärsche führten uns aus dem Togri-sai hinaus +eine gute Strecke ostwärts im Tschimentale. Der +Piaslik+, die +mächtige Bergkette, die sich auf der Südseite des Tales erhebt und die +Fortsetzung des Tschimen-tag bildet, sandte eine ganze Reihe wilder, +felsiger Kulissen nach Norden in das Tal hinein. Am 14. Oktober +brachen wir in ungewöhnlich heiterer Stimmung auf, die dadurch, +daß fast alle zu Fuß gehen mußten, nicht herabgedrückt wurde. Nach +unseren Berechnungen mußten wir am Abend mit der Rettungsexpedition +zusammentreffen. + +Im Norden erhebt sich der +Illwe-tschimen+ mit seinen +schneebedeckten Gipfeln (Abb. 156); über alle die zahllosen, jetzt +trockenen Schluchten, die seine Abhänge durchfurchen, mußten wir +hinüber, und sie machten uns viel Mühe. Mollah Schah verbürgte sich +dafür, daß wir die Quellen von Supa-alik, wo wir Islam am Abend treffen +sollten, noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichen würden, aber er +wußte in der Gegend offenbar nicht Bescheid, und der zweite Jäger hatte +uns nur zwei Tagereisen weit begleitet und war dann wieder umgekehrt. + +Es wurde dunkel, es wurde pechfinster, ohne daß wir einen Schimmer von +den Quellen erblickten. Wir verloren den Pfad, dem wir bisher gefolgt +waren. Hier und dort wuchsen Jappkakbüsche, Gras aber fehlte. Dank +dem festen Boden hielten jedoch die Tiere diese lange Wanderung aus. +Nachdem wir, müde und schläfrig, anderthalb Stunden in rabenschwarzer +Nacht marschiert waren, blieben Mollah Schah und Nias, die vorangingen, +stehen und signalisierten ein Feuer in der Ferne. Dieser Anblick +elektrisierte uns alle, und wir beschleunigten unsere Schritte. War +das Feuer klein, so konnte es in der Nähe brennen, war es aber groß, +so würden wir es über Nacht nicht mehr erreichen. Jedenfalls war es +klar, daß der Kurier in Temirlik gewesen war und daß Islam sofort mit +der Hilfsexpedition aufgebrochen, spornstreichs hierher geritten und +vielleicht gerade angekommen war, Feuer zum Abendessen angezündet +hatte und bis zum Ausgange des Mondes zu rasten beabsichtigte, um uns +dann noch weiter entgegenzugehen. Er mußte sich sagen, daß unsere +Lage, da wir uns so verspäteten, kritisch sein konnte und daß wir, +von allem entblößt, schneller Hilfe bedurften. Jetzt endlich fühlten +wir uns wirklich erleichtert; es war uns, als hätten wir das Ende +unserer Mühen und Entbehrungen gerade vor uns und brauchten uns nur +wenig anzustrengen, um es zu erreichen. In später Nachtstunde würden +wir dieses gleich einem Leuchtturme freundlich lockende und leitende +Feuer erreichen, wir würden bald um seine Glut herumsitzen und uns mit +den Unsrigen unterhalten, würden erfahren, wie es ihnen gegangen, und +von unseren Abenteuern erzählen, während eine prächtige, heißersehnte +Mahlzeit für unsere ausgehungerten Mägen zubereitet würde. + +In schwarzer Nacht gingen wir gerade auf das Feuer zu, das bisweilen +verschwand, jedoch bald wieder aufloderte. Wir hatten einen Lotsen, +der uns vor allen gefährlichen Schluchten warnte. Ich hielt mich an +dem Boote, das von einem Kamel getragen wurde, und ging immer nach der +anderen Seite hinüber, wenn mir die Hand zu erfrieren begann; dann +hielt ich mich mit der anderen, bis auch diese alles Gefühl verloren +hatte und die erste inzwischen wieder warm geworden war. + +Während einer langen Strecke war das Feuer nicht sichtbar, unsere +Hoffnung erlosch, und die Müdigkeit kam wieder. Vielleicht lagerten +dort nur einige Goldgräber. Wir blieben stehen und riefen und sammelten +Jappkakbüschel, mit denen wir ein gewaltiges Feuer anfachten. Doch +kein Zeichen von Verständigung ließ sich wahrnehmen. Aus dem Revolver +wurden ein paar Schüsse abgefeuert, die in der dunkeln Nacht klanglos +verhallten, ohne auch nur von einem Echo beantwortet zu werden. Mit +verhaltenem Atem lauschten wir; still wie ein Grab lag die Gegend, +und das Feuer zeigte sich nicht mehr. Vielleicht waren sie von einem +forcierten Ritt todmüde und schliefen fest. + +Als wir unser eigenes Feuer, an dem wir eine halbe Stunde gerastet +und uns für eine Weile erwärmt hatten, verließen, war die Dunkelheit +vor uns noch undurchdringlicher als vorher. Ein Blinder kann keine +schwärzere Nacht vor Augen haben, und unwillkürlich blickte ich zu den +Sternen empor, um mich zu überzeugen, daß ich mein Augenlicht nicht +verloren hatte. Stunde auf Stunde marschierten wir nach Osten weiter +und zogen unsere müden Tiere, die Weide zu wittern schienen, da sie +sich nicht weigerten, uns zu folgen. + +Jetzt flammte das Feuer wieder auf, und die eben noch stumm +einherwandernden Männer sprachen wieder eifrig miteinander. Wir +passierten die ersten Malgunsträucher, deutliche Vorboten nahen +Wassers; wir konnten nicht mehr weit von den Quellen entfernt sein. +Dann wurde dieser falsche Feuerschein wieder matter und erlosch. Die +Männer riefen alle fünf Minuten mit der ganzen Kraft ihrer Lungen, aber +ihre Stimmen verhallten ungehört in der Nacht. Ich hätte mich versucht +fühlen können zu glauben, ein Irrlicht wolle uns foppen, es schwebe vor +uns her und entferne sich in dem Maße, wie wir uns näherten. + +Unsere Geduld war auf eine zu starke Probe gesetzt worden, unser mit +dem Feuer entflammtes Interesse erschlaffte wieder, als jenes erlosch, +und die Müdigkeit erhielt von neuem die Oberhand. Als wir den nächsten +Gürtel von Buschholz und Gestrüpp erreichten, kommandierte ich zu +allgemeiner Zufriedenheit Halt. Wir waren über 12 Stunden gewandert, +hatten aber dennoch nicht mehr als 43 Kilometer zurückgelegt. + +Menschen und Tiere waren so erschöpft, daß die Karawane sich beim +Scheine des in aller Eile angezündeten Feuers höchst kläglich ausnahm. +Der Atem der Kamele bildete in der Kälte Wolkensäulen, die Leute +saßen jeder da, wo er stehengeblieben war, auf der Erde, und die +fehlgeschlagene Hoffnung ließ uns unsere Erschöpfung doppelt fühlen. + +[Illustration: 162. Der Kalta-alagan von Süden (Lager am 15. und 16. +November). (S. 384.)] + +[Illustration: 163. Der Kalta-alagan von Süden (Lager am 15. und 16. +November). (S. 384.) (Fortsetzung nach rechts des Bildes Nr. 162.)] + +Doch auch eine erfreuliche Entdeckung wurde in dem Feuerscheine +gemacht. Es stellte sich heraus, daß unser Glücksstern uns nach einem +vorzüglichen Weideland mit gutem, hohem Gras und Brennholz in Hülle +und Fülle geführt hatte. Eine Kanne Flußwasser war noch da, und +es reichte zu einer Tasse für die Person. Tee und ein paar Stücke +Kulanfleisch, die über dem Feuer geröstet wurden, waren alles, was wir +noch besaßen. Das Lager wurde ganz provisorisch aufgeschlagen, da wir +am folgenden Morgen auf jeden Fall früh aufstehen und die Quellen +suchen wollten. Das trügerische Feuer ließ sich nicht wieder sehen, +aber der Mond schien, und für den Fall, daß die Unsrigen sich in der +Nähe befänden und in der Nacht weiterzureiten gedächten, unterhielten +wir noch anderthalb Stunden lang ein großes Signalfeuer. Und dann +fielen wir unter dem klaren, sternenfunkelnden Himmelsgewölbe in einen +todähnlichen Schlaf. Wir befanden uns hier wieder auf einer Höhe von +nur 3471 Meter. + +Am Morgen des 15. Oktober fanden die Männer eine nur ein paar hundert +Meter entfernte Süßwasserquelle, und da das Lager in jeglicher Hinsicht +vortrefflich war, beschlossen wir, hier den Gang der Ereignisse +abzuwarten. Mollah Schah, der auf Kundschaft ausgewesen war, erklärte, +das gestrige trügerische Feuer sei von Jägern angezündet worden, die +jetzt mit ihren gesammelten Fellen nach Tschertschen zurückkehrten +und uns augenscheinlich absichtlich auswichen, weil sie nicht wissen +konnten, was für Leute wir sein würden. Wir waren also wieder auf uns +selbst angewiesen und wußten nicht, was wir von der Hilfsexpedition +und der Zuverlässigkeit des Kuriers Togdasin denken sollten. Tscherdon +hatte von ihm etwas Pulver und Blei erhalten und war den ganzen Morgen +fort, um uns eine Antilope zu verschaffen. Den Tieren ist jedoch in +dieser von Jägern oft besuchten Gegend schwer beizukommen. + +Um 2 Uhr kam er mit leeren Händen wieder. Dafür aber sagte er, daß er +im Westen etwas Schwarzes sehe, von dem er erst geglaubt habe, es sei +eine Kulanherde, das er jetzt jedoch für Reiter halte, die sich unserem +Lager näherten. + +Ich eilte mit dem Fernglase hinaus. Eine berittene Schar sprengte +wirklich in einer Staubwolke heran. Von einem Hügel beobachteten wir +die Schar mit größter Spannung. Sie war noch weit, weit entfernt, aber +über den Vegetationsgürtel hinweg, den sie noch nicht erreicht hatte, +gut zu sehen. Infolge der Luftspiegelung schien sie etwas über dem +Erdboden zu schweben, doch an den auf und nieder hüpfenden Bewegungen +merkte man, daß die Männer im Galopp ritten. Jetzt verschwanden sie +zwischen der dunkleren Vegetation, aber die Staubwolke erhob sich noch +über den Büschen. Es mußten die Unseren sein, die unser Signalfeuer +nicht bemerkt hatten, sondern erst in der Frühe weitergeritten waren, +bis sie die Spur der Kamele gefunden hatten und dann umgekehrt waren, +um uns ausfindig zu machen. + +Die Spannung erreichte ihren Höhepunkt, als zwei Reiter diesseits des +Gebüsches auftauchten; dann erschienen noch zwei und eine ganze Herde +von Pferden, die jene vor sich her jagten. Sie ritten in Karriere. +Jetzt erkannte ich Islam an seinem Lederbaschlik. Er ritt auf einem +Schimmel an der Spitze. Er trieb sein Pferd zu noch schnellerem Laufe +an, so daß er einige Minuten vor den anderen ankam, stieg in einiger +Entfernung ab und grüßte. Er sah gesund und munter aus und meldete, daß +im Hauptquartier alles in Ordnung sei. Die übrigen waren Musa aus Osch, +Chodai Värdi und Tokta Ahun aus Abdall. + +Es war ihr Feuer gewesen, das wir gesehen hatten. Sie waren richtig +in aller Frühe aufgebrochen und scharf nach Westen geritten, bis +sie unsere Spuren gesehen und erkannt hatten, daß wir aneinander +vorbeigegangen waren. + +Islam hatte 15 fette, starke Pferde, sowie Proviant mit und brachte +mir lauter erfreuliche Nachrichten. Der Postdschigit Jakub war aus +Kaschgar gekommen, und mit einem Schlage wurde ich durch Brief- +und Zeitungspakete meiner Heimat und der Zivilisation wieder ganz +nahegerückt. Kurz nach unserem Aufbruch von Mandarlik hatten sie das +Lager nach Temirlik verlegt, wo sie sich bei mongolischen Erdhöhlen +niedergelassen hatten. Der Amban von Tscharchlik hatte in eigener hoher +Person dort einen Besuch abgestattet, ebenso der Mongolenhäuptling +Pschui aus Zaidam, aber beide hatten wieder heimkehren müssen, ohne +mich zu sehen. Ersterer hatte 30 mit Mais beladene Esel mitgebracht. +Seit ein paar Wochen hatten die Daheimgebliebenen unsertwegen in der +größten Unruhe geschwebt, da wir versprochen hatten, höchstens 2½ +Monate fortzubleiben, und nur für diese Zeit Proviant mit hatten. + +Hunderte von Fragen und Antworten kreuzten einander, und erst spät in +der Nacht kam ich zur Ruhe. Die Männer saßen lange plaudernd an einem +großen, flammenden, jetzt von vielen Händen unterhaltenen Feuer; sie +hatten einander so viel zu erzählen, und alle waren froh und zufrieden +über das Wiedersehen. Welch ein Unterschied gegen den Abend vorher, an +dem wir, von allem entblößt, aufs Geratewohl Halt gemacht hatten! Die +Raben des Elias waren wiedergekommen, und unsere dreimonatigen Mühen +und Strapazen hatten ihr Ende erreicht. + +Eine Veranlassung zur Trauer war Aldats Tod. Sein Bruder Kader Ahun +hatte sich selbst nach Tschimen begeben, um ihn zu treffen, und +erhielt jetzt eine eingehende Beschreibung von der Krankheit und +dem Tode seines Bruders. Er erkannte auch, daß wir gut gegen Aldat +gewesen waren, alles getan hatten, um ihn zu retten, und daß alle sein +Hinscheiden beklagten. Kader Ahun sagte, daß er auf die Trauerbotschaft +vorbereitet gewesen sei. Vor einiger Zeit habe er geträumt, daß er über +eine große Ebene reite und meiner Karawane begegne. Vergebens habe er +unter den Leuten seinen Bruder gesucht, und als er erwacht sei, habe +er gewußt, daß Aldat ein Unglück zugestoßen sein müsse. Wir rechneten +aus, daß der Traum genau mit Aldats Tod zusammentraf, und daß er nicht +erdichtet war, konnte Schagdur konstatieren. Kader Ahun hatte dem +Kosaken nämlich lange, bevor Nachrichten von uns eingelaufen waren, +sein Gesicht mitgeteilt und hinzugefügt, daß Aldat sicher tot sei. +Dies war der einzige Fall von Telepathie, der mir auf meinen Reisen +vorgekommen ist. + +Nach weiteren zwei, der Ruhe, Lektüre und astronomischen Beobachtungen +gewidmeten Tagen ritten wir am 18. Oktober fast 50 Kilometer ostwärts +über kahle Einöden und Sandgürtel. Unsere Kamele und letzten Pferde +wurden unbeladen langsam nachgeführt. Es war sehr behaglich, wieder +auf einem großen, fetten, ausgeruhten Pferde zu sitzen, und ich freute +mich, daß unsere überlebenden Tiere jetzt über ein halbes Jahr in +Frieden weiden und der Ruhe pflegen würden; sie hatten es verdient. + ++Bag-tokai+ (der Gartenwald) ist der Name einer kleinen, +armseligen Oase, die von Quellen aus dem sonst ganz sterilen Erdreich +hervorgezaubert worden ist. Hier trafen wir acht Männer aus Bokalik, +die auf dem Heimwege nach Tschertschen 11 Yake, 4 Kulane und 2 +Orongoantilopen geschossen hatten. Sie konnten beim Verkauf der Felle +auf guten Verdienst rechnen. Wir gaben ihnen so viel Reis, wie wir +entbehren konnten; sie hatten den ganzen Sommer nur von Yak- und +Kulanfleisch gelebt, und wir wußten selbst, was es heißt, es schlecht +zu haben, und wie schön es ist, wenn der Speisezettel ein wenig +Abwechslung bringt. + +Unsere Karawane war wieder zu einer ansehnlichen Reiterschar +angewachsen, als wir am 20. Oktober die Richtung nach Nordosten, nach +Temirlik, einschlugen. Die bösen Geister des Westwindes hatten sich +wieder verschworen, uns noch einmal tüchtig durchzubleuen, bevor wir +bei den Fleischtöpfen des Hauptlagers anlangten. + +Auf halbem Wege begegnete mir Schagdur; mit militärischer Haltung saß +er wie aus Erz gegossen auf seinem Pferde. Unser Zusammentreffen war +freudig, und wir hatten einander viel zu erzählen. Die meteorologischen +Ablesungen hatte er vortrefflich besorgt, und die selbstregistrierenden +Instrumente waren fehlerlos gegangen. Es dämmerte schon, als wir die +Quellen von +Temirlik+ erreichten. Hier kamen mir Faisullah und +Kader, der mit auf der Fähre gewesen war, entgegen und zeigten mir +unsere sechs ausgeruhten Kamele, die den ganzen Sommer ungestört +geweidet hatten. Am rechten Ufer des kleinen Baches, der von den +Quellen gebildet wird, stiegen die Funken mehrerer Feuer in die Luft +empor; hier stand das neue Hauptquartier wie ein Dörfchen. Dort sah man +zwei Zelte und die große mongolische Jurte, eine von Schilf und Zweigen +erbaute Hütte, ganze Stapel von Maissäcken und den schwereren Teil +der Kamellasten (Abb. 158). Ali Ahun, der Schneider, und Jakub, der +Postdschigit, begrüßten uns hier, und dazu noch viele Leute, die ich +noch nie gesehen hatte und die nur zufällige Gäste waren. + +Auf dem linken Ufer steht eine doppelte Lößterrasse. Auf dem unteren +Absatz war bereits meine kleine Jurte aufgeschlagen und der angeheizte +Ofen hineingesetzt. In die obere Terrasse, die eine lotrechte Wand +bildet, haben die Mongolen in alten Zeiten Grotten hineingegraben, die +vorzügliche Zimmer abgeben (Abb. 159). Eines von ihnen hatte Schagdur +schon als eine vortreffliche photographische Dunkelkammer eingerichtet, +und sämtliches photographisches Zubehör stand dort bereit zur Benutzung +beim Entwickeln der Platten, die während der tibetischen Expedition +aufgenommen worden waren. + +Damit war diese mühevolle Reise beendet, und wir konnten uns mit +gutem Gewissen ein paar Wochen der Ruhe hingeben. Die Reise hatte zu +großartigen geographischen Entdeckungen geführt, aber sie hatte auch +bedeutende Opfer an Strapazen, Leiden und Leben gekostet. Von den 12 +Pferden lebten nur noch 2 und von den 7 Kamelen Los 4. Eines von ihnen +erreichte glücklich Temirlik und stand zwei Tage stolz aufrecht in dem +gelbgewordenen Grase; am dritten Tage legte es sich hin und starb, +ohne die Weide auch nur angerührt zu haben. Und auch ein Menschenleben +war verloren gegangen. + + + + +Dreiunddreißigstes Kapitel. + +Über sechs Pässe. + + +Nachdem ich in der Jurte an den Quellen von Temirlik ordentlich +installiert war, wurde der Tag folgendermaßen eingeteilt: erst schlief +ich gründlich aus, dann aß ich mein Frühstück, beschäftigte mich +einige Stunden damit, Beobachtungsreihen und Tagebücher ins Reine +zu schreiben, um die Abschriften nach Hause schicken zu können, und +schrieb Briefe nach Europa; hierauf las ich schwedische Zeitungen in +einem von Islam gebauten Lehnstuhle am Ofen, in dem beständig ein +gemütliches Feuer knisterte. Wenn es dunkel wurde, wurde die schwarze +Grotte erleuchtet, wo ich bis zum späten Abend Platten entwickelte. War +ich mit allen diesen Arbeiten fertig, so erhielt ich in der Jurte mein +Mittagessen oder Abendessen, wie man es nennen will. + +Meine Zeit wurde aber auch von vielen anderen Dingen in Anspruch +genommen. Löhne für die vergangene Zeit wurden ausbezahlt. Wir kauften +vier vortreffliche Kamele und besaßen jetzt im ganzen 14. Musa aus +Osch und der junge Kader wurden entlassen, weil sie sich nach Hause +zurücksehnten; der erstere mußte die gewaltige Post mitnehmen, die ich +für Kaschgar fertiggemacht hatte. Diese Post war in vieler Beziehung +wichtig. Ich hatte einen Überschlag über den Bestand der Reisekasse +gemacht und erkannt, daß er nicht ausreichte. Ich schrieb daher an +meinen Vater und an den schwedischen Gesandten in Petersburg und bat, +daß eine größere Summe in russischem Papiergeld an Generalkonsul +Petrowskij geschickt werden möchte, der letzteres dann in chinesisches +Silbergeld einwechseln und mir im nächsten Sommer nach Tscharchlik +schicken sollte. An Oberst Saizeff schrieb ich und bat ihn, mir eine +neue Sendung Konserven nach Osch zu schicken. + +Vom 25. Oktober bis zum 4. November machten die Kosaken einen +Jagdausflug nach dem Kum-köll; sie wurden von Tokta Ahun, Mollah und +Togdasin begleitet und sollten ein paar Aufgaben lösen. Da ich selbst +nicht Zeit hatte, den Tschimen-tag und den Kalta-alagan auch von +dieser Gegend aus zu überschreiten, erhielt Schagdur den Auftrag, +eine Kartenskizze von dem Wege, den sie zurücklegten, zu zeichnen, +auf dem ganzen Zuge meteorologische Beobachtungen auszuführen und +namentlich die Höhe der Pässe zu bestimmen. Er löste diese Aufgabe +tadellos, und seine Karte stimmte vorzüglich, wie sich bei der später +von mir ausgeführten Kontrollrechnung herausstellte. Jedenfalls füllte +Schagdur durch diese von ihm gemachte Arbeit eine wichtige Lücke in +meinen eigenen Aufnahmen aus. Als die Kosaken wiederkamen, brachten sie +obendrein noch eine ganze Herde erlegten Hochwildes mit (Abb. 160). +Aber kalt und unfreundlich war es in den Bergen gewesen, die jetzt vom +Scheitel bis zur Sohle kreideweiß glänzten. + +Unser Lager bot denselben lebhaften Anblick dar wie früher +Tura-sallgan-ui am Tarim. Alle Goldgräber und Jäger, die von Bokalik +zurückkehrten, statteten uns natürlich einen Besuch ab, und aus den +Tiefländern kamen Leute, welche Dienst suchten. Doch auf meiner +Terrasse hatte ich Ruhe und Frieden und Aussicht auf das Lager jenseits +des Baches, über den eine kleine Brücke führte. Nur Hunderte von Raben +störten mich mit ihrem heiseren Krächzen und mußten jedesmal, wenn eine +astronomische Beobachtungsreihe vorgenommen werden sollte, durch einige +Flintenschüsse erst verscheucht werden. + +Am 11. November waren wir wieder zum Aufbruch bereit. Es war mein +Wunsch, ein vorher nie besuchtes Gebiet des Tschimen-tag und des +Akato-tag zu erforschen, eine Karte davon aufzunehmen und so eine große +Lücke in meiner Karte von Nordtibet auszufüllen. Ein Vergnügen war es +nicht, diese neue Exkursion, die mindestens einen Monat in Anspruch +nehmen würde, im bitterkalten Winter anzutreten; lieber wäre ich nach +den östlichen Wüsten gegangen, wohin ich mich sehr sehnte, aber auch +diese Arbeit mußte ausgeführt werden. + +Als Teilnehmer waren Tscherdon, Islam Bai, Turdu Bai, Tokta Ahun, +Chodai Bärdi und Togdasin, der die betreffende Gegend ganz genau +kannte, ausersehen. Kutschuk und Nias begleiteten uns den ersten Tag, +um die Pferde führen zu helfen, die, ausgeruht und munter, anfangs +ihre Lasten abzuschütteln versuchten. Es waren ihrer 13; wir hatten +auch 4 Maulesel, dafür aber keine Kamele. Ich hatte mir selbst das +Versprechen gegeben, daß ich es nicht wieder so schlecht haben +sollte wie das letztemal, und nahm daher einen reichlichen Vorrat +Konserven, sowie den Ofen mit. In Temirlik sollte Schagdur Chef sein +und mit den meteorologischen Ablesungen fortfahren. Mein sämtliches +zurückbleibendes Gepäck wurde zum Schutze vor Feuersgefahr in einer der +Grotten untergebracht, an deren Eingang beständig Wache gehalten werden +sollte. + +Da das Gebiet, welches wir jetzt erforschten, den Gegenden, die +wir im vorigen Sommer gesehen hatten, sehr ähnelte, werde ich +mich in der Folge kurz fassen. Sechs Tagemärsche führten uns nach +dem Ajag-kum-köll, wohin wir 140 Kilometer hatten. Den ersten Tag +durchquerten wir das Tschimental, seinen ebenen, unfruchtbaren +Lehmgrund und auf seiner Südseite einen Gürtel von höchstens 15 Meter +hohen Dünen und traten darauf wie durch ein Riesenportal von lauter +Granitfelsen in den Tschimen-tag ein. Die ganze Zeit über stiegen wir +nach Süden aufwärts. Von unserem Lager, wo ich es bald ebenso warm und +gemütlich hatte wie in Temirlik, beherrschte man das ganze Tal nach +Norden hin bis an den Akato, dessen domförmiges Gebirge sich ohne eine +Spur von Schnee auf seinem Kamme gen Himmel erhob. + +Als ich nach einer herrlichen Nacht aus meinen Träumen geweckt wurde, +konnte ich mich erst gar nicht in die Tatsache hineinversetzen, daß +wir uns jetzt wieder auf dem Marsche befanden. Die kurze Ruhezeit +war gar zu schnell vergangen. Doch zu Grübeleien haben wir keine +Zeit; das Frühstück wird gebracht und verzehrt, dann geht es wieder +vorwärts durch eine Gebirgslandschaft von Granit in allen erdenkbaren +Abarten. Jetzt führte uns Togdasin nach dem Tschimen-tag über eine +Kette von Vorbergen auf einem bequemen Passe, auf dem der Schnee eine +zusammenhängende Decke bildete. Die Löcher der Murmeltiere waren zur +Hälfte vom Schnee verstopft, in welchem auch keine Spuren von diesen +Tieren zu sehen waren. Sie waren schon für den Winter zu Bett gegangen +und hatten es gut und warm in ihren Höhlen. Sie tun wohl daran. +Nordtibet ist schon im Sommer so unfreundlich, daß man gut tut, es im +Winter zu meiden. + +Der Hauptpaß, der uns über den Tschimen-tag selbst führte, war sehr +bequem und bestand aus weichen, abgerundeten Hügeln ohne anstehendes +Gestein. Auf seiner Südseite gelangten wir in dasselbe Längental, das +wir im Juli weiter oben im Osten gekreuzt hatten. Unweit des Lagers +heißt die Gegend +Att-attgan+ (das erschossene Pferd), weil dort +ein Jäger, der längere Zeit Pech gehabt hatte und am Verhungern gewesen +war, schließlich sein Pferd hatte erschießen müssen, um Fleisch zu +bekommen. Unser Lagerplatz am Flusse heißt +Mölle-koigan+ (der +fortgeworfene Sattel), weil er hier seinen Sattel im Stiche gelassen +hatte. + +Als wir auf der anderen Seite in ein schmales Tal eintraten, das nach +dem Kamm der Kalta-alagan-Kette hinaufführte, scheuchten wir eine +friedlich an den Abhängen weidende Yakherde auf. Sie ergriff die Flucht +und erschreckte ihrerseits eine Kulanherde, die sich höher oben befand. +Jetzt wälzten sich die schweren Bataillone lawinengleich in Wolken von +Sand und Staub den Berg hinab. + +Im Süden des Passes haben wir einen steilen Abstieg in einer mit +Granitblöcken und Schutt besäten Talfurche. Nach dem Austritt aus der +trompetenförmigen Mündung des Tales schwenkt unser Weg nach Südwesten +und Westen ab und begleitet den Fuß der Bergkette (Abb. 162, 163), +deren Ausläufer und Verzweigungen von Wetter und Wind in launenhafter +Weise geformt worden sind. Sie gleichen Tischen, Lehnstühlen, Schalen +und Hälsen mit Köpfen, und manchmal hat sich die Kraft des Windes quer +durch dünnere Partien durchgefressen. + +Der +Ajag-kum-köll+ blitzte am südwestlichen Horizont wie eine +riesenhafte Schwertklinge. Da aber der Weg dorthin noch weit war, +lagerten wir in der Einöde, wo trinkbares Wasser in 1,42 Meter Tiefe +gegraben wurde. + +Während des Rasttages, der hier unseren Tieren geschenkt wurde, +erhielten Tscherdon, Togdasin, Islam Bai und Turdu Bai die Erlaubnis, +auf die Jagd zu gehen. Sie ritten in zwei Partien, aber nur die beiden +letztgenannten kamen abends wieder. Wir zerbrachen uns natürlich +sehr den Kopf darüber, was den anderen passiert sein könnte, und als +der Abend und die Nacht vergingen, ohne daß sie etwas von sich hören +ließen, fürchteten wir, daß sie sich verirrt hätten. Erst am nächsten +Morgen gegen 10 Uhr kamen sie in traurigem Zustand im Lager an. Eine +Archariherde verfolgend, waren sie wilde Täler hinaufgeritten, hatten, +als es gar zu steil wurde, ihre Pferde zurückgelassen und waren über +Block- und Geröllmassen weiter geklettert. Auf einmal war Togdasin +buchstäblich zusammengebrochen und hatte über entsetzliche Kopf- und +Herzschmerzen geklagt. Er konnte keinen Schritt mehr gehen und sich, +als Tscherdon die Pferde geholt hatte, nicht einmal im Sattel halten. +Die Nacht verbrachten sie infolgedessen mitten im ärgsten Geröll, +wo sie nicht einmal Wasser zum Trinken hatten. Der Kranke hatte den +Kosaken gebeten, allein ins Lager zurückzukehren, da er selbst auf alle +Fälle bald sterben werde und es ihm ganz gleichgültig sei, wo dies +geschehe. + +Beide blieben in der Kälte liegen, und Tscherdon rüttelte von Zeit +zu Zeit Leben in seinen Kameraden und hinderte ihn am Erfrieren. +Beim ersten Tagesgrauen machten sie sich wieder auf und schleppten +sich langsam nach dem Lager hinunter. Togdasin befand sich in höchst +bedauernswertem Zustande und mußte auf seinem Pferde festgebunden +werden, als wir nach dem Seeufer hinabritten und in einer Gegend +lagerten, die nur spärliche Jappkakbüschel und kleine Eisschollen am +Ufer aufzuweisen hatte (Abb. 161). + +[Illustration: 164. Turdu Bai und Kutschuk mit dem zusammengelegten +Faltboot. (S. 384.)] + +[Illustration: 165. Der Verfasser im Faltboot auf dem Ajag-kum-köll. +(S. 384.)] + +Am Morgen des 18. November wurde das Boot (Abb. 164) zu einer +Fahrt über die salzigen Tiefen des Ajag-kum-köll instand gesetzt +(Abb. 165). Es wurde von Tokta Ahun gerudert und trug eine +bedeutende Last, denn wir nahmen außer Segeln, Rudern, Rettungsbojen, +Tiefenlotungsapparaten und Instrumenten auch Proviant für zwei Tage, +nämlich Fleisch, Konserven, Brot und Kaffee, ferner Geschirr zum +Bereiten der Speisen, eine Tschugun (Kupferkanne) mit Wasser und einen +kleinen Beutel mit Eisstücken mit. Schließlich versahen wir uns auch +mit Pelzen und Filzdecken; so war der Raum in dem kleinen Fahrzeug +überall besetzt. Ich peilte ein für allemal ein kleines vorspringendes +Vorgebirge im Südwesten ein, auf das wir in gerader Linie zusteuerten. +Das Wetter war herrlich, der See lag ruhig und still, und nur eine kaum +merkbare Dünung bewegte seine Fläche. + +Einmal in der Viertelstunde maß ich die Geschwindigkeit und lotete die +Tiefe, die nach der Mitte des Sees, wo sie 19,63 Meter betrug, zunimmt. +Unweit des Nordufers stießen wir auf ein dünnes, loses Eisfeld, das mit +Leichtigkeit forciert wurde. Diese Eisscheiben, die nur 1 Zentimeter +dick waren, glänzten so intensiv im Sonnenschein, daß ihr Anblick ohne +Schneebrille nicht zu ertragen war. Wahrscheinlich breitet sich vom +Flusse eine Süßwasserschicht über den salzigen See aus, und diese ist +es, die gefriert. + +Das Arbeiten mit der Lotleine, die jedesmal, wenn sie heraufgeholt +wurde, gefror und so steif wie Holz wurde, war ein ziemlich frostiges +Vergnügen, und ich konnte mir zwischen den verschiedenen Lotungen kaum +die Hände wieder warm reiben. + +Die Stunden enteilten, ohne daß wir uns dem Vorgebirge merklich +näherten. Aber wir kreuzten den See ja auch in der Diagonale. Am +Nachmittag erhoben sich Staubwirbel und Tromben auf dem südlichen Ufer +und verschmolzen bald zu einer einzigen graugelben Wolke, die über +den Erdboden hinjagte. Das bedeutete nichts Gutes. Hier herrschte +sichtlich starker Nordwestwind. Noch eine Weile, und wir hörten ein +Brausen im Westen; die ersten Windhauche erreichten uns, den eben noch +blanken Wasserspiegel trübte eine leichte Kräuselung, die mit großer +Schnelligkeit zu Wellen und Wogen anschwoll, und je weiter wir in den +Bereich der Windpeitsche eindrangen, desto höher wurden die Wogen. Wir +behielten den Kurs bei, bis das Stampfen des schwerbeladenen Bootes uns +zwang, nach Süden und Südosten zu rudern. Das einzige, was wir jetzt +zu tun hatten, war, zu versuchen, möglichst schnell das nächste Ufer +zu erreichen, denn es war nur zu wahrscheinlich, daß der Wind in einen +Sturm ausartete und uns gegen eine unwirtliche Küste schleudern könnte, +wo das zerbrechliche Fahrzeug vielleicht zerfetzt würde. Die Dämmerung +war schon eingetreten, und es wäre unter allen Verhältnissen mit Gefahr +verknüpft gewesen, in der Dunkelheit bei schwerem Seegang zu landen. + +Die Karawane hatte Befehl, an demselben Tag 5 Stunden weit am Nordufer +entlangzugehen und in dem neuen Lager nachts ein Feuer zu unterhalten, +das uns zur Leitung dienen sollte, falls wir die Nachtzeit zur +Rückfahrt benutzten. Dieses Feuer ist uns jedoch überhaupt nicht zu +Gesicht gekommen, weil die Entfernung zu groß und die Luft voll dicken +Staubes war. + +Mittlerweile tanzte das Schiffchen auf seiner gefährlichen Straße +weiter. Glücklicherweise hatten sich Wind und Wellen über das Eis +am südlichen Ufer hergemacht; dieses hätte sonst unser Boot wie mit +Messern zerschnitten. Die weiße Linie, die vor uns in der Dunkelheit +leuchtete, war die Brandung der schäumenden Wogen am Ufer, das +glücklicherweise aus Sand bestand und ziemlich steil nach dem See +abfiel. Ehe wir uns dessen versahen, befanden wir uns mitten in +der tobenden Brandung. Das Boot wurde von einer Welle auf das Ufer +geworfen, aber vom zurücklaufenden Wasser sogleich wieder mitgezogen, +dann von neuem emporgeschleudert, so daß seine Holzrahmen knackten und +der Segeltuchrumpf sich bis zur Gefahr des Zerplatzens ausbauchte. +Doch nun sprang Tokta Ahun ins Wasser, und mit vereinten Kräften zogen +wir das Boot an Land, was uns jedoch erst gelang, nachdem ein paar +heranstürmende Wellen hineingeschlagen waren und einen Teil unserer +Habseligkeiten durchnäßt hatten. + +Wir lagerten unmittelbar am Ufer im Schutze eines kleinen Hügels. Hier +gab es sehr viele Köuruk-Pflanzen, eine Art kleiner, niedriger holziger +Steppengewächse, die ein vortreffliches Feuermaterial abgaben und +von denen wir einen gewaltigen Haufen sammelten. Das einzige Zeichen +von Leben waren Gänsefedern und Kulanspuren. Von der Landschaft war +nichts zu sehen, denn wir waren von undurchdringlicher Nacht umgeben +und fanden das Brennmaterial nur mit Hilfe hier und dort angezündeter +kleiner Filialfeuer. + +Als der Vorrat hinreichend groß war, ließen wir uns mit umgehängten +Pelzen am Lagerfeuer nieder, stellten die kupferne Kanne mit Wasser auf +die Glut und bereiteten uns ein hochfeines Abendessen, das für mich aus +Ochsenschwanzsuppe, Käse, Brot und Kaffee bestand, während sich Tokta +Ahun an einer Hammelkeule gütlich tat und Tee dazu trank. Dann blieben +wir noch gemütlich sitzen, qualmten mit unseren Pfeifen und schmiedeten +großartige Pläne für die beschlossene Winterreise durch die Wüste Gobi +nach den Kara-koschun-Sümpfen, die Tokta Ahun so genau kannte wie seine +Tasche. + +Der Wind flaute ab, der Himmel klärte sich auf und kündigte eine kalte +Nacht an. Um 9 Uhr hatten wir -14 Grad, die Feuerung war zu Ende, +und es war Zeit, sich schlafen zu legen. Mein ehrlicher Ruderer hörte +meinen Vorschlag, die beiden Boothälften als Zelte zu benutzen, mit +skeptischer Miene an; er mußte aber bald eingestehen, daß es eine +außerordentlich schlaue Idee war. Wir rollten uns wie Knäuel unter +der Bootschale zusammen und sahen mit einem gewissen Beben einer +eiskalten Nacht entgegen. Ich schlief auch nur einige Stunden. Dann +jagte mich die starke Kälte von -22,1 Grad auf, und ich weckte meinen +Reisekameraden, der mir aus diesem nicht für helle Sommerträume +geschaffenen Neste heraushalf. + +Wir waren halb erfroren, als wir aus unseren dünnen Schalen krochen. +In den Füßen hatte ich das Gefühl verloren, obwohl sie in vier Paar +Strümpfen und gewaltigen, von Ali Ahun angefertigten, mit Lammfell +gefütterten Stiefeln steckten. Unsere erste Sorge war daher, Material +zu einem ordentlichen Feuer zu sammeln, und an diesem mußte ich mich +ausziehen, um das Blut durch Reiben wieder in Umlauf zu bringen. Doch +die Nachtkälte liegt einem noch den ganzen Tag in den Knochen, bis man +wieder in seine gewöhnlichen, relativ bequemen Verhältnisse gelangt. + +Bei 19 Grad Kälte stießen wir das Boot vom Lande ab und ruderten im +herrlichsten Wetter über den See in der Richtung der Gegend, wo die +Karawane, unserer Meinung nach, angelangt sein und uns erwarten mußte. +Die Maximaltiefe betrug hier 24 Meter. + +Schon weit draußen vom See aus glaubten wir, auf der rechten Spur zu +sein, und vermeinten, Zelt und Jurte und Pferde zu sehen. Als wir uns +aber genügend genähert hatten, um die Gegenstände mit dem Fernglase +deutlich erkennen zu können, verwandelten sich jene beiden in zwei +kleine Hügel, diese aber in eine Kulanherde. Wir landeten jedoch, +um zu konstatieren, daß die Karawane hier vorbei und nach Westen +weitergezogen war. Zwei Bären waren kürzlich nach Osten getrabt, um die +Murmeltiere in ihrem tiefen Winterschlafe zu stören. + +Es blieb uns also nichts weiter übrig, als am Ufer entlangzurudern, um +die Unseren aufzuspüren. Ganz hinten im Westen zeigte sich unter der +sinkenden Sonne eine Rauchwolke, wir konnten aber nicht entscheiden, +ob sie von einem Feuer herrührte oder aus von fliehenden Kulanen +aufgewirbeltem Staube bestand. Ein stumpfer Vorsprung nach dem anderen +wurde in der Dämmerung umschifft, und Tokta Ahun schob jetzt das Boot +in seichtem Wasser mit dem Ruder längs des Ufers weiter. Ich saß ganz +steif gefroren in der vorderen Hälfte des Bootes, der Ruderer aber +hielt sich warm und sang ein schwermütiges Lied aus den Hütten von +Abdall. Schließlich drang ein Feuerschein durch das Dunkel, aber diese +nächtlichen Feuer sind, so belebend sie auch anfangs wirken, meistens +trügerisch. Nachdem wir drei Stunden auf den Schein zugerudert waren, +verschwand er wieder. Wir setzten jedoch unseren Weg fort und stießen +von Zeit zu Zeit gellende Rufe aus, die endlich durch Hundegebell +beantwortet wurden. Da loderte das Feuer in unserer unmittelbaren +Nachbarschaft auf, und ein Fackelträger nahm uns am Ufer in Empfang. + +Togdasin, den wir gleich Aldat im Gebirge gefunden hatten, schien zu +demselben Schicksale verurteilt zu sein wie dieser. Die Krankheit +nahm sichtlich eine Wendung zum Schlechten. Der Mann lag, wie die +Muselmänner zu tun pflegen, wenn sie sich schlecht befinden, auf den +Knien mit vornübergebeugtem Leibe und auf die Erde gelegtem Kopfe; er +konnte sich nicht überwinden zu essen, wollte aber unaufhörlich kaltes +Wasser haben und phantasierte und stöhnte bei jedem Atemzuge. + +Tokta Ahun teilte mir mit, daß diese Krankheit, die wohl eine +außerordentlich bösartige Form von Bergkrankheit ist, unter den Jägern +und Goldgräbern in diesen Gebirgen ziemlich häufig auftrete. Sie heißt +bei den Muselmännern einfach Tutekk (Atemnot, Bergkrankheit), oder +sie sagen auch „Is allup getti“ (hat die Bergkrankheit bekommen), +gleichviel, ob von einem Mann, Pferd oder Kamel die Rede ist. Ist man +früher einmal schwer krank gewesen, so hat man wenig Aussicht auf +Genesung. Der von dem Übel Befallene hat anfangs das Verlangen, sich +nach dem Tieflande hinunterzuflüchten, wohin er jedoch nie wieder +gelangt, wenn er nicht im Gebirge selbst wieder gesund wird. Zwei +Goldgräber waren diesen Sommer auf dem Wege nach ihrer Heimat bei +Temirlik daran gestorben. Doch wenn die Krankheit schon Fortschritte +gemacht hat, soll der Unglückliche seinen Zustand nicht mehr beurteilen +können; er weiß nichts davon, daß er krank ist, und kann über sein +Befinden keine Auskunft geben. Die Symptome bestehen in Anschwellen des +Körpers, Schwarzwerden der Beine, gänzlichem Verschwinden des Schlafs +und des Appetits, Schmerzen in Kopf und Herzen, dazu Durst, geschwächte +Herztätigkeit und abnehmende Körpertemperatur. Nach Tokta Ahuns +Erfahrung sollte Tabakrauchen das beste Mittel dagegen sein; deshalb +sah man ihn beständig mit der Pfeife im Munde. Ich selbst habe die +Bergkrankheit nicht kennen gelernt, nicht einmal in 5500 Meter Höhe. +Die Hauptsache ist, sich nicht zu überanstrengen. + +Wieder beschlich uns das Gefühl, den kalten, grausamen Tod in unserer +Gesellschaft zu haben, als folge er, auf sein schon auserkorenes Opfer +lauernd, mit der Sanduhr in der Hand der Karawane treu über alle Pässe +und Ebenen. Am schlimmsten ist, daß man sich völlig machtlos fühlt, +dem Kranken zu helfen, und sehen muß, daß die Behandlung, die man ihm +zuteil werden lassen kann, erfolglos bleibt. + +Sowohl für den Kranken wie für die Seefahrer war ein Ruhetag notwendig. +Islam Bai erhielt diesen Tag eine Aufgabe zu lösen. Er sollte mit +Kutschuk über den See rudern und eine Lotungsreihe ausführen, deren ich +zur Vervollständigung der Seekarte bedurfte (Abb. 166). Das Kniffliche +dabei war nur, daß Islam nicht schreiben konnte; er mußte daher +mechanisch wie ein selbstregistrierender Apparat arbeiten. Die Uhr +konnte er immerhin ablesen und verstand auch, alle fünfzehn Minuten die +Lotungen anzustellen. Beim ersten Punkte knüpfte er einen Bindfaden mit +einem Knoten um die Lotleine, beim zweiten Punkte einen mit zwei Knoten +usw. Nachher wurden diese Abstände von mir mit dem Bandmaße gemessen. +Die gemessene Linie konnte ich selbst vom Ufer aus feststellen, und die +Durchschnittsgeschwindigkeit des Bootes war bekannt. + +Pechschwarz senkte sich diese Nacht auf unser Lager herab; der Himmel +war mit dichten, undurchdringlichen Wolken bedeckt, kein Unterschied +machte sich zwischen Land, Wasser und Atmosphäre bemerkbar; unser +kleines Gemeinwesen verschwand in einem unergründlichen, kohlschwarzen +Raume. Öffne ich den Vorhang vor der Tür der Jurte, so fällt eine +schwache Lichtstraße über den Boden, im übrigen ist das vor der +Jurte der Leute brennende Feuer das einzige, woran das Auge einen +Anhaltspunkt findet. Das Innere meiner Wohnung ist gemütlich möbliert, +der Fußboden da, wo meine Kisten stehen, mit einem Chotaner Teppich +bedeckt, mein Bett auf der Erde ausgebreitet, und auf ihm sitze ich +mit gekreuzten Beinen, meine Aufzeichnungen machend oder an meinen +Kartenblättern zeichnend. Tscherdon bringt von Zeit zu Zeit ein +Kohlenbecken herein, ohne welches man bei 20 Grad Kälte schwer arbeiten +könnte. + +Wenn ich jetzt, nachdem Jahre vergangen sind und ich wieder von allem, +was mir am liebsten ist, umgeben bin, zurückdenke an diese langen +kalten, stillen Winterabende in Tibet, wundere ich mich beinahe, daß +mir in dieser tödlichen Einsamkeit, die Tage und Jahre hindurch immer +gleich einsam blieb, die Zeit nie lang geworden ist. Doch das beständig +unerschöpfliche Arbeitsfeld hielt mich aufrecht; ich hatte stets treue, +zuverlässige Diener, und für jeden Tag des Jahres hatte ich ein kleines +Buch mit Bibelsprüchen, das, wie ich wußte, auch täglich in meinem +Elternhause gelesen wurde. + +Wie eine schwere Last lag es mir freilich auf dem Herzen, wieder einen +Kranken im Lager zu haben, und Togdasins kurze Gebetrufe an den Gott +der Muhammedaner, „Ja Allah, Ej Chodaim“, ließen mir keine Ruhe. Nicht +einmal Kiplings herrliche Lieder in „~The seven seas~“ konnten +meine Gedanken ablenken, als ich diesen Abend zur Ruhe ging. + +Die Rückreise nach Temirlik, die am 22. November angetreten wurde, +nahm 12 Tage in Anspruch und führte uns über die Bergketten +Kalta-alagan und Tschimen-tag und zweimal über den Akato-tag. + +Der erste Tagemarsch wurde fürchterlich. Wir gingen nach Westen und +hatten den Wind, einen halben Sturm mit -2 Grad um 1 Uhr und -10 +Grad um 2 Uhr, gerade entgegen; selten habe ich mich so gelähmt und +erschöpft gefühlt. Es erfordert Geduld, der Karawane zu folgen und +sich die Hände abwechselnd vor Kälte erstarren zu lassen. Die über +Nacht auf dem Ajag-kum-köll entstandene dünne Eisdecke wurde vom Sturme +zersplittert und nach Osten getrieben; der See sah unheimlich, kalt und +dunkelblau und vom Wellenschaume weißgestreift aus. In solchem Wetter +mit unserem kleinen Boote unterwegs zu sein, wäre wohl der sichere +Untergang gewesen. Der ganze östliche Teil des Sees ist nämlich nur +einen oder ein paar Dezimeter tief, das Boot wäre gegen den hier etwas +festeren Eisrand geworfen und zerschnitten worden, und der Seeboden +besteht aus Schlamm, in welchem man rettungslos versinkt. Die Kosaken +hatten auf ihrem Jagdausfluge die Mündung des Flusses zu überschreiten +versucht, aber das erste Pferd war bis an den Hals in den Schlamm +gesunken und hatte nur mit großer Mühe noch gerettet werden können. + +Der Tschimen-tag zeichnete sich auch an dem Punkte, wo wir jetzt diese +Kette überschritten, durch eine höchst sonderbare Architektur aus. Das +Tal, aus welchem man nach dem Passe hinaufgeht, liegt selbst so hoch, +daß man die Paßschwelle kaum gewahrt. Auf der nördlichen Seite ist +das Gefälle aber um so steiler. Hier stürzt sich ein zwischen nackten +Wänden und Vorsprüngen eingeklemmter Hohlweg wie eine Treppe über +Felsenschwellen und Gesteinplatten jäh nach dem Tale hinunter. Wir +hatten einen langen Marsch gemacht; die Karawane ging voraus, und ich +erreichte den Anfang dieses Korridors erst bei Einbruch der Dunkelheit. +Islam erwartete mich mit einer Laterne, aber mein Pferd wäre trotzdem +beinahe gestürzt, da es von einer Treppenstufe auf die andere springen +mußte. Tief unter uns im Tale bei dem sandumgürteten und zu gewaltigen +Eisblöcken gefrorenen Wasser der Quellen von +Kum-bulak+ +leuchtete das Lagerfeuer, und nach vielen Mühen erreichte ich meine +Jurte, die auf einem steil in die Tiefe abstürzenden Felsenabsatze +aufgeschlagen war. Erst am Morgen, als wir reisefertig waren, merkte +ich, wie gefährlich diese Lage gewesen war. Die Jurte stand gerade in +der Mündung eines Abzugskanales für alle Blöcke, die von den oberhalb +zunächst stehenden Felswänden abstürzten. Dann und wann ertönte in der +Nacht das Echo eines Blocksturzes, aber meine Jurte war doch verschont +geblieben. + +Der Zug weiter durch das Tal hinunter war nicht leicht. An ein paar +Stellen, wo der Granit mehrere Meter hohe Stufen in der Rinne selbst +bildete, mußten alle Tiere abgeladen und dann vorsichtig an den Platten +hinuntergelassen werden. Einmal überschritten wir eine gewaltige +Eistafel, die den Talgrund wie gegossenes Porzellan ausfüllte und sich +allen Spalten und Ritzen anschmiegte. Ihre glatte Oberfläche mußte +erst mit Sand bestreut werden, damit die Pferde nicht fielen. Es war +wirklich schön, diesen von Blöcken und Schutt angefüllten Hohlweg +hinter sich zu haben und wieder in das Tschimental zu gelangen, +wo wir an der Stelle lagerten, an der wir vor einem Monat mit der +Hilfskarawane zusammengetroffen waren. + +Von hier aus wurde Kutschuk mit dem sich jetzt etwas besser befindenden +Togdasin und dem Boote nach Hause geschickt, während wir anderen nach +Norden weiterzogen, um über den Akato-tag zu gehen. + +Die Nacht auf den 28. November war mit ihren -24,6 Grad die kälteste, +die wir bisher in diesem Winter gehabt hatten. + +Ein düsteres, steiles Granittal führt nach dem 4926 Meter hohen Passe ++Gopur-alik+ im Akato hinauf (Abb. 167). Mit einem Male konnten +wir nicht hinauf gelangen, sondern lagerten in dem Tale zwischen Massen +von Felsblöcken, wo es weder Wasser noch Feuerungsmaterial und auch +kein Gras gab. Am folgenden Morgen strengten wir uns weiter mit dem +Erklimmen der Abstürze an. Die Pferde atmen so schnell und mühsam, +daß man erwartet, ihre Lungen würden zerspringen; sie bekommen keine +Luft und müssen unaufhörlich ausruhen, um nicht zusammenzubrechen. +Der Paß ist scharf wie eine Klinge und fällt nach beiden Seiten jäh +ab. Alle gehen zu Fuß; ich lasse mich hinaufbugsieren, indem ich +mich am Schwanze meines Pferdes halte. Lasten gleiten ab, und Pferde +fallen. Hier heißt es aufpassen und zugreifen, sonst könnten sie +in das abschüssige Tal Hunderte von Metern tief hinabrollen und zu +Brei zerschmettert werden. Der Westwind heult so regelmäßig wie ein +Passatwind, und es ist bei -15 Grad recht fühlbar kalt. + +Die Maulesel gehen sicherer als die Pferde; daher mußte einer von +ihnen meine Instrumentenkiste tragen. Endlich erreichen wir den Paß +und haben von seinem scharfen Kamme eine großartige Aussicht. Mit +einem Blick beherrscht man alle diese mächtigen, mit blendenden +Schneepanzern bekleideten Bergäste, und im Westen breitet sich ein +unentwirrbares Durcheinander von Felsen aus. Das Tal, das uns nach +dem Passe hinaufgeführt hat, liegt wie eine schattige, jäh abfallende +Rinne unter unseren Füßen, und wir erstaunen, daß es möglich gewesen +ist, in ihm hier heraufzuklimmen. Im Norden erhebt sich der gewaltige +schneebedeckte Gebirgsstock Illwe-tschimen mit seinen vielen bizarren +Gipfeln, die wir von früheren Exkursionen her kannten. + +Nach der üblichen Rast zu Beobachtungen sehnte ich mich nur nach +dichteren Luftschichten und Schutz gegen den Wind. Jetzt folgen wir +einem imposanten Tale, das auf beiden Seiten mehrere Nebentäler +empfängt. Ihre Mündungen gleichen gigantischen Toren zwischen +lotrechten Felswänden. Wenn man in die Tore hineinsieht, erblickt man +im Hintergrunde die wunderlichsten Berggestalten, wo der Schnee auf +allen Vorsprüngen in Friesen und Mustern liegt; in dem gedämpften +Purpur der Abendsonne gleichen sie Galerien und Dekorationen in einem +tibetischen Tempel. + +Sobald die Pferde im Lager von ihren Lasten befreit worden waren, +ergriffen sie die Flucht, wurden aber nach einer Weile wieder +eingefangen und angebunden. Weide gab es nämlich in dieser Gegend (4057 +Meter) nicht. Der Wind weht noch immer, und die Glut des Kohlenbeckens +reicht nicht aus, um die Tinte in meiner Feder flüssig zu halten. Ich +habe -12 Grad in der Jurte. Durch die unvermeidliche Zugluft von allen +Seiten brennt mein Licht in drei Stunden herunter und ist von dicken +Stearinstalaktiten umgeben. Tscherdon schoß einen Yakstier, und ich +bedauerte Turdu Bai, Tokta Ahun und Chodai Värdi, die den Yak um 9 Uhr +abends bei grimmiger Kälte zerlegen sollten. Solange das Fleisch warm +war, konnten sie sich daran die Hände wärmen, aber gegen Mitternacht +kehrten sie in das Lager zurück mit einem Bündel steinhartgefrorener +Fleischstücke, die unter den Beilhieben wie Glas zersprangen. + +Beim nächsten Lagerplatze fanden wir in den harten, gefrorenen Büscheln +der Hochlandsteppe gutes Brennmaterial, und der Schnee schenkte uns +Wasser. Am folgenden Morgen vergoldete die Sonne die Gipfel des +Illwe-tschimen, während wir noch im Schatten lagen; es wehte nicht, +wir sehnten uns in den Sonnenschein hinaus und waren bald im Gange. +Von dem obenerwähnten Gebirgsstock geht ein Tal aus, dessen Gehänge +außergewöhnlich gute Weide tragen. Daher blieben wir hier nach einem +kurzen Tagemarsch, und ich war gerade dabei, das Stativ des Theodoliten +aufzustellen, als der Weststurm kam und jeder Arbeit im Freien ein Ende +machte. Er riß das Zelt der Leute um; es flog fort und landete auf dem +Eise des Talgrundes. + +Längs des zunächststehenden Berges sahen wir einen Mann auf einem Kamel +reiten. Ich glaubte, es möchte ein Bote an mich sein, und schickte +daher Tokta Ahun aus, um Erkundigungen einzuziehen. Der Mann war, wie +sich herausstellte, ein Mongole und gehörte zu einer Pilgergesellschaft +aus Kara-schahr, die auf dem Wege nach Lhasa war. Die anderen waren +am Morgen hier vorbeigekommen, er aber war zurückgeblieben, weil sein +Kamel nicht so schnell hatte laufen können. + +[Illustration: 166. Islam Bai und Kutschuk stoßen vom Lande ab. (S. +389.) + +Im Hintergrund die kleine isolierte Bergpartie am Nordwestufer des +Ajag-kum-köll.] + +[Illustration: 167. Das nach dem Passe Gopur-alik hinaufführende Tal. +(S. 391.)] + +Mongolische Pilger begeben sich jährlich aus den russischen und +chinesischen Vasallenländern im Norden über Temirlik, Ghas und +Zaidam nach der heiligen Stadt. Sie wandern stets im Spätherbst oder +Winter dorthin und kehren im nächsten Jahre um dieselbe Zeit wieder +zurück. Während der warmen Jahreszeit gehen sie nie über Abdall, weil +die Bremsen ihnen die Kamele ruinieren würden. Auf der Rückreise sind +sie stets übel daran, weil ihnen von ihren Tieren nur noch wenige +geblieben sind, und die meisten Männer gehen zu Fuß. In Abdall pflegen +sie zu versuchen, ihre erschöpften Kamele gegen Pferde zu vertauschen, +um dadurch instand gesetzt zu werden, ihre noch weit entfernte Heimat +zu erreichen. Ein schwächliches Kamel hat gleichen Wert mit einem +Pferd, drei schlechte Kamele mit einem gesunden, ein ganz abgetriebenes +mit einem Esel. Ihren Proviant verwahren die Pilger in Säcken und +Kisten, und auf der Rückreise kaufen sie in Abdall neue Vorräte. +Wenn sie auf der Hinreise in das Land der Zaidammongolen gelangen, +lassen sie alle Kamele bei ihren Stammverwandten zurück und reisen auf +gemieteten Pferden weiter. In Zaidam haben viele Mongolen hierdurch ein +bedeutendes Einkommen. + +Sie müssen großes Vertrauen zu der Wahrheit ihrer Religion besitzen, da +sie das Opfer eines ganzen Jahres voller Strapazen, Entbehrungen und +Kosten bringen, um nur die heilige Stadt zu sehen und an den dortigen +Tempelfesten und Prozessionen teilzunehmen. Sie richten es stets so +ein, daß ein Pilger, der schon in Lhasa gewesen ist, mitkommt, und +von Zaidam nehmen sie Führer, die alle geeigneten Lagerplätze kennen. +Vier Monate sind sie unterwegs und richten sich ihr Karawanenleben so +angenehm wie möglich ein. Während des Marsches sammeln sie „Argussun“ +(Argol oder Yakdung) zum Brennen und sitzen abends um ihre Feuer, +bereiten sich Tee und essen Tsamba, das tibetische Nationalgericht. +Mit gespannter Erwartung nähern sie sich dem Ziele ihrer Träume, sehen +eine Bergkette nach der anderen hinter sich verschwinden und empfinden +ohne Zweifel, wenn hinter der letzten Höhe endlich Lhasas weiße +Tempelfassaden glänzen, dieselbe heilige Ehrfurcht, die den Mekkapilger +ergreift, wenn er zum ersten Male in seinem Leben vom Berge Arafat +seine heilige Stadt erblickt. + +Es war ein seltsames Gefühl, diese Pilger in der Nähe zu wissen und +in den Spuren zu ziehen, die nach Lhasa führten. Einen Augenblick +lang fühlte ich mich versucht, mich ihnen anzuschließen, nur Schagdur +mitzunehmen und als Burjate verkleidet mit ihnen zu ziehen. Aber nein, +es ließ sich nicht ausführen; ich hatte für den Winter andere Pläne und +durfte mein Programm nicht ändern. + +Wir folgten den wie helle Kreise in den Sand gedrückten Spuren +der mongolischen Kamele. Im Norden unseres Weges zieht sich die +Astin-tag-Kette so weit nach Osten und Westen hin, wie das Auge +reicht. Gegen Abend nahm die Luft einen hellblauen Farbenton an, +war aber im Zenit glänzend weiß, -- wahrscheinlich brachen sich +die Mondstrahlen in seinen Eisnadeln; die Berge leuchteten in rosa +Schattierungen, alles zeigte sich in schwachen, winterkalten Tönen; +auch wenn man von lauter Wärme umgeben wäre, würde man sehen, wie diese +Landschaft unter der vernichtenden Macht der Kälte erstarrt ist. + +Wir wandern in dem Tale nach Osten und gelangen an den am Nordfuße +des Akato-tag gelegenen Salzsee +Usun-schor+. Hier entspringen +mehrere Süßwasserquellen, und nur da, wo sich ihre Rinnsale in den See +ergießen, liegt Eis. Sonst ist das mit Salz gesättigte Wasser offen, +obwohl es eine Temperatur von -7,9 Grad hat. + +Es war schön, am Abend des 5. Dezember wieder daheim zu sein und im +Lager alles gut und ruhig vorzufinden. Die Quellen von Temirlik waren +jetzt von mächtigen Eisblöcken und Eiskuppeln umgeben. Togdasin hatte +sichtlich einen ernstlichen Stoß bekommen, denn sein Zustand hatte sich +nicht gebessert. Er wohnte in einer Grotte neben mir, und ich nahm mich +in den Tagen, die ich jetzt im Hauptquartier zubrachte, seiner sehr an. +Als das Hauptquartier Ende Dezember nach Tscharchlik verlegt wurde, kam +er mit, und ich sah ihn dann erst im April des folgenden Jahres wieder. +Er war ein Krüppel geworden; die Füße waren ihm buchstäblich Stück für +Stück abgefallen, aber er war heiter und zufrieden, und ich gab ihm +soviel ich konnte für seinen Lebensunterhalt. + +In betreff der mongolischen Karawane erzählte Schagdur, daß sie einen +Tag in Temirlik gerastet und aus 75 Männern, lauter Lamas, und zwei +Weibern bestanden habe. Einer dieser Priester hatte einen besonders +hohen vornehmen Rang, und ihm wurde von den anderen die größte +Ehrfurcht erzeigt. Ungefähr 25 von den übrigen waren so arm, daß sie +zu Fuß gingen und nur unter der Bedingung mitkommen durften, daß sie +ihren wohlhabenderen Kameraden dienten. Letztere hatten eine Reisekasse +von 10 Jamben pro Mann und außerdem noch eine Kasse von 120 Jamben, +die für den Dalai-Lama bestimmt waren, weil sie für alle Feste und +Feierlichkeiten, an denen sie teilnehmen, bezahlen müssen. Dies ist der +Peterspfennig, von dem der Papst in Lhasa lebt. + +Die Schar war gut bewaffnet und besaß 30 mongolische Flinten, 2 +Berdan- und 1 Winchestergewehr; sie waren also auf die Abwehr +tangutischer Räuberanfälle vorbereitet. Schagdur hatte einige von +ihnen aufgefordert, mit ihm auf die Kulanjagd zu gehen, sie hatten +aber erwidert, daß jegliches Blutvergießen verboten sei, weil es die +Wallfahrt besudeln würde. + +Der Mann, der zurückgeblieben war und den wir gesehen hatten, war ein +Lama, der zehn Jahre in Lhasa gelebt hatte und jetzt noch drei dort +bleiben sollte. Ich fragte mich, ob er Schagdur wohl wiedererkennen +würde, wenn es uns später noch gelingen sollte, in die heilige Stadt zu +gelangen. + +Die Karawane zählte 120 Kamele und 40 Pferde. Außerdem hatten sie 7 +Paradepferde bei sich, die mit der größten Sorgfalt gepflegt wurden +und als Geschenk für den Dalai-Lama bestimmt waren. Der Proviant +bestand aus gehacktem Fleisch in kleinen gedörrten, gefrorenen Stücken, +geröstetem Weizenmehl und Tee. + +Mit der größten Neugierde hatten sich die Pilger unser Lager angesehen +und die Veranlassung meines Besuches zu erforschen versucht. Es +unterliegt keinem Zweifel, daß sie bei der Ankunft in Lhasa ihre in +dieser Beziehung gemachten Entdeckungen den betreffenden Behörden +meldeten und daß dies eine der Ursachen war, weshalb die Grenze gegen +Norden mit so großer Aufmerksamkeit bewacht wurde. Ich erhielt später +eine Bestätigung für diesen Verdacht. + +Schagdur hatte einige Neuigkeiten aufgeschnappt, die ich mir merkte. +Die Mongolen hatten erzählt, daß alle Pilger, die sich Lhasa nähern, +unter strenger Aufsicht stehen. Schon in Nakktschu werden alle +angehalten und untersucht. Sie müssen ihre Namen angeben, die Orte, in +denen sie leben, und den Namen des Oberlamas, unter dem sie stehen, und +von ihm ein Zeugnis vorzeigen, in welchem angegeben wird, zu welcher +Kloster- oder Tempelgemeinde sie gehören und was der Grund ihrer +Wallfahrt ist. Wenn alle diese Formalitäten erledigt sind, wird ein +Bericht darüber nach Lhasa geschickt, und die Pilger müssen warten, bis +sie von den Behörden der Stadt besondere Pässe erhalten. + +Sind sie erst damit versehen, so brauchen sie sich nachher keiner +weiteren Kontrolle zu unterwerfen. Diese Vorsichtsmaßregeln sollen +getroffen worden sein, um Russen, d. h. Europäer, zu verhindern, +sich in Lhasa einzuschleichen. Aus denselben Gründen war vor einigen +Jahren ein Erlaß an die Turgutenstämme, die russische Untertanen sind, +ergangen, daß aus ihrem Lande künftig keine Pilger nach Lhasa geschickt +werden dürften. Dieses Verbot war aber kürzlich aufgehoben, und die +einige Zeit unterbrochenen Wallfahrten waren wieder aufgenommen worden. + +Ein Lama der Pilgerkarawane hatte von einer Prophezeiung in einem +in Lhasa befindlichen alten heiligen Buche zu erzählen gewußt, die +verkündete, daß der Tsagan Chan, der „Weiße Zar“, einst über die ganze +Welt herrschen, Tibet erobern und Lhasa zerstören werde. Die Lamas +würden dann ihre Heiligtümer in unzugängliche Gebirge in Südtibet +flüchten. + +Der Lama hatte Schagdur eingeladen, mitzukommen; für ihn würde es +leicht zu machen sein, besonders wenn er sich für einen Turguten +ausgäbe. Ich unterhielt mich abends, wenn es im Lager still war, +mit meinem treuen Kosaken über diese Dinge, die ihn in so hohem +Grade interessierten. Schon als Kind hatte er von der heiligen Stadt +gehört und brannte nun vor Eifer, einmal dorthin zu kommen. Er ahnte +nicht, daß es meine Absicht war, es selbst auf den verbotenen Wegen +zu versuchen. Doch wir mußten uns noch gedulden. Ich hatte vorher +noch wichtigere Dinge auszuführen, und der ganze Plan des Versuchs, +verkleidet nach Lhasa zu dringen, gehörte zu jenen waghalsigen +Abenteuern, die nur Reiz ausüben, wenn man noch jung ist. + + +Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig. + +[Illustration] + +[Illustration: TARIM + +und + +WÜSTE TAKLA-MAKAN.] + +[Illustration: OSTTIBET. + +Faksimile eines Originalblattes meiner Karte des Tarimflusses + +(einige Tagereisen oberhalb von Karaul aufgenommen).] + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 68402 *** |
