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-The Project Gutenberg eBook of Lose Blätter, by Doris von Spättgen
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
-most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms
-of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
-www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you
-will have to check the laws of the country where you are located before
-using this eBook.
-
-Title: Lose Blätter
- Neue Novellen
-
-Authors: Doris von Spättgen
- Doris von Scheliha
-
-Release Date: April 18, 2022 [eBook #67861]
-
-Language: German
-
-Produced by: the Online Distributed Proofreading Team at
- https://www.pgdp.net (This book was produced from images
- made available by the HathiTrust Digital Library.)
-
-*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK LOSE BLÄTTER ***
-
-
-
-
-
- Lose Blätter.
-
-
- Neue Novellen
-
- von
-
- Doris Freiin von Spättgen.
-
-
- Leipzig.
-
- Verlag von F. A. Berger.
-
- 1895.
-
-
- Vor Nachdruck geschützt.
- Übersetzungsrecht vorbehalten.
-
-
-
-
-Inhaltsverzeichnis.
-
-
- Licht 3
-
- Fächer-Bilder 35
-
- Aus Großtantchens Hofdamenleben 63
-
- Unter dem Niagara-Falle 83
-
- Zahnschmerzen 103
-
- Amerikanische Existenzen 133
-
-
-
-
-Licht.
-
-
-Weit draußen am äußersten Ende von Williamsbourgk, einem Stadtteile
-Brooklyns, dort, wo die Straßen- und Häuserreihen bereits durch
-ausgedehnte Wiesenflächen und üppige Obstplantagen unterbrochen werden,
-so daß die Bezeichnung »Stadt« daselbst eigentlich nicht mehr zutreffend
-erscheint, weil die Gegend schon allmählich den Charakter des Ländlichen
-annimmt -- dort steht eine Reihe allerliebster, hüttenartiger Häuschen,
-deren Gesamtheit, wegen der Zierlichkeit und Gleichheit der Gebäude,
-im Volksmunde »Dolly Ward (Puppenfestung)« benannt wird. Diese
-Miniaturvillen, eine aufs Haar genau so wie die andere, mußten
-unzweifelhaft aus der Hand desselben Baukünstlers hervorgegangen sein, der
-sie, wohl mehr um einer flüchtigen Laune zu genügen, als um praktische
-Behausungen zu schaffen, aus der Erde hervorgezaubert haben mochte.
-
-Jedes der Häuschen war mit einem niedlichen Vorgärtchen, einer Art
-Veranda, worauf die Hausthür mündete, und einer grün angestrichenen,
-hölzernen Treppe versehen, deren Geländer ein fast elegant zu nennendes
-Schnitzwerk auswies. Das Innere einer solchen Villa bestand aus nur
-zwei größeren Zimmern im ersten Stock, sogenannten Parlours, drei
-Mansardenstübchen und der großen hellen Küche im Basement (Souterrain).
-
-Merkwürdigerweise stand nur äußerst selten ein Häuschen der Dolly Ward
-zu vermieten. Die meisten derselben befanden sich schon seit vielen Jahren
-in festen Händen, was ihr Äußeres auch fast durchweg verriet. Die
-Gärtchen zeigten sich auf das sorgsamste gepflegt, ihre schmalen Gänge
-waren mit rotem Kies bestreut, während verschiedenes feines Strauchwerk
-die etwas primitiven Staketenzäune, welche die Grundstücke von der
-Verkehrsstraße trennten, verdeckte und dadurch eine Art hübsche lebende
-Hecke bildete. Rosen und andere duftende Blumen erfreuten im Sommer
-das Auge der Vorübergehenden, und die stets blitzblank geputzten
-Fensterscheiben und sauberen Gardinen vollendeten den guten Eindruck, den
-diese Villen auf den Fremden ausübten.
-
-Die Bewohner von Dolly Ward, zum Teil bejahrte Leute, welche sich nun ins
-Privatleben zurückgezogen hatten, zum Teil Angestellte großer Geschäfte
-von Brooklyn und New York, welche ihrer Familie wegen die bei weitem
-billigeren und gesünderen Wohnungen hier draußen dem Geräusch und
-dem Staube der Großstadt vorgezogen, und einige alte Fräuleins, welche
-Pensionäre hatten, bildeten eine förmliche feste Clique, so daß auf
-Dolly Ward jeder neue Ankömmling anfänglich allseitigem Mißtrauen
-begegnete.
-
-Im Anfang des Frühlings 188. war Mr. Holstein, der deutsche Eigentümer
-des Häuschens Nr. 9, plötzlich gestorben und bald darauf hatte seine
-Witwe den guten Bekannten von rechts und links Lebewohl gesagt, weil sie
-ihren Aufenthalt fortan nach Jersey City zu einer verheirateten Tochter zu
-verlegen gedachte. Mr. O'Reilly, der Nachbar zur Rechten, welchem die alte
-Dame vor ihrem Scheiden die vorteilhafte Vermietung ihres Besitztums noch
-recht eindringlich ans Herz gelegt hatte, hing eigenhändig die weiße
-Tafel zum Fenster hinaus, auf welcher mit großen Lettern zu lesen stand:
-»=to let=.«
-
-Etwa vier Wochen lang zerbrach man sich in Dolly Ward die Köpfe, wer wohl
-seinen Weg hier heraus nach dem entlegenen Teile von Williamsbourgk nehmen
-würde, denn die guten Leute der kleinen Villenkolonie waren äußerst
-exklusiv und fürchteten begreiflicherweise das Niederlassen des ersten
-besten Rowdy in ihrer friedlichen Ansiedelung. Da verkündete Mr. O'Reilly
-eines Morgens einer wißbegierigen Dame, daß des seligen Holsteins
-Häuschen vermietet worden sei und die neuen Bewohner, in Gestalt von
-Mutter und Tochter demnächst schon eintreffen würden. Das gab natürlich
-viel zu reden. Allein auf alle an ihn gerichteten Fragen vermochte Mr.
-O'Reilly keine weitere Auskunft zu geben, als daß beide Damen respektabel
-aussähen und gebildet schienen.
-
-Vier Tage später war die kleine Villa von den neuen Bewohnern bezogen.
-»Wer mag das wohl sein? Weshalb kommen Leute, die solch eine Masse von
-eleganten Möbeln mit sich führen, hier heraus? Die Geschichte gefällt
-uns nicht -- das hat sicher noch einen Haken!« So flüsterte man sich
-gegenseitig zu nach dem Eintreffen von Mrs. Northland und ihrer schönen
-Tochter auf Dolly Ward. Nachdem jedoch zwei und drei Monate ins Land
-gegangen und die beiden Damen trotz ihrer großen Zurückhaltung bekannter
-geworden waren, fing man an, sie gerade um ihrer Zurückhaltung und
-vornehmen Würde willen mit anderen Augen anzusehen, und nun sagten die
-Nachbarn von rechts und links unter sich: »Feine Leute sind es offenbar,
-das bezeugt ihr ganzes Auftreten, allein -- wovon leben sie?«
-
-Nach amerikanischen Begriffen hat das Wort »Arbeit« die höchste
-und ehrendste Bedeutung und nur der gilt als angesehen, welcher auf
-irgendwelche ehrliche Weise durch eigene Arbeit sein Brot erwirbt. Die
-reichen Leute arbeiten aus angeborener und anerzogener Lust zum Schaffen,
-die Unbemittelten, um reich zu werden -- Müßiggang giebt es in den
-Vereinigten Staaten nicht und wer sich ihm hingiebt, hat Mißtrauen zu
-fürchten über die Art, durch die er sich seinen Lebensunterhalt erwirbt.
-Da nun Mrs. Northland und ihre Tochter, außer einer gelegentlichen Fahrt
-nach New York, keine besondere Beschäftigung zu haben schienen, so war das
-selbstverständlich auch ein Grund, sich über die seltsame Lebensweise
-der beiden Damen aufzuhalten. Dessenungeachtet hatten die Fremden es
-verstanden, sich bald die Achtung und Teilnahme der Bewohner von Dolly Ward
-zu erwerben. Wer auch hätte dem freundlich sanften Wesen der Mutter, wer
-dem bezaubernden Augenaufschlag der Tochter zu widerstehen vermocht? So
-schroff und absprechend auch anfangs über die beiden Frauen geurteilt
-worden war, jetzt bemühte sich jeder, ihnen Gefälligkeiten zu erweisen,
-wenn auch ein näherer Verkehr nicht in den Wünschen der Damen zu liegen
-schien.
-
-Außer Mr. O'Reilly, dem jungen Advokaten, welcher in Goldsmiths Office
-in Brooklyn arbeitete und hier bei der alten Miß Colnay Pensionär war,
-außer diesem hatte noch keiner der Bewohner von Dolly Ward Mrs. Northlands
-Schwelle überschritten, und auch sein Verkehr mit den beiden Damen
-beschränkte sich nur auf einige geschäftliche Besuche, die O'Reilly
-der neuen Mieterin als Verwalter des Holsteinschen Grundstücks zu machen
-hatte. Es schien auch durchaus nicht in deren Absicht zu liegen, mit
-irgend jemand näher bekannt zu werden. Bei Begegnungen grüßte man
-untereinander, sprach gelegentlich einige Worte über den Gartenzaun, das
-war alles.
-
-Im allgemeinen galt Mr. O'Reilly als wortkarger Mann; seit er jedoch die
-Bekanntschaft der Fremden gemacht, gab es dennoch einen Punkt, der seinen
-Mund überfließen machte: das war, wenn er von Mrs. Northland und deren
-Tochter sprach und in Lob und offener Bewunderung über beide sich erging.
-Durch ihn wußte es auch bald jedermann in Dolly Ward, daß diese Damen
-eine ganz ungewöhnliche Bildung, sowie die feinsten Umgangsformen
-besäßen und daß, obwohl Miß Grace Northland alltäglich mit einem
-Körbchen am Arm die Einkäufe bei Fleischer und Kaufmann selbst machte,
-die jetzige Einrichtung von Nr. 9 derjenigen einer Lady der V. Avenue von
-New York gleichgestellt werden konnte.
-
-An einem regnerischen Junitage, um die sechste Abendstunde, trat Miß
-Grace, eine schlank gewachsene Brünette, mit kühn geschwungenen
-Augenbrauen und herbgeschlossenem, ausdrucksvollem Munde, dessen Linien
-sowohl starke Willenskraft wie auch Unerschrockenheit bekundeten, nach
-einem Ausgange durch die Verandathür in das vordere der beiden Parlours
-und schaute sich sichtlich befremdet darin um: »M'ma! Mama!«
-
-Keine Antwort erfolgte -- das junge Mädchen stellte daher den Regenschirm
-rasch beiseite und eilte nach dem zweiten, nach der Rückseite des
-Häuschens gelegenen, kleinen Salon, welcher von dem ersten nur durch eine
-schwere, moosgrüne Portiere getrennt war.
-
-»M'a!«
-
-Auch hier zeigte sich niemand. Und doch wußte Grace, daß die Mutter Tag
-für Tag an dem nach der Straße gelegenen Fenster saß und die Tochter,
-wenn sie von ihren kurzen Ausgängen heimkehrte, regelmäßig an diesem
-Plätzchen erwartete. So lange man auf Dolly Ward wohnte, war dies
-geschehen und heute nun zum erstenmale vermißte sie die teure Gestalt an
-dem gewohnten Platze.
-
-Ein banges Gefühl beklemmte die Brust des jungen Mädchens. Rasch sprang
-sie die Treppe zum oberen Stockwerk hinan und öffnete die Thür des
-gemeinsamen Schlafgemachs -- dort saß Mrs. Northland und schien, über ein
-weißes Papier gebeugt, zu schreiben. Sobald die ältere Dame jedoch der
-schnell Eintretenden ansichtig wurde, schrak sie leicht zusammen und sagte
-halb verlegen, die Hand über das vor ihr liegende Schriftstück breitend:
-
-»Wie, schon zurück, mein Kind? Ich habe Dich noch nicht erwartet.«
-
-»Eben das befremdet mich, Mama, was thust Du hier allein?«
-
-Mit diesen erregt gesprochenen Worten eilte Grace auf die Mutter zu und
-umschlang sie mit fast ungestümer Zärtlichkeit. »M'a, geliebte M'a, Du
-verbirgst etwas vor mir, Du willst etwas thun, was ich nicht wissen soll.
-O warum das? Haben wir bisher nicht alle Sorgen und Mühen miteinander
-geteilt?« Ein wahrhaft rührender Ausdruck lag jetzt über den schönen
-Zügen der jungen Sprecherin.
-
-»Grace!« Die ältere Dame suchte ein Schluchzen zu bekämpfen, »o Grace,
-es kann ja so nicht weiter gehen.«
-
-»Es darf nicht, Mama, Du leidest physisch und seelisch darunter, das habe
-ich Dir schon oft gesagt, und deshalb werde ich Abhilfe schaffen. Ich muß
-es schon um Deinetwillen thun,« entgegnete das junge Mädchen mit fester
-Stimme.
-
-»Nein, nein, nur das nicht! Du sollst nicht hingehen in die großen
-Geschäfte, wo all' die tausend von jungen Mädchen als Verkäuferinnen
-angestellt und von früh bis spät in jenen Tretmühlen beschäftigt sind
--- nimmermehr! Mein Stolz würde das nie ertragen lernen. Lasse mir doch
-diesen Stolz -- er ist das einzige, was von allem Glanz und Schimmer der
-schönen Vergangenheit mir geblieben ist,« schluchzte Mrs. Northland unter
-heißen Thränen.
-
-»Es giebt aber doch auch noch andere Wege, uns einen genügenden Unterhalt
-zu verdienen,« gab Grace unbeirrt zurück.
-
-»Du meinst als Lehrerin, mein Kind! Gewiß -- diese Damen werden gut
-bezahlt, allein, ob wir auch an Deine Erziehung viel gewendet haben, so
-bist Du für diesen Beruf doch noch nicht ausgebildet genug und müßtest
-noch einmal mit Deinem Studium von vorn beginnen, was einige Jahre
-beanspruchen -- nein, mein Kind, auch das will ich nicht. Welchen
-Demütigungen und Versuchungen wärest Du in einer solchen Stellung
-ausgesetzt!« fügte Mrs. Northland hinzu, ihre Wange zärtlich an die der
-Tochter schmiegend.
-
-»Aber, was willst Du denn thun, Herzens-Mama, hast Du denn einen anderen
-Plan?« fragte das junge Mädchen eindringlich, indem sie das mit Zahlen
-bedeckte Papier auf dem Tische prüfend musterte.
-
-Die Antwort ließ eine Weile auf sich warten, dann kam es zagend über der
-Mutter Lippen: »Ich glaube, daß unsere Einrichtung, das bißchen Silber
-dazu genommen, noch ein recht leidliches Sümmchen repräsentiert. Nach
-meiner Zusammenstellung des Ganzen ergiebt sich -- schlecht gerechnet --
-ein Ertrag von 2300 Dollars. Damit könnte ich vielleicht -- irgend ein
--- bescheidenes Geschäft beginnen, das uns wenigstens vor Not schützte.
-Niemand kennt uns in New York -- wer ahnt in mir die Witwe des Millionärs
-und Eisenbahnkönigs Frederik A. Northland aus St. Louis, dessen Name
-ehedem im Westen einen solch' bedeutungsvollen Klang gehabt?! Nicht Du,
-mein Liebling, sondern ich muß mich aufraffen aus dieser lähmenden
-Apathie und für unsere Zukunft sorgen!«
-
-»Nein, um Gotteswillen, nein, wenn Du mich liebst, Mama, so schweige von
-solchen Dingen,« rief Grace fast leidenschaftlich, »Du, die schöne,
-vornehme Frau Dich erniedrigen, hinter dem Ladentische zu stehen --
-entsetzlich! Du Dich von Deinen lieben Sachen trennen, wo jedes Stück
-Dich an das frühere Glück und den teuren Vater erinnert! Das undankbarste
-Geschöpf unter der Sonne müßte ich sein, wollte ich das zulassen. Wozu
-bin ich jung und kräftig. Nein, Mama, daraus wird absolut nichts!« Jetzt
-hatte das junge Mädchen sich zur vollen Höhe emporgerichtet, wobei ein
-Ausdruck von Energie und Mut aus den schönen Augen leuchtete.
-
-»O Gott, daß es dahin kommen mußte! Wenn er, Dein Vater, noch lebte, es
-stünde besser mit uns, und wie gern wollte ich auch Not und Sorgen mit ihm
-teilen!« weinte leise die beklagenswerte Frau.
-
-»Der Himmel hat ihm dieses Schwerste erspart, das muß uns trösten,
-M'a,« sagte die Tochter weich.
-
-»Als wir hier ankamen, Grace, glaubten wir uns beinahe reich mit der
-kleinen Summe, die wir mitbrachten -- nun ist sie fast ganz zusammen
-geschmolzen! Ich habe nie gedacht, daß die täglichen Bedürfnisse des
-Lebens soviel Geld verschlingen könnten. Dabei steht der Quartalswechsel
-vor der Thür und die Miete soll an Mr. O'Reilly bezahlt werden. -- Ach,
-ich werde ihn wohl bitten müssen, uns den Betrag für einige Wochen zu
-stunden.«
-
-»Nimmermehr, Mama! Nur keine Gefälligkeit von diesem Manne, es wäre
-mir schrecklich -- erdrückend!« wehrte Grace mit auffälliger Hast ab.
-Prüfend schaute ihr die Mutter ins Gesicht und sagte bedeutsam:
-
-»Er ist kein übler Mann. Seine Manieren sind tadellos und neben einem
-guten Einkommen scheint er ein redliches gutes Herz zu besitzen. Nicht ohne
-Grund sucht er uns verlassenen Frauen öfters auf -- hast Du daran schon
-gedacht, mein Kind?«
-
-»Er ist mir unsympathisch, Mama! Bitte, erwähne seiner gegen mich nie
-mehr in dieser Weise, ich könnte Mr. O'Reilly sonst nicht mehr unbefangen
-und freundlich begegnen,« gab Grace unwillig und in ernstem Tone zurück.
-Mrs. Northland seufzte und schwieg, worauf beide Damen langsam nach der
-unteren Etage hinabstiegen.
-
-Da die Dämmerung eingetreten war, so brachte das junge Mädchen die
-Lampe, welche sie alsbald mit großer Geschicklichkeit in Brand setzte. Ein
-intensives Licht beleuchtete jetzt das mit feinem Geschmack ausgestattete
-Gemach, so daß jeder Gegenstand darin erkennbar war. Die Mutter, welche
-mit sichtlichem Vergnügen den flinken Bewegungen der auffallend schönen
-Hände ihres Kindes zugeschaut hatte, sagte plötzlich lächelnd:
-
-»Wie Du doch diese wenig anmutende Arbeit verstehst und graziös
-verrichtest, mein Liebling! Ich habe niemals, auch in jener Zeit, als viele
-Diener mir zur Verfügung standen, solche hell und klar brennende
-Lampe gehabt, wie jetzt, wo mein teueres Töchterchen sich dieser Mühe
-eigenhändigst unterzieht!«
-
-»Ich bin auch stolz darauf, Mama, weil ich mir sage: Arbeit schändet
-nicht,« versetzte Grace heiter.
-
-»Nein, gewiß nicht, aber, ganz abgesehen von Deiner Opferwilligkeit, Du
-hast wirklich ein großes Talent dafür.«
-
-Bei diesen harmlosen Worten hob das schöne Mädchen die langen, dunklen
-Wimpern und sah der Sprecherin einige Sekunden starr und nachdenklich
-ins Gesicht. Eine schärfere Beobachterin, als Mrs. Northland war, würde
-wahrgenommen haben, daß es zugleich wie ein blitzartiges Aufleuchten über
-die regelmäßigen Züge glitt.
-
-Als nach einer halben Stunde die Damen am Theetisch saßen, der in seinem
-zierlichen Arrangement von gutem Porzellan und einigen wertvollen Stücken
-Silbergerät nur zu deutlich verriet, daß die Dasitzenden einst bessere
-Tage gesehen, erschien Grace merklich einsilbig und zerstreut. Abermals
-seufzte die Mutter still für sich und beobachtete mit Wehmut und Trauer,
-aber verstohlen des einzigen Kindes liebes Angesicht.
-
-Am nächsten Morgen fuhr Grace, kleine Einkäufe vorschützend, hinüber
-nach New York. Pünktlich nach drei Stunden, wie sie es versprochen,
-kehrte sie auch zurück, doch konnte das junge Mädchen es jetzt nicht
-unterlassen, der Mutter eine Mitteilung zu machen. Halb verlegen, halb
-freudig schlüpfte die geheimnisvolle Enthüllung über die rosigen Lippen,
-daß sie Hoffnung hege, vielleicht einen kleinen Verdienst zu bekommen.
-
-Aufs höchste erschreckt, starrte Mrs. Northland der Erzählerin ins
-Gesicht, indem sie darauf noch einmal alles schon unzählig oft Gesagte
-wiederholte und das junge Mädchen himmelhoch beschwor, sich nicht als
-Ladenmädchen zu verdingen. Aber Grace beruhigte die erregte Frau insofern,
-daß diese Aussicht auf einen Erwerb bisher nur in einer Annonce bestände,
-die sie in den »Herald« habe einrücken lassen und worüber sie die
-Mutter aufklären wolle, sobald man darauf geantwortet haben würde. Unter
-einer Chiffre habe sie Briefe, Hauptpostamt restante New York erbeten.
-Der flehende und zugleich so mädchenhafte reine Ausdruck in Graces Augen
-bekämpfte die im Herzen der bekümmerten Frau aufsteigenden Zweifel und
-damit war diese Sache fürs erste abgethan. --
-
- * * * * *
-
-Im Speisesaale eines hocheleganten Privathauses der V. Avenue in New York
-befanden sich eine ältere, aber noch immer sehr wohl konservierte Dame,
-welche, den »Herald« in der Hand, am Fenster saß, und ein junger
-auffallend hübscher Mann von vielleicht neunundzwanzig Jahren, der sich
-mit seinem Frühstück beschäftigte.
-
-»Welch' seltsame Annonce! Bitte, höre mir einmal zu, Anthony, Hahaha!«
-
-»Ja, sofort, Mutter! Erlaube nur, daß ich noch dieses halbe Ei verzehre,
-dann stehe ich zu Deinen Diensten.«
-
-»Das ist wirklich originell, hahaha!« -- Abermals tönte das helle Lachen
-nach dem Sprechenden hinüber.
-
-»So, nun, was ist denn da so spaßig, Mutter.«
-
-Der Gerufene war jetzt näher getreten und zog sich einen Stuhl dicht an
-die Seite der stattlichen Frau. Diese las:
-
- »Eine sehr respektable junge Dame aus guter Familie, welche, durch
- mißliche Verhältnisse gezwungen, sich einen eigenen Broterwerb zu
- verschaffen genötigt ist, bietet in nur feinen Häusern ihre Dienste
- an, um das von den Domestiken in der Regel vernachlässigte Geschäft
- des Putzens, Reinigens und Versorgens der Lampen zu übernehmen und
- bestmöglichst auszuführen. Dieselbe besitzt in dieser Branche
- eine seltene Fertigkeit und Übung und wird ihre Kunden sicherlich
- zufriedenstellen. Auf Wunsch Referenzen. Briefe erbeten:
- =Head-Postoffice restante Nr. 600=.«
-
-»In der That höchst sonderbar,« äußerte der mit Anthony Angeredete
-kopfschüttelnd, mehr ernst als scherzend, »entweder ist das nur ein
-schlechter Spaß oder -- was mir wahrscheinlicher dünkt -- ein Notschrei
-aus der Brust einer armen Frau.« Er nahm die Zeitung in die Hand und ließ
-die Blicke über die vielen kleinen Annoncen gleiten, ehe er fort
-fuhr: »Ich bin überzeugt, daß fast jede dieser Zeilen einen Roman zu
-verzeichnen hat. Dafür lebt man eben in der Riesenstadt New York. Wohl
-demjenigen, dem es einmal vergönnt ist, einen Blick in solch' verborgenes
-Leid zu thun, der in die Lage versetzt wird, heimlich geweinte Thränen
-trocknen zu können!«
-
-»Du bist ein Schwärmer, Anthony. Diesen weichen, menschenfreundlichen
-Sinn und das poetische Gemüt muß Dir Deine deutsche Mutter vererbt haben.
-Dein Vater besaß hiervon nichts,« versetzte die stattliche Dame mit
-einem leichten Seufzer, indem sie das edel geformte Antlitz des Stiefsohnes
-wohlgefällig betrachtete. »Was meinst Du, Anthony, ob ich diese
-Annonce beantworte? Man könnte ja dann sofort erfahren, inwieweit Deine
-Vermutungen zutreffend sind oder nicht.«
-
-»Thue das, Mutter; es würde mich herzlich freuen, wenn Du ein gutes Werk
-damit zu stiften im stande wärest,« sagte der junge Mann lebhaft, und die
-Dame fuhr angeregt fort:
-
-»Übrigens könnte wirklich eine kunstgeübte Hand unseren Lampen samt
-und sonders nicht schaden, da der alte, schwachköpfige Jim sein Geschäft
-zuweilen arg vernachlässigt. Fast täglich habe ich Klage über ihn zu
-führen -- wohlan, ich schreibe, Anthony.«
-
-Als der junge Handelsherr Mr. Anthony E. Clark gegen die elfte
-Vormittagsstunde nach seiner in der unteren Stadt gelegenen Office fuhr,
-hatte er selbst den Brief der Stiefmutter zur Beförderung in der Tasche.
-Als dies geschehen, war aber bei ihm auch die Annonce und das darauf
-bezügliche Gespräch vergessen. --
-
-Der nächste Morgen führte den jungen Mann indessen nach der in einem
-Seitenflügel seines großen Hauses gelegenen Bibliothek, um ein für sein
-Geschäft wichtiges Werk daraus zu entnehmen. Beim Durchschreiten eines
-in den Garten mündenden Zimmers, welches von seiner Stiefmutter zur
-Aufbewahrung des häuslichen Wäscheschatzes benutzt wurde und mächtige
-Schränke und Truhen aufwies, stutzte Mr. Anthony überrascht. Dort an
-einem großen Tische am Fenster, auf welchem eine förmliche Batterie von
-Lampen aufgestellt war, stand ein hochgewachsenes Mädchen und schien in
-ihre prosaische Beschäftigung so vertieft zu sein, daß sie den Eintritt
-des jungen Mannes gar nicht wahrgenommen hatte.
-
-Wohl drei Minuten betrachtete dieser das trotz seiner Originalität höchst
-anmutige Bild. Durch die halb zugezogene Gardine fiel ein Strahl der
-goldenen Morgensonne gerade über den dunkeln Scheitel des feinen, etwas
-vorgebeugten Kopfes und ließ ein wahrhaft holdseliges Profil erblicken,
-das gegen den hellen Hintergrund wie gemeißelt erschien. Die ebenmäßige
-Figur zeigte auffallend schöne Formen, wie auch der Schnitt des
-Kleides unleugbare Eleganz bewies. Anthony Clark zögerte noch immer,
-weiterzuschreiten, weil er darauf wartete, daß die junge Unbekannte
-vielleicht einmal die tief auf die Arbeit gesenkten Augen heben würde,
-aber vergebens. Nun trafen seine prüfenden Blicke die rührigen Finger --
-wie sonderbar! Ein Paar waschlederne Handschuh bedeckten die Hände bis zum
-Gelenk, hieran schlossen sich eine Art Schutzärmel aus grauem Futterstoff,
-die bis über den Ellenbogen hinaufreichten; ein kleines, weißes
-Schürzchen vervollkommnete diese seltsame Toilette.
-
-Das also war die junge Dame aus guter Familie, welche ihr Brot zu erwerben
-genötigt war? Er hatte mit seinen Vermutungen demnach doch recht gehabt.
-»Eine _Dame_, hm!« Im Augenblick dachte er gar nicht mehr an seine
-Absicht, jenes Buch zu holen, sondern beschäftigte sich mit dem Gedanken,
-daß diese Bezeichnung hier in der That höchst gerechtfertigt erschien,
-wobei ein merkwürdiges Gefühl, halb Befriedigung, halb Freude sein
-Inneres bewegte: »Wie glücklich mochte das arme Mädchen sein, etwas
-Beschäftigung -- und hoffentlich auch recht lohnende -- gefunden zu
-haben!« --
-
-Gleichsam instinktiv, als ob es die Nähe eines Fremden ahne, schlug das
-schöne Mädchen jetzt die Augen empor und trat, merklich erschrocken,
-zurück, während ein heißes, verräterisches Rot sich über Antlitz und
-Hals ergoß. Mr. Anthony Clark wußte nichts anderes zu thun, als leicht zu
-grüßen und rasch nach der Bibliothek hinüberzuschreiten, von wo aus er
-dann seinen Rückweg durch einen anderen Teil des Hauses nahm.
-
-Etwa vier Wochen mochten vergangen sein, während welcher die junge
-Fremde alltäglich um die zehnte Morgenstunde bei Mrs. Clark erschien, um
-sämtliche im Haushalt gebrauchten Lampen in Ordnung und Stand zu setzen.
-Nach Vereinbarung wurde ihr regelmäßig durch die Lady selbst ein Dollar
-für ihre Arbeit verabreicht, den sie auch mit ruhiger Würde, man hätte
-fast sagen können, mit vornehmer Herablassung entgegennahm, als ob sie
-selbst dem Hause einen großen Dienst geleistet hätte und nicht die
-Empfängerin eines unverhältnismäßig hohen Arbeitslohnes sei. Mrs.
-Clark, eine obwohl stolze, doch zugleich äußerst gutherzige Frau, hatte
-das junge Mädchen, dessen schönes Antlitz sie oft nachdenklich musterte,
-gelegentlich auch einmal gefragt, ob es auf die im »Herald« erlassene
-Annonce noch mehr Arbeit und Verdienst erhalten habe, worauf ihr die
-in kühlem Tone gegebene Antwort wurde, daß sie bereits fünfzehn der
-feinsten Familien New Yorks zu ihren Kunden zähle und mit der Zeit noch
-bekannter zu werden hoffe.
-
-Mr. Anthony Clark, ein Mann von durchaus ehrenhaften, edlen Gesinnungen,
-hatte es nicht mehr gewagt, die Unbekannte bei ihrer mehr oder weniger
-demütigenden Beschäftigung durch seine Gegenwart zu belästigen, und
-mied das Zimmer, in welchem sie ihre Arbeit stets pflichttreu verrichtete.
-Allein der Zufall wollte es, daß er ihr öfters in der großen Halle oder
-auf der Treppe begegnete. Alsdann lüftete er jedesmal in ausgesuchtester
-Höflichkeit den Hut, wobei er es jedoch nicht unterlassen konnte, einen
-raschen Blick in das reizende, stets so ernste Mädchengesicht zu thun.
-
-»Nun, freust Du Dich nicht über meine Acquisition, Anthony?« fragte Mrs.
-Clark eines Abends, als man einige Freunde zum Diner erwartete und nun bei
-den prächtig und tadellos brennenden Lampen saß.
-
-»Die Freude ist eine problematische, Mutter,« lautete die freundliche,
-aber bestimmte Antwort des Stiefsohnes, »die blendende Helligkeit all'
-dieser Lampen bildet einen grellen Kontrast zu dem dunklen Lebenswege des
-armen Mädchens, dem wir zu Dank verpflichtet sind.«
-
-Die Hausfrau zuckte halb bedauernd die Schultern und meinte gutmütig,
-daß man der Fremden zu Neujahr ein recht anständiges Geschenk zu machen
-verpflichtet wäre. --
-
-Eines Morgens, bevor Mr. Anthony wie gewöhnlich nach seiner Office fuhr,
-trat Mrs. Clark, zum Ausgange gerüstet, noch einmal in des Stiefsohnes
-Privatzimmer und sagte in mütterlich herzlicher Weise: »Bitte, thue mir
-den großen Gefallen, Anthony und trage die Bücher, welche ich mir gestern
-Abend aus der Bibliothek holte, wieder an den alten Platz. Du weißt, ich
-liebe die Ordnung -- sie liegen auf meinem Schreibtisch.«
-
-Da das Verhältnis zwischen dem Sohne und der zweiten Frau des verstorbenen
-Mr. Clark ein selten inniges war, so entgegnete er ebenso freundlich und
-zuvorkommend:
-
-»O gewiß gern, liebe Mutter, aber ...«
-
-Den Schluß seiner Rede hörte die Dame nicht mehr, weil sie Eile zu haben
-schien und das Zimmer bereits verlassen hatte.
-
-Zögernd und mit einer ihm selbst unerklärlichen Befangenheit stand
-Anthony Clark noch einige Minuten vor der Thür des Zimmers, das von der
-Fremden zu ihrem prosaischen Geschäft benutzt wurde. Er wußte es selbst
-nicht, warum er gerade diesen Weg nach der Bibliothek eingeschlagen hatte.
-Einerseits scheute er eine Begegnung mit dem jungen Mädchen, andererseits
-trieb eine innere Gewalt ihn vorwärts. War er denn nicht der Hausherr
-hier, der überallhin kommen und gehen konnte, wie es ihm beliebte? Mit
-dieser Schlußfolgerung trat er endlich ein.
-
-Ja, da stand sie wieder, die so eigentümlich imponierende und doch so
-mädchenhaft schüchterne Gestalt. Ein leichtes Rot war ihm nun in die
-Stirn gestiegen, weil er sich bewußt war, oft -- vielleicht sehr oft sich
-dieses seltsame Bild vor die Seele gezaubert zu haben.
-
-Recht auffällig sichtbar nahm er nun den mitgebrachten Bücherstoß in
-seinen linken Arm und grüßte höflich mit den Worten: »Verzeihung,
-mein Fräulein, daß ich Sie störe, allein -- ich muß hinüber nach der
-Bibliothek!« Dabei war aber Anthony keineswegs weitergeschritten, sondern
-etwa sechs Schritte von dem jungen Mädchen stehen geblieben. Verwundert
-und, wie es ihm vorkam, mit leisem Lächeln, begegnete sie seinem
-leuchtenden Blicke.
-
-»Es steht mir kein Recht zu, dieses Zimmer für mich allein beanspruchen
-zu wollen, Mr. Clark,« entgegnete sie mit volltönender überaus
-sympathischer Stimme. -- Also wußte die Fremde darum, daß er der Hausherr
-war. Rasch erwiderte er:
-
-»O doch, Miß, Miß --« (augenscheinlich verlangte es ihn, ihren Namen zu
-erfahren) -- »Northland!« klang es sehr leise zurück.
-
-»O doch, Sie haben ein Recht, hier ganz ungestört zu sein, Miß
-Northland. Sie sind ja die Wohlthäterin für das ganze Haus, ich meine:
-seit Sie zuerst hier eingetreten, ist es -- Licht geworden.«
-
-Der schöne Mädchenkopf senkte sich tiefer auf die Brust herab. »Man ist
-gütig gegen mich,« flüsterte sie bescheiden.
-
-»Vielleicht ist es sehr anmaßend von mir, Ihnen ein plumpes Lob zu
-spenden, aber ich kann es doch nicht unterlassen, Ihnen zu gestehen, daß
-ich Ihren Mut, Ihre Willensstärke und Selbstverleugnung -- bewundere,«
-sagte Anthony nun eigentümlich erregt.
-
-»Das Wörtlein ›muß‹ ist ein strenger Lehrmeister, Mr. Clark, welcher
-mit eiserner Hand alle rebellischen Oppositionsgelüste herabzudrücken
-versteht. Aber dennoch giebt es noch etwas Mächtigeres als diesen
-moralischen Zwang, und diesem Mächtigeren bringt man gerne Hochmut,
-Eitelkeit und thörichte Eigenliebe zum Opfer,« versetzte das schöne
-Mädchen, indem ihre großen Augen freudig aufleuchteten.
-
-»Sie haben Eltern, Miß Northland, eine Mutter, für die Sie sorgen?«
-forschte er, näher tretend.
-
-»Jawohl, um meiner Mutter willen stehe ich hier an diesem Platze, und
-das Bewußtsein, für sie, die mir auf Erden das teuerste ist, meine
-Kindespflicht zu erfüllen, hat den Gedanken an Demütigung und
-Erniedrigung noch niemals in mir aufkommen lassen.«
-
-Mr. Anthony erwiderte kein Wort und so war es mehrere Minuten ganz still
-im Zimmer; Miß Northland hatte unterdessen ihre Beschäftigung wieder
-aufgenommen.
-
-»Haben Sie keine Verwandten oder Freunde hier in New York?« fragte er nun
-eindringlich und leise. Es kam ihm so vor, als ob seine Stimme plötzlich
-einen veränderten Klang bekommen hätte.
-
-»Nein, keine; wir sind erst vor einigen Monaten aus dem Westen -- aus
-St. Louis gekommen und daher noch ganz fremd hier,« lautete der einfache
-Bescheid.
-
-Die Sprecherin gewahrte nicht die sichtliche Überraschung in des jungen
-Mannes Zügen; unverwandt und forschend waren seine Augen auf das feine
-Profil gerichtet. Nur als er sich jetzt fast ehrfurchtsvoll vor ihr
-verbeugte und leise sagte: »Auf Wiedersehen, Miß Northland,« schaute sie
-eigentümlich befremdet auf und entgegnete schüchtern:
-
-»Ich hoffe, daß Ihre Frau Mutter meine kleinen Dienste noch einige Zeit
-wird gebrauchen können.«
-
-Nicht lange verweilte Mr. Anthony in der nahen Bibliothek, schon nach fünf
-Minuten kehrte er daraus zurück; allein dieses Mal durchmaß er beinahe
-hastig das Gemach, indem er in Anknüpfung an das vorige Gespräch nur die
-halb prophetische, halb aufmunternde Bemerkung hinwarf:
-
-»Miß Northland, gewiß wird sich auch an Ihnen das Dichterwort erfüllen:
-Was man Schwerstes je empfunden, Liebe hat es überwunden!« --
-
-An demselben Abend nach dem Diner war es das erste Mal, daß Anthony seiner
-Stiefmutter gegenüber die Rede auf die Fremde brachte. Er blätterte
-dabei in einem Buche und seine gleichgültige Miene zeigte nichts von der
-Erregung und Unruhe, die in ihm arbeiteten. Ernst und wie beiläufig fragte
-er:
-
-»Hast Du niemals nach den Familienverhältnissen des Mädchens geforscht,
-das seit einigen Wochen hier ein- und ausgeht, Mutter?«
-
-»Nein, wieso? Ich denke, sie ist sehr bescheiden und zurückhaltend. Auf
-mich macht sie einen ausnehmend günstigen Eindruck. Vielleicht bin ich
-aber bei dieser Meinung beeinflußt durch eine Ähnlichkeit, welche -- mich
-an frühere glückliche Zeiten erinnert. Hast Du, mein Sohn, etwas gegen
-das Mädchen einzuwenden?«
-
-»Ich -- einzuwenden? Allerdings!« Der junge Handelsherr war aufgesprungen
-und ließ sein schönes, kluges Auge mehrere Sekunden prüfend auf den
-wohlgebildeten Zügen der älteren Dame haften, dann fuhr er, tief und
-schwer aufatmend, fort:
-
-»Als ich heute, auf dem Wege zur Bibliothek, zufällig einige Worte mit
-der jungen Dame (er betonte letzteres Wort ziemlich scharf) wechselte,
-erfuhr ich, daß sie den Namen »Northland« führt und mit ihrer Mutter
-aus St. Louis herübergekommen ist. Du hast mir nun früher das große
-Vertrauen geschenkt, mich in eine mir ziemlich nahe gehende Angelegenheit
-einzuweihen, und soviel ich mich aus Deinen damaligen Mitteilungen
-erinnere, ist dieser Name Dir durchaus nicht unbekannt, vorausgesetzt, daß
-irgendwelche Beziehungen bestehen sollten, zwischen -- zwischen ...« Er
-stockte.
-
-»Northland! O mein Gott, also doch! Ja, diese Ähnlichkeit mit diesem
-Manne, den ich einst liebte, frappierte mich sofort.« Tief erblaßt hatte
-Mrs. Clark jenen Ausspruch hervorgestoßen und die Hände dabei aufs Herz
-gepreßt: »O Anthony, sie, diese arme Kleine, wäre Marys und Northlands
-Kind? Nein, das kann, das darf ja nicht möglich sein!«
-
-»Dieses Rätsel bald -- recht bald zu lösen, soll Dir und mir eine
-Pflicht sein!« gab der Sohn mit Nachdruck zurück, indem er seinen Arm
-zärtlich um die Schulter der tief erschütterten Stiefmutter legte. Mit
-dem Taschentuche vor den Augen weinte diese jetzt leise vor sich hin:
-
-»O, Anthony, das wäre eine grausame Strafe für mich. Wie oft, als
-ich mich damals voll Empörung mit harten Worten von Mary losgesagt und
-Northlands Reichtum und Ansehen höher und höher stieg, wie oft habe
-ich da das Glück dieses Paares beneidet und berufen! Und tief im Herzen
-grollte ich der einstigen Freundin, weil von rechtswegen der Platz an ihres
-schönen Gatten Seite mir gebührte, mir, die ihn ebenso, vielleicht noch
-inniger geliebt. Und auf diese Weise soll ich endlich, endlich wieder von
-Mary hören! Anthony, ich kann's nicht fassen!«
-
-»Gottes Wege sind unerforschlich,« versetzte der Angeredete sanft.
-
-»Aber, mein Himmel, was sitze ich hier so müßig und lasse die kostbare
-Zeit verrinnen,« rief Mrs. Clark nun heftig aufspringend. »Mary, meine
-arme Mary in Not und Elend, während ich in Wohlleben und Überfluß
-schwelge. Fort, mein Sohn, bringe mich zu ihr! An mein reuiges Herz ziehen
-will ich die Teure und ihr Kind. O, welch' eine Schmach ist es für mich,
-daß gerade hier in unserem Hause das arme Mädchen sich so erniedrigen
-mußte, Anthony!«
-
-»Erniedrigen? O nein, Mutter! Das, was Miß Northland gethan hat, webt
-einen Glorienschein um ihr edles Haupt,« klang es auffallend feurig aus
-des jungen Mannes Munde, so daß Mrs. Clark in stummer Überraschung zu dem
-Stiefsohne aufblickte.
-
-»Willst Du meine Ratschläge befolgen, Mutter?« fragte er nach einer
-Pause.
-
-»Thue ich das nicht stets, Anthony?«
-
-»Wohlan, so lasse die junge Dame, welche zweifellos die Tochter Deiner
-Freundin ist, morgen noch einmal -- zum letztenmale -- hier ihres schweren
-Amtes walten, nur damit ich ihr dann unbemerkt folgen und Mrs. Northlands
-Wohnung erforschen kann. Ist das erreicht, so magst Du hingehen und thun,
-was Dir Pflicht und Herz gebieten. Bist Du damit einverstanden, Mutter?«
-
-Unter Thränen nickte diese ihm zu. --
-
-Anthony Clark vermochte in der darauffolgenden Nacht gar keine Ruhe zu
-finden. Immer und immer stand das hochherzige Mädchen mit den ernsten,
-charaktervollen Zügen und den wunderbar schönen Augen vor seinem
-fieberhaft erregten Geist. Und als gegen Morgen der Schlaf sich endlich
-auf seine Lider herabsenkte, war es ihm, wie wenn ihr holdes Angesicht, von
-einer leuchtenden Strahlenkrone umgeben, sich über ihn niederbeugte und
-die melodische Stimme in sein Ohr flüsterte: »Was man Schwerstes je
-empfunden, Liebe hat es überwunden!« -- -- --
-
-Ganz seltsam unsicher und befangen hatte Miß Northland am andern Morgen
-das Clarksche Haus betreten und war viel eiliger als sonst durch die weite
-Halle der unteren Etage die Treppe hinauf nach dem für ihre Obliegenheiten
-bestimmten Zimmer geschlüpft. Dort angekommen atmete sie förmlich
-erleichtert auf, daß ihr niemand begegnet war, weil sie sich nach ihrer
-Idee in einer krankhaft erregten Gemütsstimmung befand. Zu ihrer Schande
-mußte sie auch selbst die Wahrnehmung machen, daß ihr die zu verrichtende
-Arbeit zum erstenmale drückend und peinlich erschien. Wenn Mr. Clark nur
-nicht etwa wieder bei ihr eintreten und ein Gespräch mit ihr anknüpfen
-wollte, dachte das junge Mädchen hochklopfenden Herzens -- heute würde
-sie ihm nicht mehr so unbefangen in die klugen Augen blicken und nicht mehr
-so präcise antworten können! Warum aber fürchtete sie sich davor? Über
-dieses Warum indessen vermochte sich Grace nicht klar zu werden und schob
-es auf »ihre krankhaft erregte Gemütsstimmung!« --
-
-Bei ihrem Eintritt in den gewohnten Arbeitsraum stand alles wie sonst am
-bekannten Platze. Sie zog flink Schürze, Schutzärmel und Handschuhe aus
-der mitgebrachten Tasche hervor und war eben im Begriff, an die Arbeit zu
-gehen -- da gewahrte sie, dicht neben den Lampen liegend, eine prachtvolle
-Marschall-Niel-Rose. Was bedeutet das? Beim Anblick der Blüte war Grace
-dunkle Glut ins Gesicht geschossen und eine tiefe Zornesfalte legte sich
-über die weiße Stirn. Empörend! Das mußte der unverschämte Nigger, der
-Butler des Hauses gethan haben, welcher ihr beim Kommen und Gehen stets den
-Mantel an- und ausziehen half und sie dabei immer so keck anstierte oder
-seine wulstigen Lippen zu süßlichem Grinsen verzog. Empörend war das!
-Mit dem Zeigefinger der linken Hand schob sie die zartgelbe Blüte an das
-entgegengesetzte Ende des großen Tisches; allein eben so schnell ergriff
-sie dieselbe wieder, sie mit fast wildem Ungestüm an die Brust pressend.
-Allmächtiger Gott, wäre es denkbar, konnte es möglich sein, daß er --
-Anthony Clark, dessen Bild sich in ihrer jungen Brust gar fest eingelebt
-hatte, dessen milde, zum Herzen dringende Stimme ihr noch jetzt durch das
-Gemüt klang, daß er jene Blume hier auf diesen Tisch gelegt? Ein Zittern
-überfiel die hohe Mädchengestalt -- und wenn er es wirklich gethan,
-mußte sie es dann nicht eher als Demütigung und Beleidigung ansehen, die
-er, der reiche, hochgestellte Mann dem armen, schutzlosen Mädchen damit
-angethan? Durfte sie die Blüte, ohne erröten zu müssen, auch wirklich
-annehmen? Was würde die Mutter dazu sagen? O gewiß, Anthony Clark war
-eines unedlen Gedankens nie fähig, das war ja sonnenklar! Mit fliegenden
-Händen, gewiß das erste Mal weniger gewissenhaft als sonst, verrichtete
-Grace Northland an diesem verhängnisvollen Morgen ihre Arbeit. Mrs. Clark
-sei ausgegangen, bedeutete sie der aufwartende Butler, als sie sich zur
-Dame des Hauses, wie alltäglich, begeben wollte. Wie Grace bei dieser
-Auskunft voll Beruhigung wahrnahm, verrieten die Züge des Schwarzen heute
-nur steife Würde und stumme Ehrerbietung. Gott sei Dank, endlich konnte
-sie dem sie heute so eigentümlich beengenden Hause den Rücken wenden,
-flink eilte das junge Mädchen in die anderen Häuser, in welchen sie die
-nämliche Beschäftigung zu verrichten hatte, und wenige Stunden später
-lief Grace Northland bereits leichtfüßig die Treppenstufen zu dem
-traulichen Häuschen Nr. 9 auf Dolly Ward hinan.
-
-Hätte sie während des Weges nur ein einziges Mal nach rückwärts
-geschaut, dann würde sie wohl sicher nicht mehr im Zweifel über den Geber
-jener Rose gewesen sein.
-
- * * * * *
-
-Es war ein zauberisch schöner Juliabend. Gleich Diamanten strahlten die
-Sterne am Himmel und wer nie eine amerikanische Sommernacht durchlebte, der
-hätte denken können, ein Teil der Gestirne wäre zur Erde herabgefallen,
-so glitzerten und funkelten die zahlreichen =glow worms= (Leuchtkäfer)
-allenthalben im tauigen Grase und duftigen Gesträuch. In traulicher
-Eintracht saßen Mutter und Tochter auf der kleinen Veranda, während
-Polly, eine junge Negerin, welche Grace, seitdem sie so guten Verdienst
-erzielte, zum Beistand der Mutter ins Hauswesen genommen, geräuschlos hin
-und her glitt und den Theetisch abräumte.
-
-»Du bist heute so still, mein Kind, was ist Dir? Zuweilen scheint es mir,
-als ob Deine Gedanken ganz wo anders weilten, als zu Hause!« fragte Mrs.
-Northland, nachdem sie schon einigemal nach der prächtigen Rose geschaut,
-die an des jungen Mädchens Busen prangte.
-
-»Ich denke darüber nach, daß wir doch jetzt sehr glücklich sein
-können, Ma,« entgegnete die Angeredete mit halb abgewandtem Gesicht.
-
-»Du, mein Engelskind! Wie sorgst und plagst Du Dich für mich -- das
-zu vergelten, vermag nur Gott,« flüsterte die ältere Dame in tiefer
-Bewegung.
-
-»Ich ernte ja auch reiche Früchte. Die Mühe ist so gering, in
-anbetracht, daß ich Deine Stirn wieder ohne Sorgenfalten erblicke,«
-lautete die heitere Erwiderung.
-
-»Du wolltest mir ja längst einmal etwas über die verschiedenen Häuser
-erzählen, in denen Du ein- und ausgehst, Grace. Ich hoffe, man begegnet
-Dir mit Achtung?«
-
-»Sei außer Sorge, Mama. Noch niemals habe ich die geringste
-Zurücksetzung erfahren. Vor allen ist es --« (Grace zögerte ein wenig)
-»ist es Mrs. Clark, die stets in sehr liebreicher Weise zu mir spricht.«
-
-»Mrs. Clark, eine noch junge Frau?«
-
-»Etwa in Deinem Alter. Sie ist eine große volle Blondine, mit selten
-schönen, blauen Augen und -- --«
-
-»Und einem kleinen, roten Male an der Oberlippe?« fiel Mrs. Northland der
-Tochter hastig ins Wort.
-
-»Ja, gewiß. Woher kennst Du denn diese Dame?«
-
-Die Mutter war jetzt in ihren Stuhl zurückgesunken und atmete tief und
-schwer.
-
-»O Grace, welche Entdeckung! Warum auch mußtest Du gerade in dieses Haus
-geraten? Gerade sie ist die Frau, um deretwillen Dein armer Vater einen
-Treubruch beging, indem er mich ihr, dem reichen Mädchen, mit welchem er
-bereits verlobt war, vorzog. Einst waren wir uns beide in beinahe mehr als
-schwesterlicher Liebe zugethan, lange Jahre hindurch; dann aber hat sie mir
-die Thür gewiesen, sich gänzlich von mir losgesagt -- mich verflucht!
-Ein Unsegen ruhte seitdem auf dem Bunde zwischen Deinem Vater und mir. Dein
-Vater verlor sein ganzes Hab und Gut und ist im kräftigsten Mannesalter
-dahingerafft worden. Annie, meine frühere Freundin, wurde die zweite Frau
-des reichen Handelsherrn Mr. Albert Clark, wie ihr Vater es wünschte, und
-nun lebt sie im Überfluß in New York. So viel ich weiß, besaß Clark
-auch einen Sohn aus erster Ehe; Annie hatte keine Kinder!«
-
-Längst war das junge Mädchen von ihrem Sitze aufgesprungen, war
-niedergekniet und lauschte, die verschlungenen Hände im Schoße der
-Mutter, atemlos deren Worten. »Grace,« fuhr dieselbe nach kurzer Pause
-fort, »in diesem Hause darfst Du Deinen Namen niemals nennen, hörst Du,
-Grace?«
-
-Es erfolgte keine Antwort. Dafür aber gewahrte Mrs. Northland, ungeachtet
-der zunehmenden Dunkelheit, wie ein Herr und eine Dame sich langsam
-dem Hause Nr. 9 genähert hatten und nun leise zögernd die Stufen der
-hölzernen Treppe emporstiegen.
-
-Durch die Glasthür der Veranda fiel ein heller Lichtstrahl direkt auf das
-blasse Gesicht einer stattlichen, noch immer schönen Frau.
-
-»Annie! Barmherziger Gott!«
-
-»Mary!«
-
-Wie durch einen Federdruck in die Höhe geschnellt, fuhr nun auch des
-jungen Mädchens Kopf aus dem Schoß der Mutter empor. Allein, Grace sah
-nicht, daß diese der eleganten Dame in die Arme sank, nicht, daß jene das
-vergrämte Gesicht der Wiedergefundenen mit heißen Küssen bedeckte --
-sie sah nur ihn -- Anthony Clark und seine herzlich und liebevoll auf sie
-blickenden Augen.
-
-»Annie, Du kommst zu mir? Bringst Du mir Vergebung -- bringst Du Deine so
-schmerzlich vermißte Liebe mir zurück?« klang es schluchzend aus Mrs.
-Northlands Munde.
-
-»Alles, alles, Mary. Aber ich bringe Dir noch mehr: Siehe hier, das ist
-Anthony Clark, der mir zu jeder Zeit ein lieber Sohn gewesen. Er hat eine
-Bitte an Dich zu richten, die so groß und bedeutungsschwer ist, daß es
-meiner Fürsprache bei Dir bedarf!«
-
-Der Genannte war rasch näher getreten und verneigte sich tief vor der
-überraschten Frau.
-
-»Eine Bitte an mich?« stammelte Mrs. Northland, während sie in fast
-scheuer Verwunderung von dem eleganten, hübschen Manne zu ihrer
-Tochter hinübersah. Was war denn hier geschehen? -- Das purpurglühende
-Gesichtchen mit den Händen bedeckend, lehnte das junge Mädchen an einem
-Sessel.
-
-Obwohl in leidenschaftlicher Erregung, aber doch in festem Tone, sagte nun
-Mr. Anthony: »Ich habe einmal die Äußerung gethan, daß es, seit Sie,
-Grace Northland, die Schwelle unseres Hauses überschritten, Licht darin
-geworden ist. Allein damals wagte ich nicht, hinzuzusetzen, daß dieses
-Licht mit einer Kraft und Macht, die höheren Ursprung zeigten, auch mir
-ins Herz hineingedrungen ist! Wie ein Geblendeter bin ich seit
-Wochen umhergegangen -- geblendet und beschämt über die eigentliche
-Erbärmlichkeit des sonst so hochgeschätzten eigenen Wertes. Erst Sie, nur
-Sie, Miß Northland, haben mich gelehrt, daß es noch Höheres giebt als
-das, was mir bis dahin als allein edel und erhaben vorgeschwebt. Wenn ich
-mir bisher einbildete, ein guter Mensch zu sein, so erkannte ich mich jetzt
-als einen egoistischen, jämmerlichen Wicht, dessen ganzes Verdienst darin
-bestanden hatte, die Annehmlichkeiten des Lebens mit Behagen zu genießen.
--- Heute, als die verhängnisvolle Rose auf Ihrem Platze lag, war ich so
-anmaßend, durch eine Thürspalte zu Ihnen hinüber zu sehen. Ich gewahrte
-Ihren Kampf, gewahrte aber auch, wie mein stummes Liebeszeichen mit
-Ungestüm ans Herz gepreßt wurde. Grace Northland! Diese Brust erfüllt
-nunmehr ein einziger, seliger, heißer Wunsch -- eine Bitte -- --«
-
-»Anthony!« Ein fassungsloser Jubelruf unterbrach den Sprecher; Graces
-Arme waren jetzt schlaff herabgesunken und wie in einer Verklärung starrte
-sie ihn an.
-
-»Grace, mein hochherziges, mutiges Mädchen, ich will noch nichts anderes
-wissen, als ob Sie meine tiefe innige Liebe einst werden erwidern können.
-Das weitere überlassen wir der Zeit und diesen da ...«
-
-Damit deutete er auf die beiden älteren Damen, welche Hand in Hand
-nebeneinander standen und mit seligen Blicken an der reizenden Befangenheit
-des holden jungen Mädchens sich weideten.
-
-Jedenfalls mußte die Antwort auf jene inhaltsschwere Frage wohl zur
-allseitigen Zufriedenheit ausgefallen sein, denn bald darauf saßen vier
-glückliche Menschen in dem kleinen, gemütlichen Salon, wo Erinnerungen
-ausgetauscht und neue Zukunftspläne geschmiedet wurden. Als Anthony Clark,
-über das Geländer der Veranda gebeugt, indessen die Stiefmutter
-lächelnd vorausgegangen war, noch ein letztes Lebewohl, einen warmen
-Kuß austauschte mit seiner schönen Braut, war es bereits dunkle Nacht
-geworden.
-
- * * * * *
-
-Selbstverständlich brachte nun die nächste Zeit den guten Leuten von
-Dolly Ward wieder viel Stoff zum Reden. Mr. O'Reilly jedoch ging womöglich
-noch etwas einsilbiger als sonst umher. So lange schon hatte er sich, nach
-einem schweren Kampf mit seiner ursprünglichen Absicht einer Geldheirat,
-bereit gemacht, der schönen Tochter seiner Nachbarin von Nr. 9 einen
-ernsten Antrag zu machen, aber es hatte ihm stets an dem nötigen Mut
-gefehlt, und nun mußte ihn das glückstrahlende Gesicht des jungen
-Mädchens, als es wenige Tage später an Anthony Clarks Arme an der
-Behausung des Advokaten vorüberging, hinlänglich darüber aufklären,
-daß seine erträumten Aussichten auf Erfüllung seiner stillen
-Herzenswünsche nur sehr kümmerlich beschaffen gewesen seien, und das
-schien ihm ziemlich nahe zu gehen, denn bei einem gelegentlichen Besuche
-in der Nr. 9 ließ der junge Irländer die Bemerkung fallen, daß er
-demnächst »aus Geschäftsrücksichten« nach Brooklyn übersiedeln werde.
-
-Noch vor seiner Vermählung mit Grace hat Anthony Clark ganz heimlich das
-Häuschen Nr. 9 auf Dolly Ward käuflich erworben, um es seiner holden
-Braut als Morgengabe zu schenken. Mrs. Northland ist fortan die Gebieterin
-desselben, und für die schwergeprüfte Frau ist es stets ein Festtag,
-wenn das glückliche junge Paar dem Geräusch und Getriebe der Riesenstadt
-einmal entflieht, um ein paar ruhige, selige Stunden zu verleben in der
-poetischen Einsamkeit von Dolly Ward.
-
-
-
-
-Fächer-Bilder.
-
-
- Berlin, 14. Januar 18..
-
- »=Caro amico!=
-
-Warum ich so lange nicht geschrieben, willst Du wissen? Nun, das ist
-eigentlich keine so leichte Sache, Dir zu erklären. Fürs erste begnüge
-Dich damit, daß ich mich langweile -- zum Sterben langweile und Dein
-heiteres Künstlergemüt -- Dich, Du Glücklicher, der Du unter Italiens
-Sonne der abgeschmackten Wintergenüsse unserer Reichshauptstadt kaum mehr
-gedenkst, nicht mit Stoßseufzern und Lamentationen inkommodieren wollte,
-die Dir doch vielleicht nur ein mitleidiges Lächeln entlockt haben
-würden!
-
-»Aber Mensch, bist Du verrückt geworden!« höre ich in Gedanken Deine
-Stimme rufen: »Bist verheiratet seit sechs Monaten, hast eine charmante
-Frau, ein Heim, eine Stellung unter den Künstlern, um die Dich die Götter
-beneiden könnten, und sprichst von Langweile?!« Zugegeben -- alles
-zugegeben, alter Freund! Aber ich kann Dir einmal nicht helfen. Gerade
-das Geregelte meines jetzigen Daseins widert mich an. Es erscheint mir zu
-philisterhaft, zu sittsam, zu hausbacken, keine Spur von Abwechslung --
-von prickelnden Reizen liegt darin. Wo bist Du hin, Du goldige
-Junggesellenzeit! Nimm den freien Waldvogel, stecke ihn unbarmherzig in
-einen Paradekäfig und schau zu, was er für eine Miene macht! So ungefähr
-kannst Du Dir denken, wie mir, den Du früher zur Genüge gekannt, nun zu
-Mute ist. O heiliger Brahma! Es war eine große Dummheit, mir jetzt schon
-die Flügel zu stutzen und mich ins Joch zu spannen. Die Galle läuft
-mir zuweilen über, wenn ich an die verschiedenen Tanten, Onkels -- und
-Schwiegermütter denke, welche mir diese Heirat so plausibel dargestellt
-und es fertig gebracht haben, aus einem von Übermut und Lebensgenuß
-beseelten Taugenichts einen soliden Ehemann zu machen! -- Solide?? Das
-doppelte Fragezeichen steht nicht ohne Bedeutung da. Arme kleine Frau!
-Ich glaube, sie hat von uns beiden wohl doch noch die schlechtere Nummer
-gezogen, obgleich ich bisweilen moralischen Katzenjammer bekomme und in
-bitterer Reue diesem noch so kindlichen Geschöpfe, was sich mein Weib
-nennt, alle begangenen Sünden abbitten möchte. Wer aber verlangt auch,
-daß ein Maler, ein Künstler von Ruf, wie ich ohne Überhebung es mir
-zu sein schmeichle, der überdies in Berlin lebt, Grundsätze und
-Selbstverleugnung des heiligen Antonius besitzen soll! Wer das verlangt,
-der ist ein Narr! Ich habe Agnes geheiratet, erstens: weil meine und ihre
-Familie es wünschten; zweitens: weil sie ein leidlich hübsches, sanftes
-Geschöpf ist, die sogar einer Ameise aus dem Wege geht, um sie nicht zu
-zertreten, wie viel weniger dem eigenen Gatten unfreundlich begegnen
-oder ihm gar widersprechen würde. Darum habe ich sie zu meiner Gemahlin
-gemacht, nicht aber, weil --, wie Du es zu glauben scheinst -- sie es
-verstanden hätte, mein launisches Herz in Fesseln zu schlagen, noch
-weil sie überhaupt qualifiziert wäre, einen Mann -- noch dazu einen
-verwöhnten Mann -- zu begeistern und hinzureißen. In unserer Art führen
-wir ja auch eine ganz glückliche Ehe. Sie ist eine wohlhabende Frau,
-ich derjenige, der um sein Brot schaffen muß. Daher habe ich es mir
-selbstverständlich auch zur Pflicht gemacht, jeden ihrer Wünsche zu
-erfüllen und ihr stets aufs Rücksichtsvollste zu begegnen. Nebenbei
-glaube ich wirklich, daß sie einiges Vertrauen zu mir hat und mir
-aufrichtig zugethan ist. Dankbar zeigt sie sich wenigstens für jedes
-freundliche Wort aus meinem Munde, wenn auch mein übriges Thun und Lassen
--- außer unsern vier Pfählen -- sie wenig oder gar nicht zu interessieren
-scheint. Von Eifersucht habe ich vorläufig noch nicht das Mindeste
-bemerkt. Manchmal sogar könnte mich der sonst sehr anerkennenswerte
-Mangel dieser Untugend an meiner jungen Frau beinahe ungeduldig machen. Wir
-führen somit ein ganz modernes, großstädtisch angehauchtes Eheleben.
-
-Agnes lebt ziemlich häuslich, verkehrt nur im kleinen Verwandten- und
-Bekanntenkreise. Ich hingegen tummle mich in der großen Welt umher, wozu
-ein Künstler von Beruf verpflichtet ist, wenn er seinen Geist anfeuern
-will. Trotzdem aber entgehe ich bei solchem Dasein der Langweile nicht.
-Das ewige Haschen nach pikanten Abenteuern und reizvoller Abwechslung wird
-schließlich fade; oft fehlt dabei der wahre Humor, oft aber auch jedwede
-Poesie! Pah! So ist einmal der Mensch. Er erwartet immer, daß Fortuna ihm
-einmal etwas ganz Apartes in den Schoß werfen soll! Das einzige, was mich
-wahrhaft befriedigt, ist und bleibt immer die Kunst. Diese edle Dame ist
-es auch, die mich zuweilen recht energisch bei den Ohren zieht mit der
-Mahnung: »Nun ist's genug, Freund Gilbert, mit dem Vergnügen! An die
-Arbeit mit Dir!« Und dieser Mahnung habe ich mich bisher noch immer willig
-gefügt. Halte mir aber in Deinem Antwortschreiben um Himmelswillen
-nicht etwa eine Moralpredigt, =amico Carolo=, um mich mit diplomatischen
-Redensarten auf den schmalen Pfad der Tugend hinüberzulocken! An mir ist
-nun einmal Hopfen und Malz verloren, und muß ich fürs Leben verbraucht
-werden, wie ich eben bin. Wenn Dir übrigens etwas daran liegt, so will
-ich Dir von Zeit zu Zeit eine gedrängte Übersicht meiner hiesigen
-Lebensweise, oder richtiger gesagt: ein Sündenregister zukommen lassen.
-Vor Dir kennt mein Herz keine Geheimnisse. Und nun Addio bis zum nächsten
-Male.
-
- Gilbert.«
-
- * * * * *
-
- Berlin, 8. Februar 18..
-
- »Teurer Freund!
-
-Es ist zum Totlachen! Ich habe ein reizendes Abenteuer erlebt, welches ganz
-nach meinem Geschmack ist und die mich befallene schlappe Gemütsstimmung
-total aufgefrischt hat. Übrigens danke ich Dir für Deinen Brief und
-die freundlichen Grüße an Agnes, der Du allem Anscheine nach ein
-liebenswürdiges Interesse zu teil werden läßt. Das gute Kind hatte vor
-einigen Tagen zum erstenmale eine Anwandlung von Eifersucht. Wie komisch!
-Doch davon später.
-
-Also: unser Künstlerbund gab vorige Woche einen brillanten Maskenball,
-den ich selbstverständlich besucht habe, während meine Frau dergleichen
-rauschende Vergnügungen grundsätzlich meidet. Natürlich bin ich weit
-davon entfernt, sie in ihren etwas streng puritanischen Ideen beeinflussen
-zu wollen. Ich hingegen warf mich mit blasierter Gleichgültigkeit in
-den wildesten Strudel dieses Zauberfestes. Ein schlichter Domino aus
-moosgrüner Seide, der noch aus meiner Junggesellenzeit stammt und mir
-vor Jahren zur Karnevalszeit in Rom gute Dienste geleistet, wurde wieder
-hervorgesucht und für tauglich befunden. Vom Scheitel bis zur Zehe
-verhüllte er meine Gestalt, so daß ich darauf hätte Gift nehmen wollen,
-unerkannt zu bleiben. Allein es kam anders. Denn bereits vom Beginn des
-Balles an intriguierten mich zwei Damen ganz impertinent, indem sie mich
-auf Schritt und Tritt verfolgten.
-
-Die eine, ebenfalls im Domino, schien der Figur und Haltung nach
-schon etwas bei Jahren zu sein, wogegen die andere, im entzückendsten
-Susannenkostüm, Formen und Bewegungen auswies, wie ich solche an einer
-Sterblichen überhaupt noch nicht gesehen. Im Nu war meine blasierte
-Stimmung verschwunden; ich fühlte einen Feuerstrom durch meine Glieder
-ziehen. Große Samtmasken mit lang herabfallenden Spitzenbärten machten
-jedes neugierige Erspähen der Gesichtszüge rein unmöglich.
-
-Wer war dieses Götterweib? Sicherlich wohl eine Fremde. Denn solcher Anmut
-und vornehmer Grazie war ich in Berlin noch nicht begegnet. Aufs höchste
-interessiert und sympathisch angezogen, daß die Aufmerksamkeit dieser
-distinguierten Erscheinung sich gerade auf meine unbedeutende Person
-gelenkt, mache ich unserer bisherigen stummen Wanderung durch die Säle ein
-Ende mit den an die Jüngere gerichteten bedeutungsvollen Worten:
-
-»Was veranlaßt wohl nur das Licht, der armseligen ›Motte‹ zu
-folgen?«
-
-Sie zuckte zum Zeichen, daß sie mich nicht verstanden, die wohlgerundeten
-Schultern. Ich wiederholte dieselbe Frage auf Französisch. Da lachte
-sie hell auf. Es war ein köstliches melodisches Lachen; dann klang eine
-glockentiefe Altstimme an mein in Verzückung lauschendes Ohr:
-
-»Monsieur Gilbert besitzt viele Freunde, ohne daß er davon eine Ahnung zu
-haben scheint.«
-
-Beinahe erschreckt stutze ich. Also faktisch erkannt!
-
-»Ist er doch nicht umsonst zwei Karnevalsaisons in Rom gewesen. Jener
-grüne Domino hier --« (ihre mit schwarzen Halbhandschuhen bekleidete
-Rechte strich sanft über meinen Ärmel hinweg) -- »machte den
-Verräter.«
-
-Etwas verblüfft starre ich durch die Augenschlitze der Maske nach der
-Sprecherin hin.
-
-»Eine Freundin, Madame? So sind wir alte Bekannte?« sagte ich ziemlich
-indiskret.
-
-»Das weiß ich nicht, Monsieur! Wer zählt die Völker, kennt die Namen!
-Künstler Gilbertos Herz ist weit, aber sein Gedächtnis scheint kurz.
-Armer Gilberto!« fuhr sie, bedauernd den Kopf wiegend, fort: »Jetzt ist
-er ein Philister geworden; er mußte es =nolens volens= werden, -- hat eine
-reiche, unelegante, häßliche Frau heiraten müssen, die nebenbei noch
-grimmig eifersüchtig sein mag. Seine Freunde bedauern und bemitleiden ihn
-aber aus tiefstem Herzensgrunde und hoffen wenigstens, daß die geniale
-Künstlernatur unter solchem Mißgeschick nicht zu Grunde gehen wird!«
-
-»Eine häßliche Frau!« Das verschnupfte mich, und ein wenig ärgerte
-ich mich über solchen meinem sonst stets als kompetent geltenden Geschmack
-gemachten Vorwurf, insbesondere, weil er ganz ungerecht war. Allein der
-Moment schien nicht geeignet darüber zu streiten, und deshalb nahm ich es
-ruhig hin; ja ich war sogar entzückt davon, daß die reizende Susanne nun
-=sans gêne= ihren Arm unter den meinen schob und dicht neben mir weiter
-schritt. Der weibliche Domino folgte uns.
-
-Witz, Geist und Übermut sprudelten aus jedem Worte meiner Begleiterin. Ich
-schwelgte in einem Meer von Wonne. Hier war doch einmal wieder richtiges
-Amüsement, nach welchem ich mich förmlich gesehnt hatte. Berlin, meine
-Ehemannspflichten, ja sogar die sanfte, braunhaarige Agnes, -- alles war
-vergessen; ich verträumte mich wieder nach Italien, in die selige Periode
-meiner unbeschränkten Freiheit!
-
-=Mio amico!= Ich kann Dir versichern, daß es wirklich ein außerordentlich
-amüsanter Abend war. In einem ziemlich entlegenen Winkelchen nahmen wir
-ungestört Erfrischungen ein, nach deren Genusse diejenige, welche von
-meiner reizenden Maske mit Tante angeredet wurde, in einen wohligen
-Halbschlaf zu fallen schien. Wir ignorierten das selbstverständlich und
-unterhielten uns um so lebhafter. Aus verschiedenen Äußerungen der jetzt
-Schlummernden war mir klar geworden, daß die Damen Russinnen sein mußten,
-ihr Domizil in Wiesbaden hatten und bloß für kurze Zeit auf Besuch zu
-einer Malerfamilie nach Berlin gekommen waren, indessen die Hauptstadt
-schon am nächsten Tage zu verlassen gedachten. Halb mechanisch spielte
-ich mit dem mir angeeigneten Fächer meiner Begleiterin und that dabei die
-vielleicht etwas dreiste Äußerung, daß ich denselben als Pfand für ein
-eventuelles Wiedersehen, oder auch zur Erinnerung an diesen Abend als mein
-Eigentum behalten wollte.
-
-»O nein! Dieses unscheinbare Ding hier ist ein teueres Andenken an einen
-Freund,« entgegnete sie wieder mit dem so bezaubernden Lachen. »Aber,
-ich will Ihnen einen Vorschlag machen, Monsieur Gilberto! Sie behalten den
-Fächer einstweilen und malen mir mit Künstlerhand ein Bildchen darauf,
-dann wird er mir erst doppelt wert sein.«
-
-»Gern. Doch wie soll ich Ihnen denselben wieder zustellen,
-=bella= Susanna?« fragte ich gespannt, indem ich ihre reizende,
-brillantenfunkelnde Hand einen Moment fest zwischen die meine nahm.
-
-»=Eh bien!= Sie schicken ihn mir =par poste=, oder was noch besser wäre,
-Sie bringen ihn selbst, Gilberto! Meine Adresse ist: Madame de Baranow,
-Wiesbaden ... Straße. Im Mai komme ich übrigens wieder nach Berlin.«
-
-Darauf erhob sie sich, weckte mit sanften Schütteln die schlummernde
-Tante, und bald waren die Damen im Maskengewühl meinen Blicken entrückt.
-
-Ich glaube, daß ich noch eine ziemliche Weile, in selige Träumereien
-versunken, mit dem gedachten Fächer in der Hand auf diesem Platze
-gesessen habe. Obgleich kein Kunstwerk, was die schöne Unbekannte mir
-zurückgelassen, entströmte demselben doch ein eigentümlich süßes
-Parfüm. Von goldverziertem Schildpatt war der zierliche Griff, alles
-übrige von feiner schwarzer Seidengaze. Und doch fühlte ich mich in
-dem Besitze gleich einem Krösus, so daß auch in meinem erregten Geiste
-allerlei mögliche Ideen auftauchten -- liebliche Phantasiegebilde, denen
-ich auf dem duftigen Gewebe mit dem Pinsel Ausdruck, ja Form und Gestalt
-verleihen wollte. Sicherlich sollte Dir, =bella= Susanna, der Beweis
-geliefert werden, daß Gilbertos leidenschaftliches Temperament, sein
-zündender Geistesfunke noch nicht untergegangen im hausbackenen Eheleben.
-
-Das Fest hatte jetzt keinen Reiz mehr für mich. Ich ließ mir von dem
-ersten besten dienstbaren Geiste ein Stück Papier bringen, wickelte den
-mir so kostbaren Fächer sorgfältig ein und schob das kleine Päckchen
-in die Tasche. Nach zwanzig Minuten stieg ich die Treppe zu meiner Wohnung
-hinan.
-
-Schon von der Straße aus hatte ich wahrgenommen, daß in dem an mein
-Atelier stoßenden Wohnzimmer, wiewohl die Mitternachtsstunde längst
-geschlagen, noch eine Lampe brannte. War denn Agnes noch wach? Wollte die
-kleine Frau mich, an dessen späte Rückkehr sie doch hinlänglich gewöhnt
-sein mußte, heute auf einmal erwarten? Das dünkte mir höchst wunderbar.
-Der Entreedrücker befand sich in meiner Tasche, weshalb ich, ohne
-zu klingeln und von den Dienstleuten unbemerkt, mein Heim zu betreten
-vermochte. Ein wenig neugierig öffnete ich die Stubenthür; doch machte
-der sich mir darbietende Anblick unwillkürlich lächeln. Dort -- an dem
-mit umfangreichen Weißnähereien bedeckten Tische, über welchen die
-Hängelampe ihr mildes Licht ausstrahlte, lag, auf die gekreuzten Arme
-herabgesunken, das Haupt meines jungen Weibes, während die Brust der sanft
-Schlummernden unter regelmäßigen Atemzügen sich hob und senkte.
-
-»Die häßliche Frau!« So schoß es mir plötzlich durch den Sinn. Leise
-trat ich näher, um mich mit Kritikerblicken einmal zu überzeugen, in wie
-weit jener Ausspruch gerechtfertigt schien. Freilich wies dieses zierliche
-Köpfchen dort keine regelrechten Schönheitslinien auf. Dafür aber lag
-der Schmelz holder Frauenhaftigkeit, die Taufrische eines weiß-rosigen
-Teints über dem beinahe noch kindlich runden Gesichte. Häßlich? Nein,
-das war entschieden ganz ungerecht. Der Chic der großen Welt, und das so
-gewisse, auch weniger schöne Frauen anziehend machende Etwas fehlte hier
-natürlich durchaus. Allein mein Malerauge fand heute zum erstenmale, daß
-das, was ich an Modellen so oft vergeblich gesucht und wofür ich, um es
-auf die Leinwand zu bannen, eine wahre Leidenschaft hegte, nämlich:
-einen rötlich goldigen Glanz im hellbraunen Haar, was die Engländer so
-bezeichnend =auburn= nennen, -- daß gerade diese große Seltenheit mein
-eigenes Weib besaß. In einem langen Prachtzopfe hing dieses jetzt vom
-Lampenlicht beleuchtete, wunderbar schimmernde Haar der schlanken Gestalt
-über den Nacken herab. Merkwürdig, nicht wahr, =mio amico=? Und noch
-merkwürdiger, daß ich das vorher gar niemals beachtete.
-
-Nachdem ich Cylinder, Handschuhe und das kleine Paket mit dem Fächer
-auf den Tisch gelegt, war ich eben im Begriff, mich auch des Paletots zu
-entledigen, da erwachte Agnes.
-
-Halb verstört schaute sie mich an. Doch nur mit verlegenem Gruße raffte
-sie eilig die Arbeit zusammen und barg dieselbe auf dem Schoße.
-
-»Aber, Kind! Was fällt Dir ein, so lange wach zu bleiben! Das ist
-thöricht!« sagte ich mehr unwillig, als freundlich, indem ich es
-nicht einmal der Mühe wert hielt, ein lautes Gähnen zu unterdrücken.
-»Meinetwegen brauchst Du das nicht mehr zu thun!«
-
-Nur ein ängstlich scheuer Blick aus ihren stahlblauen Augen streifte mich.
-Was sie dabei wohl gedacht, vermochte ich nicht zu ergründen. Vielleicht
-hatte sie gerade um meinetwillen den Schlaf der halben Nacht geopfert,
-vielleicht auch auf ein herzlich dankbares Wort aus meinem Munde gerechnet.
-Arme kleine Frau! Sie packte, wie das so ihre Gewohnheit war, meine
-nachlässig hingeworfenen Sachen sorgsam zusammen. Dabei aber entschlüpfte
-der Fächer seiner papiernen Hülle und fiel zurück auf den Tisch. Sie
-stutzte, da sie das verräterische Rot sofort bemerkte, was meine Stirn
-bezog.
-
-»Hast Du Dich neuerdings auf Fächermalen verlegt, Gilbert?« kam es
-eigentümlich spöttisch von den rosigen Lippen. Der Ton reizte mich.
-
-»Ja wohl, wenn Du nichts dagegen hast, kleine Moralistin! Ich werde diesen
-schlichten, schwarzen Fächer zu einem wahren Kunstwerk umgestalten,
-weil die Besitzerin ein ...« (ich stockte, denn der Ausdruck des mir
-zugewandten Gesichtes glich dem eines entsetzten Kindes) -- »weil eine
-Dame mich freundlich darum gebeten hat, dieses unscheinbare Ding zu
-verschönern,« fügte ich gleichgültig hinzu.
-
-»So? Nun, mir hast Du noch niemals einen Fächer gemalt, Gilbert!« sagte
-sie halb schmollend, während sie den verfänglichen Gegenstand zur Hand
-nahm und denselben, das ihm entströmende Parfüm einsaugend, an ihr
-Stumpfnäschen hielt.
-
-»Dir?« fragte ich höchlichst verwundert. »Trägst Du denn überhaupt
-einen Fächer? Ich dachte, solch' Spielzeug für große Kinder erscheine
-Dir viel zu frivol?«
-
-Zu meiner noch größeren Verwunderung sah ich, wie das zierliche Köpfchen
-mit einem energischen Ruck ganz plötzlich in den Nacken fuhr, worauf
-es mit eigentümlich bebender, allein halb trotziger Stimme an mein Ohr
-schlug:
-
-»O, natürlich ahne und verstehe ich nichts vom Fächerspiele all' jener
-Frauen, deren Lebenszweck nur eitles Haschen nach Vergnügen ist und für
-welche das heilige Wort Pflichten überhaupt keine Bedeutung hat. Einen
-Fächer zum Gebrauche in Deinem Sinne brauche ich gottlob nicht! Gute
-Nacht, Gilbert!«
-
-Damit ließ sie mich allein.
-
-Dergleichen Heftigkeit war mir neu an meiner Gattin. Gut, dachte ich,
-fangen wir doch zur Abwechslung einmal an, uns gegenseitig auf den
-Kriegsfuß zu stellen! Das würde jedenfalls mehr Anregung bieten im
-häuslichen Einerlei, als diese lauwarme Spülwasser-Stimmung. Oho! Ich war
-sicher nicht der Mann, um mich über die kindischen Launen der einfältigen
-kleinen Frau zu grämen. War doch mein Geist ohnehin so vollständig
-gefangen genommen durch das reizvolle Abenteuer des Maskenballes, daß
-alles andere gänzlich in den Hintergrund trat.
-
-Für heute aber mag's genug sein, =mio Carolo=! Das Fächerbild ist bereits
-begonnen worden und scheint mir vortrefflich zu gelingen. =Vive l'amour!=
-
- Dein Gilbert!«
-
- * * * * *
-
- Berlin, den 26. März 18..
-
- »Lieber Karl!
-
-Ich bin allein in meiner stillen Bude. Agnes sah in letzter Zeit miserabel
-aus und ist recht erholungsbedürftig, so daß ihre besorgte Mama, meine
-verehrte Frau Schwiegermutter, für einige Wochen das Töchterlein zu sich
-genommen hat, um ihr alle erdenkliche Pflege und Schonung angedeihen zu
-lassen, deren sie im eigenen Heim entbehrt. Liegt doch das Haus ihres
-Vaters im schönsten, gesundesten Teile Berlins, wo die herrliche laue
-Frühlingsluft, die dort vom Tiergarten herüberweht, die Wangen des
-blassen Kindes hoffentlich bald wieder runden und rosig färben wird.
-
-Über die letzte Zeit habe ich wenig Interessantes, noch Erfreuliches zu
-berichten. Ich meine, daß ich seit Wochen schauerlich schlechter Laune
-und höchst ungemütlich gewesen bin. Manchmal befielen mich wahrhafte
-Wutparoxismen, so daß ich am liebsten jede lästige Fessel gesprengt
-hätte und hingeeilt wäre zu derjenigen, die unausgesetzt all' mein
-Denken gefangen hielt -- hin zu Madame de Baranow nach Wiesbaden. Dann
-aber versank ich auch wieder in eine stumpfsinnige Apathie, welche mir
-das Dasein fast ekelhaft fade erscheinen ließ. Glücklicherweise ist der
-bedeutungsvolle Fächer noch vor dieser Trübsinnsperiode vollendet worden
-und befindet sich jetzt schon in den Händen von =bella= Susanna. Was ich
-darauf gezaubert?
-
-Ich glaube wirklich, der Genius der Malerei hat mir dabei die Hand geführt
-und Amor die Palette gehalten. Seit jenem Abende fragte Agnes allerdings
-nicht mehr nach dem Fächer; doch weil ich so unvorsichtig gewesen, ihn
-einmal unverschlossen liegen zu lassen, hatten ihre Kinderaugen ihn dennoch
-erblickt.
-
-Mehreremale in jeder Woche besuche ich das Haus der Schwiegereltern, um
-mich pflichtschuldigst nach dem Befinden meiner Gemahlin zu erkundigen,
-welche wieder sanft und freundlich zu mir ist, aber auffallend traurig.
-Der Herr Papa dagegen betrachtet mich öfters mit seltsam herausfordernden
-Blicken, während die Frau Mama mir stets so offen ihre Ungnade zeigt, daß
-sie mit mir überhaupt nicht mehr spricht. =Amico Carolo!= Es will mich
-bedünken, es steigen düstere Wolken über meinem unseligen Haupte auf.
-Zuweilen sogar regen sich im Busen leise Anwandlungen von Reue, und
-ich sage mir dann ganz ehrlich, daß ich doch ein recht ungemütliches,
-trübseliges Leben führe, welches anders -- besser sein könnte, wenn ich
--- ja, was denn eigentlich? Ich glaube, der Fächer hat mich verhext -- ich
-bin ein Narr! Adieu!
-
- Gilbert.«
-
- * * * * *
-
- Berlin, 3. Mai 188.
-
- »Bester Freund!
-
-Hast Du zufällig jemals die Physiognomie eines Menschen beobachtet, der
-in heiterster Stimmung und anregendster Unterhaltung begriffen, sich
-niedersetzen will, den aber irgend eine Schicksalstücke des vermeintlich
-hinter ihm stehenden Stuhles beraubt hat. Todesschreck, innere Wut,
-lächerliche Hilflosigkeit, ja jammervolle Stupidität -- das alles prägt
-sich stets in den Zügen solch' eines Beklagenswerten aus.
-
-Mir ist gestern Abend Ähnliches passiert, das heißt: etwas passiert,
-was mich veranlaßte, den Gesichtsausdruck eines dummen Jungen anzunehmen.
-Nicht etwa, daß ich mit meinem ganzen physischen Körpergewicht auf die
-Erde geplumpst wäre, nein, =amico=, moralisch habe ich einen Purzelbaum
-gemacht, der wirksam genug sein könnte, selbst den überspanntesten
-Phantasten und Idealisten in die rauhe Wirklichkeit zurückzuführen. Ich
-knirsche -- ich tobe in machtlosem Grimme, dabei aber befällt mich auch
-wieder ein wahrer Lachkrampf, wenn eine Stimme -- ich glaube, es ist
-das bessere Ich in meiner Brust -- mir zuraunt: »Reingefallen, Gilbert,
-gründlich reingefallen!«
-
-Zurückgekehrt von einem Besuche bei Agnes, wo sie mir beim Abschiede,
-als wir zufällig allein im Zimmer waren, mit holdem Erröten versicherte,
-demnächst bald heimzukommen, finde ich endlich die langersehnte Antwort
-aus Wiesbaden vor. Welch' ein Dank, welch' ein Brief! Doch zu meiner
-Überraschung zeigt die Marke den Poststempel: Berlin. Frau v. Baranow
-teilte mir als Postskriptum mit, sie sei im Kaiserhofe abgestiegen und
-erwarte am nächsten Tage meinen Besuch. Wie damals auf dem Maskenballe
-fühlte ich jenes aus Entzücken und Leidenschaft gemischte Gefühl meine
-Adern durchrieseln. Bombenfest stand es in mir, die verführerische Frau
-morgen aufzusuchen. Allein auf welche Weise sollte ich mir die
-langen Stunden bis dahin verkürzen? Mit Eifer studierte ich den
-Vergnügungsanzeiger Berlins und verfiel schließlich auf das »Deutsche
-Theater«.
-
-Gesagt -- gethan. Zwar war der Andrang an der Kasse desselben groß. Doch
-bald hielt ich ein glücklich erobertes Parkett-Billet in den Händen:
-Dritte Sitzreihe, Platz Nr. 35. Herrlich fürwahr! Ich bin ganz befriedigt
-und befinde mich in äußerst animierter Stimmung. Da es übrigens noch
-ziemlich früh war, so mache ich noch eine kleine Wanderung durch die
-Straßen, weil ich es hasse, vor Beginn der Komödie meine ohnedies nicht
-sehr guten Nerven durch das entsetzliche Bänkeklappen und Thürenwerfen in
-unnötigen Aufruhr versetzen zu lassen. Als ich das Theater betrat, war der
-Vorhang bereits aufgezogen und das Stück hatte begonnen. Meine Nr. 35 war
-glücklicherweise ein Eckplatz.
-
-Nachdem ich in größter Gemütsruhe das Opernglas blank geputzt, schaue
-ich nach der Bühne. Da schlagen die Laute einer mich wie mit elektrischem
-Schlage berührenden Stimme aus nächster Nähe an mein Ohr. Herr des
-Himmels! Das konnte niemand anders -- das mußte Susanna -- Madame de
-Baranow sein, die hier in dem so reinen, so fließend und melodisch
-klingenden Französisch eben gesprochen! Gleich einem Achtzehnjährigen --
-beinahe zum Zerspringen klopfte nun mein Herz, und ich lausche atemlos.
-Wo -- wo war -- wo saß das entzückende Geschöpf, das allein schon durch
-Organ und Grazie mich bestrickte? Sollte es mir jetzt -- von diesem still
-verborgenen Platze aus -- vergönnt sein, das im Traume schon tausendmal
-mir vor die Sinne gezauberte, holde Angesicht zu schauen? Welche Seligkeit,
-die schöne Frau, ohne daß sie meine Gegenwart ahnte, beobachten zu
-können! Soviel ich indes mein Gehör auch anstrenge, diese wohllautende
-Stimme ließ sich nicht mehr vernehmen.
-
-Prüfend, aber möglichst vorsichtig, überschaute ich die nächste
-Umgebung, die größtenteils aus Herren und einigen schlichten
-Matronen bestand. Nur links von mir -- in der ersten Reihe, sah ich die
-wohlfrisierten Köpfe zweier eleganten Damen auftauchen. Sollte das ...?
-Meine Brust wogte so heftig auf und nieder, daß ich, um mich nicht
-bemerklich zu machen, oder aufzufallen, den Atem dämpfen mußte. O
-Gott! Sollte sie es wirklich sein? Schien das nicht das nämliche goldige
-Lockengeringel im Nacken zu sein, wie es mir viele Stunden lang auf jenem
-Maskenballe vor Augen geschwebt? Damals freilich wurde das herrliche Blond
-des Vorderhaares von der scheußlichen Maske neidisch verhüllt. Ja gewiß!
-Diese und keine andere mußte =bella= Susanna sein!
-
-Allein so viel ich mich auch drehte und wendete, von ihren Augen vermochte
-ich nichts zu erspähen; immer blieben nur die nach aufwärts gekämmten
-blonden Haarsträhne des Hinterhauptes sichtbar. -- Da -- noch während ich
-dies niederschreibe -- lähmt ein krampfartiges Gefühl die Muskeln meiner
-Rechten -- da taucht plötzlich in der Hand der blonden Dame ein Fächer --
-ein ausgebreiteter Fächer auf. Mein Herzschlag stockt; denn mit glühenden
-Blicken erspähe ich darauf -- das eigenhändig gemalte Bild! Sie ist's! So
-juble ich vor stummem Entzücken und verkrieche mich förmlich hinter den
-breiten Rücken eines behäbigen Berliner Rentiers, um recht ungestört
-nach der Angebeteten hinüberschauen zu können. Einmal -- hoffte ich --
-würde sie doch wohl den Kopf nach mir herumwenden. Ein unglücklicher
-oder vielmehr glücklicher Zufall kam mir zur Hilfe. Noch war der erste
-Akt nicht zu Ende gespielt, da ließ eine Dame in der zweiten Sitzreihe
-ihr Opernglas mit ziemlichem Geräusch zur Erde fallen. Natürlich
-wendeten sich sofort eine Anzahl höchst indignierter Gesichter nach der
-Ruhestörerin um, =la bella= Susanna ebenfalls. Allmächtiger Gott! Sind
-denn meine Augen getrübt, -- bin ich verrückt oder treibt der Satan
-sein Spiel mit mir? Keuchend stößt mein Atem aus der Brust, so daß der
-gemütliche Rentier neben mir wohl gedacht haben mochte, ein Mensch im
-letzten Stadium der Lungenschwindsucht befinde sich in seiner Nähe.
-Einerlei -- ja, was geht mich die ganze Welt an! Wie gelähmt starre ich in
-das als engelhaft schön erträumte Antlitz von Madame de Baranow. Wut
-und Abscheu krampfen mir das Herz zusammen. Das also ist die vermeintliche
-Beauté, um deren Figur und Grazie selbst Juno vor Neid geborsten wäre?
-O pfui! Welch' ein tückisches Spiel, welche Grausamkeit der Natur! Ein
-pockennarbig gelbes Gesicht mit wulstigen Negerlippen, in welchem
-eine niedrige Stirn und kleine geschlitzte Tartarenaugen den fatalen
-Gesamteindruck noch erhöhen, zeigt sich meinen getrübten Blicken. Doch
-wie ist mir denn! Plötzlich taucht in meinem wilderregten Geiste auch
-eine Erinnerung auf. Diese widrigen Züge kenne ich ja; der cynisch-frivole
-Ausdruck derselben war mir durchaus nicht fremd?
-
-Heiliger Brahma! Gleich einem zündenden Funken fiel es in das Gedächtnis
-Deines armen Freundes. Lieber Karl! Entsetze Dich nicht! Denn -- die
-häßliche, uns allen von Rom her nur zu wohlbekannte Paula Uschakow war
-es, welche schon damals gerade mich mit ihrer Affenliebe immer verfolgt und
-gepeinigt hat. Und ich Narr, -- ich Esel, -- bin hier so einfältig auf den
-Leim gegangen! Meine Empörung kannte keine Grenzen; alles wurde mir mit
-einem Schlage klar. Du, mein Freund, mußt es ja noch wissen, daß Paula,
-nachdem sie vergeblich darnach getrachtet, durch ihr nicht unbedeutendes
-Talent unter den deutschen Künstlern sich einen Mann zu erobern,
-schließlich einen alten, sehr reichen Russen geheiratet haben soll. Und
-jetzt muß das abscheuliche Weib mir solch' einen Streich aufspielen!
-Wirklich schändlich -- empörend! Ist es nicht wahrhaft jammervoll, daß
-mein reizendes, poetisches, alle zarten Empfindungen der Menschenbrust
-versinnbildlichendes Fächerbild in solche Hände geraten! Dabei aber
-tönen, als ob ein guter Geist sie gesprochen, Agnes' Worte sogleich in
-mein Ohr: »O, mir hast Du noch niemals einen Fächer gemalt, Gilbert!«
-Nein, ihr, diesem reinen, unschuldsvollen Kinde habe ich wirklich noch nie
-eine derartige Freude gemacht, habe sie ja kaum beachtet, während ich drei
-Monate meiner kostbaren Zeit nur an diese Kokette gedacht. Vor Wut zitternd
-ballte ich heimlich die Faust nach den Damen in der ersten Sitzreihe
-hin, drückte dann den Hut so tief wie möglich in die Stirn und verließ
-eilends das Theater. Erst auf der Straße atmete ich ein wenig freier auf.
-Da es kaum halb neun Uhr war, so fand ich unter den Linden noch einige
-elegante Läden geöffnet. In dem ersten besten Galanterie-Bazar, wo ich
-hineinstürme, verlange ich einen kostbaren, aber unbemalten Fächer.
-
-»Schwarz?« fragt schüchtern die Verkäuferin mit ängstlichem Blicke
-in mein erhitztes Angesicht. Sie mochte wohl gedacht haben, ich sei
-angetrunken.
-
-»Nein, rot -- feuerrot!« entgegnete ich diktatorisch und hielt schon
-nach zwei Momenten ein wahrhaft entzückendes Exemplar in den Händen.
-Die geforderten vierzig Mark erschienen mir eine Lappalie. Ich hätte
-fünfhundert Mark gezahlt, wenn sie verlangt worden wären, ohne eine
-Miene zu verziehen. Darauf warf ich mich in eine Droschke und ließ mich
-schnurstracks nach Hause fahren. Totenstill -- öde und einsam dünkte mir
-in diesem Momente mein sonst so behagliches Heim.
-
-Der verwundert mich anstarrenden Dienerin befahl ich, im Atelier sofort
-einige Lampen anzuzünden, während ich nur ganz beiläufig fragte,
-ob irgend eine Nachricht von meiner Frau gekommen wäre. Die bejahende
-Erwiderung bewies mir, daß man im Hause eben besser orientiert sei, als
-ich, der Ehemann. Denn bald erfuhr ich aus dem Munde des Dienstmädchens,
-Agnes gedächte schon in den nächsten Tagen zurückzukehren.
-
-Deswegen mußte ich also fleißig sein, um das, was mir vorschwebte,
-rechtzeitig zu vollenden.
-
-Nun gute Nacht, Bruderherz! Vielleicht schreibe ich morgen oder übermorgen
-weiter. Ich spüre nämlich in mir das Bedürfnis, einer fühlenden Seele
-mich mitzuteilen. Gehab Dich wohl und gieb bald Nachricht
-
- Deinem
-
- Gilbert.«
-
- * * * * *
-
- Berlin, den 8. Mai 188.
-
- »Alter lieber Freund!
-
-Wie neugeboren fühle ich mich, wenigstens, wie ein Mensch, der eine lange
-Krankheit überstanden und nun mit hoffnungsseligen Empfindungen in der
-Brust jetzt ein sonniges Dasein vor sich sieht. -- Übrigens -- Du bist
-ein Diplomat, Freundchen! Vielleicht haben auch Deine Briefe, der warme,
-herzliche, durchaus nicht mentorhafte Ton, der daraus spricht, sowie
-Dein stets vermehrtes Interesse für Agnes ein wenig zu meiner Heilung
-beigetragen.
-
-Aber ich will dem Gange meines »kleinen Romans« nicht vorgreifen, sondern
-da weiter erzählen, wo ich im letzten Briefe stehen geblieben bin.
-
-So höre denn! Nachdem ich schon an dem nämlichen, für mich so
-verhängnisvollen Abende eine Skizze entworfen, warf ich mich mit wahrem
-Feuereifer auf das Malen des roten Fächers, indem ich täglich einige
-Stunden darüber festsaß. Kein Kunstwerk -- kein Bravourstück sollte
-diese Arbeit werden, -- Gott behüte! Ich malte ja für Agnes, für mein
-junges, sanftes Weib. Etwas aber wollte ich darauf zaubern, was die Augen
-des holden Wesens in seliger Freude strahlen machen, -- ein Etwas, was ihr
-sagen sollte, daß ihr Gatte .... Doch halt! Die Feder geht schon wieder im
-Galopp davon!
-
-Endlich -- endlich ist das Bildchen vollendet, und meine Mühe zeigt sich
-vom schönsten Erfolge gekrönt. Da die Farben noch eine Weile trocknen
-mußten, spannte ich den Fächer ausgebreitet auf ein Stück Karton, und
-trug ihn, im Gefühl seliger Befriedigung hinüber ins Zimmer meiner Frau.
-Dort plazierte ich ihn auf Agnes Schreibtische hinter einem wahren Walde
-von Maiglöckchen, ihren Lieblingsblumen.
-
-Es war der nämliche Nachmittag, an dem meine Frau eintreffen sollte.
-Nachdem ich in mein Atelier zurückgekehrt, versuchte ich alle
-rebellischen, mir selbst ganz neu und fremdartig erscheinenden Gedanken
-durch anstrengende Arbeit zu ersticken, rührte mich auch nicht von
-der Stelle, als ich eine Droschke am Hause vorfahren hörte. Direkte
-Mitteilung, daß Agnes heimkommen würde, war mir, dem Hausherrn, ja gar
-nicht gemacht worden, und hatte ich es nur =en passant= erfahren. Darum sah
-ich keine Veranlassung, der Zurückkehrenden entgegenzueilen. Zwar drang
-öfteres Thürenzuwerfen und Stimmengemurmel dumpf zu mir herüber, doch
-blieb es für die nächste halbe Stunde in meiner Klause ganz still. Ich
-male -- male eifrig weiter, obgleich ein sonderbares Flimmern in den Augen
-mich die Farben kaum unterscheiden läßt. Da -- auf einmal macht ein
-schüchternes Klopfen jeden Nerv in mir erzittern. »Herein!« konnte ich
-nur mit Kraftanstrengung über die Lippen bringen, und als bald darauf ein
-goldbraunschimmerndes Haupt in der Thür erscheint, erkenne ich mit raschem
-Blicke, wie Agnes den Fächer hinter sich verborgen hält.
-
-»Schon da?!« rief ich mit einer Unbefangenheit, die mich selbst in
-Erstaunen setzte. Während ich, Pinsel und Palette beiseite geworfen, der
-Eintretenden entgegeneilte, brachte ich keine Silbe heraus und zog nur
-schüchtern und ungelenk die kleine Hand an die Lippen.
-
-»Ich wollte Dich überraschen, Gilbert, und nun bist Du mir zuvorgekommen,
-hast mir solch' eine reizende, süße Überraschung bereitet,« kam es
-stockend aus Agnes' merklich zitterndem Munde.
-
-»Ich? Wie so?« fragte ich mit gut gespielter Harmlosigkeit.
-
-»Aber, Gilbert! Nennst Du das nichts?«
-
-Mit diesen Worten, die von holdseligem Erröten und glücklichem Lächeln
-begleitet waren, hielt sie mir den wohlbekannten Fächer vor die Augen.
-
-»So? Also das kleine Ding da macht Dir etwas Spaß, Agnes?« Ich glaube,
-daß ich zu dieser eigentlich nichtssagenden Bemerkung wirklich ein recht
-einfältiges Gesicht gemacht habe.
-
-»Etwas Spaß?« wiederholte sie leise. »Weiß ich doch gar nicht, wie Du
-dazu kommst, mir solch' eine unendliche Freude zu bereiten, Gilbert? Das
-Bild ist -- ist entzückend!«
-
-»Es sind Deine Züge. Wenigstens habe ich mir Mühe gegeben, dieselben
-aus -- dem Gedächtnis auf den Fächer zu zaubern. Das -- andere, was noch
-darauf ist, sind -- natürlich nur Gebilde meiner Phantasie.« Ich sah ihr
-jedoch, während ich das sagte, zum erstenmale voll in die Augen. Allein,
-wie mit Purpur übergossen, hatte sie den Blick rasch zur Erde gesenkt.
-
-Teuerster Carolo! Es fehlte wahrhaftig nicht viel daran, so hätte ich
-meine Agnes, das liebliche Geschöpf, mit einem Jubelschrei an die Brust
-gezogen, um ihr frei vom Herzen herunter alles das zu enthüllen, was seit
-jenem heilsamen Theaterabende meine Pulse fliegen ließ. Doch Gott bewahre!
-Ich überwand mich. Nicht jetzt -- nicht um des Fächers willen sollte die
-Scheidewand zwischen uns in nichts versinken. Stand doch gerade ein anderes
-Fächerbild gleich einem mahnenden Gespenste vor meinem Geiste -- ein
-anderes Bild, was die Weihe eines so seligen Moments sicherlich gestört
-haben würde. In sanfter, liebender Fürsorge führte ich mein junges Weib
-nur hinüber in ihr Zimmer, küßte sie schüchtern auf die Stirn und --
-ging. --
-
-Aber Du willst natürlich gern wissen, warum mein Geschenk Agnes so ganz
-besonders wertvoll dünkte, warum sie vor seliger Freude darüber errötet
-war? Gut, auch das sollst Du jetzt erfahren! Das Fächerbild zeigt nichts
-anderes, als eine jugendschöne Mutter, die, strahlendes Glück in ihren
-Zügen, über ihr neugeborenes Kindlein sich niederbeugt!
-
-Bist Du jetzt mit mir zufrieden, =amico=?
-
- Dein Gilbert.«
-
- * * * * *
-
- (24 Stunden später.)
-
- »Herzensfreund!
-
-Was ich diesem »meinem kleinen Romane« noch hinzuzufügen habe,
-ist wenig, doch ist es das Bedeutungsvollste, was ich während meiner
-Künstlerlaufbahn jemals erlebte.
-
-Nur eine kurze Spanne Zeit verfloß, nachdem Agnes zu mir zurückkehrte;
-aber eine Wandlung ist seitdem vor sich gegangen -- mit ihr -- mit mir --
-mit und in unserem Heim, daß ich vor staunender Bewunderung und stummer
-Verzückung oft die Hände falte und flüstere: »O Gott, bin ich denn
-solchen Glückes auch wert?«
-
-Aber Du wirst ungeduldig und neugierig über das Mysteriöse meiner Worte
-oder errätst Du vielleicht jenes Geheimnis, das Deinen wilden, zügellosen
-Freund plötzlich zu einem völlig Anderen umgeschaffen? -- --
-
-Bald nach ihrer Ankunft und unserem Wiedersehen im Atelier hatte Agnes,
-weil sie ruhebedürftig war, sich zu Bett gelegt. Ich aber langte nach
-meinem Hut und stürmte hinaus; hinaus in den wonnig warmen Maienabend zog
-es mich. Die erste mir entgegenkommende Droschke rufe ich an und fahre in
-den Tiergarten. In Gottes freier Natur wollte ich allein sein mit meinen
-Gedanken und Empfindungen. Ich wußte -- fühlte, daß ein veredelnder
-Läuterungsprozeß in mir vor sich ging, und diese heilsame Krisis mußte
-sich ganz still, fern von allem Menschengewühl vollziehen. Nicht mehr als
-der Gilbert, den Du, mein Freund, gekannt und welchen Du aus all' diesen
-Briefen noch zur Genüge studieren konntest, -- nein, nein, und tausendmal
-nein! -- nur als ein Mann wollte ich Agnes wieder vor die Augen treten,
-der das von ihr einst mit so scharfer Betonung gesprochene, heilige Wort
-»Pflichten« zu würdigen und im ganzen Maße zu erfüllen verstand.
-Verachtungswert erschien mir plötzlich mein verflossenes Leben gegen das
-wahre, süße Glück, welches ich heute, als mein junges Weib so holdselig
-schüchtern neben mir im Atelier stand, vor mir auftauchen gesehen.
-Und dennoch bin ich lange Monate wie ein Blinder an diesem Schatze
-vorübergeschritten, ohne ihn zu heben und mein eigen zu nennen. --
-
-Viele Stunden mochte ich wohl im Tiergarten umhergeirrt sein; denn längst
-war die Sonne zu Rüste gegangen und die ersten Schatten der Maiennacht
-zogen bereits über Wege und Rasenplätze. Als ich nach der Uhr sah, zeigte
-sie schon ein Viertel vor Zehn. Da durchzuckte plötzlich ein heftiger
-Schrecken meine Glieder. In meinem Freuden- und Glückestaumel war ich
-von Hause fortgestürmt, hatte nicht bedacht, daß Agnes meiner vielleicht
-bedürfen könnte. Sie war allein! Wenn ihr irgend etwas zugestoßen! Jähe
-Angst befiel mein Herz. O, ich war doch immer noch der alte Egoist, welcher
-zuerst nur an sich selbst dachte!
-
-Im Sturmschritt ging's nun nach dem Droschkenhalteplatz. Gott Lob! Dort
-steht richtig noch das schlichte Gefährt, dessen ich mich zur Herfahrt
-bedient. Ich drücke dem Kutscher fünf Mark in die Hand und befehle ihm,
-im Galopp nach der angegebenen Adresse zu fahren. Zu Hause angelangt, renne
-ich, von düsteren Ahnungen gepeinigt, die zwei Stiegen zu meiner
-Wohnung hinan und trete atemlos in den Vorsaal. Nichts regt sich -- alles
-mäuschenstill! Dem Himmel sei Dank! Meine allzubange Sorge war demnach
-unbegründet, und mit diesem Gefühl der Erleichterung öffne ich die Thür
-nach dem Wohnzimmer meiner Frau, an welches ihr Schlafzimmer stößt. -- Da
--- da, Allmächtiger, was ist das? Welch' seltsam fremde Laute tönen von
-dort heraus an mein Ohr! Ich halte mir den Kopf mit beiden Händen -- ich
-taumle. Das klägliche Schreien eines kleinen -- meines Kindes ist's, was
-ich vernehme.
-
-Gleich einem Rasenden laufe ich vorwärts, -- keine Macht der Erde hätte
-mich in diesem Momente zurückzuhalten vermocht -- und befinde mich alsbald
-in dem matt erhellten Heiligtum. Hatte Agnes mein Kommen gehört oder hatte
-das teure Wesen meine Gegenwart nur geahnt? Zwar gedämpft, aber dennoch
-deutlich klingt hinter einer hohen spanischen Wand mir mein Name entgegen:
-»Gilbert!«
-
-Nun war es mit Fassung und Selbstbeherrschung an mir vorbei. Ungeachtet
-der Anwesenheit einer mir unbekannten Wärterin, ungeachtet des aus dem
-Hintergrunde plötzlich auftauchenden, strengverweisenden Gesichts meiner
-Frau Schwiegermutter -- machte ich auf den Zehenspitzen zwei Sätze gegen
-den Bettschirm hin und lag, ehe ich selbst noch recht zur Besinnung kam,
-am Lager derjenigen, die mich zu neuem, besseren Leben zurückgeführt,
-den Kopf auf deren kleine Rechte gestützt, knieend und unter Schluchzen
-flüsternd: »Agnes, meine Agnes! Ich bin namenlos glücklich!«
-
-Da schob sie mit der einen freien Hand einen bisher an ihrer Brust
-liegenden, meinen unerfahrenen Blicken paketähnlich dünkenden Gegenstand,
-woraus nur ein dunkles Köpfchen sich bemerklich machte, sanft nach mir hin
-und schlang mit zärtlichem Drucke ihren Arm um meinen Hals.
-
-»Das ist mein Dank für das süße Fächerbild! Hier ist Dein Sohn! Freust
-Du Dich über dieses Geschenk, Gilbert?« --
-
-Für heute aber sei es genug, mein lieber Karl! Als ich blind, thöricht,
-leichtsinnig und von bösen Leidenschaften verfolgt war, fand ich der Worte
-genug, Dir zu schreiben. Jetzt bin ich am Ende. Das Glück ist stumm.
-Sei darum nachsichtig mit mir! Das beste wäre übrigens, Du kämest bald
-selbst nach Berlin und beglücktest damit Deinen
-
- stets getreuen Freund Gilbert.«
-
-
-
-
-Aus Großtantchens Hofdamenleben.
-
-
-Deutlich steht die greisenhafte, schlanke Gestalt der Cousine des seligen
-Großvaters noch vor meinem Geiste.
-
-Damals -- lange Jahre sind nun auch seitdem vergangen -- imponierte
-mir Achtzehnjährigen, die ich erst seit wenigen Monaten mit stolzem
-Selbstgefühl das Prädikat »Frau« trug und somit in Tante Babettens
-Familie hineingeheiratet hatte, diese kleine wahrhaft originelle Dame von
-vierundneunzig Jahren gewaltig.
-
-Noch niemals im Leben hatte ich einem so alten menschlichen Wesen
-gegenüber gestanden, und als ich zum erstenmal in dem mit steifer
-Empirepracht möblierten Paradezimmer mich tief zur Erde niederbückte,
-um meiner alten Verwandten, die kerzengerade und unleugbar hoheitsvoll
-von ihrem Sitze sich erhob, in Ehrfurcht die runzelige Hand zu küssen,
-da überkam mich eine Empfindung, als wäre ich um acht Jahrzehnte
-zurückversetzt, und eine jener mythenhaften Ahnmütter, deren Existenz mir
-nur dunkel vorschwebte, sei plötzlich zum Leben erwacht. Wie konnte dieses
-mumienartige, zusammengeschrumpfte Gesichtchen, mit den kaum einem Menschen
-ähnlichen wimperlosen trüben Augen noch Spuren von Leben, Geist und
-Intelligenz verraten? Was wohl würde dieses seltsame Wesen aus einer
-längst begrabenen Zeit mit mir, dem heiteren Kinde des neunzehnten
-Jahrhunderts, sprechen? War es denn möglich, daß dasselbe überhaupt noch
-Interesse zu finden vermochte an Leuten und Verhältnissen, die -- nach
-meiner Idee -- den Anschauungen jener Tage so weit entrückt lagen? Das
-alles dachte ich im ersten Moment meiner Bekanntschaft mit Tante Babette.
-
-Wie sehr sollte ich mich jedoch geirrt haben! Heute noch, nachdem der
-Greisin kleiner Körper längst von allen irdischen Mühsalen ausruht,
--- heute noch gehören alle die Stunden, welche ich in ihrer Gesellschaft
-verbringen durfte, mit zu den liebsten, heitersten Erinnerungen meines
-Lebens. Tante Babette war zwar ein Original, allein ein geistreiches,
-witziges, zuweilen etwas elegisch angehauchtes, zuweilen aber auch ein
-wenig scharf boshaftes Original. Von Gedächtnisschwäche und dem bei
-solch' hohem Alter vielleicht sehr natürlichen Verwechseln von Personen,
-Namen und Daten war an Großtantchen keine Spur zu bemerken. Staunen
-erregte es in mir wirklich, wie sie für alles, was in der eigenen Familie,
-unter ihren Bekannten, ja sozusagen in der Welt vorging, nicht bloß das
-lebhafteste Interesse bezeigte, sondern wie sie sogar in den reichen Schatz
-ihrer Erlebnisse mit einer Sicherheit und Genauigkeit zurückzugreifen
-vermochte, um dieses oder jenes interessante Stücklein oder lustige
-Episode eines langen, erfahrungsreichen Lebens ans Tageslicht zu fördern.
-
-Dreißig Jahre war Tante Babette als Hofdame bei einer thüringischen
-Herzogin gewesen, und schien es besonders diese Zeit zu sein, bei der ihr
-reger Geist am liebsten verweilte. Kam es mir, der in Andacht Lauschenden,
-dabei doch zuweilen vor, als rolle sich ein Stück Geschichte oftmals vor
-meinen Augen auf.
-
-In bunten Farben schilderte mir die alte Dame unter vielem anderen das
-amüsante Leben am zeitweiligen Hofe der Kaiserin Josephine zu Kassel,
-dessen wechselvollen Reiz Tante Babette in Begleitung ihrer Herzogin
-kennen zu lernen das seltene Glück gehabt. Mit eigenen Augen hatte sie den
-überaus glänzenden Kreis geschaut, in welchem Josephine durch Schönheit
-wie durch Geist, die Königin Hortense dagegen durch liebenswürdige Anmut
-den Mittelpunkt gebildet. Sobald sie aus jener Zeit erzählte, dann
-reckte sich die kleine, dürftige Gestalt in die Höhe, und dünkte es mir
-zuweilen, als husche dabei ein Schimmer einstiger Jugend über die welken,
-verwitterten Züge von Tante Babette, die übrigens niemals schön gewesen
-sein soll. Ganz besonders aber war es _ein_ Name, der ihre matten Augen
-stets in merkbarem Feuer aufflammen machte.
-
-Zwar bezeigte Großtantchen sich immer als gute Patriotin, hing auch mit
-Leib und Seele treu an ihrem Königshause und hatte in Preußens Sturm- und
-Drangperiode gewiß im tiefsten Innern unter des Usurpators Joch geseufzt
-und getrauert. Allein trotzdem schlug ihr Herz, wie sie mir oftmals
-versichert hatte, in einer ihr unerklärlichen, halb bangen, halb
-berauschenden Freude, wenn sie in jener aufregenden, so verhängnisvollen
-Zeit des Weltbezwingers Antlitz mit den durchdringenden, stahlgrauen
-Adleraugen einmal begegnete. Lächelnd und ungeachtet ihrer vierundneunzig
-Jahre mit fast jungfräulichem Senken der Lider gestand Tante Babette mir
-eines Tages ein, daß sie nie für einen anderen Mann geschwärmt habe, als
-für den großen Kaiser Napoleon.
-
-»Und er?« hatte ich mit schüchternem Einwurf zu fragen gewagt; worauf
-Großtantchen -- noch in der Erinnerung an die dahingegangene Jugend und
-deren mannigfache Enttäuschungen -- seufzend erwiderte, daß der Stolze,
-Gewaltige der kleinen, so wenig schönen Hofdame wohl eigentlich niemals
-Beachtung, ja kaum einen eingehenden Blick geschenkt. Und dennoch hatte
-eine Schicksalstücke an dem für eine still im Busen getragene Neigung so
-blinden, undankbaren Mann sich zu rächen ersonnen. Tante Babette sollte
-eine, wenn auch nur zweifelhaft ehrenvolle Revanche haben.
-
-Ihre eigenen, genau in der ihr charakteristischen, sentimentalen, dabei
-jedoch scharf witzigen Redeweise wiedergegebenen Worte sind es daher
-auch, welche ich hier bringe, und die in nachstehender kleinen Episode aus
-Großtantchens Hofdamenleben mir damals eben so scherzhaft als originell
-erschienen, daß ich heute, nach fast fünfundzwanzig Jahren, weder irgend
-Bedenken hegen, noch eine Indiskretion zu begehen fürchte, wenn ich sie
-wahrheitsgetreu nacherzähle:
-
-»Der Kaiser -- der Kaiser sollte auf Besuch zu meinen Herrschaften
-kommen! Gleich einem Lauffeuer durchflog diese überraschende Kunde unser
-herzogliches Schloß. Wann er eintreffen, wie lange der hohe, mächtige
-Gast in unseren bescheidenen Mauern weilen würde, davon verlautete fürs
-erste noch nichts. Mir genügte, daß er _kam_, daß ich ihn sehen, daß
-meine Füße denselben Boden berühren sollten, den er _gestreift_! Eines
-Abends war ich länger als gewöhnlich bei der Frau Herzogin in deren
-Gemächern zurückgehalten worden. Der französische Roman, welchen
-vorzulesen mir befohlen worden, hielt uns dermaßen in Aufregung und
-Spannung, daß wir der späten Stunde gar nicht gedachten. Endlich -- ich
-glaube, es schlug bereits halb zwölf Uhr -- nahm meine Gebieterin mir das
-Buch aus der Hand und hieß mich zur Ruhe gehen.
-
-»Mit tiefem Kompliment nach rückwärts hatte ich mich verneigt und war
-die Thürklinke bereits in meinen Fingern, als die hohe Frau einen seidenen
-Shawl ergriff und eigenhändig ihn mir um Kopf und Schultern schlang.
-
-»›Die Gänge des Schlosses sind kalt, und der Weg nach Ihren Zimmern ist
-weit, mein liebes Kind!‹ sagte sie dabei freundlich wie immer. ›So, nun
-aber laufen Sie recht schnell, ich wünsche, daß Ihnen niemand begegnen
-möge! Denn -- denn ...‹
-
-»Der Herzogin weitere Worte verstand ich nicht mehr, da sie mich rasch auf
-die Stirn küßte und zur Thür hinausschob.
-
-»Hu! Ich fror wirklich; wenigstens rieselte ein eigenartiger Schauer
-durch meine Glieder, einerseits verursacht durch die aufregende Lektüre,
-andererseits aus Bangigkeit, in schon so weit vorgerückter Nachtstunde den
-endlos langen Korridor des Schlosses und sogar noch eine Stiege aufwärts
-bis zu meiner ziemlich entfernten Wohnung _allein_ zurücklegen zu
-müssen. Spukgeschichten hat wohl ziemlich jedes größere, ältere Schloß
-aufzuweisen, und so kam es denn auch, daß in diesem Moment allerlei
-gruselige Dinge und Gestalten vor meinem Geiste auftauchten, um so mehr
-noch, weil man hinsichtlich der Beleuchtung in jener Zeit noch äußerst
-haushälterisch zu Werke ging und nur hier und da in den weitläufigen
-Fluren und Gängen ein bescheidenes Lämpchen anbrannte.
-
-»Thorheit! dachte ich, ärgerlich über mich selbst, und schüttelte
-das kindische Grauen von mir ab. Schnell rannte ich eine Strecke in das
-gespenstige, ab und zu von einem magischen Lichtschein unterbrochene Dunkel
-hinein. Wie unheimlich laut hallten doch meine Schritte von den hohen
-gewölbten Wänden wieder! -- Doch vorwärts mußte ich. Noch einmal holte
-ich tief Atem und lief, das Tuch fester über den Kopf ziehend, weiter.
-Beinahe war die Biegung, in welcher der lange Korridor des zweiten
-Schloßflügels und auch die Treppe zum oberen Stockwerk mündete,
-glücklich erreicht, -- da höre ich eine Thür leise öffnen und wieder
-schließen, und ein fester, energischer Tritt kommt den Gang entlang, mir
-gerade entgegen.
-
-»Entsetzt fahre ich zusammen. Das mußte ein Mann sein. Schrecklich! mich,
-der Frau Herzogin Hoffräulein, um die Mitternachtsstunde in den Gängen
-des Schlosses anzutreffen! Gerade an unserem Hofe hielt man auf strengste
-Etikette. War es aber nicht sofort erklärlich, daß ich aus den Gemächern
-meiner Gebieterin kam? Bekannt war es ja, daß diese gern sehr lange
-aufzubleiben beliebte.
-
-»Immer näher ertönen die verhängnisvollen, eigentümlich kurzen,
-energischen Schritte. Keiner der Lakaien wagte so sicher aufzutreten. So
-mußte es also wohl jemand von den Hofkavalieren sein. Wie ärgerlich,
-wie fatal! Jetzt -- neugierig spähe ich -- trotz meines fieberhaften
-Herzklopfens -- mit einem Auge aus dem mich verhüllenden Shawl. Eine kaum
-an die Mittelgröße hinanreichende, von einem weiten Radmantel bedeckte
-Mannesfigur steht vielleicht nur noch zehn Fuß von mir entfernt und
-stutzt. Gleich einem vom Geier eingeschüchterten und verfolgten Hühnchen
-ducke ich mich und krieche förmlich in mich zusammen, um mit geschickter
-Wendung an der drohenden Gestalt rasch vorbeizuhuschen.
-
-»Da -- ich glaube, jeder Blutstropfen zog sich während dieses
-entsetzlichen Augenblicks in mein armes Herz zurück und machte es fast
-springen vor Angst und Scham -- da vertritt der Unverschämte mir schnell
-und gewandt den Weg. Empört weiche ich etwas nach rückwärts, doch
-noch nicht genug; er breitet die Arme aus und drückt mein schmächtiges
-Figürchen stürmisch an die Brust.
-
-»Schreien hätte ich mögen vor Wut und Zorn. Allein was hilft das; es
-würde die böse Situation eher noch verschlimmert haben. Mein energisches
-Zerren und Winden, um die Umschlingung zu lösen, blieb wenigstens umsonst.
-Denn ein bartloses Männergesicht bog sich mit Blitzesschnelle zu meinem
-Kopfe nieder, und -- ehe ich noch so recht zum klaren Bewußtsein kam,
-brannte ein herzhafter Kuß auf meinen Lippen!
-
-»Entsetzlich! Mich, der Frau Herzogin sittsames, anerkannt prüdes
-Hoffräulein, so =sans façon= zu küssen! Wer war der Beleidiger? Das
-konnte -- das durfte ich nicht so ruhig hinnehmen.
-
-»Zum Glück vermochte der arglistige Attentäter, dem die dunkle
-Nachtstunde gerade willkommen schien, ein ahnungsloses Fräulein arglistig
-zu überfallen, mich nicht zu erkennen, indem ich das Tuch mit heftigem
-Ruck noch tiefer herabgezogen hatte. Doch zwischen den langen seidenen
-Franzen hindurch, die schützend ihm meine Züge verhüllten, sah ich nun
-direkt in ein lachendes Gesicht mit einem Paar flammensprühender Augen.
-
-»Allgütiger Gott! Der Kaiser Napoleon -- mein angebeteter Held -- mein
-Ideal war es!!
-
-»Die Füße versagten mir fast den Dienst, und es war nicht weit davon, so
-hätte ich laut aufgeschrien. In diesem Moment wußte ich wahrlich nicht,
-ob es Todesschreck -- ob es Freude war, was mir jede Spur von Fassung
-raubte. Die kraftvollen Arme gaben mich nun endlich frei, und halb
-betäubt, nur die Geistesgegenwart bewahrend, daß ich fortan mein
-Angesicht vor ihm verbarg, taumelte ich nach rückwärts.
-
-»›=Adieu, ma belle! Au revoir!=‹ tönte ein heiterer, merklich
-spöttischer Ruf mir nach. Aber wie von Furien gejagt, nicht rechts noch
-links schauend, stürmte ich meines Wegs -- die Treppe hinan und erreichte
-atemlos, dabei an allen Gliedern bebend, glücklich mein Zimmer. -- --
-
-»Den anderen Vormittag war ein großer, offizieller Empfang des Kaisers
-Napoleon bei der Frau Herzogin. Schon in der Frühe hatte die freudige,
-überraschende Kunde sich im Schlosse verbreitet, daß der Allgewaltige,
-nur von seinem Adjutanten begleitet, augenscheinlich um jeder lästigen
-Feierlichkeit auszuweichen, ganz plötzlich eingetroffen sei. Die
-glänzende Suite war dem Kaiser erst am Morgen nach jenem kleinen Abenteuer
-gefolgt. Wir drei Hofdamen, Gräfin N. N., Fräulein v. Z. und ich, standen
-zu Ehren des hohen Gastes, aufs schönste geschmückt, im Vorzimmer,
-welches direkt zu Ihrer Hoheit Privatgemächer führte, und harrten in
-Aufregung und banger Ungeduld des verhängnisvollen, so wichtigen Moments.
-Beugte sich damals doch alles vor dem siegesstolzen, durch Glück und Ruhm
-verwöhnten Mannes Haupt. --
-
-»Endlich -- Napoleon in seiner rücksichtslosen Art liebte es, auf sich
-warten zu lassen -- endlich öffneten sich die Thüren, und ein glänzender
-Zug, eingeführt durch den Hofmarschall unseres Herzogshauses, der Kaiser
-in großer Uniform an der Spitze, überschreitet die Schwelle ...
-
-»Erst nach unserer tiefen Verneigung vermochte ich in schüchternem Blick
-die Augen zu erheben zu dem angebeteten und doch wieder gefürchteten
-Manne. Stolz, gleich einem Siegesgotte, den charaktervollen Kopf in den
-Nacken zurückgelegt, einen Zug von blasiertem Hochmut und unbeugsamen
-Trotz um den festgeschlossenen Mund, -- so kam er dahergeschritten. Nun
-erst mußte er unserer ansichtig werden. Denn plötzlich stutzte er, und
-das große, stahlfarbige Auge richtete sich eine Weile mit neugierigem,
-indes scharfprüfendem Ausdruck auf uns drei Damen.
-
-»Gräfin N. N. war eine große, schlanke Blondine, Fräulein v. Z.s Figur
-zeigte auffallend üppige Formen. Beide waren um ein beträchtliches
-Teil hübscher als ich. Allein gerade an _meiner_ unbedeutenden, kleinen,
-zierlichen Gestalt blieb das Kaiserauge am längsten und eingehendsten
-haften. Fest und voll schaute er mir darauf ins Gesicht hinein. Ein Moment
-war das, wo ich am liebsten in die Erde hätte sinken mögen. Denn ich
-gewahrte, wie die scharf markierten Brauen dieses seltsamen Antlitzes sich
-finster zusammenzogen und sichtlich Zeichen von Ärger und Verdruß um die
-stolz geschwungenen Lippen sich ausprägten.
-
-»Was war das? -- Hatte er mich wiedererkannt? -- War diejenige, welcher
-sein heiterer Zuruf: ›=Au revoir, ma belle!=‹ gegolten, vielleicht
-nicht ganz nach seinem Geschmack, nicht seinen Erwartungen entsprechend? O,
-daß ich in dieser bitteren Stunde meinen so wenig anziehenden Zügen den
-Stempel der Schönheit hätte zu leihen vermögen!
-
-»Noch stolzer und steifer richtete der Kaiser sich empor, grüßte nur
-mit kurzer, vornehmer Handbewegung nach uns hinüber und verschwand in den
-Gemächern der Frau Herzogin. --
-
-»Während seines zweitägigen Aufenthalts an unserem Hofe hat der
-Allgewaltige auch nicht ein einziges Mal mit mir gesprochen. --
-
-»Eingeschüchtert und mit Thränen in den Augen habe ich jedoch später
-meiner Gebieterin diese kleine ›Aventure‹ gebeichtet. Sie lachte nur
-dazu und meinte, daß sie von der Ankunft des Kaisers an jenem Abende schon
-gewußt, es aber für besser gehalten, zu mir darüber zu schweigen. Im
-übrigen tröstete sie mich mit den heiteren Worten: ›Einen Kuß in
-Ehren, kann niemand wehren!‹ Mir aber ist es zeitlebens nicht recht
-klar geworden, worin die große Ehre dieses Kusses eigentlich bestanden.
-Wenigstens wußte ich nie, ob ich mich darüber freuen oder grämen
-sollte!« --
-
-Als Großtantchen mir jene niedliche Episode erzählte, mußte sie indes
-wohl die Enttäuschungen, welche der damalige Besuch Napoleons mit sich
-gebracht, längst verschmerzt haben. Denn auch sie lachte dabei: nur hatte
-sie die Augen geschlossen und leise flüsternd hinzugefügt: »Mein Ideal
--- mein kaiserlicher Held blieb er aber dennoch!« -- -- --
-
-Großtantchen hat das seltene Alter von 97 Jahren erreicht und
-erfreute sich bis zu ihrem eigentlich unerwartet schnellen Ende einer
-unerschütterlich guten Gesundheit. Die Kammerfrau fand die dürftige,
-kleine Gestalt derselben eines Morgens kalt und steif in ihrer, auf
-goldenen Löwenklauen ruhenden, prächtigen Empire-Bettstatt.
-
-Mir selbst, die ich am entgegengesetzten Ende Deutschlands lebte, war es
-leider nur selten beschieden, nach Thüringen reisen und die alte Verwandte
-besuchen zu können, allein wurde diese Freude mir einmal zu teil,
-so unterließ ich es sicher nicht, Tante Babette zu bestimmen, mir
-gelegentlich irgend ein interessantes Episödchen aus dem reichen
-Schatzkästlein ihrer Erlebnisse während einer dreißigjährigen
-Hofdamenzeit mitzuteilen.
-
-»Ich bitte mir aber aus, Kind, daß Du nicht etwa alle diese Dinge schon
-zu Papier bringst und drucken läßt, so lange ich noch unter den Lebenden
-weile. Wenn ich nicht mehr bin, dann magst Du nach Gutdünken damit
-verfahren,« hatte die alte Dame einmal lächelnd und mir dabei mit dem
-Finger drohend, gesagt. Ich glaube daher jetzt, nachdem Tante Babette schon
-mehr als fünfundzwanzig Jahre unter dem grünen Rasen schlummert, keine
-allzu große Indiskretion zu begehen, wenn ich das einstige Hoffräulein
-der Herzogin von X... abermals selbst reden lasse und eine ihrer
-Erzählungen hiermit aus der Erinnerung niederschreibe:
-
-»Die Geißel des Krieges und das eiserne Joch des Usurpators lastete
-schwer auf unserem armen Vaterlande. Nach den unglückseligen Schlachten
-von Jena und Auerstädt am 14. Oktober 1806 war nunmehr auch das
-gottgesegnete Thüringen der Schauplatz schrecklicher Verheerungen
-geworden. Die Felder lagen unbebaut oder waren durch endlose
-Truppendurchmärsche verwüstet, die Städte geplündert, die Dörfer zum
-teil niedergebrannt, überall Not, Krankheit und Jammer!
-
-»Um so überraschender mochte es erscheinen, daß, gleich einer Oase
-in der Wüste, unser Ländchen von allem Greuel und Ungemach des Krieges
-verschont geblieben war. Was hielt den Weltbezwinger wohl davon ab, das
-unbedeutende Herzogtum X... nicht mit gleicher Tyrannei und Willkür
-zu behandeln. Uneingeweihte mochten sich über diese sonderbare Huld
-vielleicht den Kopf zerbrechen. Allein bei uns am Hofe war es durchaus
-kein Geheimnis mehr, daß Napoleon diese Rücksicht einzig und allein
-dem Herzoge und Gemahl meiner hohen Gebieterin angedeihen ließ, der, wie
-allgemein bekannt war, eine schwärmerische Verehrung, ja, ich möchte
-sagen, glühende Anbetung für des Kaisers Person hegte und mit seinen
-Gefühlen keineswegs hinter dem Berge hielt.
-
-»Man sprach davon, daß Napoleon, der für jede Schmeichelei sehr
-empfänglich war, sich über diese in einem Männerherzen für ihn
-entflammte Leidenschaft königlich amüsierte und in einem Anfalle seiner
-unberechenbaren Launen den Befehl gegeben habe, das Herzogtum X... nicht
-allein in jeder nur erdenklichen Weise zu schonen, sondern auch von allen
-Kriegslasten zu entbinden.
-
-»Wie von seiten anderer Höfe dieser seltsame Umstand aufgefaßt und
-beurteilt, ob es dem deutschen Fürsten verdacht wurde oder ob man gar
-über ihn spöttelte, das ficht den Gemahl meiner Gebieterin durchaus
-nicht an. War es doch ein Mensch, dessen krankhaft überspannter Geist
-sich selten mit der Wirklichkeit beschäftigte, sondern sich meist in
-einer eingebildeten Welt voll eitler Hirngespinste und traumhafter Ideale
-bewegte. Der Herzog lebte nämlich in dem thörichten Wahne, das Fühlen
-und Denken, ja die Seele eines _Weibes_ zu besitzen und bemühte sich
-daher, jedwede Männlichkeit zu verleugnen und abzuschwören. Aus diesem
-Grunde drehten sich auch alle seine Gedanken und Interessen nur um Dinge,
-die im Gesichtskreise der Frau liegen.
-
-»Wer diesen eigentümlichen Mann nicht mit eigenen Augen gesehen, konnte
-sich von seiner wunderbaren Erscheinung gar keinen klaren Begriff machen.
-
-»So war des hohen Herrn Kleidung ganz ausgesprochen frauenhaft, was zu
-seinem bartlosen Gesicht mit dem weichlich elegischen Ausdruck und den
-schmachtenden großen blauen Augen allerdings nicht übel paßte. Lang
-wallende, meist weiße Gewandungen umhüllten seine etwas schlaffen
-Glieder, während das üppige, gelockte Blondhaar sich unter einer
-turbanartigen Kopfumhüllung bis tief in die Stirn hineinsenkte.
-
-»Waren wir, das heißt, die Frau Herzogin mit ihren drei Hoffräuleins,
-zu Seiner Durchlaucht zum Thee geladen, so lag Serenissimus in halb
-griechischem Kostüm mit breitem Goldgurt um die Hüften, den für einen
-Mann wirklich blendend weißen Hals und Nacken teilweise entblößt, die
-vollen, ebenfalls bloßen Arme über und unter den Ellbogen mit kostbaren
-Spangen geschmückt, auf einem Ruhebett und empfing uns, indem er sich
-graziös erhob und nach Art der Damen sich verneigte.
-
-»Niemals drehte sich die Unterhaltung um die damals alle Gemüter
-beschäftigende Politik und die aufregenden Ereignisse einer schweren
-Zeit, sondern nur um seichte französische Romane -- Hofklatsch und --
-Toilettenangelegenheiten!
-
-»Selbstverständlich waren wir Hofdamen viel zu gut geschult und nebenbei
-von einer zu innigen Teilnahme und Verehrung für unsere Gebieterin
-erfüllt, als daß wir gewagt hätten, auch nur den kleinsten Schimmer
-eines Lächelns um unsere Lippen zucken zu lassen. Die Etikette jener Zeit
-erheischte die allergrößte Rücksicht.
-
-»Daß unter den obwaltenden Verhältnissen sich unsere Frau Herzogin
-sehr unglücklich in ihrer Ehe fühlte und wohl nur die äußere Form und
-Konvenienz dieses gewiß niemals innig gewesene Band der beiden Gatten noch
-zusammenhielt, sind Dinge, auf die ich jetzt nicht weiter eingehen möchte.
-Nur einer kleinen Episode will ich noch Erwähnung thun, die wirklich
-höchst spaßig war und dem in seinen Gewohnheiten und Geschmacksrichtungen
-oftmals zur Überspanntheit hinneigenden Fürsten eine gründliche Lehre
-geben sollte.
-
-»Napoleon, der sich auf seinem Siegeszuge auf dem Wege nach Berlin befand,
-glaubte unserem Herzoge keine größere Freude bereiten zu können, als
-wenn er ihm die Ehre eines Besuches schenkte. Vielleicht waren es auch
-leise und sehr natürliche Regungen der Neugierde, den als Original
-bekannten Fürsten einmal von Angesicht zu Angesicht zu sehen, die den
-Weltbezwinger zu diesem Schritte -- persönlich nach X. zu kommen --
-veranlaßten.
-
-»Kurz, Serenissimus schwamm in einem Meer von Entzücken und ersann die
-denkbarsten und undenkbarsten Sachen, um dem vergötterten Kaiser einen ihm
-gebührenden Empfang zu bereiten.
-
-»Natürlich spielte die Toilettenfrage dabei wieder eine nicht
-unbedeutende Rolle, und mochte die gefallsüchtigste, kokettste Frau wohl
-kaum so lange über die Mittel, ihre Reize in das beste Licht zu stellen,
--- nachgegrübelt haben, als es der Herzog vor dem zu erwartenden Besuche
-des Kaisers gethan.
-
-»Vielleicht sollten wir, die am Hofe befindlichen weiblichen Elemente,
-alle in Schatten gestellt werden.
-
-»Unsere Herzogin, die durchaus keine schöne Frau war, ließ in ihrer
-edlen Herzensgüte und rührenden Bescheidenheit alles über sich ergehen.
-Daher hatte auch Seine Durchlaucht, zweifellos um seine eigene Person
-noch mehr zur Geltung zu bringen, den Empfang des hohen Gastes nach seinen
-Privatgemächern verlegt, so daß wir übrigen eigentlich nur Staffage
-bilden sollten.
-
-»Vorausschicken muß ich noch, daß Napoleon dem Herzoge bereits
-schriftlich die Stunde seines Besuches angekündigt hatte, und in diesem
-äußerst huldvollen Briefe mit einfließen ließ, derselbe möge sich
-irgend eine _Gnade_ vom Kaiser erbitten.
-
-»Und der große mit Sehnsucht und Spannung erwartete Moment kam endlich!
-War doch die Macht und das Ansehen des Mannes, der auf dem Wege war, sich
-ganz Europa zu unterjochen, eine so große, daß hoch und niedrig, alt und
-jung vor seinem bloßen Angesicht zitterte.
-
-»Von seinen Generälen, Adjutanten und einem Kreise besonders bevorzugter
-Männer umgeben, betrat Napoleon das mit verschwenderischem Luxus
-eingerichtete, jedoch an ein mit verweichlichtem, üppigen Geschmack
-ausgestattetes Frauengemach erinnernde Zimmer des Herzogs, in dessen Mitte
-ein schwellendes Ruhebett stand, von dem sich eine dem Auge eines Fremden
-ganz seltsam erscheinende Gestalt emporrichtete.
-
-»Hinter meiner Gebieterin versteckt, vermochte ich des Kaisers Züge genau
-und völlig unbemerkt zu beobachten, daher sah ich deutlich, wie plötzlich
-ein heiteres, allein merkbar spöttisches Lächeln über das ehern finstere
-Antlitz glitt und das durchdringende Adlerauge halb ungläubig, halb
-staunend an dem sich seinen Blicken Darbietenden haften blieb.
-
-»War das eine Komödie, eine ganz besondere Überraschung etwa, die man
-ihm hier vorgeführt? Was bedeutet das? -- so mochte der hohe Gast wohl bei
-sich denken, indem er sich jetzt mit fragendem Gesichtsausdrucke seitwärts
-wandte, wo mit gesenkten Lidern und sich schüchtern verneigend, meine
-Gebieterin stand! Dieser aus dem Kaiserauge sie treffende Blick war ebenso
-demütigend als niederschmetternd, das fühlte selbst ich -- die Hofdame.
-
-»Entsetzlich! In dieser merkwürdigen, von blaßrosa Seidenstoffen
-umwallten Figur, deren entblößter Hals und Arme von kostbarem Geschmeide
-strotzte, konnte Napoleon doch unmöglich den Herrn und Gebieter eines
-deutschen Fürstenstaats, den regierenden Herzog von X. vermuten! So
-weibisch verputzt, in fast lächerlichem Aufzuge, so jeder Männlichkeit
-Hohn sprechend, hatte der Weltbezwinger sich denjenigen, dessen glühende
-Anbetung er sich bisher stillschweigend gefallen ließ, doch nicht
-vorgestellt. Deutlich sah ich die tiefe Falte des Unwillens über der
-eisernen Stirn, welche nur zu wohl besagte, daß Napoleon sein Erscheinen
-in unserem Schlosse bereits bereuen mochte.
-
-»Den Herzog vielleicht ausgenommen, fühlten wir alle, daß dies ein
-furchtbar peinlicher Moment war, und schien es den Herren aus des Kaisers
-Suite wirklich Mühe zu kosten, Fassung und Contenance zu bewahren. Einige,
-wenigstens die Jüngsten davon, hatten nicht übel Lust, aller Hofetikette
-zum Trotz laut aufzulachen und ihrem Übermut und Witz die Zügel schießen
-zu lassen. Andere bissen sich krampfhaft in die Lippen und sahen unverwandt
-zu Boden.
-
-»Obwohl es auch Napoleon noch immer sehr verräterisch um die Mundwinkel
-zuckte, trat er jetzt mit hastigen Schritten der in ihrem zweifelhaften
-Liebreize vor ihm stehenden rosaumhüllten Gestalt entgegen, maß dieselbe
-mitleidigen, spöttischen Blickes und sagte in seiner bekannten schroffen
-Art:
-
-»›Fürwahr, ein sonderbarer Empfang! Aber Wir nehmen ein gegebenes Wort
-niemals zurück. Durchlaucht dürfen Sich von Uns eine Gnade erbitten. Sie
-soll gewährt sein. =Eh bien?=‹
-
-»Die vollen weißen Arme verlangend nach dem Kaiser ausgestreckt, die
-blauen Augen in einem Ausdruck schwärmerischer Sinnlichkeit zu des
-Weltbezwingers Antlitz emporgeschlagen, flüsterte der Herzog mit
-frauenhaft sanfter Stimme, aber laut genug, um von den Anwesenden
-verstanden zu werden: ›=Un baiser, Sir!=‹
-
-»Für Sekunden war es, als ob der lähmende Druck einer Erstarrung auf
-uns allen lastete. Wahre Totenstille herrschte ringsum, weil wohl jeder
-befürchten mochte, daß jetzt sicherlich ein brüskes, spottgefärbtes
-Lachen oder gar der Ausbruch jenes zügellosen Zornes -- vor dem Europa
-zitterte -- von den Lippen des Allgewaltigen hervorbrechen würde.
-
-»Nichts davon. Trotzdem mir unter dem knappen Atlasleibchen das Herz in
-wilden Schlägen hämmerte, verwandte ich von Napoleon keinen einzigen
-Blick.
-
-»Jetzt richtete sich die kleine Gestalt in der ihr eigenen hochmütigen
-Weise stolz empor -- das stahlgraue Auge verfinsterte sich merklich, doch
-ohne daß in den charaktervoll wie gemeißelt erscheinenden Zügen der
-geringste Schimmer von Bewegung sichtbar wurde, stieß er schroff und
-verächtlich hervor: ›=Vous êtes un fou! Adieu!=‹
-
-»Sprach's und verließ, von seiner glänzenden Suite gefolgt,
-unverzüglich das Gemach.
-
-»So kläglich endete des Kaisers Besuch an unserem Herzogshofe.«
-
-
-
-
-Unter dem Niagara-Falle.
-
-
- Niagara-Falls, den 18. Oktober.
-
- Teure Carrie!
-
-Der glühendste Wunsch meines Lebens ist wirklich in Erfüllung gegangen.
-Ich bin unter dem Niagara-Falle gewesen! Nicht allein, daß es mir
-vergönnt war, das kolossalste Naturschauspiel unserer Erde zu bewundern,
-in stummer, staunender Erstarrung versunken, die gigantischen Fälle in die
-Tiefe stürzen zu sehen, während mir dabei ein eisiges Gruseln über jenes
-Wunder durch die Glieder bebte, -- nein, Carrie, Herzensschwester, in
-die berühmte =cave of the winds= (Windhöhle) bin ich mit Papa
-hinabgestiegen! --
-
-Von Goat-Island aus ist es möglich, unter die Fälle zu gelangen, oder
-richtiger gesagt: unter den Raum zwischen der Felsenwand und den über
-dieselbe hinabstürzenden Fluten des amerikanischen Falles. Kaum glaublich
-ist das, und doch ist es nur der kleinste Teil der mächtigen Katarakte,
-unter welche ein menschliches Wesen sich wagen kann.
-
-Indes ist es durchaus nicht meine Absicht, Dir, Du Hasenfuß, der aus purem
-Mangel an Courage sich an unserer schönen Partie nicht beteiligen wollte,
-eine eingehende Naturbeschreibung zum besten zu geben. Wenn es Dich
-interessiert, so nimm Dir ein Reisehandbuch vor, und Du bist schneller
-orientiert, als ich es zu thun vermöchte. Nur von einem allerliebsten
-Abenteuer muß ich Dir noch berichten. Denke Dir: ein Abenteuer unter dem
-Niagara-Falle! So etwas erlebt ein einfacher Sterblicher, ein Mädchen von
-neunzehn Jahren, und noch dazu eine Deutsche, nicht oft im Leben!
-
-Höre also!
-
-Der Fremden-Andrang an den Fällen war, wohl der vorgerückten Jahreszeit
-wegen, nicht mehr sehr groß. Nur fünf Personen, darunter Papa und ich,
-machten sich auf den Weg nach der Windhöhle; ich als die einzige Dame,
-was meinen Stolz nicht wenig hob, besonders, da man mir von verschiedenen
-Seiten das wirklich Gefährliche und Anstrengende unseres Unternehmens
-klar zu legen sich bemühte. Vor allem war es ein junger Deutscher, --
-die Visitenkarte, welche er uns reichte, lautete: »Arnulf Clemens,
-Privatdocent. Berlin«, -- der fast außer sich darüber geriet, als er
-erfuhr, daß ich die Herren begleiten, mein blutjunges Leben, wie er feurig
-sich ausdrückte, diesen elementaren Mächten der Tiefe preisgeben wolle.
-Er selbst habe den Weg durch die Windhöhle in wissenschaftlichem Interesse
-schon einmal gemacht, kenne daher die gefährliche Passage ziemlich genau,
-worauf er dann noch eine schauerliche Schilderung derselben folgen ließ.
-Doch ich blieb unerschütterlich und lachte. Nichts in der Welt hätte mich
-auch von meinem Vorhaben abzubringen vermocht. Hatte mein Widerstand den
-Deutschen verletzt oder gekränkt? -- ich weiß es nicht. Wenigstens verlor
-ich ihn bald darauf aus dem Gesicht, das heißt, sein Gesicht verlor sich
-unter der riesigen Kapuze des sogenannten »wasserdichten« Anzuges
-aus safrangelbem Wachstuch, womit man uns vom Kopfe bis zu den Füßen
-bekleidete. Nebenbei vervollständigten monströse Filzpantoffeln, die
-einem jeden von uns unter die Füße gebunden wurden, die originelle
-Toilette. Das Betreten des nassen, schlüpfrigen Gesteins wäre
-ohne letztere auch eine Unmöglichkeit. Und so traten wir, derartig
-ausgerüstet, die Reise nach der Unterwelt an.
-
-Aber, o Carrie! Deine waghalsige kleine Schwester hatte doch ihren Mut und
-ihre Kräfte überschätzt.
-
-Gar schnell verschwand das übermütige Lachen von meinem Gesicht, und fast
-bereuete ich, Mr. Clemens' wohlmeinender Warnung kein Gehör geschenkt zu
-haben. Ein unheimliches Brausen und wahrhaftes Donnergetöse umfing uns
-bald, und der ungeheure Luftdruck, durch die Gewalt und Geschwindigkeit des
-herabstürzenden Wassers verursacht, übte einen so beklemmenden Einfluß
-auf unsere Lungen aus, daß man kaum zu atmen vermochte. Über unsere
-Häupter hinweg raste und rauschte die Wasserflut mit betäubendem Gebrüll
-in den Abgrund, dicke, graue Nebeldämmerung und fortwährender feiner
-Regen erfüllte die Atmosphäre ringsum, während von Zeit zu Zeit
-brausende Schaumwolken weißen Gischtes bis zu uns heranschlugen.
-
-So ging man langsam aus dem nur durch ein höchst primitives Geländer
-geschützten Wege vorwärts. Drei vermummte Gestalten bewegten sich vor
-mir; ich selbst wankte hinterdrein, und zuletzt schritt noch ein Mensch, es
-konnte nur Papa sein, der bisher dicht an meiner Seite geblieben war.
-
-Überwältigend und kaum mehr erträglich wirkte auf mich das furchtbare
-Tosen. O spotte meiner deshalb nicht! Denn was sind Menschennerven
-gegenüber jenen entfesselten Naturgewalten. Du wirst es daher natürlich
-finden, daß wir nicht lange in diesem schauerlich schönen Raume blieben.
-Die Großartigkeit der Windhöhle spottet überhaupt jeder Beschreibung.
-
-Dann kehrte ein jedes auf dem Absatz um und, äußerst vorsichtig, Schritt
-um Schritt genau beachtend, tappte man den lebensgefährlichen Weg wieder
-rückwärts. Da überkam mich plötzlich ein derartiger Schwindel, daß ich
-die Füße nicht mehr zu heben vermochte und die Augen schließen mußte.
-Das Geländer umklammerte ich krampfhaft und taumelte hin und her. Im
-Moment aber umfaßten auch schon zwei starke Arme meine bebende Gestalt
-vorsorglich. Nur denken konnte ich noch: »welches Glück, daß Papa neben
-mir ist!« Dann schmiegte ich mich halb besinnungslos, allein glücklich
-und beruhigt, an die treue Brust.
-
-Indes währte diese vorübergehende Schwäche wohl kaum zwei Minuten.
-Da schlug ich die Augen auf und drängte wieder vorwärts. Dort, ein
-ziemliches Stück von uns entfernt, schritten bereits die übrigen, die
-während dem vorgekommen waren. Mutig raffte ich mich daher empor. Und, dem
-Himmel sei gedankt, endlich wurde es auch heller, das fürchterliche Sausen
-und Brausen verminderte sich. Freier vermochten die Lungen wieder zu atmen,
-und schon drang Tagesschein bis zu uns. Nur ein kurzer Pfad noch aufwärts,
-und, -- Gott Lob, wir waren gerettet! Freudetrunken schaue ich zurück, um
-für meine Heldenthat von Papa mich beglückwünschen zu lassen, -- da, --
-o Schrecken! -- der Deutsche, Mr. Arnulf Clemens, war es, der mir folgte.
-Die Kapuze hatte er abgeworfen, und übermütig lachten seine blauen Augen
-mich an.
-
-Gräßlich, Carrie! Nicht wahr? Von seinen Armen umschlungen, habe ich
-an seiner Brust geruht! Verwünscht habe ich in diesem Momente alle meine
-Niagarasehnsucht. Ich hätte mich selber ohrfeigen mögen.
-
-Was aber half es? Mußte ich nicht noch gute Miene zum bösen Spiele
-machen? Das heißt, ich glaube, daß ich mit wütendem Gesichte gestammelt
-habe: ich hätte Papa hinter mir vermutet. Innerlich schäumte ich und nahm
-mir fest vor, dem zudringlichen Patron meinen Zorn fühlen zu lassen.
-
-Auf dem Rückwege nach dem Hotel wich er noch dazu nicht von meiner
-Seite, als ob der mir geleistete Dienst ihm etwa gar das Recht einräume,
-fernerhin meinen Beschützer zu spielen. Nebenbei entwickelte er eine echt
-deutsche Redseligkeit, um mich zu unterhalten.
-
-Vorausschicken muß ich übrigens, daß er kein übler Mann ist, --
-gewiß nicht, Carrie! Elegante Figur; zwar nicht besonders hübsch, aber
-hervorragend intelligent ist sein Gesicht, die Augen könnte man sogar als
-schön bezeichnen. Sie sprudeln von Geist und lachen von Herzensgüte. Eine
-tiefe Narbe, wahrscheinlich eine Reminiscenz aus der Studentenzeit, zieht
-sich über die linke Backe hin. Allein der Mensch hatte sich meine vollste
-Ungnade zugezogen, und dafür sollte er büßen.
-
-Eine günstige Gelegenheit fand sich rasch genug, indem er, da wir deutsch
-sprachen, seine Freude ausdrückte, in mir eine Landsmännin zu begrüßen.
-Die Männer besitzen alle eine gründliche Portion Neugierde, und so
-schlich er denn, wie man in unserem alten lieben Deutschland zu sagen
-pflegt, gleich der Katze um den heißen Brei. Er tippte hier, -- er tippte
-dort an; kurz, er brannte darauf zu erforschen, wer wir seien.
-
-Aha, dachte ich, das ist die Falle!
-
-Endlich erkühnte er sich, zu fragen, ob wir stetig oder nur vorübergehend
-in den Vereinigten Staaten wohnten!
-
-»Stetig. Der Beruf und die so überaus einträgliche Stellung meines
-Vaters hält ihn in Amerika fest,« log ich in größter Gemütsruhe.
-
-»Advokat? Politiker offenbar?« forschte er weiter.
-
-»O nein!« entgegnete ich mit der ernsthaftesten Miene der Welt. »Papa
-ist der -- Totengräber von New York!«
-
-Bin ich nicht ein gräßliches Mädchen, solch' haarsträubenden Unsinn zu
-sprechen, Carrie? =Dear old Pa?= Ich könnte mich tot lachen über meinen
-Witz. Und doch, -- im Moment, da die Lüge heraus war, that er mir leid.
-Denn das bisher überaus fröhliche Gesicht meines Begleiters nahm einen so
-erschreckten, traurigen Ausdruck an, als ständen wir plötzlich inmitten
-des großen Gräberfeldes von Greenwood-Cemetry in der Zeit, wo die Uhr die
-Geisterstunde schlägt, -- huh!
-
-Armer Arnulf Clemens!
-
-Er verbeugte sich höflich, indes merklich steif gegen mich, und wir legten
-schweigend den Weg nach dem Hotel zurück. Die Medicin that demnach bereits
-ihre Wirkung. Auffallende Abkühlung! Die erhöhte Temperatur seines Blutes
-sank auf den Normalstand zurück!
-
-Während des Lunch saß Mr. Clemens Papa und mir schräg gegenüber und
-unterhielt sich lebhaft mit unseren Reisebegleitern. Nur ab und zu streifte
-mich ein scheuer -- unsäglich trauriger Seitenblick. Aus den Gesprächen
-vermochte ich jedoch so viel zu entnehmen, daß Arnulf Clemens Geologe
-sei und eine sechs- bis achtmonatliche Studienreise nach den Vereinigten
-Staaten unternommen habe. Darauf sprachen die Herren schrecklich gelehrte
-Dinge, über Schliemann, über die alten Ruinen des Forts Ticonderoga
-am Champlain-See, über die wunderbare Bodenbeschaffenheit im
-Yellowstone-Park, und mehr dergleichen. Ich merkte es Papa an, wie gern er
-an dieser wissenschaftlichen Unterhaltung sich beteiligt hätte. Allein,
-da ich ihn bereits vor dem Frühstücke von meinem Scherze in Kenntnis
-gesetzt, so that er mir wirklich den Gefallen, mich nicht zu blamieren,
-und vertiefte sich statt dessen lediglich in die Wissenschaft der
-»Gastronomie«. Dabei legte er auch einen so indifferenten, fast
-möchte ich sagen stumpfsinnigen Ausdruck in sein liebes Gesicht, der dem
-Totengräber von New York wahrhaftig alle Ehre machte. Im übrigen zürnte
-er mir durchaus nicht und äußerte, mit dem Finger drohend, bloß, daß
-ich ein loser Schelm sei! -- Eine Stunde später dampften wir zurück nach
-New York. --
-
-Vollkommen befriedigt war meine wißbegierige Seele von unserem Ausfluge.
-Auch Papa zeigte sich in bester Laune, schwatzte heiter und machte schon
-Pläne für die nächste Sommerferienreise. Und dennoch -- mir, Carrie,
--- nun bitte ich wiederum, mich nicht auszulachen --, mir war das Herz
-ein wenig schwer! Warum? Ja, das wußte ich selbst nicht. Du Vernünftige,
-Vortreffliche, Du, mein besseres Ich, -- Du würdest sagen: das ist die
-Reue über eine böse That! Vielleicht hättest Du recht. Der tieftraurige,
-erschreckte Blick aus Mr. Arnulf Clemens' blauen Augen peinigt mich
-zuweilen fürchterlich. Die Strafe dafür, daß sein schützender Arm eine
-schwankende Mädchengestalt im Momente der Gefahr gehalten und an sich
-gedrückt, war wohl doch zu grausam? --
-
-So endete mein Abenteuer unter dem Niagara-Fall. Gehab' Dich wohl,
-amüsiere Dich gut bei unseren Freunden in Washington und schreibe
-gelegentlich einmal an
-
- Deine kleine Schwester Terrie.
-
- * * * * *
-
- Washington, den 10. November.
-
- Meine liebe Terrie!
-
-Dein frommer Wunsch: amüsiere Dich gut bei unseren Freunden in Washington
-hat sich glänzend erfüllt. Die letzten Wochen brachten eine solche Fülle
-von Abwechselungen und interessanten Bekanntschaften, daß ich Dich um Dein
-spaßiges Niagara-Abenteuer wahrlich nicht beneide.
-
-Unsere guten Newtons sind Menschen, welche sehr hohe Achtung und große
-Liebe hier genießen, so daß jeder, der zum Besuche in ihrem Hause weilt,
-täglich mehr von dem Werte dieses vortrefflichen Ehepaars überzeugt wird.
-Mich verhätscheln sie fast wie ein Baby und sinnen nur immer darauf, mir
-neue Amüsements zu verschaffen. Daher werde ich so bald nicht heimkehren,
-und Du wirst für unseren guten Papa noch einige Zeit allein Sorge
-tragen müssen. Ach, Terrie, es ist so wundervoll, sich einmal von einem
-Mütterchen ein bißchen verwöhnen zu lassen und zu fühlen, daß ...!
-
-Doch davon später! --
-
-Dein allerliebstes Abenteuer unter dem Niagara, welches mich höchlichst
-amüsiert und meine prüde, schnell aufbrausende Terrie wieder einmal recht
-charakterisiert hat, sollte ein Nachspiel finden --; staune nur! Und das
-habe ich erlebt! Mich hatte das Schicksal auserkoren, die Sünden meiner
-herzlosen Schwester zu sühnen!
-
-Trotz der ziemlichen Entfernung zwischen Washington und New York, höre ich
-bei diesen Worten Dein Herz klopfen, -- sehe auch deutlich, wie unruhig und
-ängstlich Deine Augen flackern. Allein Du mußt noch einige Minuten
-Geduld haben, mein teures Schwesterchen, und mich erst in Ruhe über diese
-komischste aller irdischen Zufälligkeiten Bericht erstatten lassen.
-
-Es war bei einer reizenden =Tea-party= bei dem Präsidenten der Vereinigten
-Staaten. Schon hieraus magst Du ersehen, welch bevorzugtes Menschenkind ich
-bin, daß sogar die exklusiven, geheiligten Räume des weißen Hauses sich
-für mich geöffnet haben.
-
-Also: das glänzende Fest war bereits in vollem Gange, -- übrigens wurde
-auch getanzt, -- als aus den dichten Reihen der jüngeren Herren die
-Gestalt eines Mannes sich löste, welche sofort meine ganze Aufmerksamkeit
-in Anspruch nahm. Elegante Figur, -- intelligentes Gesicht mit einer tiefen
-Narbe über der linken Backe, -- schöne, geistvolle blaue Augen!
-
-Die schäumenden Wasser des Niagara-Falles, die safrangelbe Kapuze, meine
-halbohnmächtige, kleine Schwester und, -- der Totengräber von New York,
--- das alles tauchte plötzlich zündend vor meinem Geiste auf.
-
-Eine Pause nach dem Tanze war eben eingetreten, und ich lehnte mich, ein
-wenig ermüdet, an einen der riesigen Gas-Kandelaber des Saales, das bunte,
-reizvolle Bild gedankenvoll überschauend. Wahrhaftig! Der bewußte Herr
-schreitet schnurstracks auf mich zu. Was sollte das wohl bedeuten? -- Das
-Herz pochte mir zwar eben nicht; aber etwas Unruhe, oder vielmehr
-Unbehagen beschlich mich dennoch. Denn daß ich dem Mr. Arnulf Clemens,
-Privat-Docenten aus Berlin, gegenübertreten sollte, war zweifellos. Ebenso
-zweifellos aber erblickte er in mir die liebliche Nymphe des Niagara.
-
-Offen gestehe ich Dir ein, daß die frappante Ähnlichkeit mit Dir, welche
-bisher meinen Stolz und das Glück meines Lebens bedeutete, mir in
-diesem Momente zum erstenmale peinlich wurde. Hatte der junge Mann den
-schändlichen Betrug entdeckt? Wohl sicher nicht, folgerte ich ziemlich
-richtig. Denn dann würde er in der Empörung seines Herzens Dich gewiß
-mit Verachtung gestraft und die frühere Begegnung völlig ignoriert haben.
-
-Nein! Ersichtlich war es ja, daß er jene flüchtige Bekanntschaft mit
-Dir zu erneuern wünschte, daß das lebhafte Interesse für meine boshafte
-kleine Schwester ihm rasch über alle etwaigen Bedenken hinweggeholfen.
-Warum soll die Tochter eines »Totengräbers« nicht eine reizende,
-feingebildete junge Dame sein, für welche ein feuriges Mannesherz
-sich begeistern kann, zumal, wenn man dieselbe auf dem Balle bei
-dem Präsidenten der Vereinigten Staaten antrifft? -- Amerikanische
-Verhältnisse sind eben andere, als deutsche. So viel hatte Mr. Clemens
-sicher schon ausfindig gemacht während des hiesigen Aufenthaltes. Ich
-hätte sogar darauf schwören wollen, daß er, als er den heroischen Anlauf
-nahm, zu mir heranzutreten, hinter seiner klugen Stirn kombinierte und
-meinte, ein Totengräber in Amerika nähme mindestens die hohe Stellung
-eines deutschen Geheimrates ein. Und das besiegte entschieden die letzten
-Skrupel.
-
-Den vollendeten Kavalier verratend, indes nicht etwa mit einem
-tieftraurigen Blicke, verbeugte sich Mr. Arnulf Clemens vor mir und fragte
-artig: ob die Partie nach der Windhöhle mit all den großen Anstrengungen
-und Fatiguen auch keine üblen Folgen für mich gehabt? Und lächelnd
-setzte er hinzu:
-
-»Sie waren an jenem Morgen so schnell abgereist, daß ich gar nicht mehr
-Zeit gefunden, mich bei Ihnen zu verabschieden.«
-
-Was sollte ich thun? Irgend ein witziger, oder wenigstens witzig sein
-wollender Mensch hat einmal geäußert, daß junge Mädchen im Alter von
-fünfzehn bis neunzehn Jahren in für sie kritischer Situation, selbst wenn
-ihnen das Weinen nahe sei, nichts klügeres thun könnten, als -- immer nur
-lachen!
-
-Gut! Da ich eben erst neunzehn Jahre geworden bin, so lachte ich.
-
-Mein Lachen schien ihn jedoch noch mehr zu ermutigen. Denn mit einem
-schwärmerischen Aufschlage seiner schönen Augen fragte er weiter, ob
-der gemeinsame interessante Ausflug nicht doch sehr reizvoll und poetisch
-gewesen sei? Er selbst wäre seitdem wie von einem wunderbaren Zauberbanne
-umfangen. Sicherlich müßten Nixen und Geister der Tiefe in der Windhöhle
-ihr Wesen treiben.
-
-Nun war aber der Moment gekommen, ihn über die Täuschung, in der er
-schwebte, aufzuklären.
-
-»Sie irren, mein Herr!« entgegnete ich ebenfalls sehr höflich, doch
-glaube ich, daß mir dabei der Schalk um die Mundwinkel zuckte. »Meine
-Augen haben das große Schöpfungswunder, den Niagara-Fall, niemals
-geschaut. Meine Schwester war es, mit der Sie dort zusammengetroffen
-sind.«
-
-Fast ungläubig stutzte er und schien forschend meine Züge zu mustern,
-während Ärger und Verlegenheit deutlich über sein Gesicht huschten.
-
-»O, verzeihen Sie! Diese fabelhafte Ähnlichkeit, mein Fräulein! Ich
-konnte unmöglich ahnen ...!« stieß er lebhaft hervor.
-
-»Wir sind auch Zwillings-Schwestern!« kam ich ihm mitleidig zu Hilfe.
-
-Darauf wollte er sich mir noch einmal in aller Form vorstellen; doch war
-ich so unbedacht, zu verraten, daß Du mir von ihm bereits geschrieben,
-und er daher mir kein völlig Fremder sei. Merkwürdig strahlten bei dieser
-Nachricht seine blauen Augen auf. Ich glaube, Terrie, die Nixen der Tiefe
-haben es ihm gewaltig angethan.
-
-Die Musik rief jetzt zur Quadrille, zu der mich Mr. Clemens
-pflichtschuldigst aufforderte. Da indes genügend Paare vorhanden waren,
-und wir beide eben keine große Lust zum Tanzen verspürten, so behielten
-wir unseren Platz inne und plauderten weiter.
-
-Deine Beschreibung seines Äußeren paßt übrigens vollkommen; ich habe
-ihn auch sofort erkannt. Allein, wenn Du Dich gleich mir eine Viertelstunde
-mit ihm unterhalten hättest, würdest Du jene häßlichen Worte:
-»zudringlicher Patron« ihm im stillen abbitten. Ich finde Arnulf Clemens
-nicht nur liebenswürdig und charmant, sondern ich bin sogar überzeugt,
-daß er ein ganz vortrefflicher Mensch ist. Doch brauchst Du, wenn dieser
-Mann sich nicht von vornherein Deine vollste Ungnade zugezogen, Dir somit
-also höchst gleichgültig ist, nicht im geringsten auf mich eifersüchtig
-zu sein, aus Gründen, die ich Dir am Schlusse meines Briefes mitteilen
-werde.
-
-Rührend sprach er von seinem lieben, alten Mütterchen in der Heimat und
-von zwei jungen, unmündigen Brüdern, für die er arbeitet, und welchen
-eine Stütze zu sein, bisher seine Lebensaufgabe gewesen. Nach der
-Rückkehr von dieser Reise hoffe er eine Professur an einer hervorragenden
-Universität zu erlangen. Jedes Wort, das er sprach, ja sein ganzes Sein
-und Denken erschien so treuherzig, edel und wahr, daß es mich wirklich
-fast schmerzte, wie Du an diesem Manne frevelhaft Dein Mütchen hast
-kühlen können. O schäme Dich, böse Terrie!
-
-Gleich alten Bekannten plauderten wir zusammen, sodaß er ganz vergessen
-zu haben schien, eine fremde junge Dame vor sich zu haben, und gewiß kaum
-mehr daran dachte, daß wir des »Totengräbers« Töchter seien. Um
-ein Haar wäre ich auch selbst bald aus der Rolle gefallen, indem ich
-unvorsichtigerweise äußerte: Du seiest seit drei Wochen mit Papa wieder
-in New York, da die Herbstferien zu Ende gegangen, und ersterer betreffs
-des Winter-Semesters sehr in Anspruch genommen würde.
-
-Der starre, fragende Blick des jungen Mannes brachte mich indes schnell zur
-Besinnung. Seine Stirne zog sich in Falten, und schweigend schaute er zu
-Boden. Offenbar mußte er darüber nachsinnen, wie komisch es klinge, daß
-auch Totengräber Ferienreisen unternähmen, oder ob die Sterblichkeit in
-Amerika wohl in Semester eingeteilt wäre.
-
-Herzlich gern hätte ich ihm jetzt gesagt, daß Du einen Scherz mit ihm
-getrieben, so leid that er mir in diesem Momente. Aber ich durfte Dich
-ja nicht gar zu sehr kompromittieren und wartete mithin eine günstige
-Gelegenheit ab, ihm die Wahrheit zu gestehen.
-
-»Nach den Mitteilungen Ihrer Fräulein Schwester ist der Beruf Ihres Herrn
-Vater ein ernster und schwerer?« warf er schüchtern und etwas unsicher
-ein.
-
-»Ernst wohl, aber nicht schwer, da Papa sich ihm mit Leib und Seele
-hingiebt, und die Passion alle Mühseligkeiten desselben überwindet,«
-entgegnete ich mit schlecht unterdrücktem Lächeln.
-
-Wieder sah er mich von oben bis unten fragend an. »Passion zum
-Totengräber!« mochte er wohl denken.
-
-»Sie, Mr. Clemens, müssen das doch am besten begreifen und verstehen,«
--- sprach ich inzwischen lebhaft weiter, -- »daß ein Mann im Feuereifer
-des Studiums und Forschens, wie es Papa zuweilen thut, die lichte, sonnige
-Gegenwart, -- die Welt mit ihren Freuden und Genüssen völlig vergessen
-kann, um des -- Verblichenen, -- ja um des Staubes der Vergangenheit
-willen!«
-
-Das kluge Auge richtete sich einige Sekunden prüfend und beinahe streng
-auf mein lachendes Gesicht. Ohne Zweifel konnte er die innere Verbindung
-meines Ideenganges nicht finden.
-
-»Ich?« fragte er daher halb unwillig.
-
-»Nun ja! Sagten Sie mir nicht soeben, daß Sie Geologe seien? So ein klein
-wenig geistige Verwandtschaft besteht dann wohl zwischen Ihnen und Papa,«
-war meine heitere Antwort, indem ich fortwährend sein immer finsterer
-werdendes Gesicht beobachtete.
-
-»Ich weiß nicht, mein Fräulein, ob Sie Scherz mit mir treiben, oder
-ob ich selbst in einem argen Irrtume befangen bin?« sagte er in einem
-steifen, völlig veränderten Tone. »Denn alles, was Sie in den letzten
-fünf Minuten gesprochen haben, erscheint mir dermaßen unverständlich und
-rätselhaft, daß ich wirklich bitten muß, sich ein wenig deutlicher zu
-erklären!«
-
-»Aber, mein Gott, wie so denn? Was ist Ihnen nicht klar? Ich scherze
-wahrhaftig nicht!« rief ich in ungeduldiger Hast und Erregung.
-
-»Nicht?!« fragte er immer noch ungläubig. »Dann verzeihen Sie meine
-Indiskretion und sagen Sie mir, welche Stellung Ihr Herr Vater eigentlich
-bekleidet?«
-
-Jetzt pochte mein Herz wirklich. Allein in möglichster Unbefangenheit
-erwiderte ich:
-
-»Papa ist Professor der toten Sprachen an der Universität von New York.«
-
-»Ah!« Mr. Clemens war einige Schritte zurück getreten und starrte, wie
-ein Mensch, der aus festem, gesunden Schlafe jäh aufgerüttelt wird, mich
-an.
-
-»Gewiß, mein Herr!« bestätigte ich mit stolzem Selbstgefühle. »Und
-einen Ruf besitzt Papa, der weit über die Grenzen von United-States
-hinausgeht!«
-
-»Ja --, aber mein Himmel! Dann muß ich Ihr Fräulein Schwester ganz und
-gar mißverstanden haben,« stotterte Mr. Clemens in höchster Verwirrung.
-
-Ein wunderbar glückseliger Ausdruck breitete sich mit einem Male über
-seine treuherzigen Züge, als er fortfuhr:
-
-»Sie sagte mir doch, daß ...«
-
-»Wohl möglich,« unterbrach ich ihn herzlich lachend. »Doch wie kann man
-auch in nächster Nähe des Niagara-Falles, der, wie Terrie mir schrieb,
-solch ein Höllengetöse verursacht, daß der abgefeuerte Schuß einer
-Kanone ungehört verhallen würde, -- wie kann man also dort jemanden recht
-verstehen?«
-
-In selige Träume und Erinnerungen versunken, nickte er nur mit dem Kopfe.
-
-»Terrie, Deine Ehre war gerettet!« --
-
-Das also ist _meine_ Begegnung mit Mr. Arnulf Clemens im Weißen Hause.
-Übrigens sagte er mir, ehe wir uns trennten, daß er in den allernächsten
-Tagen nach New York zu reisen und Euch aufzusuchen gedächte. Hüte Dich
-daher, kleine Schwester! Die Nixen der Windhöhle sind arge Neckteufelchen,
-die sich an allzu wißbegierigen Menschenkindern gar zu gerne rächen.
-
-Wie Du, Mr. Clemens gegenüber, Dich dann aus der Schlinge ziehen wirst:
-ob Du es bei dem »Mißverständnisse« bewenden lassen, oder ob Du lieber
-beichten willst, das werden die eigenen Gefühle Dir wahrscheinlich am
-besten sagen, meine Terrie!
-
-Giebt es doch in der ganzen Welt nichts Unberechenbareres,
-Widerspruchsvolleres, als ein Mädchenherz. Man könnte wirklich Bücher
-darüber schreiben. Weißt Du noch, wie ich selbst immer über die Liebe
-gespöttelt und stets so übermütig -- prahlerisch geäußert habe, daß
-dieser süße Dämon niemals Gewalt über mich bekommen würde? Wer solchen
-Ausspruch thut, ist -- eine Närrin; denn ...!
-
-Doch ich muß schließen; Mütterchen ruft nach mir, weil Gilbert
-Newton, der einzige Sohn des Hauses, ein junger Schiffs-Kapitän, der ein
-auffallend schöner Mann ist, soeben ankam, und ich ihn unterhalten soll.
-Wahrhaftig, Terrie, er ist der interessanteste Mensch, welcher mir jemals
-begegnete, -- voller Geist und Feuer! Es leben die Amerikaner!
-
-Schreibe bald von Mr. Arnulf Clemens' Besuch und sei umarmt von
-
- Deiner glücklichen Schwester Carrie.
-
-Nachschrift.
-
-Vielleicht kehre ich doch noch früher heim, als ich anfänglich gedacht,
-da Newtons beabsichtigen, selbst mich nach New York zurück zu bringen. Das
-wird ja ein herrliches Wiedersehen werden! Gut wäre es aber jedenfalls,
-wenn Du Papa langsam auf diesen unverhofften Besuch vorbereiten
-wolltest. --
-
- * * * * *
-
- New York, den 20. November.
-
- Du böse, liebe Carrie!
-
-Was hast Du da angerichtet? Zur Strafe für Deine Schwatzhaftigkeit sollst
-Du jedoch die Antwort auf Deinen Brief heute nur in Form einer Depesche
-erhalten, welche wohl genügen dürfte, Dich über die Begebenheiten der
-letzten Tage aufzuklären. -- Also:
-
-»Verratenes Inkognito! Mr. Clemens' Reise nach New York. Schüchterner
-Empfang und fieberhaftes Beben aller Glieder meinerseits. Wiederholte
-Besuche seinerseits. Niagara-Nixen begannen ihr Spiel. Unumwundene Beichte
-aller losen Streiche. Seliges Finden, -- Verlobung! Es leben die Deutschen!
-
- Deine Terrie.«
-
-Nachschrift.
-
-Arnulf schaut mir über die Schulter und findet diese lakonische Kürze
-meines Briefes fast beleidigend. Er läßt Dir daher sagen, daß er dem
-Feste im Weißen Hause und der witzigen Unterhaltung mit einer gewissen
-liebreizenden Blondine, die ein gütiges Geschick ihm als Schwägerin
-auserkoren, zwar viel, -- sehr viel verdanke; aber jene unvergessene Stunde
-unter dem Niagara-Falle hätte es ihm nun einmal angethan, und würde er
-sich das Mädchen, welches damals so kindliche Hilfe suchend sich an seine
-Brust geschmiegt, zur Lebensgefährtin zu erringen getrachtet haben, auch
-wenn es -- des Totengräbers Töchterlein geblieben! --
-
-
-
-
-Zahnschmerzen.
-
-
-»Schneller Entschluß -- guter Entschluß!« heißt es im alten
-Sprichwort. Ich möchte aber lieber sagen: »eine Laune« hatte mich im
-Jahre 1876 zur Weltausstellung nach Philadelphia geführt.
-
-Ein ziemliches Stück von Europa war ich bereits durchwandert; nur Amerika
-kannte ich noch nicht. Allerdings waren es keine besonderen Sympathien,
-die mich hinüber ins Land des allmächtigen Dollars zogen; aber es reizte
-mich, den Urtypus des Yankee gerade in dem Momente kennen zu lernen, wo die
-sonst kühl-materielle und egoistische Nation in vollster, ungeheuchelter
-Begeisterung über die Centennialfeier, das Bestehen ihrer hundertjährigen
-Freiheit, sich befand, wo ungeteilte Freude und Einigkeit herrschte und
-geherrscht hat -- während der Julitage des Jahres 1876 in der Stadt der
-Bruderliebe.
-
-Eine weitschweifige Schilderung der wahrhaft überraschend großartigen
-Ausstellung im Fairmount-Park mit ihren tausend und abertausend Menschen
-aller Nationen abzugeben, liegt nicht in meiner Absicht. Genugsam ist
-darüber bereits geschrieben und gesprochen worden, obgleich bei uns in
-Deutschland dadurch nur ein geringeres Interesse hervorgerufen wurde.
-Ausstellungen sind ja seitdem an der Tagesordnung.
-
-Nachdem ich die mir unglücklichem Neulinge tropenhaft erscheinende
-Gluthitze, die damals über Philadelphia lag, bis zur Erschlaffung
-durchkostet und alle die Qualen eines bei lebendigem Leibe Gebratenen
-erduldet hatte, langte ich nachmittags mit dem 4 Uhr-Train, völlig
-abgespannt, in dem -- wenigstens im Vergleich zu Philadelphia während der
-Exhibition -- stilleren New York an.
-
-Wie die Gefilde des Elysiums erschienen meinen Blicken die schönen breiten
-Straßen und Avenues der Empire City, wo alles Ruhe und Ordnung atmete.
-Gott sei gelobt! Nun gab es kein Drängen, Stoßen, Schreien und Schimpfen,
-keine zerbrochenen Wagen und Gliedmaßen, keine vom Sonnenstich befallenen,
-armen Opfer mehr, wie ich das zur Zeit meines Aufenthalts in der Stadt der
-Bruderliebe genügend geschaut und wovon mein unerfahrenes deutsches Auge
-sich oft zornig oder auch hilfesuchend abgewandt hatte.
-
-Ein kühles, stilles Zimmer zu ungestörter Siesta in einem der prächtigen
-Hotels New Yorks, dann ein behagliches kleines Diner, in irgend einem
-lauschigen Winkel des Diningrooms -- ein Fläschchen -- -- o nein, wir sind
-ja im Lande der Temperenzmen -- eine Flasche erfrischenden Sodawassers --
-wie verlockend wirkte das alles nach stundenlanger Fahrt im durchgluteten
-Eisenbahn-Coupé!
-
-Allein solche Bilder hüpften und tanzten gleich boshaften Neckteufelchen
-vor meinem niedergedrückten und bekümmerten Geiste. Denn -- ich litt
-an Zahnschmerzen! Bei 30 Grad Reaumur im Schatten an schauderhaften, kaum
-erträglichen Zahnschmerzen!
-
-Die körperlichen und geistigen Anstrengungen der letzten Tage, die von
-Stunde zu Stunde noch im Steigen begriffene, mir vollständig ungewohnte
-Hitze -- das alles mußte meine Nerven und mein Blut in solche Aufregung
-und Wallung versetzt haben, daß dieses leidige Übel, wovon ich
-seit meinen Jugendjahren kaum mehr geplagt worden war, mich mit so
-unbarmherziger Gewalt gepackt hatte. Wer kennt sie nicht -- all' die
-Folterqualen und Torturen endloser, durch nichts zu besänftigende
-Zahnschmerzen?!
-
-In New York angekommen, raste ich, unter Zurücklassung des Gepäcks, wie
-ein Besessener vom Bahnhof nach einer in der Nähe gelegenen Apotheke. Mit
-meinem etwas unverständlichen Englisch, jedoch mit für jedermann desto
-verständlicheren Gesten nach der linken Backe vermochte ich mein Elend
-zu offenbaren, und lächelnd wurde mir für 25 Cents eine winzige Phiole
-eingehändigt, welche die verheißungsvolle Aufschrift: »=immediatly=«
-(augenblicklich) trug.
-
-O trostreiches, süßes Wort! Am liebsten wäre ich dem unbekannten Retter,
-dessen Hand mir diesen Schatz entgegenreichte, um den Hals gefallen. Doch
-halt! Mein kühles deutsches Blut bewahrte mich vor einer Übereilung. Erst
-probieren!
-
-Gewiß -- das Wundermittel half -- aber nur für einen »Augenblick«, ganz
-der Überschrift entsprechend. Dann kehrten die wütenden Schmerzen mit
-doppelter Gewalt zurück. Zornig das Fläschchen beiseite schleudernd,
-verlangte ich nun rasch ein anderes Medikament und wankte schließlich, die
-Tasche voll Opiumpillen, spanischer Fliege und Kampfer, rat- und mutlos
-auf die Straße, um von der Apotheke bis zum ersten besten Hotel die
-unerquickliche philosophische Betrachtung anzustellen, warum eigentlich
-der weise Schöpfer uns ohnedies geplagten Erdenkindern zum Überfluß auch
-noch Zähne gegeben hat? Alle Dichter und Schriftsteller verwünschte ich,
-die jemals über: »zwei Reihen Perlen zwischen rosigen Lippen«, oder:
-»blendende Elfenbeinzähnchen« gereimt und gefabelt hatten. Alles das ist
-bittere Ironie.
-
-An Speise und Trank war unter solch' kümmerlichen Verhältnissen
-natürlich nicht zu denken. Nachdem ich nur notdürftig Gesicht und
-Hände vom Eisenbahnstaube gesäubert hatte, bestieg ich den nächsten
-Tramwaywagen, bezahlte meine fünf Cents und fuhr hinaus nach dem
-Centralparke, weil ich zunächst und vor allem das Bedürfnis hatte
-nach reiner, frischer Luft, nach absoluter Ruhe. Fern vom Geräusche
-der Großstadt, ungestört von jedem mich belästigenden Blicke aus
-teilnehmenden oder neugierigen Augen -- wollte ich dort oben in der
-Einsamkeit mein Elend zu vergessen suchen. Zumal lockte der prächtigste
-Sommerabend hinaus ins Freie. Endlich -- endlich mußte ja doch dieser
-böse Plagegeist ein menschliches -- Unsinn! ein Geist empfindet nie ein
-menschlich -- sagen wir also: ein himmlisches Rühren fühlen oder seiner
-boshaften Mucken überdrüssig werden.
-
-Erfrischender Waldgeruch und würziger Blumenduft schlugen mir entgegen. In
-langen Atemzügen sog ich den klaren Äther in mich ein. Wohlweislich die
-wenig frequentierten Wege suchend, gelangte ich nach etwa halbstündiger
-Wanderung in den oberen, romantischeren Teil des Parkes, wo Mutter Natur
-mehr gethan, als künstlerisches Schaffen und Geldaufwand zu thun im stande
-gewesen. Erschöpft und schon halb verzweifelt ließ ich mich dort auf eine
-Bank nieder und stöhnte laut.
-
-Lachen Sie nicht, meine schönen Leserinnen! Warum soll ein alter
-Junggeselle nicht einmal laut stöhnen, selbst wenn er nicht vom Zahnweh
-geplagt wäre? Hat doch gerade er am meisten Ursache dazu. Keine weiche
-Hand streichelt ihm zärtlich die Wange, kein rosiger Mund spricht
-liebevolle Worte oder flüstert ihm tröstend zu, nur nicht ungeduldig
-zu werden und hübsch auszuharren! Zwar habe ich nie ein sehr
-liebebedürftiges Herz besessen; aber in diesem Momente fühlte ich wieder
-so recht allen Jammer und alle Hilflosigkeit meines Junggesellentums! Eine
-resolute Ehefrau würde auch vielleicht ausgerufen haben: »Genug jetzt des
-grausamen Spieles; geschwind in eine Droschke mit Dir und zum Zahnarzt! Der
-Missethäter muß ausgezogen werden!«
-
-Ja, gewiß lobe und erkenne ich jeden gütigen Rat an, bin überhaupt
-windelweich geworden seit gestern, besonders gegen das schöne Geschlecht,
-opponiere nie mehr! Doch wenn man zwischen Fünfzig und Sechzig steht,
-außerdem mit Kauwerkzeugen nur mehr dürftig versorgt ist und diese
-wenigen sich des Gebrauchs halber noch einige Zeit erhalten möchte, da ist
-so eine Parforcekur wohl zu erwägen.
-
-Also laut stöhnend, stützte ich den Kopf in die linke Hand und starrte in
-stummer Resignation auf den Kiesweg vor mir. Oder hatte die so natürliche
-physische Erschöpfung doch vielleicht für ein Weilchen mir die Augen
-geschlossen -- ich weiß es nicht zu sagen. Besserung wenigstens verspürte
-ich nicht; denn plötzlich fuhr ich jäh empor. Ein dunkler Schatten war
-auf den Weg gefallen, und ich hatte das unbestimmte Gefühl, daß jemand
-vor mir stand.
-
-Ja, vor mir standen wirklich zwei Personen. Aber um alles in der Welt, wer
-war das nur? -- Mehrere Sekunden stierte ich mit fast blödem Ausdrucke in
-ein hageres braunes Antlitz, aus dem mir ein Paar merkwürdig sprechende
-Augen entgegenblitzten. Eine Frauengestalt mit einem Kinde war es; allein
-deren Erscheinung schien so durchaus originell, so frappierend, daß die
-angeborene deutsche Höflichkeit mir völlig abhanden kam und ich nicht
-einmal aufstand, den Hut zu lüften. Demungeachtet merkte ich, wie diese
-Gestalt sich etwas zu mir herabbeugte und halb teilnehmend fragend, halb
-bedauernd äußerte:
-
-»Zahnschmerzen, Sir?«
-
-Welch' guter Geist leitete mich nur in diesem Momente, daß ich, anstatt
-die Ruhestörerin schroff abzuweisen, ihr vielmehr offenherzig erwiderte:
-
-»Ganz fürchterliche, Madame!«
-
-»O, da wollen wir sofort Linderung oder Hilfe schaffen,« sagte die volle,
-merkwürdig tiefe Frauenstimme in fließendem, dabei jedoch eigenartig
-accentuiertem Englisch. Auch wurde das mit solcher Bestimmtheit gesprochen,
-als ob die Abhilfe so schnell und leicht zu bewerkstelligen wäre, wie man
-jemandem ein Stäubchen vom Rockkragen entfernt.
-
-In sprachlosem Erstaunen, wahrscheinlich mit einem recht einfältigen
-Gesichte, blickte ich noch immer zu der seltsamen, wunderbaren Figur empor.
-Aber da saß sie auch schon dicht neben mir und suchte eifrig in den Falten
-ihres Kleides.
-
-Trotz der mich noch immer peinigenden Schmerzen folgte ich in steigendem
-Interesse jeder ihrer behenden Bewegungen. Jetzt träufelte sie eine helle
-Flüssigkeit aus einem Fläschchen auf etwas Baumwolle und reichte mir
-diese zu.
-
-»Hier, Sir! Nun schnell ans Werk! Bezeichnen Sie mir den Übelthäter und
-Sie werden wie neugeboren sich fühlen,« meinte sie scherzend, indes im
-Tone unverkennbarer Überlegenheit und hohen Selbstbewußtseins.
-
-Einen Moment zögerte ich. Der scharfe, fast stechende Blick des dunklen
-Auges machte mich unsicher.
-
-»Nun, glauben Sie vielleicht, ich wolle mir nur einen Spaß mit Ihnen
-erlauben?« fragte sie jetzt herb. »Haben Sie denn in New York noch nichts
-von Mary Powl gehört?«
-
-»Mary Powl? -- Nein!« stotterte ich zaghaft. Aber halb getröstet und
-rasch entschlossen, machte ich den Mund auf und ließ sie gewähren.
-
-Mehrere Minuten vergingen unter tiefstem Schweigen. Dann sprang ich wie
-elektrisiert mit jugendlicher Lebhaftigkeit von der Bank empor.
-
-»Donnerwetter, Blitz Element! Wo sind denn --?«
-
-»Pst, pst, noch einige Sekunden Ruhe!« unterbrach sie mich besänftigend,
-dabei lächelnd, so daß ihre gesunden Zähne zwischen den Lippen sichtbar
-wurden. »Wo sind Ihre Zahnschmerzen -- wollten Sie fragen -- nicht wahr?
-Die sind abgethan und hoffentlich für eine lange Weile. So, jetzt gestatte
-ich Ihnen, auch wieder zu sprechen, mein Herr! Das heißt, wenn es Ihnen
-Vergnügen macht, sich einige Minuten mit mir zu unterhalten.«
-
-In wirklich tief empfundenen Dankesgefühlen hatte ich ihre braune,
-unbehandschuhte, jedoch zarte Hand ergriffen und drückte sie kräftig.
-
-»Sind Sie Zauberin, Fee oder ein leibhaftiges Menschenkind?« fragte ich
-mit vor Erregung zitternder Stimme. Ein wohliges Gefühl rieselte durch
-meine Adern. Wahrhaftig -- sie hatte recht, wie neugeboren erschien ich
-mir.
-
-»Mary Powl,« erwiderte sie einfach.
-
-»Aber, mein Gott, wie kommen Sie dazu, einem Ihnen gänzlich Fremden
-solchen Liebesdienst zu erweisen? Erlauben Sie, Madame, daß ich mich Ihnen
-vorstelle, mein Name ist ...«
-
-»O, lassen Sie Ihren Namen, den ich jedenfalls doch nicht aussprechen
-kann! Sie sind ein Deutscher und das genügt mir.«
-
-Ein stolzes Emporwerfen des Kopfes begleitete ihre Worte.
-
-Schnell hatte ich mich an ihre Seite wieder niedergelassen und war jetzt im
-stande, die sonderbare Erscheinung mit Ruhe und Muße zu betrachten.
-
-Das Kind, anscheinend ein Knabe von elf bis zwölf Jahren, lehnte
-gleichgültig dreinschauend und mit einem melancholischen Ausdruck in dem
-fast kupferfarbigen mageren Gesichtchen neben der Bank, auf welcher wir
-saßen. Ihre auffallende, höchst bunte Tracht mußte jedenfalls eine Art
-Nationalkostüm repräsentieren. Denn um am helllichten Tage in New York
-in einem Maskenanzuge umherzuziehen, dem widersprach das ganze Wesen und
-Auftreten der sonderbaren Frau.
-
-Ein kornblumenblauer faltiger Rock mit breiter roter Borde bildete das
-Untergewand, worüber ein langer, weißer, grobgewebter Mantel fiel,
-ähnlich dem Stoffe, den in Mähren die Hannaken über den Schultern
-tragen. In malerischen Falten, den schlanken doch kräftig gebauten
-Oberkörper nur zum Teil verhüllend, drapierte sich derselbe über ihrer
-Figur. Das glatte, pechschwarze, in der Mitte gescheitelte Haar war zur
-Hälfte von einem grünlich schillernden Seidentuche bedeckt. Um den Hals
-und über die Brust wanden sich mehrere Schnüre bohnengroßer, dicht
-aneinander gereihter Goldkörner, während an einem breiten, ziemlich
-primitiven Ledergurte ein kurzes, in roher Scheide ruhendes Dolchmesser
-herabfiel.
-
-Ihre Gesichtszüge waren hager, hart und eckig, verrieten indes noch
-Spuren einstiger Reize. Ganz besonders aber waren es die Augen in stets
-wechselndem Ausdrucke, welche, bald wild flammend, bald herzgewinnend
-freundlich, mein Interesse an der merkwürdigen Frau noch besonders
-erhöhten.
-
-In gleich phantastischer Weise war auch das Kostüm des Knaben, dessen
-Anzug viel Ähnlichkeit mit dem eines jungen Hochländers verriet. Nur
-bildeten Mokassins die Fußbekleidung, und eine Art Toque mit wehender
-Adlerfeder zierte das dunkle, nicht uninteressante Köpfchen.
-
-Stillschweigend, aber keineswegs gekränkt, hatte sie meine scharfe
-Musterung über sich wie das Kind ergehen lassen, ja sie schien durch
-dieselbe beinahe belustigt. Denn sie brach das Schweigen plötzlich mit den
-heiteren Worten:
-
-»Sie sind ein völlig Fremder hier in New York, wie ich sehe, Sir?«
-
-»Ja, Madame! Nur um die Weltausstellung zu besichtigen, bin ich
-herübergekommen. Meine staunenswerte Unkenntnis über den Namen Mary Powl
-ließ Sie das natürlich sogleich vermuten. Jedenfalls hat dieser Name
-hier einen hohen und berühmten Klang. Daher segne ich den Zufall -- oder
-vielmehr meine Zahnschmerzen, die mir Ihre interessante Bekanntschaft
-verschafften,« entgegnete ich mit feiner Galanterie, indem ich mich leicht
-verneigte.
-
-Wieder warf sie so eigenartig stolz und herausfordernd den Kopf in den
-Nacken und flüsterte, träumerisch in die Leere starrend:
-
-»O nein, weder berühmt noch hoch! Einst wohl war er das beides. Aber
-dieses einst ist begraben. Hier betrachtet man mich als Original -- als
-letztes Überbleibsel eines ehemals mächtigen Irokesenbundes von draußen
-am herrlichen Genesee-Thale im westlichen Staate New York. Den Kultus,
-den ich noch immer mit dem Andenken früheren Glanzes, mit den teuren
-Erinnerungen des so bald dahingeschiedenen Gatten -- eines stolzen
-Häuptlings -- treibe, nennen die poesielosen Amerikaner überspannte
-Phantastereien. Allein man läßt mich gewähren. Ist doch Mary Powl, die
-Indianer-Squaw, völlig harmloser Natur. Die Leute in den Straßen und
-die Fremden schauen ihr wohl neugierig oder herausfordernd nach, ja, die
-Schulbuben lachen über sie und ihren Sohn -- was thut das! Mary Powl hat
-anderen, tieferen Schmerz erfahren und geduldig hinnehmen müssen -- den
-nie sterbenden Gram über das Herabsinken, das Niedergehen einer großen,
-herrlichen Nation!«
-
-Aufs höchste interessiert, lauschte ich diesen mit monotoner Stimme
-vorgetragenen Worten und entgegnete nur wie schüchtern tröstend:
-
-»Aber es giebt doch noch viele Indianer Ihres Stammes. Wenngleich, so
-viel ich hörte, die einstigen Irokesenbunde teilweise aufgelöst und
-deren Glieder in verschiedene Gegenden zerstreut worden sind, so leben doch
-gerade hier, im Staate New York, von denselben noch genug und führen als
-angesehene Männer unter den Amerikanern ein einträgliches, friedliches
-Dasein.«
-
-Abwehrend und verächtlich schüttelte sie das Haupt.
-
-»Seit sie ihren Tomahawk vergraben und den Glauben der Weißen angenommen,
-hat Omäneo, der große Geist, von ihnen sich abgewendet. Die Amerikaner
-haben den Fuß auf den Nacken der roten Männer gesetzt. Nicht Herren sind
-sie mehr in diesem Lande, nur erbärmliche Knechte!«
-
-Tiefe Bitterkeit klang bei dieser Rede durch der Indianerin Stimme,
-während sie wie schützend den einen Arm um des Knaben Schulter legte und
-fort fuhr:
-
-»Kinder eines Vaters -- so lehrt das Christentum! Allein, sind wir das
-wirklich? Diese Frage drängt sich immer von neuem vor meine Seele.
-Ihr Deutschen befolget Gottes Gebot: ›Liebet euren Nächsten!‹ im
-schönsten, reinsten Sinne des Wortes, Ihr sehet in uns -- den Farbigen
--- den Bruder. Nicht so der Amerikaner, dessen Brust der unbegründete,
-bittere Erbhaß erfüllt, ja der ungerecht und hart ist -- oft bis zur
-Grausamkeit.«
-
-»Und dennoch wählten Sie Ihren Wohnsitz mitten unter ihnen?« fragte ich,
-die Witwe des Irokesenhäuptlings betrachtend.
-
-Sie deutete auf den Knaben.
-
-»Es ist nur um seinetwillen! Iron Hand (die eiserne Hand) soll einst das
-reiche Wissen und die Gelehrsamkeit der weißen Männer mit dem Verstande
-und dem Mutterwitz seines Stammes verbinden. Meine Lebensaufgabe besteht
-einzig noch darin, seine Studien zu überwachen, für ihn zu arbeiten und
-das Vermögen, welches sein teurer, tapferer Vater ihm hinterlassen, zu
-verdoppeln -- zu verdreifachen! Mein Sohn soll Medizin studieren,« setzte
-sie mit einem Blick voll Stolz und Zärtlichkeit hinzu.
-
-Ich vermochte ein Lächeln nicht zu unterdrücken, und ihr scharfer Geist
-mußte meinen Ideengang erraten haben, denn sie sagte schnell:
-
-»Nun ja! Ich selbst pfusche den Ärzten so ein klein wenig ins Handwerk.
-Mein großes Interesse an der Heilkunde hat mir schon manche trübe,
-einsame Stunde erhellt Ich schöpfe nur aus der Natur, kenne deren
-geheimnisvolle Kräfte, und meine Mittel helfen zuweilen besser, als die
-der hochgelehrten Herren dort drüben in der City.«
-
-Freudig zustimmend nickte ich mit dem Kopfe. Einen Moment schaute sie mich
-scharf und prüfend an; dann rief sie lebhaft:
-
-»Besuchen Sie mich, Sir! Ich sehe, Sie sind ein welterfahrener,
-edeldenkender Mann, der die Vorurteile des Kastengeistes von sich
-abgestreift hat, dessen Gesichtskreis unbegrenzt ist. Mit solchen Menschen
-verkehre ich gern; ihnen zeige ich mich auch von einer anderen Seite, als
-wie der übrigen Welt, die in Mary Powl nur ein halb verrücktes weibliches
-Original sieht. =All right!= Sie kommen?«
-
-Mit wirklich anmutigen Bewegungen, jedoch ohne jede Spur von Koketterie,
-und mit herzgewinnendem Lächeln reichte sie mir die Hand entgegen.
-
-»Gewiß, Madame! Mit dem allergrößten Vergnügen,« erwiderte ich, ihre
-Rechte herzlich drückend.
-
-Diese Frau gefiel mir. Es lag so viel Urwüchsigkeit, so viel angeborene
-Vornehmheit in ihrem Wesen, nebenbei sprach aus jedem ihrer Worte Geist und
-tiefes Denken, so daß für mich in dem freundlichen Anerbieten ein eigener
-Reiz lag und ich mir interessante Stunden und Erinnerungen von diesem
-Besuche versprach. Mary Powl nannte mir ihre Adresse. Darauf schaute sie
-nach der im Sinken begriffenen Sonne und erhob sich.
-
-»Und wie soll ich meiner gütigen Helferin aus jenem unerträglichen
-Zustande danken?« fragte ich, indem ich fast ehrfurchtsvoll den Hut vor
-ihr zog.
-
-»Damit, daß Sie dieser Stunde ein Andenken bewahren, mein Herr!« war die
-ernste Antwort.
-
-Sie nahm den Knaben wieder an die Hand, neigte leicht den Kopf und ging.
-
-Tief gedankenvoll blickte ich der fremdartigen Erscheinung nach, bis der
-leuchtende weiße Mantel hinter dem Gebüsch verschwunden war. Der endlose
-Park breitete sich wieder totenstill vor mir aus. Die Spatzen -- andere
-Vögel vermag dieser nicht aufzuweisen -- hüpften zutraulich über den
-Weg, als ob, seitdem ich auf der einsamen Bank mich niedergelassen, nichts
-die feierliche Ruhe ringsum gestört hätte. Sollte ich die letzte halbe
-Stunde wirklich nur geträumt haben, oder war die reizvolle Scene einzig
-nur meinem erregten Geiste entsprungen? Auch die nüchterne Phantasie eines
-alten Junggesellen erlaubt sich zuweilen eine Verirrung. Plötzlich jedoch
-lachte ich herzlich auf. Die Zahnschmerzen -- fort waren sie zweifellos; o
-Glück! Dieses wonnige Bewußtsein war kein Traum!
-
-Ein eigentümliches, höchst prosaisches Gefühl in der Magengegend
-verscheuchte indes bald alle poesiereichen Gedanken. Jetzt verursachte mir
-die Aussicht auf ein gutes Diner ein angenehmes Behagen. Wer auch wollte
-mir das verdenken! War doch seit meiner Abreise aus Philadelphia kein
-Bissen über meine Lippen gekommen. -- Eine halbe Stunde später saß ich
-bei Delmonico, und trotz aller Ehrfurcht und Hochachtung vor der weisen
-Einrichtung des Temperenzgesetzes stand eine Flasche »=veuve Cliqot=« vor
-mir im Eiskühler. Gern nahm ich am heutigen Tage solche Sünde auf
-mein Gewissen. Das erste Glas galt ihr. Es lebe Mary Powl, die
-Indianer-Squaw! --
-
-Die Vormittagsstunden des nächsten Tages verbrachte ich mit planlosem
-Umherstreifen in der großen Hauptstadt der Union. Was mir darin am
-charakteristischsten dünkte, das war jenes Hinauf- und Hinunterhetzen --
-anders läßt es sich kaum bezeichnen -- am Broadway. Weder in Paris
-noch in London ist mir derartiges Jagen je wieder vorgekommen. Millionen
-gewonnen -- Millionen verloren -- alles geschieht dort drüben in fast
-ängstlicher Hast! Wer das ganze bunte Bild vom objektiven Standpunkte aus
-betrachtet, dem erscheint es wirklich ergötzlich.
-
-Endlich zeigte die Uhr die vierte Nachmittagsstunde -- die Zeit, welche
-Mary Powl mir zum Besuche bestimmt hatte.
-
-In einer ziemlich entlegenen Gegend -- weit über die 8. Avenue hinaus --
-lag ihre Wohnung, und ich muß offen gestehen, daß eine gewisse Unruhe
-oder auch Neugierde mir die Pulse rascher schlagen ließ. Denn obwohl ich
-schon manches im Leben gesehen und kennen gelernt hatte -- in die inneren
-Verhältnisse einer Indianer-Häuslichkeit war mein Blick noch nicht
-gedrungen. Einen Wigwam erwartete ich im Mittelpunkt der City of New York
-selbstverständlich nicht; allein ich konnte -- mit Rücksicht auf Mary
-Powls Äußeres und deren romantisches Vorleben -- auf außergewöhnliche
-interessante Entdeckungen schließen. Da sie ja von dem ererbten Vermögen
-ihres tapferen Gemahls gesprochen, so durfte ich annehmen, daß sie
-pekuniär in guten Verhältnissen lebe.
-
-Die Hitze war aufs neue drückend, so daß ich mir ein Cab nahm, um rascher
-mein Ziel zu erreichen. Das Haus, wohin dasselbe mich führte, kam mir auf
-den ersten Blick allerdings nicht sehr elegant vor. Eines jener =Tenement
-houses= -- oder wie wir es bezeichnen würden: eine Mietkaserne war es, wie
-dergleichen in New York Leute bewohnen, welche nicht in der Lage sind,
-für sich ein Haus allein zu mieten, es aber vorziehen, eigene Menage zu
-führen, anstatt sich bei anderen in =board= (Kost) zu geben. Immerhin
-deutete das Innere des Gebäudes auf große Sauberkeit und Accuratesse.
-Die Stiegen waren mit Wachstuch bekleidet und die Scheiben der hohen
-Flurfenster blitzten förmlich in der Sonne. Rasch entschlossen klopfte ich
-an die mir genau bezeichnete Thür, weil die Wohnung keinen verschlossenen
-Vorsaal nebst Klingelzug aufwies.
-
-Im selben Augenblicke steckte auch schon ein wollhaariges Negermädchen
-den Kopf heraus und fragte mürrisch nach meinem Begehr. Ihr meine Karte
-überreichend, erwiderte ich, daß Mrs. Powl mich erwarte.
-
-Schon nach wenigen Sekunden kehrte die Dienerin zurück und öffnete mir
-schweigend die Pforten des geheimnisvollen Tuskulums. Moderne Möbel --
-moderne Teppiche und Fenstervorhänge -- boten sich meinen überraschten
-Blicken dar.
-
-Den ersten Augenblick überkam es mich gleich einem Gefühl der
-Enttäuschung. Nichts, auch nicht der kleinste Gegenstand entsprach hier
-dem Bilde, das ich mir von dem =home= Mary Powls gemacht hatte. Fast
-ärgerlich ließ ich fast alles in dem Gemache Revue passieren. Also nur
-mit leeren Worten, und vielleicht mit den paar bunten Lappen, die ihre
-Toilette ausmachten, blieb sie dem Andenken an die einstige Berühmtheit
-ihres Stammes treu? Von einem Kultus hatte sie gesprochen, den sie mit den
-Erinnerungen an die ihr teure Vergangenheit trieb -- und das geschah hier
-in dieser, der Erscheinung der Indianerin so gänzlich widersprechenden
-Umgebung? Alles Anziehende, jeder Reiz dieses Besuches ging für mich
-völlig verloren.
-
-Sicher mußte ich demnach auch darauf gefaßt sein, sie selbst in moderner
-Toilette, mit einer unmöglichen Haarfrisur, das dunkle Bronzegesicht
-von einem Lockengekräusel umrahmt, erscheinen zu sehen! Lächerlich! Wie
-konnte ich doch nur so unüberlegt und einfältig sein, mich hier anlocken
-zu lassen? Möglicherweise lief die ganze Geschichte auf einen echt
-amerikanischen Humbug, eine fein angelegte Schwindelei hinaus! Die schlaue
-Person witterte sicher in mir einen grünen Deutschen. Wie oft hört und
-liest man doch von solch' gründlich gerupften Vögeln -- von Mord -- von
-unheimlichem Verschwinden in New York! Unwillkürlich drückte ich die Hand
-auf die auf meiner Brust ruhende Barschaft und schaute mich halb forschend,
-halb ängstlich um.
-
-Das Negermädchen hatte das Zimmer wieder verlassen. Da erhob sich
-plötzlich ein schwerer, dunkler Thürvorhang und -- Mary Powl stand genau
-im nämlichen Anzuge, wie sie mir im Parke begegnet, nur ohne den weißen
-Mantel, mir gegenüber. Ernst und ruhige Würde, dabei wieder jene kühl
-herablassende Vornehmheit, sprachen aus der ganzen Erscheinung. Ein Seufzer
-der Erleichterung entschlüpfte meiner Brust, und fast beglückt schritt
-ich ihr entgegen.
-
-»Ich freue mich, daß Sie Wort gehalten haben, Sir!« sagte sie, mir
-näher tretend, mit dem monotonen, etwas schwermütigem Tonfall in der
-Stimme, indem sie mir, gleich einem alten Bekannten, die Hand reichte.
-»Ich habe mich viel mit Ihnen beschäftigt seit gestern und darüber
-nachgedacht, daß ihr Deutschen doch ein beneidenswert glückliches Volk
-seid!«
-
-»Woraus schließen Sie das, Madame?« fragte ich lächelnd, voll Interesse
-das dunkle Gesicht anschauend, welches mir heute weniger eckig und in dem
-Momente, wo die brennenden Augen in Begeisterung flammten, eher anziehend
-erschien.
-
-»O, ich lese ja Zeitungen!« rief sie, den Kopf selbstbewußt
-emporwerfend. »Sie sind Preuße? Ich kenne sie alle, eure großen tapferen
-Männer,« -- fuhr sie lebhaft fort -- »den greisen Kaiser William,
-Bismarck, Moltke! Das heißt, ich kenne ihre Namen auf dem Papier. In
-Wirklichkeit wird mein Auge sie wohl niemals schauen.«
-
-»Das zu erreichen, liegt ja nur an Ihnen,« erwiderte ich verbindlich, den
-mit vornehmer Handbewegung mir angebotenen Platz einnehmend. Sie hatte sich
-gegenüber gesetzt und die schlanken braunen Finger im Schoß gefaltet.
-»Entschließen Sie sich zu einer Reise nach Berlin, Madame! Das würde
-Ihnen eine reizvolle Zerstreuung und Abwechslung gewähren.«
-
-»Damit ich dann -- nach meiner Rückkehr -- mich um so unglücklicher in
-Verhältnissen fühlen würde, in denen zu leben ich doch angewiesen bin. O
-nein, Sir! So lange mein Sohn sein Ziel noch nicht erreicht hat, wanke ich
-nicht von diesem Platze.«
-
-Ich mußte ihr beipflichten.
-
-Darauf fragte sie mich nach meiner Lebensstellung und meinem Berufe, und
-als ich ihr gesagt, ich sei Schriftsteller, sah sie mich fast scheu und
-ehrfurchtsvoll von der Seite an und meinte befangen, sie hätte sich einen
-Mann der Feder ganz anders vorgestellt. Da mußte ich nun viel erzählen
-über deutsche Zustände und Sitten; über Litteratur und Geschichte
-sprachen wir, und ich gestehe offen, daß ihr, wenn auch nicht gerade
-reiches Wissen, so doch ihr richtiges Urteil, ihre Kenntnis von Dingen, die
-man ihr kaum zugetraut, mich wahrhaft überraschten. Freilich wohl zwangen
-mir die oft kindlich naiven Fragen hin und wieder auch ein Lächeln ab.
-Aber ich erinnerte mich dann schnell, mit wem ich die Unterredung führte.
-Jedenfalls stand dieselbe, was Originalität und Unterhaltung anlangte,
-keiner von jenen mit irgend einer deutschen Dame eingegangenen nach.
-
-Auch Mary Powl erzählte mir von ihrer Kindheit und Jugend, von dem kurzen
-Glück ihrer Ehe, -- daß ihr Gatte bei einem räuberischen Überfall eines
-feindlichen Stammes grausam erschlagen worden, und daß sie darauf mit
-ihren Landsleuten, mit der Menschheit, ja mit sich selbst zerfallen, der
-Heimat den Rücken gekehrt und nach New York übergesiedelt sei.
-
-»Und hier führe ich nun seit fast zehn Jahren ein stilles,
-zurückgezogenes, mir zusagendes Dasein,« schloß sie den schlichten
-Bericht. »Mein =home= ist meine Welt, in der ich mich glücklich fühle.«
-
-Wie das so natürlich war, flog mein Auge über die moderne Einrichtung des
-Gemaches, während ich die schüchterne Frage aufwarf, weshalb sie alles,
-was an das einstige romantische, abenteuerliche Leben der Vergangenheit
-gemahnte, daraus verbannt habe?
-
-Sie lachte. Es war das erste und letzte Mal, daß ich diese Frau wirklich
-lachen hörte.
-
-»So glauben Sie im Ernst, daß das durch Abhärtung und Entbehrungen aller
-Art gestählte Weib an die verweichlichte Lebensweise der Weißen
-sich gewöhnt habe, daß solcher Ballast« -- sie deutete auf ein von
-schwellenden Kissen strotzendes Ruhebett -- »ihr unentbehrlich geworden
-ist? Eine von der Kultur beleckte Indianer-Squaw -- wäre das nicht
-eigentlich spaßhaft? Nein, mein Herr! Mit Leib und Seele, mit jeder
-Fiber meines Herzens hänge ich noch an alten Erinnerungen. Allein ich
-verschließe mein Teuerstes vor der Welt. Kein profaner Blick soll je mein
-Heiligtum erreichen! Dieses Zimmer hier bedarf ich zum Empfange von Leuten,
-mit denen ich ab und zu geschäftlich verkehre und in Verbindung komme,
-für die ich auch nur Mrs. Mary Powl bin, welchen Namen ich mir seit dem
-Fortgange aus meinem Heimatsthal gegeben habe. Doch hier« -- in graziös
-behenden Bewegungen sprang sie empor und schlug den dunkeln Vorhang, durch
-den sie gekommen, zurück -- »hier, Sir, ist mein wahres =home=!
-Ihnen zeige ich es; Sie sollen sehen, daß ich das warme Interesse, das
-Vertrauen, welches Sie mir bewiesen, zu schätzen weiß!«
-
-Zögernden Schrittes war ich gefolgt und blickte nun in stummer
-Überraschung durch die offene Thür. Mit heiterem Gesichte weidete sie
-sich an meinem Staunen.
-
-»Nun, ich bitte, treten Sie ein, Sir! In diesen Räumen begrüßt Sie die
-Witwe des Irokesenhäuptlings Onundega.«
-
-Wir schritten beide über die Schwelle.
-
-Jetzt wußte ich, daß jedes Wort, was Mary Powl von ihrer Vergangenheit
-mir erzählt, lautere Wahrheit war, daß jeder noch so kleine Verdacht
-wider sie, der eben noch in meiner Seele Platz gefunden, eine bittere
-Ungerechtigkeit, ja, eine Kränkung für sie gewesen.
-
-Der Raum, in welchem wir jetzt standen, glich in der That der Vorstellung,
-die ich in meinen Knabenjahren von dem Wigwam eines Indianerhäuptlings
-mir vielleicht gemacht. Eine von grobem, eigenartig gewebten,
-blaubemalten Stoffe, in der Mitte der Decke angebrachte und an den Wänden
-niederhängende Draperie war geschickt und kunstgerecht zu einer Art Zelt
-verarbeitet, so daß die Seite, wo die Fenster sich befanden, ebenfalls
-verhangen blieb, weshalb sich nur ein mattes, angenehmes Dämmerlicht
-über den nicht großen Mittelraum verbreitete. Jeder Gegenstand dieses
-wunderbaren Gemaches trat klar und scharf ins Auge, und jeder Blick sagte
-mir, daß hier Mary Powl in ihrem Elemente, in ihrem eigentlichen =home=
-sei.
-
-Ihr kurz befehlender Wink nach der einen Ecke bedeutete den dort am Boden
-kauernden, anscheinend lesenden Knaben aufzustehen und mich zu begrüßen.
-Mit dem Buche in der Hand kam er leise herangeschlichen und schaute
-schüchtern zu mir auf.
-
-Liebkosend strich ich ihm über das schlichte, lange tiefschwarze Haar
-und fragte, was er denn so fleißig studiere? Mit stolzem Augenaufschlag
-erwiderte er:
-
-»=Latin=, Sir!«
-
-Dann hüpfte er wieder behende in seinen Winkel, schlug aufs neue das
-Lexikon auseinander und nahm anscheinend keine Notiz mehr von uns.
-
-Währenddessen stand, den einen Arm an die schlanke, doch kräftige Hüfte
-gestemmt, die Indianerin neben mir und verfolgte mit einem Ausdruck von
-Befriedigung im Gesichte meine sich immer steigernde Verwunderung.
-
-An der einen Längenwand des Zeltes, dicht über dem Haupte des Knaben,
-hingen die einstigen Waffen, Schild, Speer und Bogen, wie der phantastische
-Kopfschmuck mit der wehenden Adlerfeder (dem Abzeichen des Häuptlings)
-ihres heimgegangenen Gemahls. Verschiedene indianische Gerätschaften oder
-Handwerkszeuge, deren Zweck und Nutzen mir im ersten Augenblicke nicht
-recht klar war, bildeten eine originelle, malerische Verzierung um die mit
-sichtlicher Pietät gehüteten und bewahrten Überbleibsel einer kurzen,
-jedenfalls ruhmvollen Kriegerlaufbahn. Und weiter -- mein Auge irrte
-neugierig über hundert mir völlig unbekannte Dinge hinweg. Hier lagen
-Jagd- und Kriegstrophäen des stolzen Onundega, ausgestopfte Tiere und
-Vögel, Köcher und Pfeile, wie auch seltsamer Federschmuck, dort Sattel-
-und Zaumzeug seines Lieblings- oder Streitrosses neben den primitiven
-Toilettenartikeln eines besiegten Feindes. Aber -- was war das? Mein Blick
-war plötzlich auf etwa sieben bis acht ganz unheimliche Gegenstände
-gefallen, die in Manneshöhe, an einem starken Hanfseile aufgereiht, gleich
-gefangenen Krammetsvögeln im Dohnenstrich, herabhingen.
-
-Ein leises Gruseln lief mir über den Rücken und ich fühlte die einstigen
-Haare meines jetzt kahlen Schädels sich sträuben. Skalpe -- wahrhaftige,
-Original-Skalpe, je nach der Nationalität derselben mit langen oder
-kurzen Haaren bedeckt und an ihnen zusammengebunden, baumelten da als
-Siegestrophäen über meinem Haupte und mußten einem deutschen Herzen wohl
-begreifliches Unbehagen einflößen.
-
-Unwillkürlich wandte ich das Gesicht rasch nach einer anderen. Mary Powl
-gewahrte es und führte mich mit feinem Takt schnell zur entgegengesetzten
-Seite des Gemachs, wo eine in der That auserlesene Waffen- und
-Gewehrsammlung mein Interesse bald völlig in Anspruch nahm.
-
-Es gab in Mary Powls =home= überhaupt so viel Merkwürdiges zu schauen,
-daß wohl Tage dazu gehörten, alle die sehenswerten Dinge mit Ruhe und
-Verständnis betrachten zu können. Etwas indes nahm meine Aufmerksamkeit
-besonders gefangen. Dieses war ein höchst eigentümliches, primitives
-Lager. Auf einer Art Erhöhung nämlich, von Matten und Bärenfellen
-zusammengestellt, halb verdeckt von einem blauweißen Vorhange (blau ist
-die Lieblingsfarbe der Indianer), befand sich die Schlafstätte dieser
-sonderbaren Frau, und ich dachte dabei unwillkürlich ihrer Worte: daß das
-an Abhärtung und Entbehrungen gewöhnte Weib sich mit der verweichlichten
-Lebensweise der Weißen nicht befreunden könne.
-
-Also hier schlummerte Mary Powl, hier träumte sie vom einstigen Glück
-und Ruhm -- von der hoffnungsvollen Zukunft ihres Knaben! Hier, umgeben
-von Waffen, die noch das Blut der Feinde rötete, umgeben von menschlichen
-Skalpen, -- hier fand sie Ruhe nach des Tages Lasten! Ländlich --
-sittlich! Ich hätte mein bequemes Bett im lieben Deutschland mit dieser
-Lagerstätte sicher nicht vertauschen mögen.
-
-Viel gesprochen oder gar bewundert und gelobt habe ich nicht, während wir
-miteinander einen Rundgang durch den hochinteressanten Raum machten. Das
-dünkte mir in dieser Stunde abgeschmackt und einer Mary Powl unwert.
-War doch ihr Gesichtsausdruck tiefernst, als riefen all' die Gegenstände
-tausend schmerzliche Erinnerungen wach. Jedes leere Wort erschien mir daher
-gleich einer Verletzung ihrer innersten Gefühle.
-
-Doch plötzlich lächelte sie wieder, indem sie mich aufforderte, sie
-in das viel kleinere Nebengemach zu begleiten. Dieses war, ähnlich dem
-ersteren, geschmückt und aufgeputzt und diente augenscheinlich ihrem Sohne
-als Schlafzimmer, ihr selbst jedoch als eine Art Laboratorium. Wunderliche
-Gefäße, Retorten und Phiolen standen dort auf rohgezimmerten Bänken
-und Borden umher. Auf dem kleinen Herde dampfte und brodelte es auch, und
-große Bündel Kräuter und Pflanzen hingen, sorgsam zusammengebunden, von
-der Decke herab.
-
-Was aber in diesem Zimmer mir noch bemerkenswert vorkam, das war eine
-ganz prachtvolle amerikanische Safe (eiserner Geldschrank) neuester
-Konstruktion, an welche Mary Powl nun herantrat. Sie entnahm daraus
-mehrere kleinere Fläschchen, welche sie mir heiter entgegenreichte mit
-dem Bemerken, daß das eine vorzüglich gegen Migräne, jenes unfehlbar zur
-schleunigen Beförderung des Haarwuchses diene.
-
-Mechanisch glitt meine Hand über meine recht bedenkliche Glatze. Allein
-ich dankte ihr herzlich für diesen feinen Wink, indem ich erwiderte, daß
-ich zugleich mit dem Schmucke des Hauptes auch meine Eitelkeit abgelegt
-hätte, ja, daß ich mir lächerlich vorkommen würde, wollte ich
-plötzlich wieder mit wallenden Locken im Kreise der heimatlichen Freunde
-erscheinen; im übrigen glaube ich an die Unfehlbarkeit ihrer Mixturen.
-Zögernd indes setzte ich hinzu, daß, wenn sie mir einige Tropfen jenes
-wunderthätigen Mittels gegen die Zahnschmerzen geben wolle, so würde
-ich das mit größtem Danke annehmen. Gutmütig nickte sie und holte
-geschäftig das Wundermittel, welches mich von peinigender Qual befreit,
-mir zugleich aber diese interessante Bekanntschaft vermittelt hatte, aus
-der =Safe=. Wie eine kostbare Reliquie bewahrte ich dieses Geschenk auf
-meinem Busen.
-
-»Hier, Sir!« sagte sie darauf, die Thür des Schrankes weit öffnend und
-mich näher heranwinkend. »Schauen Sie einmal da hinein und sagen Sie mir,
-ob Mary Powl nicht gut und haushälterisch für ihren Sohn gewirtschaftet
-hat? Das eine habe ich von den Amerikanern profitiert und gelernt -- das
-Rechnen und Spekulieren.«
-
-Überrascht glitten meine Blicke über den Inhalt des Geldschrankes, und
-in diesem Momente schämte ich mich wirklich im stillen meiner unedlen,
-garstigen Gedanken, die ich, bevor die Indianerin eintrat, über dieselbe
-in dem tiefsten Winkel meines sonst vertrauenden Herzens gehegt hatte.
-
-Dort lagen Wertpapiere, Staats- und Eisenbahn-Obligationen neben
-aufgetürmten Rollen Zwanzig-Dollar-Goldstücken. Auch Häufchen
-Goldkörner und unregelmäßige Klümpchen dieses edeln Rohmetalls gewahrte
-ich und wurde immer mehr durchdrungen von der Überzeugung, Mary Powl sei
-nicht allein eine interessante, anziehende sondern auch sehr vermögende
-Frau, welche -- nach europäischen Begriffen -- sich ihr Leben hätte ganz
-anders gestalten können.
-
-»Ich staune über Sie, Madame!« konnte ich nicht unterlassen, in vollster
-Bewunderung auszurufen. »Gute Mutter, tüchtige Geschäftsfrau und ein
-mutiges, unerschrockenes, stets hilfsbereites Weib, -- das vereint sich
-selten in einer Person und verdient die höchste Anerkennung, welche jeder
-Ihnen zollen muß!«
-
-Wieder huschte jener Ausdruck von innerer Befriedigung über ihr dunkles
-Gesicht und sie entgegnete dann fast traurig:
-
-»Hier ernte ich nur Undank, wie unüberwindliches Mißtrauen, welches
-sich an meine Fersen zu heften scheint, und es mir gar oft erschwert, die
-menschenfeindlichen Gefühle und Regungen des Busens zu bekämpfen. Doch
-lassen wir das!« setzte sie abwehrend hinzu. »Wir beide ändern das
-nicht. -- Jetzt kommen Sie wieder hinüber in mein =Parlour= und nehmen
-einen kleinen Imbiß, Sir!«
-
-Mir rasch voranschreitend, öffnete sie die Thür des vordersten Gemaches.
-Noch einen letzten Blick sandte ich über Mary Powls =home=, dann folgte
-ich ihr hinaus.
-
-Das uns entgegenstrahlende grelle Sonnenlicht, verbunden mit dem Anblick
-der modischen Zimmereinrichtung wirkte auf mich beinahe, als wäre ich von
-einer Wanderung durch ein Märchenland in die Wirklichkeit zurückgekehrt.
-Noch halb wie traumbefangen starrte ich auf das Negermädchen, welches
-sich eben damit beschäftigte, Wein, Früchte und feines Backwerk auf einem
-Tische zu ordnen und für uns bereit zu stellen.
-
-Aufs neue betrachtete ich gedankenvoll und kopfschüttelnd das elegante
-Porzellan-Service und Glasgeschirr, welches im entschiedensten Widerspruche
-stand zu allem, was ich soeben geschaut hatte.
-
-»Wir führen einen echt amerikanischen Haushalt,« sagte Mary Powl,
-meinen Ideengang erratend, mit feinem Lächeln, indem sie mir eine Platte
-köstlicher Bananen darbot. Ich nahm eine dieser aromatischen Früchte.
-
-»Meine kleine Sally« -- sie deutete nach der Thür, durch welche die
-Negerin uns verlassen -- »ist die Lehrmeisterin, ich bin die Schülerin
-in der höhern Kochkunst; und so geht das wundervoll von statten. Was mir
-anfänglich schwer und ungewöhnt ist, das überwinde ich schnell bei dem
-Gedanken, daß ich Iron Hand ein Opfer bringe. Die Verhältnisse, in denen
-sein späteres Leben dahinfließen wird, bedingen sorgfältige Erziehung.
-Einst wird er seiner Mutter das danken. O, Sie sollten nur sehen, -- er
-speist mit Messer und Gabel wie ein junger Gentleman!«
-
-Ungefähr noch eine halbe Stunde verweilte ich in anregendem Gespräch mit
-der originellen Frau; dann erhob ich mich. Zwei volle Stunden hatte ich
-bereits in ihrer Gesellschaft zugebracht und ich mußte nun gestehen, daß
-der Abschied von Mary Powl mir nicht leicht wurde. Der weite Ozean mußte
-uns ja gar bald für immer trennen. Ob ich -- in ihrer Sprache zu reden
--- das große Wasser noch einmal durchschifft hätte, um _sie_ wieder zu
-sehen, wenn ich zwanzig Jahre weniger zählte? Wer weiß es! Jedenfalls
-wußte ich heute genau, daß dies ein Abschied fürs Leben war.
-
-Die Worte, die ich dabei gesprochen, mögen wahrscheinlich recht
-nichtssagend und abgeschmackt geklungen haben, indem es nämlich eine
-Eigentümlichkeit von mir ist, daß ich, je tiefer innerlich eine Sache
-mich berührt, äußerlich desto linkischer und trockener werde. Vom
-Tragischen zum Lächerlichen ist bekanntlich nur _ein_ Schritt! Das
-sollte jeder bedenken, der einmal in reiferen Jahren von einer kleinen
-Gefühlsanwandlung übermannt wird -- umsomehr, da sie selbst, die Witwe
-des Irokesenhäuptlings, die freie Tochter der Natur, die Frau ohne höhere
-Erziehung und Bildung, mir gegenüber keinen Finger breit aus den Formen
-edler, züchtiger Weiblichkeit herausgetreten war. Taktlos und indiskret
-wäre es daher gewesen, hätte ich mit Blicken oder banalen Redensarten
-verraten wollen, daß sie mich aufs Lebhafteste interessiere, daß ich
-wirkliches Gefallen an ihr fand.
-
-Einen Moment hielt sie meine Hand fest in der ihren und schaute mich mit
-den brennenden Augen an. Der Knabe war gleichfalls herangetreten und lehnte
-sich, zärtlich angeschmiegt, an die Mutter.
-
-»Ich danke Ihnen für reizvolle, genußreiche Stunden, Sir!« sagte sie in
-ihrer schlichten, ruhigen Weise. »Nur selten wird mir das Glück zu teil,
-mich frei von der Seele herunter aussprechen zu können. Liegt doch der
-Trieb, ja das Bedürfnis hierzu in jeder Menschenbrust. Lange werde ich
-über alles, was Sie mir erzählt, nachdenken und weise Lehren daraus
-schöpfen für Iron Hand.«
-
-Einige Sekunden legte ich meine Rechte auf des Knaben Haupt und fragte:
-
-»Du willst ein kluger Mann -- ein berühmter Arzt werden und Deiner Mutter
-treue Liebe und Fürsorge für Dich einst hundertfach vergelten -- nicht
-wahr, mein Junge? Sie verdient es im reichsten Maße!«
-
-Ein strahlendes Aufblitzen der dunklen Kinderaugen gab mir Antwort.
-
-So schieden wir. -- -- --
-
-Jahre sind seitdem dahingezogen. Aber noch oft und gern verweilen meine
-Gedanken drüben in der großen Empire City Amerikas bei Mary Powl.
-
-Die kleine Flasche, welche sie mir damals mitgegeben, hat noch manchmal
-ihre wunderthätige Kraft bewährt, sowohl an mir selbst, als auch an
-anderen. Stets hat es mir Freude gemacht, im edlen Sinne der gütigen
-Spenderin zu wirken und zu helfen. Jetzt ist sie längst geleert.
-
-Wenn indes einer meiner verehrten Leser oder Leserinnen sich zu einer
-interessanten Reise über das Meer und nach New York entschlösse und
-drüben von Zahnschmerzen geplagt werden sollte, so rate ich dringend,
-nicht zu versäumen, sich auf eine einsame Bank im entlegendsten Teile
-des Zentralparks niederzulassen. Vielleicht -- ich sage nur vielleicht
--- begegnet ihm dort meine Freundin Mary Powl, die Indianer-Squaw. Ihre
-Adresse darf ich diskretionshalber nicht verraten.
-
-Ob sie noch lebt? Ob Iron Hand ihren stolzen, gerechten Hoffnungen
-entsprochen haben wird? --
-
-Ich habe von beiden niemals wieder etwas vernommen.
-
-
-
-
-Amerikanische Existenzen.
-
-
-Die Mittagsglut eines Julitages brütete über dem Madison-Square von New
-York, dessen weite Räumlichkeit mir heute beinahe noch endloser
-erschien als sonst. Fast senkrecht schleuderte die Sonne ihre glühenden
-Strahlenbündel auf den weich gewordenen Asphaltboden nieder, so daß
-dieses von stattlichen Häusern eingefaßte große Flächenquadrat völlig
-schattenlos vor meinen Blicken lag.
-
-Ich zog den wahrhaft monströsen Sonnenschutzschirm noch tiefer über mein
-gefährdetes Hirn, that mehrere schwere Stoßseufzer und strebte, einen
-heroischen Anlauf nehmend, vorwärts über den Platz -- meinem Ziele zu.
-
-Wer jemals einen amerikanischen Sommertag in New York erlebt hat und der
-Gefahr ausgesetzt gewesen ist, vom Sonnenstich betroffen zu werden, der
-kennt solche Situation genau. Allein sich sträuben oder gar klagen
-half hier nichts, indem ich vorwärts mußte, das heißt, mich von der
-Eisenbahnstation aus auf der Wohnungssuche befand und noch vor Abend mit
-Sack und Pack in einem guten und bequemen Boardinghouse untergebracht zu
-werden wünschte.
-
-O New York! Du Eldorado aller nach Fortunens Schürzenzipfel haschenden
-Deutschen! Wie erfreute mich trotz Hitze und Staub der Anblick der
-langentbehrten Metropole der Union, wie hatte ich in Tagen der Trübsal und
-des Kampfes ums Dasein mit sehnsüchtigem Verlangen deiner gedacht und das
-grausame Schicksal verwünscht, welches mich Jahr um Jahr an den fernen
-Westen gebunden. Endlich jedoch schien die launische Göttin ein Einsehen
-und Erbarmen mit mir gehabt zu haben. Ein Glücksfall ließ meine
-wirklichen oder vielleicht auch nur eingebildeten Talente und Geistesgaben
-doch schließlich zur vollen Geltung kommen. Durch die vorsorglich
-zurückgelegten Ersparnisse saurer Arbeit und eine, wie durch
-höhere Inspiration plötzlich in mir erwachte, fast amerikanische
-Unternehmungslust und Dreistigkeit bemühte ich mich um die Partnership
-einer der renommiertesten Advokaturen New Yorks und -- erhielt sie. Jetzt
-war ich ein gemachter Mann. Denn ich kannte die Verhältnisse Amerikas zu
-gut, um nicht überzeugt zu sein, daß ich den mühsam errungenen Platz
-auch würde behaupten können. Wie ganz anders waren daher die Empfindungen
-meiner Brust gegen diejenigen vor fünf Jahren, wo ich mit wenigen hundert
-Mark in der Tasche vom Steamer des Bremer Lloyd ans Land stieg. Mit stolzem
-Selbstgefühl betrat ich nun zum zweiten Male den Boden der Empire-City.
-Die alten Freunde aus jener Sturm- und Drangperiode meines Debuts im
-Heim des allmächtigen Dollars hatte ich indes darob nicht vergessen und
-erinnerte mich freudig einer alten Amerikanerin Miß Kathleen Emmerson,
-in deren gastlichem Hause ich bereits damals -- dank ihrer Rücksicht
-auf meine knappe Barschaft -- unter angenehmen Bedingungen einige
-Wochen verbringen durfte. Mit Miß Kathe, wie das liebenswürdige und
-menschenfreundliche alte Fräulein von all ihren Bekannten zu jener Zeit
-kurzweg benannt wurde, hatte ich später auch ab und zu in Korrespondenz
-gestanden und wußte demnach, daß ihre pekuniäre Lage sich gleichfalls
-bedeutend verbessert und sie anstatt des kleinen Kosthauses in
-St. Marks-Place jetzt ein elegantes Boardinghouse in der 24. Straße
-zwischen der 5. und 6. Avenue inne hatte.
-
-Dorthin also lenkte ich meine Schritte. Das Äußere desselben entsprach
-vollkommen meinen Erwartungen. Wenigstens zählte es zu den sogenannten
-guten Brownstone-Houses der City, welche die Straßen der oberen Stadtteile
-New Yorks zieren und alle ohne Ausnahme wie nach einer Schablone gearbeitet
-zu sein scheinen.
-
-Beim Eintreten gewahrte ich, daß an der mit massivem Gußeisengeländer
-versehenen steinernen Vortreppe ein Wagen der New York-Expreß-Compagnie
-hielt und verschiedene Gepäckstücke, darunter auch ein wahrer
-Monstre-Koffer, abgeladen und ins Haus hineingetragen wurden. »Aha!«
-dachte ich mit Befriedigung. »Auch die heiße Jahreszeit thut allem
-Anschein nach dem Geschäfte meiner alten Freundin keinen Abbruch.
-Gratuliere, Miß Kathe! Solch enorme Bagage-Zahl deutet auf noble und
-ständige Gäste.«
-
-Lebhaft sprang ich nun die sechs bis acht Stufen hinan und trat durch die
-bereits offenstehende Eingangsthür. Mehrere Personen, dabei natürlich
-auch Miß Emmerson, befanden sich auf dem etwas düsteren Vorflur, als
-auch schon der freudige Ruf -- in eigentümlich accentuiert gesprochenen
-deutschen Worten mir entgegenklang:
-
-»Kann ich denn meinen Augen trauen? Sie sind es wirklich, Herr Baron
-von ...?«
-
-»Pst, pst! Lassen wir doch die einstigen Titel und Würden beiseite!«
-entgegnete ich lachend und ebenfalls auf deutsch: »Mr. Richard Berken,
-Teilhaber der Firma Haberton & Comp. am Broadway, steht heute vor Ihnen,
-meine Liebe, und möchte höflich bitten, ihm ein bescheidenes Stübchen in
-Ihrem gastlichem Hause anzuweisen, Miß Kathe!« Damit schüttelten wir uns
-beide wahrhaft herzlich die Hände.
-
-Neugierig und mit höflicher Verbeugung schielte ich dabei nach der aus
-drei Damen und zwei Herren bestehenden Gesellschaft, welche, in Anbetracht
-ihres mit der Hauswirtin unterbrochenen Geschäftes, dem Anschein nach
-ziemlich ungeduldig drein schaute. Daher sagte ich zuvorkommend und
-entschuldigend, daß ich nicht länger stören wolle.
-
-Diese verbindliche Äußerung entschlüpfte mir einzig nur wegen des
-reizenden Gesichtchens der jüngsten dieser drei eleganten Ladys, deren
-blaue Kinderaugen in ernstlich forschendem Ausdruck auf mir hafteten. Dann
-folgte ich mit kurzem: »Auf Wiedersehen, Miß Emmerson!« dem durch die
-Hausfrau avertierten Neger die Treppe zur oberen Etage hinan. --
-
-Um sieben Uhr abends war das gemeinschaftliche Diner, welches alle
-Logiergäste des Hauses im Speisesaale versammelte. Ich selbst, bereits
-vollständig häuslich eingerichtet, war einer der ersten Ankömmlinge
-gewesen und hatte mir die recht hübsch arrangierte Tafel mit Muße
-betrachten, wie auch jeden neu Eintretenden eingehend mustern können.
-
-Halt! Jetzt stutzte ich. Da kam ja meine fashionable Gesellschaft von heute
-vormittag, deren voluminöse Koffer schon meine ganze Aufmerksamkeit auf
-sich gelenkt, soeben aus der Halle. Voran eine große, brünette Dame
-mittleren Alters mit auffallend harten, fast fatalen Gesichtszügen, deren
-elegante Seidenrobe mir zu der starkknochigen Gestalt wenig im Einklang zu
-stehen schien. Neben ihr schritt eine sehr schlanke, beinahe ätherische,
-junge Frau, -- nach meinen unerfahrenen Toilettebegriffen ganz reizend und
-distinguiert in einen hellen, undefinierbaren Sommerstoff gekleidet, dessen
-roter Seidengürtel und Bandgarnitur den zarten Teint des schmalen Ovals
-gar vorteilhaft hob. Trotz der Verschiedenheit der Gesichter zeigte ein
-merkwürdig ähnlicher, halb bitterer, halb verdrossener Zug um den Mund,
-daß das Mutter und Tochter sein mußten. Ihnen folgten ein mittelgroßer,
-hagerer Mann mit militärisch verschnittenem Haar und braunem,
-intelligentem Gesichte und meine allerliebste Unbekannte aus dem Vorsaal --
-mit den mir bereits bekannten, mich so sehr anheimelnden blauen Augen.
-
-Welch poetische Erscheinung! dachte ich lebhaft angeregt. Dieses
-hellblonde, gewellte Haar, dieses mädchenhaft zurückhaltende, dabei doch
-so edle Auftreten, dieser fast schüchterne Blick -- dies alles entrückte
-mich für Sekunden der Gegenwart, ja dem Lande, in dem ich mich befand,
-und ließ schmerzliche Erinnerungen an traute deutsche Frauengestalten in
-meiner Seele auftauchen.
-
-Im größten Gegensatze zu den anderen Damen entbehrte der Anzug meiner
-»Beauty« fast jedweder Eleganz. Ein schlichtes, aber um so reizenderes
-Kleid von feinem grauem Wollstoff bildete die Toilette -- =voilà tout=!
-
-Völlig in meinen Reflektionen versunken, vergaß ich, mich daran zu
-erinnern, daß noch ein zweiter Herr, ein auffallend gut aussehender junger
-Mann, diesen Morgen beim Eintreffen der Gesellschaft zugegen gewesen.
-
-Alsbald führte Miß Emmerson mich mit dem simplen Namen: Mr. Richard
-Berken bei allen Anwesenden ein und wies uns die Plätze an. Doch wer
-beschreibt meine freudige Überraschung: als ich aufschaute, sitzt die
-liebreizende Blondine dicht an meiner Seite.
-
-Sonderbar! Dieser kurze Aufblick aus ihren Augen glich fast einem
-stummen Verhör. Instinktiv fühlte ich, daß sie mit echt amerikanischer
-Scharfsichtigkeit sich einen sowohl das Individuum, als auch dessen
-Charakter und Nationalität betreffenden Eindruck festzuhalten und sich
-einzuprägen suchte.
-
-»Sie verstehen englisch, Sir?« fragte mich die liebliche Tischnachbarin
-mit den aus ihrem Munde reizend klingenden Tönen ihrer Muttersprache.
-
-Freudig bejahte ich es, und bald kam unsere Unterhaltung in guten Fluß.
-Nur sah ich mit Verwunderung auf ihre allerliebsten Hände, wie sie von
-allen ihr servierten Gerichten, außer daß sie sich selbst versorgte, noch
-reichliche Quantitäten auf bereits vor ihrem Platze stehende Teller legte
-und diese dann sorglich mit einem kleinen Schüsselchen bedeckte. Sie
-selbst aß hastig und zerstreut.
-
-Was bedeutete nur das? Als Mann von guter Erziehung wagte ich natürlich
-nicht, danach zu fragen. Doch mochten meine Gesichtszüge wohl einige
-Neugierde verraten haben; denn lachend -- es war dies genau ein verlegenes
-Kinderlachen -- sagte sie:
-
-»Dies ist für Frank, meinen Gatten, Sir! Er leidet schon seit längerer
-Zeit an einer sehr fatalen, unbequemen Magenverstimmung, kann infolgedessen
-nicht jedes Gericht vertragen und somit auch nicht mit uns an der Tafel
-speisen. Aber es freut ihn immer so sehr, wenn ich selbst ihm sein
-bescheidenes Diner hinaufbringe, -- der arme Franky!«
-
-»O, wie betrübend!« entschlüpfte es unwillkürlich meinen Lippen. Doch
-wäre es gewiß schwer festzustellen gewesen, ob der Ausruf des Bedauerns
-der üblen Magenverstimmung des armen Franky oder dem Umstande gegolten,
-daß mein holder Blondkopf bereits einen Ehemann besaß. Das also war der
-gut aussehende Gentleman, welcher an der Gesellschaft fehlte und den ich
-diesen Vormittag schon von Angesicht gesehen!
-
-Wirklich erhob sich nun nach einer Weile die junge Frau, ließ von dem
-aufwartenden Neger sich ein Präsentierbrett reichen, arrangierte darauf
-die verschiedenen Teller und verließ damit geräuschlos den Speisesaal.
-Die übrigen Tischgäste mochten den kleinen Vorfall wohl kaum bemerkt
-haben. An meiner Nachbarin rechter Seite saß ein alter Herr mit blauer
-Brille, welcher überhaupt miserabel zu sehen schien. Nur Miß Emmerson
-warf mir vom anderen Ende des Tisches einen seltsam bedeutungsvollen Blick
-herüber, welcher mir nun auch sofort klar machte, warum sie gerade mich an
-die Seite der reizenden Amerikanerin placiert hatte.
-
-Nach beendeter Mahlzeit, als ich schon den Hut in der Hand hielt, um dem
-schwülen Speisezimmer zu entfliehen, und hastig hinausstrebte in den
-herrlichen Sommerabend, faßte unsere freundliche Wirtin mich plötzlich am
-Rockärmel und drängte mich etwas nach einer Fensternische.
-
-»Ich glaube aus unbedeutenden Reden und Anzeichen leider bemerkt zu haben,
-daß hinter dem ganzen Auftreten der Newlands irgend etwas Mystisches
-steckt,« flüsterte sie auf deutsch mir ins Ohr -- eine Sprache, welche
-die alte Dame in der Praxis, das heißt, in jahrelangem Verkehr mit meinen
-Landsleuten, wohl erlernt haben mochte. »Meine große Menschenkenntnis hat
-mich noch selten getäuscht, und man könnte, wenn man sich die Zeit
-dazu nehmen wollte, zu spionieren, gerade hier vielleicht interessante
-Entdeckungen machen. Wir leben aber im glücklichen Lande der Freiheit, Mr.
-Berken, und so denke ich, wir lassen jeden ruhig seinen Weg gehen, -- nicht
-wahr? Die Newlands zahlen brillant, und mein Haus will bestehen. Alles
-übrige geht mich nichts an, wenigstens soweit meine Logiergäste nicht
-mit dem Gesetze in Konflikt kommen. Denn darin verstehe ich keinen Spaß.
-=Well=, mein Freund! Wir kümmern uns also nicht weiter um dieser Familie
-Privatangelegenheiten, noch darum, ob und weshalb Mr. Newland nicht zum
-Diner kommt?«
-
-»Ganz gewiß nicht, Miß Kathe!« entgegnete ich bereitwilligst und heiter
-lachend. »Mich interessierten anfänglich nur die auffallend schönen
-Augen meiner jungen Tischnachbarin. Doch seit ich erfuhr, daß diese Dame
-bereits einen Gatten hat, ist der sie vorher umgebende Nimbus schon ganz
-gewaltig geschwunden.«
-
-»O, immer noch der alte Schelm!« drohte mir Miß Emmerson mit dem Finger.
-»Nun, =good evening=, Mr. Berken!« Damit winkte sie mir freundlichst zu
-und ich ging meines Weges.
-
-Man spricht zuweilen in vollster Überzeugung, die Wahrheit gesagt zu
-haben, doch trotz alledem eine recht handfeste Lüge aus und gelangt oft
-erst durch Zufall hinter solchen Betrug heimtückischer Schicksalsmächte.
-
-»Seit ich weiß, daß die schöne Mrs. Newland einen Gatten hat, ist ihr
-Nimbus gewichen,« hatte ich spöttisch geäußert, und war natürlich
-gänzlich davon durchdrungen, daß jene Leute mir total gleichgültig
-bleiben würden. Es sollte indes anders kommen. --
-
-Etwa 14 Tage mochten wir nun in Miß Emmersons stillem, komfortablem
-Boardinghouse wohnen, als etwas sich ereignete, was mein anfänglich
-lebhaftes, dann standhaft zurückgedrängtes Interesse für die liebliche
-Mrs. Newland plötzlich wieder neu anfachte. Meine anstrengenden
-Berufspflichten hielten mich zwar von früh acht Uhr bis nachmittags vier
-Uhr in der Office am Broadway fest. Allein ich fand immer noch Zeit genug,
-einige gemütliche Stunden im Parlour oder auch auf Miß Kathes luftigem
-Balkon zu verbringen. Nach wie vor konversierte ich über allerlei harmlose
-Tagesereignisse mit meiner hübschen Nachbarin bei Tische; auch trug nach
-wie vor die vorsorgliche Gattin ihrem armen Frank die Speisen hinauf in
-sein Zimmer. Aus der Unterhaltung mit ihr erfuhr ich nach und nach, daß
-die alte Dame, welche meine Sympathien durchaus nicht erwecken konnte, die
-Mutter von Frank Newland, sowie der schlanken jungen Frau sei, deren Mann
-mir als Major irgend eines Miliz-Regiments, als Mr. Fowler, vorgestellt
-worden war. Meine blonde Freundin erzählte ferner =en passant=, daß sie
-schon drei Jahre verheiratet wäre und mit der Familie ihres Gatten früher
-in Chicago gelebt, wo ihre Schwiegermutter eine Agentur für den Export
-von Nähmaschinen besessen, das Geschäft jedoch aufgegeben habe, um wegen
-Franks Kränklichkeit die besten New Yorker Ärzte zu konsultieren.
-
-Nach dieser Richtung hin war ich also völlig orientiert, und doch mußte
-ich mir im Gespräche mit der hübschen Frau oft den größten Zwang
-anthun, um sie mit indiskreten Fragen über Dinge nicht zu belästigen, die
-mich von rechtswegen und auch rücksichtlich Miß Emmersons Gebot ganz und
-gar nichts angingen. Warum kam die Familie Newland gerade in der heißesten
-Zeit nach New York, welches dann außer den Geschäftsleuten alle anderen
-Menschen fliehen? Was that eigentlich dieser intelligent und schlau
-aussehende Mr. Fowler, und womit beschäftigte sich den lieben langen Tag
-der von seiner besseren Hälfte, wie ich wahrgenommen, so vergötterte
-Franky, indem er stets erst nach Sonnenuntergang das Haus verließ und das
-immer nur allein?
-
-Wer konnte es mir verdenken, daß ich als thätiger Mann solch seltsame
-Verhältnisse mir nicht recht zu erklären vermochte! Während dieser 14
-Tage war es mir auch nur ein einziges Mal vergönnt gewesen, den Gatten
-meiner Tischnachbarin zu sprechen; das heißt, wir trafen uns eines Abends,
-als ich von einem Spaziergange nach Hause zurückkehrte, auf der Treppe. Da
-ich ihn sofort erkannte, redete ich ihn freimütig an.
-
-Das helle Licht der im Hausflur brennenden Gasflamme beleuchtete dabei
-grell sein schmales, auffallend edel geformtes Gesicht und ließ mich in
-ein Paar sehr ernste, fast finstere Augen schauen. Deutlich merkte ich,
-daß er mir auszuweichen suchte; doch hartnäckig vertrat ich ihm den Weg
-und sagte ihm rasch einige bedauernde Worte über sein Leiden. Nur lässig
-zuckte er die Achsel mit der kurzen Bemerkung: »Sehr gütig, Sir!«
-
-Darauf erging ich mich in Lobeserhebungen über seine schöne, geistreiche
-Frau, hoffend, eine eifersüchtige Regung würde ihn vielleicht aus seiner
-stoischen Ruhe aufrütteln. Doch vergebens! Er freue sich sehr, daß Mrs.
-Newland angenehme Unterhaltung bei Tische gefunden, lautete die abweisende
-Antwort. Dann lüftete er den Hut und ließ mich stehen.
-
-»Welch ein seltsamer Mann!« dachte ich, zwar halb ärgerlich, trotzdem
-aber von dieser Erscheinung angesprochen. Immer deutlicher trat daher die
-Überzeugung an mich heran, daß ich hier vor einem Rätsel mich befand.
-
-Eines Morgens nach dieser Begegnung empfing mich mein Partner, Mr.
-Haberton, ein sonst kühler und stiller Geschäftsmann, in der Office
-mit sichtlich aufgeregter Miene, indem er mir sofort sechs Stück
-Zwanzig-Dollars-Scheine vor die Augen hielt und zornig heraussprudelte:
-daß dies jämmerliche Falsifikate seien, daß wir auf eine nichtswürdige
-Weise um 120 Dollars betrogen worden, und daß einer seiner Clerks ihm
-soeben erzählt habe, während der letzten Tage seien mehrere ähnliche
-Fälle in New York vorgekommen und die City müsse einmal wieder mit
-falschen Greenbacks (Kassenscheinen) überflutet sein.
-
-Angenehm erschien mir dieses betrübende Faktum keineswegs, da ich bei
-diesem kleinen Verluste natürlich selbst beteiligt war. Allein wenn ich
-von Natur nicht ein realistisch angelegter, dabei höchst aufgeklärter
-Mensch wäre, so hätte ich mich in diesem Momente beinahe auf
-spiritistischem Gebiete ertappt. Denn -- plötzlich sah ich in meiner
-Einbildung -- dort über dem kahlen Schädel Mr. Habertons -- das
-schöne, todestraurige Gesicht von Frank Newland auftauchen, nur mit dem
-Unterschiede, daß die ernsten Augen sich jetzt in einem flehenden
-Ausdruck auf mich richteten. Dieses sonderbare Vermengen des Wirklichen und
-Phantastischen meinerseits ließ mich -- vielleicht nach meines Partners
-Ansicht -- wohl höchst stupid und gleichgültig dreinschauen. Denn er
-faßte mich nun ein wenig unsanft bei der Schulter und rief:
-
-»Sie müssen ein Krösus sein oder Sie kennen den Wert des Geldes bei
-uns noch nicht genau, mein lieber Mr. Berken! Denn 120 Dollars wirft wohl
-keiner gern umsonst zum Fenster hinaus!«
-
-Erschreckt fuhr ich auf. Unsinn! Nicht die Spur eines fremden Gesichts war
-mehr zu schauen. Ich war ein Narr.
-
-»Mein lieber Mr. Haberton!« erwiderte ich daher rasch mit der verzweifelt
-traurigsten Miene, die ich nur anzunehmen vermochte. »Der Schreck
-über unseren Verlust machte mich ganz sprachlos. Der Kukuk soll alle
-Falschmünzer Amerikas holen, und wenn ich mich von einem solchen Halunken
-je wieder über den Löffel barbieren lasse, so will ich nicht mehr wert
-sein, ein Partner der Firma Haberton & Comp. zu heißen!«
-
-Er schien zufrieden, und im Laufe des Gespräches erfuhr ich dann
-noch, daß schon vor mehreren Wochen die Polizei einer großen
-Falschmünzer-Gesellschaft, welche aus einer völlig organisierten Bande
-bestehen sollte, in St. Louis auf der Spur gewesen. Doch die Schlauköpfe
-der Spitzbuben sind oft pfiffiger als die Schlauköpfe des Gesetzes, und so
-wäre denn das vorsichtig umstellte Nest der sauberen Vögel doch leer und
-von ihnen verlassen gefunden worden. Man spräche indes viel darüber,
-daß das Haupt dieser Koterie ein Frauenzimmer sei, welches mit wahrhaft
-genialer Geschicklichkeit die feinsten Fäden ihres Einflusses bis in alle
-Staaten zu spinnen verstände und ihre Verbindungen in Kreisen haben solle,
-wo kein Mensch einen Falschmünzer zu suchen wage.
-
-Ich glaube, daß ich an diesem Vormittage recht zerstreut bei der Arbeit
-war und wirklich Gott dankte, als ich die steinernen Stufen zu Miß
-Emmersons Boardinghouse emporsteigen durfte.
-
-Bei Tische überschaute ich mir sinnend die Gesichter der Familie Newland.
-Kerzengerade saß die Alte auf ihrem Platze. Wieder umrauschte eine schwere
-Robe ihre Gestalt, während ein feines Spitzengewebe auf ihrem noch dunklen
-Scheitel lag und mehrere prächtige Solitäre die Finger schmückten.
-Doch als ich mir gerade diese starkknochigen, unschönen Hände näher
-betrachtete, mit denen sie eben die Speisen zum Munde führte, konnte
-ich mich des Gedankens nicht erwehren, daß dieses Mannweib, bevor der
-Bruderkrieg der Union entflammte, sehr wohl eine jener gefürchteten
-Sklavenaufseherinnen der Südstaaten hätte sein können, die, mit der
-eisenbeschlagenen Hetzpeitsche in der Hand, ihre unseligen Opfer in Zucht
-und Ordnung gehalten.
-
-Unangenehm berührt durch solchen Ideengang, wandte ich mich den
-liebreizenden Zügen meiner jungen Nachbarin zu. Sie lächelte mich heute
-ein wenig traurig an und meinte, daß Franky sich gar nicht recht frisch
-und heiter befände. Die Langeweile, zu der ihn die Ärzte verdammt, sei
-doch gar zu geisttötend.
-
-»So lesen Sie ihm doch vor, Madame!« warf ich freundlich beschwichtigend
-ein.
-
-»O, er haßt ja alle Lektüre, außer Zeitungen, und darin stehen doch
-immer die meisten Lügen!« entgegnete die schöne Frau halb trotzig.
-
-»Nicht immer, Mrs. Newland!« sagte ich dabei sehr ruhig, aber ernst, und
-hob mein Auge langsam zu dem ihren. »Der ›New York Herald‹ wird
-zum Beispiel in den allernächsten Tagen recht interessante Entdeckungen
-offenbaren, die keinesfalls der Phantasie eines eifrigen Zeitungs-Reporters
-entsprungen, sondern der Wirklichkeit entnommen sind.«
-
-Und völlig unbefangen erzählte ich ihr darauf von unserem kleinen
-Geldverluste und den Mitteilungen Mr. Habertons.
-
-Im nächsten Augenblicke jedoch bereute ich das eben Gesagte schon aufs
-tiefste. Denn die Veränderung, welche nach meinen Worten in Mrs. Newlands
-Zügen sich ausprägte, war eine so entsetzliche, ja beängstigende,
-daß ich selbst ganz verwirrt davon wurde und beinahe hilflos verlegen
-stotterte: ob sie sich nicht wohl fühle? Das sonst so weiße und rosige
-Antlitz war für mehrere Minuten von einer fast bleigrauen Blässe
-überzogen. Die Augen starr und ausdruckslos auf einen Punkt gerichtet, die
-Lippen krampfhaft zusammengepreßt -- so lehnte das schöne Geschöpf im
-Sessel.
-
-»Nein -- nein -- ja -- die Hitze bringt mich um!« stöhnte sie, mit
-vieler Mühe sich ermannend, indem sie halb mechanisch nach dem vor ihrem
-Platze stehenden Eiswasser langte.
-
-Zuvorkommend und selbst äußerst erschreckt, reichte ich ihr das
-Glas, woraus sie hastig einige Schlucke des kühlenden Getränkes
-hinunterstürzte. Dann -- es war bereits gegen Ende der Mahlzeit -- schob
-Mrs. Newland mit sichtlicher Kraftanstrengung den Stuhl zurück und erhob
-sich.
-
-»Ich muß mich leider hinaufbegeben; etwas Migräne, die mich zuweilen
-in schwülen Zimmern befällt --, weiter ist es nichts. Gute Nacht, Mr.
-Berken! Bitte, thun Sie aber dieses Vorfalls gegen niemanden Erwähnung!«
-
-Jetzt traf mich ein wahrhaft flehender Blick der blauen Augen. Darauf
-schlüpfte die graziöse Gestalt flüchtig und noch geräuschloser als
-sonst aus dem Zimmer. --
-
-Die nächsten acht Tage ging ich einher, wie jemand, der sich vielleicht
-mit einem großartigen Wagstück herumträgt und nicht recht zu einem
-festen Entschlusse gelangen kann, auf welche Weise dasselbe auszuführen
-sei. »Thun Sie aber dieses Vorfalles gegen niemand Erwähnung!« hatte Mr.
-Frank Newlands Gattin mir bittend zugeflüstert. Die Zunge hätte ich mir
-lieber abbeißen mögen, ehe ich nur eine Silbe von dem verraten, was seit
-jenem Abend -- ja seit dem Morgen, als Mr. Haberton mir in der Office die
-falschen Banknoten gezeigt, in meinem Innern vorging. Jeder andere, selbst
-meine alte Freundin Miß Kathe, wenn ich ihr das zu jenem waghalsigen
-Unternehmen bereits eingesammelte und notwendige Material mitgeteilt,
-würde mich auch sicher gründlich ausgelacht und abwehrend etwa geäußert
-haben: »Mein Bester, das sind deutsche Thorheiten! Wer Schmutz anfaßt,
-der darf sich nicht wundern, wenn etwas davon an den Händen kleben
-bleibt!« -- Doch einerlei! Was ging mich die amerikanische Herz- und
-Gefühllosigkeit hinsichtlich unserer Mitbrüder an, wo eine innere Stimme
-mich unwiderstehlich antrieb, in das dunkle Geschick zweier Menschen, die
-mich sympathisch anzogen, einzugreifen -- zu helfen -- zu retten, solange
-es noch Zeit war. -- --
-
-Die Familie Newland schien seit den allerletzten Tagen sich in sonderbarer
-Erregung oder Erwartung zu befinden. Mr. Fowler war höchst wenig zu sehen
-und schien dringende auswärtige Geschäfte zu besorgen. Dafür aber saßen
-seine Gattin und Schwiegermutter, mit Sorge und Ungeduld der Rückkehr des
-Abwesenden harrend, oft bis gegen elf Uhr abends auf dem Balkon.
-
-»Wir lieben es, die erfrischende Nachtluft zu genießen,« hatte die zarte
-junge Frau einmal mit süßem Lächeln zu Miß Emmerson geäußert, und
-niemand störte sie darin.
-
-Mittlerweile brachten die New Yorker Zeitungen, wie ich bereits
-vorausgesagt, wirklich eine Menge haarsträubender und mitunter auch
-lächerlicher Artikel über den mutmaßlichen Aufenthalt der gefährlichen
-Falschmünzergesellschaft, welche an Falsifikaten schon ein Kapital
-in Umlauf gesetzt haben sollte, das bereits mehr denn eine Million
-repräsentiere. Einerseits hieß es: das Haupt der Sippe befände sich
-völlig ungeniert und seelenvergnügt in unserer City; andererseits
-lauteten die Berichte, daß die so schlaue, vielleicht auch nur mythenhafte
-»Dame« sich in Chicago aufhielte. Auf jeden Fall aber hoffe die Polizei,
-dieses Mal einen brillanten Fang zu thun und ihrer wirklich habhaft zu
-werden.
-
-Meine junge Tischnachbarin hatte seit jenem Migräneanfall jetzt oft so
-sonderbar rote und geschwollene Augen, und das reizende Kinderantlitz
-dünkte mir auch schmäler geworden, als ob irgend ein Gram oder heimliches
-Weh an dem Herzen des lieblichen Geschöpfes nage. Sie sprach wenig und aß
-fast nichts.
-
-Dagegen machte ich die Entdeckung, daß sie mit ihrer Schwiegermutter
-auf höchst gespanntem Fuße zu leben oder -- richtiger gesagt: unter
-dem Despotismus dieser Frau zu leiden schien. Bestärkt wurde ich noch in
-meiner Idee, als ich beim Vorüberschreiten an Mr. Franks Zimmer, welches,
-wie diejenigen seiner Mutter und Schwester, in der ersten Etage des Hauses
-lag und dessen Thür ein wenig offen stand, -- einmal, ohne im mindesten
-lauschen zu wollen, die harte Stimme des mir so widerlichen Weibes zu ihrem
-Sohne deutlich sagen hörte:
-
-»Und wenn Du Dich hier am Boden zu meinen Füßen winden würdest, ich
-gebe Dir dennoch die Freiheit nicht zurück, weil das Wohl und Wehe eines
-einzigen gegen die Existenz und Sicherheit von uns allen nicht in Betracht
-kommt. Wir brauchen Dich und das genügt!«
-
-»Und darüber wird Frank zugrunde gerichtet! Siehst und fühlst Du denn
-das nicht, Mama?« vernahm ich jetzt auch die fast schluchzende Stimme
-meines kleinen, blonden Lieblings. Wie erstarrt zögerte ich einen Moment.
-
-»Gut; dann geht er eben zugrunde, wenn er eine Memme -- ein Feigling
-ist!« klang es nochmals aus dem Munde dieser Mutter zurück.
-
-Dann stürmte ich, Abscheu und Wut im Herzen, die Treppe hinan nach meiner
-Wohnung. -- --
-
-Am selben Nachmittage kam ein feingekleideter, gut aussehender älterer
-Herr ins Haus und wünschte Miß Emmerson zu sprechen. Zufällig war ich
-selbst mit unserer Hauswirtin im Parlour anwesend, welche mich lächelnd
-bat, dazubleiben.
-
-Nicht umsonst hatte ich die Carriere eines Advokaten in diesem Lande
-absolviert, um in dem Eintretenden nicht sofort den Detektiv der
-Geheimpolizei zu vermuten. Ein scharf prüfender Blick seines dunklen Auges
-glitt im Nu auch über meine unbedeutende Person herab. Doch als Miß Kathe
-ihm meine Beziehungen zu der Firma Haberton & Comp. genannt, wurde mir
-augenblicklich ein sehr verbindliches: »=How do you do, Sir?=« zu teil,
-und nun erst rückte der Besucher, wenngleich noch immer vorsichtig,
-mit seinem Anliegen an den Tag. Miß Emmerson solle sein zudringliches
-Erscheinen nicht etwa übel deuten, meinte er, Platz nehmend, wobei er den
-großen Diamanten an seinem kleinen Finger im Lichte der durchs Fenster
-dringenden Sonnenstrahlen spielen ließ. Allein, wie manche Erfahrungen
-bereits bewiesen, befänden sich Persönlichkeiten, deren Antecendenzien
-mit dem Wortlaute der Gesetzbücher oft nicht recht übereinstimmten,
-zuweilen vorzugsweise in den allerfeinsten und fashionabelsten
-Boardinghäusern, um soviel als möglich den äußeren Schein zu wahren und
-jeden Verdacht von sich abzulenken. Er müsse so unbescheiden sein und um
-die Namen und Berufsarten ihrer Hausbewohner bitten.
-
-Miß Kathe machte trotz dieser glatten Worte ein höchst empörtes und
-wütendes Gesicht und rief in der ihr charakteristischen, etwas derben
-Trockenheit: ihr Haus berge glücklicherweise nur äußerst respektable
-Leute, und wenn dem Herrn ihre Aussage nicht genüge, so fordere sie ihn
-auf, heute abend das Diner mit sämtlichen Gästen einzunehmen, was sicher
-den Beweis führen würde, daß er dieses Mal auf gänzlich falscher
-Fährte sei.
-
-Herr des Himmels, welche Unvorsichtigkeit von Miß Kathe! Dieselbe
-entsprang einzig ihrem völlig unbefangenen Gemüte, dachte ich entsetzt,
-und stand wie auf Kohlen in meiner Fensternische, in die ich mich
-zurückgezogen hatte. Wenn dieser Spürhund etwas davon erfuhr, daß Frank
-Newland die Gesellschaft so auffallend mied und allein auf seinem Zimmer
-speiste, wenn ...
-
-Jetzt erschrak ich fast über meine seltsame Bangigkeit. War es denn
-möglich, daß ich selbst, ein Mann des Gesetzes, noch dazu ein Mensch,
-welcher jede lichtscheue That aus tiefster Seele verachtete, ja dessen
-Lebensaufgabe darin bestand, das gefährdete Recht, wo immer es galt, zu
-vertreten, daß ich also selbst für diesen unseligen jungen Verirrten und
-dessen Frau Partei nahm, -- daß ich gegenüber der Sicherheitsbehörde New
-Yorks mich zu ihrem Schutze bereits aufzustellen gedachte, anstatt daß ich
-vor diesen Mann dort hintrat und ihm frank und frei alle Entdeckungen
-der letzten Tage offenbarte. Denn was ging mich schließlich dieser
-Frank Newland nebst seiner blonden Gattin an? Oder war diese mir selbst
-unerklärliche Sympathie für jene Menschen vielleicht doch etwa ein Wink
-von oben?
-
-»Danke bestens, sehr verbunden, Miß Emmerson!« lautete indes zu meiner
-größten Beruhigung des Detektivs Antwort. »Ihre Versicherung genügt
-mir fürs erste, umsomehr, weil ich in meiner Stellung alles Auffällige
-vermeiden muß.«
-
-Dann machte er sich einige Notizen in sein Taschenbuch und verließ mit
-aalglatten Bewegungen und sehr verbindlichen Verbeugungen gegen die Dame
-und mich das Parlour.
-
-»Meinen Sie, Mr. Berken, daß es in der eben angedeuteten Beziehung mit
-den Newlands nicht recht geheuer ist?« fragte mich Miß Kathe, als wir
-jetzt allein waren, wobei ein etwas ängstliches Zucken ihre Mundwinkel
-umspielte. »Ich hielt sie bisher, das heißt die Männer, für Gambler
-(Spieler) von Profession, vielleicht auch für Leute, die auf irgend eine
-Patent-Medizin reisen oder dergleichen, jedoch hinsichtlich des guten Rufes
-meines Hauses für völlig harmlose Kreaturen. Ihnen aber traue ich wohl
-eine Portion Menschenkenntnis zu. Nun, was meinen Sie, Mr. Berken? Es
-thäte mir wirklich leid, wenn ich den Newlands aufkündigen müßte und
-meine Zimmer, voraussichtlich bis in den September hinein, leer ständen.«
-
-Ich hatte das Gesicht ein klein wenig nach rechts gewandt, so daß Miß
-Kathes Blicke nur mein Profil zu treffen vermochte, und entgegnete so
-ruhig, als ich trotz der Aufregung, die in mir arbeitete, es fertig zu
-bringen imstande war:
-
-»Liebe Miß Kathe! Da ich von dem Grundsatze ausgehe, besser ist besser
-und sicher ist sicherer, so würde ich doch die paar hundert Dollars
-nicht ansehen und gelegentlich, das heißt, auf irgend einer triftigen
-Entschuldigung fußend, der alten Newland zu verstehen geben, daß Sie
-über ihre Zimmer zu disponieren wünschten. Ich verehre Sie zu hoch
-und aufrichtig, Miß Kathe, um Sie auf irgend welche Weise in
-Unannehmlichkeiten verwickelt zu sehen! Daher rate ich Ihnen offen hierzu,
-weil mir die Sache mit dem Detektiv gar nicht gefällt.«
-
-Erschreckt prallte die alte Dame zurück und starrte mich mehrere Sekunden
-durchbohrend an. Dann faßte sie sich rasch und versetzte mit schmerzlichem
-Tonfall der Stimme:
-
-»Sie würden mir das nicht sagen, Mr. Berken, wenn es nicht Ihre innerste
-Überzeugung wäre!«
-
-»Sicherlich nicht, Miß Kathe!«
-
-»Gut denn; ich folge Ihnen!«
-
-Ohne zu zucken und ohne vielleicht weiter des vermeintlichen Verlustes
-einer für sie ziemlich bedeutenden Summe zu gedenken, reichte die resolute
-alte Dame mir die Rechte hin und sagte:
-
-»Morgen wird ein Ende gemacht. Punktum!«
-
-Dann verließ auch sie das Sprechzimmer. --
-
-»Morgen!« Mechanisch öffnete ich die nach dem Balkon führende Glasthür
-und riß in tiefen Gedanken an den an dem Geländer sich emporrankenden
-Klematisblüten. »Morgen!« kam es nochmals sorgenvoll über meine Lippen.
-Jetzt stand die Sonne bereits tief am Horizonte, und wenn sie dort im
-Osten wieder emporstieg, dann mußte etwas geschehen sein, wovon die dabei
-beteiligten Personen bis jetzt noch keine Ahnung hatten.
-
-»Deutsche Sentimentalität und Thorheit!« neckte das böse Prinzip in
-meiner Brust. »Laß ab von Sachen, die Dich nichts angehen, und hemme die
-Gerechtigkeit nicht in ihrem Lauf!«
-
-Standhaft wehrte ich mich dagegen und flüsterte dafür kaum hörbar:
-
-»Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen!«
-
-Doch horch! Klang das drinnen im Parlour nicht gleich einem unterdrückten
-Schluchzen? Peinlich berührt und um nicht etwa hier draußen auf dem
-Balkon der unfreiwillige Zeuge irgend einer Scene zu werden, trat ich rasch
-ins Zimmer zurück. Allein noch einmal stutzte ich. Dort in einem Sessel,
-das Antlitz auf die Armlehne desselben niedergebeugt, lag meine schöne
-Tischnachbarin, wie es schien, im Stadium von Agonie oder höchstem
-Schmerz. Nur ab und zu drang ein sich qualvoll herausringender Laut aus
-ihrer Brust, während die krampfhaft verschlungenen Finger das blonde
-Haupt umfaßten. Ungeachtet dieses betrübenden Anblicks durchströmte mich
-beinahe wilde Freude. Der Zufall spielte mir hier die beste Gelegenheit zum
-Beginn meines Samariterwerks in die Hand. Daher trat ich entschlossen an
-die Ahnungslose heran und rief:
-
-»Mrs. Maud Newland!« Seit heute morgen wußte ich auch den Vornamen des
-jungen Geschöpfs.
-
-Wie durch einen elektrischen Strom berührt, fuhr die Angerufene empor und
-stand alsbald kerzengerade mir gegenüber, während die glühenden, noch
-bebenden Lippen sich zu einem mühseligen Lächeln verzerrten.
-
-»O, ich habe geschlafen und -- sehr -- sehr garstig geträumt!« stotterte
-sie, sich die wirren Locken aus der Stirn streichend. Ein anderer, als ich,
-hätte sich von der Wirklichkeit dieses Arguments überzeugen lassen.
-
-Welche moralische Kraft und Geistesgegenwart steckte doch in diesem
-lieblichen Wesen!
-
-»Nein, Madame, Sie haben _nicht geschlafen_, sondern in tiefem,
-leidenschaftlichem Seelenschmerz -- in fassungslosem Jammer über
-das Unheil, welches Schritt um Schritt Ihnen näher rückt, haben Sie
-_geweint_!« entgegnete ich ruhig, aber fest.
-
-Jetzt stierten die blauen Augen in wahrhaft entsetztem Ausdruck mir ins
-Gesicht.
-
-»Mein Herr! Mit welchem Rechte wagen Sie, eine solche Sprache gegen mich
-zu führen?« kam es leise, jedoch zornig aus dem zuckenden Munde.
-
-»Mit dem Rechte aufrichtiger, warmer Freundschaftsgefühle, Mrs.
-Newland!« gab ich völlig unbeirrt zurück und faßte nun auch
-rückhaltlos nach ihrer Rechten.
-
-»Freund--schaft?« wiederholten ihre Lippen zögernd in halb ungläubigem
-Trotze. Dünkte es mir doch, als ob es dabei gleich nie geahntem -- nie
-gekanntem Glücke in den schönen Augen aufflammte. Aber sie entzog mir die
-kleinen Finger dennoch und setzte rasch und herb hinzu:
-
-»Ich danke, Sir, wir -- ich brauche die so edelmütig gebotene
-Freundschaft eines -- Fremden nicht, da ja auch gar kein Grund vorliegt,
-sich mitleidig unserer anzunehmen, nein, wirklich absolut nicht!«
-
-»So?« Fest und durchdringend heftete ich meine Blicke auf das bleiche
-Gesichtchen. »Wissen Sie, Mrs. Maud Newland, daß Sie in diesem Moment
-eine _Lüge_ aussprechen? Wohlan! Mir kann das ja einerlei sein. Aber ich
-erinnere Sie nur daran, daß dort oben über uns _Einer_ lebt, dem wir
-Rechenschaft zu geben haben von unseren Worten und Werken, und daß auch
-für Sie eine Zeit kommen kann, wo Sie dieser Hilfe benötigt wären!«
-Schwer und keuchend kamen die Atemzüge aus der jungen Brust. »Wenn man in
-demütigem Sinne diesem _Einen_ seine Sorgen und Lasten anempfiehlt, dann
-erscheint das Schwerste wirklich nicht so schwer!« fuhr ich eindringlicher
-fort.
-
-Jetzt schluchzte sie auf und bedeckte das Antlitz mit den Händen.
-
-»O, warum sprechen Sie _so_ zu mir! O, wie lange -- lange, -- fast seit
-meinen Mädchentagen ist es her, daß jemand gegen mich den Namen Gottes
-genannt hat! Und doch habe auch ich einst, ehe ich Franks Gattin wurde,
-oftmals so innig und warm zu ihm gebetet! Stehen denn plötzlich alle
-süßen Erinnerungen an die Kindheit auf -- an meine heimgegangenen Eltern
--- an jene Zeit, wo noch alles anders war?« fügte sie, die Wangen von
-Thränen überströmt, nun träumerisch ins Leere starrend, hinzu. »Wer
-sind Sie, Sir, daß Sie es verstehen, solche Saiten in meinem Innern zu
-berühren? Gehen Sie -- o gehen Sie! Ich bin Ihrer Teilnahme und Güte
-nicht wert, -- habe ja kein Anrecht an die Barmherzigkeit und Milde Gottes!
-Denn ...«
-
-Sie stockte plötzlich und wollte an mir vorüber zur Thür hinaus. Doch
-energisch vertrat ich ihr den Ausweg.
-
-»Nicht _allein_ dürfen Sie hinaus, Mrs. Newland! Gerade um der
-schmerzlichen Erinnerungen willen an das glückliche Einst bitte ich Sie,
-mich jetzt sofort zu Ihrem Gatten zu führen und mir eine kurze Unterredung
-mit ihm zu gestatten. Widersetzen Sie sich dem nicht! Denn es ist zu Ihrem
-Wohl -- Ihrer Rettung -- _ich weiß alles_!«
-
-Tödlich erschreckt fuhr die Fassungslose zurück.
-
-»Was -- was wissen Sie?«
-
-»Daß Frank ein armer Bethörter -- ein Unglücklicher ist und schwer
-unter dem Drucke eines tyrannischen Weibes, das sich leider seine Mutter
-nennt, duldet und darüber zugrunde geht!« flüsterte ich ihr entschlossen
-ins Ohr. »Aber, beim Allmächtigen, der mein Vorhaben begünstigt,
-schwöre ich, daß wir über diese Megäre, die auch Sie im tiefsten Innern
-verachten, siegen werden, und ich Ihnen Freiheit, Glück und Sicherheit
-zurückzugeben vermag! Nur folgen Sie mir und fügen Sie sich bedingungslos
-meiner Weisung!«
-
-»Mein Himmel! Träume ich denn? Giebt es in dieser jämmerlichen Welt
-wirklich noch etwas, was Hoffnung und Glaube an der Menschheit heißt?«
-rang es sich zitternd über die bebenden Lippen der jungen Frau. »Darf
-ich Ihnen -- dem Fremden -- wahrhaft trauen? Sind Sie nicht auch etwa
-ein Mensch, wie jener, der unlängst hier war, -- ein solcher, der kein
-Erbarmen und keine Rücksicht kennt?«
-
-»Mrs. Maud Newland! Ich dächte doch, daß Sie von der Aufrichtigkeit
-meiner Freundschaft überzeugt sein sollten!« entgegnete ich fast
-vorwurfsvoll und weich.
-
-»Freundschaft!« schrie sie darauf in wilder Erregung, so daß ich über
-den grellen Ton ihrer Stimme beinahe erschrak. »O, welch ein Zauber liegt
-in diesem einen Wort! Kommen Sie, ja kommen Sie rasch hinauf zu meinem
-armen, geliebten, unseligen Gatten! Er wird -- er muß Ihnen folgen!« Und
-ungestüm zog das liebliche Geschöpf mich mit sich fort.
-
-Kaum konnte die Stunde zu einem ungestörten Gespräch mit dem jungen
-Einsiedler dort oben in seinem stillen Zimmer günstiger gewählt sein.
-Denn erst vor einer Weile hatte ich die alte Newland nebst Tochter und
-Schwiegersohn das Haus verlassen sehen. Überdies gestand meine Begleiterin
-mir jetzt in merkwürdig rührender Vertraulichkeit, daß ihre Verwandten
-einen kleinen Ausflug nach Coney Island unternommen und vor spätem
-Abend kaum zurückerwartet werden dürften. Man habe zwar ausdrücklich
-gewünscht, daß sie selbst an der Partie teilnehmen sollte; doch hätte
-sie das, um Frank nicht allein zu lassen, auf das entschiedenste abgelehnt.
-
-Unter dergleichen leise geführten Reden erreichten wir das erste
-Stockwerk, doch machte die junge Frau vor dem verhängnisvollen Gemache
-noch einmal Halt und holte, gleichsam um Mut zu schöpfen, tief Atem.
-Ach, hätte ich der Ärmsten die Viertelstunde doch ersparen können! Nach
-kurzem Zögern öffnete Mrs. Newland mit raschem Entschluß die Thür und
-schritt mir ins Zimmer voran.
-
-Das Erste, was mir beim Eintreten sofort ins Auge fiel, war wieder jener
-eisenbeschlagene Monstre-Koffer, dessen Begegnung mir schon einmal zu
-denken gegeben und dessen Anblick nun aufs neue die ganze gefährliche
-Tragweite, ebenso aber auch die Notwendigkeit dieses Schrittes klarlegte.
-Die Fenster des Gemaches gingen gegen Westen, so daß die noch hellen
-Strahlen der Abendsonne es bis in seine tiefsten Winkel beleuchteten.
-
-Mr. Frank Newland schien jedoch unseren Besuch gar nicht zu merken. Denn
-mit aufgehobenem rechten Arme, ein Pistol in der Hand haltend, zielte er
-soeben nach einer an der Wand der Langseite befestigten Scheibe, deren
-durchlöchertes Feld mir zur Genüge zeigte, wie und durch welches
-Vergnügen der junge Mann seine Mußestunden sich verkürzte. Wieder
-gewahrte ich in seinem schönen Gesichte den finsteren Schmerzensausdruck
-und konnte in diesem Momente mich wirklich des Gedankens nicht erwehren,
-ob der, wie ich ja wußte, so verzweifelt und vergeblich an seinen Fesseln
-Rüttelnde nicht vielleicht dort, wo sich die weiße Papierscheibe befand,
-die Häupter seiner Peiniger oder mutmaßlichen Verfolger im Geiste zu
-schauen wähnte.
-
-»Frank! Ich wollte -- ich möchte so gern, daß Du -- diesem Herrn hier,
-Mr. Berken, für einige Minuten Gehör schenktest!« rief jetzt, das
-lange Schweigen unterbrechend, meine Begleiterin ihrem Gatten bittend und
-zärtlich zu, während sie nach ihm hinüberflog und die Arme um seine
-Schultern schlang.
-
-Sofort sank die Hand mit dem Pistol herab, und, mehr erschreckt als
-unwillig, fuhr sein Kopf nach mir herum.
-
-»Was soll's? Du weißt ja, Maud, daß ich nicht gern gestört bin!« kam
-es leise, doch grollend über seine Lippen.
-
-Allein trotz dieses wenig ermutigenden Empfanges hatte ich mich ihm rasch
-genähert und begann ohne Zögern:
-
-»Die große Wichtigkeit dieses Besuches hier, ja meines Anliegens an Sie,
-Mr. Newland, überwiegt das Peinliche, was zweifellos für mich in diesem
-etwas dreisten Vordringen eines Ihnen fast Fremden liegt!«
-
-Franks geistvolles, dunkelumrahmtes Auge richtete sich bei diesen Worten
-ganz seltsam scheu und fragend nach dem meinen, indem er herb und zögernd
-erwiderte:
-
-»Wegen meines Leidens empfange ich niemals -- grundsätzlich niemals
-Besuche. Doch, wenn _sie_« -- (ein vibrierender, auffallend zärtlicher
-Ton lag in diesem: _sie_, womit er der Gattin Hand sanft drückte) --
-»ausnahmsweise jemanden bei mir einführt, dann muß ich mich allerdings
-schon von der Notwendigkeit durch dies Abweichen von der Regel überzeugen
-lassen.« Er verbeugte sich gegen mich und fügte etwas weniger schroff,
-indes mit immer noch tief ernster Stimme hinzu:
-
-»Meine Frau hat mir bereits von Ihrer Liebenswürdigkeit und Ihren
-menschenfreundlichen Gesinnungen erzählt, Mr. Berken! Es ist ein edler
-Grundzug im Charakter der Deutschen, daß Teilnahme und Freundschaft bei
-ihnen nicht leere Worte sind, sondern dem Herzen entspringen.«
-
-Dabei legte er die kleine Schußwaffe beiseite und reichte mir die Finger
-hin. Eine müde Apathie machte sich im Wesen dieses Mannes bemerkbar und
-verlieh ihm, verbunden mit dem schmerzlich krankhaften Zuge seines schmalen
-Gesichts, den Anstrich eines wirklich Leidenden.
-
-So ruhig und fest, daß ich mich in diesem Momente selbst über meine
-Fassung wunderte, erwiderte ich:
-
-»Der Hauptgrund unseres Charakters ist eine unüberwindliche, ja, so zu
-sagen, schon mit der Muttermilch eingesogene Abneigung gegen jeden falschen
-Schein.«
-
-Ganz sonderbar stutzte er, während ein halb wirrer Blick über meine
-Gestalt hinwegglitt, und gleichsam fragend wandte er sich nun nach seiner
-jungen Frau, welche mit im Schmerz gefalteten Händen in einen Sessel
-gesunken war.
-
-»Ich muß wohl annehmen, daß Sie einen besonderen Zweck mit diesem --
-Besuche verbinden?« entfuhr es in harten, schroffen Tönen seinem Munde,
-indem er nun, wie zu einer kampfbereiten Stellung, sich vor mir aufrichtete
-und bald noch heftiger hinzufügte: »Sie hassen den Schein! Sehr gut,
-mein Herr! Aber unter welchem Vorwande erklären Sie mir dann Ihr sonderbar
-geheimnisvolles Benehmen, welches zweifellos irgend eine Absicht -- einen
-Hintergedanken verrät? Denn nur allein deshalb hierher in mein Zimmer zu
-kommen, um einen Ihnen fast Unbekannten, der Ihnen niemals störend in den
-Weg getreten, mit zweideutigen Reden zu intriguieren, dafür halte ich Sie,
-Mr. Berken, doch für zu =gentlemanlike= und edel.«
-
-»Sie scheinen viel Menschenkenntnis zu besitzen, Mr. Newland!« gab ich
-ihm, ohne mit der Wimper zu zucken, zurück. »Wohlan denn! Den Grund
-dafür kennt bereits Ihre verehrte Gemahlin; es ist der, daß ich Ihnen mit
-Rat und That behilflich sein möchte, Ihre unwürdigen Fesseln zu sprengen!
-Ist diese Antwort nicht klar und verständlich genug?«
-
-Durchdringend heftete ich dabei meine Augen auf das abgehärmte
-Männergesicht. Doch nur ein leise gurgelnder Ton drang über seine Lippen,
-während er haltlos mehrere Schritte nach rückwärts taumelte.
-
-»Ich dulde keine Einmischung in meine Angelegenheiten!« stieß er endlich
-nach wenigen Sekunden wild heraus. Sein Auge funkelte und jede Fiber des
-schlanken, aber sehnigen Körpers schien in Erregung und Leidenschaft zu
-zucken. Dann aber lachte er gellend auf. »Und wissen Sie, mein Herr,
-was wir Amerikaner aus tiefster Seele verachten? Das sind glattzüngige
-Schleicher, die hier und dort mit dem löblichen Grundsatze: ›der Zweck
-heiligt die Mittel‹ herumspionieren und schließlich doch nur Unheil
-stiften! Solche Leute sind mir in den Tod verhaßt. Und nun, mein Herr,
-bitte ich, daß Sie in Zukunft mich unbelästigt lassen!«
-
-Damit kehrte er mir den Rücken und schritt dem Fenster zu. Hier schien
-demnach der Sieg nicht ganz so leicht, als unten im Parlour über die junge
-Frau, dachte ich unentschlossen. Doch kam schon die kleine Verbündete mir
-rasch zu Hilfe, indem sie, emporspringend und zu dem Gatten hinübereilend,
-rief:
-
-»O Frank! Sei barmherzig! Um Deiner Liebe zu mir -- um unseres Elends
-willen, weise diesem Herrn nicht so schroff die Thür! Denn gerade er, Mr.
-Berken, will uns ja dazu verhelfen, daß der waghalsige Plan, der schon
-längst in Deinem Kopfe reifte, aber stets wieder vereitelt wurde, wirklich
-einmal zur Ausführung gelangt. Ich flehe Dich an, Frank, lasse diese gute
-Gelegenheit nicht unbenutzt vorübergehen! Denn ohne energischen Beistand
-käme es nie -- nie dazu!« sprudelte das schöne Weib in flammender
-Begeisterung für die Sache wild hervor. »Du bist so gut und treu, voller
-Liebe und Rücksicht für mich, aber dennoch bloß ein schwankendes Rohr
-gegenüber der Macht und dem Willen Deiner Mutter!«
-
-Ich war ebenfalls näher getreten und sah deutlich, wie eine heiße
-Blutwelle Mr. Franks Stirn verdunkelte.
-
-»Schweig, Maud! Du vergißt Dich. Dein noch unerfahrener Sinn setzt
-Vorsicht und Pflichten außer acht!« raunte der Gatte unter keuchenden
-Atemzügen ihr leise zu.
-
-Allein sie beachtete diese Warnung nicht. In zwei Sätzen sprang die
-graziöse Gestalt zu mir herüber, faßte stürmisch meine Hand und rief:
-
-»So sagen Sie ihm doch, daß Sie alles wissen -- in alles eingeweiht
-sind und den ganzen großen Jammer unserer Existenz entdeckt haben, Mr.
-Berken!«
-
-Da drang es wie ein schlecht unterdrückter Wutschrei über des Mannes
-Lippen, der drohend die Faust nach dem lieblichen Haupte emporhob.
-
-»Maud, -- Unselige! Du hast uns verraten!«
-
-»Nein, Mr. Newland, Sie irren!« sagte ich, jetzt dicht an ihn
-herantretend und mit festem Druck sein Handgelenk umspannend. »Der bloße
-Verdacht allein ist schon eine Kränkung für Ihr treues, opfermutiges
-Weib. Nicht sie hat den verhüllenden Schleier von dem düsteren Bilde
-Ihres Daseins hinweggezogen, nicht Ihre Gemahlin hat mir die traurige
-Wahrheit entdeckt, sondern mein eigenes warmes Interesse für ein Paar
-bedauernswerte junge Menschen ließ mich Schritt für Schritt dem ersten
-leisen Verdachte, den schon jener ominöse Koffer dort anregte, weiter
-nachforschen. Auch nicht um Unheil zu stiften, Mr. Frank Newland, wie Sie
-soeben voraussetzten, -- nein, einzig nur aus dem Grunde, um im Augenblicke
-höchster Gefahr -- und solche ist jetzt vorhanden -- zu retten und zu
-helfen!«
-
-Er riß sich von mir los und rannte, mit beiden Händen den Kopf umfassend,
-einigemal wie rasend durch das Zimmer.
-
-»Wo -- wo ist Gefahr? Wer sagt das? Wer bürgt mir dafür?« rief er
-heiser.
-
-»Frank! Du selbst weißt es ja -- kennst das drohende Gespenst der
-Verfolgung, welches Tag und Nacht über uns schwebt; weißt auch, was für
-ein Mensch vor kaum einer Stunde bei Mrs. Emmerson Nachfrage hielt, weißt
-ferner, daß der Boden unter unseren Füßen bereits wankend geworden!«
-mahnte die junge Frau mit todesbleichem Gesicht. »Nur Mut und rasche
-Entschlossenheit, Geliebter, und wir entfliehen dieser schauerlichen
-Existenz, die ich verabscheue, die entwürdigend für uns ist! Zeige,
-daß Du ein Mann bist, Frank -- ein Mann, der, dieser empörenden Tyrannei
-anderer müde, sein besseres Ich herauswindet aus einer Bergeslast von Lug
-und Trug. O! arbeiten und Dir beistehen will ich ohne Murren und Klagen
-Tag für Tag, um uns ein neues Heim zu schaffen!« fuhr die junge Frau mit
-überzeugender Wahrheit und bewundernswerter Beredsamkeit fort, -- »ein
-stilles, friedliches Heim, welches allein uns gehört und worüber der dort
-oben wachen soll, den wir so lange Zeit vernachlässigt haben! Frank, wenn
-Du mich wahrhaft liebst, so folge diesem da, der es gut und ehrlich mit uns
-meint!«
-
-Überwältigt durch den Schmerz der hervorbrechenden Gefühle sank die
-schöne Frau zur Erde nieder und umfaßte leidenschaftlich des Gatten Knie.
-Ein Moment war das, der mich aller Zweifel und aller in mir sich regenden
-Ungewißheit überhob. Jetzt wußte ich, daß der wunderbar stürmische
-Drang in mir, diesem jungen Paare meine Hilfe zu bieten, höheren Ursprungs
-war. Alle Bedenken, gerade durch diese Hilfe mich einer ungesetzlichen, ja
-vielleicht gar strafbaren Handlung schuldig zu machen, zerflossen bei dem
-Anblicke in ein Nichts.
-
-»Mr. Frank Newland! Ich sehe, daß die Liebe zu Ihrer Frau bei Ihnen
-größer ist, als zu sonst irgend etwas auf Erden, und daß diese Liebe
-Ihnen dazu verhelfen wird, selbst das Schwerste zu überwinden!« sagte ich
-mit einer Stimme, die die eigene tiefe Bewegung deutlich verriet. »Wollen
-Sie fortan bedingungslos sich meiner Führung anvertrauen? Die Zeit ist
-kurz. Jetzt gilt nur ein schnelles Entweder -- Oder!« Wie Wetterleuchten
-zuckte es über sein bleiches Gesicht. »Zerreißen Sie mit fester Hand
-jenes unwürdige Band, welches Sie noch an die Vergangenheit knüpft,
--- schauen Sie dafür mutig und mit Gottvertrauen in eine lichtere,
-hoffnungsreiche Zukunft!«
-
-Ungestüm hatte er, während ich sprach, die liebliche Gestalt zu sich
-emporgezogen. Eine Weile hielten die Gatten sich umschlungen.
-
-»Der Fluch der Mutter, -- grimmiger Haß von allen, die mir bisher
-vertraut haben, -- ja, ein Leben der Not und Entbehrung, -- das ist es, was
-uns sicher erwartet, wenn ich diese Fesseln sprenge! Würdest Du Dich auch
-klagelos und willig einem vielleicht noch härteren Geschicke beugen, meine
-Maud?« fragte der junge Ehemann so zärtlich und weich, wie man nur zu
-einem Kinde redet.
-
-Ein kaum unterdrückter Jubelschrei stieg aus der Gefragten Brust.
-
-»Und wenn dieser Schritt meinen Tod bedeutete, ich könnte nicht ruhiger
-und beglückter darüber sein, daß Dein Widerstand endlich gebrochen ist
-und Du heimlich mit mir von dem Schauplatze unserer Leiden verschwinden
-willst, Frank!« rief sie neu belebt und zitternd vor Erregung, indem sie
-aus den sie umschlingenden Armen sich befreite und wieder zu mir herüber
-eilte.
-
-»Jetzt aber rasch zum Entschluß, Mr. Berken! Was soll geschehen?
-Bestimmen Sie über uns!« flüsterte sie mir hastig zu.
-
-Allein auch der vor kurzem noch so verschlossene und so schroff und starr
-abweisende junge Mann reichte mir jetzt, wenngleich mit einem Ausdruck
-bitterer Trauer, seine Hände entgegen, in die ich freudig einschlug.
-
-»In spätestens einer Stunde werden Sie New York im Rücken haben und sich
-auf dem Wege nach Kanada befinden,« erwiderte ich ernst und sehr bestimmt,
-während beide mir mit ängstlicher Spannung lauschten. »Spurlos noch ehe
-die Untersuchungen in jener traurigen Angelegenheit weiter fortschreiten,
-müssen Sie und Mrs. Newland von der hiesigen Bildfläche verschwinden,
-als ob der Sturm Ihre Namen hinweggeweht. Fort -- vergessen! Miß Emmerson
-sagen Sie indessen, daß Sie anläßlich einer wichtigen Depesche mit Ihrer
-Frau auf acht Tage zu verreisen gezwungen wären! Das genügt. Packen Sie
-also die nötigste Garderobe und Wäsche in einen nicht zu großen Koffer.
-Alle Ihre Sachen mitzunehmen, darauf müssen Sie leider verzichten, weil
-das vielleicht Verdacht erregen könnte. Dann benutzen Sie den nächsten
-Zug nach Montreal! Fürs erste jedoch, Mr. Newland,« -- fügte ich, indem
-ich jenem ominösen Koffer ganz nahe trat, ein wenig zögernd und sehr
-leise hinzu -- »schaffen Sie den gefährlichen Inhalt dieses Riesen
-schleunigst aus der Welt!«
-
-Er zuckte jäh zusammen und stotterte in höchster Verwirrung, während
-eine fahle Blässe sein Gesicht überzog.
-
-»So wissen Sie? -- nein, nein, das darf ich nicht thun, -- die
-Mutter ...!«
-
-»Sie dürfen auf niemanden Rücksicht nehmen! Denn ich ahne wohl, daß
-hierin die schlagendsten Beweise zur Überführung einer gar schlimmen
-Schuld für Sie enthalten sind, mein armer, bethörter Freund!« versetzte
-ich freundlich. »Und diese Beweisstücke müssen unter allen Umständen
-vertilgt sein. Dort drüben ist der Kaminofen. Was irgend brennbar ist, --
-hinein in ein flackerndes Feuer. Das übrige packen Sie in eine schlichte
-Reisetasche, die Sie mit sich nehmen und wie aus Versehen im Gedränge auf
-dem Bahnhofe stehen lassen! Dann erst werden Sie frei sein gleich dem
-Vogel in der Luft. Das leere Ungetüm hier wird nichts mehr verraten und
-grabesstumm bleiben. Sie sehen, mein Plan ist gut und könnte wahrlich der
-Intelligenz eines Amerikaners alle Ehre machen,« fügte ich ermutigend
-hinzu. Denn es entging mir nicht, wie hastige, schwere Atemzüge über
-seine Lippen stießen und er sichtlich zu kämpfen schien, mir mit neuen
-Einwendungen entgegenzutreten.
-
-»Und wohin sollen wir Ausgestoßenen, denen das eigene Vaterland nicht
-mehr Raum und Schutz zu bieten vermag, uns wenden?« fragte er herb.
-»Welche Aussichten, welcher Erwerb bietet sich uns auf englischem
-Boden? Ich bin völlig fremd in Kanada, -- habe nicht die geringsten
-Verbindungen ...«
-
-»Eben deshalb ist es nötig, daß Sie dorthin Ihre Schritte lenken, Mr.
-Newland!« gab ich ihm tröstend zurück. »Gerade dort, wo Sie fortan
-leben werden, sollen Sie ein Fremder sein; auch sogar den Namen, den Sie
-jetzt führen, müssen Sie hier zurücklassen!«
-
-Bei diesen Worten stieg abermals eine dunkle Röte dem Unglücklichen über
-die Stirn und finster, aber leidenschaftlich rief er:
-
-»Der Name Newland gehört mir von Rechts wegen gar nicht. So hieß
-nämlich der zweite Gatte meiner Mutter, der vor einem Jahre starb und
-dessen verhängnisvolles, grausiges Vermächtnis eben jener Koffer dort
-ist mit allem, was darin sich befindet und daran sich knüpft -- ein
-Vermächtnis, das gleich einem Fluche auf uns lastet. Man soll den Toten
-nichts Schlimmes nachsagen. Allein noch im Grabe verabscheue ich jenen
-Mann, der sich erkühnte, mein Stiefvater zu heißen. ›Welch eine
-Erscheinung!‹ hätten auch Sie bei seinem Anblick sicher ausgerufen.
-Im Äußeren glich er einem Heroen an Größe, Körperkraft, wie auch an
-Geist. Bestechend und verführerisch klang jedes Wort, mit dem er in die
-ahnungslose Menschenseele sich einzuschmeicheln verstand. Doch wer ihm
-unterlag, der saß fest in den Fangarmen des Teufels. Ein dämonischer
-Tyrann war er und hat meine unselige Mutter zu dem gestempelt, was sie
-jetzt ist, -- zu einer geldgierigen Megäre, die heute noch einzig nur in
-den Fußstapfen des ihr teuer gebliebenen Verblichenen wandelt. Aus
-mir aber ...« -- tief schöpfte er Atem -- »aus mir hat er einen der
-routiniertesten, gefährlichsten Falschmünzer Amerikas gemacht, -- ha, ha,
-ha! Das war ein Meister, wie es keinen zweiten giebt!«
-
-»O Franky! So lasse doch die alten Erinnerungen!« bat meine kleine blonde
-Freundin zärtlich, indem ihr die hellen Tropfen über das süße Gesicht
-herabrieselten.
-
-»Nein, nein! Jetzt muß ich reden!« erwiderte der junge Mann heftig.
-»Sie, Mr. Berken, sollen wenigstens erfahren, daß ich zu solch
-schmachvollem Berufe verführt -- gezwungen wurde, daß nicht die Gier und
-die Lockungen nach mühelos erworbenen Schätzen mich dazu verleiteten!
-Beim Allmächtigen, der sich gnädig meiner erbarmen möge, -- ich habe
-den schnöden Mammon stets gehaßt! Denn er allein ist der Satan, der
-die Menschheit verdirbt und erniedrigt! Was spreche ich doch von mühelos
-erworbenem Gelde? Wer hat gearbeitet Nacht um Nacht über Wagstücken, die
-oftmals doch mißlangen? Wer hat die Schweißtropfen saurer Mühe hergeben
-müssen für solches Teufelswerk? Ich war's -- ich that's, Mr. Berken, weil
-ich zu schwach -- zu feige war, mich loszureißen! Geknirscht und geflucht
-habe ich oft in ohnmächtigem Zorne. Doch der böse Blick der Mutter, in
-welchem ich noch fortdauernd den Dämon meines verfehlten Lebens -- den
-Meister -- den Stiefvater zu schauen wähnte, -- er hielt mich gleich einem
-Knechte in Zucht und Banden! Aber das Maß ist voll, -- länger ertrage ich
-es nicht!« rief er fast schluchzend. »Um ihretwillen, die mein Licht
-und Trost ist,« -- das sterbensmüde Auge traf der Gattin aufstrahlendes
-Gesicht, »um ihretwillen reiße ich das Band, was mich an diejenige
-bindet, die mich geboren, in Stücke!« Ich schaute nach der Uhr und
-fragte, in der Absicht, ihn von dem schmerzlichen Thema abzulenken:
-
-»Darf ich den Wagen für Sie bestellen, Mr. Newland?«
-
-Wie aus tiefem Sinnen fuhr er auf und nickte halb gedankenvoll:
-
-»Ja, ja -- den Wagen -- fort!«
-
-»Auch möchte ich Ihnen hier noch eine Adresse für Montreal überreichen,
-Mr. Frank? ... Ja, wie ist denn Ihr wirklicher Name?«
-
-»Wilson!« entgegnete er kurz.
-
-»Also, Mr. Wilson! Ein sehr intimer Freund von mir, ebenfalls
-ein Deutscher, hat dort eine renommierte und gesuchte Law-Office
-(Rechts-Bureau). An diesen ganz vortrefflichen Mann habe ich Sie als
-tüchtigen, intelligenten Arbeiter empfohlen, da ich durch Ihre Gemahlin
-weiß, welch gründliche Bildung Sie genossen, und daß ein Wissen in Ihnen
-steckt, wie junge lebenslustige Amerikaner es sich sonst selten anzueignen
-pflegen. Ein Wort von mir genügt, Ihnen den Anfang zu einer vielleicht
-sehr lukrativen Laufbahn zu eröffnen, und gingen Sie somit im Auslande
-keiner allzu trüben Zukunft entgegen. Die Hauptsache ist natürlich,
-daß Sie mit Lust und Energie einen Ihren Kenntnissen angemessenen Beruf
-ergreifen.«
-
-»Mein Gott, das ist zu viel, -- das bin ich nicht wert!« stöhnte der
-Überraschte kopfschüttelnd. Es zuckte dabei aber doch ganz seltsam
-freudig um seinen Mund.
-
-Meine kleine blonde Freundin schlug indes die Hände vor das Gesicht und
-schluchzte laut.
-
-»Haben Sie das nötige Reisegeld?« forschte ich, durch nichts beirrt, mit
-der ernsten, trockenen Stimme eines Inquirenten weiter, obgleich mir selbst
-vor innerer Bewegung der Ton im Halse stecken zu bleiben drohte.
-
-Eine lange Pause erfolgte. Dann zog Mr. Frank Wilson mehrere
-50 Dollar-Billets aus seinem Taschenbuche, zündete am Tische eine Kerze
-an und hielt, ohne zu sprechen, noch zu zucken die Banknoten darüber, daß
-alsbald die hellen Flammen um seine Finger spielten.
-
-»Ist denn der Mensch toll geworden!« hätte bei diesem seltsamen Gebahren
-ein anderer vielleicht gedacht und solchen Frevel zu vereiteln gesucht.
-Ich aber rührte mich nicht von der Stelle. Denn gerade jenes anscheinend
-kopflose Experiment redete für mich eine stumme Sprache. Das, was dort
-eben in Rauch aufging, waren ja auch nur elende Falsifikate; Lug und Trug
-war es --, die schauerlichen Früchte seines arbeitsschweren Daseins, an
-denen, wie er selbst gesagt, die Schweißtropfen saurer Arbeit hingen!
-Armer Frank! So kurz und straff hielt diese entsetzliche Mutter ihren
-einzigen Sohn im Zügel, daß sie ihm nicht das nötigste Geld zur
-Verfügung stellte -- aus Angst, er könne doch endlich einmal ihrer
-Tyrannei heimlich entfliehen! In diesem Augenblicke überkam es mich wie
-eine wahre Wollust, jenem entmenschten Weibe einen Streich spielen zu
-können.
-
-Mit zu Boden gesenkten Wimpern stand der Bedauernswerte vor mir. Welch
-beschämende Gefühle mochten in ihm sich regen! Daher schritt ich rasch an
-ihn heran und legte meine Rechte sanft auf seine Schulter.
-
-»Lassen wir Vergangenes ruhen, mein Freund! Ich begreife und verstehe
-alles und beklage Sie tief. Und doch ist es am Ende besser so, damit Sie
-mit Ihrer Flucht aus New York niemandem -- verstehen Sie wohl: niemandem
-mehr verpflichtet sind. Hier, Mr. Frank Wilson, lege ich 500 Dollars
-auf den Tisch, als ein Darlehen, was hoffentlich zum Beginn einer neuen
-Existenz ausreichen wird! Sie werden arbeiten und später guten Verdienst
-haben, davon bin ich überzeugt.«
-
-Abwehrend erhob er seine Hände.
-
-»Nun, was wollen Sie?« setzte ich schnell und lächelnd hinzu. »Ohne
-Geld kann man nicht reisen, und bleibt Ihnen somit gar nichts anderes
-übrig, als meine Hilfe anzunehmen. Im übrigen bin ich auch weit davon
-entfernt, diese Summe als verloren zu betrachten. Denn fürs erste bin ich
-selbst durchaus kein reicher Mann, und zweitens weiß ich ziemlich sicher,
-daß Sie die kleine Schuld mir nach und nach zurückzahlen werden. Sind Sie
-demnach mit diesem Geschäfte zufrieden?«
-
-Einem Traumbefangenen gleich stand er vor mir und stotterte nur ein paarmal
-hintereinander:
-
-»Ich danke -- danke Ihnen, mein Herr!«
-
-Seit ich mein deutsches Vaterland verlassen, war, glaube ich, eine
-ähnliche Anwandlung von Rührung und seelischer Befriedigung nicht über
-mich gekommen, als zu jener Stunde, die mit allen ihren Einzelheiten klar
-und fest sich bis zum heutigen Tage meinem Gedächtnis eingeprägt hat.
-
-Stillschweigend hatte ich meinen Hut ergriffen und gedachte mich unbemerkt
-zur Thür hinauszuschleichen. Allein der blonden Frau war meine Absicht
-nicht entgangen. In stürmischer Hast rannte sie mir nach und faßte
-beinahe leidenschaftlich meine Rechte.
-
-»Nein, so dürfen Sie nicht fort, Mr. Berken! O, es sieht Ihnen ganz
-ähnlich, daß Sie unseren Dankesworten sich entziehen wollen! Die wahre
-Großmut ist ja immer still und bescheiden, und ihr Deutschen seid alle
-von Natur so edel! Wirklich grausam wäre es gegen uns, nicht noch einen
-letzten, warmen Händedruck, einen letzten Abschiedsblick des einzig
-wahren, teilnehmenden Freundes für unser armseliges Geschick zu
-erhalten!«
-
-So klang es in schmelzenden Tönen an mein Ohr. Wehmütig lächelnd blieb
-ich stehen, indem nun auch Mr. Wilson sich mir näherte und mit stummem
-Schmerze mir ins Auge schaute.
-
-»Leben Sie wohl, Mr. Berken!« sagte er, nachdem er seiner sichtlichen
-Bewegung endlich Herr geworden. »Was _Sie_ vollbracht haben, ist eine
-That, welche mit der Dankbarkeit eines ganzen Lebens kaum gelohnt wäre,
-und die nur Gott zu vergelten im stande ist! Sie werden von uns hören.
-Leben Sie wohl!«
-
-Noch einmal schüttelten mir die beiden Verwaisten -- diesen Eindruck
-machten sie auf mich, als sie, Arm in Arm, tiefste Wehmut im Angesicht, mir
-gegenüberstanden -- die Hände. Dann schloß sich die Pforte hinter mir
-und ich stand auf dem Vorsaal.
-
-Indes schien jetzt durchaus keine Zeit mehr, sich schmerzlichen Gefühlen
-und Reflexionen hinzugeben. Die Uhr zeigte 6½ und der Zug, welchen das
-junge Paar benutzen sollte, verließ New York in einer Stunde. Rasch sprang
-ich die Treppe hinab. Unglücklicherweise begegnete mir im Vorsaal, wo die
-Parlours mündeten, Miß Emmerson.
-
-»Nun, wohin so eilig, Mr. Berken? Sie sehen ja ganz erhitzt aus,« warf
-die Dame lächelnd hin.
-
-»Es ist oben in meinem Zimmer eine Bärenhitze und möchte ich mit der
-offenen Car (Pferdebahnwagen) etwas hinaus in den Central-Park fahren,«
-log ich mit abgewandtem Gesichte.
-
-»So? Dann werden Sie zum Essen schwerlich zurück sein -- hm!« Eine Weile
-sah sie mir kopfschüttelnd und durchdringend in die Augen. »Nun, ich bin
-weit davon entfernt, Sie mit indiskreten Fragen zu belästigen. Aber --
-an der Nase sehe ich es ja Ihnen an, daß irgend etwas faul ist im Staate
-Dänemark. Dazu kenne ich Sie zu genau. =Well=, über das =dinner= machen
-Sie sich nur keine Sorgen! Für Sie wird es aufbewahrt. Viel Vergnügen,
-Mr. Berken!« Damit schritt meine alte Freundin majestätisch ihres Weges.
-
-Jedenfalls muß ich ein sehr dummes oder verblüfftes Gesicht gemacht
-haben, und war wirklich froh, als ich draußen in frischer Luft mich
-befand. -- --
-
-Erst gegen 8 Uhr abends kehrte ich nach planlosem Herumstreifen in der
-City zurück, weil ich es aus verschiedenen Gründen für zweckmäßig
-erachtete, daß die Abreise der Wilsons sich ohne meine Anwesenheit
-vollzog.
-
-Unbefangen betrat ich das Speisezimmer, wo in der That noch ein gedecktes
-Couvert für mich auflag. »Gute Miß Kathe!« dachte ich befriedigt; denn
-ich war hungrig und freute mich auf eine kräftige Mahlzeit. Allein nichts
-verriet mir in der nächsten Viertelstunde, daß irgend etwas Besonderes
-im Hause vorgefallen. Der aufwartende Neger machte ein völlig indifferent
-stumpfsinniges Gesicht und die das Diningroom zufällig passierenden
-Logiergäste begrüßten mich nur mit einem kurzen »=Good evening=,
-Mr. Berken!« Trotzdem aber lag es mir wie eine Gewitterschwüle auf dem
-Gemüte. Waren meine Schützlinge unbehindert und glücklich fortgekommen?
-Zu fragen wagte ich nicht, hoffte daher auf einen günstigen Zufall, der es
-mir verraten würde.
-
-Wirklich, als ich nach beendetem Speisen die Treppe nach meinem Zimmer
-emporstieg, trat Miß Emmerson aus den von dem jungen Paare bewohnten
-Gemächern heraus auf den Flur. Wir stutzten beide, und alsbald drang ein
-sonderbarer Geruch nach verbranntem Papier durch die geöffnete Thür mir
-entgegen.
-
-»Ah -- zurück?« fragte sie leichthin, doch merkte ich bald, daß in dem
-sonst freundlichen Gesichte ein merklich ernster Ausdruck lag.
-
-»Ja, Miß Emmerson! Und ich habe mir soeben Ihre vortrefflichen Gerichte
-schmecken lassen!« erwiderte ich mit möglichster Heiterkeit.
-
-»Nun, _mein_ =dinner= ist mir heute recht gestört worden durch die
-sonderbare, fluchtartige Abreise zweier meiner Gäste!« war ihre etwas
-scharfe Antwort.
-
-»Fluchtartige Abreise?« fragte ich mit einer äußerst wohlgelungenen
-Miene des Staunens, wodurch die alte Dame sofort veranlaßt wurde, halb
-befriedigt und freundlicher den Kopf zu wiegen.
-
-»Nun, ich dachte mir eigentlich, daß Sie vielleicht etwas mehr von diesen
-Leuten wüßten, weil die kleine Blondine mit den Taubenaugen bei Tische
-immer so zutraulich zu Ihnen redete, und Sie, Mr. Berken, heute so
-sonderbar! ... Na, einerlei -- die Newlands sind fort!«
-
-»Alle?« entfuhr es etwas unbedacht von meinen Lippen.
-
-»I bewahre! Nur das junge Paar -- scheinbar nur auf eine Woche, wie das
-Frauchen schüchtern mir versicherte! Doch ich möchte, obgleich hier
-drinnen in den Schränken noch alles voll Sachen hängt, die höchste
-Wette eingehen, daß es auf Nimmerwiedersehen ist. Das kommt aber bei solch
-leichtsinniger Sippschaft gar nicht darauf an. Nebenbei haben sie in den
-Zimmern einen Gestank zurückgelassen, als ob mindestens zwei Zentner
-Makulatur verbrannt worden wären. Als ich hineintrat, mußte ich wohl
-zwanzigmal hintereinander niesen und konnte vor Rauch die Augen kaum
-aufthun, so daß ich schon fürchtete, man habe mir die Bude über dem
-Kopfe angesteckt. Aber schließlich kann es mir ja gleichgültig sein!«
-argumentierte Miß Kathe lebhaft weiter; »denn bezahlt ist alles bis zum
-Ersten, -- und mit den übrigen mache ich morgen früh auch ein Ende. Die
-rasche Abreise der beiden ist mir einzig nur des Geredes im Hause wegen
-fatal, zumal ich, wie Sie wissen, ohnedem schon heute Nachmittag einen
-heiklen Besuch erhalten.«
-
-»Auf keinen Fall würde ich es beklagen, daß die jungen Newlands fort
-sind!« versetzte ich, höchst gleichgültig das Gähnen unterdrückend.
-Doch spähte ich trotzdem neugierig durch die halbgeöffnete Thür ins
-Zimmer hinein. »Die Alte wird schöne Augen machen, wenn sie bei ihrer
-Rückkehr die lieben Kinder nicht mehr findet, Miß Emmerson!«
-
-»O, die hat längst von der Flucht gewußt! Das war alles geplant und
-abgekartet.«
-
-»_So_ -- glauben Sie?«
-
-»Sicherlich! Ich wundere mich nur, daß _Sie_, Mr. Berken, bei Ihrem
-scharfen Beobachtungstalente nicht auch Wind davon gekriegt haben!«
-
-Ich lachte sie heiter an.
-
-»Wer wird so mißtrauisch sein, Miß Kathe. Was gehen _mich_ denn diese
-Menschen an? Wahrlich, ich habe ja gar keine Zeit dazu, mich so viel um den
-lieben Nächsten zu bekümmern.«
-
-Die alte Dame schien völlig beruhigt, und freundschaftlich wünschten wir
-uns gegenseitig =Good night!= --
-
-Ich erinnere mich, daß ich in jener Nacht nicht viel geschlafen habe
-und erst wieder frei und beruhigt aufzuatmen begann, als mir am nächsten
-Morgen ein Telegramm überreicht wurde mit dem kurzen, aber für mich
-bedeutungsvollen Inhalt: »Glücklich Montreal angelangt, Wilson.« Mit
-seelischem Behagen kleidete ich mich an und mußte wirklich lachen, welch
-ein von Bosheit und Schadenfreude blitzendes Gesicht mir heute aus dem
-Spiegel entgegensah. Jetzt gab es ja noch einen Hauptspaß, nämlich
-das stille Beobachten der alten Newland, wie deren elegisch angehauchten
-Tochter und des ehrenwerten Mr. Fowler beim Frühstück. Denn daran, daß
-die Gesellschaft überhaupt kommen würde, zweifelte ich keinen Augenblick.
-Schon, um jeden Verdacht von sich abzulenken, mußten sie sich diesen
-Morgen zeigen.
-
-Daher begab ich mich ein wenig früher als gewöhnlich hinab, um die
-Personen, in deren Dasein ich ohne ihr Wissen eine so bedeutende Rolle
-gespielt, sofort beim Eintreten ins Speisezimmer aufs Korn zu nehmen. Wer
-aber beschreibt meine Überraschung! In der Halle, an der weit geöffneten
-Hausthür, durch die ich eine elegante Equipage vor dem Hause halten sah,
-standen Mrs. Newland und ihre Tochter, völlig reisefertig, im Begriff,
-sich von Miß Emmerson zu verabschieden, und deutlich vernahm ich noch die
-seltsamen Worte:
-
-»Der arme Frank! Er leidet zuweilen an schlimmen Anfällen von
-Geistesstörung, was seine kindische junge Frau durchaus nicht zugiebt.
-Ich fürchte, daß seine unmotivierte plötzliche Abreise abermals ein
-trauriger Beweis ist für diese nicht mehr abzustreitende Thatsache. Ellen
-und ich müssen uns daher schleunigst auf die Suche der beklagenswerten
-Kinder begeben und können daher leider die Annehmlichkeiten Ihres Hauses
-nicht länger genießen, meine teure Miß Emmerson! Major Fowler wird indes
-noch bis morgen hier bleiben und dann mit unserm Gepäck nachfolgen.«
-
-Jetzt schritt ich unbefangen und unerschrocken die letzten Stufen der
-Treppe, auf der ich stand, hinab, so daß ich nur noch wenige Fuß breit
-von den Damen entfernt war. Mit einem höflichen: »=Good morning!=«
-lüftete ich den Hut. In demselben Augenblick aber fuhr Mrs. Newlands Kopf
-nach mir herum, und ich vermochte voll in ihr Angesicht zu schauen.
-
-Ich habe wohl davon gehört, daß blühende, gesunde Menschen durch Kummer,
-seelischen Schmerz oder körperliche Leiden binnen weniger Monate ein
-vollständig verändertes Aussehen erhalten können. Diese bisher noch so
-rüstige Frau hatte aber eine einzige Nacht zur Greisin umgewandelt.
-Doch nicht der Ausdruck milder, friedlicher Ruhe lag über dem gefurchten
-Gesicht, -- nein, eine grauenhafte, grinsende Verzerrung, welche zu
-verbergen ihr nicht gelang, zuckte zuweilen darüber hin. Vor diesem
-Anblick schauderte ich innerlich und gedachte des Hauptes der Medusa.
-
-Zwar traf mich nur ein einziger Blick der in stiller Angst, in Grimm und
-Wut flackernden dunklen Augen, doch er genügte, mir zu verraten, daß die
-fürchterliche Kreatur mir auf dem Grunde der Seele zu lesen beabsichtigte,
-und daß ihr scharfer Verstand sie doch vielleicht auf die richtige Spur
-geleitet. Wie aus Erz gegossen, mit keiner Wimper zuckend, stand ich vor
-ihr. Mir erschien dies jetzt schon als Anfang der Vergeltung, die früher
-oder später über diese geldgierige Megäre, wie der eigene Sohn sie
-benannte, unfehlbar hereinbrechen mußte. Nochmals verbeugte ich mich kühl
-und schritt an ihr vorüber dem Speisezimmer zu.
-
-Das war auch das letzte, was ich von Frank Wilsons Mutter jemals wieder
-geschaut. -- --
-
-Zwei Tage später brachten die New Yorker Zeitungen von neuem allerlei
-Gerüchte über die vermeintlichen Falschmünzer, unter anderem die
-Nachricht, daß die Polizei sich die gefährlichen Vögel jedenfalls
-wieder habe aus dem Garn fliegen lassen. Wenigstens sei auf einem der
-City-Bahnhöfe eine ominöse Reisetasche, vollgepfropft mit allerlei
-äußerst verdächtigem Werkzeuge nebst Zubehör, aufgefunden und mit
-Beschlag belegt worden, und könne das wohl zu dem Schlusse berechtigen,
-daß die verbrecherischen Eigentümer derselben längst über alle Berge
-wären. --
-
-Nach etwa sechs Monaten erhielt ich die ersten ausführlicheren Nachrichten
-von meinen Schützlingen in einem Briefe, dem ein Check über 150 Dollars,
-zahlbar an der Bank von Montreal, beigeschlossen war. Es war Mrs. Maud
-Wilson, die mir schrieb; doch mußte ich bei dem Lesen öfters eine Pause
-machen, weil eine eigentümliche Rührung mich überkam. Fast Seite um
-Seite füllten nur rührende Dankesworte das Papier. Dieses Geld -- so
-meldete sie -- sei die erste Rate ihrer Schuld; indes dürften sie nicht im
-mindesten deshalb darben. Frank habe einen brillanten Verdienst! -- Und
-was stand da noch in diesem Briefe? Von nie gekanntem Glück, von seligem
-Frieden und einem süßen, trauten Heim erzählten die Zeilen --; ferner
-wie Frank arbeite von früh bis spät, wie einfach und anspruchslos er sei
-in seinen Bedürfnissen, aber auch, wie geachtet und geliebt er sei
-von seinem Chef und von allen, mit denen er verkehre! »Ist dieses
-gottgesegnete Leben jetzt nur eine himmlische Illusion oder haben wir
-früher einen bösen Traum geträumt? O, möchte doch die Vergangenheit
-gänzlich ausgelöscht sein!« So schloß die junge Frau ihr langes
-Schreiben.
-
-Und sie blieb es wirklich. Denn Frank Wilson ist bis zum heutigen Tage nie
-mehr an jene Schreckensperiode seines Daseins erinnert worden. Als ich ihn
-nach langer Zeit, völlig zum Manne herangereift, wiedersah, und er mir
-stumm, doch mit strahlender Seligkeit im Auge, sein einziges Söhnlein,
-einen prächtigen, blonden Jungen von etwa einem Jahre, entgegenreichte, da
-wußte ich genau, daß sein einst so verhärtetes, umdüstertes Gemüt
-nun endlich Frieden gefunden im Schönsten, was eine weise Hand zu unserem
-Segen und Frommen geschaffen -- im eigenen Heim. -- --
-
-Und Mrs. Newland?
-
-Weder mündlich noch schriftlich habe ich jemals den Sohn nach seiner
-Mutter zu fragen gewagt. Doch _sie_, die für und für des geprüften
-Mannes »Licht und Trost« blieb, die ihm vertraut und an ihm gehangen in
-den schrecklichen Tagen des Elends, -- sie flüsterte mir, in dem ihr auch
-später noch anhaftenden, fast jungfräulichen Liebreiz einmal ins Ohr,
-daß Franks Mutter mit Ellen auf großem Fuße in Paris lebe. Woher sie
-diese Kunde erhalten hatte, war mir zu wissen gleichgültig, und ich
-fragte nicht danach. Allein irgend welche Gefahr fürchtete ich für meine
-Schützlinge nicht mehr. -- --
-
-
-Druck von Greßner & Schramm in Leipzig.
-
-
-
-
-[ Hinweise zur Transkription
-
-
-Im Originalbuch tragen die Titelseite, die Kapitelüberschriften und die
-Kapitelenden einfachen floralen, die Kapitelanfänge ornamentalen Schmuck,
-auf den in dieser Transkription verzichtet wurde.
-
-Das Originalbuch ist in Fraktur gesetzt.
-
-Darstellung abweichender Schriftarten: _gesperrt_, =Antiqua= (Römische
-Zahlen wurden nicht gesondert markiert).
-
-Der Text des Originalbuchs wurde grundsätzlich beibehalten, mit folgenden
-Ausnahmen,
-
- Seite 8:
- im Original "hatten die Fremden es verstanden sich bald"
- geändert in "hatten die Fremden es verstanden, sich bald"
-
- Seite 9:
- im Original "Rückseite des Häuschens gelegenen, kleinen Salons"
- geändert in "Rückseite des Häuschens gelegenen, kleinen Salon"
-
- Seite 9:
- im Original "»M'a«!"
- geändert in "»M'a!«"
-
- Seite 11:
- im Original "das bißchen Silber dazu geommen"
- geändert in "das bißchen Silber dazu genommen"
-
- Seite 15:
- im Original "»Das ist wirklich originell, hahaha!"
- geändert in "»Das ist wirklich originell, hahaha!«"
- Die Zeitungsannonce wurde durch Einrückung markiert.
-
- Seite 16:
- im Original "Ich bin überzeugt, daß fast jede"
- geändert in "»Ich bin überzeugt, daß fast jede"
-
- Seite 17:
- im Original "Bibliothek um ein für sein Geschäft wichtiges Werk"
- geändert in "Bibliothek, um ein für sein Geschäft wichtiges Werk"
-
- Seite 20:
- im Original "trat Mrs. Clark zum Ausgange gerüstet, noch einmal"
- geändert in "trat Mrs. Clark, zum Ausgange gerüstet, noch einmal"
-
- Seite 37:
- im Original "_Berlin_, 14. Januar 18.."
- geändert in "Berlin, 14. Januar 18.."
- Zur Angleichung wurde die Sperrung der Ortsangabe aufgehoben.
-
- Seite 41:
- im Original "das Licht, der armseligen »Motte« zu folgen?«
- geändert in "das Licht, der armseligen ›Motte‹ zu folgen?«
-
- Seite 46:
- im Original "Meinetwegen brauchst Du das nicht mehr zu thun!«"
- geändert in "»Meinetwegen brauchst Du das nicht mehr zu thun!«"
-
- Seite 59:
- im Original "Geheimnis, daß Deinen wilden, zügellosen Freund"
- geändert in "Geheimnis, das Deinen wilden, zügellosen Freund"
-
- Seite 61:
- im Original "»Agnes, meine Agnes! Ich bin namenlos glücklich«"
- geändert in "»Agnes, meine Agnes! Ich bin namenlos glücklich!«"
-
- Seite 78:
- im Original "Unsere Herzogin, die durchaus keine schöne Frau war"
- geändert in "»Unsere Herzogin, die durchaus keine schöne Frau war"
-
- Seite 92:
- im Original "Unsere guten Newtows sind Menschen, welche"
- geändert in "Unsere guten Newtons sind Menschen, welche"
-
- Seite 95:
- im Original "»Sie irren, mein Herr! entgegnete ich"
- geändert in "»Sie irren, mein Herr!« entgegnete ich"
-
- Seite 113:
- im Original "Nur bildeten Mokassins die Fußbegleidung"
- geändert in "Nur bildeten Mokassins die Fußbekleidung"
-
- Seite 118:
- im Original "es sich kaum bezeichnen -- am Brodway"
- geändert in "es sich kaum bezeichnen -- am Broadway"
-
- Seite 125:
- im Original "Mein Blick war plötz- auf etwa"
- geändert in "Mein Blick war plötzlich auf etwa"
-
- Seite 128:
- im Original "»Ich staune über sie, Madame!«"
- geändert in "»Ich staune über Sie, Madame!«"
-
- Seite 129:
- im Original "Was mir an-anfänglich schwer und ungewöhnt ist"
- geändert in "Was mir anfänglich schwer und ungewöhnt ist"
-
- Seite 135:
- im Original "Sonne ihre glühenden Strahlenbündel anf den"
- geändert in "Sonne ihre glühenden Strahlenbündel auf den"
-
- Seite 143:
- im Original "die Mutter von Frank Newland. sowie"
- geändert in "die Mutter von Frank Newland, sowie"
-
- Seite 147:
- im Original "»Der »New York Herald« wird zum Beispiel"
- geändert in "»Der ›New York Herald‹ wird zum Beispiel"
-
- Seite 163:
- im Original "»der Zweck heiligt die Mittel«"
- geändert in "›der Zweck heiligt die Mittel‹"
-
- Seite 168:
- im Original "»Welch eine Erscheinung!«"
- geändert in "›Welch eine Erscheinung!‹" ]
-
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-<title>The Project Gutenberg eBook of
-Lose Blätter
-by
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-<div lang='en' xml:lang='en'>
-<p style='text-align:center; font-size:1.2em; font-weight:bold'>The Project Gutenberg eBook of <span lang='de' xml:lang='de'>Lose Blätter</span>, by Doris von Spättgen</p>
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
-most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms
-of the Project Gutenberg License included with this eBook or online
-at <a href="https://www.gutenberg.org">www.gutenberg.org</a>. If you
-are not located in the United States, you will have to check the laws of the
-country where you are located before using this eBook.
-</div>
-</div>
-
-<p style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:0; margin-left:2em; text-indent:-2em'>Title: <span lang='de' xml:lang='de'>Lose Blätter</span></p>
-<p style='display:block; margin-left:2em; text-indent:0; margin-top:0; margin-bottom:1em;'><span lang='de' xml:lang='de'>Neue Novellen</span></p>
-<p style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:0; margin-left:2em; text-indent:-2em'>Authors: Doris von Spättgen</p>
-<p style='display:block; margin-top:0; margin-bottom:0; margin-left:2em;'>Doris von Scheliha</p>
-<p style='display:block; text-indent:0; margin:1em 0'>Release Date: April 18, 2022 [eBook #67861]</p>
-<p style='display:block; text-indent:0; margin:1em 0'>Language: German</p>
- <p style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:0; margin-left:2em; text-indent:-2em; text-align:left'>Produced by: the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library.)</p>
-<div style='margin-top:2em; margin-bottom:4em'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK <span lang='de' xml:lang='de'>LOSE BLÄTTER</span> ***</div>
-
-
-<h1 class="pb">Lose Blätter.</h1>
-
-
-<p class="mt2 ce lh2"><span class="fsl ge">Neue Novellen</span><br />
-von<br />
-<span class="fsxl"><b>Doris Freiin von Spättgen.</b></span></p>
-
-<p class="mt4 ce lh1"><b>Leipzig.</b><br />
-<span class="ge">Verlag von F. A. Berger.</span><br />
-1895.</p>
-
-<p class="mt2 ce fss">Vor Nachdruck geschützt.<br />
-Übersetzungsrecht vorbehalten.</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_001"> </a>
-Inhaltsverzeichnis.</h2>
-
-
-<table summary="" border="0" cellpadding="5">
- <tr>
- <td class="tdl"><a class="ndcbl" href="#page_003">Licht</a></td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_003">3</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdl"><a class="ndcbl" href="#page_035">Fächer-Bilder</a></td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_035">35</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdl"><a class="ndcbl" href="#page_063">Aus Großtantchens Hofdamenleben</a>&emsp;</td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_063">63</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdl"><a class="ndcbl" href="#page_083">Unter dem Niagara-Falle</a></td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_083">83</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdl"><a class="ndcbl" href="#page_103">Zahnschmerzen</a></td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_103">103</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdl"><a class="ndcbl" href="#page_133">Amerikanische Existenzen</a></td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_133">133</a></td>
- </tr>
-</table>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_003" title="3"> </a>
-<span class="ge">Licht.</span></h2>
-
-
-<p><a class="pagenum" id="page_005" title="5"> </a>
-<b>W</b>eit draußen am äußersten Ende von Williamsbourgk,
-einem Stadtteile Brooklyns, dort, wo die Straßen-
-und Häuserreihen bereits durch ausgedehnte Wiesenflächen
-und üppige Obstplantagen unterbrochen werden, so daß die
-Bezeichnung »Stadt« daselbst eigentlich nicht mehr zutreffend
-erscheint, weil die Gegend schon allmählich den
-Charakter des Ländlichen annimmt &ndash; dort steht eine Reihe
-allerliebster, hüttenartiger Häuschen, deren Gesamtheit,
-wegen der Zierlichkeit und Gleichheit der Gebäude, im
-Volksmunde »Dolly Ward (Puppenfestung)« benannt wird.
-Diese Miniaturvillen, eine aufs Haar genau so wie die
-andere, mußten unzweifelhaft aus der Hand desselben Baukünstlers
-hervorgegangen sein, der sie, wohl mehr um einer
-flüchtigen Laune zu genügen, als um praktische Behausungen
-zu schaffen, aus der Erde hervorgezaubert haben
-mochte.</p>
-
-<p>Jedes der Häuschen war mit einem niedlichen Vorgärtchen,
-einer Art Veranda, worauf die Hausthür mündete,
-und einer grün angestrichenen, hölzernen Treppe versehen,
-deren Geländer ein fast elegant zu nennendes Schnitzwerk
-auswies. Das Innere einer solchen Villa bestand aus
-nur zwei größeren Zimmern im ersten Stock, sogenannten
-<a class="pagenum" id="page_006" title="6"> </a>
-Parlours, drei Mansardenstübchen und der großen hellen
-Küche im Basement (Souterrain).</p>
-
-<p>Merkwürdigerweise stand nur äußerst selten ein Häuschen
-der Dolly Ward zu vermieten. Die meisten derselben befanden
-sich schon seit vielen Jahren in festen Händen, was
-ihr Äußeres auch fast durchweg verriet. Die Gärtchen
-zeigten sich auf das sorgsamste gepflegt, ihre schmalen Gänge
-waren mit rotem Kies bestreut, während verschiedenes feines
-Strauchwerk die etwas primitiven Staketenzäune, welche
-die Grundstücke von der Verkehrsstraße trennten, verdeckte
-und dadurch eine Art hübsche lebende Hecke bildete. Rosen
-und andere duftende Blumen erfreuten im Sommer das
-Auge der Vorübergehenden, und die stets blitzblank geputzten
-Fensterscheiben und sauberen Gardinen vollendeten
-den guten Eindruck, den diese Villen auf den Fremden
-ausübten.</p>
-
-<p>Die Bewohner von Dolly Ward, zum Teil bejahrte
-Leute, welche sich nun ins Privatleben zurückgezogen hatten,
-zum Teil Angestellte großer Geschäfte von Brooklyn und
-New York, welche ihrer Familie wegen die bei weitem billigeren
-und gesünderen Wohnungen hier draußen dem Geräusch
-und dem Staube der Großstadt vorgezogen, und einige alte
-Fräuleins, welche Pensionäre hatten, bildeten eine förmliche
-feste Clique, so daß auf Dolly Ward jeder neue Ankömmling
-anfänglich allseitigem Mißtrauen begegnete.</p>
-
-<p>Im Anfang des Frühlings 188<span class="ge">.</span> war Mr. Holstein,
-der deutsche Eigentümer des Häuschens Nr.&nbsp;9, plötzlich gestorben
-und bald darauf hatte seine Witwe den guten Bekannten
-von rechts und links Lebewohl gesagt, weil sie
-ihren Aufenthalt fortan nach Jersey City zu einer verheirateten
-Tochter zu verlegen gedachte. Mr. O'Reilly, der
-Nachbar zur Rechten, welchem die alte Dame vor ihrem
-<a class="pagenum" id="page_007" title="7"> </a>
-Scheiden die vorteilhafte Vermietung ihres Besitztums noch
-recht eindringlich ans Herz gelegt hatte, hing eigenhändig
-die weiße Tafel zum Fenster hinaus, auf welcher mit großen
-Lettern zu lesen stand: »<i>to let</i>.«</p>
-
-<p>Etwa vier Wochen lang zerbrach man sich in Dolly Ward
-die Köpfe, wer wohl seinen Weg hier heraus nach dem
-entlegenen Teile von Williamsbourgk nehmen würde, denn
-die guten Leute der kleinen Villenkolonie waren äußerst
-exklusiv und fürchteten begreiflicherweise das Niederlassen
-des ersten besten Rowdy in ihrer friedlichen Ansiedelung.
-Da verkündete Mr. O'Reilly eines Morgens einer wißbegierigen
-Dame, daß des seligen Holsteins Häuschen vermietet
-worden sei und die neuen Bewohner, in Gestalt von
-Mutter und Tochter demnächst schon eintreffen würden. Das
-gab natürlich viel zu reden. Allein auf alle an ihn gerichteten
-Fragen vermochte Mr. O'Reilly keine weitere Auskunft
-zu geben, als daß beide Damen respektabel aussähen
-und gebildet schienen.</p>
-
-<p>Vier Tage später war die kleine Villa von den neuen
-Bewohnern bezogen. »Wer mag das wohl sein? Weshalb
-kommen Leute, die solch eine Masse von eleganten Möbeln
-mit sich führen, hier heraus? Die Geschichte gefällt uns
-nicht &ndash; das hat sicher noch einen Haken!« So flüsterte man
-sich gegenseitig zu nach dem Eintreffen von Mrs. Northland
-und ihrer schönen Tochter auf Dolly Ward. Nachdem
-jedoch zwei und drei Monate ins Land gegangen und die
-beiden Damen trotz ihrer großen Zurückhaltung bekannter
-geworden waren, fing man an, sie gerade um ihrer Zurückhaltung
-und vornehmen Würde willen mit anderen Augen
-anzusehen, und nun sagten die Nachbarn von rechts und
-links unter sich: »Feine Leute sind es offenbar, das bezeugt
-ihr ganzes Auftreten, allein &ndash; wovon leben sie?«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_008" title="8"> </a>
-Nach amerikanischen Begriffen hat das Wort »Arbeit«
-die höchste und ehrendste Bedeutung und nur der gilt als
-angesehen, welcher auf irgendwelche ehrliche Weise durch
-eigene Arbeit sein Brot erwirbt. Die reichen Leute arbeiten
-aus angeborener und anerzogener Lust zum Schaffen, die
-Unbemittelten, um reich zu werden &ndash; Müßiggang giebt es
-in den Vereinigten Staaten nicht und wer sich ihm hingiebt,
-hat Mißtrauen zu fürchten über die Art, durch die
-er sich seinen Lebensunterhalt erwirbt. Da nun Mrs. Northland
-und ihre Tochter, außer einer gelegentlichen Fahrt
-nach New York, keine besondere Beschäftigung zu haben schienen,
-so war das selbstverständlich auch ein Grund, sich über die
-seltsame Lebensweise der beiden Damen aufzuhalten. Dessenungeachtet
-hatten die Fremden es verstanden, sich bald die
-Achtung und Teilnahme der Bewohner von Dolly Ward
-zu erwerben. Wer auch hätte dem freundlich sanften Wesen
-der Mutter, wer dem bezaubernden Augenaufschlag der
-Tochter zu widerstehen vermocht? So schroff und absprechend
-auch anfangs über die beiden Frauen geurteilt worden war,
-jetzt bemühte sich jeder, ihnen Gefälligkeiten zu erweisen,
-wenn auch ein näherer Verkehr nicht in den Wünschen der
-Damen zu liegen schien.</p>
-
-<p>Außer Mr. O'Reilly, dem jungen Advokaten, welcher
-in Goldsmiths Office in Brooklyn arbeitete und hier bei
-der alten Miß Colnay Pensionär war, außer diesem hatte
-noch keiner der Bewohner von Dolly Ward Mrs. Northlands
-Schwelle überschritten, und auch sein Verkehr mit den
-beiden Damen beschränkte sich nur auf einige geschäftliche
-Besuche, die O'Reilly der neuen Mieterin als Verwalter
-des Holsteinschen Grundstücks zu machen hatte. Es schien
-auch durchaus nicht in deren Absicht zu liegen, mit irgend
-jemand näher bekannt zu werden. Bei Begegnungen grüßte
-<a class="pagenum" id="page_009" title="9"> </a>
-man untereinander, sprach gelegentlich einige Worte über
-den Gartenzaun, das war alles.</p>
-
-<p>Im allgemeinen galt Mr. O'Reilly als wortkarger
-Mann; seit er jedoch die Bekanntschaft der Fremden gemacht,
-gab es dennoch einen Punkt, der seinen Mund überfließen
-machte: das war, wenn er von Mrs. Northland und deren
-Tochter sprach und in Lob und offener Bewunderung über
-beide sich erging. Durch ihn wußte es auch bald jedermann
-in Dolly Ward, daß diese Damen eine ganz ungewöhnliche
-Bildung, sowie die feinsten Umgangsformen
-besäßen und daß, obwohl Miß Grace Northland alltäglich
-mit einem Körbchen am Arm die Einkäufe bei Fleischer
-und Kaufmann selbst machte, die jetzige Einrichtung von
-Nr.&nbsp;9 derjenigen einer Lady der V.&nbsp;Avenue von New York
-gleichgestellt werden konnte.</p>
-
-<p>An einem regnerischen Junitage, um die sechste Abendstunde,
-trat Miß Grace, eine schlank gewachsene Brünette,
-mit kühn geschwungenen Augenbrauen und herbgeschlossenem,
-ausdrucksvollem Munde, dessen Linien sowohl starke Willenskraft
-wie auch Unerschrockenheit bekundeten, nach einem Ausgange
-durch die Verandathür in das vordere der beiden
-Parlours und schaute sich sichtlich befremdet darin um:
-»M'ma! Mama!«</p>
-
-<p>Keine Antwort erfolgte &ndash; das junge Mädchen stellte
-daher den Regenschirm rasch beiseite und eilte nach dem
-zweiten, nach der Rückseite des Häuschens gelegenen, kleinen
-Salon, welcher von dem ersten nur durch eine schwere,
-moosgrüne Portiere getrennt war.</p>
-
-<p>»M'a!«</p>
-
-<p>Auch hier zeigte sich niemand. Und doch wußte Grace,
-daß die Mutter Tag für Tag an dem nach der Straße
-gelegenen Fenster saß und die Tochter, wenn sie von ihren
-<a class="pagenum" id="page_010" title="10"> </a>
-kurzen Ausgängen heimkehrte, regelmäßig an diesem Plätzchen
-erwartete. So lange man auf Dolly Ward wohnte,
-war dies geschehen und heute nun zum erstenmale vermißte
-sie die teure Gestalt an dem gewohnten Platze.</p>
-
-<p>Ein banges Gefühl beklemmte die Brust des jungen
-Mädchens. Rasch sprang sie die Treppe zum oberen Stockwerk
-hinan und öffnete die Thür des gemeinsamen Schlafgemachs
-&ndash; dort saß Mrs. Northland und schien, über ein
-weißes Papier gebeugt, zu schreiben. Sobald die ältere Dame
-jedoch der schnell Eintretenden ansichtig wurde, schrak sie
-leicht zusammen und sagte halb verlegen, die Hand über
-das vor ihr liegende Schriftstück breitend:</p>
-
-<p>»Wie, schon zurück, mein Kind? Ich habe Dich noch
-nicht erwartet.«</p>
-
-<p>»Eben das befremdet mich, Mama, was thust Du hier
-allein?«</p>
-
-<p>Mit diesen erregt gesprochenen Worten eilte Grace auf
-die Mutter zu und umschlang sie mit fast ungestümer Zärtlichkeit.
-»M'a, geliebte M'a, Du verbirgst etwas vor mir,
-Du willst etwas thun, was ich nicht wissen soll. O warum
-das? Haben wir bisher nicht alle Sorgen und Mühen
-miteinander geteilt?« Ein wahrhaft rührender Ausdruck
-lag jetzt über den schönen Zügen der jungen Sprecherin.</p>
-
-<p>»Grace!« Die ältere Dame suchte ein Schluchzen zu
-bekämpfen, »o Grace, es kann ja so nicht weiter gehen.«</p>
-
-<p>»Es darf nicht, Mama, Du leidest physisch und seelisch
-darunter, das habe ich Dir schon oft gesagt, und deshalb
-werde ich Abhilfe schaffen. Ich muß es schon um Deinetwillen
-thun,« entgegnete das junge Mädchen mit fester
-Stimme.</p>
-
-<p>»Nein, nein, nur das nicht! Du sollst nicht hingehen
-in die großen Geschäfte, wo all' die tausend von jungen
-<a class="pagenum" id="page_011" title="11"> </a>
-Mädchen als Verkäuferinnen angestellt und von früh bis
-spät in jenen Tretmühlen beschäftigt sind &ndash; nimmermehr!
-Mein Stolz würde das nie ertragen lernen. Lasse mir
-doch diesen Stolz &ndash; er ist das einzige, was von allem
-Glanz und Schimmer der schönen Vergangenheit mir geblieben
-ist,« schluchzte Mrs. Northland unter heißen Thränen.</p>
-
-<p>»Es giebt aber doch auch noch andere Wege, uns einen
-genügenden Unterhalt zu verdienen,« gab Grace unbeirrt
-zurück.</p>
-
-<p>»Du meinst als Lehrerin, mein Kind! Gewiß &ndash; diese
-Damen werden gut bezahlt, allein, ob wir auch an Deine
-Erziehung viel gewendet haben, so bist Du für diesen
-Beruf doch noch nicht ausgebildet genug und müßtest noch
-einmal mit Deinem Studium von vorn beginnen, was
-einige Jahre beanspruchen &ndash; nein, mein Kind, auch das
-will ich nicht. Welchen Demütigungen und Versuchungen
-wärest Du in einer solchen Stellung ausgesetzt!« fügte Mrs.
-Northland hinzu, ihre Wange zärtlich an die der Tochter
-schmiegend.</p>
-
-<p>»Aber, was willst Du denn thun, Herzens-Mama, hast
-Du denn einen anderen Plan?« fragte das junge Mädchen
-eindringlich, indem sie das mit Zahlen bedeckte Papier auf
-dem Tische prüfend musterte.</p>
-
-<p>Die Antwort ließ eine Weile auf sich warten, dann
-kam es zagend über der Mutter Lippen: »Ich glaube, daß
-unsere Einrichtung, das bißchen Silber dazu genommen, noch
-ein recht leidliches Sümmchen repräsentiert. Nach meiner
-Zusammenstellung des Ganzen ergiebt sich &ndash; schlecht gerechnet
-&ndash; ein Ertrag von 2300 Dollars. Damit könnte
-ich vielleicht &ndash; irgend ein &ndash; bescheidenes Geschäft beginnen,
-das uns wenigstens vor Not schützte. Niemand kennt uns
-in New York &ndash; wer ahnt in mir die Witwe des Millionärs
-<a class="pagenum" id="page_012" title="12"> </a>
-und Eisenbahnkönigs Frederik A. Northland aus St.&nbsp;Louis,
-dessen Name ehedem im Westen einen solch' bedeutungsvollen
-Klang gehabt?! Nicht Du, mein Liebling, sondern ich muß
-mich aufraffen aus dieser lähmenden Apathie und für
-unsere Zukunft sorgen!«</p>
-
-<p>»Nein, um Gotteswillen, nein, wenn Du mich liebst,
-Mama, so schweige von solchen Dingen,« rief Grace fast
-leidenschaftlich, »Du, die schöne, vornehme Frau Dich erniedrigen,
-hinter dem Ladentische zu stehen &ndash; entsetzlich!
-Du Dich von Deinen lieben Sachen trennen, wo jedes
-Stück Dich an das frühere Glück und den teuren Vater
-erinnert! Das undankbarste Geschöpf unter der Sonne
-müßte ich sein, wollte ich das zulassen. Wozu bin ich
-jung und kräftig. Nein, Mama, daraus wird absolut nichts!«
-Jetzt hatte das junge Mädchen sich zur vollen Höhe emporgerichtet,
-wobei ein Ausdruck von Energie und Mut aus
-den schönen Augen leuchtete.</p>
-
-<p>»O Gott, daß es dahin kommen mußte! Wenn er,
-Dein Vater, noch lebte, es stünde besser mit uns, und wie
-gern wollte ich auch Not und Sorgen mit ihm teilen!«
-weinte leise die beklagenswerte Frau.</p>
-
-<p>»Der Himmel hat ihm dieses Schwerste erspart, das
-muß uns trösten, M'a,« sagte die Tochter weich.</p>
-
-<p>»Als wir hier ankamen, Grace, glaubten wir uns
-beinahe reich mit der kleinen Summe, die wir mitbrachten
-&ndash; nun ist sie fast ganz zusammen geschmolzen! Ich habe
-nie gedacht, daß die täglichen Bedürfnisse des Lebens soviel
-Geld verschlingen könnten. Dabei steht der Quartalswechsel
-vor der Thür und die Miete soll an Mr. O'Reilly
-bezahlt werden. &ndash; Ach, ich werde ihn wohl bitten müssen,
-uns den Betrag für einige Wochen zu stunden.«</p>
-
-<p>»Nimmermehr, Mama! Nur keine Gefälligkeit von
-<a class="pagenum" id="page_013" title="13"> </a>
-diesem Manne, es wäre mir schrecklich &ndash; erdrückend!«
-wehrte Grace mit auffälliger Hast ab. Prüfend schaute ihr
-die Mutter ins Gesicht und sagte bedeutsam:</p>
-
-<p>»Er ist kein übler Mann. Seine Manieren sind
-tadellos und neben einem guten Einkommen scheint er ein
-redliches gutes Herz zu besitzen. Nicht ohne Grund sucht
-er uns verlassenen Frauen öfters auf &ndash; hast Du daran
-schon gedacht, mein Kind?«</p>
-
-<p>»Er ist mir unsympathisch, Mama! Bitte, erwähne
-seiner gegen mich nie mehr in dieser Weise, ich könnte
-Mr. O'Reilly sonst nicht mehr unbefangen und freundlich
-begegnen,« gab Grace unwillig und in ernstem Tone zurück.
-Mrs. Northland seufzte und schwieg, worauf beide Damen
-langsam nach der unteren Etage hinabstiegen.</p>
-
-<p>Da die Dämmerung eingetreten war, so brachte das
-junge Mädchen die Lampe, welche sie alsbald mit großer
-Geschicklichkeit in Brand setzte. Ein intensives Licht beleuchtete
-jetzt das mit feinem Geschmack ausgestattete Gemach,
-so daß jeder Gegenstand darin erkennbar war. Die Mutter,
-welche mit sichtlichem Vergnügen den flinken Bewegungen
-der auffallend schönen Hände ihres Kindes zugeschaut hatte,
-sagte plötzlich lächelnd:</p>
-
-<p>»Wie Du doch diese wenig anmutende Arbeit verstehst
-und graziös verrichtest, mein Liebling! Ich habe niemals,
-auch in jener Zeit, als viele Diener mir zur Verfügung
-standen, solche hell und klar brennende Lampe gehabt, wie
-jetzt, wo mein teueres Töchterchen sich dieser Mühe eigenhändigst
-unterzieht!«</p>
-
-<p>»Ich bin auch stolz darauf, Mama, weil ich mir sage:
-Arbeit schändet nicht,« versetzte Grace heiter.</p>
-
-<p>»Nein, gewiß nicht, aber, ganz abgesehen von Deiner
-Opferwilligkeit, Du hast wirklich ein großes Talent dafür.«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_014" title="14"> </a>
-Bei diesen harmlosen Worten hob das schöne Mädchen
-die langen, dunklen Wimpern und sah der Sprecherin einige
-Sekunden starr und nachdenklich ins Gesicht. Eine schärfere
-Beobachterin, als Mrs. Northland war, würde wahrgenommen
-haben, daß es zugleich wie ein blitzartiges Aufleuchten
-über die regelmäßigen Züge glitt.</p>
-
-<p>Als nach einer halben Stunde die Damen am Theetisch
-saßen, der in seinem zierlichen Arrangement von gutem
-Porzellan und einigen wertvollen Stücken Silbergerät nur
-zu deutlich verriet, daß die Dasitzenden einst bessere Tage
-gesehen, erschien Grace merklich einsilbig und zerstreut.
-Abermals seufzte die Mutter still für sich und beobachtete
-mit Wehmut und Trauer, aber verstohlen des einzigen
-Kindes liebes Angesicht.</p>
-
-<p>Am nächsten Morgen fuhr Grace, kleine Einkäufe vorschützend,
-hinüber nach New York. Pünktlich nach drei
-Stunden, wie sie es versprochen, kehrte sie auch zurück, doch
-konnte das junge Mädchen es jetzt nicht unterlassen, der
-Mutter eine Mitteilung zu machen. Halb verlegen, halb
-freudig schlüpfte die geheimnisvolle Enthüllung über die
-rosigen Lippen, daß sie Hoffnung hege, vielleicht einen kleinen
-Verdienst zu bekommen.</p>
-
-<p>Aufs höchste erschreckt, starrte Mrs. Northland der
-Erzählerin ins Gesicht, indem sie darauf noch einmal alles
-schon unzählig oft Gesagte wiederholte und das junge
-Mädchen himmelhoch beschwor, sich nicht als Ladenmädchen
-zu verdingen. Aber Grace beruhigte die erregte Frau insofern,
-daß diese Aussicht auf einen Erwerb bisher nur in
-einer Annonce bestände, die sie in den »Herald« habe einrücken
-lassen und worüber sie die Mutter aufklären wolle,
-sobald man darauf geantwortet haben würde. Unter einer
-Chiffre habe sie Briefe, Hauptpostamt restante New York
-<a class="pagenum" id="page_015" title="15"> </a>
-erbeten. Der flehende und zugleich so mädchenhafte reine
-Ausdruck in Graces Augen bekämpfte die im Herzen der
-bekümmerten Frau aufsteigenden Zweifel und damit war
-diese Sache fürs erste abgethan.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<hr />
-
-<p>Im Speisesaale eines hocheleganten Privathauses der
-V.&nbsp;Avenue in New York befanden sich eine ältere, aber noch
-immer sehr wohl konservierte Dame, welche, den »Herald«
-in der Hand, am Fenster saß, und ein junger auffallend
-hübscher Mann von vielleicht neunundzwanzig Jahren,
-der sich mit seinem Frühstück beschäftigte.</p>
-
-<p>»Welch' seltsame Annonce! Bitte, höre mir einmal zu,
-Anthony, Hahaha!«</p>
-
-<p>»Ja, sofort, Mutter! Erlaube nur, daß ich noch dieses
-halbe Ei verzehre, dann stehe ich zu Deinen Diensten.«</p>
-
-<p>»Das ist wirklich originell, hahaha!« &ndash; Abermals
-tönte das helle Lachen nach dem Sprechenden hinüber.</p>
-
-<p>»So, nun, was ist denn da so spaßig, Mutter.«</p>
-
-<p>Der Gerufene war jetzt näher getreten und zog sich
-einen Stuhl dicht an die Seite der stattlichen Frau.
-Diese las:</p>
-
-<p class="ci">»Eine sehr respektable junge Dame aus guter Familie,
-welche, durch mißliche Verhältnisse gezwungen, sich einen
-eigenen Broterwerb zu verschaffen genötigt ist, bietet in
-nur feinen Häusern ihre Dienste an, um das von den
-Domestiken in der Regel vernachlässigte Geschäft des Putzens,
-Reinigens und Versorgens der Lampen zu übernehmen
-und bestmöglichst auszuführen. Dieselbe besitzt in dieser
-Branche eine seltene Fertigkeit und Übung und wird ihre
-Kunden sicherlich zufriedenstellen. Auf Wunsch Referenzen.
-Briefe erbeten: <i>Head-Postoffice restante Nr.&nbsp;600</i>.«</p>
-
-<p>»In
-<a class="pagenum" id="page_016" title="16"> </a>
-der That höchst sonderbar,« äußerte der mit Anthony Angeredete
-kopfschüttelnd, mehr ernst als scherzend, »entweder
-ist das nur ein schlechter Spaß oder &ndash; was mir wahrscheinlicher
-dünkt &ndash; ein Notschrei aus der Brust einer
-armen Frau.« Er nahm die Zeitung in die Hand und ließ die
-Blicke über die vielen kleinen Annoncen gleiten, ehe er fort
-fuhr: »Ich bin überzeugt, daß fast jede dieser Zeilen einen
-Roman zu verzeichnen hat. Dafür lebt man eben in der
-Riesenstadt New York. Wohl demjenigen, dem es einmal
-vergönnt ist, einen Blick in solch' verborgenes Leid zu thun,
-der in die Lage versetzt wird, heimlich geweinte Thränen
-trocknen zu können!«</p>
-
-<p>»Du bist ein Schwärmer, Anthony. Diesen weichen,
-menschenfreundlichen Sinn und das poetische Gemüt muß
-Dir Deine deutsche Mutter vererbt haben. Dein Vater
-besaß hiervon nichts,« versetzte die stattliche Dame mit einem
-leichten Seufzer, indem sie das edel geformte Antlitz des
-Stiefsohnes wohlgefällig betrachtete. »Was meinst Du,
-Anthony, ob ich diese Annonce beantworte? Man könnte
-ja dann sofort erfahren, inwieweit Deine Vermutungen zutreffend
-sind oder nicht.«</p>
-
-<p>»Thue das, Mutter; es würde mich herzlich freuen,
-wenn Du ein gutes Werk damit zu stiften im stande wärest,«
-sagte der junge Mann lebhaft, und die Dame fuhr angeregt
-fort:</p>
-
-<p>»Übrigens könnte wirklich eine kunstgeübte Hand unseren
-Lampen samt und sonders nicht schaden, da der alte,
-schwachköpfige Jim sein Geschäft zuweilen arg vernachlässigt.
-Fast täglich habe ich Klage über ihn zu führen &ndash; wohlan,
-ich schreibe, Anthony.«</p>
-
-<p>Als der junge Handelsherr Mr. Anthony E.&nbsp;Clark
-gegen die elfte Vormittagsstunde nach seiner in der unteren
-<a class="pagenum" id="page_017" title="17"> </a>
-Stadt gelegenen Office fuhr, hatte er selbst den Brief der
-Stiefmutter zur Beförderung in der Tasche. Als dies geschehen,
-war aber bei ihm auch die Annonce und das
-darauf bezügliche Gespräch vergessen.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Der nächste Morgen führte den jungen Mann indessen
-nach der in einem Seitenflügel seines großen Hauses gelegenen
-Bibliothek, um ein für sein Geschäft wichtiges Werk
-daraus zu entnehmen. Beim Durchschreiten eines in den
-Garten mündenden Zimmers, welches von seiner Stiefmutter
-zur Aufbewahrung des häuslichen Wäscheschatzes benutzt
-wurde und mächtige Schränke und Truhen aufwies,
-stutzte Mr. Anthony überrascht. Dort an einem großen
-Tische am Fenster, auf welchem eine förmliche Batterie von
-Lampen aufgestellt war, stand ein hochgewachsenes Mädchen
-und schien in ihre prosaische Beschäftigung so vertieft zu
-sein, daß sie den Eintritt des jungen Mannes gar nicht
-wahrgenommen hatte.</p>
-
-<p>Wohl drei Minuten betrachtete dieser das trotz seiner
-Originalität höchst anmutige Bild. Durch die halb zugezogene
-Gardine fiel ein Strahl der goldenen Morgensonne
-gerade über den dunkeln Scheitel des feinen, etwas vorgebeugten
-Kopfes und ließ ein wahrhaft holdseliges Profil
-erblicken, das gegen den hellen Hintergrund wie gemeißelt
-erschien. Die ebenmäßige Figur zeigte auffallend schöne
-Formen, wie auch der Schnitt des Kleides unleugbare Eleganz
-bewies. Anthony Clark zögerte noch immer, weiterzuschreiten,
-weil er darauf wartete, daß die junge Unbekannte
-vielleicht einmal die tief auf die Arbeit gesenkten
-Augen heben würde, aber vergebens. Nun trafen seine
-prüfenden Blicke die rührigen Finger &ndash; wie sonderbar!
-Ein Paar waschlederne Handschuh bedeckten die Hände bis
-zum Gelenk, hieran schlossen sich eine Art Schutzärmel aus
-<a class="pagenum" id="page_018" title="18"> </a>
-grauem Futterstoff, die bis über den Ellenbogen hinaufreichten;
-ein kleines, weißes Schürzchen vervollkommnete
-diese seltsame Toilette.</p>
-
-<p>Das also war die junge Dame aus guter Familie,
-welche ihr Brot zu erwerben genötigt war? Er hatte mit
-seinen Vermutungen demnach doch recht gehabt. »Eine
-<em class="ge">Dame</em>, hm!« Im Augenblick dachte er gar nicht mehr an
-seine Absicht, jenes Buch zu holen, sondern beschäftigte sich
-mit dem Gedanken, daß diese Bezeichnung hier in der
-That höchst gerechtfertigt erschien, wobei ein merkwürdiges
-Gefühl, halb Befriedigung, halb Freude sein Inneres bewegte:
-»Wie glücklich mochte das arme Mädchen sein, etwas
-Beschäftigung &ndash; und hoffentlich auch recht lohnende &ndash; gefunden
-zu haben!«&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Gleichsam instinktiv, als ob es die Nähe eines Fremden
-ahne, schlug das schöne Mädchen jetzt die Augen empor
-und trat, merklich erschrocken, zurück, während ein heißes,
-verräterisches Rot sich über Antlitz und Hals ergoß. Mr.
-Anthony Clark wußte nichts anderes zu thun, als leicht zu
-grüßen und rasch nach der Bibliothek hinüberzuschreiten,
-von wo aus er dann seinen Rückweg durch einen anderen
-Teil des Hauses nahm.</p>
-
-<p>Etwa vier Wochen mochten vergangen sein, während
-welcher die junge Fremde alltäglich um die zehnte Morgenstunde
-bei Mrs. Clark erschien, um sämtliche im Haushalt
-gebrauchten Lampen in Ordnung und Stand zu setzen.
-Nach Vereinbarung wurde ihr regelmäßig durch die Lady
-selbst ein Dollar für ihre Arbeit verabreicht, den sie auch
-mit ruhiger Würde, man hätte fast sagen können, mit vornehmer
-Herablassung entgegennahm, als ob sie selbst dem
-Hause einen großen Dienst geleistet hätte und nicht die
-Empfängerin eines unverhältnismäßig hohen Arbeitslohnes
-<a class="pagenum" id="page_019" title="19"> </a>
-sei. Mrs. Clark, eine obwohl stolze, doch zugleich äußerst
-gutherzige Frau, hatte das junge Mädchen, dessen schönes
-Antlitz sie oft nachdenklich musterte, gelegentlich auch einmal
-gefragt, ob es auf die im »Herald« erlassene Annonce noch
-mehr Arbeit und Verdienst erhalten habe, worauf ihr die
-in kühlem Tone gegebene Antwort wurde, daß sie bereits
-fünfzehn der feinsten Familien New Yorks zu ihren Kunden
-zähle und mit der Zeit noch bekannter zu werden hoffe.</p>
-
-<p>Mr. Anthony Clark, ein Mann von durchaus ehrenhaften,
-edlen Gesinnungen, hatte es nicht mehr gewagt, die
-Unbekannte bei ihrer mehr oder weniger demütigenden
-Beschäftigung durch seine Gegenwart zu belästigen, und
-mied das Zimmer, in welchem sie ihre Arbeit stets pflichttreu
-verrichtete. Allein der Zufall wollte es, daß er ihr
-öfters in der großen Halle oder auf der Treppe begegnete.
-Alsdann lüftete er jedesmal in ausgesuchtester Höflichkeit
-den Hut, wobei er es jedoch nicht unterlassen konnte, einen
-raschen Blick in das reizende, stets so ernste Mädchengesicht
-zu thun.</p>
-
-<p>»Nun, freust Du Dich nicht über meine Acquisition,
-Anthony?« fragte Mrs. Clark eines Abends, als man einige
-Freunde zum Diner erwartete und nun bei den prächtig
-und tadellos brennenden Lampen saß.</p>
-
-<p>»Die Freude ist eine problematische, Mutter,« lautete
-die freundliche, aber bestimmte Antwort des Stiefsohnes,
-»die blendende Helligkeit all' dieser Lampen bildet einen
-grellen Kontrast zu dem dunklen Lebenswege des armen
-Mädchens, dem wir zu Dank verpflichtet sind.«</p>
-
-<p>Die Hausfrau zuckte halb bedauernd die Schultern
-und meinte gutmütig, daß man der Fremden zu Neujahr
-ein recht anständiges Geschenk zu machen verpflichtet wäre.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Eines Morgens, bevor Mr. Anthony wie gewöhnlich
-<a class="pagenum" id="page_020" title="20"> </a>
-nach seiner Office fuhr, trat Mrs. Clark, zum Ausgange
-gerüstet, noch einmal in des Stiefsohnes Privatzimmer und
-sagte in mütterlich herzlicher Weise: »Bitte, thue mir den
-großen Gefallen, Anthony und trage die Bücher, welche ich
-mir gestern Abend aus der Bibliothek holte, wieder an den
-alten Platz. Du weißt, ich liebe die Ordnung &ndash; sie
-liegen auf meinem Schreibtisch.«</p>
-
-<p>Da das Verhältnis zwischen dem Sohne und der
-zweiten Frau des verstorbenen Mr. Clark ein selten inniges
-war, so entgegnete er ebenso freundlich und zuvorkommend:</p>
-
-<p>»O gewiß gern, liebe Mutter, aber&nbsp;...«</p>
-
-<p>Den Schluß seiner Rede hörte die Dame nicht mehr,
-weil sie Eile zu haben schien und das Zimmer bereits verlassen
-hatte.</p>
-
-<p>Zögernd und mit einer ihm selbst unerklärlichen Befangenheit
-stand Anthony Clark noch einige Minuten vor
-der Thür des Zimmers, das von der Fremden zu ihrem
-prosaischen Geschäft benutzt wurde. Er wußte es selbst
-nicht, warum er gerade diesen Weg nach der Bibliothek
-eingeschlagen hatte. Einerseits scheute er eine Begegnung
-mit dem jungen Mädchen, andererseits trieb eine innere
-Gewalt ihn vorwärts. War er denn nicht der Hausherr
-hier, der überallhin kommen und gehen konnte, wie es ihm
-beliebte? Mit dieser Schlußfolgerung trat er endlich ein.</p>
-
-<p>Ja, da stand sie wieder, die so eigentümlich imponierende
-und doch so mädchenhaft schüchterne Gestalt. Ein
-leichtes Rot war ihm nun in die Stirn gestiegen, weil
-er sich bewußt war, oft &ndash; vielleicht sehr oft sich dieses
-seltsame Bild vor die Seele gezaubert zu haben.</p>
-
-<p>Recht auffällig sichtbar nahm er nun den mitgebrachten
-Bücherstoß in seinen linken Arm und grüßte höflich mit
-den Worten: »Verzeihung, mein Fräulein, daß ich Sie
-<a class="pagenum" id="page_021" title="21"> </a>
-störe, allein &ndash; ich muß hinüber nach der Bibliothek!«
-Dabei war aber Anthony keineswegs weitergeschritten, sondern
-etwa sechs Schritte von dem jungen Mädchen stehen
-geblieben. Verwundert und, wie es ihm vorkam, mit leisem
-Lächeln, begegnete sie seinem leuchtenden Blicke.</p>
-
-<p>»Es steht mir kein Recht zu, dieses Zimmer für mich
-allein beanspruchen zu wollen, Mr. Clark,« entgegnete sie
-mit volltönender überaus sympathischer Stimme. &ndash; Also
-wußte die Fremde darum, daß er der Hausherr war. Rasch
-erwiderte er:</p>
-
-<p>»O doch, Miß, Miß&nbsp;&ndash;« (augenscheinlich verlangte es
-ihn, ihren Namen zu erfahren) &ndash; »Northland!« klang es
-sehr leise zurück.</p>
-
-<p>»O doch, Sie haben ein Recht, hier ganz ungestört zu
-sein, Miß Northland. Sie sind ja die Wohlthäterin für
-das ganze Haus, ich meine: seit Sie zuerst hier eingetreten,
-ist es &ndash; Licht geworden.«</p>
-
-<p>Der schöne Mädchenkopf senkte sich tiefer auf die
-Brust herab. »Man ist gütig gegen mich,« flüsterte sie
-bescheiden.</p>
-
-<p>»Vielleicht ist es sehr anmaßend von mir, Ihnen ein
-plumpes Lob zu spenden, aber ich kann es doch nicht unterlassen,
-Ihnen zu gestehen, daß ich Ihren Mut, Ihre Willensstärke
-und Selbstverleugnung &ndash; bewundere,« sagte Anthony
-nun eigentümlich erregt.</p>
-
-<p>»Das Wörtlein ›muß‹ ist ein strenger Lehrmeister,
-Mr. Clark, welcher mit eiserner Hand alle rebellischen
-Oppositionsgelüste herabzudrücken versteht. Aber dennoch
-giebt es noch etwas Mächtigeres als diesen moralischen
-Zwang, und diesem Mächtigeren bringt man gerne Hochmut,
-Eitelkeit und thörichte Eigenliebe zum Opfer,« versetzte das
-<a class="pagenum" id="page_022" title="22"> </a>
-schöne Mädchen, indem ihre großen Augen freudig aufleuchteten.</p>
-
-<p>»Sie haben Eltern, Miß Northland, eine Mutter, für
-die Sie sorgen?« forschte er, näher tretend.</p>
-
-<p>»Jawohl, um meiner Mutter willen stehe ich hier an
-diesem Platze, und das Bewußtsein, für sie, die mir auf
-Erden das teuerste ist, meine Kindespflicht zu erfüllen, hat
-den Gedanken an Demütigung und Erniedrigung noch niemals
-in mir aufkommen lassen.«</p>
-
-<p>Mr. Anthony erwiderte kein Wort und so war es
-mehrere Minuten ganz still im Zimmer; Miß Northland
-hatte unterdessen ihre Beschäftigung wieder aufgenommen.</p>
-
-<p>»Haben Sie keine Verwandten oder Freunde hier in
-New York?« fragte er nun eindringlich und leise. Es kam
-ihm so vor, als ob seine Stimme plötzlich einen veränderten
-Klang bekommen hätte.</p>
-
-<p>»Nein, keine; wir sind erst vor einigen Monaten aus
-dem Westen &ndash; aus St.&nbsp;Louis gekommen und daher noch
-ganz fremd hier,« lautete der einfache Bescheid.</p>
-
-<p>Die Sprecherin gewahrte nicht die sichtliche Überraschung
-in des jungen Mannes Zügen; unverwandt und
-forschend waren seine Augen auf das feine Profil gerichtet.
-Nur als er sich jetzt fast ehrfurchtsvoll vor ihr verbeugte
-und leise sagte: »Auf Wiedersehen, Miß Northland,« schaute
-sie eigentümlich befremdet auf und entgegnete schüchtern:</p>
-
-<p>»Ich hoffe, daß Ihre Frau Mutter meine kleinen
-Dienste noch einige Zeit wird gebrauchen können.«</p>
-
-<p>Nicht lange verweilte Mr. Anthony in der nahen Bibliothek,
-schon nach fünf Minuten kehrte er daraus zurück;
-allein dieses Mal durchmaß er beinahe hastig das Gemach,
-indem er in Anknüpfung an das vorige Gespräch nur die
-halb prophetische, halb aufmunternde Bemerkung hinwarf:</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_023" title="23"> </a>
-»Miß Northland, gewiß wird sich auch an Ihnen das
-Dichterwort erfüllen: Was man Schwerstes je empfunden,
-Liebe hat es überwunden!«&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>An demselben Abend nach dem Diner war es das
-erste Mal, daß Anthony seiner Stiefmutter gegenüber die
-Rede auf die Fremde brachte. Er blätterte dabei in einem
-Buche und seine gleichgültige Miene zeigte nichts von der
-Erregung und Unruhe, die in ihm arbeiteten. Ernst und
-wie beiläufig fragte er:</p>
-
-<p>»Hast Du niemals nach den Familienverhältnissen
-des Mädchens geforscht, das seit einigen Wochen hier ein-
-und ausgeht, Mutter?«</p>
-
-<p>»Nein, wieso? Ich denke, sie ist sehr bescheiden und
-zurückhaltend. Auf mich macht sie einen ausnehmend günstigen
-Eindruck. Vielleicht bin ich aber bei dieser Meinung
-beeinflußt durch eine Ähnlichkeit, welche &ndash; mich an frühere
-glückliche Zeiten erinnert. Hast Du, mein Sohn, etwas
-gegen das Mädchen einzuwenden?«</p>
-
-<p>»Ich &ndash; einzuwenden? Allerdings!« Der junge Handelsherr
-war aufgesprungen und ließ sein schönes, kluges
-Auge mehrere Sekunden prüfend auf den wohlgebildeten
-Zügen der älteren Dame haften, dann fuhr er, tief und
-schwer aufatmend, fort:</p>
-
-<p>»Als ich heute, auf dem Wege zur Bibliothek, zufällig
-einige Worte mit der jungen Dame (er betonte letzteres
-Wort ziemlich scharf) wechselte, erfuhr ich, daß sie den
-Namen »Northland« führt und mit ihrer Mutter aus St.&nbsp;Louis
-herübergekommen ist. Du hast mir nun früher das
-große Vertrauen geschenkt, mich in eine mir ziemlich nahe
-gehende Angelegenheit einzuweihen, und soviel ich mich aus
-Deinen damaligen Mitteilungen erinnere, ist dieser Name
-Dir durchaus nicht unbekannt, vorausgesetzt, daß irgendwelche
-<a class="pagenum" id="page_024" title="24"> </a>
-Beziehungen bestehen sollten, zwischen &ndash; zwischen&nbsp;...«
-Er stockte.</p>
-
-<p>»Northland! O mein Gott, also doch! Ja, diese Ähnlichkeit
-mit diesem Manne, den ich einst liebte, frappierte
-mich sofort.« Tief erblaßt hatte Mrs. Clark jenen Ausspruch
-hervorgestoßen und die Hände dabei aufs Herz
-gepreßt: »O Anthony, sie, diese arme Kleine, wäre Marys
-und Northlands Kind? Nein, das kann, das darf ja nicht
-möglich sein!«</p>
-
-<p>»Dieses Rätsel bald &ndash; recht bald zu lösen, soll Dir
-und mir eine Pflicht sein!« gab der Sohn mit Nachdruck
-zurück, indem er seinen Arm zärtlich um die Schulter der
-tief erschütterten Stiefmutter legte. Mit dem Taschentuche
-vor den Augen weinte diese jetzt leise vor sich hin:</p>
-
-<p>»O, Anthony, das wäre eine grausame Strafe für
-mich. Wie oft, als ich mich damals voll Empörung mit
-harten Worten von Mary losgesagt und Northlands Reichtum
-und Ansehen höher und höher stieg, wie oft habe ich
-da das Glück dieses Paares beneidet und berufen! Und
-tief im Herzen grollte ich der einstigen Freundin, weil von
-rechtswegen der Platz an ihres schönen Gatten Seite mir
-gebührte, mir, die ihn ebenso, vielleicht noch inniger geliebt.
-Und auf diese Weise soll ich endlich, endlich wieder von
-Mary hören! Anthony, ich kann's nicht fassen!«</p>
-
-<p>»Gottes Wege sind unerforschlich,« versetzte der Angeredete
-sanft.</p>
-
-<p>»Aber, mein Himmel, was sitze ich hier so müßig
-und lasse die kostbare Zeit verrinnen,« rief Mrs. Clark nun
-heftig aufspringend. »Mary, meine arme Mary in Not
-und Elend, während ich in Wohlleben und Überfluß schwelge.
-Fort, mein Sohn, bringe mich zu ihr! An mein reuiges
-Herz ziehen will ich die Teure und ihr Kind. O, welch'
-<a class="pagenum" id="page_025" title="25"> </a>
-eine Schmach ist es für mich, daß gerade hier in unserem
-Hause das arme Mädchen sich so erniedrigen mußte,
-Anthony!«</p>
-
-<p>»Erniedrigen? O nein, Mutter! Das, was Miß Northland
-gethan hat, webt einen Glorienschein um ihr edles
-Haupt,« klang es auffallend feurig aus des jungen Mannes
-Munde, so daß Mrs. Clark in stummer Überraschung zu
-dem Stiefsohne aufblickte.</p>
-
-<p>»Willst Du meine Ratschläge befolgen, Mutter?« fragte
-er nach einer Pause.</p>
-
-<p>»Thue ich das nicht stets, Anthony?«</p>
-
-<p>»Wohlan, so lasse die junge Dame, welche zweifellos
-die Tochter Deiner Freundin ist, morgen noch einmal &ndash;
-zum letztenmale &ndash; hier ihres schweren Amtes walten, nur
-damit ich ihr dann unbemerkt folgen und Mrs. Northlands
-Wohnung erforschen kann. Ist das erreicht, so magst
-Du hingehen und thun, was Dir Pflicht und Herz gebieten.
-Bist Du damit einverstanden, Mutter?«</p>
-
-<p>Unter Thränen nickte diese ihm zu.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Anthony Clark vermochte in der darauffolgenden Nacht
-gar keine Ruhe zu finden. Immer und immer stand das
-hochherzige Mädchen mit den ernsten, charaktervollen Zügen
-und den wunderbar schönen Augen vor seinem fieberhaft
-erregten Geist. Und als gegen Morgen der Schlaf sich
-endlich auf seine Lider herabsenkte, war es ihm, wie wenn
-ihr holdes Angesicht, von einer leuchtenden Strahlenkrone
-umgeben, sich über ihn niederbeugte und die melodische
-Stimme in sein Ohr flüsterte: »Was man Schwerstes je
-empfunden, Liebe hat es überwunden!«&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Ganz seltsam unsicher und befangen hatte Miß Northland
-am andern Morgen das Clarksche Haus betreten und
-war viel eiliger als sonst durch die weite Halle der unteren
-<a class="pagenum" id="page_026" title="26"> </a>
-Etage die Treppe hinauf nach dem für ihre Obliegenheiten
-bestimmten Zimmer geschlüpft. Dort angekommen atmete
-sie förmlich erleichtert auf, daß ihr niemand begegnet
-war, weil sie sich nach ihrer Idee in einer krankhaft erregten
-Gemütsstimmung befand. Zu ihrer Schande mußte
-sie auch selbst die Wahrnehmung machen, daß ihr die
-zu verrichtende Arbeit zum erstenmale drückend und
-peinlich erschien. Wenn Mr. Clark nur nicht etwa wieder
-bei ihr eintreten und ein Gespräch mit ihr anknüpfen wollte,
-dachte das junge Mädchen hochklopfenden Herzens &ndash; heute
-würde sie ihm nicht mehr so unbefangen in die klugen
-Augen blicken und nicht mehr so präcise antworten können!
-Warum aber fürchtete sie sich davor? Über dieses Warum
-indessen vermochte sich Grace nicht klar zu werden und
-schob es auf »ihre krankhaft erregte Gemütsstimmung!«&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Bei ihrem Eintritt in den gewohnten Arbeitsraum
-stand alles wie sonst am bekannten Platze. Sie zog flink
-Schürze, Schutzärmel und Handschuhe aus der mitgebrachten
-Tasche hervor und war eben im Begriff, an die Arbeit zu
-gehen &ndash; da gewahrte sie, dicht neben den Lampen liegend,
-eine prachtvolle Marschall-Niel-Rose. Was bedeutet das?
-Beim Anblick der Blüte war Grace dunkle Glut ins
-Gesicht geschossen und eine tiefe Zornesfalte legte sich über
-die weiße Stirn. Empörend! Das mußte der unverschämte
-Nigger, der Butler des Hauses gethan haben, welcher ihr
-beim Kommen und Gehen stets den Mantel an- und ausziehen
-half und sie dabei immer so keck anstierte oder seine
-wulstigen Lippen zu süßlichem Grinsen verzog. Empörend
-war das! Mit dem Zeigefinger der linken Hand schob sie
-die zartgelbe Blüte an das entgegengesetzte Ende des großen
-Tisches; allein eben so schnell ergriff sie dieselbe wieder,
-sie mit fast wildem Ungestüm an die Brust pressend. Allmächtiger
-<a class="pagenum" id="page_027" title="27"> </a>
-Gott, wäre es denkbar, konnte es möglich sein,
-daß er &ndash; Anthony Clark, dessen Bild sich in ihrer jungen
-Brust gar fest eingelebt hatte, dessen milde, zum Herzen
-dringende Stimme ihr noch jetzt durch das Gemüt klang,
-daß er jene Blume hier auf diesen Tisch gelegt? Ein
-Zittern überfiel die hohe Mädchengestalt &ndash; und wenn er
-es wirklich gethan, mußte sie es dann nicht eher als Demütigung
-und Beleidigung ansehen, die er, der reiche, hochgestellte
-Mann dem armen, schutzlosen Mädchen damit angethan?
-Durfte sie die Blüte, ohne erröten zu müssen,
-auch wirklich annehmen? Was würde die Mutter dazu
-sagen? O gewiß, Anthony Clark war eines unedlen Gedankens
-nie fähig, das war ja sonnenklar! Mit fliegenden
-Händen, gewiß das erste Mal weniger gewissenhaft als
-sonst, verrichtete Grace Northland an diesem verhängnisvollen
-Morgen ihre Arbeit. Mrs. Clark sei ausgegangen,
-bedeutete sie der aufwartende Butler, als sie sich zur Dame
-des Hauses, wie alltäglich, begeben wollte. Wie Grace
-bei dieser Auskunft voll Beruhigung wahrnahm, verrieten
-die Züge des Schwarzen heute nur steife Würde und
-stumme Ehrerbietung. Gott sei Dank, endlich konnte sie
-dem sie heute so eigentümlich beengenden Hause den
-Rücken wenden, flink eilte das junge Mädchen in die anderen
-Häuser, in welchen sie die nämliche Beschäftigung zu
-verrichten hatte, und wenige Stunden später lief Grace
-Northland bereits leichtfüßig die Treppenstufen zu dem
-traulichen Häuschen Nr.&nbsp;9 auf Dolly Ward hinan.</p>
-
-<p>Hätte sie während des Weges nur ein einziges Mal
-nach rückwärts geschaut, dann würde sie wohl sicher nicht
-mehr im Zweifel über den Geber jener Rose gewesen sein.</p>
-
-<hr />
-
-<p><a class="pagenum" id="page_028" title="28"> </a>
-Es war ein zauberisch schöner Juliabend. Gleich
-Diamanten strahlten die Sterne am Himmel und wer nie
-eine amerikanische Sommernacht durchlebte, der hätte denken
-können, ein Teil der Gestirne wäre zur Erde herabgefallen,
-so glitzerten und funkelten die zahlreichen <i>glow worms</i>
-(Leuchtkäfer) allenthalben im tauigen Grase und duftigen
-Gesträuch. In traulicher Eintracht saßen Mutter und
-Tochter auf der kleinen Veranda, während Polly, eine
-junge Negerin, welche Grace, seitdem sie so guten Verdienst
-erzielte, zum Beistand der Mutter ins Hauswesen genommen,
-geräuschlos hin und her glitt und den Theetisch abräumte.</p>
-
-<p>»Du bist heute so still, mein Kind, was ist Dir?
-Zuweilen scheint es mir, als ob Deine Gedanken ganz wo
-anders weilten, als zu Hause!« fragte Mrs. Northland,
-nachdem sie schon einigemal nach der prächtigen Rose geschaut,
-die an des jungen Mädchens Busen prangte.</p>
-
-<p>»Ich denke darüber nach, daß wir doch jetzt sehr
-glücklich sein können, Ma,« entgegnete die Angeredete mit
-halb abgewandtem Gesicht.</p>
-
-<p>»Du, mein Engelskind! Wie sorgst und plagst Du
-Dich für mich &ndash; das zu vergelten, vermag nur Gott,«
-flüsterte die ältere Dame in tiefer Bewegung.</p>
-
-<p>»Ich ernte ja auch reiche Früchte. Die Mühe ist so
-gering, in anbetracht, daß ich Deine Stirn wieder ohne
-Sorgenfalten erblicke,« lautete die heitere Erwiderung.</p>
-
-<p>»Du wolltest mir ja längst einmal etwas über die
-verschiedenen Häuser erzählen, in denen Du ein- und ausgehst,
-Grace. Ich hoffe, man begegnet Dir mit Achtung?«</p>
-
-<p>»Sei außer Sorge, Mama. Noch niemals habe ich
-die geringste Zurücksetzung erfahren. Vor allen ist es&nbsp;&ndash;«
-<a class="pagenum" id="page_029" title="29"> </a>
-(Grace zögerte ein wenig) »ist es Mrs. Clark, die stets
-in sehr liebreicher Weise zu mir spricht.«</p>
-
-<p>»Mrs. Clark, eine noch junge Frau?«</p>
-
-<p>»Etwa in Deinem Alter. Sie ist eine große volle
-Blondine, mit selten schönen, blauen Augen und&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Und einem kleinen, roten Male an der Oberlippe?«
-fiel Mrs. Northland der Tochter hastig ins Wort.</p>
-
-<p>»Ja, gewiß. Woher kennst Du denn diese Dame?«</p>
-
-<p>Die Mutter war jetzt in ihren Stuhl zurückgesunken
-und atmete tief und schwer.</p>
-
-<p>»O Grace, welche Entdeckung! Warum auch mußtest
-Du gerade in dieses Haus geraten? Gerade sie ist die
-Frau, um deretwillen Dein armer Vater einen Treubruch
-beging, indem er mich ihr, dem reichen Mädchen, mit
-welchem er bereits verlobt war, vorzog. Einst waren
-wir uns beide in beinahe mehr als schwesterlicher Liebe
-zugethan, lange Jahre hindurch; dann aber hat sie mir
-die Thür gewiesen, sich gänzlich von mir losgesagt
-&ndash; mich verflucht! Ein Unsegen ruhte seitdem auf dem
-Bunde zwischen Deinem Vater und mir. Dein Vater
-verlor sein ganzes Hab und Gut und ist im kräftigsten
-Mannesalter dahingerafft worden. Annie, meine frühere
-Freundin, wurde die zweite Frau des reichen Handelsherrn
-Mr. Albert Clark, wie ihr Vater es wünschte, und nun
-lebt sie im Überfluß in New York. So viel ich weiß, besaß
-Clark auch einen Sohn aus erster Ehe; Annie hatte keine
-Kinder!«</p>
-
-<p>Längst war das junge Mädchen von ihrem Sitze
-aufgesprungen, war niedergekniet und lauschte, die verschlungenen
-Hände im Schoße der Mutter, atemlos deren
-Worten. »Grace,« fuhr dieselbe nach kurzer Pause fort,
-<a class="pagenum" id="page_030" title="30"> </a>
-»in diesem Hause darfst Du Deinen Namen niemals
-nennen, hörst Du, Grace?«</p>
-
-<p>Es erfolgte keine Antwort. Dafür aber gewahrte
-Mrs. Northland, ungeachtet der zunehmenden Dunkelheit,
-wie ein Herr und eine Dame sich langsam dem Hause
-Nr.&nbsp;9 genähert hatten und nun leise zögernd die Stufen
-der hölzernen Treppe emporstiegen.</p>
-
-<p>Durch die Glasthür der Veranda fiel ein heller Lichtstrahl
-direkt auf das blasse Gesicht einer stattlichen, noch
-immer schönen Frau.</p>
-
-<p>»Annie! Barmherziger Gott!«</p>
-
-<p>»Mary!«</p>
-
-<p>Wie durch einen Federdruck in die Höhe geschnellt,
-fuhr nun auch des jungen Mädchens Kopf aus dem Schoß
-der Mutter empor. Allein, Grace sah nicht, daß diese der
-eleganten Dame in die Arme sank, nicht, daß jene das
-vergrämte Gesicht der Wiedergefundenen mit heißen Küssen
-bedeckte &ndash; sie sah nur ihn &ndash; Anthony Clark und seine
-herzlich und liebevoll auf sie blickenden Augen.</p>
-
-<p>»Annie, Du kommst zu mir? Bringst Du mir Vergebung
-&ndash; bringst Du Deine so schmerzlich vermißte Liebe
-mir zurück?« klang es schluchzend aus Mrs. Northlands
-Munde.</p>
-
-<p>»Alles, alles, Mary. Aber ich bringe Dir noch mehr:
-Siehe hier, das ist Anthony Clark, der mir zu jeder Zeit
-ein lieber Sohn gewesen. Er hat eine Bitte an Dich zu
-richten, die so groß und bedeutungsschwer ist, daß es meiner
-Fürsprache bei Dir bedarf!«</p>
-
-<p>Der Genannte war rasch näher getreten und verneigte
-sich tief vor der überraschten Frau.</p>
-
-<p>»Eine Bitte an mich?« stammelte Mrs. Northland,
-<a class="pagenum" id="page_031" title="31"> </a>
-während sie in fast scheuer Verwunderung von dem eleganten,
-hübschen Manne zu ihrer Tochter hinübersah. Was
-war denn hier geschehen? &ndash; Das purpurglühende Gesichtchen
-mit den Händen bedeckend, lehnte das junge Mädchen
-an einem Sessel.</p>
-
-<p>Obwohl in leidenschaftlicher Erregung, aber doch in
-festem Tone, sagte nun Mr. Anthony: »Ich habe einmal
-die Äußerung gethan, daß es, seit Sie, Grace Northland,
-die Schwelle unseres Hauses überschritten, Licht darin geworden
-ist. Allein damals wagte ich nicht, hinzuzusetzen,
-daß dieses Licht mit einer Kraft und Macht, die höheren
-Ursprung zeigten, auch mir ins Herz hineingedrungen ist!
-Wie ein Geblendeter bin ich seit Wochen umhergegangen
-&ndash; geblendet und beschämt über die eigentliche Erbärmlichkeit
-des sonst so hochgeschätzten eigenen Wertes. Erst
-Sie, nur Sie, Miß Northland, haben mich gelehrt, daß
-es noch Höheres giebt als das, was mir bis dahin als
-allein edel und erhaben vorgeschwebt. Wenn ich mir bisher
-einbildete, ein guter Mensch zu sein, so erkannte ich mich
-jetzt als einen egoistischen, jämmerlichen Wicht, dessen ganzes
-Verdienst darin bestanden hatte, die Annehmlichkeiten des
-Lebens mit Behagen zu genießen. &ndash; Heute, als die verhängnisvolle
-Rose auf Ihrem Platze lag, war ich so anmaßend,
-durch eine Thürspalte zu Ihnen hinüber zu sehen.
-Ich gewahrte Ihren Kampf, gewahrte aber auch, wie mein
-stummes Liebeszeichen mit Ungestüm ans Herz gepreßt
-wurde. Grace Northland! Diese Brust erfüllt nunmehr
-ein einziger, seliger, heißer Wunsch &ndash; eine Bitte&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Anthony!« Ein fassungsloser Jubelruf unterbrach
-den Sprecher; Graces Arme waren jetzt schlaff herabgesunken
-und wie in einer Verklärung starrte sie ihn an.</p>
-
-<p>»Grace, mein hochherziges, mutiges Mädchen, ich will
-<a class="pagenum" id="page_032" title="32"> </a>
-noch nichts anderes wissen, als ob Sie meine tiefe innige
-Liebe einst werden erwidern können. Das weitere überlassen
-wir der Zeit und diesen da&nbsp;...«</p>
-
-<p>Damit deutete er auf die beiden älteren Damen,
-welche Hand in Hand nebeneinander standen und mit seligen
-Blicken an der reizenden Befangenheit des holden jungen
-Mädchens sich weideten.</p>
-
-<p>Jedenfalls mußte die Antwort auf jene inhaltsschwere
-Frage wohl zur allseitigen Zufriedenheit ausgefallen sein,
-denn bald darauf saßen vier glückliche Menschen in dem
-kleinen, gemütlichen Salon, wo Erinnerungen ausgetauscht
-und neue Zukunftspläne geschmiedet wurden. Als Anthony
-Clark, über das Geländer der Veranda gebeugt, indessen die
-Stiefmutter lächelnd vorausgegangen war, noch ein letztes
-Lebewohl, einen warmen Kuß austauschte mit seiner schönen
-Braut, war es bereits dunkle Nacht geworden.</p>
-
-<hr />
-
-<p>Selbstverständlich brachte nun die nächste Zeit den
-guten Leuten von Dolly Ward wieder viel Stoff zum Reden.
-Mr. O'Reilly jedoch ging womöglich noch etwas einsilbiger
-als sonst umher. So lange schon hatte er sich, nach
-einem schweren Kampf mit seiner ursprünglichen Absicht
-einer Geldheirat, bereit gemacht, der schönen Tochter seiner
-Nachbarin von Nr.&nbsp;9 einen ernsten Antrag zu machen,
-aber es hatte ihm stets an dem nötigen Mut gefehlt, und
-nun mußte ihn das glückstrahlende Gesicht des jungen
-Mädchens, als es wenige Tage später an Anthony Clarks
-Arme an der Behausung des Advokaten vorüberging, hinlänglich
-darüber aufklären, daß seine erträumten Aussichten
-auf Erfüllung seiner stillen Herzenswünsche nur sehr kümmerlich
-beschaffen gewesen seien, und das schien ihm ziemlich nahe
-<a class="pagenum" id="page_033" title="33"> </a>
-zu gehen, denn bei einem gelegentlichen Besuche in der
-Nr.&nbsp;9 ließ der junge Irländer die Bemerkung fallen, daß
-er demnächst »aus Geschäftsrücksichten« nach Brooklyn übersiedeln
-werde.</p>
-
-<p>Noch vor seiner Vermählung mit Grace hat Anthony
-Clark ganz heimlich das Häuschen Nr.&nbsp;9 auf Dolly Ward
-käuflich erworben, um es seiner holden Braut als Morgengabe
-zu schenken. Mrs. Northland ist fortan die Gebieterin
-desselben, und für die schwergeprüfte Frau ist es stets
-ein Festtag, wenn das glückliche junge Paar dem Geräusch
-und Getriebe der Riesenstadt einmal entflieht, um ein paar
-ruhige, selige Stunden zu verleben in der poetischen Einsamkeit
-von Dolly Ward.</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_035" title="35"> </a>
-<span class="ge">Fächer-Bilder.</span></h2>
-
-
-<p class="da"><a class="pagenum" id="page_037" title="37"> </a>
-Berlin, 14. Januar 18<span class="ge">..</span></p>
-
-<p class ="ml5">»<i>Caro amico!</i></p>
-
-<p><b>W</b>arum ich so lange nicht geschrieben, willst Du
-wissen? Nun, das ist eigentlich keine so leichte Sache,
-Dir zu erklären. Fürs erste begnüge Dich damit, daß
-ich mich langweile &ndash; zum Sterben langweile und Dein
-heiteres Künstlergemüt &ndash; Dich, Du Glücklicher, der Du
-unter Italiens Sonne der abgeschmackten Wintergenüsse
-unserer Reichshauptstadt kaum mehr gedenkst, nicht mit
-Stoßseufzern und Lamentationen inkommodieren wollte, die
-Dir doch vielleicht nur ein mitleidiges Lächeln entlockt
-haben würden!</p>
-
-<p>»Aber Mensch, bist Du verrückt geworden!« höre ich
-in Gedanken Deine Stimme rufen: »Bist verheiratet seit
-sechs Monaten, hast eine charmante Frau, ein Heim, eine
-Stellung unter den Künstlern, um die Dich die Götter
-beneiden könnten, und sprichst von Langweile?!« Zugegeben
-&ndash; alles zugegeben, alter Freund! Aber ich kann
-Dir einmal nicht helfen. Gerade das Geregelte meines
-jetzigen Daseins widert mich an. Es erscheint mir zu
-philisterhaft, zu sittsam, zu hausbacken, keine Spur von
-<a class="pagenum" id="page_038" title="38"> </a>
-Abwechslung &ndash; von prickelnden Reizen liegt darin. Wo
-bist Du hin, Du goldige Junggesellenzeit! Nimm den
-freien Waldvogel, stecke ihn unbarmherzig in einen Paradekäfig
-und schau zu, was er für eine Miene macht!
-So ungefähr kannst Du Dir denken, wie mir, den Du
-früher zur Genüge gekannt, nun zu Mute ist. O heiliger
-Brahma! Es war eine große Dummheit, mir jetzt schon
-die Flügel zu stutzen und mich ins Joch zu spannen. Die
-Galle läuft mir zuweilen über, wenn ich an die verschiedenen
-Tanten, Onkels &ndash; und Schwiegermütter denke, welche
-mir diese Heirat so plausibel dargestellt und es fertig gebracht
-haben, aus einem von Übermut und Lebensgenuß
-beseelten Taugenichts einen soliden Ehemann zu machen!
-&ndash; Solide?? Das doppelte Fragezeichen steht nicht ohne
-Bedeutung da. Arme kleine Frau! Ich glaube, sie hat
-von uns beiden wohl doch noch die schlechtere Nummer
-gezogen, obgleich ich bisweilen moralischen Katzenjammer
-bekomme und in bitterer Reue diesem noch so kindlichen
-Geschöpfe, was sich mein Weib nennt, alle begangenen
-Sünden abbitten möchte. Wer aber verlangt auch, daß ein
-Maler, ein Künstler von Ruf, wie ich ohne Überhebung
-es mir zu sein schmeichle, der überdies in Berlin lebt,
-Grundsätze und Selbstverleugnung des heiligen Antonius
-besitzen soll! Wer das verlangt, der ist ein Narr! Ich
-habe Agnes geheiratet, erstens: weil meine und ihre Familie
-es wünschten; zweitens: weil sie ein leidlich hübsches,
-sanftes Geschöpf ist, die sogar einer Ameise aus dem Wege
-geht, um sie nicht zu zertreten, wie viel weniger dem
-eigenen Gatten unfreundlich begegnen oder ihm gar widersprechen
-würde. Darum habe ich sie zu meiner Gemahlin
-gemacht, nicht aber, weil&nbsp;&ndash;, wie Du es zu glauben
-scheinst &ndash; sie es verstanden hätte, mein launisches Herz in
-<a class="pagenum" id="page_039" title="39"> </a>
-Fesseln zu schlagen, noch weil sie überhaupt qualifiziert
-wäre, einen Mann &ndash; noch dazu einen verwöhnten Mann
-&ndash; zu begeistern und hinzureißen. In unserer Art führen
-wir ja auch eine ganz glückliche Ehe. Sie ist eine wohlhabende
-Frau, ich derjenige, der um sein Brot schaffen
-muß. Daher habe ich es mir selbstverständlich auch zur
-Pflicht gemacht, jeden ihrer Wünsche zu erfüllen und ihr
-stets aufs Rücksichtsvollste zu begegnen. Nebenbei glaube
-ich wirklich, daß sie einiges Vertrauen zu mir hat und mir
-aufrichtig zugethan ist. Dankbar zeigt sie sich wenigstens
-für jedes freundliche Wort aus meinem Munde, wenn auch
-mein übriges Thun und Lassen &ndash; außer unsern vier
-Pfählen &ndash; sie wenig oder gar nicht zu interessieren scheint.
-Von Eifersucht habe ich vorläufig noch nicht das Mindeste
-bemerkt. Manchmal sogar könnte mich der sonst sehr anerkennenswerte
-Mangel dieser Untugend an meiner jungen
-Frau beinahe ungeduldig machen. Wir führen somit ein
-ganz modernes, großstädtisch angehauchtes Eheleben.</p>
-
-<p>Agnes lebt ziemlich häuslich, verkehrt nur im kleinen
-Verwandten- und Bekanntenkreise. Ich hingegen tummle
-mich in der großen Welt umher, wozu ein Künstler von
-Beruf verpflichtet ist, wenn er seinen Geist anfeuern will.
-Trotzdem aber entgehe ich bei solchem Dasein der Langweile
-nicht. Das ewige Haschen nach pikanten Abenteuern
-und reizvoller Abwechslung wird schließlich fade; oft fehlt
-dabei der wahre Humor, oft aber auch jedwede Poesie!
-Pah! So ist einmal der Mensch. Er erwartet immer, daß
-Fortuna ihm einmal etwas ganz Apartes in den Schoß
-werfen soll! Das einzige, was mich wahrhaft befriedigt,
-ist und bleibt immer die Kunst. Diese edle Dame ist es
-auch, die mich zuweilen recht energisch bei den Ohren zieht
-mit der Mahnung: »Nun ist's genug, Freund Gilbert, mit
-<a class="pagenum" id="page_040" title="40"> </a>
-dem Vergnügen! An die Arbeit mit Dir!« Und dieser
-Mahnung habe ich mich bisher noch immer willig gefügt.
-Halte mir aber in Deinem Antwortschreiben um Himmelswillen
-nicht etwa eine Moralpredigt, <i>amico Carolo</i>, um
-mich mit diplomatischen Redensarten auf den schmalen
-Pfad der Tugend hinüberzulocken! An mir ist nun einmal
-Hopfen und Malz verloren, und muß ich fürs Leben
-verbraucht werden, wie ich eben bin. Wenn Dir übrigens
-etwas daran liegt, so will ich Dir von Zeit zu Zeit eine
-gedrängte Übersicht meiner hiesigen Lebensweise, oder richtiger
-gesagt: ein Sündenregister zukommen lassen. Vor
-Dir kennt mein Herz keine Geheimnisse. Und nun Addio
-bis zum nächsten Male.</p>
-
-<p class="si">Gilbert.«</p>
-
-<hr />
-
-<p class="da">Berlin, 8. Februar 18<span class="ge">..</span></p>
-
-<p class="ml5">»Teurer Freund!</p>
-
-<p>Es ist zum Totlachen! Ich habe ein reizendes Abenteuer
-erlebt, welches ganz nach meinem Geschmack ist und
-die mich befallene schlappe Gemütsstimmung total aufgefrischt
-hat. Übrigens danke ich Dir für Deinen Brief
-und die freundlichen Grüße an Agnes, der Du allem Anscheine
-nach ein liebenswürdiges Interesse zu teil werden
-läßt. Das gute Kind hatte vor einigen Tagen zum erstenmale
-eine Anwandlung von Eifersucht. Wie komisch! Doch
-davon später.</p>
-
-<p>Also: unser Künstlerbund gab vorige Woche einen
-brillanten Maskenball, den ich selbstverständlich besucht
-habe, während meine Frau dergleichen rauschende Vergnügungen
-grundsätzlich meidet. Natürlich bin ich weit
-<a class="pagenum" id="page_041" title="41"> </a>
-davon entfernt, sie in ihren etwas streng puritanischen
-Ideen beeinflussen zu wollen. Ich hingegen warf mich mit
-blasierter Gleichgültigkeit in den wildesten Strudel dieses
-Zauberfestes. Ein schlichter Domino aus moosgrüner
-Seide, der noch aus meiner Junggesellenzeit stammt und
-mir vor Jahren zur Karnevalszeit in Rom gute Dienste
-geleistet, wurde wieder hervorgesucht und für tauglich befunden.
-Vom Scheitel bis zur Zehe verhüllte er meine
-Gestalt, so daß ich darauf hätte Gift nehmen wollen, unerkannt
-zu bleiben. Allein es kam anders. Denn bereits
-vom Beginn des Balles an intriguierten mich zwei Damen
-ganz impertinent, indem sie mich auf Schritt und Tritt
-verfolgten.</p>
-
-<p>Die eine, ebenfalls im Domino, schien der Figur und
-Haltung nach schon etwas bei Jahren zu sein, wogegen die
-andere, im entzückendsten Susannenkostüm, Formen und
-Bewegungen auswies, wie ich solche an einer Sterblichen
-überhaupt noch nicht gesehen. Im Nu war meine blasierte
-Stimmung verschwunden; ich fühlte einen Feuerstrom durch
-meine Glieder ziehen. Große Samtmasken mit lang
-herabfallenden Spitzenbärten machten jedes neugierige Erspähen
-der Gesichtszüge rein unmöglich.</p>
-
-<p>Wer war dieses Götterweib? Sicherlich wohl eine
-Fremde. Denn solcher Anmut und vornehmer Grazie war
-ich in Berlin noch nicht begegnet. Aufs höchste interessiert
-und sympathisch angezogen, daß die Aufmerksamkeit dieser
-distinguierten Erscheinung sich gerade auf meine unbedeutende
-Person gelenkt, mache ich unserer bisherigen stummen
-Wanderung durch die Säle ein Ende mit den an die
-Jüngere gerichteten bedeutungsvollen Worten:</p>
-
-<p>»Was veranlaßt wohl nur das Licht, der armseligen
-›Motte‹ zu folgen?«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_042" title="42"> </a>
-Sie zuckte zum Zeichen, daß sie mich nicht verstanden,
-die wohlgerundeten Schultern. Ich wiederholte dieselbe
-Frage auf Französisch. Da lachte sie hell auf. Es war
-ein köstliches melodisches Lachen; dann klang eine glockentiefe
-Altstimme an mein in Verzückung lauschendes Ohr:</p>
-
-<p>»Monsieur Gilbert besitzt viele Freunde, ohne daß er
-davon eine Ahnung zu haben scheint.«</p>
-
-<p>Beinahe erschreckt stutze ich. Also faktisch erkannt!</p>
-
-<p>»Ist er doch nicht umsonst zwei Karnevalsaisons in
-Rom gewesen. Jener grüne Domino hier&nbsp;&ndash;« (ihre mit
-schwarzen Halbhandschuhen bekleidete Rechte strich sanft
-über meinen Ärmel hinweg) &ndash; »machte den Verräter.«</p>
-
-<p>Etwas verblüfft starre ich durch die Augenschlitze der
-Maske nach der Sprecherin hin.</p>
-
-<p>»Eine Freundin, Madame? So sind wir alte Bekannte?«
-sagte ich ziemlich indiskret.</p>
-
-<p>»Das weiß ich nicht, Monsieur! Wer zählt die
-Völker, kennt die Namen! Künstler Gilbertos Herz ist
-weit, aber sein Gedächtnis scheint kurz. Armer Gilberto!«
-fuhr sie, bedauernd den Kopf wiegend, fort: »Jetzt ist er
-ein Philister geworden; er mußte es <i>nolens volens</i> werden,
-&ndash; hat eine reiche, unelegante, häßliche Frau heiraten
-müssen, die nebenbei noch grimmig eifersüchtig sein mag.
-Seine Freunde bedauern und bemitleiden ihn aber aus
-tiefstem Herzensgrunde und hoffen wenigstens, daß die
-geniale Künstlernatur unter solchem Mißgeschick nicht zu
-Grunde gehen wird!«</p>
-
-<p>»Eine häßliche Frau!« Das verschnupfte mich, und
-ein wenig ärgerte ich mich über solchen meinem sonst stets
-als kompetent geltenden Geschmack gemachten Vorwurf,
-insbesondere, weil er ganz ungerecht war. Allein der Moment
-schien nicht geeignet darüber zu streiten, und deshalb
-<a class="pagenum" id="page_043" title="43"> </a>
-nahm ich es ruhig hin; ja ich war sogar entzückt davon,
-daß die reizende Susanne nun <i>sans gêne</i> ihren Arm
-unter den meinen schob und dicht neben mir weiter schritt.
-Der weibliche Domino folgte uns.</p>
-
-<p>Witz, Geist und Übermut sprudelten aus jedem Worte
-meiner Begleiterin. Ich schwelgte in einem Meer von
-Wonne. Hier war doch einmal wieder richtiges Amüsement,
-nach welchem ich mich förmlich gesehnt hatte. Berlin,
-meine Ehemannspflichten, ja sogar die sanfte, braunhaarige
-Agnes, &ndash; alles war vergessen; ich verträumte mich wieder
-nach Italien, in die selige Periode meiner unbeschränkten
-Freiheit!</p>
-
-<p><i>Mio amico!</i> Ich kann Dir versichern, daß es wirklich
-ein außerordentlich amüsanter Abend war. In einem
-ziemlich entlegenen Winkelchen nahmen wir ungestört Erfrischungen
-ein, nach deren Genusse diejenige, welche von
-meiner reizenden Maske mit Tante angeredet wurde, in
-einen wohligen Halbschlaf zu fallen schien. Wir ignorierten
-das selbstverständlich und unterhielten uns um so lebhafter.
-Aus verschiedenen Äußerungen der jetzt Schlummernden
-war mir klar geworden, daß die Damen Russinnen sein
-mußten, ihr Domizil in Wiesbaden hatten und bloß für
-kurze Zeit auf Besuch zu einer Malerfamilie nach Berlin
-gekommen waren, indessen die Hauptstadt schon am nächsten
-Tage zu verlassen gedachten. Halb mechanisch spielte ich
-mit dem mir angeeigneten Fächer meiner Begleiterin und
-that dabei die vielleicht etwas dreiste Äußerung, daß ich
-denselben als Pfand für ein eventuelles Wiedersehen, oder
-auch zur Erinnerung an diesen Abend als mein Eigentum
-behalten wollte.</p>
-
-<p>»O nein! Dieses unscheinbare Ding hier ist ein
-teueres Andenken an einen Freund,« entgegnete sie wieder
-<a class="pagenum" id="page_044" title="44"> </a>
-mit dem so bezaubernden Lachen. »Aber, ich will Ihnen
-einen Vorschlag machen, Monsieur Gilberto! Sie behalten
-den Fächer einstweilen und malen mir mit Künstlerhand
-ein Bildchen darauf, dann wird er mir erst doppelt
-wert sein.«</p>
-
-<p>»Gern. Doch wie soll ich Ihnen denselben wieder zustellen,
-<i>bella</i> Susanna?« fragte ich gespannt, indem ich
-ihre reizende, brillantenfunkelnde Hand einen Moment fest
-zwischen die meine nahm.</p>
-
-<p>»<i>Eh bien!</i> Sie schicken ihn mir <i>par poste</i>, oder was
-noch besser wäre, Sie bringen ihn selbst, Gilberto! Meine
-Adresse ist: Madame de Baranow, Wiesbaden&nbsp;... Straße.
-Im Mai komme ich übrigens wieder nach Berlin.«</p>
-
-<p>Darauf erhob sie sich, weckte mit sanften Schütteln
-die schlummernde Tante, und bald waren die Damen im
-Maskengewühl meinen Blicken entrückt.</p>
-
-<p>Ich glaube, daß ich noch eine ziemliche Weile, in
-selige Träumereien versunken, mit dem gedachten Fächer in
-der Hand auf diesem Platze gesessen habe. Obgleich kein
-Kunstwerk, was die schöne Unbekannte mir zurückgelassen,
-entströmte demselben doch ein eigentümlich süßes Parfüm.
-Von goldverziertem Schildpatt war der zierliche Griff,
-alles übrige von feiner schwarzer Seidengaze. Und doch
-fühlte ich mich in dem Besitze gleich einem Krösus, so daß
-auch in meinem erregten Geiste allerlei mögliche Ideen
-auftauchten &ndash; liebliche Phantasiegebilde, denen ich auf
-dem duftigen Gewebe mit dem Pinsel Ausdruck, ja Form
-und Gestalt verleihen wollte. Sicherlich sollte Dir, <i>bella</i>
-Susanna, der Beweis geliefert werden, daß Gilbertos
-leidenschaftliches Temperament, sein zündender Geistesfunke
-noch nicht untergegangen im hausbackenen Eheleben.</p>
-
-<p>Das Fest hatte jetzt keinen Reiz mehr für mich. Ich
-<a class="pagenum" id="page_045" title="45"> </a>
-ließ mir von dem ersten besten dienstbaren Geiste ein Stück
-Papier bringen, wickelte den mir so kostbaren Fächer sorgfältig
-ein und schob das kleine Päckchen in die Tasche.
-Nach zwanzig Minuten stieg ich die Treppe zu meiner
-Wohnung hinan.</p>
-
-<p>Schon von der Straße aus hatte ich wahrgenommen,
-daß in dem an mein Atelier stoßenden Wohnzimmer, wiewohl
-die Mitternachtsstunde längst geschlagen, noch eine
-Lampe brannte. War denn Agnes noch wach? Wollte die
-kleine Frau mich, an dessen späte Rückkehr sie doch hinlänglich
-gewöhnt sein mußte, heute auf einmal erwarten?
-Das dünkte mir höchst wunderbar. Der Entreedrücker befand
-sich in meiner Tasche, weshalb ich, ohne zu klingeln
-und von den Dienstleuten unbemerkt, mein Heim zu betreten
-vermochte. Ein wenig neugierig öffnete ich die
-Stubenthür; doch machte der sich mir darbietende Anblick
-unwillkürlich lächeln. Dort &ndash; an dem mit umfangreichen
-Weißnähereien bedeckten Tische, über welchen die Hängelampe
-ihr mildes Licht ausstrahlte, lag, auf die gekreuzten
-Arme herabgesunken, das Haupt meines jungen Weibes,
-während die Brust der sanft Schlummernden unter regelmäßigen
-Atemzügen sich hob und senkte.</p>
-
-<p>»Die häßliche Frau!« So schoß es mir plötzlich durch
-den Sinn. Leise trat ich näher, um mich mit Kritikerblicken
-einmal zu überzeugen, in wie weit jener Ausspruch
-gerechtfertigt schien. Freilich wies dieses zierliche Köpfchen
-dort keine regelrechten Schönheitslinien auf. Dafür aber
-lag der Schmelz holder Frauenhaftigkeit, die Taufrische
-eines weiß-rosigen Teints über dem beinahe noch kindlich
-runden Gesichte. Häßlich? Nein, das war entschieden ganz
-ungerecht. Der Chic der großen Welt, und das so gewisse,
-auch weniger schöne Frauen anziehend machende Etwas
-<a class="pagenum" id="page_046" title="46"> </a>
-fehlte hier natürlich durchaus. Allein mein Malerauge
-fand heute zum erstenmale, daß das, was ich an Modellen
-so oft vergeblich gesucht und wofür ich, um es auf
-die Leinwand zu bannen, eine wahre Leidenschaft hegte,
-nämlich: einen rötlich goldigen Glanz im hellbraunen Haar,
-was die Engländer so bezeichnend <i>auburn</i> nennen, &ndash; daß
-gerade diese große Seltenheit mein eigenes Weib besaß. In
-einem langen Prachtzopfe hing dieses jetzt vom Lampenlicht
-beleuchtete, wunderbar schimmernde Haar der schlanken
-Gestalt über den Nacken herab. Merkwürdig, nicht wahr,
-<i>mio amico</i>? Und noch merkwürdiger, daß ich das vorher
-gar niemals beachtete.</p>
-
-<p>Nachdem ich Cylinder, Handschuhe und das kleine
-Paket mit dem Fächer auf den Tisch gelegt, war ich eben
-im Begriff, mich auch des Paletots zu entledigen, da erwachte
-Agnes.</p>
-
-<p>Halb verstört schaute sie mich an. Doch nur mit verlegenem
-Gruße raffte sie eilig die Arbeit zusammen und
-barg dieselbe auf dem Schoße.</p>
-
-<p>»Aber, Kind! Was fällt Dir ein, so lange wach zu
-bleiben! Das ist thöricht!« sagte ich mehr unwillig, als
-freundlich, indem ich es nicht einmal der Mühe wert hielt,
-ein lautes Gähnen zu unterdrücken. »Meinetwegen brauchst
-Du das nicht mehr zu thun!«</p>
-
-<p>Nur ein ängstlich scheuer Blick aus ihren stahlblauen
-Augen streifte mich. Was sie dabei wohl gedacht, vermochte
-ich nicht zu ergründen. Vielleicht hatte sie gerade
-um meinetwillen den Schlaf der halben Nacht geopfert,
-vielleicht auch auf ein herzlich dankbares Wort aus meinem
-Munde gerechnet. Arme kleine Frau! Sie packte, wie das
-so ihre Gewohnheit war, meine nachlässig hingeworfenen
-Sachen sorgsam zusammen. Dabei aber entschlüpfte der
-<a class="pagenum" id="page_047" title="47"> </a>
-Fächer seiner papiernen Hülle und fiel zurück auf den Tisch.
-Sie stutzte, da sie das verräterische Rot sofort bemerkte,
-was meine Stirn bezog.</p>
-
-<p>»Hast Du Dich neuerdings auf Fächermalen verlegt,
-Gilbert?« kam es eigentümlich spöttisch von den rosigen
-Lippen. Der Ton reizte mich.</p>
-
-<p>»Ja wohl, wenn Du nichts dagegen hast, kleine
-Moralistin! Ich werde diesen schlichten, schwarzen Fächer
-zu einem wahren Kunstwerk umgestalten, weil die Besitzerin
-ein&nbsp;...« (ich stockte, denn der Ausdruck des mir zugewandten
-Gesichtes glich dem eines entsetzten Kindes) &ndash;
-»weil eine Dame mich freundlich darum gebeten hat, dieses
-unscheinbare Ding zu verschönern,« fügte ich gleichgültig
-hinzu.</p>
-
-<p>»So? Nun, mir hast Du noch niemals einen Fächer
-gemalt, Gilbert!« sagte sie halb schmollend, während sie
-den verfänglichen Gegenstand zur Hand nahm und denselben,
-das ihm entströmende Parfüm einsaugend, an ihr
-Stumpfnäschen hielt.</p>
-
-<p>»Dir?« fragte ich höchlichst verwundert. »Trägst Du
-denn überhaupt einen Fächer? Ich dachte, solch' Spielzeug
-für große Kinder erscheine Dir viel zu frivol?«</p>
-
-<p>Zu meiner noch größeren Verwunderung sah ich, wie
-das zierliche Köpfchen mit einem energischen Ruck ganz
-plötzlich in den Nacken fuhr, worauf es mit eigentümlich
-bebender, allein halb trotziger Stimme an mein Ohr schlug:</p>
-
-<p>»O, natürlich ahne und verstehe ich nichts vom Fächerspiele
-all' jener Frauen, deren Lebenszweck nur eitles
-Haschen nach Vergnügen ist und für welche das heilige
-Wort Pflichten überhaupt keine Bedeutung hat. Einen
-Fächer zum Gebrauche in Deinem Sinne brauche ich gottlob
-nicht! Gute Nacht, Gilbert!«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_048" title="48"> </a>
-Damit ließ sie mich allein.</p>
-
-<p>Dergleichen Heftigkeit war mir neu an meiner Gattin.
-Gut, dachte ich, fangen wir doch zur Abwechslung einmal
-an, uns gegenseitig auf den Kriegsfuß zu stellen! Das
-würde jedenfalls mehr Anregung bieten im häuslichen
-Einerlei, als diese lauwarme Spülwasser-Stimmung. Oho!
-Ich war sicher nicht der Mann, um mich über die kindischen
-Launen der einfältigen kleinen Frau zu grämen. War doch
-mein Geist ohnehin so vollständig gefangen genommen durch
-das reizvolle Abenteuer des Maskenballes, daß alles andere
-gänzlich in den Hintergrund trat.</p>
-
-<p>Für heute aber mag's genug sein, <i>mio Carolo</i>! Das
-Fächerbild ist bereits begonnen worden und scheint mir
-vortrefflich zu gelingen. <i>Vive l'amour!</i></p>
-
-<p class="si">Dein Gilbert!«</p>
-
-<hr />
-
-<p class="da"> Berlin, den 26. März 18<span class="ge">..</span></p>
-
-<p class="ml5">»Lieber Karl!</p>
-
-<p>Ich bin allein in meiner stillen Bude. Agnes sah in
-letzter Zeit miserabel aus und ist recht erholungsbedürftig,
-so daß ihre besorgte Mama, meine verehrte Frau Schwiegermutter,
-für einige Wochen das Töchterlein zu sich genommen
-hat, um ihr alle erdenkliche Pflege und Schonung
-angedeihen zu lassen, deren sie im eigenen Heim entbehrt.
-Liegt doch das Haus ihres Vaters im schönsten, gesundesten
-Teile Berlins, wo die herrliche laue Frühlingsluft, die
-dort vom Tiergarten herüberweht, die Wangen des
-blassen Kindes hoffentlich bald wieder runden und rosig
-färben wird.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_049" title="49"> </a>
-Über die letzte Zeit habe ich wenig Interessantes,
-noch Erfreuliches zu berichten. Ich meine, daß ich seit
-Wochen schauerlich schlechter Laune und höchst ungemütlich
-gewesen bin. Manchmal befielen mich wahrhafte Wutparoxismen,
-so daß ich am liebsten jede lästige Fessel gesprengt
-hätte und hingeeilt wäre zu derjenigen, die unausgesetzt
-all' mein Denken gefangen hielt &ndash; hin zu
-Madame de Baranow nach Wiesbaden. Dann aber versank
-ich auch wieder in eine stumpfsinnige Apathie, welche
-mir das Dasein fast ekelhaft fade erscheinen ließ. Glücklicherweise
-ist der bedeutungsvolle Fächer noch vor dieser
-Trübsinnsperiode vollendet worden und befindet sich jetzt
-schon in den Händen von <i>bella</i> Susanna. Was ich darauf
-gezaubert?</p>
-
-<p>Ich glaube wirklich, der Genius der Malerei hat mir
-dabei die Hand geführt und Amor die Palette gehalten.
-Seit jenem Abende fragte Agnes allerdings nicht mehr
-nach dem Fächer; doch weil ich so unvorsichtig gewesen,
-ihn einmal unverschlossen liegen zu lassen, hatten ihre
-Kinderaugen ihn dennoch erblickt.</p>
-
-<p>Mehreremale in jeder Woche besuche ich das Haus
-der Schwiegereltern, um mich pflichtschuldigst nach dem
-Befinden meiner Gemahlin zu erkundigen, welche wieder
-sanft und freundlich zu mir ist, aber auffallend traurig.
-Der Herr Papa dagegen betrachtet mich öfters mit seltsam
-herausfordernden Blicken, während die Frau Mama mir
-stets so offen ihre Ungnade zeigt, daß sie mit mir überhaupt
-nicht mehr spricht. <i>Amico Carolo!</i> Es will mich
-bedünken, es steigen düstere Wolken über meinem unseligen
-Haupte auf. Zuweilen sogar regen sich im Busen leise
-Anwandlungen von Reue, und ich sage mir dann ganz
-ehrlich, daß ich doch ein recht ungemütliches, trübseliges
-<a class="pagenum" id="page_050" title="50"> </a>
-Leben führe, welches anders &ndash; besser sein könnte, wenn
-ich &ndash; ja, was denn eigentlich? Ich glaube, der Fächer
-hat mich verhext &ndash; ich bin ein Narr! Adieu!</p>
-
-<p class="si">Gilbert.«</p>
-
-<hr />
-
-<p class="da">Berlin, 3. Mai 188<span class="ge">.</span></p>
-
-<p class="ml5">»Bester Freund!</p>
-
-<p>Hast Du zufällig jemals die Physiognomie eines
-Menschen beobachtet, der in heiterster Stimmung und anregendster
-Unterhaltung begriffen, sich niedersetzen will, den
-aber irgend eine Schicksalstücke des vermeintlich hinter ihm
-stehenden Stuhles beraubt hat. Todesschreck, innere Wut,
-lächerliche Hilflosigkeit, ja jammervolle Stupidität &ndash; das
-alles prägt sich stets in den Zügen solch' eines Beklagenswerten
-aus.</p>
-
-<p>Mir ist gestern Abend Ähnliches passiert, das heißt:
-etwas passiert, was mich veranlaßte, den Gesichtsausdruck
-eines dummen Jungen anzunehmen. Nicht etwa, daß ich
-mit meinem ganzen physischen Körpergewicht auf die Erde
-geplumpst wäre, nein, <i>amico</i>, moralisch habe ich einen
-Purzelbaum gemacht, der wirksam genug sein könnte, selbst
-den überspanntesten Phantasten und Idealisten in die rauhe
-Wirklichkeit zurückzuführen. Ich knirsche &ndash; ich tobe in
-machtlosem Grimme, dabei aber befällt mich auch wieder
-ein wahrer Lachkrampf, wenn eine Stimme &ndash; ich glaube,
-es ist das bessere Ich in meiner Brust &ndash; mir zuraunt:
-»Reingefallen, Gilbert, gründlich reingefallen!«</p>
-
-<p>Zurückgekehrt von einem Besuche bei Agnes, wo sie
-mir beim Abschiede, als wir zufällig allein im Zimmer
-<a class="pagenum" id="page_051" title="51"> </a>
-waren, mit holdem Erröten versicherte, demnächst bald
-heimzukommen, finde ich endlich die langersehnte Antwort
-aus Wiesbaden vor. Welch' ein Dank, welch' ein Brief!
-Doch zu meiner Überraschung zeigt die Marke den Poststempel:
-Berlin. Frau v.&nbsp;Baranow teilte mir als Postskriptum
-mit, sie sei im Kaiserhofe abgestiegen und erwarte
-am nächsten Tage meinen Besuch. Wie damals auf dem
-Maskenballe fühlte ich jenes aus Entzücken und Leidenschaft
-gemischte Gefühl meine Adern durchrieseln. Bombenfest
-stand es in mir, die verführerische Frau morgen aufzusuchen.
-Allein auf welche Weise sollte ich mir die langen
-Stunden bis dahin verkürzen? Mit Eifer studierte ich den
-Vergnügungsanzeiger Berlins und verfiel schließlich auf
-das »Deutsche Theater«.</p>
-
-<p>Gesagt &ndash; gethan. Zwar war der Andrang an der
-Kasse desselben groß. Doch bald hielt ich ein glücklich erobertes
-Parkett-Billet in den Händen: Dritte Sitzreihe,
-Platz Nr.&nbsp;35. Herrlich fürwahr! Ich bin ganz befriedigt
-und befinde mich in äußerst animierter Stimmung. Da
-es übrigens noch ziemlich früh war, so mache ich noch eine
-kleine Wanderung durch die Straßen, weil ich es hasse,
-vor Beginn der Komödie meine ohnedies nicht sehr guten
-Nerven durch das entsetzliche Bänkeklappen und Thürenwerfen
-in unnötigen Aufruhr versetzen zu lassen. Als ich
-das Theater betrat, war der Vorhang bereits aufgezogen
-und das Stück hatte begonnen. Meine Nr.&nbsp;35 war glücklicherweise
-ein Eckplatz.</p>
-
-<p>Nachdem ich in größter Gemütsruhe das Opernglas
-blank geputzt, schaue ich nach der Bühne. Da schlagen die
-Laute einer mich wie mit elektrischem Schlage berührenden
-Stimme aus nächster Nähe an mein Ohr. Herr des
-Himmels! Das konnte niemand anders &ndash; das mußte
-<a class="pagenum" id="page_052" title="52"> </a>
-Susanna &ndash; Madame de Baranow sein, die hier in dem
-so reinen, so fließend und melodisch klingenden Französisch
-eben gesprochen! Gleich einem Achtzehnjährigen &ndash; beinahe
-zum Zerspringen klopfte nun mein Herz, und ich lausche
-atemlos. Wo &ndash; wo war &ndash; wo saß das entzückende
-Geschöpf, das allein schon durch Organ und Grazie mich
-bestrickte? Sollte es mir jetzt &ndash; von diesem still verborgenen
-Platze aus &ndash; vergönnt sein, das im Traume schon tausendmal
-mir vor die Sinne gezauberte, holde Angesicht zu
-schauen? Welche Seligkeit, die schöne Frau, ohne daß sie
-meine Gegenwart ahnte, beobachten zu können! Soviel ich
-indes mein Gehör auch anstrenge, diese wohllautende
-Stimme ließ sich nicht mehr vernehmen.</p>
-
-<p>Prüfend, aber möglichst vorsichtig, überschaute ich die
-nächste Umgebung, die größtenteils aus Herren und einigen
-schlichten Matronen bestand. Nur links von mir &ndash; in der
-ersten Reihe, sah ich die wohlfrisierten Köpfe zweier eleganten
-Damen auftauchen. Sollte das&nbsp;...? Meine Brust
-wogte so heftig auf und nieder, daß ich, um mich nicht
-bemerklich zu machen, oder aufzufallen, den Atem dämpfen
-mußte. O Gott! Sollte sie es wirklich sein? Schien das
-nicht das nämliche goldige Lockengeringel im Nacken zu sein,
-wie es mir viele Stunden lang auf jenem Maskenballe
-vor Augen geschwebt? Damals freilich wurde das herrliche
-Blond des Vorderhaares von der scheußlichen Maske neidisch
-verhüllt. Ja gewiß! Diese und keine andere mußte <i>bella</i>
-Susanna sein!</p>
-
-<p>Allein so viel ich mich auch drehte und wendete, von
-ihren Augen vermochte ich nichts zu erspähen; immer
-blieben nur die nach aufwärts gekämmten blonden Haarsträhne
-des Hinterhauptes sichtbar. &ndash; Da &ndash; noch während
-ich dies niederschreibe &ndash; lähmt ein krampfartiges Gefühl
-<a class="pagenum" id="page_053" title="53"> </a>
-die Muskeln meiner Rechten &ndash; da taucht plötzlich in der
-Hand der blonden Dame ein Fächer &ndash; ein ausgebreiteter
-Fächer auf. Mein Herzschlag stockt; denn mit glühenden
-Blicken erspähe ich darauf &ndash; das eigenhändig gemalte
-Bild! Sie ist's! So juble ich vor stummem Entzücken
-und verkrieche mich förmlich hinter den breiten Rücken
-eines behäbigen Berliner Rentiers, um recht ungestört nach
-der Angebeteten hinüberschauen zu können. Einmal &ndash;
-hoffte ich &ndash; würde sie doch wohl den Kopf nach mir
-herumwenden. Ein unglücklicher oder vielmehr glücklicher
-Zufall kam mir zur Hilfe. Noch war der erste Akt nicht
-zu Ende gespielt, da ließ eine Dame in der zweiten Sitzreihe
-ihr Opernglas mit ziemlichem Geräusch zur Erde
-fallen. Natürlich wendeten sich sofort eine Anzahl höchst
-indignierter Gesichter nach der Ruhestörerin um, <i>la bella</i>
-Susanna ebenfalls. Allmächtiger Gott! Sind denn meine
-Augen getrübt, &ndash; bin ich verrückt oder treibt der Satan
-sein Spiel mit mir? Keuchend stößt mein Atem aus der
-Brust, so daß der gemütliche Rentier neben mir wohl gedacht
-haben mochte, ein Mensch im letzten Stadium der
-Lungenschwindsucht befinde sich in seiner Nähe. Einerlei
-&ndash; ja, was geht mich die ganze Welt an! Wie gelähmt
-starre ich in das als engelhaft schön erträumte Antlitz von
-Madame de Baranow. Wut und Abscheu krampfen mir
-das Herz zusammen. Das also ist die vermeintliche Beauté,
-um deren Figur und Grazie selbst Juno vor Neid geborsten
-wäre? O pfui! Welch' ein tückisches Spiel, welche
-Grausamkeit der Natur! Ein pockennarbig gelbes Gesicht
-mit wulstigen Negerlippen, in welchem eine niedrige Stirn
-und kleine geschlitzte Tartarenaugen den fatalen Gesamteindruck
-noch erhöhen, zeigt sich meinen getrübten Blicken.
-Doch wie ist mir denn! Plötzlich taucht in meinem wilderregten
-<a class="pagenum" id="page_054" title="54"> </a>
-Geiste auch eine Erinnerung auf. Diese widrigen
-Züge kenne ich ja; der cynisch-frivole Ausdruck derselben
-war mir durchaus nicht fremd?</p>
-
-<p>Heiliger Brahma! Gleich einem zündenden Funken
-fiel es in das Gedächtnis Deines armen Freundes. Lieber
-Karl! Entsetze Dich nicht! Denn &ndash; die häßliche, uns
-allen von Rom her nur zu wohlbekannte Paula Uschakow
-war es, welche schon damals gerade mich mit ihrer Affenliebe
-immer verfolgt und gepeinigt hat. Und ich Narr, &ndash;
-ich Esel, &ndash; bin hier so einfältig auf den Leim gegangen!
-Meine Empörung kannte keine Grenzen; alles wurde mir
-mit einem Schlage klar. Du, mein Freund, mußt es ja
-noch wissen, daß Paula, nachdem sie vergeblich darnach
-getrachtet, durch ihr nicht unbedeutendes Talent unter den
-deutschen Künstlern sich einen Mann zu erobern, schließlich
-einen alten, sehr reichen Russen geheiratet haben soll. Und
-jetzt muß das abscheuliche Weib mir solch' einen Streich
-aufspielen! Wirklich schändlich &ndash; empörend! Ist es
-nicht wahrhaft jammervoll, daß mein reizendes, poetisches,
-alle zarten Empfindungen der Menschenbrust versinnbildlichendes
-Fächerbild in solche Hände geraten! Dabei aber
-tönen, als ob ein guter Geist sie gesprochen, Agnes' Worte
-sogleich in mein Ohr: »O, mir hast Du noch niemals
-einen Fächer gemalt, Gilbert!« Nein, ihr, diesem reinen,
-unschuldsvollen Kinde habe ich wirklich noch nie eine derartige
-Freude gemacht, habe sie ja kaum beachtet, während
-ich drei Monate meiner kostbaren Zeit nur an diese Kokette
-gedacht. Vor Wut zitternd ballte ich heimlich die Faust
-nach den Damen in der ersten Sitzreihe hin, drückte dann
-den Hut so tief wie möglich in die Stirn und verließ
-eilends das Theater. Erst auf der Straße atmete ich ein
-wenig freier auf. Da es kaum halb neun Uhr war, so
-<a class="pagenum" id="page_055" title="55"> </a>
-fand ich unter den Linden noch einige elegante Läden geöffnet.
-In dem ersten besten Galanterie-Bazar, wo ich
-hineinstürme, verlange ich einen kostbaren, aber unbemalten
-Fächer.</p>
-
-<p>»Schwarz?« fragt schüchtern die Verkäuferin mit ängstlichem
-Blicke in mein erhitztes Angesicht. Sie mochte wohl
-gedacht haben, ich sei angetrunken.</p>
-
-<p>»Nein, rot &ndash; feuerrot!« entgegnete ich diktatorisch
-und hielt schon nach zwei Momenten ein wahrhaft entzückendes
-Exemplar in den Händen. Die geforderten vierzig
-Mark erschienen mir eine Lappalie. Ich hätte fünfhundert
-Mark gezahlt, wenn sie verlangt worden wären, ohne eine
-Miene zu verziehen. Darauf warf ich mich in eine Droschke
-und ließ mich schnurstracks nach Hause fahren. Totenstill
-&ndash; öde und einsam dünkte mir in diesem Momente mein
-sonst so behagliches Heim.</p>
-
-<p>Der verwundert mich anstarrenden Dienerin befahl
-ich, im Atelier sofort einige Lampen anzuzünden, während
-ich nur ganz beiläufig fragte, ob irgend eine Nachricht
-von meiner Frau gekommen wäre. Die bejahende Erwiderung
-bewies mir, daß man im Hause eben besser orientiert
-sei, als ich, der Ehemann. Denn bald erfuhr ich aus dem
-Munde des Dienstmädchens, Agnes gedächte schon in den
-nächsten Tagen zurückzukehren.</p>
-
-<p>Deswegen mußte ich also fleißig sein, um das, was
-mir vorschwebte, rechtzeitig zu vollenden.</p>
-
-<p>Nun gute Nacht, Bruderherz! Vielleicht schreibe ich
-morgen oder übermorgen weiter. Ich spüre nämlich in
-mir das Bedürfnis, einer fühlenden Seele mich mitzuteilen.
-Gehab Dich wohl und gieb bald Nachricht</p>
-
-<p class="si mr10">Deinem</p>
-
-<p class="si">Gilbert.«</p>
-
-<hr />
-
-<p class="da"><a class="pagenum" id="page_056" title="56"> </a>
-Berlin, den 8. Mai 188<span class="ge">.</span></p>
-
-<p class="ml5">»Alter lieber Freund!</p>
-
-<p>Wie neugeboren fühle ich mich, wenigstens, wie ein
-Mensch, der eine lange Krankheit überstanden und nun mit
-hoffnungsseligen Empfindungen in der Brust jetzt ein sonniges
-Dasein vor sich sieht. &ndash; Übrigens &ndash; Du bist ein
-Diplomat, Freundchen! Vielleicht haben auch Deine Briefe,
-der warme, herzliche, durchaus nicht mentorhafte Ton, der
-daraus spricht, sowie Dein stets vermehrtes Interesse für
-Agnes ein wenig zu meiner Heilung beigetragen.</p>
-
-<p>Aber ich will dem Gange meines »kleinen Romans«
-nicht vorgreifen, sondern da weiter erzählen, wo ich im
-letzten Briefe stehen geblieben bin.</p>
-
-<p>So höre denn! Nachdem ich schon an dem nämlichen,
-für mich so verhängnisvollen Abende eine Skizze entworfen,
-warf ich mich mit wahrem Feuereifer auf das Malen des
-roten Fächers, indem ich täglich einige Stunden darüber
-festsaß. Kein Kunstwerk &ndash; kein Bravourstück sollte diese
-Arbeit werden, &ndash; Gott behüte! Ich malte ja für Agnes,
-für mein junges, sanftes Weib. Etwas aber wollte ich
-darauf zaubern, was die Augen des holden Wesens in
-seliger Freude strahlen machen, &ndash; ein Etwas, was ihr
-sagen sollte, daß ihr Gatte&nbsp;.... Doch halt! Die Feder
-geht schon wieder im Galopp davon!</p>
-
-<p>Endlich &ndash; endlich ist das Bildchen vollendet, und
-meine Mühe zeigt sich vom schönsten Erfolge gekrönt. Da
-die Farben noch eine Weile trocknen mußten, spannte ich
-den Fächer ausgebreitet auf ein Stück Karton, und trug
-ihn, im Gefühl seliger Befriedigung hinüber ins Zimmer
-meiner Frau. Dort plazierte ich ihn auf Agnes Schreibtische
-hinter einem wahren Walde von Maiglöckchen, ihren
-Lieblingsblumen.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_057" title="57"> </a>
-Es war der nämliche Nachmittag, an dem meine Frau
-eintreffen sollte. Nachdem ich in mein Atelier zurückgekehrt,
-versuchte ich alle rebellischen, mir selbst ganz neu und
-fremdartig erscheinenden Gedanken durch anstrengende Arbeit
-zu ersticken, rührte mich auch nicht von der Stelle,
-als ich eine Droschke am Hause vorfahren hörte. Direkte
-Mitteilung, daß Agnes heimkommen würde, war mir, dem
-Hausherrn, ja gar nicht gemacht worden, und hatte ich
-es nur <i>en passant</i> erfahren. Darum sah ich keine Veranlassung,
-der Zurückkehrenden entgegenzueilen. Zwar drang
-öfteres Thürenzuwerfen und Stimmengemurmel dumpf zu
-mir herüber, doch blieb es für die nächste halbe Stunde
-in meiner Klause ganz still. Ich male &ndash; male eifrig
-weiter, obgleich ein sonderbares Flimmern in den Augen
-mich die Farben kaum unterscheiden läßt. Da &ndash; auf
-einmal macht ein schüchternes Klopfen jeden Nerv in mir
-erzittern. »Herein!« konnte ich nur mit Kraftanstrengung
-über die Lippen bringen, und als bald darauf ein goldbraunschimmerndes
-Haupt in der Thür erscheint, erkenne
-ich mit raschem Blicke, wie Agnes den Fächer hinter sich
-verborgen hält.</p>
-
-<p>»Schon da?!« rief ich mit einer Unbefangenheit, die
-mich selbst in Erstaunen setzte. Während ich, Pinsel und
-Palette beiseite geworfen, der Eintretenden entgegeneilte,
-brachte ich keine Silbe heraus und zog nur schüchtern und
-ungelenk die kleine Hand an die Lippen.</p>
-
-<p>»Ich wollte Dich überraschen, Gilbert, und nun bist
-Du mir zuvorgekommen, hast mir solch' eine reizende, süße
-Überraschung bereitet,« kam es stockend aus Agnes' merklich
-zitterndem Munde.</p>
-
-<p>»Ich? Wie so?« fragte ich mit gut gespielter Harmlosigkeit.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_058" title="58"> </a>
-»Aber, Gilbert! Nennst Du das nichts?«</p>
-
-<p>Mit diesen Worten, die von holdseligem Erröten und
-glücklichem Lächeln begleitet waren, hielt sie mir den wohlbekannten
-Fächer vor die Augen.</p>
-
-<p>»So? Also das kleine Ding da macht Dir etwas
-Spaß, Agnes?« Ich glaube, daß ich zu dieser eigentlich
-nichtssagenden Bemerkung wirklich ein recht einfältiges Gesicht
-gemacht habe.</p>
-
-<p>»Etwas Spaß?« wiederholte sie leise. »Weiß ich doch
-gar nicht, wie Du dazu kommst, mir solch' eine unendliche
-Freude zu bereiten, Gilbert? Das Bild ist &ndash; ist entzückend!«</p>
-
-<p>»Es sind Deine Züge. Wenigstens habe ich mir Mühe
-gegeben, dieselben aus &ndash; dem Gedächtnis auf den Fächer
-zu zaubern. Das &ndash; andere, was noch darauf ist, sind
-&ndash; natürlich nur Gebilde meiner Phantasie.« Ich sah
-ihr jedoch, während ich das sagte, zum erstenmale voll in
-die Augen. Allein, wie mit Purpur übergossen, hatte sie
-den Blick rasch zur Erde gesenkt.</p>
-
-<p>Teuerster Carolo! Es fehlte wahrhaftig nicht viel
-daran, so hätte ich meine Agnes, das liebliche Geschöpf,
-mit einem Jubelschrei an die Brust gezogen, um ihr frei
-vom Herzen herunter alles das zu enthüllen, was seit jenem
-heilsamen Theaterabende meine Pulse fliegen ließ. Doch
-Gott bewahre! Ich überwand mich. Nicht jetzt &ndash; nicht um
-des Fächers willen sollte die Scheidewand zwischen uns in
-nichts versinken. Stand doch gerade ein anderes Fächerbild
-gleich einem mahnenden Gespenste vor meinem Geiste &ndash;
-ein anderes Bild, was die Weihe eines so seligen Moments
-sicherlich gestört haben würde. In sanfter, liebender Fürsorge
-führte ich mein junges Weib nur hinüber in ihr
-Zimmer, küßte sie schüchtern auf die Stirn und &ndash; ging.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_059" title="59"> </a>
-Aber Du willst natürlich gern wissen, warum mein
-Geschenk Agnes so ganz besonders wertvoll dünkte, warum
-sie vor seliger Freude darüber errötet war? Gut, auch
-das sollst Du jetzt erfahren! Das Fächerbild zeigt nichts
-anderes, als eine jugendschöne Mutter, die, strahlendes Glück
-in ihren Zügen, über ihr neugeborenes Kindlein sich
-niederbeugt!</p>
-
-<p>Bist Du jetzt mit mir zufrieden, <i>amico</i>?</p>
-
-<p class="si">Dein Gilbert.«</p>
-
-<hr />
-
-<p class="ce">(24 Stunden später.)</p>
-
-<p class="ml5">»Herzensfreund!</p>
-
-<p>Was ich diesem »meinem kleinen Romane« noch hinzuzufügen
-habe, ist wenig, doch ist es das Bedeutungsvollste,
-was ich während meiner Künstlerlaufbahn jemals erlebte.</p>
-
-<p>Nur eine kurze Spanne Zeit verfloß, nachdem Agnes
-zu mir zurückkehrte; aber eine Wandlung ist seitdem vor
-sich gegangen &ndash; mit ihr &ndash; mit mir &ndash; mit und in
-unserem Heim, daß ich vor staunender Bewunderung und
-stummer Verzückung oft die Hände falte und flüstere: »O
-Gott, bin ich denn solchen Glückes auch wert?«</p>
-
-<p>Aber Du wirst ungeduldig und neugierig über das
-Mysteriöse meiner Worte oder errätst Du vielleicht jenes
-Geheimnis, das Deinen wilden, zügellosen Freund plötzlich
-zu einem völlig Anderen umgeschaffen?&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Bald nach ihrer Ankunft und unserem Wiedersehen
-im Atelier hatte Agnes, weil sie ruhebedürftig war, sich zu
-Bett gelegt. Ich aber langte nach meinem Hut und
-stürmte hinaus; hinaus in den wonnig warmen Maienabend
-zog es mich. Die erste mir entgegenkommende
-<a class="pagenum" id="page_060" title="60"> </a>
-Droschke rufe ich an und fahre in den Tiergarten. In
-Gottes freier Natur wollte ich allein sein mit meinen Gedanken
-und Empfindungen. Ich wußte &ndash; fühlte, daß
-ein veredelnder Läuterungsprozeß in mir vor sich ging,
-und diese heilsame Krisis mußte sich ganz still, fern von
-allem Menschengewühl vollziehen. Nicht mehr als der
-Gilbert, den Du, mein Freund, gekannt und welchen Du
-aus all' diesen Briefen noch zur Genüge studieren konntest,
-&ndash; nein, nein, und tausendmal nein! &ndash; nur als ein Mann
-wollte ich Agnes wieder vor die Augen treten, der das
-von ihr einst mit so scharfer Betonung gesprochene, heilige
-Wort »Pflichten« zu würdigen und im ganzen Maße zu
-erfüllen verstand. Verachtungswert erschien mir plötzlich
-mein verflossenes Leben gegen das wahre, süße Glück,
-welches ich heute, als mein junges Weib so holdselig
-schüchtern neben mir im Atelier stand, vor mir auftauchen
-gesehen. Und dennoch bin ich lange Monate wie ein
-Blinder an diesem Schatze vorübergeschritten, ohne ihn zu
-heben und mein eigen zu nennen.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Viele Stunden mochte ich wohl im Tiergarten umhergeirrt
-sein; denn längst war die Sonne zu Rüste gegangen
-und die ersten Schatten der Maiennacht zogen bereits über
-Wege und Rasenplätze. Als ich nach der Uhr sah, zeigte
-sie schon ein Viertel vor Zehn. Da durchzuckte plötzlich
-ein heftiger Schrecken meine Glieder. In meinem Freuden-
-und Glückestaumel war ich von Hause fortgestürmt, hatte
-nicht bedacht, daß Agnes meiner vielleicht bedürfen könnte.
-Sie war allein! Wenn ihr irgend etwas zugestoßen! Jähe
-Angst befiel mein Herz. O, ich war doch immer noch der
-alte Egoist, welcher zuerst nur an sich selbst dachte!</p>
-
-<p>Im Sturmschritt ging's nun nach dem Droschkenhalteplatz.
-Gott Lob! Dort steht richtig noch das schlichte
-<a class="pagenum" id="page_061" title="61"> </a>
-Gefährt, dessen ich mich zur Herfahrt bedient. Ich drücke
-dem Kutscher fünf Mark in die Hand und befehle ihm, im
-Galopp nach der angegebenen Adresse zu fahren. Zu Hause
-angelangt, renne ich, von düsteren Ahnungen gepeinigt, die
-zwei Stiegen zu meiner Wohnung hinan und trete atemlos
-in den Vorsaal. Nichts regt sich &ndash; alles mäuschenstill!
-Dem Himmel sei Dank! Meine allzubange Sorge
-war demnach unbegründet, und mit diesem Gefühl der Erleichterung
-öffne ich die Thür nach dem Wohnzimmer meiner
-Frau, an welches ihr Schlafzimmer stößt. &ndash; Da &ndash; da,
-Allmächtiger, was ist das? Welch' seltsam fremde Laute
-tönen von dort heraus an mein Ohr! Ich halte mir den
-Kopf mit beiden Händen &ndash; ich taumle. Das klägliche
-Schreien eines kleinen &ndash; meines Kindes ist's, was ich
-vernehme.</p>
-
-<p>Gleich einem Rasenden laufe ich vorwärts, &ndash; keine
-Macht der Erde hätte mich in diesem Momente zurückzuhalten
-vermocht &ndash; und befinde mich alsbald in dem matt
-erhellten Heiligtum. Hatte Agnes mein Kommen gehört
-oder hatte das teure Wesen meine Gegenwart nur geahnt?
-Zwar gedämpft, aber dennoch deutlich klingt hinter einer
-hohen spanischen Wand mir mein Name entgegen: »Gilbert!«</p>
-
-<p>Nun war es mit Fassung und Selbstbeherrschung an
-mir vorbei. Ungeachtet der Anwesenheit einer mir unbekannten
-Wärterin, ungeachtet des aus dem Hintergrunde
-plötzlich auftauchenden, strengverweisenden Gesichts meiner
-Frau Schwiegermutter &ndash; machte ich auf den Zehenspitzen
-zwei Sätze gegen den Bettschirm hin und lag, ehe ich selbst
-noch recht zur Besinnung kam, am Lager derjenigen, die
-mich zu neuem, besseren Leben zurückgeführt, den Kopf auf
-deren kleine Rechte gestützt, knieend und unter Schluchzen
-flüsternd: »Agnes, meine Agnes! Ich bin namenlos glücklich!«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_062" title="62"> </a>
-Da schob sie mit der einen freien Hand einen bisher
-an ihrer Brust liegenden, meinen unerfahrenen Blicken
-paketähnlich dünkenden Gegenstand, woraus nur ein dunkles
-Köpfchen sich bemerklich machte, sanft nach mir hin und
-schlang mit zärtlichem Drucke ihren Arm um meinen Hals.</p>
-
-<p>»Das ist mein Dank für das süße Fächerbild! Hier
-ist Dein Sohn! Freust Du Dich über dieses Geschenk,
-Gilbert?«&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Für heute aber sei es genug, mein lieber Karl! Als
-ich blind, thöricht, leichtsinnig und von bösen Leidenschaften
-verfolgt war, fand ich der Worte genug, Dir zu schreiben.
-Jetzt bin ich am Ende. Das Glück ist stumm. Sei darum
-nachsichtig mit mir! Das beste wäre übrigens, Du kämest
-bald selbst nach Berlin und beglücktest damit Deinen</p>
-
-<p class="si">stets getreuen Freund Gilbert.«</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_063" title="63"> </a>
-<span class="ge">Aus Großtantchens Hofdamenleben.</span></h2>
-
-
-<p><a class="pagenum" id="page_065" title="65"> </a>
-<b>D</b>eutlich steht die greisenhafte, schlanke Gestalt der
-Cousine des seligen Großvaters noch vor meinem Geiste.</p>
-
-<p>Damals &ndash; lange Jahre sind nun auch seitdem vergangen
-&ndash; imponierte mir Achtzehnjährigen, die ich erst
-seit wenigen Monaten mit stolzem Selbstgefühl das Prädikat
-»Frau« trug und somit in Tante Babettens Familie
-hineingeheiratet hatte, diese kleine wahrhaft originelle Dame
-von vierundneunzig Jahren gewaltig.</p>
-
-<p>Noch niemals im Leben hatte ich einem so alten
-menschlichen Wesen gegenüber gestanden, und als ich zum
-erstenmal in dem mit steifer Empirepracht möblierten
-Paradezimmer mich tief zur Erde niederbückte, um meiner
-alten Verwandten, die kerzengerade und unleugbar hoheitsvoll
-von ihrem Sitze sich erhob, in Ehrfurcht die runzelige
-Hand zu küssen, da überkam mich eine Empfindung, als
-wäre ich um acht Jahrzehnte zurückversetzt, und eine jener
-mythenhaften Ahnmütter, deren Existenz mir nur dunkel
-vorschwebte, sei plötzlich zum Leben erwacht. Wie konnte
-dieses mumienartige, zusammengeschrumpfte Gesichtchen, mit
-den kaum einem Menschen ähnlichen wimperlosen trüben
-Augen noch Spuren von Leben, Geist und Intelligenz verraten?
-Was wohl würde dieses seltsame Wesen aus einer
-<a class="pagenum" id="page_066" title="66"> </a>
-längst begrabenen Zeit mit mir, dem heiteren Kinde des
-neunzehnten Jahrhunderts, sprechen? War es denn möglich,
-daß dasselbe überhaupt noch Interesse zu finden vermochte
-an Leuten und Verhältnissen, die &ndash; nach meiner
-Idee &ndash; den Anschauungen jener Tage so weit entrückt
-lagen? Das alles dachte ich im ersten Moment meiner
-Bekanntschaft mit Tante Babette.</p>
-
-<p>Wie sehr sollte ich mich jedoch geirrt haben! Heute
-noch, nachdem der Greisin kleiner Körper längst von allen
-irdischen Mühsalen ausruht, &ndash; heute noch gehören alle
-die Stunden, welche ich in ihrer Gesellschaft verbringen
-durfte, mit zu den liebsten, heitersten Erinnerungen meines
-Lebens. Tante Babette war zwar ein Original, allein ein
-geistreiches, witziges, zuweilen etwas elegisch angehauchtes,
-zuweilen aber auch ein wenig scharf boshaftes Original.
-Von Gedächtnisschwäche und dem bei solch' hohem Alter
-vielleicht sehr natürlichen Verwechseln von Personen, Namen
-und Daten war an Großtantchen keine Spur zu bemerken.
-Staunen erregte es in mir wirklich, wie sie für alles, was
-in der eigenen Familie, unter ihren Bekannten, ja sozusagen
-in der Welt vorging, nicht bloß das lebhafteste
-Interesse bezeigte, sondern wie sie sogar in den reichen
-Schatz ihrer Erlebnisse mit einer Sicherheit und Genauigkeit
-zurückzugreifen vermochte, um dieses oder jenes interessante
-Stücklein oder lustige Episode eines langen, erfahrungsreichen
-Lebens ans Tageslicht zu fördern.</p>
-
-<p>Dreißig Jahre war Tante Babette als Hofdame bei
-einer thüringischen Herzogin gewesen, und schien es besonders
-diese Zeit zu sein, bei der ihr reger Geist am
-liebsten verweilte. Kam es mir, der in Andacht Lauschenden,
-dabei doch zuweilen vor, als rolle sich ein Stück Geschichte
-oftmals vor meinen Augen auf.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_067" title="67"> </a>
-In bunten Farben schilderte mir die alte Dame
-unter vielem anderen das amüsante Leben am zeitweiligen
-Hofe der Kaiserin Josephine zu Kassel, dessen wechselvollen
-Reiz Tante Babette in Begleitung ihrer Herzogin kennen
-zu lernen das seltene Glück gehabt. Mit eigenen Augen
-hatte sie den überaus glänzenden Kreis geschaut, in welchem
-Josephine durch Schönheit wie durch Geist, die Königin
-Hortense dagegen durch liebenswürdige Anmut den Mittelpunkt
-gebildet. Sobald sie aus jener Zeit erzählte, dann
-reckte sich die kleine, dürftige Gestalt in die Höhe, und
-dünkte es mir zuweilen, als husche dabei ein Schimmer
-einstiger Jugend über die welken, verwitterten Züge von
-Tante Babette, die übrigens niemals schön gewesen sein
-soll. Ganz besonders aber war es <em class="ge">ein</em> Name, der ihre
-matten Augen stets in merkbarem Feuer aufflammen machte.</p>
-
-<p>Zwar bezeigte Großtantchen sich immer als gute
-Patriotin, hing auch mit Leib und Seele treu an ihrem
-Königshause und hatte in Preußens Sturm- und Drangperiode
-gewiß im tiefsten Innern unter des Usurpators
-Joch geseufzt und getrauert. Allein trotzdem schlug ihr
-Herz, wie sie mir oftmals versichert hatte, in einer ihr
-unerklärlichen, halb bangen, halb berauschenden Freude,
-wenn sie in jener aufregenden, so verhängnisvollen Zeit
-des Weltbezwingers Antlitz mit den durchdringenden, stahlgrauen
-Adleraugen einmal begegnete. Lächelnd und ungeachtet
-ihrer vierundneunzig Jahre mit fast jungfräulichem
-Senken der Lider gestand Tante Babette mir eines Tages
-ein, daß sie nie für einen anderen Mann geschwärmt habe,
-als für den großen Kaiser Napoleon.</p>
-
-<p>»Und er?« hatte ich mit schüchternem Einwurf zu
-fragen gewagt; worauf Großtantchen &ndash; noch in der Erinnerung
-an die dahingegangene Jugend und deren mannigfache
-<a class="pagenum" id="page_068" title="68"> </a>
-Enttäuschungen &ndash; seufzend erwiderte, daß der Stolze,
-Gewaltige der kleinen, so wenig schönen Hofdame wohl
-eigentlich niemals Beachtung, ja kaum einen eingehenden
-Blick geschenkt. Und dennoch hatte eine Schicksalstücke an
-dem für eine still im Busen getragene Neigung so blinden,
-undankbaren Mann sich zu rächen ersonnen. Tante Babette
-sollte eine, wenn auch nur zweifelhaft ehrenvolle Revanche
-haben.</p>
-
-<p>Ihre eigenen, genau in der ihr charakteristischen, sentimentalen,
-dabei jedoch scharf witzigen Redeweise wiedergegebenen
-Worte sind es daher auch, welche ich hier bringe,
-und die in nachstehender kleinen Episode aus Großtantchens
-Hofdamenleben mir damals eben so scherzhaft als originell
-erschienen, daß ich heute, nach fast fünfundzwanzig Jahren,
-weder irgend Bedenken hegen, noch eine Indiskretion zu
-begehen fürchte, wenn ich sie wahrheitsgetreu nacherzähle:</p>
-
-<p>»Der Kaiser &ndash; der Kaiser sollte auf Besuch zu meinen
-Herrschaften kommen! Gleich einem Lauffeuer durchflog
-diese überraschende Kunde unser herzogliches Schloß. Wann
-er eintreffen, wie lange der hohe, mächtige Gast in unseren
-bescheidenen Mauern weilen würde, davon verlautete fürs
-erste noch nichts. Mir genügte, daß er <em class="ge">kam</em>, daß ich ihn
-sehen, daß meine Füße denselben Boden berühren sollten,
-den er <em class="ge">gestreift</em>! Eines Abends war ich länger als gewöhnlich
-bei der Frau Herzogin in deren Gemächern
-zurückgehalten worden. Der französische Roman, welchen
-vorzulesen mir befohlen worden, hielt uns dermaßen in
-Aufregung und Spannung, daß wir der späten Stunde
-gar nicht gedachten. Endlich &ndash; ich glaube, es schlug
-bereits halb zwölf Uhr &ndash; nahm meine Gebieterin mir
-das Buch aus der Hand und hieß mich zur Ruhe gehen.</p>
-
-<p>»Mit tiefem Kompliment nach rückwärts hatte ich mich
-<a class="pagenum" id="page_069" title="69"> </a>
-verneigt und war die Thürklinke bereits in meinen Fingern,
-als die hohe Frau einen seidenen Shawl ergriff und eigenhändig
-ihn mir um Kopf und Schultern schlang.</p>
-
-<p>»›Die Gänge des Schlosses sind kalt, und der Weg
-nach Ihren Zimmern ist weit, mein liebes Kind!‹ sagte sie
-dabei freundlich wie immer. ›So, nun aber laufen Sie
-recht schnell, ich wünsche, daß Ihnen niemand begegnen
-möge! Denn &ndash; denn&nbsp;...‹</p>
-
-<p>»Der Herzogin weitere Worte verstand ich nicht mehr,
-da sie mich rasch auf die Stirn küßte und zur Thür
-hinausschob.</p>
-
-<p>»Hu! Ich fror wirklich; wenigstens rieselte ein eigenartiger
-Schauer durch meine Glieder, einerseits verursacht
-durch die aufregende Lektüre, andererseits aus Bangigkeit,
-in schon so weit vorgerückter Nachtstunde den endlos langen
-Korridor des Schlosses und sogar noch eine Stiege aufwärts
-bis zu meiner ziemlich entfernten Wohnung <em class="ge">allein</em>
-zurücklegen zu müssen. Spukgeschichten hat wohl ziemlich
-jedes größere, ältere Schloß aufzuweisen, und so kam es
-denn auch, daß in diesem Moment allerlei gruselige Dinge
-und Gestalten vor meinem Geiste auftauchten, um so mehr
-noch, weil man hinsichtlich der Beleuchtung in jener Zeit
-noch äußerst haushälterisch zu Werke ging und nur hier
-und da in den weitläufigen Fluren und Gängen ein bescheidenes
-Lämpchen anbrannte.</p>
-
-<p>»Thorheit! dachte ich, ärgerlich über mich selbst, und
-schüttelte das kindische Grauen von mir ab. Schnell rannte
-ich eine Strecke in das gespenstige, ab und zu von einem
-magischen Lichtschein unterbrochene Dunkel hinein. Wie
-unheimlich laut hallten doch meine Schritte von den hohen
-gewölbten Wänden wieder! &ndash; Doch vorwärts mußte ich.
-Noch einmal holte ich tief Atem und lief, das Tuch fester
-<a class="pagenum" id="page_070" title="70"> </a>
-über den Kopf ziehend, weiter. Beinahe war die Biegung,
-in welcher der lange Korridor des zweiten Schloßflügels
-und auch die Treppe zum oberen Stockwerk mündete, glücklich
-erreicht, &ndash; da höre ich eine Thür leise öffnen und
-wieder schließen, und ein fester, energischer Tritt kommt
-den Gang entlang, mir gerade entgegen.</p>
-
-<p>»Entsetzt fahre ich zusammen. Das mußte ein Mann
-sein. Schrecklich! mich, der Frau Herzogin Hoffräulein,
-um die Mitternachtsstunde in den Gängen des Schlosses
-anzutreffen! Gerade an unserem Hofe hielt man auf strengste
-Etikette. War es aber nicht sofort erklärlich, daß ich aus
-den Gemächern meiner Gebieterin kam? Bekannt war es
-ja, daß diese gern sehr lange aufzubleiben beliebte.</p>
-
-<p>»Immer näher ertönen die verhängnisvollen, eigentümlich
-kurzen, energischen Schritte. Keiner der Lakaien
-wagte so sicher aufzutreten. So mußte es also wohl
-jemand von den Hofkavalieren sein. Wie ärgerlich, wie
-fatal! Jetzt &ndash; neugierig spähe ich &ndash; trotz meines fieberhaften
-Herzklopfens &ndash; mit einem Auge aus dem mich
-verhüllenden Shawl. Eine kaum an die Mittelgröße
-hinanreichende, von einem weiten Radmantel bedeckte
-Mannesfigur steht vielleicht nur noch zehn Fuß von mir
-entfernt und stutzt. Gleich einem vom Geier eingeschüchterten
-und verfolgten Hühnchen ducke ich mich und krieche
-förmlich in mich zusammen, um mit geschickter Wendung
-an der drohenden Gestalt rasch vorbeizuhuschen.</p>
-
-<p>»Da &ndash; ich glaube, jeder Blutstropfen zog sich während
-dieses entsetzlichen Augenblicks in mein armes Herz zurück
-und machte es fast springen vor Angst und Scham &ndash; da
-vertritt der Unverschämte mir schnell und gewandt den
-Weg. Empört weiche ich etwas nach rückwärts, doch noch
-<a class="pagenum" id="page_071" title="71"> </a>
-nicht genug; er breitet die Arme aus und drückt mein
-schmächtiges Figürchen stürmisch an die Brust.</p>
-
-<p>»Schreien hätte ich mögen vor Wut und Zorn. Allein
-was hilft das; es würde die böse Situation eher noch
-verschlimmert haben. Mein energisches Zerren und Winden,
-um die Umschlingung zu lösen, blieb wenigstens umsonst.
-Denn ein bartloses Männergesicht bog sich mit Blitzesschnelle
-zu meinem Kopfe nieder, und &ndash; ehe ich noch so
-recht zum klaren Bewußtsein kam, brannte ein herzhafter
-Kuß auf meinen Lippen!</p>
-
-<p>»Entsetzlich! Mich, der Frau Herzogin sittsames, anerkannt
-prüdes Hoffräulein, so <i>sans façon</i> zu küssen! Wer
-war der Beleidiger? Das konnte &ndash; das durfte ich nicht
-so ruhig hinnehmen.</p>
-
-<p>»Zum Glück vermochte der arglistige Attentäter, dem
-die dunkle Nachtstunde gerade willkommen schien, ein
-ahnungsloses Fräulein arglistig zu überfallen, mich nicht
-zu erkennen, indem ich das Tuch mit heftigem Ruck noch
-tiefer herabgezogen hatte. Doch zwischen den langen
-seidenen Franzen hindurch, die schützend ihm meine Züge
-verhüllten, sah ich nun direkt in ein lachendes Gesicht mit
-einem Paar flammensprühender Augen.</p>
-
-<p>»Allgütiger Gott! Der Kaiser Napoleon &ndash; mein angebeteter
-Held &ndash; mein Ideal war es!!</p>
-
-<p>»Die Füße versagten mir fast den Dienst, und es war
-nicht weit davon, so hätte ich laut aufgeschrien. In diesem
-Moment wußte ich wahrlich nicht, ob es Todesschreck &ndash;
-ob es Freude war, was mir jede Spur von Fassung
-raubte. Die kraftvollen Arme gaben mich nun endlich frei,
-und halb betäubt, nur die Geistesgegenwart bewahrend,
-daß ich fortan mein Angesicht vor ihm verbarg, taumelte
-ich nach rückwärts.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_072" title="72"> </a>
-»›<i>Adieu, ma belle! Au revoir!</i>‹ tönte ein heiterer,
-merklich spöttischer Ruf mir nach. Aber wie von Furien
-gejagt, nicht rechts noch links schauend, stürmte ich meines
-Wegs &ndash; die Treppe hinan und erreichte atemlos, dabei
-an allen Gliedern bebend, glücklich mein Zimmer.&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Den anderen Vormittag war ein großer, offizieller
-Empfang des Kaisers Napoleon bei der Frau Herzogin.
-Schon in der Frühe hatte die freudige, überraschende Kunde
-sich im Schlosse verbreitet, daß der Allgewaltige, nur von
-seinem Adjutanten begleitet, augenscheinlich um jeder
-lästigen Feierlichkeit auszuweichen, ganz plötzlich eingetroffen
-sei. Die glänzende Suite war dem Kaiser erst am
-Morgen nach jenem kleinen Abenteuer gefolgt. Wir drei
-Hofdamen, Gräfin N.&nbsp;N., Fräulein v.&nbsp;Z. und ich, standen
-zu Ehren des hohen Gastes, aufs schönste geschmückt, im
-Vorzimmer, welches direkt zu Ihrer Hoheit Privatgemächer
-führte, und harrten in Aufregung und banger Ungeduld
-des verhängnisvollen, so wichtigen Moments. Beugte sich
-damals doch alles vor dem siegesstolzen, durch Glück und
-Ruhm verwöhnten Mannes Haupt.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Endlich &ndash; Napoleon in seiner rücksichtslosen Art
-liebte es, auf sich warten zu lassen &ndash; endlich öffneten sich
-die Thüren, und ein glänzender Zug, eingeführt durch den
-Hofmarschall unseres Herzogshauses, der Kaiser in großer
-Uniform an der Spitze, überschreitet die Schwelle&nbsp;...</p>
-
-<p>»Erst nach unserer tiefen Verneigung vermochte ich
-in schüchternem Blick die Augen zu erheben zu dem angebeteten
-und doch wieder gefürchteten Manne. Stolz, gleich
-einem Siegesgotte, den charaktervollen Kopf in den Nacken
-zurückgelegt, einen Zug von blasiertem Hochmut und unbeugsamen
-Trotz um den festgeschlossenen Mund, &ndash; so kam
-er dahergeschritten. Nun erst mußte er unserer ansichtig
-<a class="pagenum" id="page_073" title="73"> </a>
-werden. Denn plötzlich stutzte er, und das große, stahlfarbige
-Auge richtete sich eine Weile mit neugierigem,
-indes scharfprüfendem Ausdruck auf uns drei Damen.</p>
-
-<p>»Gräfin N.&nbsp;N. war eine große, schlanke Blondine,
-Fräulein v.&nbsp;Z.s Figur zeigte auffallend üppige Formen.
-Beide waren um ein beträchtliches Teil hübscher als ich.
-Allein gerade an <em class="ge">meiner</em> unbedeutenden, kleinen, zierlichen
-Gestalt blieb das Kaiserauge am längsten und eingehendsten
-haften. Fest und voll schaute er mir darauf ins Gesicht
-hinein. Ein Moment war das, wo ich am liebsten in die
-Erde hätte sinken mögen. Denn ich gewahrte, wie die
-scharf markierten Brauen dieses seltsamen Antlitzes sich
-finster zusammenzogen und sichtlich Zeichen von Ärger und
-Verdruß um die stolz geschwungenen Lippen sich ausprägten.</p>
-
-<p>»Was war das? &ndash; Hatte er mich wiedererkannt? &ndash;
-War diejenige, welcher sein heiterer Zuruf: ›<i>Au revoir,
-ma belle!</i>‹ gegolten, vielleicht nicht ganz nach seinem Geschmack,
-nicht seinen Erwartungen entsprechend? O, daß
-ich in dieser bitteren Stunde meinen so wenig anziehenden
-Zügen den Stempel der Schönheit hätte zu leihen vermögen!</p>
-
-<p>»Noch stolzer und steifer richtete der Kaiser sich empor,
-grüßte nur mit kurzer, vornehmer Handbewegung nach uns
-hinüber und verschwand in den Gemächern der Frau Herzogin.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Während seines zweitägigen Aufenthalts an unserem
-Hofe hat der Allgewaltige auch nicht ein einziges Mal mit
-mir gesprochen.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Eingeschüchtert und mit Thränen in den Augen habe
-ich jedoch später meiner Gebieterin diese kleine ›Aventure‹
-gebeichtet. Sie lachte nur dazu und meinte, daß sie von
-<a class="pagenum" id="page_074" title="74"> </a>
-der Ankunft des Kaisers an jenem Abende schon gewußt,
-es aber für besser gehalten, zu mir darüber zu schweigen.
-Im übrigen tröstete sie mich mit den heiteren Worten:
-›Einen Kuß in Ehren, kann niemand wehren!‹ Mir aber
-ist es zeitlebens nicht recht klar geworden, worin die große
-Ehre dieses Kusses eigentlich bestanden. Wenigstens wußte
-ich nie, ob ich mich darüber freuen oder grämen sollte!«&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Als Großtantchen mir jene niedliche Episode erzählte,
-mußte sie indes wohl die Enttäuschungen, welche der damalige
-Besuch Napoleons mit sich gebracht, längst verschmerzt
-haben. Denn auch sie lachte dabei: nur hatte sie
-die Augen geschlossen und leise flüsternd hinzugefügt:
-»Mein Ideal &ndash; mein kaiserlicher Held blieb er aber
-dennoch!«&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Großtantchen hat das seltene Alter von 97 Jahren
-erreicht und erfreute sich bis zu ihrem eigentlich unerwartet
-schnellen Ende einer unerschütterlich guten Gesundheit. Die
-Kammerfrau fand die dürftige, kleine Gestalt derselben eines
-Morgens kalt und steif in ihrer, auf goldenen Löwenklauen
-ruhenden, prächtigen Empire-Bettstatt.</p>
-
-<p>Mir selbst, die ich am entgegengesetzten Ende Deutschlands
-lebte, war es leider nur selten beschieden, nach Thüringen
-reisen und die alte Verwandte besuchen zu können,
-allein wurde diese Freude mir einmal zu teil, so unterließ
-ich es sicher nicht, Tante Babette zu bestimmen, mir gelegentlich
-irgend ein interessantes Episödchen aus dem
-reichen Schatzkästlein ihrer Erlebnisse während einer dreißigjährigen
-Hofdamenzeit mitzuteilen.</p>
-
-<p>»Ich bitte mir aber aus, Kind, daß Du nicht etwa
-alle diese Dinge schon zu Papier bringst und drucken läßt,
-so lange ich noch unter den Lebenden weile. Wenn ich
-nicht mehr bin, dann magst Du nach Gutdünken damit
-<a class="pagenum" id="page_075" title="75"> </a>
-verfahren,« hatte die alte Dame einmal lächelnd und mir
-dabei mit dem Finger drohend, gesagt. Ich glaube daher
-jetzt, nachdem Tante Babette schon mehr als fünfundzwanzig
-Jahre unter dem grünen Rasen schlummert, keine allzu
-große Indiskretion zu begehen, wenn ich das einstige Hoffräulein
-der Herzogin von X... abermals selbst reden
-lasse und eine ihrer Erzählungen hiermit aus der Erinnerung
-niederschreibe:</p>
-
-<p>»Die Geißel des Krieges und das eiserne Joch des
-Usurpators lastete schwer auf unserem armen Vaterlande.
-Nach den unglückseligen Schlachten von Jena und Auerstädt
-am 14.&nbsp;Oktober 1806 war nunmehr auch das gottgesegnete
-Thüringen der Schauplatz schrecklicher Verheerungen
-geworden. Die Felder lagen unbebaut oder waren durch
-endlose Truppendurchmärsche verwüstet, die Städte geplündert,
-die Dörfer zum teil niedergebrannt, überall Not,
-Krankheit und Jammer!</p>
-
-<p>»Um so überraschender mochte es erscheinen, daß,
-gleich einer Oase in der Wüste, unser Ländchen von allem
-Greuel und Ungemach des Krieges verschont geblieben war.
-Was hielt den Weltbezwinger wohl davon ab, das unbedeutende
-Herzogtum X... nicht mit gleicher Tyrannei
-und Willkür zu behandeln. Uneingeweihte mochten sich über
-diese sonderbare Huld vielleicht den Kopf zerbrechen. Allein
-bei uns am Hofe war es durchaus kein Geheimnis mehr,
-daß Napoleon diese Rücksicht einzig und allein dem Herzoge
-und Gemahl meiner hohen Gebieterin angedeihen ließ, der,
-wie allgemein bekannt war, eine schwärmerische Verehrung,
-ja, ich möchte sagen, glühende Anbetung für des Kaisers
-Person hegte und mit seinen Gefühlen keineswegs hinter
-dem Berge hielt.</p>
-
-<p>»Man sprach davon, daß Napoleon, der für jede
-<a class="pagenum" id="page_076" title="76"> </a>
-Schmeichelei sehr empfänglich war, sich über diese in einem
-Männerherzen für ihn entflammte Leidenschaft königlich
-amüsierte und in einem Anfalle seiner unberechenbaren
-Launen den Befehl gegeben habe, das Herzogtum X...
-nicht allein in jeder nur erdenklichen Weise zu schonen,
-sondern auch von allen Kriegslasten zu entbinden.</p>
-
-<p>»Wie von seiten anderer Höfe dieser seltsame Umstand
-aufgefaßt und beurteilt, ob es dem deutschen Fürsten verdacht
-wurde oder ob man gar über ihn spöttelte, das
-ficht den Gemahl meiner Gebieterin durchaus nicht an.
-War es doch ein Mensch, dessen krankhaft überspannter
-Geist sich selten mit der Wirklichkeit beschäftigte, sondern
-sich meist in einer eingebildeten Welt voll eitler Hirngespinste
-und traumhafter Ideale bewegte. Der Herzog
-lebte nämlich in dem thörichten Wahne, das Fühlen und
-Denken, ja die Seele eines <em class="ge">Weibes</em> zu besitzen und bemühte
-sich daher, jedwede Männlichkeit zu verleugnen und
-abzuschwören. Aus diesem Grunde drehten sich auch alle
-seine Gedanken und Interessen nur um Dinge, die im Gesichtskreise
-der Frau liegen.</p>
-
-<p>»Wer diesen eigentümlichen Mann nicht mit eigenen
-Augen gesehen, konnte sich von seiner wunderbaren Erscheinung
-gar keinen klaren Begriff machen.</p>
-
-<p>»So war des hohen Herrn Kleidung ganz ausgesprochen
-frauenhaft, was zu seinem bartlosen Gesicht mit
-dem weichlich elegischen Ausdruck und den schmachtenden
-großen blauen Augen allerdings nicht übel paßte. Lang
-wallende, meist weiße Gewandungen umhüllten seine etwas
-schlaffen Glieder, während das üppige, gelockte Blondhaar
-sich unter einer turbanartigen Kopfumhüllung bis tief in
-die Stirn hineinsenkte.</p>
-
-<p>»Waren wir, das heißt, die Frau Herzogin mit ihren
-<a class="pagenum" id="page_077" title="77"> </a>
-drei Hoffräuleins, zu Seiner Durchlaucht zum Thee geladen,
-so lag Serenissimus in halb griechischem Kostüm
-mit breitem Goldgurt um die Hüften, den für einen Mann
-wirklich blendend weißen Hals und Nacken teilweise entblößt,
-die vollen, ebenfalls bloßen Arme über und unter
-den Ellbogen mit kostbaren Spangen geschmückt, auf einem
-Ruhebett und empfing uns, indem er sich graziös erhob
-und nach Art der Damen sich verneigte.</p>
-
-<p>»Niemals drehte sich die Unterhaltung um die damals
-alle Gemüter beschäftigende Politik und die aufregenden
-Ereignisse einer schweren Zeit, sondern nur um seichte
-französische Romane &ndash; Hofklatsch und &ndash; Toilettenangelegenheiten!</p>
-
-<p>»Selbstverständlich waren wir Hofdamen viel zu gut
-geschult und nebenbei von einer zu innigen Teilnahme und
-Verehrung für unsere Gebieterin erfüllt, als daß wir gewagt
-hätten, auch nur den kleinsten Schimmer eines Lächelns
-um unsere Lippen zucken zu lassen. Die Etikette jener
-Zeit erheischte die allergrößte Rücksicht.</p>
-
-<p>»Daß unter den obwaltenden Verhältnissen sich unsere
-Frau Herzogin sehr unglücklich in ihrer Ehe fühlte und
-wohl nur die äußere Form und Konvenienz dieses gewiß
-niemals innig gewesene Band der beiden Gatten noch zusammenhielt,
-sind Dinge, auf die ich jetzt nicht weiter eingehen
-möchte. Nur einer kleinen Episode will ich noch
-Erwähnung thun, die wirklich höchst spaßig war und dem
-in seinen Gewohnheiten und Geschmacksrichtungen oftmals
-zur Überspanntheit hinneigenden Fürsten eine gründliche
-Lehre geben sollte.</p>
-
-<p>»Napoleon, der sich auf seinem Siegeszuge auf dem
-Wege nach Berlin befand, glaubte unserem Herzoge keine
-größere Freude bereiten zu können, als wenn er ihm die
-<a class="pagenum" id="page_078" title="78"> </a>
-Ehre eines Besuches schenkte. Vielleicht waren es auch
-leise und sehr natürliche Regungen der Neugierde, den als
-Original bekannten Fürsten einmal von Angesicht zu Angesicht
-zu sehen, die den Weltbezwinger zu diesem Schritte
-&ndash; persönlich nach X. zu kommen &ndash; veranlaßten.</p>
-
-<p>»Kurz, Serenissimus schwamm in einem Meer von
-Entzücken und ersann die denkbarsten und undenkbarsten
-Sachen, um dem vergötterten Kaiser einen ihm gebührenden
-Empfang zu bereiten.</p>
-
-<p>»Natürlich spielte die Toilettenfrage dabei wieder eine
-nicht unbedeutende Rolle, und mochte die gefallsüchtigste,
-kokettste Frau wohl kaum so lange über die Mittel, ihre
-Reize in das beste Licht zu stellen, &ndash; nachgegrübelt haben,
-als es der Herzog vor dem zu erwartenden Besuche des
-Kaisers gethan.</p>
-
-<p>»Vielleicht sollten wir, die am Hofe befindlichen weiblichen
-Elemente, alle in Schatten gestellt werden.</p>
-
-<p>»Unsere Herzogin, die durchaus keine schöne Frau war,
-ließ in ihrer edlen Herzensgüte und rührenden Bescheidenheit
-alles über sich ergehen. Daher hatte auch Seine
-Durchlaucht, zweifellos um seine eigene Person noch mehr
-zur Geltung zu bringen, den Empfang des hohen Gastes
-nach seinen Privatgemächern verlegt, so daß wir übrigen
-eigentlich nur Staffage bilden sollten.</p>
-
-<p>»Vorausschicken muß ich noch, daß Napoleon dem
-Herzoge bereits schriftlich die Stunde seines Besuches angekündigt
-hatte, und in diesem äußerst huldvollen Briefe
-mit einfließen ließ, derselbe möge sich irgend eine <em class="ge">Gnade</em>
-vom Kaiser erbitten.</p>
-
-<p>»Und der große mit Sehnsucht und Spannung erwartete
-Moment kam endlich! War doch die Macht und
-das Ansehen des Mannes, der auf dem Wege war, sich
-<a class="pagenum" id="page_079" title="79"> </a>
-ganz Europa zu unterjochen, eine so große, daß hoch und
-niedrig, alt und jung vor seinem bloßen Angesicht zitterte.</p>
-
-<p>»Von seinen Generälen, Adjutanten und einem Kreise
-besonders bevorzugter Männer umgeben, betrat Napoleon
-das mit verschwenderischem Luxus eingerichtete, jedoch an
-ein mit verweichlichtem, üppigen Geschmack ausgestattetes
-Frauengemach erinnernde Zimmer des Herzogs, in dessen
-Mitte ein schwellendes Ruhebett stand, von dem sich eine
-dem Auge eines Fremden ganz seltsam erscheinende Gestalt
-emporrichtete.</p>
-
-<p>»Hinter meiner Gebieterin versteckt, vermochte ich des
-Kaisers Züge genau und völlig unbemerkt zu beobachten,
-daher sah ich deutlich, wie plötzlich ein heiteres, allein
-merkbar spöttisches Lächeln über das ehern finstere Antlitz
-glitt und das durchdringende Adlerauge halb ungläubig,
-halb staunend an dem sich seinen Blicken Darbietenden
-haften blieb.</p>
-
-<p>»War das eine Komödie, eine ganz besondere Überraschung
-etwa, die man ihm hier vorgeführt? Was bedeutet
-das? &ndash; so mochte der hohe Gast wohl bei sich
-denken, indem er sich jetzt mit fragendem Gesichtsausdrucke
-seitwärts wandte, wo mit gesenkten Lidern und sich schüchtern
-verneigend, meine Gebieterin stand! Dieser aus dem Kaiserauge
-sie treffende Blick war ebenso demütigend als niederschmetternd,
-das fühlte selbst ich &ndash; die Hofdame.</p>
-
-<p>»Entsetzlich! In dieser merkwürdigen, von blaßrosa
-Seidenstoffen umwallten Figur, deren entblößter Hals und
-Arme von kostbarem Geschmeide strotzte, konnte Napoleon
-doch unmöglich den Herrn und Gebieter eines deutschen
-Fürstenstaats, den regierenden Herzog von X. vermuten!
-So weibisch verputzt, in fast lächerlichem Aufzuge, so jeder
-Männlichkeit Hohn sprechend, hatte der Weltbezwinger sich
-<a class="pagenum" id="page_080" title="80"> </a>
-denjenigen, dessen glühende Anbetung er sich bisher stillschweigend
-gefallen ließ, doch nicht vorgestellt. Deutlich
-sah ich die tiefe Falte des Unwillens über der eisernen
-Stirn, welche nur zu wohl besagte, daß Napoleon sein Erscheinen
-in unserem Schlosse bereits bereuen mochte.</p>
-
-<p>»Den Herzog vielleicht ausgenommen, fühlten wir alle,
-daß dies ein furchtbar peinlicher Moment war, und schien
-es den Herren aus des Kaisers Suite wirklich Mühe zu
-kosten, Fassung und Contenance zu bewahren. Einige,
-wenigstens die Jüngsten davon, hatten nicht übel Lust,
-aller Hofetikette zum Trotz laut aufzulachen und ihrem
-Übermut und Witz die Zügel schießen zu lassen. Andere
-bissen sich krampfhaft in die Lippen und sahen unverwandt
-zu Boden.</p>
-
-<p>»Obwohl es auch Napoleon noch immer sehr verräterisch
-um die Mundwinkel zuckte, trat er jetzt mit hastigen
-Schritten der in ihrem zweifelhaften Liebreize vor ihm
-stehenden rosaumhüllten Gestalt entgegen, maß dieselbe mitleidigen,
-spöttischen Blickes und sagte in seiner bekannten
-schroffen Art:</p>
-
-<p>»›Fürwahr, ein sonderbarer Empfang! Aber Wir
-nehmen ein gegebenes Wort niemals zurück. Durchlaucht
-dürfen Sich von Uns eine Gnade erbitten. Sie soll gewährt
-sein. <i>Eh bien?</i>‹</p>
-
-<p>»Die vollen weißen Arme verlangend nach dem Kaiser
-ausgestreckt, die blauen Augen in einem Ausdruck schwärmerischer
-Sinnlichkeit zu des Weltbezwingers Antlitz emporgeschlagen,
-flüsterte der Herzog mit frauenhaft sanfter
-Stimme, aber laut genug, um von den Anwesenden verstanden
-zu werden: ›<i>Un baiser, Sir!</i>‹</p>
-
-<p>»Für Sekunden war es, als ob der lähmende Druck
-einer Erstarrung auf uns allen lastete. Wahre Totenstille
-<a class="pagenum" id="page_081" title="81"> </a>
-herrschte ringsum, weil wohl jeder befürchten mochte, daß
-jetzt sicherlich ein brüskes, spottgefärbtes Lachen oder gar
-der Ausbruch jenes zügellosen Zornes &ndash; vor dem Europa
-zitterte &ndash; von den Lippen des Allgewaltigen hervorbrechen
-würde.</p>
-
-<p>»Nichts davon. Trotzdem mir unter dem knappen
-Atlasleibchen das Herz in wilden Schlägen hämmerte, verwandte
-ich von Napoleon keinen einzigen Blick.</p>
-
-<p>»Jetzt richtete sich die kleine Gestalt in der ihr eigenen
-hochmütigen Weise stolz empor &ndash; das stahlgraue Auge
-verfinsterte sich merklich, doch ohne daß in den charaktervoll
-wie gemeißelt erscheinenden Zügen der geringste Schimmer
-von Bewegung sichtbar wurde, stieß er schroff und verächtlich
-hervor: ›<i>Vous êtes un fou! Adieu!</i>‹</p>
-
-<p>»Sprach's und verließ, von seiner glänzenden Suite
-gefolgt, unverzüglich das Gemach.</p>
-
-<p>»So kläglich endete des Kaisers Besuch an unserem
-Herzogshofe.«</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_083" title="83"> </a>
-<span class="ge">Unter dem Niagara-Falle.</span></h2>
-
-
-<p class="da"><a class="pagenum" id="page_085" title="85"> </a>
-Niagara-Falls, den 18. Oktober.</p>
-
-<p class="ml5">Teure Carrie!</p>
-
-<p><b>D</b>er glühendste Wunsch meines Lebens ist wirklich in
-Erfüllung gegangen. Ich bin unter dem Niagara-Falle
-gewesen! Nicht allein, daß es mir vergönnt war, das
-kolossalste Naturschauspiel unserer Erde zu bewundern, in
-stummer, staunender Erstarrung versunken, die gigantischen
-Fälle in die Tiefe stürzen zu sehen, während mir dabei
-ein eisiges Gruseln über jenes Wunder durch die Glieder
-bebte, &ndash; nein, Carrie, Herzensschwester, in die berühmte
-<i>cave of the winds</i> (Windhöhle) bin ich mit Papa hinabgestiegen!&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Von Goat-Island aus ist es möglich, unter die Fälle
-zu gelangen, oder richtiger gesagt: unter den Raum zwischen
-der Felsenwand und den über dieselbe hinabstürzenden
-Fluten des amerikanischen Falles. Kaum glaublich ist das,
-und doch ist es nur der kleinste Teil der mächtigen Katarakte,
-unter welche ein menschliches Wesen sich wagen kann.</p>
-
-<p>Indes ist es durchaus nicht meine Absicht, Dir, Du
-Hasenfuß, der aus purem Mangel an Courage sich an
-unserer schönen Partie nicht beteiligen wollte, eine eingehende
-<a class="pagenum" id="page_086" title="86"> </a>
-Naturbeschreibung zum besten zu geben. Wenn
-es Dich interessiert, so nimm Dir ein Reisehandbuch vor,
-und Du bist schneller orientiert, als ich es zu thun vermöchte.
-Nur von einem allerliebsten Abenteuer muß ich
-Dir noch berichten. Denke Dir: ein Abenteuer unter dem
-Niagara-Falle! So etwas erlebt ein einfacher Sterblicher,
-ein Mädchen von neunzehn Jahren, und noch dazu eine
-Deutsche, nicht oft im Leben!</p>
-
-<p>Höre also!</p>
-
-<p>Der Fremden-Andrang an den Fällen war, wohl der
-vorgerückten Jahreszeit wegen, nicht mehr sehr groß. Nur
-fünf Personen, darunter Papa und ich, machten sich auf
-den Weg nach der Windhöhle; ich als die einzige Dame,
-was meinen Stolz nicht wenig hob, besonders, da man
-mir von verschiedenen Seiten das wirklich Gefährliche und
-Anstrengende unseres Unternehmens klar zu legen sich bemühte.
-Vor allem war es ein junger Deutscher, &ndash; die
-Visitenkarte, welche er uns reichte, lautete: »Arnulf Clemens,
-Privatdocent. Berlin«, &ndash; der fast außer sich darüber geriet,
-als er erfuhr, daß ich die Herren begleiten, mein
-blutjunges Leben, wie er feurig sich ausdrückte, diesen
-elementaren Mächten der Tiefe preisgeben wolle. Er selbst
-habe den Weg durch die Windhöhle in wissenschaftlichem
-Interesse schon einmal gemacht, kenne daher die gefährliche
-Passage ziemlich genau, worauf er dann noch eine schauerliche
-Schilderung derselben folgen ließ. Doch ich blieb
-unerschütterlich und lachte. Nichts in der Welt hätte mich
-auch von meinem Vorhaben abzubringen vermocht. Hatte
-mein Widerstand den Deutschen verletzt oder gekränkt? &ndash;
-ich weiß es nicht. Wenigstens verlor ich ihn bald darauf
-aus dem Gesicht, das heißt, sein Gesicht verlor sich unter
-der riesigen Kapuze des sogenannten »wasserdichten« Anzuges
-<a class="pagenum" id="page_087" title="87"> </a>
-aus safrangelbem Wachstuch, womit man uns vom
-Kopfe bis zu den Füßen bekleidete. Nebenbei vervollständigten
-monströse Filzpantoffeln, die einem jeden von
-uns unter die Füße gebunden wurden, die originelle Toilette.
-Das Betreten des nassen, schlüpfrigen Gesteins wäre
-ohne letztere auch eine Unmöglichkeit. Und so traten wir,
-derartig ausgerüstet, die Reise nach der Unterwelt an.</p>
-
-<p>Aber, o Carrie! Deine waghalsige kleine Schwester
-hatte doch ihren Mut und ihre Kräfte überschätzt.</p>
-
-<p>Gar schnell verschwand das übermütige Lachen von
-meinem Gesicht, und fast bereuete ich, Mr. Clemens' wohlmeinender
-Warnung kein Gehör geschenkt zu haben. Ein
-unheimliches Brausen und wahrhaftes Donnergetöse umfing
-uns bald, und der ungeheure Luftdruck, durch die
-Gewalt und Geschwindigkeit des herabstürzenden Wassers
-verursacht, übte einen so beklemmenden Einfluß auf unsere
-Lungen aus, daß man kaum zu atmen vermochte. Über
-unsere Häupter hinweg raste und rauschte die Wasserflut
-mit betäubendem Gebrüll in den Abgrund, dicke, graue
-Nebeldämmerung und fortwährender feiner Regen erfüllte
-die Atmosphäre ringsum, während von Zeit zu Zeit brausende
-Schaumwolken weißen Gischtes bis zu uns heranschlugen.</p>
-
-<p>So ging man langsam aus dem nur durch ein höchst
-primitives Geländer geschützten Wege vorwärts. Drei vermummte
-Gestalten bewegten sich vor mir; ich selbst wankte
-hinterdrein, und zuletzt schritt noch ein Mensch, es konnte
-nur Papa sein, der bisher dicht an meiner Seite geblieben
-war.</p>
-
-<p>Überwältigend und kaum mehr erträglich wirkte auf
-mich das furchtbare Tosen. O spotte meiner deshalb nicht!
-Denn was sind Menschennerven gegenüber jenen entfesselten
-<a class="pagenum" id="page_088" title="88"> </a>
-Naturgewalten. Du wirst es daher natürlich finden, daß
-wir nicht lange in diesem schauerlich schönen Raume
-blieben. Die Großartigkeit der Windhöhle spottet überhaupt
-jeder Beschreibung.</p>
-
-<p>Dann kehrte ein jedes auf dem Absatz um und,
-äußerst vorsichtig, Schritt um Schritt genau beachtend,
-tappte man den lebensgefährlichen Weg wieder rückwärts.
-Da überkam mich plötzlich ein derartiger Schwindel, daß
-ich die Füße nicht mehr zu heben vermochte und die
-Augen schließen mußte. Das Geländer umklammerte ich
-krampfhaft und taumelte hin und her. Im Moment aber
-umfaßten auch schon zwei starke Arme meine bebende
-Gestalt vorsorglich. Nur denken konnte ich noch: »welches
-Glück, daß Papa neben mir ist!« Dann schmiegte ich mich
-halb besinnungslos, allein glücklich und beruhigt, an die
-treue Brust.</p>
-
-<p>Indes währte diese vorübergehende Schwäche wohl
-kaum zwei Minuten. Da schlug ich die Augen auf und
-drängte wieder vorwärts. Dort, ein ziemliches Stück von
-uns entfernt, schritten bereits die übrigen, die während
-dem vorgekommen waren. Mutig raffte ich mich daher
-empor. Und, dem Himmel sei gedankt, endlich wurde es
-auch heller, das fürchterliche Sausen und Brausen verminderte
-sich. Freier vermochten die Lungen wieder zu
-atmen, und schon drang Tagesschein bis zu uns. Nur
-ein kurzer Pfad noch aufwärts, und, &ndash; Gott Lob, wir
-waren gerettet! Freudetrunken schaue ich zurück, um für
-meine Heldenthat von Papa mich beglückwünschen zu lassen,
-&ndash; da, &ndash; o Schrecken! &ndash; der Deutsche, Mr. Arnulf Clemens,
-war es, der mir folgte. Die Kapuze hatte er abgeworfen,
-und übermütig lachten seine blauen Augen mich an.</p>
-
-<p>Gräßlich, Carrie! Nicht wahr? Von seinen Armen
-<a class="pagenum" id="page_089" title="89"> </a>
-umschlungen, habe ich an seiner Brust geruht! Verwünscht
-habe ich in diesem Momente alle meine Niagarasehnsucht.
-Ich hätte mich selber ohrfeigen mögen.</p>
-
-<p>Was aber half es? Mußte ich nicht noch gute
-Miene zum bösen Spiele machen? Das heißt, ich glaube,
-daß ich mit wütendem Gesichte gestammelt habe: ich hätte
-Papa hinter mir vermutet. Innerlich schäumte ich und
-nahm mir fest vor, dem zudringlichen Patron meinen Zorn
-fühlen zu lassen.</p>
-
-<p>Auf dem Rückwege nach dem Hotel wich er noch dazu
-nicht von meiner Seite, als ob der mir geleistete Dienst
-ihm etwa gar das Recht einräume, fernerhin meinen Beschützer
-zu spielen. Nebenbei entwickelte er eine echt deutsche
-Redseligkeit, um mich zu unterhalten.</p>
-
-<p>Vorausschicken muß ich übrigens, daß er kein übler
-Mann ist, &ndash; gewiß nicht, Carrie! Elegante Figur; zwar
-nicht besonders hübsch, aber hervorragend intelligent ist
-sein Gesicht, die Augen könnte man sogar als schön bezeichnen.
-Sie sprudeln von Geist und lachen von Herzensgüte.
-Eine tiefe Narbe, wahrscheinlich eine Reminiscenz
-aus der Studentenzeit, zieht sich über die linke Backe hin.
-Allein der Mensch hatte sich meine vollste Ungnade zugezogen,
-und dafür sollte er büßen.</p>
-
-<p>Eine günstige Gelegenheit fand sich rasch genug, indem
-er, da wir deutsch sprachen, seine Freude ausdrückte,
-in mir eine Landsmännin zu begrüßen. Die Männer
-besitzen alle eine gründliche Portion Neugierde, und so
-schlich er denn, wie man in unserem alten lieben Deutschland
-zu sagen pflegt, gleich der Katze um den heißen Brei.
-Er tippte hier, &ndash; er tippte dort an; kurz, er brannte darauf
-zu erforschen, wer wir seien.</p>
-
-<p>Aha, dachte ich, das ist die Falle!</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_090" title="90"> </a>
-Endlich erkühnte er sich, zu fragen, ob wir stetig oder
-nur vorübergehend in den Vereinigten Staaten wohnten!</p>
-
-<p>»Stetig. Der Beruf und die so überaus einträgliche
-Stellung meines Vaters hält ihn in Amerika fest,« log ich
-in größter Gemütsruhe.</p>
-
-<p>»Advokat? Politiker offenbar?« forschte er weiter.</p>
-
-<p>»O nein!« entgegnete ich mit der ernsthaftesten Miene
-der Welt. »Papa ist der &ndash; Totengräber von New York!«</p>
-
-<p>Bin ich nicht ein gräßliches Mädchen, solch' haarsträubenden
-Unsinn zu sprechen, Carrie? <i>Dear old Pa?</i>
-Ich könnte mich tot lachen über meinen Witz. Und doch,
-&ndash; im Moment, da die Lüge heraus war, that er mir
-leid. Denn das bisher überaus fröhliche Gesicht meines
-Begleiters nahm einen so erschreckten, traurigen Ausdruck
-an, als ständen wir plötzlich inmitten des großen Gräberfeldes
-von Greenwood-Cemetry in der Zeit, wo die Uhr
-die Geisterstunde schlägt, &ndash; huh!</p>
-
-<p>Armer Arnulf Clemens!</p>
-
-<p>Er verbeugte sich höflich, indes merklich steif gegen
-mich, und wir legten schweigend den Weg nach dem Hotel
-zurück. Die Medicin that demnach bereits ihre Wirkung.
-Auffallende Abkühlung! Die erhöhte Temperatur seines
-Blutes sank auf den Normalstand zurück!</p>
-
-<p>Während des Lunch saß Mr. Clemens Papa und
-mir schräg gegenüber und unterhielt sich lebhaft mit unseren
-Reisebegleitern. Nur ab und zu streifte mich ein scheuer
-&ndash; unsäglich trauriger Seitenblick. Aus den Gesprächen
-vermochte ich jedoch so viel zu entnehmen, daß Arnulf
-Clemens Geologe sei und eine sechs- bis achtmonatliche
-Studienreise nach den Vereinigten Staaten unternommen
-habe. Darauf sprachen die Herren schrecklich gelehrte Dinge,
-über Schliemann, über die alten Ruinen des Forts Ticonderoga
-<a class="pagenum" id="page_091" title="91"> </a>
-am Champlain-See, über die wunderbare Bodenbeschaffenheit
-im Yellowstone-Park, und mehr dergleichen.
-Ich merkte es Papa an, wie gern er an dieser wissenschaftlichen
-Unterhaltung sich beteiligt hätte. Allein, da ich ihn
-bereits vor dem Frühstücke von meinem Scherze in Kenntnis
-gesetzt, so that er mir wirklich den Gefallen, mich nicht zu
-blamieren, und vertiefte sich statt dessen lediglich in die
-Wissenschaft der »Gastronomie«. Dabei legte er auch einen
-so indifferenten, fast möchte ich sagen stumpfsinnigen Ausdruck
-in sein liebes Gesicht, der dem Totengräber von
-New York wahrhaftig alle Ehre machte. Im übrigen
-zürnte er mir durchaus nicht und äußerte, mit dem Finger
-drohend, bloß, daß ich ein loser Schelm sei! &ndash; Eine
-Stunde später dampften wir zurück nach New York.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Vollkommen befriedigt war meine wißbegierige Seele
-von unserem Ausfluge. Auch Papa zeigte sich in bester
-Laune, schwatzte heiter und machte schon Pläne für die
-nächste Sommerferienreise. Und dennoch &ndash; mir, Carrie,
-&ndash; nun bitte ich wiederum, mich nicht auszulachen&nbsp;&ndash;,
-mir war das Herz ein wenig schwer! Warum? Ja, das
-wußte ich selbst nicht. Du Vernünftige, Vortreffliche, Du,
-mein besseres Ich, &ndash; Du würdest sagen: das ist die Reue
-über eine böse That! Vielleicht hättest Du recht. Der
-tieftraurige, erschreckte Blick aus Mr. Arnulf Clemens'
-blauen Augen peinigt mich zuweilen fürchterlich. Die
-Strafe dafür, daß sein schützender Arm eine schwankende
-Mädchengestalt im Momente der Gefahr gehalten und an
-sich gedrückt, war wohl doch zu grausam?&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>So endete mein Abenteuer unter dem Niagara-Fall.
-Gehab' Dich wohl, amüsiere Dich gut bei unseren Freunden
-in Washington und schreibe gelegentlich einmal an</p>
-
-<p class="si">Deine kleine Schwester Terrie.</p>
-
-<hr />
-
-<p class="da"><a class="pagenum" id="page_092" title="92"> </a>
-Washington, den 10. November.</p>
-
-<p class="ml5">Meine liebe Terrie!</p>
-
-<p>Dein frommer Wunsch: amüsiere Dich gut bei unseren
-Freunden in Washington hat sich glänzend erfüllt. Die
-letzten Wochen brachten eine solche Fülle von Abwechselungen
-und interessanten Bekanntschaften, daß ich Dich um
-Dein spaßiges Niagara-Abenteuer wahrlich nicht beneide.</p>
-
-<p>Unsere guten Newtons sind Menschen, welche sehr
-hohe Achtung und große Liebe hier genießen, so daß jeder,
-der zum Besuche in ihrem Hause weilt, täglich mehr von
-dem Werte dieses vortrefflichen Ehepaars überzeugt wird.
-Mich verhätscheln sie fast wie ein Baby und sinnen nur
-immer darauf, mir neue Amüsements zu verschaffen. Daher
-werde ich so bald nicht heimkehren, und Du wirst für
-unseren guten Papa noch einige Zeit allein Sorge tragen
-müssen. Ach, Terrie, es ist so wundervoll, sich einmal
-von einem Mütterchen ein bißchen verwöhnen zu lassen und
-zu fühlen, daß&nbsp;...!</p>
-
-<p>Doch davon später!&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Dein allerliebstes Abenteuer unter dem Niagara,
-welches mich höchlichst amüsiert und meine prüde, schnell
-aufbrausende Terrie wieder einmal recht charakterisiert hat,
-sollte ein Nachspiel finden&nbsp;&ndash;; staune nur! Und das habe
-ich erlebt! Mich hatte das Schicksal auserkoren, die Sünden
-meiner herzlosen Schwester zu sühnen!</p>
-
-<p>Trotz der ziemlichen Entfernung zwischen Washington
-und New York, höre ich bei diesen Worten Dein Herz
-klopfen, &ndash; sehe auch deutlich, wie unruhig und ängstlich
-Deine Augen flackern. Allein Du mußt noch einige Minuten
-Geduld haben, mein teures Schwesterchen, und mich erst
-<a class="pagenum" id="page_093" title="93"> </a>
-in Ruhe über diese komischste aller irdischen Zufälligkeiten
-Bericht erstatten lassen.</p>
-
-<p>Es war bei einer reizenden <i>Tea-party</i> bei dem Präsidenten
-der Vereinigten Staaten. Schon hieraus magst Du
-ersehen, welch bevorzugtes Menschenkind ich bin, daß sogar
-die exklusiven, geheiligten Räume des weißen Hauses sich
-für mich geöffnet haben.</p>
-
-<p>Also: das glänzende Fest war bereits in vollem Gange,
-&ndash; übrigens wurde auch getanzt, &ndash; als aus den dichten
-Reihen der jüngeren Herren die Gestalt eines Mannes
-sich löste, welche sofort meine ganze Aufmerksamkeit in
-Anspruch nahm. Elegante Figur, &ndash; intelligentes Gesicht
-mit einer tiefen Narbe über der linken Backe, &ndash; schöne,
-geistvolle blaue Augen!</p>
-
-<p>Die schäumenden Wasser des Niagara-Falles, die
-safrangelbe Kapuze, meine halbohnmächtige, kleine Schwester
-und, &ndash; der Totengräber von New York, &ndash; das alles
-tauchte plötzlich zündend vor meinem Geiste auf.</p>
-
-<p>Eine Pause nach dem Tanze war eben eingetreten,
-und ich lehnte mich, ein wenig ermüdet, an einen der
-riesigen Gas-Kandelaber des Saales, das bunte, reizvolle
-Bild gedankenvoll überschauend. Wahrhaftig! Der bewußte
-Herr schreitet schnurstracks auf mich zu. Was sollte
-das wohl bedeuten? &ndash; Das Herz pochte mir zwar eben
-nicht; aber etwas Unruhe, oder vielmehr Unbehagen beschlich
-mich dennoch. Denn daß ich dem Mr. Arnulf
-Clemens, Privat-Docenten aus Berlin, gegenübertreten
-sollte, war zweifellos. Ebenso zweifellos aber erblickte er
-in mir die liebliche Nymphe des Niagara.</p>
-
-<p>Offen gestehe ich Dir ein, daß die frappante Ähnlichkeit
-mit Dir, welche bisher meinen Stolz und das Glück
-meines Lebens bedeutete, mir in diesem Momente zum
-<a class="pagenum" id="page_094" title="94"> </a>
-erstenmale peinlich wurde. Hatte der junge Mann den
-schändlichen Betrug entdeckt? Wohl sicher nicht, folgerte
-ich ziemlich richtig. Denn dann würde er in der Empörung
-seines Herzens Dich gewiß mit Verachtung gestraft und
-die frühere Begegnung völlig ignoriert haben.</p>
-
-<p>Nein! Ersichtlich war es ja, daß er jene flüchtige
-Bekanntschaft mit Dir zu erneuern wünschte, daß das
-lebhafte Interesse für meine boshafte kleine Schwester ihm
-rasch über alle etwaigen Bedenken hinweggeholfen. Warum
-soll die Tochter eines »Totengräbers« nicht eine reizende,
-feingebildete junge Dame sein, für welche ein feuriges
-Mannesherz sich begeistern kann, zumal, wenn man dieselbe
-auf dem Balle bei dem Präsidenten der Vereinigten
-Staaten antrifft? &ndash; Amerikanische Verhältnisse sind eben
-andere, als deutsche. So viel hatte Mr. Clemens sicher
-schon ausfindig gemacht während des hiesigen Aufenthaltes.
-Ich hätte sogar darauf schwören wollen, daß er, als er
-den heroischen Anlauf nahm, zu mir heranzutreten, hinter
-seiner klugen Stirn kombinierte und meinte, ein Totengräber
-in Amerika nähme mindestens die hohe Stellung
-eines deutschen Geheimrates ein. Und das besiegte entschieden
-die letzten Skrupel.</p>
-
-<p>Den vollendeten Kavalier verratend, indes nicht etwa
-mit einem tieftraurigen Blicke, verbeugte sich Mr. Arnulf
-Clemens vor mir und fragte artig: ob die Partie nach
-der Windhöhle mit all den großen Anstrengungen und
-Fatiguen auch keine üblen Folgen für mich gehabt? Und
-lächelnd setzte er hinzu:</p>
-
-<p>»Sie waren an jenem Morgen so schnell abgereist,
-daß ich gar nicht mehr Zeit gefunden, mich bei Ihnen zu
-verabschieden.«</p>
-
-<p>Was sollte ich thun? Irgend ein witziger, oder
-<a class="pagenum" id="page_095" title="95"> </a>
-wenigstens witzig sein wollender Mensch hat einmal geäußert,
-daß junge Mädchen im Alter von fünfzehn bis
-neunzehn Jahren in für sie kritischer Situation, selbst wenn
-ihnen das Weinen nahe sei, nichts klügeres thun könnten,
-als &ndash; immer nur lachen!</p>
-
-<p>Gut! Da ich eben erst neunzehn Jahre geworden
-bin, so lachte ich.</p>
-
-<p>Mein Lachen schien ihn jedoch noch mehr zu ermutigen.
-Denn mit einem schwärmerischen Aufschlage seiner schönen
-Augen fragte er weiter, ob der gemeinsame interessante
-Ausflug nicht doch sehr reizvoll und poetisch gewesen sei?
-Er selbst wäre seitdem wie von einem wunderbaren Zauberbanne
-umfangen. Sicherlich müßten Nixen und Geister
-der Tiefe in der Windhöhle ihr Wesen treiben.</p>
-
-<p>Nun war aber der Moment gekommen, ihn über die
-Täuschung, in der er schwebte, aufzuklären.</p>
-
-<p>»Sie irren, mein Herr!« entgegnete ich ebenfalls sehr
-höflich, doch glaube ich, daß mir dabei der Schalk um die
-Mundwinkel zuckte. »Meine Augen haben das große
-Schöpfungswunder, den Niagara-Fall, niemals geschaut.
-Meine Schwester war es, mit der Sie dort zusammengetroffen
-sind.«</p>
-
-<p>Fast ungläubig stutzte er und schien forschend meine
-Züge zu mustern, während Ärger und Verlegenheit deutlich
-über sein Gesicht huschten.</p>
-
-<p>»O, verzeihen Sie! Diese fabelhafte Ähnlichkeit, mein
-Fräulein! Ich konnte unmöglich ahnen&nbsp;...!« stieß er
-lebhaft hervor.</p>
-
-<p>»Wir sind auch Zwillings-Schwestern!« kam ich ihm
-mitleidig zu Hilfe.</p>
-
-<p>Darauf wollte er sich mir noch einmal in aller Form
-vorstellen; doch war ich so unbedacht, zu verraten, daß Du
-<a class="pagenum" id="page_096" title="96"> </a>
-mir von ihm bereits geschrieben, und er daher mir kein
-völlig Fremder sei. Merkwürdig strahlten bei dieser Nachricht
-seine blauen Augen auf. Ich glaube, Terrie, die
-Nixen der Tiefe haben es ihm gewaltig angethan.</p>
-
-<p>Die Musik rief jetzt zur Quadrille, zu der mich Mr.
-Clemens pflichtschuldigst aufforderte. Da indes genügend
-Paare vorhanden waren, und wir beide eben keine große
-Lust zum Tanzen verspürten, so behielten wir unseren Platz
-inne und plauderten weiter.</p>
-
-<p>Deine Beschreibung seines Äußeren paßt übrigens
-vollkommen; ich habe ihn auch sofort erkannt. Allein,
-wenn Du Dich gleich mir eine Viertelstunde mit ihm unterhalten
-hättest, würdest Du jene häßlichen Worte: »zudringlicher
-Patron« ihm im stillen abbitten. Ich finde Arnulf
-Clemens nicht nur liebenswürdig und charmant, sondern ich
-bin sogar überzeugt, daß er ein ganz vortrefflicher Mensch
-ist. Doch brauchst Du, wenn dieser Mann sich nicht von
-vornherein Deine vollste Ungnade zugezogen, Dir somit
-also höchst gleichgültig ist, nicht im geringsten auf mich
-eifersüchtig zu sein, aus Gründen, die ich Dir am Schlusse
-meines Briefes mitteilen werde.</p>
-
-<p>Rührend sprach er von seinem lieben, alten Mütterchen
-in der Heimat und von zwei jungen, unmündigen Brüdern,
-für die er arbeitet, und welchen eine Stütze zu sein, bisher
-seine Lebensaufgabe gewesen. Nach der Rückkehr von dieser
-Reise hoffe er eine Professur an einer hervorragenden
-Universität zu erlangen. Jedes Wort, das er sprach, ja
-sein ganzes Sein und Denken erschien so treuherzig, edel
-und wahr, daß es mich wirklich fast schmerzte, wie Du an
-diesem Manne frevelhaft Dein Mütchen hast kühlen können.
-O schäme Dich, böse Terrie!</p>
-
-<p>Gleich alten Bekannten plauderten wir zusammen, sodaß
-<a class="pagenum" id="page_097" title="97"> </a>
-er ganz vergessen zu haben schien, eine fremde junge
-Dame vor sich zu haben, und gewiß kaum mehr daran
-dachte, daß wir des »Totengräbers« Töchter seien. Um
-ein Haar wäre ich auch selbst bald aus der Rolle gefallen,
-indem ich unvorsichtigerweise äußerte: Du seiest seit drei
-Wochen mit Papa wieder in New York, da die Herbstferien
-zu Ende gegangen, und ersterer betreffs des Winter-Semesters
-sehr in Anspruch genommen würde.</p>
-
-<p>Der starre, fragende Blick des jungen Mannes brachte
-mich indes schnell zur Besinnung. Seine Stirne zog sich
-in Falten, und schweigend schaute er zu Boden. Offenbar
-mußte er darüber nachsinnen, wie komisch es klinge, daß
-auch Totengräber Ferienreisen unternähmen, oder ob die
-Sterblichkeit in Amerika wohl in Semester eingeteilt wäre.</p>
-
-<p>Herzlich gern hätte ich ihm jetzt gesagt, daß Du einen
-Scherz mit ihm getrieben, so leid that er mir in diesem
-Momente. Aber ich durfte Dich ja nicht gar zu sehr
-kompromittieren und wartete mithin eine günstige Gelegenheit
-ab, ihm die Wahrheit zu gestehen.</p>
-
-<p>»Nach den Mitteilungen Ihrer Fräulein Schwester ist
-der Beruf Ihres Herrn Vater ein ernster und schwerer?«
-warf er schüchtern und etwas unsicher ein.</p>
-
-<p>»Ernst wohl, aber nicht schwer, da Papa sich ihm mit
-Leib und Seele hingiebt, und die Passion alle Mühseligkeiten
-desselben überwindet,« entgegnete ich mit schlecht
-unterdrücktem Lächeln.</p>
-
-<p>Wieder sah er mich von oben bis unten fragend an.
-»Passion zum Totengräber!« mochte er wohl denken.</p>
-
-<p>»Sie, Mr. Clemens, müssen das doch am besten begreifen
-und verstehen,« &ndash; sprach ich inzwischen lebhaft
-weiter, &ndash; »daß ein Mann im Feuereifer des Studiums
-und Forschens, wie es Papa zuweilen thut, die lichte,
-<a class="pagenum" id="page_098" title="98"> </a>
-sonnige Gegenwart, &ndash; die Welt mit ihren Freuden und
-Genüssen völlig vergessen kann, um des &ndash; Verblichenen,
-&ndash; ja um des Staubes der Vergangenheit willen!«</p>
-
-<p>Das kluge Auge richtete sich einige Sekunden prüfend
-und beinahe streng auf mein lachendes Gesicht. Ohne Zweifel
-konnte er die innere Verbindung meines Ideenganges nicht
-finden.</p>
-
-<p>»Ich?« fragte er daher halb unwillig.</p>
-
-<p>»Nun ja! Sagten Sie mir nicht soeben, daß Sie
-Geologe seien? So ein klein wenig geistige Verwandtschaft
-besteht dann wohl zwischen Ihnen und Papa,« war
-meine heitere Antwort, indem ich fortwährend sein immer
-finsterer werdendes Gesicht beobachtete.</p>
-
-<p>»Ich weiß nicht, mein Fräulein, ob Sie Scherz mit
-mir treiben, oder ob ich selbst in einem argen Irrtume
-befangen bin?« sagte er in einem steifen, völlig veränderten
-Tone. »Denn alles, was Sie in den letzten fünf Minuten
-gesprochen haben, erscheint mir dermaßen unverständlich und
-rätselhaft, daß ich wirklich bitten muß, sich ein wenig deutlicher
-zu erklären!«</p>
-
-<p>»Aber, mein Gott, wie so denn? Was ist Ihnen
-nicht klar? Ich scherze wahrhaftig nicht!« rief ich in ungeduldiger
-Hast und Erregung.</p>
-
-<p>»Nicht?!« fragte er immer noch ungläubig. »Dann
-verzeihen Sie meine Indiskretion und sagen Sie mir,
-welche Stellung Ihr Herr Vater eigentlich bekleidet?«</p>
-
-<p>Jetzt pochte mein Herz wirklich. Allein in möglichster
-Unbefangenheit erwiderte ich:</p>
-
-<p>»Papa ist Professor der toten Sprachen an der
-Universität von New York.«</p>
-
-<p>»Ah!« Mr. Clemens war einige Schritte zurück
-<a class="pagenum" id="page_099" title="99"> </a>
-getreten und starrte, wie ein Mensch, der aus festem,
-gesunden Schlafe jäh aufgerüttelt wird, mich an.</p>
-
-<p>»Gewiß, mein Herr!« bestätigte ich mit stolzem Selbstgefühle.
-»Und einen Ruf besitzt Papa, der weit über die
-Grenzen von United-States hinausgeht!«</p>
-
-<p>»Ja&nbsp;&ndash;, aber mein Himmel! Dann muß ich Ihr
-Fräulein Schwester ganz und gar mißverstanden haben,«
-stotterte Mr. Clemens in höchster Verwirrung.</p>
-
-<p>Ein wunderbar glückseliger Ausdruck breitete sich mit
-einem Male über seine treuherzigen Züge, als er fortfuhr:</p>
-
-<p>»Sie sagte mir doch, daß&nbsp;...«</p>
-
-<p>»Wohl möglich,« unterbrach ich ihn herzlich lachend.
-»Doch wie kann man auch in nächster Nähe des Niagara-Falles,
-der, wie Terrie mir schrieb, solch ein Höllengetöse
-verursacht, daß der abgefeuerte Schuß einer Kanone ungehört
-verhallen würde, &ndash; wie kann man also dort jemanden
-recht verstehen?«</p>
-
-<p>In selige Träume und Erinnerungen versunken, nickte
-er nur mit dem Kopfe.</p>
-
-<p>»Terrie, Deine Ehre war gerettet!«&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Das also ist <em class="ge">meine</em> Begegnung mit Mr. Arnulf Clemens
-im Weißen Hause. Übrigens sagte er mir, ehe wir
-uns trennten, daß er in den allernächsten Tagen nach
-New York zu reisen und Euch aufzusuchen gedächte. Hüte
-Dich daher, kleine Schwester! Die Nixen der Windhöhle
-sind arge Neckteufelchen, die sich an allzu wißbegierigen
-Menschenkindern gar zu gerne rächen.</p>
-
-<p>Wie Du, Mr. Clemens gegenüber, Dich dann aus der
-Schlinge ziehen wirst: ob Du es bei dem »Mißverständnisse«
-bewenden lassen, oder ob Du lieber beichten willst,
-das werden die eigenen Gefühle Dir wahrscheinlich am
-besten sagen, meine Terrie!</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_100" title="100"> </a>
-Giebt es doch in der ganzen Welt nichts Unberechenbareres,
-Widerspruchsvolleres, als ein Mädchenherz. Man
-könnte wirklich Bücher darüber schreiben. Weißt Du noch,
-wie ich selbst immer über die Liebe gespöttelt und stets so
-übermütig &ndash; prahlerisch geäußert habe, daß dieser süße
-Dämon niemals Gewalt über mich bekommen würde? Wer
-solchen Ausspruch thut, ist &ndash; eine Närrin; denn&nbsp;...!</p>
-
-<p>Doch ich muß schließen; Mütterchen ruft nach mir,
-weil Gilbert Newton, der einzige Sohn des Hauses, ein
-junger Schiffs-Kapitän, der ein auffallend schöner Mann
-ist, soeben ankam, und ich ihn unterhalten soll. Wahrhaftig,
-Terrie, er ist der interessanteste Mensch, welcher
-mir jemals begegnete, &ndash; voller Geist und Feuer! Es
-leben die Amerikaner!</p>
-
-<p>Schreibe bald von Mr. Arnulf Clemens' Besuch und
-sei umarmt von</p>
-
-<p class="si">Deiner glücklichen Schwester Carrie.</p>
-
-<p class="mt2 ce">Nachschrift.</p>
-
-<p>Vielleicht kehre ich doch noch früher heim, als ich
-anfänglich gedacht, da Newtons beabsichtigen, selbst mich
-nach New York zurück zu bringen. Das wird ja ein herrliches
-Wiedersehen werden! Gut wäre es aber jedenfalls,
-wenn Du Papa langsam auf diesen unverhofften Besuch
-vorbereiten wolltest.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<hr />
-
-<p class="da">New York, den 20. November.</p>
-
-<p class="ml5">Du böse, liebe Carrie!</p>
-
-<p>Was hast Du da angerichtet? Zur Strafe für Deine
-Schwatzhaftigkeit sollst Du jedoch die Antwort auf Deinen
-<a class="pagenum" id="page_101" title="101"> </a>
-Brief heute nur in Form einer Depesche erhalten, welche
-wohl genügen dürfte, Dich über die Begebenheiten der
-letzten Tage aufzuklären. &ndash; Also:</p>
-
-<p>»Verratenes Inkognito! Mr. Clemens' Reise nach
-New York. Schüchterner Empfang und fieberhaftes Beben
-aller Glieder meinerseits. Wiederholte Besuche seinerseits.
-Niagara-Nixen begannen ihr Spiel. Unumwundene Beichte
-aller losen Streiche. Seliges Finden, &ndash; Verlobung! Es
-leben die Deutschen!</p>
-
-<p class="si">Deine Terrie.«</p>
-
-<p class="mt2 ce">Nachschrift.</p>
-
-<p>Arnulf schaut mir über die Schulter und findet diese
-lakonische Kürze meines Briefes fast beleidigend. Er läßt
-Dir daher sagen, daß er dem Feste im Weißen Hause und
-der witzigen Unterhaltung mit einer gewissen liebreizenden
-Blondine, die ein gütiges Geschick ihm als Schwägerin
-auserkoren, zwar viel, &ndash; sehr viel verdanke; aber jene
-unvergessene Stunde unter dem Niagara-Falle hätte es
-ihm nun einmal angethan, und würde er sich das Mädchen,
-welches damals so kindliche Hilfe suchend sich an seine
-Brust geschmiegt, zur Lebensgefährtin zu erringen getrachtet
-haben, auch wenn es &ndash; des Totengräbers Töchterlein
-geblieben!&nbsp;&ndash;</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_103" title="103"> </a>
-<span class="ge">Zahnschmerzen.</span></h2>
-
-
-<p><a class="pagenum" id="page_105" title="105"> </a>
-»<b>S</b>chneller Entschluß &ndash; guter Entschluß!« heißt es
-im alten Sprichwort. Ich möchte aber lieber sagen: »eine
-Laune« hatte mich im Jahre 1876 zur Weltausstellung
-nach Philadelphia geführt.</p>
-
-<p>Ein ziemliches Stück von Europa war ich bereits
-durchwandert; nur Amerika kannte ich noch nicht. Allerdings
-waren es keine besonderen Sympathien, die mich
-hinüber ins Land des allmächtigen Dollars zogen; aber es
-reizte mich, den Urtypus des Yankee gerade in dem Momente
-kennen zu lernen, wo die sonst kühl-materielle und
-egoistische Nation in vollster, ungeheuchelter Begeisterung
-über die Centennialfeier, das Bestehen ihrer hundertjährigen
-Freiheit, sich befand, wo ungeteilte Freude und Einigkeit
-herrschte und geherrscht hat &ndash; während der Julitage des
-Jahres 1876 in der Stadt der Bruderliebe.</p>
-
-<p>Eine weitschweifige Schilderung der wahrhaft überraschend
-großartigen Ausstellung im Fairmount-Park mit
-ihren tausend und abertausend Menschen aller Nationen
-abzugeben, liegt nicht in meiner Absicht. Genugsam ist
-darüber bereits geschrieben und gesprochen worden, obgleich
-bei uns in Deutschland dadurch nur ein geringeres Interesse
-<a class="pagenum" id="page_106" title="106"> </a>
-hervorgerufen wurde. Ausstellungen sind ja seitdem an
-der Tagesordnung.</p>
-
-<p>Nachdem ich die mir unglücklichem Neulinge tropenhaft
-erscheinende Gluthitze, die damals über Philadelphia
-lag, bis zur Erschlaffung durchkostet und alle die Qualen
-eines bei lebendigem Leibe Gebratenen erduldet hatte,
-langte ich nachmittags mit dem 4&nbsp;Uhr-Train, völlig abgespannt,
-in dem &ndash; wenigstens im Vergleich zu Philadelphia
-während der Exhibition &ndash; stilleren New York an.</p>
-
-<p>Wie die Gefilde des Elysiums erschienen meinen
-Blicken die schönen breiten Straßen und Avenues der
-Empire City, wo alles Ruhe und Ordnung atmete. Gott
-sei gelobt! Nun gab es kein Drängen, Stoßen, Schreien
-und Schimpfen, keine zerbrochenen Wagen und Gliedmaßen,
-keine vom Sonnenstich befallenen, armen Opfer mehr, wie
-ich das zur Zeit meines Aufenthalts in der Stadt der
-Bruderliebe genügend geschaut und wovon mein unerfahrenes
-deutsches Auge sich oft zornig oder auch hilfesuchend
-abgewandt hatte.</p>
-
-<p>Ein kühles, stilles Zimmer zu ungestörter Siesta in
-einem der prächtigen Hotels New Yorks, dann ein behagliches
-kleines Diner, in irgend einem lauschigen Winkel
-des Diningrooms &ndash; ein Fläschchen &ndash;&nbsp;&ndash; o nein, wir
-sind ja im Lande der Temperenzmen &ndash; eine Flasche erfrischenden
-Sodawassers &ndash; wie verlockend wirkte das
-alles nach stundenlanger Fahrt im durchgluteten Eisenbahn-Coupé!</p>
-
-<p>Allein solche Bilder hüpften und tanzten gleich boshaften
-Neckteufelchen vor meinem niedergedrückten und bekümmerten
-Geiste. Denn &ndash; ich litt an Zahnschmerzen!
-Bei 30&nbsp;Grad Reaumur im Schatten an schauderhaften,
-kaum erträglichen Zahnschmerzen!</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_107" title="107"> </a>
-Die körperlichen und geistigen Anstrengungen der
-letzten Tage, die von Stunde zu Stunde noch im Steigen
-begriffene, mir vollständig ungewohnte Hitze &ndash; das alles
-mußte meine Nerven und mein Blut in solche Aufregung
-und Wallung versetzt haben, daß dieses leidige Übel, wovon
-ich seit meinen Jugendjahren kaum mehr geplagt worden
-war, mich mit so unbarmherziger Gewalt gepackt hatte.
-Wer kennt sie nicht &ndash; all' die Folterqualen und Torturen
-endloser, durch nichts zu besänftigende Zahnschmerzen?!</p>
-
-<p>In New York angekommen, raste ich, unter Zurücklassung
-des Gepäcks, wie ein Besessener vom Bahnhof nach
-einer in der Nähe gelegenen Apotheke. Mit meinem etwas
-unverständlichen Englisch, jedoch mit für jedermann desto
-verständlicheren Gesten nach der linken Backe vermochte ich
-mein Elend zu offenbaren, und lächelnd wurde mir für
-25&nbsp;Cents eine winzige Phiole eingehändigt, welche die
-verheißungsvolle Aufschrift: »<i>immediatly</i>« (augenblicklich)
-trug.</p>
-
-<p>O trostreiches, süßes Wort! Am liebsten wäre ich
-dem unbekannten Retter, dessen Hand mir diesen Schatz
-entgegenreichte, um den Hals gefallen. Doch halt! Mein
-kühles deutsches Blut bewahrte mich vor einer Übereilung.
-Erst probieren!</p>
-
-<p>Gewiß &ndash; das Wundermittel half &ndash; aber nur für
-einen »Augenblick«, ganz der Überschrift entsprechend.
-Dann kehrten die wütenden Schmerzen mit doppelter Gewalt
-zurück. Zornig das Fläschchen beiseite schleudernd,
-verlangte ich nun rasch ein anderes Medikament und wankte
-schließlich, die Tasche voll Opiumpillen, spanischer Fliege
-und Kampfer, rat- und mutlos auf die Straße, um von
-der Apotheke bis zum ersten besten Hotel die unerquickliche
-philosophische Betrachtung anzustellen, warum eigentlich der
-<a class="pagenum" id="page_108" title="108"> </a>
-weise Schöpfer uns ohnedies geplagten Erdenkindern zum
-Überfluß auch noch Zähne gegeben hat? Alle Dichter und
-Schriftsteller verwünschte ich, die jemals über: »zwei
-Reihen Perlen zwischen rosigen Lippen«, oder: »blendende
-Elfenbeinzähnchen« gereimt und gefabelt hatten. Alles das
-ist bittere Ironie.</p>
-
-<p>An Speise und Trank war unter solch' kümmerlichen
-Verhältnissen natürlich nicht zu denken. Nachdem ich nur
-notdürftig Gesicht und Hände vom Eisenbahnstaube gesäubert
-hatte, bestieg ich den nächsten Tramwaywagen, bezahlte
-meine fünf Cents und fuhr hinaus nach dem
-Centralparke, weil ich zunächst und vor allem das Bedürfnis
-hatte nach reiner, frischer Luft, nach absoluter
-Ruhe. Fern vom Geräusche der Großstadt, ungestört von
-jedem mich belästigenden Blicke aus teilnehmenden oder
-neugierigen Augen &ndash; wollte ich dort oben in der Einsamkeit
-mein Elend zu vergessen suchen. Zumal lockte der
-prächtigste Sommerabend hinaus ins Freie. Endlich &ndash;
-endlich mußte ja doch dieser böse Plagegeist ein menschliches
-&ndash; Unsinn! ein Geist empfindet nie ein menschlich
-&ndash; sagen wir also: ein himmlisches Rühren fühlen oder
-seiner boshaften Mucken überdrüssig werden.</p>
-
-<p>Erfrischender Waldgeruch und würziger Blumenduft
-schlugen mir entgegen. In langen Atemzügen sog ich den
-klaren Äther in mich ein. Wohlweislich die wenig frequentierten
-Wege suchend, gelangte ich nach etwa halbstündiger
-Wanderung in den oberen, romantischeren Teil des Parkes,
-wo Mutter Natur mehr gethan, als künstlerisches Schaffen
-und Geldaufwand zu thun im stande gewesen. Erschöpft
-und schon halb verzweifelt ließ ich mich dort auf eine
-Bank nieder und stöhnte laut.</p>
-
-<p>Lachen Sie nicht, meine schönen Leserinnen! Warum
-<a class="pagenum" id="page_109" title="109"> </a>
-soll ein alter Junggeselle nicht einmal laut stöhnen, selbst
-wenn er nicht vom Zahnweh geplagt wäre? Hat doch
-gerade er am meisten Ursache dazu. Keine weiche Hand
-streichelt ihm zärtlich die Wange, kein rosiger Mund spricht
-liebevolle Worte oder flüstert ihm tröstend zu, nur nicht
-ungeduldig zu werden und hübsch auszuharren! Zwar habe
-ich nie ein sehr liebebedürftiges Herz besessen; aber in
-diesem Momente fühlte ich wieder so recht allen Jammer
-und alle Hilflosigkeit meines Junggesellentums! Eine resolute
-Ehefrau würde auch vielleicht ausgerufen haben:
-»Genug jetzt des grausamen Spieles; geschwind in eine
-Droschke mit Dir und zum Zahnarzt! Der Missethäter
-muß ausgezogen werden!«</p>
-
-<p>Ja, gewiß lobe und erkenne ich jeden gütigen Rat
-an, bin überhaupt windelweich geworden seit gestern, besonders
-gegen das schöne Geschlecht, opponiere nie mehr!
-Doch wenn man zwischen Fünfzig und Sechzig steht, außerdem
-mit Kauwerkzeugen nur mehr dürftig versorgt ist und
-diese wenigen sich des Gebrauchs halber noch einige Zeit
-erhalten möchte, da ist so eine Parforcekur wohl zu erwägen.</p>
-
-<p>Also laut stöhnend, stützte ich den Kopf in die linke
-Hand und starrte in stummer Resignation auf den Kiesweg
-vor mir. Oder hatte die so natürliche physische Erschöpfung
-doch vielleicht für ein Weilchen mir die Augen
-geschlossen &ndash; ich weiß es nicht zu sagen. Besserung
-wenigstens verspürte ich nicht; denn plötzlich fuhr ich jäh
-empor. Ein dunkler Schatten war auf den Weg gefallen,
-und ich hatte das unbestimmte Gefühl, daß jemand vor
-mir stand.</p>
-
-<p>Ja, vor mir standen wirklich zwei Personen. Aber
-um alles in der Welt, wer war das nur? &ndash; Mehrere
-<a class="pagenum" id="page_110" title="110"> </a>
-Sekunden stierte ich mit fast blödem Ausdrucke in ein
-hageres braunes Antlitz, aus dem mir ein Paar merkwürdig
-sprechende Augen entgegenblitzten. Eine Frauengestalt
-mit einem Kinde war es; allein deren Erscheinung
-schien so durchaus originell, so frappierend, daß die angeborene
-deutsche Höflichkeit mir völlig abhanden kam und
-ich nicht einmal aufstand, den Hut zu lüften. Demungeachtet
-merkte ich, wie diese Gestalt sich etwas zu mir herabbeugte
-und halb teilnehmend fragend, halb bedauernd
-äußerte:</p>
-
-<p>»Zahnschmerzen, Sir?«</p>
-
-<p>Welch' guter Geist leitete mich nur in diesem Momente,
-daß ich, anstatt die Ruhestörerin schroff abzuweisen, ihr
-vielmehr offenherzig erwiderte:</p>
-
-<p>»Ganz fürchterliche, Madame!«</p>
-
-<p>»O, da wollen wir sofort Linderung oder Hilfe
-schaffen,« sagte die volle, merkwürdig tiefe Frauenstimme
-in fließendem, dabei jedoch eigenartig accentuiertem Englisch.
-Auch wurde das mit solcher Bestimmtheit gesprochen,
-als ob die Abhilfe so schnell und leicht zu bewerkstelligen
-wäre, wie man jemandem ein Stäubchen vom Rockkragen
-entfernt.</p>
-
-<p>In sprachlosem Erstaunen, wahrscheinlich mit einem
-recht einfältigen Gesichte, blickte ich noch immer zu der
-seltsamen, wunderbaren Figur empor. Aber da saß sie
-auch schon dicht neben mir und suchte eifrig in den Falten
-ihres Kleides.</p>
-
-<p>Trotz der mich noch immer peinigenden Schmerzen
-folgte ich in steigendem Interesse jeder ihrer behenden Bewegungen.
-Jetzt träufelte sie eine helle Flüssigkeit aus
-einem Fläschchen auf etwas Baumwolle und reichte mir
-diese zu.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_111" title="111"> </a>
-»Hier, Sir! Nun schnell ans Werk! Bezeichnen Sie
-mir den Übelthäter und Sie werden wie neugeboren sich
-fühlen,« meinte sie scherzend, indes im Tone unverkennbarer
-Überlegenheit und hohen Selbstbewußtseins.</p>
-
-<p>Einen Moment zögerte ich. Der scharfe, fast stechende
-Blick des dunklen Auges machte mich unsicher.</p>
-
-<p>»Nun, glauben Sie vielleicht, ich wolle mir nur
-einen Spaß mit Ihnen erlauben?« fragte sie jetzt herb.
-»Haben Sie denn in New York noch nichts von Mary
-Powl gehört?«</p>
-
-<p>»Mary Powl? &ndash; Nein!« stotterte ich zaghaft. Aber
-halb getröstet und rasch entschlossen, machte ich den Mund
-auf und ließ sie gewähren.</p>
-
-<p>Mehrere Minuten vergingen unter tiefstem Schweigen.
-Dann sprang ich wie elektrisiert mit jugendlicher Lebhaftigkeit
-von der Bank empor.</p>
-
-<p>»Donnerwetter, Blitz Element! Wo sind denn&nbsp;&ndash;?«</p>
-
-<p>»Pst, pst, noch einige Sekunden Ruhe!« unterbrach
-sie mich besänftigend, dabei lächelnd, so daß ihre gesunden
-Zähne zwischen den Lippen sichtbar wurden. »Wo sind
-Ihre Zahnschmerzen &ndash; wollten Sie fragen &ndash; nicht wahr?
-Die sind abgethan und hoffentlich für eine lange Weile.
-So, jetzt gestatte ich Ihnen, auch wieder zu sprechen, mein
-Herr! Das heißt, wenn es Ihnen Vergnügen macht, sich
-einige Minuten mit mir zu unterhalten.«</p>
-
-<p>In wirklich tief empfundenen Dankesgefühlen hatte
-ich ihre braune, unbehandschuhte, jedoch zarte Hand ergriffen
-und drückte sie kräftig.</p>
-
-<p>»Sind Sie Zauberin, Fee oder ein leibhaftiges Menschenkind?«
-fragte ich mit vor Erregung zitternder Stimme.
-Ein wohliges Gefühl rieselte durch meine Adern. Wahrhaftig
-&ndash; sie hatte recht, wie neugeboren erschien ich mir.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_112" title="112"> </a>
-»Mary Powl,« erwiderte sie einfach.</p>
-
-<p>»Aber, mein Gott, wie kommen Sie dazu, einem
-Ihnen gänzlich Fremden solchen Liebesdienst zu erweisen?
-Erlauben Sie, Madame, daß ich mich Ihnen vorstelle, mein
-Name ist&nbsp;...«</p>
-
-<p>»O, lassen Sie Ihren Namen, den ich jedenfalls doch
-nicht aussprechen kann! Sie sind ein Deutscher und das
-genügt mir.«</p>
-
-<p>Ein stolzes Emporwerfen des Kopfes begleitete ihre
-Worte.</p>
-
-<p>Schnell hatte ich mich an ihre Seite wieder niedergelassen
-und war jetzt im stande, die sonderbare Erscheinung
-mit Ruhe und Muße zu betrachten.</p>
-
-<p>Das Kind, anscheinend ein Knabe von elf bis zwölf
-Jahren, lehnte gleichgültig dreinschauend und mit einem
-melancholischen Ausdruck in dem fast kupferfarbigen mageren
-Gesichtchen neben der Bank, auf welcher wir saßen. Ihre
-auffallende, höchst bunte Tracht mußte jedenfalls eine Art
-Nationalkostüm repräsentieren. Denn um am helllichten
-Tage in New York in einem Maskenanzuge umherzuziehen,
-dem widersprach das ganze Wesen und Auftreten der sonderbaren
-Frau.</p>
-
-<p>Ein kornblumenblauer faltiger Rock mit breiter roter
-Borde bildete das Untergewand, worüber ein langer,
-weißer, grobgewebter Mantel fiel, ähnlich dem Stoffe, den
-in Mähren die Hannaken über den Schultern tragen. In
-malerischen Falten, den schlanken doch kräftig gebauten
-Oberkörper nur zum Teil verhüllend, drapierte sich derselbe
-über ihrer Figur. Das glatte, pechschwarze, in der Mitte
-gescheitelte Haar war zur Hälfte von einem grünlich
-schillernden Seidentuche bedeckt. Um den Hals und über
-die Brust wanden sich mehrere Schnüre bohnengroßer,
-<a class="pagenum" id="page_113" title="113"> </a>
-dicht aneinander gereihter Goldkörner, während an einem
-breiten, ziemlich primitiven Ledergurte ein kurzes, in roher
-Scheide ruhendes Dolchmesser herabfiel.</p>
-
-<p>Ihre Gesichtszüge waren hager, hart und eckig, verrieten
-indes noch Spuren einstiger Reize. Ganz besonders
-aber waren es die Augen in stets wechselndem Ausdrucke,
-welche, bald wild flammend, bald herzgewinnend freundlich,
-mein Interesse an der merkwürdigen Frau noch besonders
-erhöhten.</p>
-
-<p>In gleich phantastischer Weise war auch das Kostüm
-des Knaben, dessen Anzug viel Ähnlichkeit mit dem eines
-jungen Hochländers verriet. Nur bildeten Mokassins die
-Fußbekleidung, und eine Art Toque mit wehender Adlerfeder
-zierte das dunkle, nicht uninteressante Köpfchen.</p>
-
-<p>Stillschweigend, aber keineswegs gekränkt, hatte sie
-meine scharfe Musterung über sich wie das Kind ergehen
-lassen, ja sie schien durch dieselbe beinahe belustigt. Denn
-sie brach das Schweigen plötzlich mit den heiteren Worten:</p>
-
-<p>»Sie sind ein völlig Fremder hier in New York, wie
-ich sehe, Sir?«</p>
-
-<p>»Ja, Madame! Nur um die Weltausstellung zu besichtigen,
-bin ich herübergekommen. Meine staunenswerte
-Unkenntnis über den Namen Mary Powl ließ Sie das natürlich
-sogleich vermuten. Jedenfalls hat dieser Name hier
-einen hohen und berühmten Klang. Daher segne ich den
-Zufall &ndash; oder vielmehr meine Zahnschmerzen, die mir
-Ihre interessante Bekanntschaft verschafften,« entgegnete ich
-mit feiner Galanterie, indem ich mich leicht verneigte.</p>
-
-<p>Wieder warf sie so eigenartig stolz und herausfordernd
-den Kopf in den Nacken und flüsterte, träumerisch in die
-Leere starrend:</p>
-
-<p>»O nein, weder berühmt noch hoch! Einst wohl war
-<a class="pagenum" id="page_114" title="114"> </a>
-er das beides. Aber dieses einst ist begraben. Hier betrachtet
-man mich als Original &ndash; als letztes Überbleibsel
-eines ehemals mächtigen Irokesenbundes von draußen am
-herrlichen Genesee-Thale im westlichen Staate New York.
-Den Kultus, den ich noch immer mit dem Andenken
-früheren Glanzes, mit den teuren Erinnerungen des so bald
-dahingeschiedenen Gatten &ndash; eines stolzen Häuptlings &ndash;
-treibe, nennen die poesielosen Amerikaner überspannte Phantastereien.
-Allein man läßt mich gewähren. Ist doch Mary
-Powl, die Indianer-Squaw, völlig harmloser Natur. Die
-Leute in den Straßen und die Fremden schauen ihr wohl
-neugierig oder herausfordernd nach, ja, die Schulbuben
-lachen über sie und ihren Sohn &ndash; was thut das! Mary
-Powl hat anderen, tieferen Schmerz erfahren und geduldig
-hinnehmen müssen &ndash; den nie sterbenden Gram über das
-Herabsinken, das Niedergehen einer großen, herrlichen
-Nation!«</p>
-
-<p>Aufs höchste interessiert, lauschte ich diesen mit monotoner
-Stimme vorgetragenen Worten und entgegnete nur
-wie schüchtern tröstend:</p>
-
-<p>»Aber es giebt doch noch viele Indianer Ihres
-Stammes. Wenngleich, so viel ich hörte, die einstigen
-Irokesenbunde teilweise aufgelöst und deren Glieder in
-verschiedene Gegenden zerstreut worden sind, so leben doch gerade
-hier, im Staate New York, von denselben noch genug und
-führen als angesehene Männer unter den Amerikanern ein
-einträgliches, friedliches Dasein.«</p>
-
-<p>Abwehrend und verächtlich schüttelte sie das Haupt.</p>
-
-<p>»Seit sie ihren Tomahawk vergraben und den Glauben
-der Weißen angenommen, hat Omäneo, der große Geist,
-von ihnen sich abgewendet. Die Amerikaner haben den
-Fuß auf den Nacken der roten Männer gesetzt. Nicht
-<a class="pagenum" id="page_115" title="115"> </a>
-Herren sind sie mehr in diesem Lande, nur erbärmliche
-Knechte!«</p>
-
-<p>Tiefe Bitterkeit klang bei dieser Rede durch der Indianerin
-Stimme, während sie wie schützend den einen Arm
-um des Knaben Schulter legte und fort fuhr:</p>
-
-<p>»Kinder eines Vaters &ndash; so lehrt das Christentum!
-Allein, sind wir das wirklich? Diese Frage drängt sich
-immer von neuem vor meine Seele. Ihr Deutschen befolget
-Gottes Gebot: ›Liebet euren Nächsten!‹ im schönsten,
-reinsten Sinne des Wortes, Ihr sehet in uns &ndash; den Farbigen
-&ndash; den Bruder. Nicht so der Amerikaner, dessen
-Brust der unbegründete, bittere Erbhaß erfüllt, ja der ungerecht
-und hart ist &ndash; oft bis zur Grausamkeit.«</p>
-
-<p>»Und dennoch wählten Sie Ihren Wohnsitz mitten
-unter ihnen?« fragte ich, die Witwe des Irokesenhäuptlings
-betrachtend.</p>
-
-<p>Sie deutete auf den Knaben.</p>
-
-<p>»Es ist nur um seinetwillen! Iron Hand (die eiserne
-Hand) soll einst das reiche Wissen und die Gelehrsamkeit
-der weißen Männer mit dem Verstande und dem Mutterwitz
-seines Stammes verbinden. Meine Lebensaufgabe besteht
-einzig noch darin, seine Studien zu überwachen, für
-ihn zu arbeiten und das Vermögen, welches sein teurer,
-tapferer Vater ihm hinterlassen, zu verdoppeln &ndash; zu verdreifachen!
-Mein Sohn soll Medizin studieren,« setzte sie
-mit einem Blick voll Stolz und Zärtlichkeit hinzu.</p>
-
-<p>Ich vermochte ein Lächeln nicht zu unterdrücken, und
-ihr scharfer Geist mußte meinen Ideengang erraten haben,
-denn sie sagte schnell:</p>
-
-<p>»Nun ja! Ich selbst pfusche den Ärzten so ein klein
-wenig ins Handwerk. Mein großes Interesse an der Heilkunde
-hat mir schon manche trübe, einsame Stunde erhellt
-<a class="pagenum" id="page_116" title="116"> </a>
-Ich schöpfe nur aus der Natur, kenne deren geheimnisvolle
-Kräfte, und meine Mittel helfen zuweilen besser, als
-die der hochgelehrten Herren dort drüben in der City.«</p>
-
-<p>Freudig zustimmend nickte ich mit dem Kopfe. Einen
-Moment schaute sie mich scharf und prüfend an; dann rief
-sie lebhaft:</p>
-
-<p>»Besuchen Sie mich, Sir! Ich sehe, Sie sind ein
-welterfahrener, edeldenkender Mann, der die Vorurteile des
-Kastengeistes von sich abgestreift hat, dessen Gesichtskreis
-unbegrenzt ist. Mit solchen Menschen verkehre ich gern;
-ihnen zeige ich mich auch von einer anderen Seite, als
-wie der übrigen Welt, die in Mary Powl nur ein halb
-verrücktes weibliches Original sieht. <i>All right!</i> Sie
-kommen?«</p>
-
-<p>Mit wirklich anmutigen Bewegungen, jedoch ohne jede
-Spur von Koketterie, und mit herzgewinnendem Lächeln
-reichte sie mir die Hand entgegen.</p>
-
-<p>»Gewiß, Madame! Mit dem allergrößten Vergnügen,«
-erwiderte ich, ihre Rechte herzlich drückend.</p>
-
-<p>Diese Frau gefiel mir. Es lag so viel Urwüchsigkeit,
-so viel angeborene Vornehmheit in ihrem Wesen, nebenbei
-sprach aus jedem ihrer Worte Geist und tiefes Denken,
-so daß für mich in dem freundlichen Anerbieten ein eigener
-Reiz lag und ich mir interessante Stunden und Erinnerungen
-von diesem Besuche versprach. Mary Powl nannte mir
-ihre Adresse. Darauf schaute sie nach der im Sinken begriffenen
-Sonne und erhob sich.</p>
-
-<p>»Und wie soll ich meiner gütigen Helferin aus jenem
-unerträglichen Zustande danken?« fragte ich, indem ich fast
-ehrfurchtsvoll den Hut vor ihr zog.</p>
-
-<p>»Damit, daß Sie dieser Stunde ein Andenken bewahren,
-mein Herr!« war die ernste Antwort.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_117" title="117"> </a>
-Sie nahm den Knaben wieder an die Hand, neigte
-leicht den Kopf und ging.</p>
-
-<p>Tief gedankenvoll blickte ich der fremdartigen Erscheinung
-nach, bis der leuchtende weiße Mantel hinter
-dem Gebüsch verschwunden war. Der endlose Park breitete
-sich wieder totenstill vor mir aus. Die Spatzen &ndash; andere
-Vögel vermag dieser nicht aufzuweisen &ndash; hüpften zutraulich
-über den Weg, als ob, seitdem ich auf der einsamen
-Bank mich niedergelassen, nichts die feierliche Ruhe ringsum
-gestört hätte. Sollte ich die letzte halbe Stunde wirklich
-nur geträumt haben, oder war die reizvolle Scene
-einzig nur meinem erregten Geiste entsprungen? Auch die
-nüchterne Phantasie eines alten Junggesellen erlaubt sich
-zuweilen eine Verirrung. Plötzlich jedoch lachte ich herzlich
-auf. Die Zahnschmerzen &ndash; fort waren sie zweifellos;
-o Glück! Dieses wonnige Bewußtsein war kein Traum!</p>
-
-<p>Ein eigentümliches, höchst prosaisches Gefühl in der
-Magengegend verscheuchte indes bald alle poesiereichen Gedanken.
-Jetzt verursachte mir die Aussicht auf ein gutes
-Diner ein angenehmes Behagen. Wer auch wollte mir das
-verdenken! War doch seit meiner Abreise aus Philadelphia
-kein Bissen über meine Lippen gekommen. &ndash; Eine halbe
-Stunde später saß ich bei Delmonico, und trotz aller Ehrfurcht
-und Hochachtung vor der weisen Einrichtung des
-Temperenzgesetzes stand eine Flasche »<i>veuve Cliqot</i>« vor
-mir im Eiskühler. Gern nahm ich am heutigen Tage
-solche Sünde auf mein Gewissen. Das erste Glas galt
-ihr. Es lebe Mary Powl, die Indianer-Squaw!&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Die Vormittagsstunden des nächsten Tages verbrachte
-ich mit planlosem Umherstreifen in der großen Hauptstadt
-der Union. Was mir darin am charakteristischsten dünkte,
-das war jenes Hinauf- und Hinunterhetzen &ndash; anders läßt
-<a class="pagenum" id="page_118" title="118"> </a>
-es sich kaum bezeichnen &ndash; am Broadway. Weder in Paris
-noch in London ist mir derartiges Jagen je wieder vorgekommen.
-Millionen gewonnen &ndash; Millionen verloren
-&ndash; alles geschieht dort drüben in fast ängstlicher Hast!
-Wer das ganze bunte Bild vom objektiven Standpunkte
-aus betrachtet, dem erscheint es wirklich ergötzlich.</p>
-
-<p>Endlich zeigte die Uhr die vierte Nachmittagsstunde
-&ndash; die Zeit, welche Mary Powl mir zum Besuche bestimmt
-hatte.</p>
-
-<p>In einer ziemlich entlegenen Gegend &ndash; weit über die
-8.&nbsp;Avenue hinaus &ndash; lag ihre Wohnung, und ich muß
-offen gestehen, daß eine gewisse Unruhe oder auch Neugierde
-mir die Pulse rascher schlagen ließ. Denn obwohl
-ich schon manches im Leben gesehen und kennen gelernt
-hatte &ndash; in die inneren Verhältnisse einer Indianer-Häuslichkeit
-war mein Blick noch nicht gedrungen. Einen Wigwam
-erwartete ich im Mittelpunkt der City of New York
-selbstverständlich nicht; allein ich konnte &ndash; mit Rücksicht
-auf Mary Powls Äußeres und deren romantisches Vorleben
-&ndash; auf außergewöhnliche interessante Entdeckungen
-schließen. Da sie ja von dem ererbten Vermögen ihres
-tapferen Gemahls gesprochen, so durfte ich annehmen, daß
-sie pekuniär in guten Verhältnissen lebe.</p>
-
-<p>Die Hitze war aufs neue drückend, so daß ich mir
-ein Cab nahm, um rascher mein Ziel zu erreichen. Das
-Haus, wohin dasselbe mich führte, kam mir auf den ersten
-Blick allerdings nicht sehr elegant vor. Eines jener <i>Tenement
-houses</i> &ndash; oder wie wir es bezeichnen würden:
-eine Mietkaserne war es, wie dergleichen in New York
-Leute bewohnen, welche nicht in der Lage sind, für sich ein
-Haus allein zu mieten, es aber vorziehen, eigene Menage
-zu führen, anstatt sich bei anderen in <i>board</i> (Kost) zu
-<a class="pagenum" id="page_119" title="119"> </a>
-geben. Immerhin deutete das Innere des Gebäudes auf
-große Sauberkeit und Accuratesse. Die Stiegen waren mit
-Wachstuch bekleidet und die Scheiben der hohen Flurfenster
-blitzten förmlich in der Sonne. Rasch entschlossen klopfte
-ich an die mir genau bezeichnete Thür, weil die Wohnung
-keinen verschlossenen Vorsaal nebst Klingelzug aufwies.</p>
-
-<p>Im selben Augenblicke steckte auch schon ein wollhaariges
-Negermädchen den Kopf heraus und fragte
-mürrisch nach meinem Begehr. Ihr meine Karte überreichend,
-erwiderte ich, daß Mrs. Powl mich erwarte.</p>
-
-<p>Schon nach wenigen Sekunden kehrte die Dienerin
-zurück und öffnete mir schweigend die Pforten des geheimnisvollen
-Tuskulums. Moderne Möbel &ndash; moderne
-Teppiche und Fenstervorhänge &ndash; boten sich meinen überraschten
-Blicken dar.</p>
-
-<p>Den ersten Augenblick überkam es mich gleich einem
-Gefühl der Enttäuschung. Nichts, auch nicht der kleinste
-Gegenstand entsprach hier dem Bilde, das ich mir von dem
-<i>home</i> Mary Powls gemacht hatte. Fast ärgerlich ließ ich
-fast alles in dem Gemache Revue passieren. Also nur mit
-leeren Worten, und vielleicht mit den paar bunten Lappen,
-die ihre Toilette ausmachten, blieb sie dem Andenken an
-die einstige Berühmtheit ihres Stammes treu? Von einem
-Kultus hatte sie gesprochen, den sie mit den Erinnerungen
-an die ihr teure Vergangenheit trieb &ndash; und das geschah
-hier in dieser, der Erscheinung der Indianerin so gänzlich
-widersprechenden Umgebung? Alles Anziehende, jeder Reiz
-dieses Besuches ging für mich völlig verloren.</p>
-
-<p>Sicher mußte ich demnach auch darauf gefaßt sein, sie
-selbst in moderner Toilette, mit einer unmöglichen Haarfrisur,
-das dunkle Bronzegesicht von einem Lockengekräusel
-umrahmt, erscheinen zu sehen! Lächerlich! Wie konnte ich
-<a class="pagenum" id="page_120" title="120"> </a>
-doch nur so unüberlegt und einfältig sein, mich hier anlocken
-zu lassen? Möglicherweise lief die ganze Geschichte
-auf einen echt amerikanischen Humbug, eine fein angelegte
-Schwindelei hinaus! Die schlaue Person witterte sicher in
-mir einen grünen Deutschen. Wie oft hört und liest man
-doch von solch' gründlich gerupften Vögeln &ndash; von Mord
-&ndash; von unheimlichem Verschwinden in New York! Unwillkürlich
-drückte ich die Hand auf die auf meiner Brust
-ruhende Barschaft und schaute mich halb forschend, halb
-ängstlich um.</p>
-
-<p>Das Negermädchen hatte das Zimmer wieder verlassen.
-Da erhob sich plötzlich ein schwerer, dunkler Thürvorhang
-und &ndash; Mary Powl stand genau im nämlichen
-Anzuge, wie sie mir im Parke begegnet, nur ohne den
-weißen Mantel, mir gegenüber. Ernst und ruhige Würde,
-dabei wieder jene kühl herablassende Vornehmheit, sprachen
-aus der ganzen Erscheinung. Ein Seufzer der Erleichterung
-entschlüpfte meiner Brust, und fast beglückt schritt ich
-ihr entgegen.</p>
-
-<p>»Ich freue mich, daß Sie Wort gehalten haben, Sir!«
-sagte sie, mir näher tretend, mit dem monotonen, etwas
-schwermütigem Tonfall in der Stimme, indem sie mir,
-gleich einem alten Bekannten, die Hand reichte. »Ich habe
-mich viel mit Ihnen beschäftigt seit gestern und darüber
-nachgedacht, daß ihr Deutschen doch ein beneidenswert
-glückliches Volk seid!«</p>
-
-<p>»Woraus schließen Sie das, Madame?« fragte ich
-lächelnd, voll Interesse das dunkle Gesicht anschauend,
-welches mir heute weniger eckig und in dem Momente, wo
-die brennenden Augen in Begeisterung flammten, eher anziehend
-erschien.</p>
-
-<p>»O, ich lese ja Zeitungen!« rief sie, den Kopf selbstbewußt
-<a class="pagenum" id="page_121" title="121"> </a>
-emporwerfend. »Sie sind Preuße? Ich kenne sie
-alle, eure großen tapferen Männer,« &ndash; fuhr sie lebhaft
-fort &ndash; »den greisen Kaiser William, Bismarck, Moltke!
-Das heißt, ich kenne ihre Namen auf dem Papier. In
-Wirklichkeit wird mein Auge sie wohl niemals schauen.«</p>
-
-<p>»Das zu erreichen, liegt ja nur an Ihnen,« erwiderte
-ich verbindlich, den mit vornehmer Handbewegung mir angebotenen
-Platz einnehmend. Sie hatte sich gegenüber gesetzt
-und die schlanken braunen Finger im Schoß gefaltet.
-»Entschließen Sie sich zu einer Reise nach Berlin, Madame!
-Das würde Ihnen eine reizvolle Zerstreuung und
-Abwechslung gewähren.«</p>
-
-<p>»Damit ich dann &ndash; nach meiner Rückkehr &ndash; mich
-um so unglücklicher in Verhältnissen fühlen würde, in
-denen zu leben ich doch angewiesen bin. O nein, Sir!
-So lange mein Sohn sein Ziel noch nicht erreicht hat,
-wanke ich nicht von diesem Platze.«</p>
-
-<p>Ich mußte ihr beipflichten.</p>
-
-<p>Darauf fragte sie mich nach meiner Lebensstellung
-und meinem Berufe, und als ich ihr gesagt, ich sei Schriftsteller,
-sah sie mich fast scheu und ehrfurchtsvoll von der
-Seite an und meinte befangen, sie hätte sich einen Mann
-der Feder ganz anders vorgestellt. Da mußte ich nun viel
-erzählen über deutsche Zustände und Sitten; über Litteratur
-und Geschichte sprachen wir, und ich gestehe offen, daß
-ihr, wenn auch nicht gerade reiches Wissen, so doch ihr
-richtiges Urteil, ihre Kenntnis von Dingen, die man ihr
-kaum zugetraut, mich wahrhaft überraschten. Freilich wohl
-zwangen mir die oft kindlich naiven Fragen hin und
-wieder auch ein Lächeln ab. Aber ich erinnerte mich
-dann schnell, mit wem ich die Unterredung führte. Jedenfalls
-stand dieselbe, was Originalität und Unterhaltung
-<a class="pagenum" id="page_122" title="122"> </a>
-anlangte, keiner von jenen mit irgend einer deutschen Dame
-eingegangenen nach.</p>
-
-<p>Auch Mary Powl erzählte mir von ihrer Kindheit
-und Jugend, von dem kurzen Glück ihrer Ehe, &ndash; daß ihr
-Gatte bei einem räuberischen Überfall eines feindlichen
-Stammes grausam erschlagen worden, und daß sie darauf
-mit ihren Landsleuten, mit der Menschheit, ja mit sich
-selbst zerfallen, der Heimat den Rücken gekehrt und nach
-New York übergesiedelt sei.</p>
-
-<p>»Und hier führe ich nun seit fast zehn Jahren ein
-stilles, zurückgezogenes, mir zusagendes Dasein,« schloß sie
-den schlichten Bericht. »Mein <i>home</i> ist meine Welt, in
-der ich mich glücklich fühle.«</p>
-
-<p>Wie das so natürlich war, flog mein Auge über die
-moderne Einrichtung des Gemaches, während ich die
-schüchterne Frage aufwarf, weshalb sie alles, was an das
-einstige romantische, abenteuerliche Leben der Vergangenheit
-gemahnte, daraus verbannt habe?</p>
-
-<p>Sie lachte. Es war das erste und letzte Mal, daß
-ich diese Frau wirklich lachen hörte.</p>
-
-<p>»So glauben Sie im Ernst, daß das durch Abhärtung
-und Entbehrungen aller Art gestählte Weib an
-die verweichlichte Lebensweise der Weißen sich gewöhnt
-habe, daß solcher Ballast« &ndash; sie deutete auf ein von
-schwellenden Kissen strotzendes Ruhebett &ndash; »ihr unentbehrlich
-geworden ist? Eine von der Kultur beleckte Indianer-Squaw
-&ndash; wäre das nicht eigentlich spaßhaft? Nein, mein
-Herr! Mit Leib und Seele, mit jeder Fiber meines Herzens
-hänge ich noch an alten Erinnerungen. Allein ich verschließe
-mein Teuerstes vor der Welt. Kein profaner Blick
-soll je mein Heiligtum erreichen! Dieses Zimmer hier bedarf
-ich zum Empfange von Leuten, mit denen ich ab und
-<a class="pagenum" id="page_123" title="123"> </a>
-zu geschäftlich verkehre und in Verbindung komme, für die
-ich auch nur Mrs. Mary Powl bin, welchen Namen ich
-mir seit dem Fortgange aus meinem Heimatsthal gegeben
-habe. Doch hier« &ndash; in graziös behenden Bewegungen
-sprang sie empor und schlug den dunkeln Vorhang, durch
-den sie gekommen, zurück &ndash; »hier, Sir, ist mein wahres
-<i>home</i>! Ihnen zeige ich es; Sie sollen sehen, daß ich das
-warme Interesse, das Vertrauen, welches Sie mir bewiesen,
-zu schätzen weiß!«</p>
-
-<p>Zögernden Schrittes war ich gefolgt und blickte nun
-in stummer Überraschung durch die offene Thür. Mit
-heiterem Gesichte weidete sie sich an meinem Staunen.</p>
-
-<p>»Nun, ich bitte, treten Sie ein, Sir! In diesen
-Räumen begrüßt Sie die Witwe des Irokesenhäuptlings
-Onundega.«</p>
-
-<p>Wir schritten beide über die Schwelle.</p>
-
-<p>Jetzt wußte ich, daß jedes Wort, was Mary Powl
-von ihrer Vergangenheit mir erzählt, lautere Wahrheit
-war, daß jeder noch so kleine Verdacht wider sie, der eben
-noch in meiner Seele Platz gefunden, eine bittere Ungerechtigkeit,
-ja, eine Kränkung für sie gewesen.</p>
-
-<p>Der Raum, in welchem wir jetzt standen, glich in der
-That der Vorstellung, die ich in meinen Knabenjahren von
-dem Wigwam eines Indianerhäuptlings mir vielleicht gemacht.
-Eine von grobem, eigenartig gewebten, blaubemalten
-Stoffe, in der Mitte der Decke angebrachte und an den
-Wänden niederhängende Draperie war geschickt und kunstgerecht
-zu einer Art Zelt verarbeitet, so daß die Seite, wo
-die Fenster sich befanden, ebenfalls verhangen blieb, weshalb
-sich nur ein mattes, angenehmes Dämmerlicht über
-den nicht großen Mittelraum verbreitete. Jeder Gegenstand
-dieses wunderbaren Gemaches trat klar und scharf
-<a class="pagenum" id="page_124" title="124"> </a>
-ins Auge, und jeder Blick sagte mir, daß hier Mary Powl
-in ihrem Elemente, in ihrem eigentlichen <i>home</i> sei.</p>
-
-<p>Ihr kurz befehlender Wink nach der einen Ecke bedeutete
-den dort am Boden kauernden, anscheinend lesenden
-Knaben aufzustehen und mich zu begrüßen. Mit dem Buche
-in der Hand kam er leise herangeschlichen und schaute
-schüchtern zu mir auf.</p>
-
-<p>Liebkosend strich ich ihm über das schlichte, lange
-tiefschwarze Haar und fragte, was er denn so fleißig
-studiere? Mit stolzem Augenaufschlag erwiderte er:</p>
-
-<p>»<i>Latin</i>, Sir!«</p>
-
-<p>Dann hüpfte er wieder behende in seinen Winkel,
-schlug aufs neue das Lexikon auseinander und nahm anscheinend
-keine Notiz mehr von uns.</p>
-
-<p>Währenddessen stand, den einen Arm an die schlanke,
-doch kräftige Hüfte gestemmt, die Indianerin neben mir
-und verfolgte mit einem Ausdruck von Befriedigung im
-Gesichte meine sich immer steigernde Verwunderung.</p>
-
-<p>An der einen Längenwand des Zeltes, dicht über dem
-Haupte des Knaben, hingen die einstigen Waffen, Schild,
-Speer und Bogen, wie der phantastische Kopfschmuck mit
-der wehenden Adlerfeder (dem Abzeichen des Häuptlings)
-ihres heimgegangenen Gemahls. Verschiedene indianische
-Gerätschaften oder Handwerkszeuge, deren Zweck und Nutzen
-mir im ersten Augenblicke nicht recht klar war, bildeten
-eine originelle, malerische Verzierung um die mit sichtlicher
-Pietät gehüteten und bewahrten Überbleibsel einer kurzen,
-jedenfalls ruhmvollen Kriegerlaufbahn. Und weiter &ndash;
-mein Auge irrte neugierig über hundert mir völlig unbekannte
-Dinge hinweg. Hier lagen Jagd- und Kriegstrophäen
-des stolzen Onundega, ausgestopfte Tiere und
-Vögel, Köcher und Pfeile, wie auch seltsamer Federschmuck,
-<a class="pagenum" id="page_125" title="125"> </a>
-dort Sattel- und Zaumzeug seines Lieblings- oder Streitrosses
-neben den primitiven Toilettenartikeln eines besiegten
-Feindes. Aber &ndash; was war das? Mein Blick war plötzlich
-auf etwa sieben bis acht ganz unheimliche Gegenstände gefallen,
-die in Manneshöhe, an einem starken Hanfseile
-aufgereiht, gleich gefangenen Krammetsvögeln im Dohnenstrich,
-herabhingen.</p>
-
-<p>Ein leises Gruseln lief mir über den Rücken und ich
-fühlte die einstigen Haare meines jetzt kahlen Schädels sich
-sträuben. Skalpe &ndash; wahrhaftige, Original-Skalpe, je
-nach der Nationalität derselben mit langen oder kurzen
-Haaren bedeckt und an ihnen zusammengebunden, baumelten
-da als Siegestrophäen über meinem Haupte und mußten
-einem deutschen Herzen wohl begreifliches Unbehagen einflößen.</p>
-
-<p>Unwillkürlich wandte ich das Gesicht rasch nach einer
-anderen. Mary Powl gewahrte es und führte mich mit
-feinem Takt schnell zur entgegengesetzten Seite des Gemachs,
-wo eine in der That auserlesene Waffen- und Gewehrsammlung
-mein Interesse bald völlig in Anspruch nahm.</p>
-
-<p>Es gab in Mary Powls <i>home</i> überhaupt so viel
-Merkwürdiges zu schauen, daß wohl Tage dazu gehörten,
-alle die sehenswerten Dinge mit Ruhe und Verständnis
-betrachten zu können. Etwas indes nahm meine Aufmerksamkeit
-besonders gefangen. Dieses war ein höchst eigentümliches,
-primitives Lager. Auf einer Art Erhöhung
-nämlich, von Matten und Bärenfellen zusammengestellt,
-halb verdeckt von einem blauweißen Vorhange (blau ist die
-Lieblingsfarbe der Indianer), befand sich die Schlafstätte
-dieser sonderbaren Frau, und ich dachte dabei unwillkürlich
-ihrer Worte: daß das an Abhärtung und Entbehrungen
-<a class="pagenum" id="page_126" title="126"> </a>
-gewöhnte Weib sich mit der verweichlichten Lebensweise der
-Weißen nicht befreunden könne.</p>
-
-<p>Also hier schlummerte Mary Powl, hier träumte sie
-vom einstigen Glück und Ruhm &ndash; von der hoffnungsvollen
-Zukunft ihres Knaben! Hier, umgeben von Waffen,
-die noch das Blut der Feinde rötete, umgeben von menschlichen
-Skalpen, &ndash; hier fand sie Ruhe nach des Tages
-Lasten! Ländlich &ndash; sittlich! Ich hätte mein bequemes
-Bett im lieben Deutschland mit dieser Lagerstätte sicher
-nicht vertauschen mögen.</p>
-
-<p>Viel gesprochen oder gar bewundert und gelobt habe
-ich nicht, während wir miteinander einen Rundgang durch
-den hochinteressanten Raum machten. Das dünkte mir in
-dieser Stunde abgeschmackt und einer Mary Powl unwert.
-War doch ihr Gesichtsausdruck tiefernst, als riefen all' die
-Gegenstände tausend schmerzliche Erinnerungen wach. Jedes
-leere Wort erschien mir daher gleich einer Verletzung ihrer
-innersten Gefühle.</p>
-
-<p>Doch plötzlich lächelte sie wieder, indem sie mich aufforderte,
-sie in das viel kleinere Nebengemach zu begleiten.
-Dieses war, ähnlich dem ersteren, geschmückt und aufgeputzt
-und diente augenscheinlich ihrem Sohne als Schlafzimmer,
-ihr selbst jedoch als eine Art Laboratorium.
-Wunderliche Gefäße, Retorten und Phiolen standen dort
-auf rohgezimmerten Bänken und Borden umher. Auf dem
-kleinen Herde dampfte und brodelte es auch, und große
-Bündel Kräuter und Pflanzen hingen, sorgsam zusammengebunden,
-von der Decke herab.</p>
-
-<p>Was aber in diesem Zimmer mir noch bemerkenswert
-vorkam, das war eine ganz prachtvolle amerikanische Safe
-(eiserner Geldschrank) neuester Konstruktion, an welche
-Mary Powl nun herantrat. Sie entnahm daraus mehrere
-<a class="pagenum" id="page_127" title="127"> </a>
-kleinere Fläschchen, welche sie mir heiter entgegenreichte mit
-dem Bemerken, daß das eine vorzüglich gegen Migräne,
-jenes unfehlbar zur schleunigen Beförderung des Haarwuchses
-diene.</p>
-
-<p>Mechanisch glitt meine Hand über meine recht bedenkliche
-Glatze. Allein ich dankte ihr herzlich für diesen
-feinen Wink, indem ich erwiderte, daß ich zugleich mit
-dem Schmucke des Hauptes auch meine Eitelkeit abgelegt
-hätte, ja, daß ich mir lächerlich vorkommen würde, wollte
-ich plötzlich wieder mit wallenden Locken im Kreise der
-heimatlichen Freunde erscheinen; im übrigen glaube ich an
-die Unfehlbarkeit ihrer Mixturen. Zögernd indes setzte ich
-hinzu, daß, wenn sie mir einige Tropfen jenes wunderthätigen
-Mittels gegen die Zahnschmerzen geben wolle, so
-würde ich das mit größtem Danke annehmen. Gutmütig
-nickte sie und holte geschäftig das Wundermittel, welches
-mich von peinigender Qual befreit, mir zugleich aber diese
-interessante Bekanntschaft vermittelt hatte, aus der <i>Safe</i>.
-Wie eine kostbare Reliquie bewahrte ich dieses Geschenk
-auf meinem Busen.</p>
-
-<p>»Hier, Sir!« sagte sie darauf, die Thür des Schrankes
-weit öffnend und mich näher heranwinkend. »Schauen Sie
-einmal da hinein und sagen Sie mir, ob Mary Powl
-nicht gut und haushälterisch für ihren Sohn gewirtschaftet
-hat? Das eine habe ich von den Amerikanern profitiert
-und gelernt &ndash; das Rechnen und Spekulieren.«</p>
-
-<p>Überrascht glitten meine Blicke über den Inhalt des
-Geldschrankes, und in diesem Momente schämte ich mich
-wirklich im stillen meiner unedlen, garstigen Gedanken, die
-ich, bevor die Indianerin eintrat, über dieselbe in dem
-tiefsten Winkel meines sonst vertrauenden Herzens gehegt
-hatte.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_128" title="128"> </a>
-Dort lagen Wertpapiere, Staats- und Eisenbahn-Obligationen
-neben aufgetürmten Rollen Zwanzig-Dollar-Goldstücken.
-Auch Häufchen Goldkörner und unregelmäßige
-Klümpchen dieses edeln Rohmetalls gewahrte ich
-und wurde immer mehr durchdrungen von der Überzeugung,
-Mary Powl sei nicht allein eine interessante, anziehende
-sondern auch sehr vermögende Frau, welche &ndash; nach europäischen
-Begriffen &ndash; sich ihr Leben hätte ganz anders
-gestalten können.</p>
-
-<p>»Ich staune über Sie, Madame!« konnte ich nicht
-unterlassen, in vollster Bewunderung auszurufen. »Gute
-Mutter, tüchtige Geschäftsfrau und ein mutiges, unerschrockenes,
-stets hilfsbereites Weib, &ndash; das vereint sich
-selten in einer Person und verdient die höchste Anerkennung,
-welche jeder Ihnen zollen muß!«</p>
-
-<p>Wieder huschte jener Ausdruck von innerer Befriedigung
-über ihr dunkles Gesicht und sie entgegnete dann fast
-traurig:</p>
-
-<p>»Hier ernte ich nur Undank, wie unüberwindliches
-Mißtrauen, welches sich an meine Fersen zu heften scheint,
-und es mir gar oft erschwert, die menschenfeindlichen Gefühle
-und Regungen des Busens zu bekämpfen. Doch
-lassen wir das!« setzte sie abwehrend hinzu. »Wir beide
-ändern das nicht. &ndash; Jetzt kommen Sie wieder hinüber in
-mein <i>Parlour</i> und nehmen einen kleinen Imbiß, Sir!«</p>
-
-<p>Mir rasch voranschreitend, öffnete sie die Thür des
-vordersten Gemaches. Noch einen letzten Blick sandte ich
-über Mary Powls <i>home</i>, dann folgte ich ihr hinaus.</p>
-
-<p>Das uns entgegenstrahlende grelle Sonnenlicht, verbunden
-mit dem Anblick der modischen Zimmereinrichtung
-wirkte auf mich beinahe, als wäre ich von einer Wanderung
-durch ein Märchenland in die Wirklichkeit zurückgekehrt.
-<a class="pagenum" id="page_129" title="129"> </a>
-Noch halb wie traumbefangen starrte ich auf das
-Negermädchen, welches sich eben damit beschäftigte, Wein,
-Früchte und feines Backwerk auf einem Tische zu ordnen
-und für uns bereit zu stellen.</p>
-
-<p>Aufs neue betrachtete ich gedankenvoll und kopfschüttelnd
-das elegante Porzellan-Service und Glasgeschirr,
-welches im entschiedensten Widerspruche stand zu allem,
-was ich soeben geschaut hatte.</p>
-
-<p>»Wir führen einen echt amerikanischen Haushalt,«
-sagte Mary Powl, meinen Ideengang erratend, mit feinem
-Lächeln, indem sie mir eine Platte köstlicher Bananen darbot.
-Ich nahm eine dieser aromatischen Früchte.</p>
-
-<p>»Meine kleine Sally« &ndash; sie deutete nach der Thür,
-durch welche die Negerin uns verlassen &ndash; »ist die Lehrmeisterin,
-ich bin die Schülerin in der höhern Kochkunst;
-und so geht das wundervoll von statten. Was mir anfänglich
-schwer und ungewöhnt ist, das überwinde ich
-schnell bei dem Gedanken, daß ich Iron Hand ein Opfer
-bringe. Die Verhältnisse, in denen sein späteres Leben
-dahinfließen wird, bedingen sorgfältige Erziehung. Einst
-wird er seiner Mutter das danken. O, Sie sollten nur
-sehen, &ndash; er speist mit Messer und Gabel wie ein junger
-Gentleman!«</p>
-
-<p>Ungefähr noch eine halbe Stunde verweilte ich in
-anregendem Gespräch mit der originellen Frau; dann erhob
-ich mich. Zwei volle Stunden hatte ich bereits in ihrer
-Gesellschaft zugebracht und ich mußte nun gestehen, daß
-der Abschied von Mary Powl mir nicht leicht wurde. Der
-weite Ozean mußte uns ja gar bald für immer trennen.
-Ob ich &ndash; in ihrer Sprache zu reden &ndash; das große
-Wasser noch einmal durchschifft hätte, um <em class="ge">sie</em> wieder zu
-sehen, wenn ich zwanzig Jahre weniger zählte? Wer weiß
-<a class="pagenum" id="page_130" title="130"> </a>
-es! Jedenfalls wußte ich heute genau, daß dies ein Abschied
-fürs Leben war.</p>
-
-<p>Die Worte, die ich dabei gesprochen, mögen wahrscheinlich
-recht nichtssagend und abgeschmackt geklungen
-haben, indem es nämlich eine Eigentümlichkeit von mir ist,
-daß ich, je tiefer innerlich eine Sache mich berührt, äußerlich
-desto linkischer und trockener werde. Vom Tragischen
-zum Lächerlichen ist bekanntlich nur <em class="ge">ein</em> Schritt! Das
-sollte jeder bedenken, der einmal in reiferen Jahren von
-einer kleinen Gefühlsanwandlung übermannt wird &ndash;
-umsomehr, da sie selbst, die Witwe des Irokesenhäuptlings,
-die freie Tochter der Natur, die Frau ohne höhere Erziehung
-und Bildung, mir gegenüber keinen Finger breit
-aus den Formen edler, züchtiger Weiblichkeit herausgetreten
-war. Taktlos und indiskret wäre es daher gewesen, hätte
-ich mit Blicken oder banalen Redensarten verraten wollen,
-daß sie mich aufs Lebhafteste interessiere, daß ich wirkliches
-Gefallen an ihr fand.</p>
-
-<p>Einen Moment hielt sie meine Hand fest in der ihren
-und schaute mich mit den brennenden Augen an. Der
-Knabe war gleichfalls herangetreten und lehnte sich, zärtlich
-angeschmiegt, an die Mutter.</p>
-
-<p>»Ich danke Ihnen für reizvolle, genußreiche Stunden,
-Sir!« sagte sie in ihrer schlichten, ruhigen Weise. »Nur
-selten wird mir das Glück zu teil, mich frei von der Seele
-herunter aussprechen zu können. Liegt doch der Trieb,
-ja das Bedürfnis hierzu in jeder Menschenbrust. Lange
-werde ich über alles, was Sie mir erzählt, nachdenken und
-weise Lehren daraus schöpfen für Iron Hand.«</p>
-
-<p>Einige Sekunden legte ich meine Rechte auf des
-Knaben Haupt und fragte:</p>
-
-<p>»Du willst ein kluger Mann &ndash; ein berühmter Arzt
-<a class="pagenum" id="page_131" title="131"> </a>
-werden und Deiner Mutter treue Liebe und Fürsorge für
-Dich einst hundertfach vergelten &ndash; nicht wahr, mein
-Junge? Sie verdient es im reichsten Maße!«</p>
-
-<p>Ein strahlendes Aufblitzen der dunklen Kinderaugen
-gab mir Antwort.</p>
-
-<p>So schieden wir.&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Jahre sind seitdem dahingezogen. Aber noch oft und
-gern verweilen meine Gedanken drüben in der großen
-Empire City Amerikas bei Mary Powl.</p>
-
-<p>Die kleine Flasche, welche sie mir damals mitgegeben,
-hat noch manchmal ihre wunderthätige Kraft bewährt,
-sowohl an mir selbst, als auch an anderen. Stets hat es
-mir Freude gemacht, im edlen Sinne der gütigen Spenderin
-zu wirken und zu helfen. Jetzt ist sie längst geleert.</p>
-
-<p>Wenn indes einer meiner verehrten Leser oder Leserinnen
-sich zu einer interessanten Reise über das Meer
-und nach New York entschlösse und drüben von Zahnschmerzen
-geplagt werden sollte, so rate ich dringend, nicht
-zu versäumen, sich auf eine einsame Bank im entlegendsten
-Teile des Zentralparks niederzulassen. Vielleicht &ndash; ich
-sage nur vielleicht &ndash; begegnet ihm dort meine Freundin
-Mary Powl, die Indianer-Squaw. Ihre Adresse darf ich
-diskretionshalber nicht verraten.</p>
-
-<p>Ob sie noch lebt? Ob Iron Hand ihren stolzen, gerechten
-Hoffnungen entsprochen haben wird?&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Ich habe von beiden niemals wieder etwas vernommen.</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_133" title="133"> </a>
-<span class="ge">Amerikanische Existenzen.</span></h2>
-
-
-<p><a class="pagenum" id="page_135" title="135"> </a>
-<b>D</b>ie Mittagsglut eines Julitages brütete über dem
-Madison-Square von New York, dessen weite Räumlichkeit
-mir heute beinahe noch endloser erschien als sonst. Fast
-senkrecht schleuderte die Sonne ihre glühenden Strahlenbündel
-auf den weich gewordenen Asphaltboden nieder, so
-daß dieses von stattlichen Häusern eingefaßte große Flächenquadrat
-völlig schattenlos vor meinen Blicken lag.</p>
-
-<p>Ich zog den wahrhaft monströsen Sonnenschutzschirm
-noch tiefer über mein gefährdetes Hirn, that mehrere schwere
-Stoßseufzer und strebte, einen heroischen Anlauf nehmend,
-vorwärts über den Platz &ndash; meinem Ziele zu.</p>
-
-<p>Wer jemals einen amerikanischen Sommertag in New
-York erlebt hat und der Gefahr ausgesetzt gewesen ist, vom
-Sonnenstich betroffen zu werden, der kennt solche Situation
-genau. Allein sich sträuben oder gar klagen half hier nichts,
-indem ich vorwärts mußte, das heißt, mich von der Eisenbahnstation
-aus auf der Wohnungssuche befand und noch
-vor Abend mit Sack und Pack in einem guten und bequemen
-Boardinghouse untergebracht zu werden wünschte.</p>
-
-<p>O New York! Du Eldorado aller nach Fortunens
-Schürzenzipfel haschenden Deutschen! Wie erfreute mich
-trotz Hitze und Staub der Anblick der langentbehrten Metropole
-<a class="pagenum" id="page_136" title="136"> </a>
-der Union, wie hatte ich in Tagen der Trübsal und
-des Kampfes ums Dasein mit sehnsüchtigem Verlangen
-deiner gedacht und das grausame Schicksal verwünscht,
-welches mich Jahr um Jahr an den fernen Westen gebunden.
-Endlich jedoch schien die launische Göttin ein
-Einsehen und Erbarmen mit mir gehabt zu haben. Ein
-Glücksfall ließ meine wirklichen oder vielleicht auch nur
-eingebildeten Talente und Geistesgaben doch schließlich zur
-vollen Geltung kommen. Durch die vorsorglich zurückgelegten
-Ersparnisse saurer Arbeit und eine, wie durch
-höhere Inspiration plötzlich in mir erwachte, fast amerikanische
-Unternehmungslust und Dreistigkeit bemühte ich
-mich um die Partnership einer der renommiertesten Advokaturen
-New Yorks und &ndash; erhielt sie. Jetzt war ich ein
-gemachter Mann. Denn ich kannte die Verhältnisse Amerikas
-zu gut, um nicht überzeugt zu sein, daß ich den mühsam
-errungenen Platz auch würde behaupten können. Wie ganz
-anders waren daher die Empfindungen meiner Brust gegen
-diejenigen vor fünf Jahren, wo ich mit wenigen hundert
-Mark in der Tasche vom Steamer des Bremer Lloyd ans
-Land stieg. Mit stolzem Selbstgefühl betrat ich nun zum
-zweiten Male den Boden der Empire-City. Die alten
-Freunde aus jener Sturm- und Drangperiode meines
-Debuts im Heim des allmächtigen Dollars hatte ich indes
-darob nicht vergessen und erinnerte mich freudig einer
-alten Amerikanerin Miß Kathleen Emmerson, in deren
-gastlichem Hause ich bereits damals &ndash; dank ihrer Rücksicht
-auf meine knappe Barschaft &ndash; unter angenehmen
-Bedingungen einige Wochen verbringen durfte. Mit Miß
-Kathe, wie das liebenswürdige und menschenfreundliche alte
-Fräulein von all ihren Bekannten zu jener Zeit kurzweg
-benannt wurde, hatte ich später auch ab und zu in
-<a class="pagenum" id="page_137" title="137"> </a>
-Korrespondenz gestanden und wußte demnach, daß ihre
-pekuniäre Lage sich gleichfalls bedeutend verbessert und sie
-anstatt des kleinen Kosthauses in St.&nbsp;Marks-Place jetzt
-ein elegantes Boardinghouse in der 24.&nbsp;Straße zwischen
-der 5. und 6.&nbsp;Avenue inne hatte.</p>
-
-<p>Dorthin also lenkte ich meine Schritte. Das Äußere
-desselben entsprach vollkommen meinen Erwartungen.
-Wenigstens zählte es zu den sogenannten guten Brownstone-Houses
-der City, welche die Straßen der oberen
-Stadtteile New Yorks zieren und alle ohne Ausnahme wie
-nach einer Schablone gearbeitet zu sein scheinen.</p>
-
-<p>Beim Eintreten gewahrte ich, daß an der mit massivem
-Gußeisengeländer versehenen steinernen Vortreppe ein Wagen
-der New York-Expreß-Compagnie hielt und verschiedene
-Gepäckstücke, darunter auch ein wahrer Monstre-Koffer, abgeladen
-und ins Haus hineingetragen wurden. »Aha!«
-dachte ich mit Befriedigung. »Auch die heiße Jahreszeit
-thut allem Anschein nach dem Geschäfte meiner alten
-Freundin keinen Abbruch. Gratuliere, Miß Kathe! Solch
-enorme Bagage-Zahl deutet auf noble und ständige Gäste.«</p>
-
-<p>Lebhaft sprang ich nun die sechs bis acht Stufen
-hinan und trat durch die bereits offenstehende Eingangsthür.
-Mehrere Personen, dabei natürlich auch Miß Emmerson,
-befanden sich auf dem etwas düsteren Vorflur, als
-auch schon der freudige Ruf &ndash; in eigentümlich accentuiert
-gesprochenen deutschen Worten mir entgegenklang:</p>
-
-<p>»Kann ich denn meinen Augen trauen? Sie sind es
-wirklich, Herr Baron von&nbsp;...?«</p>
-
-<p>»Pst, pst! Lassen wir doch die einstigen Titel und
-Würden beiseite!« entgegnete ich lachend und ebenfalls auf
-deutsch: »Mr. Richard Berken, Teilhaber der Firma Haberton
-&amp; Comp. am Broadway, steht heute vor Ihnen, meine
-<a class="pagenum" id="page_138" title="138"> </a>
-Liebe, und möchte höflich bitten, ihm ein bescheidenes
-Stübchen in Ihrem gastlichem Hause anzuweisen, Miß
-Kathe!« Damit schüttelten wir uns beide wahrhaft herzlich
-die Hände.</p>
-
-<p>Neugierig und mit höflicher Verbeugung schielte ich
-dabei nach der aus drei Damen und zwei Herren bestehenden
-Gesellschaft, welche, in Anbetracht ihres mit der
-Hauswirtin unterbrochenen Geschäftes, dem Anschein nach
-ziemlich ungeduldig drein schaute. Daher sagte ich zuvorkommend
-und entschuldigend, daß ich nicht länger stören
-wolle.</p>
-
-<p>Diese verbindliche Äußerung entschlüpfte mir einzig
-nur wegen des reizenden Gesichtchens der jüngsten dieser
-drei eleganten Ladys, deren blaue Kinderaugen in ernstlich
-forschendem Ausdruck auf mir hafteten. Dann folgte ich
-mit kurzem: »Auf Wiedersehen, Miß Emmerson!« dem
-durch die Hausfrau avertierten Neger die Treppe zur
-oberen Etage hinan.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Um sieben Uhr abends war das gemeinschaftliche
-Diner, welches alle Logiergäste des Hauses im Speisesaale
-versammelte. Ich selbst, bereits vollständig häuslich eingerichtet,
-war einer der ersten Ankömmlinge gewesen und
-hatte mir die recht hübsch arrangierte Tafel mit Muße
-betrachten, wie auch jeden neu Eintretenden eingehend
-mustern können.</p>
-
-<p>Halt! Jetzt stutzte ich. Da kam ja meine fashionable
-Gesellschaft von heute vormittag, deren voluminöse Koffer
-schon meine ganze Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, soeben
-aus der Halle. Voran eine große, brünette Dame mittleren
-Alters mit auffallend harten, fast fatalen Gesichtszügen,
-deren elegante Seidenrobe mir zu der starkknochigen
-Gestalt wenig im Einklang zu stehen schien. Neben ihr
-<a class="pagenum" id="page_139" title="139"> </a>
-schritt eine sehr schlanke, beinahe ätherische, junge Frau, &ndash;
-nach meinen unerfahrenen Toilettebegriffen ganz reizend
-und distinguiert in einen hellen, undefinierbaren Sommerstoff
-gekleidet, dessen roter Seidengürtel und Bandgarnitur
-den zarten Teint des schmalen Ovals gar vorteilhaft hob.
-Trotz der Verschiedenheit der Gesichter zeigte ein merkwürdig
-ähnlicher, halb bitterer, halb verdrossener Zug um
-den Mund, daß das Mutter und Tochter sein mußten.
-Ihnen folgten ein mittelgroßer, hagerer Mann mit militärisch
-verschnittenem Haar und braunem, intelligentem
-Gesichte und meine allerliebste Unbekannte aus dem Vorsaal
-&ndash; mit den mir bereits bekannten, mich so sehr anheimelnden
-blauen Augen.</p>
-
-<p>Welch poetische Erscheinung! dachte ich lebhaft angeregt.
-Dieses hellblonde, gewellte Haar, dieses mädchenhaft
-zurückhaltende, dabei doch so edle Auftreten, dieser
-fast schüchterne Blick &ndash; dies alles entrückte mich für Sekunden
-der Gegenwart, ja dem Lande, in dem ich mich
-befand, und ließ schmerzliche Erinnerungen an traute
-deutsche Frauengestalten in meiner Seele auftauchen.</p>
-
-<p>Im größten Gegensatze zu den anderen Damen entbehrte
-der Anzug meiner »Beauty« fast jedweder Eleganz.
-Ein schlichtes, aber um so reizenderes Kleid von feinem
-grauem Wollstoff bildete die Toilette &ndash; <i>voilà tout</i>!</p>
-
-<p>Völlig in meinen Reflektionen versunken, vergaß ich,
-mich daran zu erinnern, daß noch ein zweiter Herr, ein
-auffallend gut aussehender junger Mann, diesen Morgen
-beim Eintreffen der Gesellschaft zugegen gewesen.</p>
-
-<p>Alsbald führte Miß Emmerson mich mit dem simplen
-Namen: Mr. Richard Berken bei allen Anwesenden ein
-und wies uns die Plätze an. Doch wer beschreibt meine
-<a class="pagenum" id="page_140" title="140"> </a>
-freudige Überraschung: als ich aufschaute, sitzt die liebreizende
-Blondine dicht an meiner Seite.</p>
-
-<p>Sonderbar! Dieser kurze Aufblick aus ihren Augen
-glich fast einem stummen Verhör. Instinktiv fühlte ich,
-daß sie mit echt amerikanischer Scharfsichtigkeit sich einen
-sowohl das Individuum, als auch dessen Charakter und
-Nationalität betreffenden Eindruck festzuhalten und sich
-einzuprägen suchte.</p>
-
-<p>»Sie verstehen englisch, Sir?« fragte mich die liebliche
-Tischnachbarin mit den aus ihrem Munde reizend
-klingenden Tönen ihrer Muttersprache.</p>
-
-<p>Freudig bejahte ich es, und bald kam unsere Unterhaltung
-in guten Fluß. Nur sah ich mit Verwunderung
-auf ihre allerliebsten Hände, wie sie von allen ihr servierten
-Gerichten, außer daß sie sich selbst versorgte, noch reichliche
-Quantitäten auf bereits vor ihrem Platze stehende Teller
-legte und diese dann sorglich mit einem kleinen Schüsselchen
-bedeckte. Sie selbst aß hastig und zerstreut.</p>
-
-<p>Was bedeutete nur das? Als Mann von guter Erziehung
-wagte ich natürlich nicht, danach zu fragen. Doch
-mochten meine Gesichtszüge wohl einige Neugierde verraten
-haben; denn lachend &ndash; es war dies genau ein verlegenes
-Kinderlachen &ndash; sagte sie:</p>
-
-<p>»Dies ist für Frank, meinen Gatten, Sir! Er leidet
-schon seit längerer Zeit an einer sehr fatalen, unbequemen
-Magenverstimmung, kann infolgedessen nicht jedes Gericht
-vertragen und somit auch nicht mit uns an der Tafel
-speisen. Aber es freut ihn immer so sehr, wenn ich selbst
-ihm sein bescheidenes Diner hinaufbringe, &ndash; der arme
-Franky!«</p>
-
-<p>»O, wie betrübend!« entschlüpfte es unwillkürlich
-meinen Lippen. Doch wäre es gewiß schwer festzustellen
-<a class="pagenum" id="page_141" title="141"> </a>
-gewesen, ob der Ausruf des Bedauerns der üblen Magenverstimmung
-des armen Franky oder dem Umstande gegolten,
-daß mein holder Blondkopf bereits einen Ehemann
-besaß. Das also war der gut aussehende Gentleman,
-welcher an der Gesellschaft fehlte und den ich diesen Vormittag
-schon von Angesicht gesehen!</p>
-
-<p>Wirklich erhob sich nun nach einer Weile die junge
-Frau, ließ von dem aufwartenden Neger sich ein Präsentierbrett
-reichen, arrangierte darauf die verschiedenen Teller
-und verließ damit geräuschlos den Speisesaal. Die übrigen
-Tischgäste mochten den kleinen Vorfall wohl kaum bemerkt
-haben. An meiner Nachbarin rechter Seite saß ein alter
-Herr mit blauer Brille, welcher überhaupt miserabel zu
-sehen schien. Nur Miß Emmerson warf mir vom anderen
-Ende des Tisches einen seltsam bedeutungsvollen Blick herüber,
-welcher mir nun auch sofort klar machte, warum sie
-gerade mich an die Seite der reizenden Amerikanerin placiert
-hatte.</p>
-
-<p>Nach beendeter Mahlzeit, als ich schon den Hut in
-der Hand hielt, um dem schwülen Speisezimmer zu entfliehen,
-und hastig hinausstrebte in den herrlichen Sommerabend,
-faßte unsere freundliche Wirtin mich plötzlich am
-Rockärmel und drängte mich etwas nach einer Fensternische.</p>
-
-<p>»Ich glaube aus unbedeutenden Reden und Anzeichen
-leider bemerkt zu haben, daß hinter dem ganzen Auftreten
-der Newlands irgend etwas Mystisches steckt,« flüsterte sie
-auf deutsch mir ins Ohr &ndash; eine Sprache, welche die alte
-Dame in der Praxis, das heißt, in jahrelangem Verkehr
-mit meinen Landsleuten, wohl erlernt haben mochte. »Meine
-große Menschenkenntnis hat mich noch selten getäuscht, und
-man könnte, wenn man sich die Zeit dazu nehmen wollte,
-zu spionieren, gerade hier vielleicht interessante Entdeckungen
-<a class="pagenum" id="page_142" title="142"> </a>
-machen. Wir leben aber im glücklichen Lande der Freiheit,
-Mr. Berken, und so denke ich, wir lassen jeden ruhig
-seinen Weg gehen, &ndash; nicht wahr? Die Newlands zahlen
-brillant, und mein Haus will bestehen. Alles übrige geht
-mich nichts an, wenigstens soweit meine Logiergäste nicht
-mit dem Gesetze in Konflikt kommen. Denn darin verstehe
-ich keinen Spaß. <i>Well</i>, mein Freund! Wir kümmern
-uns also nicht weiter um dieser Familie Privatangelegenheiten,
-noch darum, ob und weshalb Mr. Newland nicht
-zum Diner kommt?«</p>
-
-<p>»Ganz gewiß nicht, Miß Kathe!« entgegnete ich bereitwilligst
-und heiter lachend. »Mich interessierten anfänglich
-nur die auffallend schönen Augen meiner jungen Tischnachbarin.
-Doch seit ich erfuhr, daß diese Dame bereits
-einen Gatten hat, ist der sie vorher umgebende Nimbus
-schon ganz gewaltig geschwunden.«</p>
-
-<p>»O, immer noch der alte Schelm!« drohte mir Miß
-Emmerson mit dem Finger. »Nun, <i>good evening</i>, Mr.
-Berken!« Damit winkte sie mir freundlichst zu und ich
-ging meines Weges.</p>
-
-<p>Man spricht zuweilen in vollster Überzeugung, die
-Wahrheit gesagt zu haben, doch trotz alledem eine recht
-handfeste Lüge aus und gelangt oft erst durch Zufall hinter
-solchen Betrug heimtückischer Schicksalsmächte.</p>
-
-<p>»Seit ich weiß, daß die schöne Mrs. Newland einen
-Gatten hat, ist ihr Nimbus gewichen,« hatte ich spöttisch
-geäußert, und war natürlich gänzlich davon durchdrungen,
-daß jene Leute mir total gleichgültig bleiben würden. Es
-sollte indes anders kommen.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Etwa 14 Tage mochten wir nun in Miß Emmersons
-stillem, komfortablem Boardinghouse wohnen, als etwas sich
-ereignete, was mein anfänglich lebhaftes, dann standhaft
-<a class="pagenum" id="page_143" title="143"> </a>
-zurückgedrängtes Interesse für die liebliche Mrs. Newland
-plötzlich wieder neu anfachte. Meine anstrengenden Berufspflichten
-hielten mich zwar von früh acht Uhr bis nachmittags
-vier Uhr in der Office am Broadway fest. Allein
-ich fand immer noch Zeit genug, einige gemütliche Stunden
-im Parlour oder auch auf Miß Kathes luftigem Balkon
-zu verbringen. Nach wie vor konversierte ich über allerlei
-harmlose Tagesereignisse mit meiner hübschen Nachbarin
-bei Tische; auch trug nach wie vor die vorsorgliche Gattin
-ihrem armen Frank die Speisen hinauf in sein Zimmer.
-Aus der Unterhaltung mit ihr erfuhr ich nach und nach,
-daß die alte Dame, welche meine Sympathien durchaus
-nicht erwecken konnte, die Mutter von Frank Newland,
-sowie der schlanken jungen Frau sei, deren Mann mir
-als Major irgend eines Miliz-Regiments, als Mr. Fowler,
-vorgestellt worden war. Meine blonde Freundin erzählte
-ferner <i>en passant</i>, daß sie schon drei Jahre verheiratet
-wäre und mit der Familie ihres Gatten früher in Chicago
-gelebt, wo ihre Schwiegermutter eine Agentur für den
-Export von Nähmaschinen besessen, das Geschäft jedoch aufgegeben
-habe, um wegen Franks Kränklichkeit die besten
-New Yorker Ärzte zu konsultieren.</p>
-
-<p>Nach dieser Richtung hin war ich also völlig orientiert,
-und doch mußte ich mir im Gespräche mit der hübschen
-Frau oft den größten Zwang anthun, um sie mit indiskreten
-Fragen über Dinge nicht zu belästigen, die mich von
-rechtswegen und auch rücksichtlich Miß Emmersons Gebot
-ganz und gar nichts angingen. Warum kam die Familie
-Newland gerade in der heißesten Zeit nach New York,
-welches dann außer den Geschäftsleuten alle anderen
-Menschen fliehen? Was that eigentlich dieser intelligent
-und schlau aussehende Mr. Fowler, und womit beschäftigte
-<a class="pagenum" id="page_144" title="144"> </a>
-sich den lieben langen Tag der von seiner besseren Hälfte,
-wie ich wahrgenommen, so vergötterte Franky, indem er
-stets erst nach Sonnenuntergang das Haus verließ und
-das immer nur allein?</p>
-
-<p>Wer konnte es mir verdenken, daß ich als thätiger
-Mann solch seltsame Verhältnisse mir nicht recht zu erklären
-vermochte! Während dieser 14 Tage war es mir
-auch nur ein einziges Mal vergönnt gewesen, den Gatten
-meiner Tischnachbarin zu sprechen; das heißt, wir trafen
-uns eines Abends, als ich von einem Spaziergange nach
-Hause zurückkehrte, auf der Treppe. Da ich ihn sofort
-erkannte, redete ich ihn freimütig an.</p>
-
-<p>Das helle Licht der im Hausflur brennenden Gasflamme
-beleuchtete dabei grell sein schmales, auffallend edel
-geformtes Gesicht und ließ mich in ein Paar sehr ernste,
-fast finstere Augen schauen. Deutlich merkte ich, daß er
-mir auszuweichen suchte; doch hartnäckig vertrat ich ihm
-den Weg und sagte ihm rasch einige bedauernde Worte
-über sein Leiden. Nur lässig zuckte er die Achsel mit der
-kurzen Bemerkung: »Sehr gütig, Sir!«</p>
-
-<p>Darauf erging ich mich in Lobeserhebungen über
-seine schöne, geistreiche Frau, hoffend, eine eifersüchtige
-Regung würde ihn vielleicht aus seiner stoischen Ruhe
-aufrütteln. Doch vergebens! Er freue sich sehr, daß Mrs.
-Newland angenehme Unterhaltung bei Tische gefunden,
-lautete die abweisende Antwort. Dann lüftete er den Hut
-und ließ mich stehen.</p>
-
-<p>»Welch ein seltsamer Mann!« dachte ich, zwar halb
-ärgerlich, trotzdem aber von dieser Erscheinung angesprochen.
-Immer deutlicher trat daher die Überzeugung an mich
-heran, daß ich hier vor einem Rätsel mich befand.</p>
-
-<p>Eines Morgens nach dieser Begegnung empfing mich
-<a class="pagenum" id="page_145" title="145"> </a>
-mein Partner, Mr. Haberton, ein sonst kühler und stiller
-Geschäftsmann, in der Office mit sichtlich aufgeregter Miene,
-indem er mir sofort sechs Stück Zwanzig-Dollars-Scheine
-vor die Augen hielt und zornig heraussprudelte: daß dies
-jämmerliche Falsifikate seien, daß wir auf eine nichtswürdige
-Weise um 120 Dollars betrogen worden, und daß
-einer seiner Clerks ihm soeben erzählt habe, während der
-letzten Tage seien mehrere ähnliche Fälle in New York
-vorgekommen und die City müsse einmal wieder mit falschen
-Greenbacks (Kassenscheinen) überflutet sein.</p>
-
-<p>Angenehm erschien mir dieses betrübende Faktum
-keineswegs, da ich bei diesem kleinen Verluste natürlich
-selbst beteiligt war. Allein wenn ich von Natur nicht
-ein realistisch angelegter, dabei höchst aufgeklärter Mensch
-wäre, so hätte ich mich in diesem Momente beinahe auf
-spiritistischem Gebiete ertappt. Denn &ndash; plötzlich sah ich
-in meiner Einbildung &ndash; dort über dem kahlen Schädel
-Mr. Habertons &ndash; das schöne, todestraurige Gesicht von
-Frank Newland auftauchen, nur mit dem Unterschiede, daß
-die ernsten Augen sich jetzt in einem flehenden Ausdruck
-auf mich richteten. Dieses sonderbare Vermengen des Wirklichen
-und Phantastischen meinerseits ließ mich &ndash; vielleicht
-nach meines Partners Ansicht &ndash; wohl höchst stupid
-und gleichgültig dreinschauen. Denn er faßte mich nun
-ein wenig unsanft bei der Schulter und rief:</p>
-
-<p>»Sie müssen ein Krösus sein oder Sie kennen den
-Wert des Geldes bei uns noch nicht genau, mein lieber
-Mr. Berken! Denn 120 Dollars wirft wohl keiner gern
-umsonst zum Fenster hinaus!«</p>
-
-<p>Erschreckt fuhr ich auf. Unsinn! Nicht die Spur
-eines fremden Gesichts war mehr zu schauen. Ich war
-ein Narr.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_146" title="146"> </a>
-»Mein lieber Mr. Haberton!« erwiderte ich daher
-rasch mit der verzweifelt traurigsten Miene, die ich nur
-anzunehmen vermochte. »Der Schreck über unseren Verlust
-machte mich ganz sprachlos. Der Kukuk soll alle Falschmünzer
-Amerikas holen, und wenn ich mich von einem
-solchen Halunken je wieder über den Löffel barbieren lasse,
-so will ich nicht mehr wert sein, ein Partner der Firma
-Haberton &amp; Comp. zu heißen!«</p>
-
-<p>Er schien zufrieden, und im Laufe des Gespräches erfuhr
-ich dann noch, daß schon vor mehreren Wochen die
-Polizei einer großen Falschmünzer-Gesellschaft, welche aus
-einer völlig organisierten Bande bestehen sollte, in St.&nbsp;Louis
-auf der Spur gewesen. Doch die Schlauköpfe der Spitzbuben
-sind oft pfiffiger als die Schlauköpfe des Gesetzes,
-und so wäre denn das vorsichtig umstellte Nest der sauberen
-Vögel doch leer und von ihnen verlassen gefunden worden.
-Man spräche indes viel darüber, daß das Haupt dieser
-Koterie ein Frauenzimmer sei, welches mit wahrhaft genialer
-Geschicklichkeit die feinsten Fäden ihres Einflusses bis in
-alle Staaten zu spinnen verstände und ihre Verbindungen
-in Kreisen haben solle, wo kein Mensch einen Falschmünzer
-zu suchen wage.</p>
-
-<p>Ich glaube, daß ich an diesem Vormittage recht zerstreut
-bei der Arbeit war und wirklich Gott dankte, als
-ich die steinernen Stufen zu Miß Emmersons Boardinghouse
-emporsteigen durfte.</p>
-
-<p>Bei Tische überschaute ich mir sinnend die Gesichter
-der Familie Newland. Kerzengerade saß die Alte auf
-ihrem Platze. Wieder umrauschte eine schwere Robe ihre
-Gestalt, während ein feines Spitzengewebe auf ihrem noch
-dunklen Scheitel lag und mehrere prächtige Solitäre die
-Finger schmückten. Doch als ich mir gerade diese starkknochigen,
-<a class="pagenum" id="page_147" title="147"> </a>
-unschönen Hände näher betrachtete, mit denen
-sie eben die Speisen zum Munde führte, konnte ich mich
-des Gedankens nicht erwehren, daß dieses Mannweib, bevor
-der Bruderkrieg der Union entflammte, sehr wohl eine
-jener gefürchteten Sklavenaufseherinnen der Südstaaten hätte
-sein können, die, mit der eisenbeschlagenen Hetzpeitsche in
-der Hand, ihre unseligen Opfer in Zucht und Ordnung
-gehalten.</p>
-
-<p>Unangenehm berührt durch solchen Ideengang, wandte
-ich mich den liebreizenden Zügen meiner jungen Nachbarin
-zu. Sie lächelte mich heute ein wenig traurig an und
-meinte, daß Franky sich gar nicht recht frisch und heiter
-befände. Die Langeweile, zu der ihn die Ärzte verdammt,
-sei doch gar zu geisttötend.</p>
-
-<p>»So lesen Sie ihm doch vor, Madame!« warf ich
-freundlich beschwichtigend ein.</p>
-
-<p>»O, er haßt ja alle Lektüre, außer Zeitungen, und
-darin stehen doch immer die meisten Lügen!« entgegnete
-die schöne Frau halb trotzig.</p>
-
-<p>»Nicht immer, Mrs. Newland!« sagte ich dabei sehr
-ruhig, aber ernst, und hob mein Auge langsam zu dem
-ihren. »Der ›New York Herald‹ wird zum Beispiel in
-den allernächsten Tagen recht interessante Entdeckungen
-offenbaren, die keinesfalls der Phantasie eines eifrigen
-Zeitungs-Reporters entsprungen, sondern der Wirklichkeit
-entnommen sind.«</p>
-
-<p>Und völlig unbefangen erzählte ich ihr darauf von
-unserem kleinen Geldverluste und den Mitteilungen Mr.
-Habertons.</p>
-
-<p>Im nächsten Augenblicke jedoch bereute ich das eben
-Gesagte schon aufs tiefste. Denn die Veränderung, welche
-nach meinen Worten in Mrs. Newlands Zügen sich ausprägte,
-<a class="pagenum" id="page_148" title="148"> </a>
-war eine so entsetzliche, ja beängstigende, daß ich
-selbst ganz verwirrt davon wurde und beinahe hilflos verlegen
-stotterte: ob sie sich nicht wohl fühle? Das sonst
-so weiße und rosige Antlitz war für mehrere Minuten von
-einer fast bleigrauen Blässe überzogen. Die Augen starr
-und ausdruckslos auf einen Punkt gerichtet, die Lippen
-krampfhaft zusammengepreßt &ndash; so lehnte das schöne Geschöpf
-im Sessel.</p>
-
-<p>»Nein &ndash; nein &ndash; ja &ndash; die Hitze bringt mich um!«
-stöhnte sie, mit vieler Mühe sich ermannend, indem sie
-halb mechanisch nach dem vor ihrem Platze stehenden Eiswasser
-langte.</p>
-
-<p>Zuvorkommend und selbst äußerst erschreckt, reichte ich
-ihr das Glas, woraus sie hastig einige Schlucke des kühlenden
-Getränkes hinunterstürzte. Dann &ndash; es war bereits
-gegen Ende der Mahlzeit &ndash; schob Mrs. Newland
-mit sichtlicher Kraftanstrengung den Stuhl zurück und erhob
-sich.</p>
-
-<p>»Ich muß mich leider hinaufbegeben; etwas Migräne,
-die mich zuweilen in schwülen Zimmern befällt&nbsp;&ndash;, weiter
-ist es nichts. Gute Nacht, Mr. Berken! Bitte, thun Sie
-aber dieses Vorfalls gegen niemanden Erwähnung!«</p>
-
-<p>Jetzt traf mich ein wahrhaft flehender Blick der blauen
-Augen. Darauf schlüpfte die graziöse Gestalt flüchtig und
-noch geräuschloser als sonst aus dem Zimmer.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Die nächsten acht Tage ging ich einher, wie jemand,
-der sich vielleicht mit einem großartigen Wagstück herumträgt
-und nicht recht zu einem festen Entschlusse gelangen
-kann, auf welche Weise dasselbe auszuführen sei. »Thun
-Sie aber dieses Vorfalles gegen niemand Erwähnung!«
-hatte Mr. Frank Newlands Gattin mir bittend zugeflüstert.
-Die Zunge hätte ich mir lieber abbeißen mögen, ehe ich
-<a class="pagenum" id="page_149" title="149"> </a>
-nur eine Silbe von dem verraten, was seit jenem Abend &ndash;
-ja seit dem Morgen, als Mr. Haberton mir in der Office
-die falschen Banknoten gezeigt, in meinem Innern vorging.
-Jeder andere, selbst meine alte Freundin Miß Kathe, wenn
-ich ihr das zu jenem waghalsigen Unternehmen bereits eingesammelte
-und notwendige Material mitgeteilt, würde mich
-auch sicher gründlich ausgelacht und abwehrend etwa geäußert
-haben: »Mein Bester, das sind deutsche Thorheiten!
-Wer Schmutz anfaßt, der darf sich nicht wundern, wenn
-etwas davon an den Händen kleben bleibt!« &ndash; Doch
-einerlei! Was ging mich die amerikanische Herz- und
-Gefühllosigkeit hinsichtlich unserer Mitbrüder an, wo eine
-innere Stimme mich unwiderstehlich antrieb, in das dunkle
-Geschick zweier Menschen, die mich sympathisch anzogen,
-einzugreifen &ndash; zu helfen &ndash; zu retten, solange es noch
-Zeit war.&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Die Familie Newland schien seit den allerletzten Tagen
-sich in sonderbarer Erregung oder Erwartung zu befinden.
-Mr. Fowler war höchst wenig zu sehen und schien dringende
-auswärtige Geschäfte zu besorgen. Dafür aber
-saßen seine Gattin und Schwiegermutter, mit Sorge und
-Ungeduld der Rückkehr des Abwesenden harrend, oft bis
-gegen elf Uhr abends auf dem Balkon.</p>
-
-<p>»Wir lieben es, die erfrischende Nachtluft zu genießen,«
-hatte die zarte junge Frau einmal mit süßem Lächeln zu
-Miß Emmerson geäußert, und niemand störte sie darin.</p>
-
-<p>Mittlerweile brachten die New Yorker Zeitungen, wie
-ich bereits vorausgesagt, wirklich eine Menge haarsträubender
-und mitunter auch lächerlicher Artikel über den
-mutmaßlichen Aufenthalt der gefährlichen Falschmünzergesellschaft,
-welche an Falsifikaten schon ein Kapital in Umlauf
-gesetzt haben sollte, das bereits mehr denn eine Million
-<a class="pagenum" id="page_150" title="150"> </a>
-repräsentiere. Einerseits hieß es: das Haupt der Sippe
-befände sich völlig ungeniert und seelenvergnügt in unserer
-City; andererseits lauteten die Berichte, daß die so schlaue,
-vielleicht auch nur mythenhafte »Dame« sich in Chicago
-aufhielte. Auf jeden Fall aber hoffe die Polizei, dieses
-Mal einen brillanten Fang zu thun und ihrer wirklich
-habhaft zu werden.</p>
-
-<p>Meine junge Tischnachbarin hatte seit jenem Migräneanfall
-jetzt oft so sonderbar rote und geschwollene Augen,
-und das reizende Kinderantlitz dünkte mir auch schmäler
-geworden, als ob irgend ein Gram oder heimliches Weh
-an dem Herzen des lieblichen Geschöpfes nage. Sie sprach
-wenig und aß fast nichts.</p>
-
-<p>Dagegen machte ich die Entdeckung, daß sie mit ihrer
-Schwiegermutter auf höchst gespanntem Fuße zu leben oder
-&ndash; richtiger gesagt: unter dem Despotismus dieser Frau
-zu leiden schien. Bestärkt wurde ich noch in meiner Idee,
-als ich beim Vorüberschreiten an Mr. Franks Zimmer,
-welches, wie diejenigen seiner Mutter und Schwester, in
-der ersten Etage des Hauses lag und dessen Thür ein wenig
-offen stand, &ndash; einmal, ohne im mindesten lauschen zu
-wollen, die harte Stimme des mir so widerlichen Weibes
-zu ihrem Sohne deutlich sagen hörte:</p>
-
-<p>»Und wenn Du Dich hier am Boden zu meinen
-Füßen winden würdest, ich gebe Dir dennoch die Freiheit
-nicht zurück, weil das Wohl und Wehe eines einzigen
-gegen die Existenz und Sicherheit von uns allen nicht in
-Betracht kommt. Wir brauchen Dich und das genügt!«</p>
-
-<p>»Und darüber wird Frank zugrunde gerichtet! Siehst
-und fühlst Du denn das nicht, Mama?« vernahm ich jetzt
-auch die fast schluchzende Stimme meines kleinen, blonden
-Lieblings. Wie erstarrt zögerte ich einen Moment.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_151" title="151"> </a>
-»Gut; dann geht er eben zugrunde, wenn er eine
-Memme &ndash; ein Feigling ist!« klang es nochmals aus dem
-Munde dieser Mutter zurück.</p>
-
-<p>Dann stürmte ich, Abscheu und Wut im Herzen, die
-Treppe hinan nach meiner Wohnung.&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Am selben Nachmittage kam ein feingekleideter, gut
-aussehender älterer Herr ins Haus und wünschte Miß
-Emmerson zu sprechen. Zufällig war ich selbst mit unserer
-Hauswirtin im Parlour anwesend, welche mich lächelnd
-bat, dazubleiben.</p>
-
-<p>Nicht umsonst hatte ich die Carriere eines Advokaten
-in diesem Lande absolviert, um in dem Eintretenden nicht
-sofort den Detektiv der Geheimpolizei zu vermuten. Ein
-scharf prüfender Blick seines dunklen Auges glitt im Nu
-auch über meine unbedeutende Person herab. Doch als
-Miß Kathe ihm meine Beziehungen zu der Firma Haberton
-&amp; Comp. genannt, wurde mir augenblicklich ein sehr
-verbindliches: »<i>How do you do, Sir?</i>« zu teil, und nun
-erst rückte der Besucher, wenngleich noch immer vorsichtig,
-mit seinem Anliegen an den Tag. Miß Emmerson solle
-sein zudringliches Erscheinen nicht etwa übel deuten, meinte
-er, Platz nehmend, wobei er den großen Diamanten an
-seinem kleinen Finger im Lichte der durchs Fenster dringenden
-Sonnenstrahlen spielen ließ. Allein, wie manche
-Erfahrungen bereits bewiesen, befänden sich Persönlichkeiten,
-deren Antecendenzien mit dem Wortlaute der Gesetzbücher
-oft nicht recht übereinstimmten, zuweilen vorzugsweise in
-den allerfeinsten und fashionabelsten Boardinghäusern, um
-soviel als möglich den äußeren Schein zu wahren und jeden
-Verdacht von sich abzulenken. Er müsse so unbescheiden
-sein und um die Namen und Berufsarten ihrer Hausbewohner
-bitten.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_152" title="152"> </a>
-Miß Kathe machte trotz dieser glatten Worte ein höchst
-empörtes und wütendes Gesicht und rief in der ihr charakteristischen,
-etwas derben Trockenheit: ihr Haus berge glücklicherweise
-nur äußerst respektable Leute, und wenn dem
-Herrn ihre Aussage nicht genüge, so fordere sie ihn auf,
-heute abend das Diner mit sämtlichen Gästen einzunehmen,
-was sicher den Beweis führen würde, daß er dieses Mal
-auf gänzlich falscher Fährte sei.</p>
-
-<p>Herr des Himmels, welche Unvorsichtigkeit von Miß
-Kathe! Dieselbe entsprang einzig ihrem völlig unbefangenen
-Gemüte, dachte ich entsetzt, und stand wie auf Kohlen in
-meiner Fensternische, in die ich mich zurückgezogen hatte.
-Wenn dieser Spürhund etwas davon erfuhr, daß Frank
-Newland die Gesellschaft so auffallend mied und allein auf
-seinem Zimmer speiste, wenn&nbsp;...</p>
-
-<p>Jetzt erschrak ich fast über meine seltsame Bangigkeit.
-War es denn möglich, daß ich selbst, ein Mann des Gesetzes,
-noch dazu ein Mensch, welcher jede lichtscheue That
-aus tiefster Seele verachtete, ja dessen Lebensaufgabe darin
-bestand, das gefährdete Recht, wo immer es galt, zu vertreten,
-daß ich also selbst für diesen unseligen jungen Verirrten
-und dessen Frau Partei nahm, &ndash; daß ich gegenüber
-der Sicherheitsbehörde New Yorks mich zu ihrem Schutze
-bereits aufzustellen gedachte, anstatt daß ich vor diesen Mann
-dort hintrat und ihm frank und frei alle Entdeckungen der
-letzten Tage offenbarte. Denn was ging mich schließlich
-dieser Frank Newland nebst seiner blonden Gattin an?
-Oder war diese mir selbst unerklärliche Sympathie für jene
-Menschen vielleicht doch etwa ein Wink von oben?</p>
-
-<p>»Danke bestens, sehr verbunden, Miß Emmerson!«
-lautete indes zu meiner größten Beruhigung des Detektivs
-Antwort. »Ihre Versicherung genügt mir fürs erste, umsomehr,
-<a class="pagenum" id="page_153" title="153"> </a>
-weil ich in meiner Stellung alles Auffällige vermeiden
-muß.«</p>
-
-<p>Dann machte er sich einige Notizen in sein Taschenbuch
-und verließ mit aalglatten Bewegungen und sehr verbindlichen
-Verbeugungen gegen die Dame und mich das
-Parlour.</p>
-
-<p>»Meinen Sie, Mr. Berken, daß es in der eben angedeuteten
-Beziehung mit den Newlands nicht recht geheuer
-ist?« fragte mich Miß Kathe, als wir jetzt allein waren,
-wobei ein etwas ängstliches Zucken ihre Mundwinkel umspielte.
-»Ich hielt sie bisher, das heißt die Männer, für
-Gambler (Spieler) von Profession, vielleicht auch für Leute,
-die auf irgend eine Patent-Medizin reisen oder dergleichen,
-jedoch hinsichtlich des guten Rufes meines Hauses für völlig
-harmlose Kreaturen. Ihnen aber traue ich wohl eine
-Portion Menschenkenntnis zu. Nun, was meinen Sie, Mr.
-Berken? Es thäte mir wirklich leid, wenn ich den Newlands
-aufkündigen müßte und meine Zimmer, voraussichtlich
-bis in den September hinein, leer ständen.«</p>
-
-<p>Ich hatte das Gesicht ein klein wenig nach rechts
-gewandt, so daß Miß Kathes Blicke nur mein Profil zu
-treffen vermochte, und entgegnete so ruhig, als ich trotz der
-Aufregung, die in mir arbeitete, es fertig zu bringen imstande
-war:</p>
-
-<p>»Liebe Miß Kathe! Da ich von dem Grundsatze ausgehe,
-besser ist besser und sicher ist sicherer, so würde ich
-doch die paar hundert Dollars nicht ansehen und gelegentlich,
-das heißt, auf irgend einer triftigen Entschuldigung
-fußend, der alten Newland zu verstehen geben, daß Sie
-über ihre Zimmer zu disponieren wünschten. Ich verehre
-Sie zu hoch und aufrichtig, Miß Kathe, um Sie auf irgend
-welche Weise in Unannehmlichkeiten verwickelt zu sehen!
-<a class="pagenum" id="page_154" title="154"> </a>
-Daher rate ich Ihnen offen hierzu, weil mir die Sache
-mit dem Detektiv gar nicht gefällt.«</p>
-
-<p>Erschreckt prallte die alte Dame zurück und starrte
-mich mehrere Sekunden durchbohrend an. Dann faßte sie
-sich rasch und versetzte mit schmerzlichem Tonfall der
-Stimme:</p>
-
-<p>»Sie würden mir das nicht sagen, Mr. Berken,
-wenn es nicht Ihre innerste Überzeugung wäre!«</p>
-
-<p>»Sicherlich nicht, Miß Kathe!«</p>
-
-<p>»Gut denn; ich folge Ihnen!«</p>
-
-<p>Ohne zu zucken und ohne vielleicht weiter des vermeintlichen
-Verlustes einer für sie ziemlich bedeutenden
-Summe zu gedenken, reichte die resolute alte Dame mir die
-Rechte hin und sagte:</p>
-
-<p>»Morgen wird ein Ende gemacht. Punktum!«</p>
-
-<p>Dann verließ auch sie das Sprechzimmer.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Morgen!« Mechanisch öffnete ich die nach dem
-Balkon führende Glasthür und riß in tiefen Gedanken
-an den an dem Geländer sich emporrankenden Klematisblüten.
-»Morgen!« kam es nochmals sorgenvoll über
-meine Lippen. Jetzt stand die Sonne bereits tief am
-Horizonte, und wenn sie dort im Osten wieder emporstieg,
-dann mußte etwas geschehen sein, wovon die dabei beteiligten
-Personen bis jetzt noch keine Ahnung hatten.</p>
-
-<p>»Deutsche Sentimentalität und Thorheit!« neckte das
-böse Prinzip in meiner Brust. »Laß ab von Sachen, die
-Dich nichts angehen, und hemme die Gerechtigkeit nicht in
-ihrem Lauf!«</p>
-
-<p>Standhaft wehrte ich mich dagegen und flüsterte dafür
-kaum hörbar:</p>
-
-<p>»Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit
-erlangen!«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_155" title="155"> </a>
-Doch horch! Klang das drinnen im Parlour nicht
-gleich einem unterdrückten Schluchzen? Peinlich berührt
-und um nicht etwa hier draußen auf dem Balkon der unfreiwillige
-Zeuge irgend einer Scene zu werden, trat ich
-rasch ins Zimmer zurück. Allein noch einmal stutzte ich.
-Dort in einem Sessel, das Antlitz auf die Armlehne desselben
-niedergebeugt, lag meine schöne Tischnachbarin, wie
-es schien, im Stadium von Agonie oder höchstem Schmerz.
-Nur ab und zu drang ein sich qualvoll herausringender
-Laut aus ihrer Brust, während die krampfhaft verschlungenen
-Finger das blonde Haupt umfaßten. Ungeachtet dieses
-betrübenden Anblicks durchströmte mich beinahe wilde
-Freude. Der Zufall spielte mir hier die beste Gelegenheit
-zum Beginn meines Samariterwerks in die Hand. Daher
-trat ich entschlossen an die Ahnungslose heran und rief:</p>
-
-<p>»Mrs. Maud Newland!« Seit heute morgen wußte
-ich auch den Vornamen des jungen Geschöpfs.</p>
-
-<p>Wie durch einen elektrischen Strom berührt, fuhr die
-Angerufene empor und stand alsbald kerzengerade mir
-gegenüber, während die glühenden, noch bebenden Lippen
-sich zu einem mühseligen Lächeln verzerrten.</p>
-
-<p>»O, ich habe geschlafen und &ndash; sehr &ndash; sehr garstig
-geträumt!« stotterte sie, sich die wirren Locken aus der
-Stirn streichend. Ein anderer, als ich, hätte sich von der
-Wirklichkeit dieses Arguments überzeugen lassen.</p>
-
-<p>Welche moralische Kraft und Geistesgegenwart steckte
-doch in diesem lieblichen Wesen!</p>
-
-<p>»Nein, Madame, Sie haben <em class="ge">nicht geschlafen</em>, sondern
-in tiefem, leidenschaftlichem Seelenschmerz &ndash; in fassungslosem
-Jammer über das Unheil, welches Schritt um Schritt
-Ihnen näher rückt, haben Sie <em class="ge">geweint</em>!« entgegnete ich
-ruhig, aber fest.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_156" title="156"> </a>
-Jetzt stierten die blauen Augen in wahrhaft entsetztem
-Ausdruck mir ins Gesicht.</p>
-
-<p>»Mein Herr! Mit welchem Rechte wagen Sie, eine
-solche Sprache gegen mich zu führen?« kam es leise, jedoch
-zornig aus dem zuckenden Munde.</p>
-
-<p>»Mit dem Rechte aufrichtiger, warmer Freundschaftsgefühle,
-Mrs. Newland!« gab ich völlig unbeirrt zurück
-und faßte nun auch rückhaltlos nach ihrer Rechten.</p>
-
-<p>»Freund&ndash;schaft?« wiederholten ihre Lippen zögernd
-in halb ungläubigem Trotze. Dünkte es mir doch, als
-ob es dabei gleich nie geahntem &ndash; nie gekanntem Glücke
-in den schönen Augen aufflammte. Aber sie entzog mir
-die kleinen Finger dennoch und setzte rasch und herb hinzu:</p>
-
-<p>»Ich danke, Sir, wir &ndash; ich brauche die so edelmütig
-gebotene Freundschaft eines &ndash; Fremden nicht, da
-ja auch gar kein Grund vorliegt, sich mitleidig unserer anzunehmen,
-nein, wirklich absolut nicht!«</p>
-
-<p>»So?« Fest und durchdringend heftete ich meine
-Blicke auf das bleiche Gesichtchen. »Wissen Sie, Mrs.
-Maud Newland, daß Sie in diesem Moment eine <em class="ge">Lüge</em>
-aussprechen? Wohlan! Mir kann das ja einerlei sein.
-Aber ich erinnere Sie nur daran, daß dort oben über uns
-<em class="ge">Einer</em> lebt, dem wir Rechenschaft zu geben haben von
-unseren Worten und Werken, und daß auch für Sie eine
-Zeit kommen kann, wo Sie dieser Hilfe benötigt wären!«
-Schwer und keuchend kamen die Atemzüge aus der jungen
-Brust. »Wenn man in demütigem Sinne diesem <em class="ge">Einen</em>
-seine Sorgen und Lasten anempfiehlt, dann erscheint das
-Schwerste wirklich nicht so schwer!« fuhr ich eindringlicher
-fort.</p>
-
-<p>Jetzt schluchzte sie auf und bedeckte das Antlitz mit
-den Händen.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_157" title="157"> </a>
-»O, warum sprechen Sie <em class="ge">so</em> zu mir! O, wie lange
-&ndash; lange, &ndash; fast seit meinen Mädchentagen ist es her,
-daß jemand gegen mich den Namen Gottes genannt hat!
-Und doch habe auch ich einst, ehe ich Franks Gattin wurde,
-oftmals so innig und warm zu ihm gebetet! Stehen denn
-plötzlich alle süßen Erinnerungen an die Kindheit auf &ndash;
-an meine heimgegangenen Eltern &ndash; an jene Zeit, wo noch
-alles anders war?« fügte sie, die Wangen von Thränen
-überströmt, nun träumerisch ins Leere starrend, hinzu.
-»Wer sind Sie, Sir, daß Sie es verstehen, solche Saiten
-in meinem Innern zu berühren? Gehen Sie &ndash; o gehen
-Sie! Ich bin Ihrer Teilnahme und Güte nicht wert, &ndash;
-habe ja kein Anrecht an die Barmherzigkeit und Milde
-Gottes! Denn&nbsp;...«</p>
-
-<p>Sie stockte plötzlich und wollte an mir vorüber zur
-Thür hinaus. Doch energisch vertrat ich ihr den Ausweg.</p>
-
-<p>»Nicht <em class="ge">allein</em> dürfen Sie hinaus, Mrs. Newland!
-Gerade um der schmerzlichen Erinnerungen willen an
-das glückliche Einst bitte ich Sie, mich jetzt sofort zu Ihrem
-Gatten zu führen und mir eine kurze Unterredung mit
-ihm zu gestatten. Widersetzen Sie sich dem nicht! Denn
-es ist zu Ihrem Wohl &ndash; Ihrer Rettung &ndash; <em class="ge">ich weiß
-alles</em>!«</p>
-
-<p>Tödlich erschreckt fuhr die Fassungslose zurück.</p>
-
-<p>»Was &ndash; was wissen Sie?«</p>
-
-<p>»Daß Frank ein armer Bethörter &ndash; ein Unglücklicher
-ist und schwer unter dem Drucke eines tyrannischen
-Weibes, das sich leider seine Mutter nennt, duldet und
-darüber zugrunde geht!« flüsterte ich ihr entschlossen ins
-Ohr. »Aber, beim Allmächtigen, der mein Vorhaben begünstigt,
-schwöre ich, daß wir über diese Megäre, die auch
-Sie im tiefsten Innern verachten, siegen werden, und ich
-<a class="pagenum" id="page_158" title="158"> </a>
-Ihnen Freiheit, Glück und Sicherheit zurückzugeben vermag!
-Nur folgen Sie mir und fügen Sie sich bedingungslos
-meiner Weisung!«</p>
-
-<p>»Mein Himmel! Träume ich denn? Giebt es in
-dieser jämmerlichen Welt wirklich noch etwas, was Hoffnung
-und Glaube an der Menschheit heißt?« rang es sich
-zitternd über die bebenden Lippen der jungen Frau. »Darf
-ich Ihnen &ndash; dem Fremden &ndash; wahrhaft trauen? Sind
-Sie nicht auch etwa ein Mensch, wie jener, der unlängst
-hier war, &ndash; ein solcher, der kein Erbarmen und keine
-Rücksicht kennt?«</p>
-
-<p>»Mrs. Maud Newland! Ich dächte doch, daß Sie
-von der Aufrichtigkeit meiner Freundschaft überzeugt sein
-sollten!« entgegnete ich fast vorwurfsvoll und weich.</p>
-
-<p>»Freundschaft!« schrie sie darauf in wilder Erregung,
-so daß ich über den grellen Ton ihrer Stimme beinahe
-erschrak. »O, welch ein Zauber liegt in diesem einen
-Wort! Kommen Sie, ja kommen Sie rasch hinauf zu
-meinem armen, geliebten, unseligen Gatten! Er wird &ndash;
-er muß Ihnen folgen!« Und ungestüm zog das liebliche
-Geschöpf mich mit sich fort.</p>
-
-<p>Kaum konnte die Stunde zu einem ungestörten Gespräch
-mit dem jungen Einsiedler dort oben in seinem stillen
-Zimmer günstiger gewählt sein. Denn erst vor einer Weile
-hatte ich die alte Newland nebst Tochter und Schwiegersohn
-das Haus verlassen sehen. Überdies gestand meine
-Begleiterin mir jetzt in merkwürdig rührender Vertraulichkeit,
-daß ihre Verwandten einen kleinen Ausflug nach Coney
-Island unternommen und vor spätem Abend kaum zurückerwartet
-werden dürften. Man habe zwar ausdrücklich
-gewünscht, daß sie selbst an der Partie teilnehmen sollte;
-<a class="pagenum" id="page_159" title="159"> </a>
-doch hätte sie das, um Frank nicht allein zu lassen, auf
-das entschiedenste abgelehnt.</p>
-
-<p>Unter dergleichen leise geführten Reden erreichten wir
-das erste Stockwerk, doch machte die junge Frau vor dem
-verhängnisvollen Gemache noch einmal Halt und holte,
-gleichsam um Mut zu schöpfen, tief Atem. Ach, hätte ich
-der Ärmsten die Viertelstunde doch ersparen können! Nach
-kurzem Zögern öffnete Mrs. Newland mit raschem Entschluß
-die Thür und schritt mir ins Zimmer voran.</p>
-
-<p>Das Erste, was mir beim Eintreten sofort ins Auge
-fiel, war wieder jener eisenbeschlagene Monstre-Koffer, dessen
-Begegnung mir schon einmal zu denken gegeben und dessen
-Anblick nun aufs neue die ganze gefährliche Tragweite,
-ebenso aber auch die Notwendigkeit dieses Schrittes klarlegte.
-Die Fenster des Gemaches gingen gegen Westen, so daß die
-noch hellen Strahlen der Abendsonne es bis in seine tiefsten
-Winkel beleuchteten.</p>
-
-<p>Mr. Frank Newland schien jedoch unseren Besuch gar
-nicht zu merken. Denn mit aufgehobenem rechten Arme,
-ein Pistol in der Hand haltend, zielte er soeben nach einer
-an der Wand der Langseite befestigten Scheibe, deren durchlöchertes
-Feld mir zur Genüge zeigte, wie und durch welches
-Vergnügen der junge Mann seine Mußestunden sich verkürzte.
-Wieder gewahrte ich in seinem schönen Gesichte
-den finsteren Schmerzensausdruck und konnte in diesem
-Momente mich wirklich des Gedankens nicht erwehren, ob
-der, wie ich ja wußte, so verzweifelt und vergeblich an
-seinen Fesseln Rüttelnde nicht vielleicht dort, wo sich die
-weiße Papierscheibe befand, die Häupter seiner Peiniger
-oder mutmaßlichen Verfolger im Geiste zu schauen wähnte.</p>
-
-<p>»Frank! Ich wollte &ndash; ich möchte so gern, daß Du
-&ndash; diesem Herrn hier, Mr. Berken, für einige Minuten
-<a class="pagenum" id="page_160" title="160"> </a>
-Gehör schenktest!« rief jetzt, das lange Schweigen unterbrechend,
-meine Begleiterin ihrem Gatten bittend und zärtlich
-zu, während sie nach ihm hinüberflog und die Arme
-um seine Schultern schlang.</p>
-
-<p>Sofort sank die Hand mit dem Pistol herab, und,
-mehr erschreckt als unwillig, fuhr sein Kopf nach mir
-herum.</p>
-
-<p>»Was soll's? Du weißt ja, Maud, daß ich nicht
-gern gestört bin!« kam es leise, doch grollend über seine
-Lippen.</p>
-
-<p>Allein trotz dieses wenig ermutigenden Empfanges
-hatte ich mich ihm rasch genähert und begann ohne Zögern:</p>
-
-<p>»Die große Wichtigkeit dieses Besuches hier, ja meines
-Anliegens an Sie, Mr. Newland, überwiegt das Peinliche,
-was zweifellos für mich in diesem etwas dreisten Vordringen
-eines Ihnen fast Fremden liegt!«</p>
-
-<p>Franks geistvolles, dunkelumrahmtes Auge richtete sich
-bei diesen Worten ganz seltsam scheu und fragend nach
-dem meinen, indem er herb und zögernd erwiderte:</p>
-
-<p>»Wegen meines Leidens empfange ich niemals &ndash;
-grundsätzlich niemals Besuche. Doch, wenn <em class="ge">sie</em>« &ndash; (ein
-vibrierender, auffallend zärtlicher Ton lag in diesem: <em class="ge">sie</em>,
-womit er der Gattin Hand sanft drückte) &ndash; »ausnahmsweise
-jemanden bei mir einführt, dann muß ich mich allerdings
-schon von der Notwendigkeit durch dies Abweichen
-von der Regel überzeugen lassen.« Er verbeugte sich gegen
-mich und fügte etwas weniger schroff, indes mit immer
-noch tief ernster Stimme hinzu:</p>
-
-<p>»Meine Frau hat mir bereits von Ihrer Liebenswürdigkeit
-und Ihren menschenfreundlichen Gesinnungen
-erzählt, Mr. Berken! Es ist ein edler Grundzug im
-Charakter der Deutschen, daß Teilnahme und Freundschaft
-<a class="pagenum" id="page_161" title="161"> </a>
-bei ihnen nicht leere Worte sind, sondern dem Herzen
-entspringen.«</p>
-
-<p>Dabei legte er die kleine Schußwaffe beiseite und
-reichte mir die Finger hin. Eine müde Apathie machte
-sich im Wesen dieses Mannes bemerkbar und verlieh ihm,
-verbunden mit dem schmerzlich krankhaften Zuge seines
-schmalen Gesichts, den Anstrich eines wirklich Leidenden.</p>
-
-<p>So ruhig und fest, daß ich mich in diesem Momente
-selbst über meine Fassung wunderte, erwiderte ich:</p>
-
-<p>»Der Hauptgrund unseres Charakters ist eine unüberwindliche,
-ja, so zu sagen, schon mit der Muttermilch eingesogene
-Abneigung gegen jeden falschen Schein.«</p>
-
-<p>Ganz sonderbar stutzte er, während ein halb wirrer
-Blick über meine Gestalt hinwegglitt, und gleichsam fragend
-wandte er sich nun nach seiner jungen Frau, welche mit
-im Schmerz gefalteten Händen in einen Sessel gesunken war.</p>
-
-<p>»Ich muß wohl annehmen, daß Sie einen besonderen
-Zweck mit diesem &ndash; Besuche verbinden?« entfuhr es in
-harten, schroffen Tönen seinem Munde, indem er nun,
-wie zu einer kampfbereiten Stellung, sich vor mir aufrichtete
-und bald noch heftiger hinzufügte: »Sie hassen
-den Schein! Sehr gut, mein Herr! Aber unter welchem
-Vorwande erklären Sie mir dann Ihr sonderbar geheimnisvolles
-Benehmen, welches zweifellos irgend eine Absicht
-&ndash; einen Hintergedanken verrät? Denn nur allein deshalb
-hierher in mein Zimmer zu kommen, um einen Ihnen fast
-Unbekannten, der Ihnen niemals störend in den Weg getreten,
-mit zweideutigen Reden zu intriguieren, dafür halte
-ich Sie, Mr. Berken, doch für zu <i>gentlemanlike</i> und edel.«</p>
-
-<p>»Sie scheinen viel Menschenkenntnis zu besitzen,
-Mr. Newland!« gab ich ihm, ohne mit der Wimper zu
-zucken, zurück. »Wohlan denn! Den Grund dafür kennt
-<a class="pagenum" id="page_162" title="162"> </a>
-bereits Ihre verehrte Gemahlin; es ist der, daß ich Ihnen
-mit Rat und That behilflich sein möchte, Ihre unwürdigen
-Fesseln zu sprengen! Ist diese Antwort nicht klar und
-verständlich genug?«</p>
-
-<p>Durchdringend heftete ich dabei meine Augen auf das
-abgehärmte Männergesicht. Doch nur ein leise gurgelnder
-Ton drang über seine Lippen, während er haltlos mehrere
-Schritte nach rückwärts taumelte.</p>
-
-<p>»Ich dulde keine Einmischung in meine Angelegenheiten!«
-stieß er endlich nach wenigen Sekunden wild heraus.
-Sein Auge funkelte und jede Fiber des schlanken,
-aber sehnigen Körpers schien in Erregung und Leidenschaft
-zu zucken. Dann aber lachte er gellend auf. »Und wissen
-Sie, mein Herr, was wir Amerikaner aus tiefster Seele
-verachten? Das sind glattzüngige Schleicher, die hier und
-dort mit dem löblichen Grundsatze: ›der Zweck heiligt die
-Mittel‹ herumspionieren und schließlich doch nur Unheil
-stiften! Solche Leute sind mir in den Tod verhaßt. Und
-nun, mein Herr, bitte ich, daß Sie in Zukunft mich unbelästigt
-lassen!«</p>
-
-<p>Damit kehrte er mir den Rücken und schritt dem
-Fenster zu. Hier schien demnach der Sieg nicht ganz so
-leicht, als unten im Parlour über die junge Frau, dachte
-ich unentschlossen. Doch kam schon die kleine Verbündete
-mir rasch zu Hilfe, indem sie, emporspringend und zu dem
-Gatten hinübereilend, rief:</p>
-
-<p>»O Frank! Sei barmherzig! Um Deiner Liebe zu
-mir &ndash; um unseres Elends willen, weise diesem Herrn
-nicht so schroff die Thür! Denn gerade er, Mr. Berken,
-will uns ja dazu verhelfen, daß der waghalsige Plan, der
-schon längst in Deinem Kopfe reifte, aber stets wieder vereitelt
-wurde, wirklich einmal zur Ausführung gelangt. Ich
-<a class="pagenum" id="page_163" title="163"> </a>
-flehe Dich an, Frank, lasse diese gute Gelegenheit nicht
-unbenutzt vorübergehen! Denn ohne energischen Beistand
-käme es nie &ndash; nie dazu!« sprudelte das schöne Weib in
-flammender Begeisterung für die Sache wild hervor. »Du
-bist so gut und treu, voller Liebe und Rücksicht für mich,
-aber dennoch bloß ein schwankendes Rohr gegenüber der
-Macht und dem Willen Deiner Mutter!«</p>
-
-<p>Ich war ebenfalls näher getreten und sah deutlich, wie
-eine heiße Blutwelle Mr. Franks Stirn verdunkelte.</p>
-
-<p>»Schweig, Maud! Du vergißt Dich. Dein noch unerfahrener
-Sinn setzt Vorsicht und Pflichten außer acht!«
-raunte der Gatte unter keuchenden Atemzügen ihr leise zu.</p>
-
-<p>Allein sie beachtete diese Warnung nicht. In zwei
-Sätzen sprang die graziöse Gestalt zu mir herüber, faßte
-stürmisch meine Hand und rief:</p>
-
-<p>»So sagen Sie ihm doch, daß Sie alles wissen &ndash;
-in alles eingeweiht sind und den ganzen großen Jammer
-unserer Existenz entdeckt haben, Mr. Berken!«</p>
-
-<p>Da drang es wie ein schlecht unterdrückter Wutschrei
-über des Mannes Lippen, der drohend die Faust nach dem
-lieblichen Haupte emporhob.</p>
-
-<p>»Maud, &ndash; Unselige! Du hast uns verraten!«</p>
-
-<p>»Nein, Mr. Newland, Sie irren!« sagte ich, jetzt dicht
-an ihn herantretend und mit festem Druck sein Handgelenk
-umspannend. »Der bloße Verdacht allein ist schon eine
-Kränkung für Ihr treues, opfermutiges Weib. Nicht sie
-hat den verhüllenden Schleier von dem düsteren Bilde Ihres
-Daseins hinweggezogen, nicht Ihre Gemahlin hat mir die
-traurige Wahrheit entdeckt, sondern mein eigenes warmes
-Interesse für ein Paar bedauernswerte junge Menschen ließ
-mich Schritt für Schritt dem ersten leisen Verdachte, den
-schon jener ominöse Koffer dort anregte, weiter nachforschen.
-<a class="pagenum" id="page_164" title="164"> </a>
-Auch nicht um Unheil zu stiften, Mr. Frank Newland, wie
-Sie soeben voraussetzten, &ndash; nein, einzig nur aus dem
-Grunde, um im Augenblicke höchster Gefahr &ndash; und solche
-ist jetzt vorhanden &ndash; zu retten und zu helfen!«</p>
-
-<p>Er riß sich von mir los und rannte, mit beiden
-Händen den Kopf umfassend, einigemal wie rasend durch
-das Zimmer.</p>
-
-<p>»Wo &ndash; wo ist Gefahr? Wer sagt das? Wer bürgt
-mir dafür?« rief er heiser.</p>
-
-<p>»Frank! Du selbst weißt es ja &ndash; kennst das drohende
-Gespenst der Verfolgung, welches Tag und Nacht über uns
-schwebt; weißt auch, was für ein Mensch vor kaum einer
-Stunde bei Mrs. Emmerson Nachfrage hielt, weißt ferner,
-daß der Boden unter unseren Füßen bereits wankend geworden!«
-mahnte die junge Frau mit todesbleichem Gesicht.
-»Nur Mut und rasche Entschlossenheit, Geliebter,
-und wir entfliehen dieser schauerlichen Existenz, die ich verabscheue,
-die entwürdigend für uns ist! Zeige, daß Du
-ein Mann bist, Frank &ndash; ein Mann, der, dieser empörenden
-Tyrannei anderer müde, sein besseres Ich herauswindet
-aus einer Bergeslast von Lug und Trug. O! arbeiten
-und Dir beistehen will ich ohne Murren und Klagen Tag
-für Tag, um uns ein neues Heim zu schaffen!« fuhr die
-junge Frau mit überzeugender Wahrheit und bewundernswerter
-Beredsamkeit fort, &ndash; »ein stilles, friedliches Heim,
-welches allein uns gehört und worüber der dort oben
-wachen soll, den wir so lange Zeit vernachlässigt haben!
-Frank, wenn Du mich wahrhaft liebst, so folge diesem da,
-der es gut und ehrlich mit uns meint!«</p>
-
-<p>Überwältigt durch den Schmerz der hervorbrechenden
-Gefühle sank die schöne Frau zur Erde nieder und umfaßte
-leidenschaftlich des Gatten Knie. Ein Moment war
-<a class="pagenum" id="page_165" title="165"> </a>
-das, der mich aller Zweifel und aller in mir sich regenden
-Ungewißheit überhob. Jetzt wußte ich, daß der wunderbar
-stürmische Drang in mir, diesem jungen Paare meine Hilfe
-zu bieten, höheren Ursprungs war. Alle Bedenken, gerade
-durch diese Hilfe mich einer ungesetzlichen, ja vielleicht gar
-strafbaren Handlung schuldig zu machen, zerflossen bei dem
-Anblicke in ein Nichts.</p>
-
-<p>»Mr. Frank Newland! Ich sehe, daß die Liebe zu
-Ihrer Frau bei Ihnen größer ist, als zu sonst irgend etwas
-auf Erden, und daß diese Liebe Ihnen dazu verhelfen wird,
-selbst das Schwerste zu überwinden!« sagte ich mit einer
-Stimme, die die eigene tiefe Bewegung deutlich verriet.
-»Wollen Sie fortan bedingungslos sich meiner Führung
-anvertrauen? Die Zeit ist kurz. Jetzt gilt nur ein schnelles
-Entweder &ndash; Oder!« Wie Wetterleuchten zuckte es über
-sein bleiches Gesicht. »Zerreißen Sie mit fester Hand
-jenes unwürdige Band, welches Sie noch an die Vergangenheit
-knüpft, &ndash; schauen Sie dafür mutig und mit Gottvertrauen
-in eine lichtere, hoffnungsreiche Zukunft!«</p>
-
-<p>Ungestüm hatte er, während ich sprach, die liebliche
-Gestalt zu sich emporgezogen. Eine Weile hielten die
-Gatten sich umschlungen.</p>
-
-<p>»Der Fluch der Mutter, &ndash; grimmiger Haß von allen,
-die mir bisher vertraut haben, &ndash; ja, ein Leben der Not
-und Entbehrung, &ndash; das ist es, was uns sicher erwartet,
-wenn ich diese Fesseln sprenge! Würdest Du Dich auch
-klagelos und willig einem vielleicht noch härteren Geschicke
-beugen, meine Maud?« fragte der junge Ehemann so zärtlich
-und weich, wie man nur zu einem Kinde redet.</p>
-
-<p>Ein kaum unterdrückter Jubelschrei stieg aus der Gefragten
-Brust.</p>
-
-<p>»Und wenn dieser Schritt meinen Tod bedeutete, ich
-<a class="pagenum" id="page_166" title="166"> </a>
-könnte nicht ruhiger und beglückter darüber sein, daß Dein
-Widerstand endlich gebrochen ist und Du heimlich mit mir
-von dem Schauplatze unserer Leiden verschwinden willst,
-Frank!« rief sie neu belebt und zitternd vor Erregung, indem
-sie aus den sie umschlingenden Armen sich befreite und
-wieder zu mir herüber eilte.</p>
-
-<p>»Jetzt aber rasch zum Entschluß, Mr. Berken! Was
-soll geschehen? Bestimmen Sie über uns!« flüsterte sie
-mir hastig zu.</p>
-
-<p>Allein auch der vor kurzem noch so verschlossene und
-so schroff und starr abweisende junge Mann reichte mir
-jetzt, wenngleich mit einem Ausdruck bitterer Trauer, seine
-Hände entgegen, in die ich freudig einschlug.</p>
-
-<p>»In spätestens einer Stunde werden Sie New York
-im Rücken haben und sich auf dem Wege nach Kanada
-befinden,« erwiderte ich ernst und sehr bestimmt, während
-beide mir mit ängstlicher Spannung lauschten. »Spurlos
-noch ehe die Untersuchungen in jener traurigen Angelegenheit
-weiter fortschreiten, müssen Sie und Mrs. Newland
-von der hiesigen Bildfläche verschwinden, als ob der Sturm
-Ihre Namen hinweggeweht. Fort &ndash; vergessen! Miß
-Emmerson sagen Sie indessen, daß Sie anläßlich einer
-wichtigen Depesche mit Ihrer Frau auf acht Tage zu verreisen
-gezwungen wären! Das genügt. Packen Sie also
-die nötigste Garderobe und Wäsche in einen nicht zu großen
-Koffer. Alle Ihre Sachen mitzunehmen, darauf müssen
-Sie leider verzichten, weil das vielleicht Verdacht erregen
-könnte. Dann benutzen Sie den nächsten Zug nach Montreal!
-Fürs erste jedoch, Mr. Newland,« &ndash; fügte ich,
-indem ich jenem ominösen Koffer ganz nahe trat, ein wenig
-zögernd und sehr leise hinzu &ndash; »schaffen Sie den gefährlichen
-Inhalt dieses Riesen schleunigst aus der Welt!«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_167" title="167"> </a>
-Er zuckte jäh zusammen und stotterte in höchster Verwirrung,
-während eine fahle Blässe sein Gesicht überzog.</p>
-
-<p>»So wissen Sie? &ndash; nein, nein, das darf ich nicht
-thun, &ndash; die Mutter&nbsp;...!«</p>
-
-<p>»Sie dürfen auf niemanden Rücksicht nehmen! Denn
-ich ahne wohl, daß hierin die schlagendsten Beweise zur
-Überführung einer gar schlimmen Schuld für Sie enthalten
-sind, mein armer, bethörter Freund!« versetzte ich
-freundlich. »Und diese Beweisstücke müssen unter allen
-Umständen vertilgt sein. Dort drüben ist der Kaminofen.
-Was irgend brennbar ist, &ndash; hinein in ein flackerndes
-Feuer. Das übrige packen Sie in eine schlichte Reisetasche,
-die Sie mit sich nehmen und wie aus Versehen im Gedränge
-auf dem Bahnhofe stehen lassen! Dann erst werden
-Sie frei sein gleich dem Vogel in der Luft. Das leere
-Ungetüm hier wird nichts mehr verraten und grabesstumm
-bleiben. Sie sehen, mein Plan ist gut und könnte wahrlich
-der Intelligenz eines Amerikaners alle Ehre machen,«
-fügte ich ermutigend hinzu. Denn es entging mir nicht,
-wie hastige, schwere Atemzüge über seine Lippen stießen
-und er sichtlich zu kämpfen schien, mir mit neuen Einwendungen
-entgegenzutreten.</p>
-
-<p>»Und wohin sollen wir Ausgestoßenen, denen das
-eigene Vaterland nicht mehr Raum und Schutz zu bieten
-vermag, uns wenden?« fragte er herb. »Welche Aussichten,
-welcher Erwerb bietet sich uns auf englischem Boden?
-Ich bin völlig fremd in Kanada, &ndash; habe nicht die geringsten
-Verbindungen&nbsp;...«</p>
-
-<p>»Eben deshalb ist es nötig, daß Sie dorthin Ihre
-Schritte lenken, Mr. Newland!« gab ich ihm tröstend zurück.
-»Gerade dort, wo Sie fortan leben werden, sollen
-<a class="pagenum" id="page_168" title="168"> </a>
-Sie ein Fremder sein; auch sogar den Namen, den Sie
-jetzt führen, müssen Sie hier zurücklassen!«</p>
-
-<p>Bei diesen Worten stieg abermals eine dunkle Röte
-dem Unglücklichen über die Stirn und finster, aber leidenschaftlich
-rief er:</p>
-
-<p>»Der Name Newland gehört mir von Rechts wegen
-gar nicht. So hieß nämlich der zweite Gatte meiner
-Mutter, der vor einem Jahre starb und dessen verhängnisvolles,
-grausiges Vermächtnis eben jener Koffer dort ist
-mit allem, was darin sich befindet und daran sich knüpft
-&ndash; ein Vermächtnis, das gleich einem Fluche auf uns
-lastet. Man soll den Toten nichts Schlimmes nachsagen.
-Allein noch im Grabe verabscheue ich jenen Mann, der
-sich erkühnte, mein Stiefvater zu heißen. ›Welch eine Erscheinung!‹
-hätten auch Sie bei seinem Anblick sicher ausgerufen.
-Im Äußeren glich er einem Heroen an Größe,
-Körperkraft, wie auch an Geist. Bestechend und verführerisch
-klang jedes Wort, mit dem er in die ahnungslose
-Menschenseele sich einzuschmeicheln verstand. Doch wer ihm
-unterlag, der saß fest in den Fangarmen des Teufels. Ein
-dämonischer Tyrann war er und hat meine unselige Mutter
-zu dem gestempelt, was sie jetzt ist, &ndash; zu einer geldgierigen
-Megäre, die heute noch einzig nur in den Fußstapfen
-des ihr teuer gebliebenen Verblichenen wandelt.
-Aus mir aber&nbsp;...« &ndash; tief schöpfte er Atem &ndash; »aus
-mir hat er einen der routiniertesten, gefährlichsten Falschmünzer
-Amerikas gemacht, &ndash; ha, ha, ha! Das war ein
-Meister, wie es keinen zweiten giebt!«</p>
-
-<p>»O Franky! So lasse doch die alten Erinnerungen!«
-bat meine kleine blonde Freundin zärtlich, indem ihr die
-hellen Tropfen über das süße Gesicht herabrieselten.</p>
-
-<p>»Nein, nein! Jetzt muß ich reden!« erwiderte der
-<a class="pagenum" id="page_169" title="169"> </a>
-junge Mann heftig. »Sie, Mr. Berken, sollen wenigstens
-erfahren, daß ich zu solch schmachvollem Berufe verführt &ndash;
-gezwungen wurde, daß nicht die Gier und die Lockungen
-nach mühelos erworbenen Schätzen mich dazu verleiteten!
-Beim Allmächtigen, der sich gnädig meiner erbarmen möge,
-&ndash; ich habe den schnöden Mammon stets gehaßt! Denn
-er allein ist der Satan, der die Menschheit verdirbt und
-erniedrigt! Was spreche ich doch von mühelos erworbenem
-Gelde? Wer hat gearbeitet Nacht um Nacht über Wagstücken,
-die oftmals doch mißlangen? Wer hat die Schweißtropfen
-saurer Mühe hergeben müssen für solches Teufelswerk?
-Ich war's &ndash; ich that's, Mr. Berken, weil ich zu
-schwach &ndash; zu feige war, mich loszureißen! Geknirscht und
-geflucht habe ich oft in ohnmächtigem Zorne. Doch der
-böse Blick der Mutter, in welchem ich noch fortdauernd
-den Dämon meines verfehlten Lebens &ndash; den Meister &ndash;
-den Stiefvater zu schauen wähnte, &ndash; er hielt mich gleich
-einem Knechte in Zucht und Banden! Aber das Maß ist
-voll, &ndash; länger ertrage ich es nicht!« rief er fast schluchzend.
-»Um ihretwillen, die mein Licht und Trost ist,« &ndash; das
-sterbensmüde Auge traf der Gattin aufstrahlendes Gesicht,
-»um ihretwillen reiße ich das Band, was mich an diejenige
-bindet, die mich geboren, in Stücke!« Ich schaute
-nach der Uhr und fragte, in der Absicht, ihn von dem
-schmerzlichen Thema abzulenken:</p>
-
-<p>»Darf ich den Wagen für Sie bestellen, Mr. Newland?«</p>
-
-<p>Wie aus tiefem Sinnen fuhr er auf und nickte halb
-gedankenvoll:</p>
-
-<p>»Ja, ja &ndash; den Wagen &ndash; fort!«</p>
-
-<p>»Auch möchte ich Ihnen hier noch eine Adresse für
-Montreal überreichen, Mr. Frank?&nbsp;... Ja, wie ist denn
-Ihr wirklicher Name?«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_170" title="170"> </a>
-»Wilson!« entgegnete er kurz.</p>
-
-<p>»Also, Mr. Wilson! Ein sehr intimer Freund von
-mir, ebenfalls ein Deutscher, hat dort eine renommierte und
-gesuchte Law-Office (Rechts-Bureau). An diesen ganz vortrefflichen
-Mann habe ich Sie als tüchtigen, intelligenten
-Arbeiter empfohlen, da ich durch Ihre Gemahlin weiß,
-welch gründliche Bildung Sie genossen, und daß ein Wissen
-in Ihnen steckt, wie junge lebenslustige Amerikaner es sich
-sonst selten anzueignen pflegen. Ein Wort von mir genügt,
-Ihnen den Anfang zu einer vielleicht sehr lukrativen
-Laufbahn zu eröffnen, und gingen Sie somit im Auslande
-keiner allzu trüben Zukunft entgegen. Die Hauptsache ist
-natürlich, daß Sie mit Lust und Energie einen Ihren
-Kenntnissen angemessenen Beruf ergreifen.«</p>
-
-<p>»Mein Gott, das ist zu viel, &ndash; das bin ich nicht
-wert!« stöhnte der Überraschte kopfschüttelnd. Es zuckte
-dabei aber doch ganz seltsam freudig um seinen Mund.</p>
-
-<p>Meine kleine blonde Freundin schlug indes die Hände
-vor das Gesicht und schluchzte laut.</p>
-
-<p>»Haben Sie das nötige Reisegeld?« forschte ich, durch
-nichts beirrt, mit der ernsten, trockenen Stimme eines Inquirenten
-weiter, obgleich mir selbst vor innerer Bewegung
-der Ton im Halse stecken zu bleiben drohte.</p>
-
-<p>Eine lange Pause erfolgte. Dann zog Mr. Frank
-Wilson mehrere 50&nbsp;Dollar-Billets aus seinem Taschenbuche,
-zündete am Tische eine Kerze an und hielt, ohne
-zu sprechen, noch zu zucken die Banknoten darüber, daß
-alsbald die hellen Flammen um seine Finger spielten.</p>
-
-<p>»Ist denn der Mensch toll geworden!« hätte bei diesem
-seltsamen Gebahren ein anderer vielleicht gedacht und solchen
-Frevel zu vereiteln gesucht. Ich aber rührte mich nicht
-von der Stelle. Denn gerade jenes anscheinend kopflose
-<a class="pagenum" id="page_171" title="171"> </a>
-Experiment redete für mich eine stumme Sprache. Das,
-was dort eben in Rauch aufging, waren ja auch nur
-elende Falsifikate; Lug und Trug war es&nbsp;&ndash;, die schauerlichen
-Früchte seines arbeitsschweren Daseins, an denen,
-wie er selbst gesagt, die Schweißtropfen saurer Arbeit
-hingen! Armer Frank! So kurz und straff hielt diese
-entsetzliche Mutter ihren einzigen Sohn im Zügel, daß sie
-ihm nicht das nötigste Geld zur Verfügung stellte &ndash; aus
-Angst, er könne doch endlich einmal ihrer Tyrannei heimlich
-entfliehen! In diesem Augenblicke überkam es mich
-wie eine wahre Wollust, jenem entmenschten Weibe einen
-Streich spielen zu können.</p>
-
-<p>Mit zu Boden gesenkten Wimpern stand der Bedauernswerte
-vor mir. Welch beschämende Gefühle mochten
-in ihm sich regen! Daher schritt ich rasch an ihn heran
-und legte meine Rechte sanft auf seine Schulter.</p>
-
-<p>»Lassen wir Vergangenes ruhen, mein Freund! Ich
-begreife und verstehe alles und beklage Sie tief. Und
-doch ist es am Ende besser so, damit Sie mit Ihrer Flucht
-aus New York niemandem &ndash; verstehen Sie wohl: niemandem
-mehr verpflichtet sind. Hier, Mr. Frank Wilson,
-lege ich 500 Dollars auf den Tisch, als ein Darlehen,
-was hoffentlich zum Beginn einer neuen Existenz ausreichen
-wird! Sie werden arbeiten und später guten Verdienst
-haben, davon bin ich überzeugt.«</p>
-
-<p>Abwehrend erhob er seine Hände.</p>
-
-<p>»Nun, was wollen Sie?« setzte ich schnell und
-lächelnd hinzu. »Ohne Geld kann man nicht reisen, und
-bleibt Ihnen somit gar nichts anderes übrig, als meine
-Hilfe anzunehmen. Im übrigen bin ich auch weit davon
-entfernt, diese Summe als verloren zu betrachten. Denn
-fürs erste bin ich selbst durchaus kein reicher Mann, und
-<a class="pagenum" id="page_172" title="172"> </a>
-zweitens weiß ich ziemlich sicher, daß Sie die kleine Schuld
-mir nach und nach zurückzahlen werden. Sind Sie demnach
-mit diesem Geschäfte zufrieden?«</p>
-
-<p>Einem Traumbefangenen gleich stand er vor mir und
-stotterte nur ein paarmal hintereinander:</p>
-
-<p>»Ich danke &ndash; danke Ihnen, mein Herr!«</p>
-
-<p>Seit ich mein deutsches Vaterland verlassen, war,
-glaube ich, eine ähnliche Anwandlung von Rührung und
-seelischer Befriedigung nicht über mich gekommen, als zu
-jener Stunde, die mit allen ihren Einzelheiten klar und
-fest sich bis zum heutigen Tage meinem Gedächtnis eingeprägt
-hat.</p>
-
-<p>Stillschweigend hatte ich meinen Hut ergriffen und
-gedachte mich unbemerkt zur Thür hinauszuschleichen. Allein
-der blonden Frau war meine Absicht nicht entgangen. In
-stürmischer Hast rannte sie mir nach und faßte beinahe
-leidenschaftlich meine Rechte.</p>
-
-<p>»Nein, so dürfen Sie nicht fort, Mr. Berken! O,
-es sieht Ihnen ganz ähnlich, daß Sie unseren Dankesworten
-sich entziehen wollen! Die wahre Großmut ist ja immer
-still und bescheiden, und ihr Deutschen seid alle von Natur
-so edel! Wirklich grausam wäre es gegen uns, nicht noch
-einen letzten, warmen Händedruck, einen letzten Abschiedsblick
-des einzig wahren, teilnehmenden Freundes für unser
-armseliges Geschick zu erhalten!«</p>
-
-<p>So klang es in schmelzenden Tönen an mein Ohr.
-Wehmütig lächelnd blieb ich stehen, indem nun auch Mr.
-Wilson sich mir näherte und mit stummem Schmerze mir
-ins Auge schaute.</p>
-
-<p>»Leben Sie wohl, Mr. Berken!« sagte er, nachdem
-er seiner sichtlichen Bewegung endlich Herr geworden. »Was
-<em class="ge">Sie</em> vollbracht haben, ist eine That, welche mit der Dankbarkeit
-<a class="pagenum" id="page_173" title="173"> </a>
-eines ganzen Lebens kaum gelohnt wäre, und die
-nur Gott zu vergelten im stande ist! Sie werden von
-uns hören. Leben Sie wohl!«</p>
-
-<p>Noch einmal schüttelten mir die beiden Verwaisten
-&ndash; diesen Eindruck machten sie auf mich, als sie, Arm in
-Arm, tiefste Wehmut im Angesicht, mir gegenüberstanden &ndash;
-die Hände. Dann schloß sich die Pforte hinter mir und
-ich stand auf dem Vorsaal.</p>
-
-<p>Indes schien jetzt durchaus keine Zeit mehr, sich
-schmerzlichen Gefühlen und Reflexionen hinzugeben. Die
-Uhr zeigte 6½ und der Zug, welchen das junge Paar
-benutzen sollte, verließ New York in einer Stunde. Rasch
-sprang ich die Treppe hinab. Unglücklicherweise begegnete
-mir im Vorsaal, wo die Parlours mündeten, Miß Emmerson.</p>
-
-<p>»Nun, wohin so eilig, Mr. Berken? Sie sehen ja
-ganz erhitzt aus,« warf die Dame lächelnd hin.</p>
-
-<p>»Es ist oben in meinem Zimmer eine Bärenhitze
-und möchte ich mit der offenen Car (Pferdebahnwagen)
-etwas hinaus in den Central-Park fahren,« log ich mit
-abgewandtem Gesichte.</p>
-
-<p>»So? Dann werden Sie zum Essen schwerlich zurück
-sein &ndash; hm!« Eine Weile sah sie mir kopfschüttelnd und
-durchdringend in die Augen. »Nun, ich bin weit davon
-entfernt, Sie mit indiskreten Fragen zu belästigen. Aber
-&ndash; an der Nase sehe ich es ja Ihnen an, daß irgend etwas
-faul ist im Staate Dänemark. Dazu kenne ich Sie zu
-genau. <i>Well</i>, über das <i>dinner</i> machen Sie sich nur keine
-Sorgen! Für Sie wird es aufbewahrt. Viel Vergnügen,
-Mr. Berken!« Damit schritt meine alte Freundin majestätisch
-ihres Weges.</p>
-
-<p>Jedenfalls muß ich ein sehr dummes oder verblüfftes
-<a class="pagenum" id="page_174" title="174"> </a>
-Gesicht gemacht haben, und war wirklich froh, als ich
-draußen in frischer Luft mich befand.&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Erst gegen 8&nbsp;Uhr abends kehrte ich nach planlosem
-Herumstreifen in der City zurück, weil ich es aus verschiedenen
-Gründen für zweckmäßig erachtete, daß die Abreise
-der Wilsons sich ohne meine Anwesenheit vollzog.</p>
-
-<p>Unbefangen betrat ich das Speisezimmer, wo in der
-That noch ein gedecktes Couvert für mich auflag. »Gute
-Miß Kathe!« dachte ich befriedigt; denn ich war hungrig
-und freute mich auf eine kräftige Mahlzeit. Allein nichts
-verriet mir in der nächsten Viertelstunde, daß irgend etwas
-Besonderes im Hause vorgefallen. Der aufwartende Neger
-machte ein völlig indifferent stumpfsinniges Gesicht und die
-das Diningroom zufällig passierenden Logiergäste begrüßten
-mich nur mit einem kurzen »<i>Good evening</i>, Mr. Berken!«
-Trotzdem aber lag es mir wie eine Gewitterschwüle auf
-dem Gemüte. Waren meine Schützlinge unbehindert und
-glücklich fortgekommen? Zu fragen wagte ich nicht, hoffte
-daher auf einen günstigen Zufall, der es mir verraten
-würde.</p>
-
-<p>Wirklich, als ich nach beendetem Speisen die Treppe
-nach meinem Zimmer emporstieg, trat Miß Emmerson aus
-den von dem jungen Paare bewohnten Gemächern heraus
-auf den Flur. Wir stutzten beide, und alsbald drang ein
-sonderbarer Geruch nach verbranntem Papier durch die
-geöffnete Thür mir entgegen.</p>
-
-<p>»Ah &ndash; zurück?« fragte sie leichthin, doch merkte ich
-bald, daß in dem sonst freundlichen Gesichte ein merklich
-ernster Ausdruck lag.</p>
-
-<p>»Ja, Miß Emmerson! Und ich habe mir soeben
-Ihre vortrefflichen Gerichte schmecken lassen!« erwiderte ich
-mit möglichster Heiterkeit.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_175" title="175"> </a>
-»Nun, <em class="ge">mein</em> <i>dinner</i> ist mir heute recht gestört worden
-durch die sonderbare, fluchtartige Abreise zweier meiner
-Gäste!« war ihre etwas scharfe Antwort.</p>
-
-<p>»Fluchtartige Abreise?« fragte ich mit einer äußerst
-wohlgelungenen Miene des Staunens, wodurch die alte
-Dame sofort veranlaßt wurde, halb befriedigt und freundlicher
-den Kopf zu wiegen.</p>
-
-<p>»Nun, ich dachte mir eigentlich, daß Sie vielleicht
-etwas mehr von diesen Leuten wüßten, weil die kleine
-Blondine mit den Taubenaugen bei Tische immer so zutraulich
-zu Ihnen redete, und Sie, Mr. Berken, heute so
-sonderbar!&nbsp;... Na, einerlei &ndash; die Newlands sind fort!«</p>
-
-<p>»Alle?« entfuhr es etwas unbedacht von meinen
-Lippen.</p>
-
-<p>»I bewahre! Nur das junge Paar &ndash; scheinbar
-nur auf eine Woche, wie das Frauchen schüchtern mir versicherte!
-Doch ich möchte, obgleich hier drinnen in den
-Schränken noch alles voll Sachen hängt, die höchste Wette
-eingehen, daß es auf Nimmerwiedersehen ist. Das kommt
-aber bei solch leichtsinniger Sippschaft gar nicht darauf an.
-Nebenbei haben sie in den Zimmern einen Gestank zurückgelassen,
-als ob mindestens zwei Zentner Makulatur verbrannt
-worden wären. Als ich hineintrat, mußte ich wohl
-zwanzigmal hintereinander niesen und konnte vor Rauch
-die Augen kaum aufthun, so daß ich schon fürchtete, man
-habe mir die Bude über dem Kopfe angesteckt. Aber
-schließlich kann es mir ja gleichgültig sein!« argumentierte
-Miß Kathe lebhaft weiter; »denn bezahlt ist alles bis zum
-Ersten, &ndash; und mit den übrigen mache ich morgen früh
-auch ein Ende. Die rasche Abreise der beiden ist mir
-einzig nur des Geredes im Hause wegen fatal, zumal ich,
-<a class="pagenum" id="page_176" title="176"> </a>
-wie Sie wissen, ohnedem schon heute Nachmittag einen
-heiklen Besuch erhalten.«</p>
-
-<p>»Auf keinen Fall würde ich es beklagen, daß die
-jungen Newlands fort sind!« versetzte ich, höchst gleichgültig
-das Gähnen unterdrückend. Doch spähte ich trotzdem
-neugierig durch die halbgeöffnete Thür ins Zimmer hinein.
-»Die Alte wird schöne Augen machen, wenn sie bei ihrer
-Rückkehr die lieben Kinder nicht mehr findet, Miß Emmerson!«</p>
-
-<p>»O, die hat längst von der Flucht gewußt! Das
-war alles geplant und abgekartet.«</p>
-
-<p>»<em class="ge">So</em> &ndash; glauben Sie?«</p>
-
-<p>»Sicherlich! Ich wundere mich nur, daß <em class="ge">Sie</em>, Mr.
-Berken, bei Ihrem scharfen Beobachtungstalente nicht auch
-Wind davon gekriegt haben!«</p>
-
-<p>Ich lachte sie heiter an.</p>
-
-<p>»Wer wird so mißtrauisch sein, Miß Kathe. Was
-gehen <em class="ge">mich</em> denn diese Menschen an? Wahrlich, ich habe
-ja gar keine Zeit dazu, mich so viel um den lieben Nächsten
-zu bekümmern.«</p>
-
-<p>Die alte Dame schien völlig beruhigt, und freundschaftlich
-wünschten wir uns gegenseitig <i>Good night!</i>&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Ich erinnere mich, daß ich in jener Nacht nicht viel
-geschlafen habe und erst wieder frei und beruhigt aufzuatmen
-begann, als mir am nächsten Morgen ein Telegramm
-überreicht wurde mit dem kurzen, aber für mich
-bedeutungsvollen Inhalt: »Glücklich Montreal angelangt,
-Wilson.« Mit seelischem Behagen kleidete ich mich an und
-mußte wirklich lachen, welch ein von Bosheit und Schadenfreude
-blitzendes Gesicht mir heute aus dem Spiegel entgegensah.
-Jetzt gab es ja noch einen Hauptspaß, nämlich
-das stille Beobachten der alten Newland, wie deren elegisch
-<a class="pagenum" id="page_177" title="177"> </a>
-angehauchten Tochter und des ehrenwerten Mr. Fowler
-beim Frühstück. Denn daran, daß die Gesellschaft überhaupt
-kommen würde, zweifelte ich keinen Augenblick. Schon,
-um jeden Verdacht von sich abzulenken, mußten sie sich
-diesen Morgen zeigen.</p>
-
-<p>Daher begab ich mich ein wenig früher als gewöhnlich
-hinab, um die Personen, in deren Dasein ich ohne
-ihr Wissen eine so bedeutende Rolle gespielt, sofort beim
-Eintreten ins Speisezimmer aufs Korn zu nehmen. Wer
-aber beschreibt meine Überraschung! In der Halle, an der
-weit geöffneten Hausthür, durch die ich eine elegante Equipage
-vor dem Hause halten sah, standen Mrs. Newland
-und ihre Tochter, völlig reisefertig, im Begriff, sich von
-Miß Emmerson zu verabschieden, und deutlich vernahm ich
-noch die seltsamen Worte:</p>
-
-<p>»Der arme Frank! Er leidet zuweilen an schlimmen
-Anfällen von Geistesstörung, was seine kindische junge Frau
-durchaus nicht zugiebt. Ich fürchte, daß seine unmotivierte
-plötzliche Abreise abermals ein trauriger Beweis ist für
-diese nicht mehr abzustreitende Thatsache. Ellen und ich
-müssen uns daher schleunigst auf die Suche der beklagenswerten
-Kinder begeben und können daher leider die Annehmlichkeiten
-Ihres Hauses nicht länger genießen, meine
-teure Miß Emmerson! Major Fowler wird indes noch
-bis morgen hier bleiben und dann mit unserm Gepäck
-nachfolgen.«</p>
-
-<p>Jetzt schritt ich unbefangen und unerschrocken die
-letzten Stufen der Treppe, auf der ich stand, hinab, so daß
-ich nur noch wenige Fuß breit von den Damen entfernt
-war. Mit einem höflichen: »<i>Good morning!</i>« lüftete ich
-den Hut. In demselben Augenblick aber fuhr Mrs. Newlands
-<a class="pagenum" id="page_178" title="178"> </a>
-Kopf nach mir herum, und ich vermochte voll in
-ihr Angesicht zu schauen.</p>
-
-<p>Ich habe wohl davon gehört, daß blühende, gesunde
-Menschen durch Kummer, seelischen Schmerz oder körperliche
-Leiden binnen weniger Monate ein vollständig verändertes
-Aussehen erhalten können. Diese bisher noch so
-rüstige Frau hatte aber eine einzige Nacht zur Greisin
-umgewandelt. Doch nicht der Ausdruck milder, friedlicher
-Ruhe lag über dem gefurchten Gesicht, &ndash; nein, eine grauenhafte,
-grinsende Verzerrung, welche zu verbergen ihr nicht
-gelang, zuckte zuweilen darüber hin. Vor diesem Anblick
-schauderte ich innerlich und gedachte des Hauptes der
-Medusa.</p>
-
-<p>Zwar traf mich nur ein einziger Blick der in stiller
-Angst, in Grimm und Wut flackernden dunklen Augen, doch
-er genügte, mir zu verraten, daß die fürchterliche Kreatur
-mir auf dem Grunde der Seele zu lesen beabsichtigte, und
-daß ihr scharfer Verstand sie doch vielleicht auf die richtige
-Spur geleitet. Wie aus Erz gegossen, mit keiner Wimper
-zuckend, stand ich vor ihr. Mir erschien dies jetzt schon
-als Anfang der Vergeltung, die früher oder später über
-diese geldgierige Megäre, wie der eigene Sohn sie benannte,
-unfehlbar hereinbrechen mußte. Nochmals verbeugte ich
-mich kühl und schritt an ihr vorüber dem Speisezimmer zu.</p>
-
-<p>Das war auch das letzte, was ich von Frank Wilsons
-Mutter jemals wieder geschaut.&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Zwei Tage später brachten die New Yorker Zeitungen
-von neuem allerlei Gerüchte über die vermeintlichen Falschmünzer,
-unter anderem die Nachricht, daß die Polizei sich
-die gefährlichen Vögel jedenfalls wieder habe aus dem Garn
-fliegen lassen. Wenigstens sei auf einem der City-Bahnhöfe
-eine ominöse Reisetasche, vollgepfropft mit allerlei
-<a class="pagenum" id="page_179" title="179"> </a>
-äußerst verdächtigem Werkzeuge nebst Zubehör, aufgefunden
-und mit Beschlag belegt worden, und könne das wohl zu
-dem Schlusse berechtigen, daß die verbrecherischen Eigentümer
-derselben längst über alle Berge wären.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Nach etwa sechs Monaten erhielt ich die ersten ausführlicheren
-Nachrichten von meinen Schützlingen in einem
-Briefe, dem ein Check über 150 Dollars, zahlbar an der
-Bank von Montreal, beigeschlossen war. Es war Mrs.
-Maud Wilson, die mir schrieb; doch mußte ich bei dem
-Lesen öfters eine Pause machen, weil eine eigentümliche
-Rührung mich überkam. Fast Seite um Seite füllten nur
-rührende Dankesworte das Papier. Dieses Geld &ndash; so
-meldete sie &ndash; sei die erste Rate ihrer Schuld; indes
-dürften sie nicht im mindesten deshalb darben. Frank
-habe einen brillanten Verdienst! &ndash; Und was stand da
-noch in diesem Briefe? Von nie gekanntem Glück, von
-seligem Frieden und einem süßen, trauten Heim erzählten
-die Zeilen&nbsp;&ndash;; ferner wie Frank arbeite von früh bis
-spät, wie einfach und anspruchslos er sei in seinen Bedürfnissen,
-aber auch, wie geachtet und geliebt er sei von seinem
-Chef und von allen, mit denen er verkehre! »Ist dieses
-gottgesegnete Leben jetzt nur eine himmlische Illusion oder
-haben wir früher einen bösen Traum geträumt? O, möchte
-doch die Vergangenheit gänzlich ausgelöscht sein!« So
-schloß die junge Frau ihr langes Schreiben.</p>
-
-<p>Und sie blieb es wirklich. Denn Frank Wilson ist
-bis zum heutigen Tage nie mehr an jene Schreckensperiode
-seines Daseins erinnert worden. Als ich ihn nach langer
-Zeit, völlig zum Manne herangereift, wiedersah, und er
-mir stumm, doch mit strahlender Seligkeit im Auge, sein
-einziges Söhnlein, einen prächtigen, blonden Jungen von
-etwa einem Jahre, entgegenreichte, da wußte ich genau,
-<a class="pagenum" id="page_180" title="180"> </a>
-daß sein einst so verhärtetes, umdüstertes Gemüt nun endlich
-Frieden gefunden im Schönsten, was eine weise Hand
-zu unserem Segen und Frommen geschaffen &ndash; im eigenen
-Heim.&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Und Mrs. Newland?</p>
-
-<p>Weder mündlich noch schriftlich habe ich jemals den
-Sohn nach seiner Mutter zu fragen gewagt. Doch <em class="ge">sie</em>,
-die für und für des geprüften Mannes »Licht und Trost«
-blieb, die ihm vertraut und an ihm gehangen in den schrecklichen
-Tagen des Elends, &ndash; sie flüsterte mir, in dem ihr
-auch später noch anhaftenden, fast jungfräulichen Liebreiz
-einmal ins Ohr, daß Franks Mutter mit Ellen auf großem
-Fuße in Paris lebe. Woher sie diese Kunde erhalten hatte,
-war mir zu wissen gleichgültig, und ich fragte nicht danach.
-Allein irgend welche Gefahr fürchtete ich für meine Schützlinge
-nicht mehr.&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-
-<p class="mt2 ce fss">Druck von Greßner &amp; Schramm in Leipzig.</p>
-
-<hr />
-
-
-
-
-<h2>Hinweise zur Transkription</h2>
-
-
-<div class="mw36 nopb">
-<p class="in0">Im Originalbuch tragen die Titelseite, die Kapitelüberschriften
-und die Kapitelenden einfachen floralen, die Kapitelanfänge
-ornamentalen Schmuck, auf den in dieser Transkription verzichtet
-wurde.</p>
-
-<p class="in0">Das Originalbuch ist in Fraktur gesetzt.</p>
-
-<p class="in0">Darstellung abweichender Schriftarten: <span class="ge">gesperrt</span>, <i>Antiqua</i>
-(Römische Zahlen wurden nicht gesondert markiert).</p>
-
-<p class="in0">Der Text des Originalbuchs wurde grundsätzlich beibehalten,
-mit folgenden Ausnahmen,</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_008">8</a>:<br />
-im Original "hatten die Fremden es verstanden sich bald"<br />
-geändert in "hatten die Fremden es verstanden, sich bald"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_009">9</a>:<br />
-im Original "Rückseite des Häuschens gelegenen, kleinen Salons"<br />
-geändert in "Rückseite des Häuschens gelegenen, kleinen Salon"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_009">9</a>:<br />
-im Original "»M'a«!"<br />
-geändert in "»M'a!«"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_011">11</a>:<br />
-im Original "das bißchen Silber dazu geommen"<br />
-geändert in "das bißchen Silber dazu genommen"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_015">15</a>:<br />
-im Original "»Das ist wirklich originell, hahaha!"<br />
-geändert in "»Das ist wirklich originell, hahaha!«"<br />
-Die Zeitungsannonce wurde durch Einrückung markiert.</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_016">16</a>:<br />
-im Original "Ich bin überzeugt, daß fast jede"<br />
-geändert in "»Ich bin überzeugt, daß fast jede"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_017">17</a>:<br />
-im Original "Bibliothek um ein für sein Geschäft wichtiges Werk"<br />
-geändert in "Bibliothek, um ein für sein Geschäft wichtiges Werk"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_020">20</a>:<br />
-im Original "trat Mrs. Clark zum Ausgange gerüstet, noch einmal"<br />
-geändert in "trat Mrs. Clark, zum Ausgange gerüstet, noch einmal"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_037">37</a>:<br />
-im Original "<em class="ge">Berlin</em>, 14. Januar 18.."<br />
-geändert in "Berlin, 14. Januar 18.."<br />
-Zur Angleichung wurde die Sperrung der Ortsangabe aufgehoben.</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_041">41</a>:<br />
-im Original "das Licht, der armseligen »Motte« zu folgen?«<br />
-geändert in "das Licht, der armseligen ›Motte‹ zu folgen?«</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_046">46</a>:<br />
-im Original "Meinetwegen brauchst Du das nicht mehr zu thun!«"<br />
-geändert in "»Meinetwegen brauchst Du das nicht mehr zu thun!«"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_059">59</a>:<br />
-im Original "Geheimnis, daß Deinen wilden, zügellosen Freund"<br />
-geändert in "Geheimnis, das Deinen wilden, zügellosen Freund"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_061">61</a>:<br />
-im Original "»Agnes, meine Agnes! Ich bin namenlos glücklich«"<br />
-geändert in "»Agnes, meine Agnes! Ich bin namenlos glücklich!«"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_078">78</a>:<br />
-im Original "Unsere Herzogin, die durchaus keine schöne Frau war"<br />
-geändert in "»Unsere Herzogin, die durchaus keine schöne Frau war"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_092">92</a>:<br />
-im Original "Unsere guten Newtows sind Menschen, welche"<br />
-geändert in "Unsere guten Newtons sind Menschen, welche"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_095">95</a>:<br />
-im Original "»Sie irren, mein Herr! entgegnete ich"<br />
-geändert in "»Sie irren, mein Herr!« entgegnete ich"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_113">113</a>:<br />
-im Original "Nur bildeten Mokassins die Fußbegleidung"<br />
-geändert in "Nur bildeten Mokassins die Fußbekleidung"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_118">118</a>:<br />
-im Original "es sich kaum bezeichnen &ndash; am Brodway"<br />
-geändert in "es sich kaum bezeichnen &ndash; am Broadway"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_125">125</a>:<br />
-im Original "Mein Blick war plötz- auf etwa"<br />
-geändert in "Mein Blick war plötzlich auf etwa"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_128">128</a>:<br />
-im Original "»Ich staune über sie, Madame!«"<br />
-geändert in "»Ich staune über Sie, Madame!«"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_129">129</a>:<br />
-im Original "Was mir an-anfänglich schwer und ungewöhnt ist"<br />
-geändert in "Was mir anfänglich schwer und ungewöhnt ist"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_135">135</a>:<br />
-im Original "Sonne ihre glühenden Strahlenbündel anf den"<br />
-geändert in "Sonne ihre glühenden Strahlenbündel auf den"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_143">143</a>:<br />
-im Original "die Mutter von Frank Newland. sowie"<br />
-geändert in "die Mutter von Frank Newland, sowie"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_147">147</a>:<br />
-im Original "»Der »New York Herald« wird zum Beispiel"<br />
-geändert in "»Der ›New York Herald‹ wird zum Beispiel"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_163">163</a>:<br />
-im Original "»der Zweck heiligt die Mittel«"<br />
-geändert in "›der Zweck heiligt die Mittel‹"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_168">168</a>:<br />
-im Original "»Welch eine Erscheinung!«"<br />
-geändert in "›Welch eine Erscheinung!‹"</p>
-</div>
-
-<hr />
-
-<div lang='en' xml:lang='en'>
-<div style='display:block; margin-top:4em'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK <span lang='de' xml:lang='de'>LOSE BLÄTTER</span> ***</div>
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-Defect you cause.
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-<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'>
-Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg&#8482;
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Project Gutenberg&#8482; is synonymous with the free distribution of
-electronic works in formats readable by the widest variety of
-computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
-exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
-from people in all walks of life.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Volunteers and financial support to provide volunteers with the
-assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg&#8482;&#8217;s
-goals and ensuring that the Project Gutenberg&#8482; collection will
-remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
-Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
-and permanent future for Project Gutenberg&#8482; and future
-generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
-Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
-Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org.
-</div>
-
-<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'>
-Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
-501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
-state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
-Revenue Service. The Foundation&#8217;s EIN or federal tax identification
-number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
-Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
-U.S. federal laws and your state&#8217;s laws.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-The Foundation&#8217;s business office is located at 809 North 1500 West,
-Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
-to date contact information can be found at the Foundation&#8217;s website
-and official page at www.gutenberg.org/contact
-</div>
-
-<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'>
-Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Project Gutenberg&#8482; depends upon and cannot survive without widespread
-public support and donations to carry out its mission of
-increasing the number of public domain and licensed works that can be
-freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
-array of equipment including outdated equipment. Many small donations
-($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
-status with the IRS.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-The Foundation is committed to complying with the laws regulating
-charities and charitable donations in all 50 states of the United
-States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
-considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
-with these requirements. We do not solicit donations in locations
-where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
-DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state
-visit <a href="https://www.gutenberg.org/donate/">www.gutenberg.org/donate</a>.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-While we cannot and do not solicit contributions from states where we
-have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
-against accepting unsolicited donations from donors in such states who
-approach us with offers to donate.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-International donations are gratefully accepted, but we cannot make
-any statements concerning tax treatment of donations received from
-outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Please check the Project Gutenberg web pages for current donation
-methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
-ways including checks, online payments and credit card donations. To
-donate, please visit: www.gutenberg.org/donate
-</div>
-
-<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'>
-Section 5. General Information About Project Gutenberg&#8482; electronic works
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
-Gutenberg&#8482; concept of a library of electronic works that could be
-freely shared with anyone. For forty years, he produced and
-distributed Project Gutenberg&#8482; eBooks with only a loose network of
-volunteer support.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Project Gutenberg&#8482; eBooks are often created from several printed
-editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
-the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
-necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
-edition.
-</div>
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-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Most people start at our website which has the main PG search
-facility: <a href="https://www.gutenberg.org">www.gutenberg.org</a>.
-</div>
-
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-This website includes information about Project Gutenberg&#8482;,
-including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
-Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
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